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German Pages [232] Year 1992
Maria Klañska PROBLEMFELD GALIZIEN
Stichwort Literaturgeschichte
Maria Klañska
PROBLEMFELD GALIZIEN in deutschsprachiger Prosa 1846—1914
BÖHLAU VERLAG WIEN • KÖLN · WEIMAR
Gedruckt mit Unterstützung durch den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Kfoúska, Maria: Problemfeld Galizien : zur Thematisierung eines nationalen und politisch-sozialen Phänomens in deutschsprachiger Prosa 1846-1914 / Maria Klañska. - Wien ; Köln ; Weimar : Böhlau, 1991 (Literaturgeschichte) Zugl.: Krakow, Univ., Habil.-Schr., 1985 ISBN 3-205-05440-7
ISBN 3-205-05440-7 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Originalausgabe 1985 bei Wydawnictwa Uniwersytetu Jagiellonskiego in Krakau © 1991 by Böhlau Verlag Gesellschaft m.b.H. und Co.KG., Wien • Köln • Weimar Satz und Druck: Plöchl Druck Ges.m.b.H. & Co.KG.
INHALT Vorbemerkung
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Vorbemerkung zur 2. Auflage
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Einleitung
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Anmerkungen zur Einleitung
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1.
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Zur nationalen Problematik Galiziens
1.1. Der polnische Befreiungskampf des Jahres 1846 in den Augen nicht-galizischer Autoren 1.2. Die nationale Problematik Galiziens im Schaffen Leopold von Sacher-Masoch 1.3. Der deutsch-slawische Konkurrenzkampf bei Karl Emil Franzos . . Zusammenfassung Anmerkungen zum Kapitel 1 2.
Zur gesellschaftlichen Problematik in der „Galizienliteratur" . . .
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2.1. Das Bild des gesellschaftlichen Lebens in Galizien im Werk von Leopold von Sacher-Masoch ' 104 2.2. Die gesellschaftskritische Dorfgeschichte bei Karl Emil Franzos . . 118 2.3. Das galizische Dorf in den Novellen von Hans Weber-Lutkow . . 132 Zusammenfassung 144 152 Anmerkungen zum Kapitel 2 3.
Zur Problematik der jüdisch-christlichen Nachbarschaft in Galizien
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3.1. Das Thema im Schaffen der galizischen Maskilim 3.2. Die „Begegnung" aus der Perspektive des Deutschassimilanten Karl Emil Franzos 3.3. Der Blick von außen Zusammenfassung Anmerkungen zum Kapitel 3
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Schlußbemerkungen
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Bibliographie
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Quellennachweis
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Namensverzeichnis
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VORBEMERKUNG Die vorliegende Abhandlung ist in den Jahren 1980—1984 entstanden. Ich habe die Erkundungen während eines Stipendiumaufenthalts weit von dem ehemaligen Galizien in der norwegischen Hauptstadt Oslo angefangen und sie dann seit Herbst 1980 in Polen fortgeführt. Kürzere Studienaufenthalte in Österreich (1982, vier Wochen in Wien dank dem Stipendium des Österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft) und im Rahmen der Partnerschaftsverträge der Jagiellonen-Universität in der BRD (1981, zwei Wochen in Bochum) und in der DDR (1983, eine Woche in Jena) sowie bis 1981 mehrere Privataufenthalte in Leipzig haben meine Materialiensammlung sehr begünstigt. Den wesentlichsten Teil der Erkundungsarbeit bildeten jedoch die Nachforschungen in den Bibliotheken von Krakow, Poznan und Katowice sowie die schriftlichen Anfragen in übrigen Universitätsstädten und einigen anderen Städten Polens sowie in deutschsprachigen Ländern. Dank der Hilfsbereitschaft einiger Freunde konnte die National- und Universitätsbibliothek der HumboldtUniversität in Berlin (DDR), das Galiziendeutsche Heimatarchiv in Göttingen (BRD) und die Kölner Bibliothek „Germania Judaica" erreicht werden. Als die wichtigsten Fundorte muß ich allerdings die Österreichische Nationalbibliothek in Wien, die Jagiellonische Bibliothek in Krakow und die Deutsche Bücherei in Leipzig nennen. Allen Freunden, Kollegen und Bekannten, die mir bei der Zusammenstellung von Materialien durch die Überprüfung der Angaben in den Bibliotheken ihrer Heimatstädte, Zusendung von Kopien und Büchern, Ausleihe von Büchern aus eigenem Bestand sowie in einigen Fällen ihrer unveröffentlichten Manuskripte beigestanden haben, möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. Mein besonderer Dank gilt den Professoren Uwe-K. Ketelsen in Bochum und Fritz von Lochner-Hüttenbach in Graz, meiner Freundin Anne Linnes in Hildesheim und Herrn Jobst Tehnzen von der Universitätsbibliothek Hannover, die durch zahlreiche Sendungen meine Stoffsammlung wesentlich angereichert haben. Im Verlauf der Arbeit und nach der Rohfassung der Einzelkapitel haben mir viele Gesprächspartner durch Anregungen und nützliche Hinweise geholfen, wofür ich ihnen allen sehr verbunden bin. Gedankt sei besonders meiner wissenschaftlichen Leiterin Frau Prof. Dr. Olga Dobijanka-Witczakowa, dem Krakauer Kernphysiker und großen Liebhaber der Geschichte Polens Prof. Dr.
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Vorbemerkung
Jerzy Janik, unserem damaligen Gastdozenten aus Greifswald (DDR) Prof. Dr. Horst Langer, Herrn Prof. Dr. Hubert Orlowski, Institut für Germanische Philologie der Adam-Mickiewicz-Universität Poznan, meinem Institutsdirektor Prof. Dr. Aleksander Szulc, der Polonistin von der Universität Poznañ Dr. Ewa Wiegandt, die in derselben Zeit eine Habilitationsarbeit zum Thema Galizien in polnischer Prosa (nach 1945) verfaßte, schließlich — last not least — meinen lieben Eltern, die u. a. durch die Entlastung von manchen Alltagssorgen mein Vorhaben aufs Wesentlichste gefördert haben. Herrn Prof. Dr. Heinz Rieder aus Wien gilt mein Dank für die sprachliche Korrektur der vorletzten Fassung der Arbeit. Zur technischen Seite der Arbeit sei kurz angemerkt, daß die im Text aus Platzgründen nur mit der Seitenzahl versehenen Zitate sich jeweils, wenn nicht anders vermerkt, auf die im Literaturverzeichnis angeführte Werkausgabe beziehen. Die Bibliographie der Primärliteratur berücksichtigt nur solche Texte, die in der Abhandlung direkt benützt wurden (als Gegenstand der Analyse oder als ergänzende Vergleichsbasis). Die eingesehene Sekundärliteratur wurde vollständig angeführt. Krakow, März 1985
Maria Klanska
VORBEMERKUNG ZUR ZWEITEN AUFLAGE Als ich mich Anfang der 80er Jahre an die Materialiensammlung zum „Problemfeld Galizien" heranmachte, betrat ich mit meinen Erkundungen ein Neuland oder vielmehr ein vergessenes Land in der Germanistik, eine verschollene historische und literarische Provinz der Habsburgermonarchie. Als Krakauerin hatte ich zwar zu diesem ehemaligen Galizien eine besondere emotionelle Beziehung, was nicht bedeuten soll, daß ich seinem Mythos erlegen war. Als Polin stehe ich nach wie vor dem historischen Phänomen Galizien kritisch gegenüber — Galizien war infolge der Teilungen Polens entstanden, war nur ein Surrogat für den eigenen Staat, und in der Zeit vor der Verfassungsära (also 1772—1867) begegnete man dort mit unterschiedlicher Intensität, aber doch einer Unterdrückung des polnischen Nationallebens, der polnischen Sprache und Kultur und vor allem der polnischen Bestrebungen nach Staatsunabhängigkeit. Dann veränderte sich die Lage, Galizien bekam 1867 gleich anderen Kronländern der Habsburgermonarchie die Verfassung und Autonomie. Durch den Unterschied zwischen den nationalen und kulturellen Freiheiten für die Polen in Galizien in der Zeit 1868—1914, die sogar die höchsten Ämter im Staate erlangen konnten, und der rücksichtslosen Unterdrückung des polnischen Nationallebens in den von Preußen und Rußland annektierten Teilen in der gleichen Zeit neigt man in Polen im öffentlichen Bewußtsein dazu, jenes Gebilde zu idealisieren. Es stimmt einerseits, daß Galizien somit fast 50 Jahre lang der einzige Teil Polens war, wo man frei die polnische Muttersprache benutzen konnte, wo polnische Kunst, Kultur und Wissenschaft blühte, wo der Pole kein Bürger zweiter Klasse war — das prägt auch mein Galizienbild mit. Anderseits vergißt man dabei zu leicht, daß dieses Land eine kolonial ausgebeutete Provinz des Habsburgerstaates war. Man vergißt allzu leicht das sprichwörtliche Elend der breiten Bauernmassen, und von der Not der jüdischen Massen und von der Unterdrückung der nationalen Bestrebungen der Ukrainer wissen nur die Spezialisten Bescheid. Die erste Konfrontation mit dem Gegenstand meiner Arbeit hatte für mich eine Schockwirkung. Gewöhnt, obwohl nicht gläubig, an das von der polnischen schönen Literatur und Publizistik ζ. T. vermittelte mythisch verklärende Bild Galiziens, begegnete ich einem von deutschschreibenden Verfassern geprägten Gegenbild der Provinz, das von deren Befremden bis Entsetzen gekennzeichnet war und vor allem auf die Schattenseiten des Lebens im Lande
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Vorbemerkung zur zweiten Auflage
Aufmerksamkeit lenken wollte, auf die sozialen und ökonomischen Mißstände sowie auf die Zwistigkeiten zwischen den einzelnen nationalen Gruppen. Natürlich habe ich bei der Aufzeichnung dieser Arbeit meinen polnischen nationalen Blickwinkel nicht verlassen — es sind völlige Illusionen, daß man Phänomene ohne jegliche Perspektivierung bewerten kann. Nichtsdestoweniger war ich bestrebt, das Bild Galiziens in deutschsprachiger Literatur vor Joseph Roth „sine ira et studio" aufzuzeichnen, es sachlich und möglichst objektiv zu erfassen. Das Interesse deutschsprachiger Rezipienten an dieser methodologisch ja durchaus traditionellen Arbeit nach dem Erscheinen ihrer polnischen ersten Auflage hat mich als Autorin überrascht und erfreut. Es zeigte sich, daß sowohl in Österreich als auch in Deutschland Kreise von Historikern, Literaturwissenschaftlern sowie privat literarisch-historisch interessierten Lesern vorhanden sind, die sich mit diesem Buch beschäftigen oder beschäftigen möchten. Da die winzige Auflage von 150 Exemplaren, die in der Reihe der Habilitationsarbeiten im Krakauer Universitätsverlag erschien, bald vergriffen war, mußte ich leider schon seit längerer Zeit auf Anfragen ablehnend antworten. So bin ich als Autorin dem Wiener Böhlau-Verlag verbunden, der durch seinen Entschluß, eine Neuauflage meines Buches zu veröffentlichen, eine erneute und verstärkte Rezeption dieses Textes in deutschsprachigen Ländern ermöglicht. Ich habe den 1985 verfaßten Text gründlich durchgesehen und versuchte ihn den veränderten Anforderungen des neuen Druckortes und Zeitpunktes anzupassen. Es wäre wohl müßig, die Grundkonzeption des Textes ändern zu wollen; ich bin mir dessen bewußt, daß er seinen Wert aus dem Kompendiumcharakter bezieht, als das weiterhin einzige Werk, das einen Überblick zwar nicht über die gesamte deutschsprachige Literatur Galiziens, so doch über ihren beträchtlichen Teil bietet, die er in ihren historischen Zusammenhängen zu betrachten bestrebt ist. Ich habe mich bemüht, die inzwischen erfolgten Forschungsergebnisse, insofern es mir möglich und nötig war, einzubeziehen. So habe ich die dem Text angeschlossene Bibliographie neu verfaßt sowie den letzten Teil der Einleitung, der den Forschungsstand zur „Galizienliteratur" präsentiert, um die letzten sechs Jahre erweitert. Dort, wo diese neuen Forschungsergebnisse eine Revision meines bisherigen Standpunktes notwendig machten, und zwar im Falle einiger Einzelaspekte zu Sacher-Masoch und Franzos, habe ich versucht, diese in den Text einzubeziehen. Schließlich habe ich zu Anfang der Einleitung eine kurze Information über das historische Phänomen Galizien eingeschoben, die mir bei der ersten Veröffentlichung der Arbeit nicht als unerläßlich schien — mit der verstärkten Orientierung an einem österreichischen bzw. deutschen Leser glaube ich ihm diese voraussetzende Auskunft schuldig zu sein. Die polnischen Titel von Werken der benutzten Sekundärliteratur habe ich in der Bibliographie in Klammern im deutschen Wortlaut angegeben. Z u m Schluß möchte ich die Reihe der Adressaten von Danksagungen aus der Vorbemerkung zur 1. Auflage u m diejenigen erweitern, die diese Neuauf-
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V o r b e m e r k u n g zur z w e i t e n A u f l a g e
läge u n d gleichzeitig die österreichische Erstauflage meines Buches gefördert haben. Mein besonderer Dank gilt dem Generalkonsul der Österreichischen Republik in Krakau Dr. Emil Brix, dank dessen liebenswürdigen B e m ü h u n g e n der Kontakt z u m Böhlau-Verlag hergestellt u n d auf eine erfreuliche Weise fortgeführt wurde. Herrn Dr. Peter Rauch u n d Frau Dr. Eva Reinhold-Weisz aus dem Böhlau-Verlag danke ich für ihr freundliches Interesse u n d Verständnis, dank d e m diese Veröffentlichung Zustandekommen kann. Herrn Prof. Dr. E m m a n u e l Turczyñski in M ü n c h e n danke ich für die erste Anregung, diese Abhandlung in einem deutschsprachigen Land drucken zu lassen; Frau Dr. Minna Lachs in W i e n (geb. Schiffmann, Verfasserin von der wunderbar geretteten Dissertation über die deutsche Ghettogeschichte aus dem Jahre 1931!) danke ich ebenfalls f ü r ihre freundlichen B e m ü h u n g e n , mir zum Druck in Österreich zu verhelfen; schließlich danke ich m e i n e n polnischen Verlagsrezensenten von 1985, den Posener Germanistikprofessoren Stefan H. Kaszyñski und Hubert Orlowski, die mir nachträglich Mut zu diesem Vorhaben eingeflößt haben. Der Alexander von Humboldt-Stiftung in Bonn, als deren Stipendiatin ich mich z. Zt. in Deutschland aufhalte, gilt ebenfalls mein Dank, denn dank ihrer Förderung (obwohl diese primär einem n e u e n Forschungsvorhaben gilt) konnte ich diese Revision des ursprünglichen Textes ungestört von anderen Pflichten vornehmen. Frankfurt a. M., im April 1991
Maria
Kianska
EINLEITUNG Das Vorhaben der vorliegenden Abhandlung ist die Erörterung des Phänomens Galizien in deutschsprachiger Literatur. Zur Sicherung der Verständlichkeit der darzustellenden Sachverhalte sei weiteren Ausführungen eine kurze Information über den historisch-geographischen Begriff Galizien vorangestellt. Als das Königreich Galizien und Lodomerien wurden von Österreich diese Teile der polnischen Adelsrepublik bezeichnet, die bei der ersten (1772) und dritten (1795) Teilung Polens zwischen Rußland, Preußen und Österreich an die Habsburgermonarchie kamen. Durch diese von den rotruthenischen Städten Halitsch und Wlodimir stammende Bezeichnung wollte Österreich den Anschein erwecken, als ob es nur eine „Revindikation" alter Ansprüche durchführte. Die Habsburgermonarchie berief sich dabei auf ungarische Ansprüche auf dieses Gebiet, weil Ungarn tatsächlich einige Zeitlang über Halitsch und Wlodimir geherrscht hatte, auf die es im 14. Jahrhundert verzichtete. Natürlich handelte es sich dabei nur um einen Teil Galiziens, und daß es den Habsburgern selbst mit diesem Vorwand nicht ernst war, davon zeugt u. a. die Tatsache, daß es Galizien zu Cisleithanien zählte. Das neue „Kronland" unterlag im Laufe der Geschichte mehreren territorialen Verschiebungen. Ursprünglich umfaßte es ein Gebiet von ca. 81.900 km 2 und wurde von etwa 2,6 Mio. Bevölkerung bewohnt. Nach der dritten Teilung Polens wurde es um das sog. Westgalizien erweitert, dessen Grenzen die Flüsse Pilica, die mittlere Weichsel und der Bug bildeten. Dieses Westgalizien existierte nur bis 1803 als eigenständige Provinz und wurde bereits 1809 an das von Napoleon gegründete Warschauer Herzogtum abgetreten. Der ostgalizische Bezirk Tarnopol kam damals an Rußland. Nach dem Wiener Kongreß (1815) erhielt Österreich von den infolge des Schönnbrunner Friedens verlorenen Gebieten nur den Bezirk Tarnopol und die westgalizischen Städte Podgórze und Wieliczka zurück, der Rest wurde Rußland zugesprochen. Aus Krakau und einem 65 km langen Streifen Land am linken Weichselufer wurde ein Freistaat gegründet. Im Jahre 1846 wurde diese Freie Stadt Krakau nach einem Aufstandsversuch wieder Österreich einverleibt. In dieser Gestalt hat Galizien bis zum Zusammenbruch der Habsburgermonarchie existiert. Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges umfaßte das Territorium Galiziens ca. 78.500 km 2 und wurde von etwa 8,025 Mio. Bewohnern besiedelt. Die Hauptstadt der habsburgischen Provinz war Lemberg (poln. Lwów, ukrain. Lwiw). Das Land bilde-
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Einleitung
te den breiten Nordostrand der österreichisch-ungarischen Monarchie und war mit den benachbarten Provinzen nur durch das obere Weichseltal und einige Karpatenpässe verbunden. Als 1918 infolge des Ersten Weltkrieges der polnische Staat wiedererstand, wurde das ehemalige Galizien wieder zu seinem südöstlichen Teil und erhielt aufs neue die traditionelle polnische geographische Bezeichnung „Kleinpolen" (Malopolska). Es wird im Titel dieser Arbeit vom „Problemfeld" und nicht vom „Problem Galizien" gesprochen, weil sich die ganze auf die Existenz dieses österreichischen Kronlandes und seine Spezifika bezogene Literatur nicht auf ein einziges Problem zurückführen läßt. Sie stellt vielmehr ein ganzes Netz von Teilproblemen dar, die man grob in die Gruppen der nationalen, politisch-sozialen und konfessionellen Erscheinungen gliedern könnte. Die Thematisierung dieser Problemgruppen in der deutschsprachigen Erzählprosa aus der Zeit 1846— 1914 festzustellen und zu untersuchen ist unsere Aufgabe. Den Forschungsgegenstand dieser Arbeit bilden literarische Werke, die dem Gebiet der erzählenden Prosa angehören. Zu den ersten Prämissen der Beschäftigung mit diesem Stoff gehört die Verwendung des Begriffes „Literatur" im breiten Sinne des Wortes. Die meisten der zu untersuchenden Werke gehören keiner künstlerisch wertvollen Literatur an; ihre Verfasser sind vom ästhetischen Standpunkt aus betrachtet oft Autoren dritten oder sogar vierten Ranges. Viele dieser Werke nähern sich dem Bereich der Trivialliteratur. Das alles mindert keineswegs ihre Bedeutung für die Zwecke unserer Arbeit. Als Dokumente ihrer Entstehungszeit und in den meisten Fällen gleichzeitig der dargestellten Zeit dürfen sie nicht unterschätzt werden. Sie zeugen von einem bestimmten Galizienbild und prägten es bei ihren Lesern. Was diese Literatur von dem übrigen Schrifttum über Galizien unterscheidet, ist vor allem der fiktionale Charakter der Fabel. Aber auch die ästhetische Funktion, die in der sprachlichen Gestaltung der Werke zum Ausdruck kommt, ist in einem stärkeren oder geringeren Maße vorhanden. Der Gegenstand dieser Arbeit ist also das, was man im Englischen „fiction" nennt und was im modernen Sprachgebrauch als „Belletristik" bezeichnet wird. Ursprünglich wurde es nicht beabsichtigt, lediglich die erzählende Prosa zu berücksichtigen. Es hat sich jedoch im Laufe der bibliographischen Erkundungen erwiesen, daß von den drei Hauptgattungen der Literatur einzig die Epik für das Thema Galizien relevant war. Auf dem Gebiet der Dramatik der zu untersuchenden Zeitspanne wurde kein einziges Beispiel gefunden, und die Befunde aus dem Bereich der Lyrik waren äußerst fragmentarisch. Mein ursprüngliches Vorhaben, nicht nur die Belletristik, sondern auch solche Randgebiete der Literatur, die an der Grenze zwischen „fiction" und „non-fiction" stehen, wie Essays, Tagebücher, Memoiren und publizistische Beiträge mit zu erfassen, wurde zwangsläufig aufgegeben, weil die Materialienfülle das für solche Arbeiten vorgesehene Volumen sprengte. Dadurch hat die Komplexität des gewonnenen Bildes gelitten, aber die Übersichtlichkeit und Einheitlichkeit der Arbeit hat davon wahrscheinlich profitiert. Ich habe einen Teil dieser Materialien, insofern sie als
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Zeitdokumente wesentlich waren, indirekt — als ergänzende Literatur — verwendet. Diese Abhandlung ist eine germanistische Arbeit, sie befaßt sich somit innerhalb des Galizienthemas ausschließlich mit der deutschsprachigen Literatur. Das Wort „deutschsprachig" wird nicht nur deshalb verwendet, damit die meines Erachtens für die besprochene Zeit nicht ohne weiteres akzeptierbare Absonderung der österreichischen Literatur in deutscher Sprache (in der sich übrigens der Gegenstand dieser Arbeit nicht erschöpft) von der deutschen Literatur vermieden wird, sondern auch, weil zwar alle zu berücksichtigenden Texte in der deutschen Sprache verfaßt wurden, jedoch ihre Autoren sich nicht immer zur deutschen Nationalität bekannten. Deshalb wäre vielleicht im Hinblick auf die Verfasser die Bezeichnung „deutschschreibende Schriftsteller" zutreffender als „deutschsprachige Schriftsteller". Viele von ihnen waren von Haus aus mehrsprachig, und bei den meisten war die deutsche Sprache nicht die erste, die sie erlernt hatten. Die Wahl des Zeitraumes zwischen 1846 und 1914 erfordert einige Erklärungen. Diese Entscheidung hat sowohl historische als auch literaturhistorische Gründe. Da die Materialienfülle die Bearbeitung des Gesamtkomplexes der „Galizienliteratur" im Rahmen der vorliegenden Arbeit praktisch ausschloß, mußte nach sinnvollen Zäsuren gesucht werden. Sollte ein Datum aus der allgemeinen Geschichte und der Geschichte der deutschsprachigen Literatur überhaupt als maßgebend betrachtet werden, so wäre das Revolutionsjahr 1848 der geeignete Grenzstein. Aber im Hinblick auf Galizien spielt bereits das Jahr 1846 mit seinem mißglückten polnischen Aufstand und mit dem Blutbad, das die Bauern den Herren daraufhin bereiteten, die entscheidende Rolle, besonders was die spätere Gestaltung der nationalen und politischen Verhältnisse im Lande anbelangt. Aber auch bei der für die gesellschaftliche Entwicklung maßgebenden Aufhebung der Feudallasten im Jahre 1848 war die Angst vor der Wiederholung der „blutigen Fastnacht" von 1846 ausschlaggebend. In literarhistorischer Hinsicht entscheidend für die Wahl gerade dieses Zeitpunktes als Anfang des berücksichtigten Abschnitts des literarhistorischen Prozesses war die Tatsache, daß Galizien als Thema in der deutschsprachigen Erzählprosa erst nach dem Jahr 1846 erscheint, als die blutigen Vorfalle die Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung in Europa auf diese Provinz der Habsburgermonarchie lenkten. Das andere Grenzdatum, nämlich das Jahr 1914, ist eine wichtige historische Zäsur. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges verändert sich der Status der habsburgischen Kronländer, darunter auch Galiziens. Die Galizienliteratur der Jahre 1914—1918 bildet ein spezifisches, in sich abgeschlossenes Ganzes. Sie stellt diese Provinz als Schauplatz des Kriegsgeschehens dar. Dieser Themenbereich läßt sich separat behandeln. Deshalb war er der erste, der bei den notwendigen Kürzungen dieser Arbeit ausgeklammert werden konnte, ohne ihre Vollständigkeit zu beeinträchtigen. Es sei noch vermerkt, daß das endgültige Ende Galiziens im Jahre 1918 keineswegs das Ende derschöngeisti-
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gen Literatur über dieses Land bedeutet, sondern nur einen wesentlichen Wandel in ihrem Charakter markiert. Solche Texte entstehen nach wie vor, in der Zwischenkriegszeit quantitativ sogar stark anwachsend, nach 1939 etwas weniger zahlreich, nur vollzieht sich die Beschäftigung mit dem Thema in einem Zeitraum, in dem Galizien zu einem lediglich historischen Begriff wurde, anhand unterschiedlicher Prämissen. Die Bearbeitung dieser Problematik ist mein geplantes nächstes Forschungsvorhaben. Im Rahmen der Zeitgrenzen 1846—1914 wurde eine doppelte chronologische Ordnung berücksichtigt: der Entstehungs- bzw. VeröfTentlichungszeit der Texte einerseits und anderseits der Darstellungszeit und der dargestellten Zeit der Werke. Die im Titel der Abhandlung angedeutete äußere Chronologie konnte ziemlich genau eingehalten werden. Komplizierter ist der Sachverhalt in bezug auf die Zeitverhältnisse in der dargestellten Welt der Werke. Der Leitgedanke war, in der Arbeit solche Texte zu berücksichtigen, die Galizien innerhalb der angegebenen Zeitspanne thematisieren. Die berücksichtigten Materialien haben aber nicht immer solch eine Trennung gestattet, denn sowohl innerhalb des Teiles über die nationale Problematik Galiziens ab 1846 als auch innerhalb des Kapitels über die soziale Problematik des Landes erscheinen mehrere Rückblicke auf die Zeit vor 1846 bzw. 1848, ohne die die Darstellung der späteren Periode durch den Verlust des historischen Zusammenhanges unverständlich wäre. In manchen Werken erscheint gerade der Vergleich zwischen der Zeit vor 1848 und nach diesem Jahr, als die feudale Fronleistung abgeschafft wurde, als das Kompositionsprinzip. Solche Rückblicke erweitern die Perspektive der dargestellten Zeit der Texte meistens in die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein und manchmal sogar auf die Zeit der ersten Teilung Polens 1772. Dieser Sachverhalt mußte in der vorliegenden Abhandlung beachtet werden. Dagegen wurden die Texte, deren Thema ausschließlich Galizien vor 1846 ist, in dieser Arbeit nicht erfaßt, es sei denn, daß es sich u m besonders aufschlußreiche und für das Verständnis des „galizischen" Gesamtschaffens eines Autors notwendige Prosawerke handelt, auf die wenigstens am Rande eingegangen werden mußte. Schon aus der Formulierung des Titels und allem oben Gesagten ergibt sich eine klare Abgrenzung der Literatur über Galizien, die der Forschungsgegenstand dieser Abhandlung ist, von der deutschsprachigen Literatur in oder aus Galizien, deren Erörterung nicht zum Ziel der vorliegenden Arbeit gehört. Freilich werden sich die beiden Untersuchungsfelder vielfach überschneiden, da die meisten der Verfasser, die über Galizien schreiben, auch aus Galizien kommen. Dagegen ist Galizien nur selten der Veröffentlichungsort der Werke. Aber das betrifft nicht alle Autoren. Maßgebend ist die Thematik ihrer Texte, während die galizische bzw. nicht-galizische Herkunft der Urheber lediglich als ein internes Differenzierungskriterium innerhalb der Arbeit dienen kann. In diesem Sinne wird in dieser Abhandlung von der „Galizienliteratur" als der „dem Galizienthema gewidmeten Literatur" die Rede sein, obwohl dieser Begriff zweideutig wirkt. Der Kürze wegen ist er aber für unsere Zwecke sehr
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praktisch. So mögen die Leser beachten, daß immer, wenn der Begriff „Galizienliteratur" ohne zusätzliche, auf etwas anderes hinweisende Erklärungen vorkommen wird, er nur diese Bedeutung haben wird. Gleichzeitig wäre aber zu betonen, daß nicht jedes Prosawerk, dessen Handlungsort in Galizien liegt, zum Forschungsgegenstand dieser Arbeit gehört. Es geht nicht um den Hintergrund, vor dem sich die Handlung abspielt, sondern um die Verzahnung des Werkes mit der für Galizien charakteristischen Problematik, worauf schon der Titel dieser Arbeit hinweist. Hubert Orlowski stellt im Aufsatz Zur anthropologischen Deutung deutsch-polnischer „Begegnung" in der deutschen Literatur fest: „dann und nur dann kann von,Polenliteratur' die Rede sein, wenn in den Texten das national Relevante mitspielt, wenn — mit anderen Worten — das Selbstverständnis des jeweiligen Autors bzw. die der Interpretation eines jeweiligen Werkes abgezapfte Erkenntnis das kognitive und axiologische Modell des nationalen Vergleichens in sich enthält" 1 . Ein ähnliches Verfahren muß im Falle der Bestimmung, was Galizienliteratur sei, zugrundegelegt werden. Es handelt sich um ein ähnliches, aber keineswegs um ein identisches Verfahren, denn das semantische Feld des Begriffes das „Galizienthema" deckt sich keineswegs mit dem des von Jan Chodera verwendeten Terminus „Polenliteratur". Sollte man diesen Begriff mit Hubert Orlowski lediglich als einen literarhistorischen verstehen und ihn somit mit solchen wie das „Polenthema" oder das „Polenmotiv" ersetzen, so muß der Unterschied zwischen den Bedeutungsfeldern der letztgenannten Termini und des Wortes das „Galizienthema" festgestellt werden 2 . Es muß nachdrücklich vor der Verwechslung der „Galizienliteratur" mit der „Polenliteratur" gewarnt werden. Ein Teil der Werke, die der Thematisierung des Problemfeldes Galizien gewidmet sind, gehören gleichzeitig dem Polenthema an, aber es ist nur ein Teil, nicht einmal der größte. Anderseits ist der Begriff „Galizienliteratur" viel umfassender, da sich hier das national Relevante aus dem Zusammenleben einiger ethnischer Gruppen auf einem Territorium ergibt. Es handelt sich um die Polen, Ukrainer, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts offiziell als Ruthenen bezeichnet wurden, sodaß auch diese Arbeit zuweilen dieses Wort verwendet, die nicht assimilierten Juden und infolge der Germanisierungspolitik Öserreichs bis 1848, vor allem in der Zeit Josephs II., auch die Deutschen und germanisierten Tschechen. Eben diese Vielfalt der Völker, deren Nachbarschaft oft spektuläre Konflikte hervorbrachte, jedoch alltäglich das Herausfinden eines „modus vivendi" miteinander notwendig machte, war für die Schriftsteller wahrscheinlich ein besonderer Anreiz, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Davon zeugt die Tatsache, daß der Schauplatz des größten Teiles dieser Werke Ostgalizien ist — hier leben alle diese Nationalgruppen nebeneinander — und nicht das national relativ einheitliche Westgalizien 3 . In den nationalen Problemen erschöpft sich allerdings die Galizienproblematik nicht, weil auch die Reflexion über die spezifischen politisch-sozialen Beziehungen des Landes, deren Gestaltung sich von der in westlichen Provinzen Österreichs und Preußens bzw. im späteren Deutschland stark unterscheidet, manche Verfasser zur Beschäfti-
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gung mit dem galizischen Leben veranlaßt hat. Schließlich wäre noch die heterogene konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung zu erwähnen, die jedoch nur in bezug auf den Unterschied zwischen den christlichen und mosaischen Bürgern des Landes eine selbständige Rolle spielt, sonst aber höchstens als Derivat und Verstärkung bei der Darstellung der aus dem Nationalen abgeleiteten Konflikte und Beziehungen auftritt. Anstatt des national Relevanten des Polenthemas tritt also bei dem Galizienthema die Zusammensetzung vom national (nicht auf die polnische Nationalität beschränkt), gesellschaftlich und konfessionell Wesentlichem auf, ohne daß alle diese drei Komponenten unbedingt in jedem einzelnen thematisch einschlägigen Werk zum Ausdruck gebracht werden müssen. Es wäre noch die Frage zu stellen nach dem Verhältnis der „Galizienliteratur" zu den Phänomenen der „Heimatliteratur" und der „Grenzlandliteratur" im deutschsprachigen Schrifttum. Wenn man den Begriff „Heimatliteratur" mit der zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland entstandenen nationalistisch gefärbten „Heimatkunstbewegung" verbindet, also ihn als einen literarhistorischen verwendet 4 , so berührt er sich kaum mit dem Gegenstand dieser Arbeit. Zwar hat sich auch auf dem uns interessierenden Gebiet eine „Heimatdichtung" der Galiziendeutschen herausgebildet, die Galizien als Heimat für die Gruppe der deutschen Minorität betrachtet und durch die Verklärung des Landlebens in dieser „deutschen Heimat" und der Nähe des deutschen Bauern zur galizischen Scholle gekennzeichnet ist. Das Vorhandensein anderer ethnischer Gruppen auf dem gleichen Territorium will dieses Schrifttum entweder nicht zur Kenntnis nehmen, oder es setzt sich ihnen in einer spezifischen Abwehrhaltung entgegen. Aber diese „Heimatdichtung" der Deutschen in Galizien weist vor dem Ersten Weltkrieg erst bescheidene Ansätze auf. Erst nach 1918, als Galizien als österreichische Provinz nicht mehr existiert, haben die „Galiziendeutschen" in Kleinpolen ihre „Heimatdichtung" entfaltet. Wenn man aber den Begriff ohne diese Spezifizierung auffassen möchte, so ist der größte Teil der in dieser Abhandlung erörterten Literatur als „galizische Heimatliteratur" zu verstehen. Es würden in solchem Falle dazu alle Werke der aus Galizien stammenden Autoren gehören, in denen sich die drei Grundbedingungen realisieren, die Ina-Maria Greverus in ihrem fundamentalen Werk Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatproblem (1972) als drei Basisbedürfnisse in bezug auf die menschliche Territorialität nennt: die Befriedigung der Bedürfnisse nach Sicherheit, Stimulation und Identität 5 . In diesem Sinne verfährt auch Karlheinz Rossbacher in der Monographie Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende (1975). Er entwirft am Rande seiner Überlegungen eine Skizze der Entwicklung der Heimatkunst in Österreich und stellt fest, daß sie in ihren Anfangen anders aussieht, als es ihrer Randlage entsprechen würde. Die österreichische Heimatkunst setzt nach der Ansicht Rossbachers die Tradition der Dorfgeschichte „seit Stifter, Ebner-Eschenbach, Rosegger, deren Werke nicht ganz falsch ,habsburgische Heimatliteratur' (strapaese absburgi-
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co) 6 genannt worden sind" fort 7 . Rossbacher berichtet, daß die Heimatkunstprogrammatiker den österreichischen Provinzrealismus als Heimatliteratur, „aber als ältere und damit noch nicht ganz im Sinne ihrer Wünsche", betrachten. In diesem Sinne könnte man innerhalb unseres Forschungsfeldes von „Heimatliteratur" sprechen. Da man diesen Terminus doch primär mit der literarisch-historisch festgelegten Erscheinung der „Heimatkunst" verbindet, wäre es angebracht, nach sprachlichen Äquivalenten dafür zu suchen. Als ein zusätzlicher Grund dafür erscheint die ideologische Vorbelastung des Begriffes durch den deutschen Nationalsozialismus. In unserem Zusammenhang wäre es somit besser, anstatt von der „Heimatliteratur" von der „Regionalliteratur" bzw. „Provinzialliteratur" zu sprechen. Wir schließen uns in diesem Sprachgebrauch der Abhandlung von Norbert M e c k l e n b u r g Erzählte
Provinz.
Regionalismus
und Moderne
im Roman
(1982)
an. Mecklenburg verwendet den Oberbegriff der Regionalität. Sie ist nach seiner Erklärung eine literaturtheoretisch-poetologische Konzeption, die „die ländlich-provinzielle Bestimmtheit des dargestellten Raumes" bezeichnet, oder mit anderen Worten „ein Strukturmoment literarischer Texte, insofern sie Provinz thematisieren" 8 . Diese Kategorie schließt als Spezifizierung des literarischen Raumes einen Wirklichkeitsbezug ein, sodaß ihre Verwendung auch geschichtlich-gesellschaftliche und anthropologische Aspekte berücksichtigen muß. Der Autor stellt ferner die Vieldeutigkeit des Ausdrucks „Provinz" fest, auf den jedoch nicht verzichtet werden kann, „denn er geht als kulturelles Deutungsmuster in die Texte, ihre immanente Poetik, ein". Mecklenburg versucht ihn umzureißen, indem er konstatiert: „Der Provinzbegriff ist in ein Netz von semantischen Oppositionen eingespannt", von denen die wichtigsten die von Stadt und Land, Zentralismus und Marginalität, Komplexität und Einfachheit, Totalität und Partikularität, Allgemeinheit und Besonderheit sind 9 . Diese Merkmale treffen auch im Hinblick auf die „Galizienliteratur" zu. Eine wichtige Rolle kommt in der Regionalliteratur dem Motiv der Grenze zu. Im Falle der „Galizienliteratur" muß die Frage nach ihrem Verhältnis zu der deutschen nationalistischen, aggressiv eingestellten „Grenzlandliteratur" und insbesondere der „Ostmarkliteratur" 10 aufgeworfen werden. Die Galizienliteratur thematisiert das Leben in einem Kronland der Habsburgermonarchie, das zweifellos im geographischen Sinne und vielleicht noch stärker im Bewußtsein eines durchschnittlichen Österreichers zu den von dem Zentrum am weitesten entfernten Randgebieten des Staates gehörte. Geographisch bezieht sich diese Feststellung zwar nur auf den Osten der Provinz, soziologisch wurde der Unterschied allerdings kaum wahrgenommen. Von den Grenzen Galiziens und zugleich des Habsburgerstaates hat die ausgedehnte nord-östliche Grenze zum russischen Zarenreich die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, als das Tor zu einem Land, das als geheimnisvoll und unheimlich galt. Die kurze Grenze Weichsel-Przemsza, die Galizien von Preußen und dem späteren Deutschland trennte, wurde viel weniger beachtet. Die übrigen Grenzen gegen Österreichisch-Schlesien, Ungarn und die Bukowina waren ja keine Staatsgrenzen,
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sondern lediglich Grenzen zwischen einzelnen Provinzen. Die Thematisierung der Grenze bedeutet nicht zwangsläufig ihre Ideologisierung. Sie kann durch die Kombinierung mit dem Exotischen der gesteigerten Unterhaltung des Lesers dienen. Relevant wird sie dort, wo das Phänomen Grenze und Grenzland zum Problem wird, sei es auf der politischen, sei es auf der kulturellen Ebene. Im Falle Galiziens wird es entweder durch die Darstellung der für das österreichische Staatsgebilde gefahrlichen Tendierung eines Teiles der Ukrainer zum Zarenreich oder generell durch die Erörterung der Funktion des deutschen Elements in dieser Provinz als des europäisch-zivilisatorischen zum Ausdruck gebracht. Im letzteren Falle wird die Funktion Galiziens (Ostgaliziens) als Kulturgrenzland hervorgehoben, wo sich Einflüsse der westlichen Kultur mit der „asiatischen Barbarei" kreuzen, wobei die „deutsche Sendung" im Osten als Aufgabe aufgefaßt wird. Solche Werke weisen zweifellos eine weitgehende Verwandtschaft mit der deutschen „Grenzlandliteratur" auf und sind manchmal in ideologischer Hinsicht von ihr nicht zu unterscheiden. Ein schwieriges Problem beim Aufbau der vorliegenden Arbeit war das der Gliederung des untersuchten Stoffes und somit der Abhandlung selbst. Es überschneiden sich ja auf diesem Gebiet zwei Kriterien, von denen keines für die Klassifizierung der Materialien allein hinreicht, beide aber unerläßlich sind: das chronologische Kriterium und die Zuordnung der behandelten Werke zu einem der „galizischen" Problemkreise. Als Grundlage der Gliederung der Arbeit in Kapitel wurde das zweitgenannte Kriterium, das heißt die Einteilung nach den Problem- und Themenkreisen, gewählt. Zwar erscheint auf den ersten Blick die historische Chronologie der Sachverhalte in der außerliterarischen Wirklichkeit Galiziens eindeutiger und vielleicht auch einleuchtender. Aber eine nähere Untersuchung führt zu dem Schluß, daß die Gliederung nach diesem Prinzip in vielen Fällen nicht durchführbar ist, weil die Verfasser die dargestellte Zeit ihrer Werke nicht bestimmt haben, oder nichtssagend bleibt, weil die Beschaffenheit der dargestellten Welt aus der historischen chronologischen Festlegung nicht erfolgt. Deshalb wurde auf ein solches Einteilungsprinzip verzichtet. Innerhalb jedes Kapitels bzw. Unterkapitels wurde jedoch die geschichtliche Chronologie berücksichtigt, insofern die dargestellte Welt der Texte an konkrete Umstände im historischen Galizien gebunden ist. Bei einer meritorischen Gliederung des Forschungsstoffes bietet sich zuerst die Einteilung in die zwei großen Komplexe der nationalen und gesellschaftlichen Probleme an. Diese Problemkreise haben die Basis für die zwei ersten Großkapitel der Arbeit geliefert. Als ein dritter Problemkreis wurde die Literatur über die christlich-jüdische Nachbarschaft in Galizien untersucht. Sie bildet zwar nur einen Teil der Belletristik über die galizischen Juden, aber da gerade im Falle dieses Themenkreises die Materialienfülle die Erfassung des ganzen Panoramas schon aus Symmetriegründen unmöglich machte 1 1 , entschloß ich mich für den Bereich der für die Gestaltung der Kulturlandschaft Galizien wichtigeren Beziehungen zwischen jüdischen und christlichen Bewohnern des Landes. Die Problematik der internen Ghettoprobleme konnte
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dagegen nur am Rande angeschnitten werden. Die Aussonderung der Literatur zu diesem Problemkreis erfolgt aus der Beschaffenheit des Themas, das sich weder mit dem Adjektiv „national" noch mit „sozial" erschöpfend kennzeichnen läßt. Vielmehr spielt dabei der religiöse Faktor die wesentlichste Rolle, obwohl natürlich auch nationale, gesellschaftliche und kulturelle Fragen sekundär in diesen Problemzusammenhang gehören. Bei der Gliederung der Arbeit in drei solche Hauptkapitel kommt dem Terminus „Begegnung", in dem Sinne, wie ihn Hubert Orlowski verwendet 12 , eine besondere Bedeutung zu. Im ersten Kapitel bildet den Arbeitsgegenstand der Status der bilateralen „Begegnungen" der Figuren von Polen, Ukrainern und Deutschen und der durch sie oder durch einen nicht-personalen Erzähler ausgedrückten Einstellungen zur Gestaltung des nationalen Lebens in Galizien. Im zweiten Kapitel wurde der Bezug der Gestalten und des Erzählers zu den gesellschaftlichen Grundkonflikten und nicht-konfliktvollen Beziehungen in Galizien untersucht, wobei die im Agrarland Galizien wichtigste Relation zwischen den Bauern und adligen Grundbesitzern im Mittelpunkt stehen mußte. Im dritten Kapitel wurde schließlich die Problematik erörtert, die sich aus der Begegnung der galizischen Juden mit der christlichen Umgebung ergab. Diese Systematisierung hat vor einer historischen den Vorzug einer der Beschaffenheit des Stoffes gerechteren und gründlicheren Zugangsart. Aber auch in diesem Falle entgeht man ernstzunehmenden Schwierigkeiten nicht. Sie sind darauf zurückzuführen, daß ein Werk sich nicht unbedingt auf die Thematisierung eines dieser Problemkreise beschränkt. Damit wird unter anderem der Tatsache Rechnung getragen, daß in der außerliterarischen Wirklichkeit keine „reinen" nationalen, sozialen und religiösen Phänomene auftreten, sondern die Sachverhalte aus einem Geflecht vieler Faktoren resultieren. Der Schriftsteller kann sich entschließen, entweder einen Faden aus diesem Gewebe herauszugreifen oder die Komplexität des Ganzen darzustellen. In diesem Falle müßte unsere Analyse die Grundsätze des Autors verletzen. Man kann zwar eine Hierarchie der in einem Werk berücksichtigten Probleme zu erschließen suchen und sich dann auf das „Hauptproblem" konzentrieren, aber auf diese Weise geht ein Teil wichtiger Aspekte des Werkes verloren. Die größte Schwierigkeit ergibt sich bei der Behandlung von Problemen, die schon „an sich" heterogen sind und denen eine Aufspaltung in das Nationale und Soziale nicht gemäß ist. Im konkreten Falle der „Galizienliteratur" sind dies vor allem jene Werke, die sich mit den Ereignissen des Jahres 1846 literarisch auseinandersetzen, da die Fragen des polnischen Unabhängigkeitskampfes und des sozialen Grundkonfliktes in Galizien voneinander nicht zu trennen sind. Ich habe mich für die Einteilung nach Problemen als für eine inhaltsreichere entschlossen und mich bei Erfassung besonders schwieriger Fälle nach den Entscheidungen der Autoren zu richten bemüht. Die Gliederung in die Unterkapitel wurde aus den Gründen der größeren Übersichtlichkeit und somit der besseren Lesbarkeit der Arbeit unternommen. Die Versuche, die Problemkomplexe in kleinere Teilprobleme bzw. The-
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menkreise zu unterteilen, haben sich wegen der sehr ungleichmäßigen Verteilung des Stoffes als undurchführbar erwiesen. Ich habe mich daher für ein sehr einfaches Verfahren entschieden, das Arbeitsmaterial in die Werke von galizischen, d.h. aus Galizien stammenden, und nicht-galizischen Autoren zu gliedern und denjenigen galizischen Verfassern, die der Reflexion eines oder mehrerer Probleme ihres Herkunftslandes einen beträchtlichen Teil ihres Schaffens gewidmet haben, besondere Unterkapitel zu widmen. Dies ist der einzige Weg, der es innerhalb der Komposition dieser Arbeit ermöglicht, ein gewisses Gleichgewicht zwischen den gelegentlichen Einzelschöpfungen von Autoren, die auf das Galizienthema mehr oder weniger zufällig gekommen sind, und den aus der jahrelangen Auseinandersetzung mit Problemen dieses Landes hervorgegangenen Werken aller der Autoren, für die Galizien die „Seelenlandschaft" war, herzustellen. Dadurch wurde es auch möglich, die Proportionen zwischen den beiden Gruppen adäquat zu gestalten. Es soll damit nicht behauptet werden, daß das geographische Herkunftskriterium in jedem Falle ausschlaggebend sein müßte, die Feststellung bezieht sich lediglich auf das untersuchte Forschungsfeld. Im Falle der in dieser Arbeit berücksichtigten Autoren bildet die galizische Herkunft eine Voraussetzung für den Blickwinkel auf die Probleme dieses Landes. Die zwei im Hinblick auf das Problemfeld Galizien wichtigsten Verfasser, Sacher-Masoch und Franzos, kommen in allen drei Hauptkapiteln der Arbeit vor, da sie sich mit allen drei Arten von Grundproblemen beschäftigt haben. Natürlich wird jeder Autor nur einmal biographisch vorgestellt, und zwar dann, wenn sein Name zum ersten Mal im analytischen Teil der Arbeit auftaucht. Diese Begleitinformationen über einzelne Autoren sind keineswegs als vollständige Biogramme aufzufassen, sondern sie setzen sich zunächst einmal die Beziehung des Schriftstellers zu Galizien zum Ziel. Dann suchen sie die nationale Zugehörigkeit und soziale Herkunft des Autors zu bestimmen, schließlich den Stellenwert seines „Galizienwerkes" innerhalb seines Gesamtschaffens festzulegen. Den Hauptteil der Arbeit bilden die Analysen der Werke, die inhaltliche Angaben nicht umgehen können, da wir es mit wenig bekannten Titeln zu tun haben, die in den meisten Fällen nicht ohne weiteres zugänglich sind. Die Analysen dürfen sich bei der Betrachtung des „Galizienthemas" nicht auf die werkimmanente Interpretation beschränken, sie müssen auch die Beziehung der Texte zur außerliterarischen Wirklichkeit beachten. Natürlich ist die Übereinstimmung der Aussage des literarischen Werkes, dessen Wesen in der Fiktionalität der dargestellten Welt besteht, mit den durch die Geschichtsforschung rekonstruierten Sachverhalten kein Wertungskriterium. Diese Unterscheidung zwischen der außerliterarischen Wirklichkeit und der dargestellten Welt des literarischen Werkes bezieht sich sowohl auf die erzählte Zeit als auch auf den erzählten Raum der Texte. Mecklenburg stellt fest: „Regionalität in einem literarischen Text, also seine ländlich-provinzielle Bestimmtheit, kann niemals als unmittelbares Abbild einer Region oder von Provinz genommen werden,
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sie ist vielmehr als Spezifikation poetischer Räumlichkeit zunächst immer ein Strukturmoment des Textes und hat als ein solches an den Funktionen teil, die dem Raum im komplexen Zeichengefüge eines sprachlichen Kunstwerks zukommen. Raum stellt ein Grundelement des poetischen Entwurfs von Welt dar, des Aufbaus einer Repräsentation von Wirklichkeit, denn Räumlichkeit als Form epischer Weltverarbeitung ist zugleich eine von Erfahrung überhaupt. Der Begriff des Raumes verklammert damit poetologische mit anthropologischen und historisch-sozialen Gegebenheiten" 1 3 . Die Problematik der Relationen zwischen Literatur und Geschichtsschreibung sowie zwischen Fiktionalität und Faktizität kommt in der Arbeit von Reinhart Koselleck Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten (1979) und in der an die Überlegungen Kosellecks anknüpfenden Abhandlung von Hans Robert Jauss Der Gebrauch der Fiktion in Formen der Anschauung und Darstellung der Geschichte (1982)14 zum Ausdruck. Die beiden Forscher veranschaulichen, daß das alte Oppositionspaar „res factae" und „res fictae" eigentlich schon seit der Aufklärung als überholt erscheint. Auch in der Geschichtsschreibung haben wir es mit einer Verbindung von Faktizität und Fiktion zu tun. Schon die Anschauung der geschichtlichen Erfahrung und dann alle Formen ihrer Darstellung sind auf die Mittel der Fiktion angewiesen, weil die geschichtliche Zeit und der Standort des Betrachters von vornherein eine Perspektivierung bedingen. Der Historiker kann die einmal vergangene Zeit nicht mehr einfangen, er kann nur die Fiktion des Faktischen bieten. Diese Erkenntnis enthält der von Koselleck angeführte Satz von Goethe: „Ein bedeutendes Ereignis wird man in derselben Stadt Abends anders als des Morgens erzählen hören", in dem die spezifische geschichtliche Zeit apostrophiert wird. Koselleck behauptet: „Der reflektierte Zeilenabstand zwingt den Historiker, geschichtliche Wirklichkeit zu fingieren, und zwar nicht in der Redeweise des ,es war'. Vielmehr ist er grundsätzlich gehalten, sich der sprachlichen Mittel einer Fiktion zu bedienen, um einer Wirklichkeit habhaft zu werden, deren Tatsächlichkeit entschwunden ist" (S. 283). Im Hinblick auf die Literatur stellt Hans Robert Jauss fest: „Dem Literaturhistoriker ist die kommunikative Leistung des Fiktiven aus der Genese und Funktionsgeschichte des verisimile vertraut. Deren jüngste Phase beginnt mit der Aufklärung — also gleichzeitig mit der ,Entdeckung einer spezifisch geschichtlichen Zeit', die nötigte, Fiktion und Faktizität neu ineinander zu blenden 15 — und läßt sich in der literarischen Praxis gleichermaßen durch eine Interaktion von Fiktion und Realität, in der poetologischen Theorie durch die Behauptung einer spezifischen ,Wahrheit der Fiktion' charakterisieren" (S. 417). Diese spezifische Wahrheit ist die Wahrscheinlichkeit als ein „mittleres Allgemeines" zwischen dem zu allen Zeiten Wahren und dem faktisch Einzelnen. In diesem Sinne äußerte sich schon Aristoteles in seiner Poetik, daß in der Dichtung das glaubwürdige Unmögliche (also auch das Erfundene) vor dem unglaubwürdigen Möglichen (also auch dem historischen Faktum) den Vorzug verdienen soll. Dieses Wahrscheinliche begründet die kognitive und kom-
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munikative Funktion der Fiktion. Der Begriff des Wahrscheinlichen wurde von der Poetik der Aufklärung wieder aktualisiert. Seit dieser Zeit gehört er zur gemeinsamen Zone der Dichtung und der Geschichtsschreibung. „Dichtung und Geschichtsschreibung unterscheiden sich an der gemeinsamen Grenze des Wahrscheinlichen vielmehr durch die verschiedene Weise, in der sie Mittel der Fiktion in Gebrauch nehmen, und durch die verschiedene Erwartung, die sie bei ihren Lesern erwecken." (Jauss, S. 418). Auch Koselleck verweist darauf, daß die Rollen des Dichters und des Historikers keine scharfen Grenzen erkennen lassen: „Ein Dichter kann in das Gewand des Historikers schlüpfen, so daß sein Text selber keine Grenzbestimmung zuläßt, die er vielmehr zu unterlaufen trachtet. Er mag sich echter oder fingierter Quellen bedienen und im Ergebnis kann die innere Wahrscheinlichkeit, auf die er sich mit Aristoteles berufen darf, besser über geschichtliche Problemlagen oder Konflikte Auskunft geben als es je ein Historiker vermag" (S. 281). Aus dem oben Gesagten lassen sich für die Zwecke unserer Arbeit zwei Schlußfolgerungen ziehen. Erstens soll bei der Befragung historischer Quellen deren Fiktionalität anerkannt werden. Auf diese Weise stellt ein literarisches Werk, das sich auf gewisse Quellen beruft, ein Gebilde dar, in dem Fiktionalität auf zwei Ebenen auftritt, der Darstellung von geschichtlicher Erfahrung und der Erfindung im Hinblick auf die Fabel. Dasselbe gilt für die Werke derjenigen Autoren, die sich auf die direkte Anschauung als Quelle ihrer Kenntnisse der historischen Tatsachen berufen, also auf diejenigen, die als Augenzeugen der Vorfälle auftreten. Zweitens müssen die spezifischen Möglichkeiten untersucht werden, die dem literarischen Werk die Fiktionalität seiner dargestellten Welt verleiht, eine bestimmte Stellung zur außerliterarischen Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen. Ein auch für den Literaturhistoriker ergiebiges Konzept aus diesem Forschungsbereich bringt die kleine Abhandlung von Jerzy Topolski Problemy metodologiczne korzystania ze íródet literackich w badaniu historycznym (1978)16. Topolski erörtert in dieser Arbeit zwei Möglichkeiten, das literarische Werk als Quelle für den Historiker zu benutzen. Die erste Möglichkeit bezieht sich auf die gegenständliche Entsprechung zwischen dem literarischen Werk und der Wirklichkeit. Diese Beziehung muß jedoch nicht eng als eine notwendige Übereinstimmung eines von der Gegenwart des Verfassers handelnden Werkes mit einmaligen wirklichen Fakten aufgefaßt werden. Sie umschließt vielmehr auch solche literarische Aussagen über die Gegenwart, die sich auf Klassen von wirklichen Fakten, auf typische Gegenstände und ihre Merkmale beziehen. Der Autor des literarischen Werkes soll als ein Chronist besonderer Art betrachtet werden, schreibt Topolski, ein Chronist, der die Wirklichkeit auf eine idealisierende Weise modelliert, d.h. der die Aufmerksamkeit auf ihre wesentlichen Merkmale lenkt. Die Wahrheit des literarischen Werkes kann somit als die essentielle Wahrheit verstanden werden, die Auskunft über wesentliche Merkmale der realen Welt und ihre wichtigen Relationen gibt. Diese Bemerkungen sind natürlich nicht neu für die Literaturwissenschaft,
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aber wegen ihrer systematisierten Form wurden sie hier angebracht. Besonders aufschlußreich ist jedoch die zweite Möglichkeit, das literarische Werk als Quelle zu betrachten, die von Topolski erörtert wird. Er spricht nämlich von dem symptomatischen Wert der Literatur als Indikator von gewissen Fakten und historischen Prozessen, besonders aus der Sphäre des Bewußtseins. Das literarische Werk wird dabei als Ausdruck von Inhalten, die es nur indirekt enthält, betrachtet. Topolski sieht das literarische Werk als ein Geflecht von drei Strukturen: der darstellenden, der dargestellten und der mitgeteilten Struktur. Nur auf der Ebene der mitgeteilten Struktur haben wir es mit einem (intendierten) Zeichen zu tun — dem absichtlich vom Autor mitgeteilten Sinn (Ziel) des Werkes. A u f der Ebene der darstellenden Struktur, die alle vom Verfasser verwendeten stilistischen Mitttel umfaßt, und der dargestellten Struktur, d.h. all der Inhalte, mit deren Hilfe der Autor sein Ziel erreichen will, haben wir es nur mit Symptomen und nicht mit der bewußten Mitteilungssituation zu tun. Auch die mitgeteilte Struktur hat außer dem Charakter eines Zeichens den Charakter eines Symptoms, weil sie außer der intendierten Mitteilung auch gewisse objektive Prozesse zum Ausdruck bringt. Diese Funktion des literarischen Werkes als Indikator — d.h. als Ausdruck und gleichzeitig als Element bestimmter objektiver Prozesse ist im Falle des „Problemfeldes Galizien" ein ergiebiges Untersuchungsinstrument. Die Beziehung des literarischen Textes zur „historischen Wahrheit" soll somit zwei Faktoren berücksichtigen. Zum ersten soll im Hinblick auf die gegenständliche Entsprechung die Frage nach der essentiellen Wahrheit des Werkes aufgeworfen werden — nach wesentlichen Merkmalen der Wirklichkeit, die es wiedergibt. Zum zweiten soll der symptomatische Charakter des Werkes als Indikator untersucht werden. Welches Bewußtsein ihrer Autoren und gleichzeitig der zeitgenössischen Gesellschaft in Österreich bzw. Deutschland bringen diese Texte zum Ausdruck? Welche objektiven geschichtlichen Prozesse werden von ihnen unbewußt ausgedrückt? Wie war ihre intendierte und nicht intendierte Wirkung auf das Lesepublikum? Mit anderen Worten: Von welcher Bewußtseinslage wurden diese Texte geprägt und welches Bewußtsein prägten sie bei ihren Rezipienten weiter? All das sind Fragen, mit denen sich diese Arbeit auseinandersetzen muß. A m Ende jedes analytischen Kapitels dieser Abhandlung wurde eine Teilsynthese angestrebt, die einige für die besprochene Werkgruppe kennzeichnende Grundzüge herauszuarbeiten suchte. Es wurden dabei einige Fragen als Orientierungshilfe aufgeworfen. Als eine erläuternde Voraussetzung wurde die Frage nach der literarhistorischen Zuordnung der analysierten Texte gestellt. Ihre Beantwortung sollte helfen, die Gestaltungsweise der dargestellten Welt näher zu bestimmen. Sowohl die Einordnung des Verfassers in einen ideologischen Zusammenhang, die allerdings in den meisten Fällen schon bei seiner biographischen Vorstellung erfolgte, als auch die Entscheidung des Autors für eine bestimmte Darstellungsstruktur liefern einige Aufschlüsse über die Gründe einer spezifischen Gestaltung der galizischen Welt in seinem
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Schaffen. Weitere Fragen beziehen sich darauf, wer der „implizite Leser" der besprochenen Werke sein sollte und inwiefern er durch sie angesprochen werden konnte; auf welche Weise diese Werke sein Galizienbild prägten und wie die Texte selbst von dem Erwartungshorizont ihrer Rezipienten beeinflußt wurden. Schließlich wird die in den Werken des jeweils untersuchten Problemkreises überwiegende Funktion erörtert. Es wird versucht, sowohl das Anliegen des Autors, das ihn zur Wahl des Gegenstandes und dessen besonderer Behandlung veranlaßt hat, zu rekonstruieren, als auch den symptomatischen Wert des Werkes zu erschließen. Das Gesamtpanorama dieser Ansichten soll „das" Bild Galiziens in der deutschsprachigen Erzählprosa ergeben, insofern sie der Autorin dieser Arbeit zur Verfügung stand, und Überlegungen ermöglichen, was die behandelten Schriftsteller gerade zu solcher Gestaltung der galizischen Problematik bewegen konnte und welche objektiven historischen Prozesse mit Hilfe dieser Texte ohne Absicht der Verfasser ausgedrückt wurden. Das Literaturverzeichnis am Ende der vorliegenden Abhandlung führt eine Reihe von geschichtlichen und landeskundlichen Veröffentlichungen über Galizien sowohl in deutscher als auch in polnischer Sprache an, auf die verwiesen werden kann 17 . Diese Untersuchungen wurden benutzt, um den historischen Hintergrund, vor dem sich die Handlung der analysierten literarischen Werke abspielt, zu erschließen, auch wenn es nicht immer explizite durchgeführt wurde. Bei der Darstellung der geschichtlichen Sachverhalte war ich bemüht, mich an die letzten Forschungsergebnisse, ihre Zweifel und Fragezeichen eingeschlossen, zu halten. Im Anschluß an Koselleck und Jauss wurde es allerdings vorausgesetzt, daß diese Arbeiten keinen genauen Aufschluß, „wie es eigentlich gewesen...", zu liefern vermögen. Ich habe sowohl die polnische als auch die deutsche und österreichische Sekundärliteratur herangezogen, aber mein Standort als Polin hat zwangsläufig zu einer Bewertung der Geschichte Galiziens vom polnischen Standpunkt aus fuhren müssen, was sich nicht auf die Darstellung der Sachverhalte, sicher aber auf ihre Beurteilung auswirkte. Als letzter Teil des Einleitungskapitels sei diesen Erwägungen ein kurzer Überblick des Forschungsstandes zur deutschsprachigen schöngeistigen Literatur über Galizien angeschlossen. Wenn man in der Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur von Franz Anselm Schmitt nachschlägt, stellt man verblüfft fest, daß unter dem Stichwort „Galizien" lediglich eine Arbeit, und zwar Schrifttum über Galizien und sein Deutschtum von Sepp Müller genannt wird 18 . Es stimmt aber mit dem Sachverhalt überein, daß kein umfassenderes monographisches Werk zu diesem Gegenstand existiert. Es besteht auch keine größere Arbeit, die die Leistungen deutschschreibender Autoren Galiziens, bei denen dieses Land zwar nicht zwangsläufig, aber doch am häufigsten thematisiert und problematisiert vorkommt, synthetisch erfassen würde. Man bleibt auf entsprechende Passagen in der österreichischen oder seltener in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung angewiesen. Umfangreicheres Wissen wird nur im Falle einiger Teilgebiete dieses Themenkreises angeboten: im Fai-
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le des „Polenmotives" in einigen Werken polnischer Germanisten, in bezug auf das galizische Judentums in relativ zahlreichen Arbeiten über die deutschsprachige Ghetto- und Judengeschichte 1 9 , schließlich in „heimatbezogenen" Beiträgen über das Schrifttum der Galiziendeutschen, als ethnische Gruppe aufgefaßt und nur dem Leben dieser Gruppe gewidmet. Das Standardwerk in bezug auf die deutschsprachige Literatur in Galizien und somit zum Teil auch über Galizien ist die grundlegende Deutschösterreichische Literaturgeschichte. Handbuch zur Geschichte der deutschen Dichtung in Österreich-Ungarn, herausgegeben von Eduard Castle, Johann Willibald Nagl und Jakob Zeidler. Der uns interessierende Zeitraum zwischen 1848 und 1918 wird im Band 3 (1848-1890; Wien 1935) und Band 4 (1890-1918; Leipzig 1937) behandelt. Der Galizienbeitrag in diesen Bänden stammt von Jakob v. Rollauer. Diese Arbeit bietet die umfangreichste Übersicht über das Schaffen der aus Galizien stammenden Verfasser bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Ich habe sie oft zur Erstorientierung benutzt, wozu sie sich durch die Mannigfaltigkeit des dargestellten Stoffes vorzüglich eignet. Man muß jedoch bemerken, daß viele der bibliographischen Angaben nicht stimmen, sodaß eine jeweilige Überprüfung der Daten unerläßlich erscheint. Viel bescheidener wurde zwangsläufig der kleine Aufsatz von Hermann Sternbach angelegt, Galizien und Galizier in der deutschen Literatur, der in der 3. N u m m e r des Jg. 1927 der „Ostdeutschen Monatshefte für Kunst und Geistesleben" veröffentlicht wurde. Der Text hat einen polemisch-apologetischen Charakter, da der Verfasser, der sich selbst als Galizier zu erkennen gibt, mit der gängigen stereotypen Vorstellung, daß Galizien ein „Bärenland" und „Halbasien" sei, aufzuräumen sucht. Zu diesem Zwecke bespricht er eine Reihe von bedeutenden Galiziern im deutschen Geistesleben und macht darauf aufmerksam, daß das westeuropäische Publikum nicht wisse, wie viele berühmte Dichter, Schriftsteller und Gelehrte aus Galizien stammten. Er hebt die Tatsache hervor, daß sich die bisherige Literaturgeschichtsforschung kaum um dieses Gebiet gekümmert habe, und will seinen Aufsatz als eine erste Anregung verstanden wissen. Diese ist fast ohne Widerhall geblieben. Die folgende Flut von nationalistischen Artikeln über das auslandsdeutsche Schrifttum hat Galizien nur als „deutsche Heimat" mitberücksichtigt 20 . Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist das Standardwerk des Dritten Reiches in bezug auf diese Thematik, die Literaturgeschichte des Deutschtums im Ausland vom Mittelalter bis zur Gegenwart von Karl Kurt Klein (1939; neu mit einer Bibliographie 1945—1978 von Alexander Ritter, 1979), das wir bereits an dieser Stelle nennen, weil es, obwohl es sich von „volksfremden" deutschschreibenden Autoren lossagt, die wichtigsten von ihnen im Hinblick auf Galizien berücksichtigt, wenn auch ablehnend. Der Verfasser erklärt, daß sein Zuordnungskriterium nicht die Sprache, sondern das „Volkstum", also die Rassenzugehörigkeit des Schriftstellers bilde. Auf diese Weise werden zwei der bekanntesten Vertreter der deutschsprachigen Literatur Galiziens nachdrücklich ausgeklammert, aber doch erörtert: Karl Emil Franzos wird als Jude eingestuft
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und Leopold von Sacher-Masoch als Slawe „von slawischer Geistigkeit und slawischer Seelenverfassung". Klein behauptet, daß es ein tragischer Irrtum des Spätliberalismus gewesen sei, sie als deutsche Schriftsteller anerkannt zu haben, gleichzeitig muß er allerdings zugeben, daß gerade ihre Werke das spätere „echt Volksdeutsche Schrifttum dieser Gegenden" angeregt haben 2 1 . Es sei in diesem Zusammenhang noch erwähnt, daß auch solche „völkisch" eingestellten Literaturhistoriker wie Adolf Bartels oder Josef Nadler gerade „volksfremde" Schriftsteller aus Galizien als bedeutendste Beispiele anfuhren müssen. Zu dem Umkreis jener Schriften, die sich mit der deutschsprachigen Literatur in Galizien ohne Hinwendung zu einer einzigen Nationalgruppe auseinandersetzen, gehört auch die Monographie des Triester Germanisten Claudio Magris Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur (ital. 1963, dt. 1966). Der zur Zeit der Niederschrift jenes Buches blutjunge Forscher sucht darin die gesamte österreichische Literatur seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts der ideologischen Komponente des sich herauskristallisierenden Habsburgermythos zuzuordnen. Zum Kapitel „An den östlichen Reichsgrenzen", das Galizien miterfaßt, muß festgestellt werden, daß der Umfang des Forschungsgegenstandes seine in allen Punkten gründliche Behandlung verhindert hat. Schon die einleitende Feststellung, daß solche Provinzen wie Galizien, die Bukowina oder Transsilvanien „nach Kultur und Rasse russisch (...)" waren 22 , muß bei einem slawischen oder in slawischen Angelegenheiten etwas bewanderten Leser Widerspruch erregen. Magris meint, daß gerade in jenen östlichen Grenzländern der habsburgische Mythos als eine übernationale, ethisch-kulturelle einheitstiftende Idee einen fruchtbaren Boden gefunden habe. Seine Belegbeispiele sind im Falle Galiziens Sacher-Masoch und Franzos, aber sein Gesamturteil über diese Schriftsteller trifft nicht vollständig zu. So ist zwar seine Beurteilung der Bedeutung der österreichischen Idee für SacherMasoch durchaus richtig, aber seine Überlegungen, ob dieser nicht etwa ein österreichisch-gemäßigter Antisemit sei, verraten, daß er zu diesem Zeitpunkt Sacher-Masochs Schaffen nur fragmentarisch kennen konnte. Allerdings m u ß man zugeben, daß die Orientierung durch Sacher-Masochs spezifischen Sinn für Humor erschwert wird, sodaß erst die Kenntnis einer größeren Gruppe von Texten vor Fehlurteilen schützt. Dagegen stimmt die Zuordnung von Franzos zu den Anhängern des Habsburgermythos überhaupt nicht, da nicht die von diesem vielmals kritisierte Monarchie, sondern der preußisch-deutsche Staat Bismarcks sein ideologisches und kulturelles Leitbild war. Man muß jedoch zugeben, daß Magris in seinem zweiten hervorragenden Buche, Weit von wo, diese Ansichten weitgehend korrigiert hat. Das Galizienthema als ein Teil des Forschungsfeldes für polnische Germanisten, die sich mit dem Polenthema in der deutschen Literatur schlechthin befassen, nimmt eine verhältnismäßig bescheidene Stellung ein, besonders wenn man es im Hinblick nicht auf die deutschsprachige Literatur in bzw. aus Galizien, sondern über Galizien untersucht. Der einzige Verfasser, in dessen
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Werk man aufschlußreiche und sehr umfassende Informationen zu diesem Thema finden kann, ist der unlängst verstorbene Germanist aus Lodz, Arno Will. Besonders ergiebig sind in dieser Hinsicht seine Buchveröffentlichungen: Polska i Polacy w niemieckiej prozie literackiej XIX wieku (1970), Motywy polskie w krótkich formach literackich niemieckiego obszaru jçzykowego 1794— 1914(1916) und Kobieta polska w wyobrazni spoleczeñstwa niemieckiego obszaru jçzykowego od XIV wieku do lai trzydziestych dwudziestego wieku (1983). Er hat auch eine Reihe von Aufsätzen zum Polenthema veröffentlicht, deren Titel z.T. im Literaturverzeichnis dieser Arbeit zu finden sind. Galizien steht in zweierlei Hinsicht im Spektrum seines Interesses: einerseits als Schauplatz des mißglückten Aufstandes von 1846 im Umkreis der Literatur zum Thema des polnischen Freiheitskampfes, anderseits ist es mit einem Teil der Belletristik des 19. Jahrhunderts verbunden, die das Leben des Dorfes und des jüdischen Shtetls im geteilten Polen behandelt. Ich werde im Verlauf dieser Arbeit mich mit seinen Deutungen wiederholt auseinandersetzen. Desto mehr möchte ich an dieser Stelle betonen, wieviel ich den Arbeiten von Will verdanke. Der Umfang seiner Kenntnisse der „Galizienliteratur" flößt Respekt ein; und ich muß mich — neben der Deutschösterreichischen Literaturgeschichte — auf seine Werke als auf die erste Quelle meiner Orientierung darüber, wer und was über Galizien geschrieben hat, berufen. Zwar umfaßt natürlicherweise das Werk von Castle, Nagl und Zeidler ein quantitativ viel reicheres Material, jedoch ist Will der einzige, der eine Analyse ausgewählter Werke durchführt. Seine Beleuchtung der Texte in bezug auf ihren gesellschaftlichen Gehalt hin ist gut fundiert und überzeugend durchgeführt. Meine meritorischen Bedenken beziehen sich auf die Erörterung der Frage nach der Einstellung einzelner Verfasser zur nationalen Polenproblematik und zu den Polenfiguren in ihrem Schaffen. Darüber werden die analytischen Kapitel dieser Arbeit Aufschluß geben. Im günstigsten Falle hinsichtlich des erwünschten „Hinterlandes" befindet sich der Forscher der „Galizienliteratur" bei den Untersuchungen aus dem Bereich der Ghetto- und Judengeschichte, obwohl das meiste auf diesem Gebiet selbst schon den Charakter eines historischen Dokuments seiner Entstehungszeit angenommen hat. Die älteste dieser Veröffentlichungen ist das umfangreiche Kapitel Ghetto-Poeten in Literarische Physiognomien von Wilhelm Goldbaum (1884). Die essayistischen Texte zeigen den Autor als einen assimilierten Westjuden, der seine Glaubensgenossen im Osten zwar mit Mitleid, aber von oben herab betrachtet. Auch Ludwig Geiger, der Verfasser des Werkes Die Deutsche Literatur und die Juden (1910) schreibt seine Monographie aus der Position eines vollständig assimilierten Juden, der sich als Deutscher fühlt. Der Gegenstand seiner Arbeit sind sowohl jüdische Schriftsteller als auch literarische Gestalten der Juden in der deutschen Literatur. Größeren Wert zumindest im Hinblick auf die Materialiensammlung, aber im Falle der zunächst zu nennenden Arbeit auch in der Charakteristik und Deutung der besprochenen Bücher, haben zwei Werke aus den dreißiger Jahren. Das erste existiert leider nur in der Form des Typoskripts. Es ist die unver-
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öffentlichte Wiener Dissertation von Mina Schiffmann Die deutsche Ghettogeschichte (1931). Die Verfasserin hat sich sehr viel Mühe gegeben, eine große Stoffülle anzusammeln. In einigen Fällen sind es Bücher, die nach dem Zweiten Weltkriege nicht mehr aufzufinden sind. Sie hat ihre Materialien gründlich systematisiert und viel Aufmerksamkeit der Literatur der Ostjuden geschenkt. Die Lektüre dieser in der Wiener Universitätsbibliothek befindlichen Arbeit sei jedem empfohlen, der eine Auseinandersetzung mit dieser Problematik vorhat. Breiter angelegt, ja als ein Standardwerk konzipiert, aber weniger gewissenhaft, ist die Monographie von Wilhelm Stoffers Juden und Ghetto in der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Weltkrieges (1939). In dem Vorwort berichtet der Verfasser, daß er fast zehn Jahre lang an diesem Vorhaben gearbeitet habe und damit „die unparteiische wissenschaftliche Erforschung eines literarischen Problems von großer Tragweite" bezwecke 23 . Allerdings ist das Buch durch seine Entstehungs- und Erscheinungszeit vorbelastet. Zwar läßt sich bei dem Verfasser kein programmatischer Antisemitismus feststellen, jedoch mehrmals schimmert durch die angeblich unbefangene Interpretation ein Rassenvorurteil durch, das die Objektivität der Darstellung beeinträchtigt. Als Nachschlagewerk ist dieses Buch, das die Gesamtheit des Phänomens, wieder doppelt als Schrifttum der Juden und über die Juden verstanden, zu erfassen sucht, nicht wegzudenken. Man muß allerdings vorsichtig mit seinen Angaben umgehen, da bei der zeitlichen Ausdehnung des Gegenstandes Sachfehler nicht zu vermeiden waren. Nach dem Zweiten Weltkriege ist meines Wissens nur ein einziges großzügig angelegtes Werk entstanden, das für die Erfassung der Judenproblematik in der Literatur der uns interessierenden Zeitperiode über Galizien von Bedeutung ist, und zwar ist es das grundlegende Buch von Claudio Magris Weit von wo. Verlorene Welt des Ostjudentums (ital. 1971, dt. 1974). Als das erste Werk, das die im Zweiten Weltkrieg untergegangene Welt des Ostjudentums beschwört, hat die Arbeit von Magris eine ganz besondere Bedeutung. Eigentlich ist das Buch als eine Monographie des Schaffens von Joseph Roth konzipiert, aber die Neigung des italienischen Forschers zur Synthese und zu weit ausholenden Überblicken hat bewirkt, daß sein Anliegen ein weit darüber hinausgreifendes geworden ist. Das Werk Roths wird auf die Grundidee der Sehnsucht nach der verlorenen Heimat des Shtetl und der Tragik des Ausbruchs aus dem östlichen Ghetto zurückgeführt. In diesem Lichte wird die Weltanschauung und Kultur der Ostjuden vor den Augen des Lesers aufgerollt, wobei reichlich angebotene Beispiele aus den Werken jüdischer Literatur bzw. Literatur über die Juden in verschiedenen Sprachen herangezogen werden. Wenn auch diesmal die Hauptthese Kontroversen hervorrufen kann, ist das Material reicher fundiert und stärker differenziert. Dies bewirkt, daß auch im Hinblick auf Galizien, das außer Sacher-Masoch und Franzos (und selbstverständlich dem späteren Schriftsteller Roth) mit den Namen solcher Autoren wie Herzberg-Fränkel, Rappaport und Samuely vertreten ist, die Deutung wesentlich adäquater als in Der habsburgische Mythos ausfallt.
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Die letzte thematische Gruppe aus dem Umkreis der Sekundärliteratur, auf die kurz eingegangen werden soll, bezieht sich auf das Schrifttum der Galiziendeutschen. Die meisten dieser vornehmlich populärwissenschaftlichen oder gar journalistischen Beiträge gelten einem etwas späteren Zeitraum als dem in dieser Arbeit berücksichtigten, und zwar der Periode zwischen den beiden Weltkriegen. Nur die Besprechungen des Schaffens von Weber-Lutkow, von denen solche Überblicke oft ausgehen, überschneiden sich mit dem Forschungsfeld der vorliegenden Abhandlung. Es gibt aber eine Reihe von Veröffentlichungen aus diesem Bereich, die bei bibliographischen Erkundungen behilflich sein können. Die größten Dienste leistet dabei die umfangreiche Bibliographie von Sepp Müller Schrifttum über Galizien und sein Deutschtum (1962), eine komplexe Übersicht der Publikationen bis in die sechziger Jahre unseres Jahrhunderts hinein. Im geringeren Grade können bei der Zusammenstellung von Materialien folgende Bibliographien ergiebig sein: die Monographie desselben Verfassers Von der Ansiedlung bis zur Umsiedlung. Das Deutschtum Galiziens, insbesondere Lembergs. 1772—1940(1961) sowie zwei Literaturverzeichnisse im Sammelband Aufbruch und Neubeginn. Heimatbuch der Galiziendeutschen. Teil 7/(1977): Aus dem Bücher- und Schriftenbestand des Galiziendeutschen Heimatarchivs und Neues Schrifttum der Galiziendeutschen. Man muß jedoch beachten, daß alle diese Bibliographien, auch falls sie auf die Zeit vor 1914 zurückgreifen und die schöngeistige Literatur berücksichtigen — was in stärkerem Maße und in systematisierter Form nur Sepp Müller macht — nicht die Thematisierung des Phänomens Galizien, sondern die Zugehörigkeit der berücksichtigten Autoren zur ethnischen Gruppe der Galiziendeutschen als ausschlaggebend betrachten. Dieser Überblick über die wichtigeren Positionen der Sekundärliteratur bestätigt meines Erachtens die objektive Notwendigkeit der Beschäftigung mit dem Problemfeld Galizien, da bisher keine synthetische Arbeit diese Thematik in dem Zeitraum zwischen 1846 und 1914 erfaßt hat. Mit diesem Satz habe ich die Einleitung im Jahre 1985 abgeschlossen. Trotz der vergangenen sechs Jahre bleibt diese Feststellung nach wie vor aktuell, obwohl man in dieser Zeit ein verstärktes Interesse an dem Phänomen Galizien sowohl unter den Literaturwissenschaftlern (Germanisten und Komparatisten) als auch unter den Herausgebern und Kritikern beobachten kann. Das Interesse wurde u.a. durch zwei internationale Symposien angeregt, von denen das erste in Poznan im Herbst 1984 stattfand und durch den von Prof. Dr. Stefan H. Kaszyñski geleiteten Lehrstuhl für Österreichische Literatur und Kultur der Adam-Mickiewicz-Universität sowie durch das Österreichische Kulturinstitut aus Warszawa veranstaltet wurde. Das andere Symposium fand in Innsbruck im Herbst 1986 als eine Fortsetzung des ersteren statt und wurde von dem langjährigen Ordinarius für Vergleichende Literaturwissenschaft Prof. Dr. Zoran Konstantinovic organisiert. Die Ergebnisse dieser Symposien liegen erfreulicherweise in Buchform vor und bilden einen wertvollen Ansatz für germanistische und komparatistische
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Auseinandersetzungen mit dem Galizienphänomen: die Materialien des ersten Symposiums wurden u.d.T. Galizien — eine literarische Heimat, Poznan 1987, von Stefan H. Kaszyñski herausgegeben, diese des zweiten — u.d.T. Galizien als gemeinsame Literaturlandschaft von Fridrun Rinner und Klaus Zerinschek, Innsbruck 1988, publiziert. Die Beiträge der beiden Symposien stellen eine Vielfalt von Teilaspekten der galizischen Literaturen dar (es gab nämlich mindestens fünf solche — die polnische, deutsche, ukrainische, hebräische und jiddische Literatur). In der zweiten Hälfte der 80er Jahre fand eine intensivierte Auseinandersetzung mit Leben und Schaffen von den zwei wichtigsten deutschschreibenden Autoren Galiziens vor Joseph Roth statt, Leopold von Sacher-Masoch und Karl Emil Franzos. Auf diese Arbeiten wird in der Bibliographie und gelegentlich, wo sie für meine Arbeit von besonderer Wichtigkeit sind, auch im Text dieser Neuauflage hingewiesen 24 . Schließlich sei es auf eine Reihe editorischer Vorhaben hingewiesen, die einer erweiterten Rezeption der galizischen Literatur in der deutschen Sprache behilflich sind. Breitere Kreise des literarischen Lesepublikums sahen sich an das vergessene Königreich Galizien durch die spannende Collage von Martin Pollack erinnert, welche u.d.T. Nach Galizien. Von Chassiden, Huzulen, Polen und Ruthenen. Eine imaginäre Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina, Wien 1984, herausgegeben wurde. Dieses z.T. publizistische, z.T. als ein Anthologie einschlägiger literarischer Passagen angelegte Buch ermöglicht einen guten Einblick in die Kulturvielfalt dieser Territorien. Ferner seien zwei Anthologien genannt, die zur Erfassung der jüdischen Problematik Galiziens von Belang sind. 1981 wurde zum ersten Mal die wichtige Anthologie Dein aschenes Haar Sulamith. Ostjüdische Geschichten von Ulf Diederichs in Verbindung mit Otto M. Lilien und der Kölner Germania Judaica mit prachtvollen Bildern des ostgalizischen Graphikers und Buchillustrators der Jahrhundertwende Ephraim Moses Lilien herausgegeben. Es liegt bereits die vierte Auflage (1989) dieses in bezug auf das jüdische Galizien so aufschlußreichen Buches vor, allerdings tragen die zwei letzten Auflagen nur noch den Titel Ostjüdische Geschichten. Der für die ostjüdische Kultur so belangvolle Raum Galizien wird ebenfalls in der von Jost Hermand herausgegebenen Anthologie Geschichten aus dem Ghetto, Frankfurt a. M. 1987, mit einigen Erzählungen vertreten. Die fast vergessenen Texte von Sacher-Masoch und Franzos können heute wenigstens auszugsweise in einigen repräsentativen Auswahlbänden eingesehen werden. Als Sacher-Masoch-Herausgeber und -Forscher hat dabei Michael Farin aus München besondere Verdienste, der bereits eine Reihe von gründlich recherchierten Auswahlbänden zu diesem Autor veröffentlicht hat, von denen wohl der wichtigste der Materialienband Sacher-Masoch. Leben und Werk, Bonn 1985, ist. Ferner sind zu nennen: Souvenirs. Autobiographische Prosa. Aus dem Französischen von Susanne Farin, München 1985; Don Juan von Kolomea. Galizische Geschichten, Bonn 1985; Jüdisches Leben in Wort und Bild,
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Dortmund 1985, Wiesbaden 1986, u.a. Eine repräsentative Auswahl ostjüdischer Geschichten von Sacher-Masoch bietet die von Adolf Opel herausgegebene Anthologie Der Judenraphael. Geschichten aus Galizien, Wien, Köln und Graz 1989. Zu Karl Emil Franzos wäre es auf die Auswahl von Joseph Strelka u.d.T. Erzählungen aus Galizien und der Bukowina in der Nicolai'schen Bibliothek des Ostens, Berlin 1988, hinzuweisen. Es bleibt zu erhoffen, daß dieser meistens in der ehemaligen DDR herausgegebene Autor weitere Ausgaben im vereinigten Deutschland erfährt und kritisch rezipiert wird. Die von der israelischen Forscherin und Autorin mehrerer Franzos-Aufsätze Margarita Pazi ins Auge gefaßte Gesamtausgabe steht auf jeden Fall noch aus. Solche editorischen Vorhaben sind sehr begrüßenswert und durch nichts zu ersetzen, ermöglichen sie doch einem breiteren Leserkreis den direkten Zugang zu vergessenen und meistens in den Bibliotheken schwer zugänglichen Texten. Aber gerade im Falle eines vergessenen literarischen Raumes erscheint die Ansiedlung der rezipierten Texte in einem konkreten historischen und literarhistorischen Kontext unerläßlich. Auch ist der Zugang zum Gesamtwerk beider Autoren sowie zu den Texten anderer galizischer Schriftsteller immer noch schwer. Möge meine Arbeit als ein kleiner Abriß der deutschsprachigen Literatur zum Galizienthema bis zum Ersten Weltkrieg diese Lücken wenigstens in einem gewissen Ausmaß ausfüllen.
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Der Aufsatz w u r d e veröffentlicht in der „ K o m m u n i t ä t " , 69/70,1974, S. 48—59, das Zitat s t a m m t von S. 48. Auf die N o t w e n d i g k e i t eines schärferen U m r e i ß e n s des F o r s c h u n g s f e l d e s m a c h t Ortowski auch im A u f s a t z The need and scope of studies on "Polish subjects" in the literature of the germanspeaking countries, „Polish W e s t e r n Affairs", 1977, S. 104—124, vor allem aber in der k o m p l e x e n Darstellung der m e t h o d o l o g i s c h e n Problematik der F o r s c h u n g e n z u m Polent h e m a , der bisher m e i n e s Wissens nicht v e r ö f f e n t l i c h t e n A b h a n d l u n g O potrzebie i granicach bada ή nad „tematem polskim" w literaturze niemieckiego obszaru jezykowego, 88 S., a u f m e r k s a m . Vgl. die zwei l e t z t g e n a n n t e n A r b e i t e n : der Aufsatz in „Polish W e s t e r n Affairs" S. 107 ff; im Typoskript der A b h a n d l u n g O potrzebie i granicach badan nad tematem polskim sind es S. 4 ff. In der u m f a s s e n d e n B e d e u t u n g der sowohl die polonofile Lyrik der Zeit des N o v e m b e r a u f s t a n d e s als auch die p o l e n f e i n d l i c h e Literatur berücksichtigt, die seit 1848 O b e r h a n d g e n o m m e n hat, v e r w e n d e t den Begriff „Polenliteratur" Jan C h o d e r a in s e i n e m g r u n d l e g e n d e n Werk Die deutsche Polenliteratur 1918—1939. Stoff- und Motivgeschichte (1966). U n t e r Westgalizien verstehe ich nicht den in der dritten T e i l u n g Polens von Österreich erworb e n e n Teil des Landes, dessen G r e n z e durch die Flüsse Pilica, die mittlere Weichsel u n d den Bug gebildet wird. Dieses Westgalizien existierte nur bis 1803 als eigenständige Provinz, w u r d e d a n n mit d e m restlichen Galizien von 1772 v e r b u n d e n u n d 1809 an das W a r s c h a u e r H e r z o g t u m (und der Bezirk T a r n o p o l an R u ß l a n d ) a b g e t r e t e n . Im E i n v e r n e h m e n mit dem Sprachusus, der sich nach 1815 herausgebildet hat, b e z e i c h n e ich so die G e b i e t e westlich des San, u n d u n t e r Ostgalizien verstehe ich das G e b i e t östlich dieser natürlichen G r e n z e , die w e i t g e h e n d auch eine Sprachgrenze zwischen polnisch u n d ukrainisch war. Vgl. die B e s p r e c h u n g von Jan Hryiiczuk in Estetyka fin desièclu w Niemczech i Austrii, Katowice 1974, S. 165 ff. A u c h die u n t e n g e n a n n t e Arbeit von R o s s b a c h e r w u r d e diesem k o n k r e t e n literarhistorischen P h ä n o m e n g e w i d m e t , allerdings verweist der Verfasser auf die ältere H e i m a t b e w e g u n g des 19. J a h r h u n d e r t s , die in ihren A n s ä t z e n auf R o u s s e a u , M o s e r u n d H e r d e r zurückgeht, u n d auf gewisse literarische F o r m e n , die als V o r s t u f e n gelten k ö n n e n . Vgl. Ina-Maria G r e v e r u s , S. 25. Es wird damit auf Den habsburgischen Mythos in der österreichischen Literatur von Claudio Magris, S. 135 ff angespielt, was R o s s b a c h e r in einer F u ß n o t e erklärt. Vgl. Karlheinz Rossbacher, S. 22. N o r b e r t M e c k l e n b u r g , Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman, K ö n i g s t e i n / T s . 1982, S. 8 und 17. Vgl. a.a.O., S. 16. Vgl. die Ü b e r l e g u n g e n u n d Ergebnisse der F o r s c h u n g e n von Jan C h o d e r a , a.a.O., sowie die Darstellung der sog. G r e n z l a n d d i c h t u n g im Dritten Reich von H u b e r t Ortowski in Literatura w III Rzeszy, 2. veränd. Aufl. P o z n a n 1979, S. 140 f. Das T h e m a ist nachträglich von mir in d e m B u c h m a n u s k r i p t Jewish life in Galicia as reflected in the pre — ¡918 German literature (1989) bearbeitet w o r d e n , das von d e m C e n t e r for Research on the History and C u l t u r e of Polish Jews, T h e H e b r e w University of J e r u s a l e m z u m D r u c k angen o m m e n w o r d e n ist. In Zur anthropologischen Deutung deutsch-polnischer „Begegnung" in der deutschen Literatur definiert Ortowski diesen Begriff auf folgende Weise: „Der B e g r i f f , B e g e g n u n g ' m u ß dabei seiner u m g a n g s s p r a c h l i c h e n Sphäre e n t h o b e n w e r d e n . , B e g e g n u n g ' D e u t s c h e r mit Polen im literarischen Werk wäre soviel wie die G e s t a l t u n g einer Situation, die das v e r z a h n t e Rollenverhalten der Partner zeigt, das erwartete, e r w ü n s c h t e u n d praktizierte V e r h a l t e n " , a.a.O., S. 49. N o r b e r t M e c k l e n b u r g , a.a.O., S. 31. Die A b h a n d l u n g von Jauss w u r d e im S a m m e l b a n d Formen der Geschichtsschreibung, hrsg. von R e i n h a r t Koselleck, Heinrich Lutz u n d Jörn R ü s e n , M ü n c h e n 1982, S. 415—451, veröffentlicht. Die Vergangene Zukunft von Reinhart Koselleck wird nach der zweiten A u s g a b e , F r a n k f u r t a m Main 1984 zitiert. Alle f o l g e n d e n A u s s a g e n von Jauss u n d Koselleck s t a m m e n aus diesen zwei Veröffentlichungen.
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Das von Jauss a n g e f ü h r t e Zitat s t a m m t aus d e m Buch Kosellecks Vergangene Zukunft, S. 283, was in einer F u ß n o t e erklärt wird. D e r A u f s a t z von Jerzy Topolski w u r d e im S a m m e l b a n d Dzieto literackiejako zrodk> historyczne, red. von Zofia S t e f a n o w s k a u n d J a n u s z Slawinski, Warszawa 1978, S. 7—30 h e r a u s g e g e b e n . Es seien n u r einige Titel von wissenschaftlichen bzw. p o p u l ä r w i s s e n s c h a f t l i c h e n A r b e i t e n herv o r g e h o b e n , die als historische G r u n d l a g e diese A b h a n d l u n g b e s o n d e r s intensiv u n d vielseitig f ö r d e r t e n . Als einen b e s o n d e r s k o m p e t e n t e n K e n n e r der galizischen P r o b l e m a t i k m u ß m a n d e n Rechtshistoriker Stanislaw Grodziski b e t r a c h t e n , von dessen A r b e i t e n aus d i e s e m G e b i e t vor allem die M o n o g r a p h i e W krolestwie Galicji i Lodomerii (1976) als ein tiefgründiges, inform a t i o n s r e i c h e s u n d s p a n n e n d g e s c h r i e b e n e s K o m p e n d i u m g e n a n n t sei. Einige a n d e r e seiner A r b e i t e n sowie A b h a n d l u n g e n von Józef Buszko, H e n r y k Wereszycki u n d zur ukrainischen Frage von Wladyslaw A. Serczyk, d e r e n Titel im Literaturverzeichnis aufgezählt w e r d e n , h a b e n bei der G e s t a l t u n g der Arbeit ebenfalls w e i t g e h e n d g e h o l f e n . E i n e n b e s o n d e r s großen D i e n s t h a b e n dieser A b h a n d l u n g zahlreiche V e r ö f f e n t l i c h u n g e n von Stefan Kieniewicz zur galizischen Problematik erwiesen. V o n d e n A r b e i t e n in der d e u t s c h e n Sprache sei vor allem auf das großzügig angelegte Sammelwerk Die Habsburgermonarchie 1848—1918, hrsg. von Adam W a n d r u s z k a und Peter Urbanitsch (3. Bd. — 1980) hingewiesen. Von den A r b e i t e n zu m e h r speziellen T h e m e n seien e r w ä h n t : das S t a n d a r d w e r k von Robert Kann Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie (2. Aufl. 1964, Bd. 1) sowie die M o n o g r a p h i e n von Horst Glassi Das österreichische Einrichtungswerk in Galizien( 1975) u n d von A r n o n Gill Die polnische Revolution ¡846 (1974). Vgl. F r a n z A n s e l m Schmitt, Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur. Eine Bibliographie, 3., völlig n e u bearbeitete u n d erweiterte A u f l a g e , N e w York 1976, S. 100. Als „ G h e t t o g e s c h i c h t e " wird in der L i t e r a t u r g e s c h i c h t s s c h r e i b u n g ein Erzählwerk betrachtet, dessen H a n d l u n g sich ausschließlich im j ü d i s c h e n Milieu abspielt, als „ J u d e n g e s c h i c h t e " , eine, d e r e n H e l d e n J u d e n sind, die im K o n t a k t mit der nicht-jüdischen W e l t dargestellt w e r d e n . Als Beispiele seien hier g e n a n n t : der Artikel von F r a n z L ü d t k e Deutsche Dichter im heutigen Polen in „ D e r A u s l a n d d e u t s c h e " 12, 1929, mit e i n e m a n o n y m e n Nachtrag in der N u m m e r 17 des Blattes, das H e f t von Fritz Seefeldt Der Deutsche in Galizien ( N u m m e r 9 der R e i h e „Der D e u t s c h e im A u s l a n d e " , 1937) o d e r der Aufsatz von J o h a n n e s Beer Volksdeutsche Dichtung im Kriege 1939/40 in „Das D e u t s c h t u m im A u s l a n d " 11/12, 1940. Vgl. S. 218. Vgl. S. 157. A u c h s t i m m t in bezug auf Galizien keineswegs die B e h a u p t u n g auf S. 158 „Die Literatur dieser G e b i e t e war d e m Milieu u n d den P e r s o n e n nach slawisch, der Sprache nach deutsch u n d dem Geiste nach ö s t e r r e i c h i s c h ' " . Vgl. S. 7. E i n e u m f a s s e n d e B e s p r e c h u n g der S e k u n d ä r l i t e r a t u r zur deutschsprachigen Literatur Galiziens, a u c h zu d e n Einzelverfassern, h a b e ich in d e m Vortrag u.d.T. Die deutschsprachige Literatur Galiziens in der Forschung g e g e b e n , d e n ich w ä h r e n d der von Prof. Dr. A n t o n S c h w ö b veranstalteten G r a z e r T a g u n g ü b e r die F o r s c h u n g s e r g e b n i s s e u n d Lücken in der E r f o r s c h u n g der d e u t s c h e n Literatur in Südost- u n d O s t m i t t e l e u r o p a im O k t o b e r 1990 gehalten habe. Die Materialien dieses S y m p o s i u m s w e r d e n voraussichtlich d e m n ä c h s t im Verlag des S ü d o s t d e u t s c h e n K u l t u r w e r k e s in M ü n c h e n erscheinen.
1. ZUR NATIONALEN PROBLEMATIK GALIZIENS Unter der nationalen Problematik Galiziens, die von der deutschsprachigen Erzählprosa der zu berücksichtigenden Zeitspanne zum Ausdruck gebracht worden ist, werden im folgenden Kapitel solche Grundprobleme verstanden, die auf zweierlei Sachverhalte aus dem Bereich der außerliterarischen Wirklichkeit zurückzuführen sind. Einerseits ergeben sie sich aus dem politischen und kulturellen Zusammenstoß der polnischen und deutschen Nationalität, der durch die Teilnahme Österreichs an den Teilungen Polens und die Gründung des Kronlandes Galizien und Lodomerien bewirkt wird. Es handelt sich hier ganz besonders, aber keineswegs ausschließlich, um die Versuche der galizischen Polen auf dem Wege des Aufstands den verlorenen Staat wiederherzustellen. Anderseits ergeben sich diese Probleme aus der heterogenen nationalen Zusammensetzung Galiziens, vor allem im östlichen Teil des Landes. Ausgeklammert werden allerdings die Werke, als deren Grundproblem die jüdisch-christliche Nachbarschaft erscheint, da sie eine besondere Betrachtung im Kapitel 3 erfahren sollen. Die Ausführungen dieses Kapitels werden mit dem Thema des polnischen Befreiungskampfes in Galizien 1846 im Werk nicht-galizischer Autoren eingeleitet, da gerade diese Beiträge chronologisch die ersten Äußerungen zum Thema Galizien in der deutschsprachigen Belletristik bilden. Das vielfaltige Probleme aus dem Bereich des Nationallebens erörternde Schaffen der „Galizianer" 1 schließt sich an. Zwar bilden zeitlich betrachtet die zwei „galizischen" Erzählungen von Marie von Ebner-Eschenbach eine Ausnahme innerhalb des erstgenannten Gebietes, aber sie gehören inhaltlich zum Thema. Dem Bericht über die Belletristik wird ein kurzer Überblick der Publizistik vorangestellt, der einen Einblick in die Quellen schöngeistiger Literatur gewähren soll. Die weiteren zwei Unterkapitel werden dem Erfassen der nationalen Problematik ihres Herkunftlandes durch die zwei galizischen Autoren sensu stricto, Leopold von Sacher-Masoch-Junior und Karl Emil Franzos gewidmet.
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Zur n a t i o n a l e n Problematik G a l i z i e n s
1.1. Der polnische Befreiungskampf des Jahres 1846 in den Augen nicht-galizischer Autoren Die tragischen Ereignisse den mißglückten, größtenteils schon im Keim erstickten polnischen Aufstandes in Galizien im Februar 1846 und seiner Unterdrückung durch die Bauern, die in ein allgemeines „Herrengemetzel" in Westgalizien ausgeartet ist, haben zum ersten Mal die Aufmerksamkeit ganz Europas auf diese bisher wenig beachtete Provinz des Habsburgerstaates gelenkt 2 . Die französische, englische und zum Teil sogar die österreichfeindliche preußische Presse jener Zeit haben die öffentliche Meinung geprägt, daß dieses Blutbad ein Ergebnis der österreichischen Politik sowohl des Metternichschen Kabinetts als auch der galizischen Lokalbehörden war. Man kann als Beispiele die deutschsprachigen Zeitungsartikel des Krakauer Journalisten Hilary Meciszewski und den auf Französisch verfaßten, aber noch in demselben Jahre ins Deutsche übersetzten, in Europa umlaufenden offenen Anklagebrief des Aleksander Wielopolski Lettre d'un gentilhomme polonais au prince de Metternich erwähnen. U m diese schwerwiegende Beschuldigung zu widerlegen, haben mehrere österreichische Offiziere und Beamte, die sich auf ihre Augenzeugenschaft berufen, da sie zu jener unheilvollen Zeit in Galizien tätig waren, eine Reihe von Tagebüchern, Briefsammlungen und Reiseberichten veröffentlicht. Diese polemisch eingestellten Texte unterscheiden sich voneinander in der Einschätzung der Einzelfaktoren der Vorkommnisse, aber sie weisen fast alle eine gemeinsame Zielsetzung auf: Sie wollen beweisen, daß der polnische Aufstand eine wirkliche Gefahr für den österreichischen Staat war, welche die spontane, lediglich durch die Treue zur Habsburgermonarchie hervorgerufene „Hilfe" der Bauern unvermeidlich gemacht haben soll. Es seien an dieser Stelle als Beispiele folgende anonym veröffentlichte Schriften genannt: Das Polenattentat im Jahre 1846. Aus dem Tagebuch eines Offiziers derwestgalizischen Armee (1846; als Werk von Jakob Nitschner identifiziert) 3 , Briefe eines Deutschen über Galizien (1847), Aus dem Tagebuche über die Ereignisse in Galizien 1846 und Brief eines Reisenden aus und über Galizien, beide im Band Antediluvianische Fidibus-Schnitzel von 1842 bis 1847, 6tes Fascikel, als dessen Verfasser Friedrich Schwarzenberg bezeichnet wird 4 (1850 herausgegeben). Von allen diesen Beiträgen unterscheidet sich grundsätzlich durch eine Stellungnahme, die derjenigen von polnischen Verfassern ähnelt, die im Revolutionsjahr 1848 anonym veröffentlichte Broschüre des Österreichers Konstant von Wurzbach Galizien in diesem Augenblick. Ein dringendes Wort in einer drängenden Zeit. Der Verfasser, der die Zeit 1836—1848 in Galizien als österreichischer Offizier und dann als Beamter verbrachte, belastet eindeutig Österreich mit der Schuld für Greueltaten des Winters 1846 und faßt die geschilderten Begebenheiten als Warnung für die Wiener Regierung auf, den Forderungen der galizischen Petition vom 19. März 1848 nachzukommen, denn es könnte leicht passieren, daß sich die entfesselte Kraft der niederen Volksschichten gegen die
D e r polnische B e f r e i u n g s k a m p f des Jahres 1846
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österreichischen Behörden richten wird. Während die vorher genannten Autoren wie Nitschner oder Schwarzenberg aus den Ereignissen des Jahres 1846 die Schlußfolgerungen zogen, daß der polnische Staat nie wieder auferstehen werde und daß die galizischen Bauern österreichische Patrioten seien, dienen die gleichen Prämissen bei Wurzbach dazu, eine Forderung zur Wiederherstellung Polens an Europa zu richten und den Charakter der Bauernbewegung mit Recht als einen sozialen und nicht nationalen zu bestimmen. Diese und ähnliche zeitgenössische Publizistik konnte den Autoren von belletristischen Werken als Quelle der Tatsachenkenntnisse dienen, insofern sie sich nicht auf eigene Erlebnisse in Galizien stützten. Nach etwa zwanzig Jahren wurde dieser Quellenbestand um zwei größere Buchveröffentlichungen angereichert, die jene galizische Ereignisse synthetisch zu erfassen suchten und bereits den Anspruch auf eine historiographische Behandlung des Themas erhoben. Die erste dieser Veröffentlichungen war die Monographie des ehemaligen Polizeidirektors in Lemberg, des dort bis 1848 tätigen Leopold von Sacher-Masoch-Senior, die anonym herausgegebene Publikation Polnische Revolutionen. Erinnerungen aus Galizien (1863). Der Bericht ist ziemlich tendenziös und leicht romantisch gefärbt. Der Verfasser hebt seine eigenen Verdienste bei der Bekämpfung des polnischen Aufstandes von 1846 hervor, und entweder verkennt er wirklich das Ausmaß der Bewegung, die er als eine allgemeine Verschwörung des galizischen Adels sieht, die Rolle der Bauern, die er als österreichische Patrioten darstellt, und der österreichischen Beamten, deren Lob er anstrebt, oder aber führt er seine Leser vorsätzlich in die Irre. Viel mehr nähert sich den Prinzipien einer gründlichen, vielfältige Quellen heranziehenden und um die sachgetreue Darstellung bemühten Geschichtsschreibung das große Kompendium von Moritz von Sala Geschichte des polnischen Aufstandes vom Jahre 1846. Nach authentischen Quellen dargestellt (1867). Auch Sala, der von 1840 bis Juni 1846 als Chef des Präsidialbüros des Erzherzog von Este in Lemberg tätig gewesen war, hat seine Sicht der Ereignisse, die den Standpunkt der Regierung verteidigt. Er sucht die Beschuldigung des von österreichischen Behörden bezahlten Blutlohnes für die Köpfe der Adligen, die übrigens nie bewiesen wurde, zu widerlegen und gleichzeitig sich dem Bericht Sacher-Masochs, der „die fehlende Logik der Tatsachen mit der eigenen zu ersetzen suche" (S. IV), entgegenzusetzen. Auch Salas Voraussetzung ist die Überzeugung von der Loyalität und Anhänglichkeit der galizischen Bauern gegenüber Österreich. Anhand verschiedener Urkunden hat er sich allerdings die Sicherheit verschafft, daß die Annahme der damaligen Landesregierung, daß der Umfang der polnischen illegalen Bewegung beschränkt war, richtig war. Keineswegs war der ganze galizische Adel an der Verschwörung beteiligt, stellt Sala fest. Er entlastet zwar die zentralen und die Lemberger Behörden von der Schuld, die Bauernbewegung provoziert zu haben, was höchstwahrscheinlich mit dem Sachverhalt übereinstimmt. Eine andere Sache ist, daß in diesem Falle schon ihr Nichteingreifen eine Schuld bedeutet. Gleichzeitig aber gibt Sala zu, daß das galizische Blutbad durch die Indolenz des Kreis-
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Zur n a t i o n a l e n Problematik G a l i z i e n s
hauptmanns von Tarnów, Breinl, und einiger seinesgleichen zustandegekommen ist, die in ihrer Angst vor den Insurgenten die Bauern zu Hilfe riefen. Er verurteilt das polnische Unabhängigkeitsstreben aber er steht bereits auf dem für die Zeit nach 1867 kennzeichnenden Standpunkt, daß die Polen in Galizien ein Recht auf die Entfaltung ihres Nationallebens im Rahmen des Habsburgerstaates haben. Diese beiden, so unterschiedlich angelegten Monographien sollten zu den wichtigsten Quellen für die nach der Zeit ihrer Veröffentlichung entstandene Belletristik zum Thema der galizischen Ereignisse des Jahres 1846 werden. Auf dem Gebiet der Erzählliteratur haben wir es mit einer ganzen Reihe von Autoren und Werken zu tun, die verschiedene Auffassungen von den Ereignissen des Winters 1846 in Westgalizien und dem polnischen Unabhängigkeitskampf schlechthin vertreten. Wenn wir die chronologische Folge der Erscheinung dieser Texte berücksichtigen, müssen zuerst zwei Romane an die Reihe kommen, die schon im Jahre 1847 herausgegeben wurden. Der galizische Kampf erscheint darin zwar nicht als das selbständige Hauptthema der Ausführungen, er spielt aber eine wichtige Rolle innerhalb der Struktur der dargestellten Welt. Der erste der Verfasser, die in diesem Zusammenhang zu nennen sind, ist der österreichische Erzähler und politische Journalist der Vormärzzeit, u. a. Autor von Abhandlungen über Friedrich den Großen und den Kaiser Joseph II., Anton Groß-Hoffinger (1808—1873). Das Thema des galizischen Aufstandes und der bäuerlichen „Konterrevolution" taucht im 3. und 4. Band des dickleibigen, über 800 Seiten zählenden Romans Der Spion oder Die Geheimnisse des rothen Buches, Leipzig und Meissen 1847, auf. Eine Verifizierung der der Lektüre dieses Werkes abgewonnenen Anschauungen über die Beurteilung des galizischen Befreiungskampfes bietet das in demselben Jahre veröffentlichte historiographisch-publizistische Werk des Verfassers Die Theilung Polens und die Geschichte der österreichischen Herrschaft in Galizien, in dem sich Groß-Hoffinger zum gleichen Thema ohne Verwendung der literarischen Fiktion äußert. Der Autor bedient sich des Schemas eines Sensationsromans, was schon der Titel andeutet, aber alle diese Motive und Handlungsfäden aus dem Reservoir der Unterhaltungsliteratur werden lediglich dazu eingesetzt, damit der Leser den lehrhaften, moralisierenden Gehalt des Werkes leichter verdaut. Im Grunde spielen lange politisch-anthropologische Betrachtungen der Figuren die Hauptrolle. Diese Erörterungen werden auf eine ziemlich schwerfällige Weise zum Ausdruck gebracht und ungeschickt in die Handlung eingebettet. Das Anliegen dieses Buches ist eine scharfe Kritik am Polizeistaat im Vormärzeuropa, der nach der Auffassung des Erzählers auf Napoleon zurückgeht, sowie an der kapitalistischen Entwicklung in diesem Weltteil; schließlich ein utopischer Vorschlag, wie diesen Grundübeln der Epoche durch die Einführung eines theokratischen, humanistischen und kosmopolitischen Systems abzuhelfen wäre.
Der polnische Befreiungskampf des Jahres 1846
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Die Titelgestalt ist der Sohn einer hochgestellten Dame italienisch-österreichischer Abstammung, die in politischen Ränken die Demütigungen ihrer Jugend zu rächen suchte, und eines napoleonischen Offiziers. Dieser junge Mann, namens Arthur Bonvoisin gründet während der Julirevolution in Paris einen Geheimbund der Wölfe, der gemäß dem Charakter der Zeit alle begabten, starken, rücksichtslosen Menschen vereinigen sollte, damit sie, entgegen dem Willen der Regierungen und gleichzeitig entgegen dem Wohl der Völker Europas ihre egoistischen Interessen befördern und an die Macht gelangen könnten. Zu Ende des Jahres 1845 richtet die Gesellschaft ihr Augenmerk auf Polen, das alternativ mit Italien als Brandherd eines allgemeinen Krieges in Europa betrachtet wird, der den Wölfen zur Machtübernahme verhelfen sollte. Es wird betont, daß gerade diese zwei Völker in Erwägung gezogen werden, weil sie die einzigen in Europa seien, die noch nicht restlos der Anbetung des goldnen Kalbes verfielen, und bei denen die Vaterlandsliebe stark genug sei, einen Befreiungskrieg herbeizuführen, den dann die Wölfe für ihre Zwecke auszunutzen vermöchten. Der berechnende Verstand der Wölfe entscheidet sich für Polen, wobei sich ihre Erwartungen auf das Stereotyp der polnischen Leichtgläubigkeit und gutmütigen Einfalt gründen. Als direktes Werkzeug ihrer Machenschaften betrachten sie die polnische Emigration in Frankreich und England, die das Land mit Emissären zu versehen hat. Auf diese Weise wird sowohl der polnische Aufstandsversuch in Galizien im Winter 1846 als auch seine Unterdrückung durch die Bauern innerhalb der dargestellten Welt des Romans als eine Erfüllung der Pläne der Wölfe betrachtet. Ihr Vorhaben läßt sich wenigstens in seinen zwei ersten Phasen realisieren. Arthur erscheint in Galizien als Volksanführer, der sich für einen natürlichen Sohn Napoleons hält. Sowohl der patriotische polnische Adel als auch die österreichischen Behörden lassen sich von ihm umgarnen, da beide Seiten in ihm ihren Verbündeten sehen. Die erste Phase der Geschehnisse wird im Roman nicht gezeigt. Als die Handlung nach einer Szene in Leipzig wieder in Lemberg einsetzt, ist der Aufstand bereits durch die Bauern erstickt worden, die jetzt Prämien für ihre Loyalität dem Habsburgerstaate gegenüber ernten. Dabei ist der Verfasser offensichtlich bestrebt, zwei Phasen der Bauernbewegung zu markieren. In der ersten seien die Bauern angeblich nur gegen die „Rebellen" aufgetreten, obwohl Bonvoisin zugeben muß, daß auch in dieser Zeit viele unschuldige Adlige betroffen wurden. Die zweite Phase hat den Charakter eines allgemeinen Herrenmordes, den die sozialen Versprechungen der Beamten und Provokateure hervorgerufen hätten. Die polnische Nation versinnbildlichen zwei Romangestalten: der schon in den vorigen Bänden als Geheimagent der Pariser Polizei fungierende Emigrant Tasinsky, der in Galizien die Rolle des Hetzers übernimmt, und der im gleichen Grade edelmütige wie beschränkte Graf Siezkowiez, der zu seinen Bauern wie ein Vater gewesen ist, aber durch sie eines furchtbaren Todes stirbt, da er nicht bewilligen konnte, was die Aufgehetzten verlangten. Der schurkische Tasinsky tritt nicht als ein typischer Pole auf, er ist eine der vielen
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Zur nationalen Problematik
Galiziens
Figuren im Handlungsgefüge, die veranschaulichen sollen, daß der rücksichtslose Egoismus in allen Völkern und Gesellschaftsschichten des Europa des 19. Jahrhunderts Fuß faßte. Die Gestalt des Siezkowiez fungiert als Beispiel des in alter Tradition erzogenen Polen, der zwar moralisch makellos ist, aber an seiner der neuen Zeit nicht angepaßten Naivität zugrundegehen muß. Sein qualvoller Tod steht stellvertretend für die zweite Phase der Bauernbewegung, als die ihrer Kraft nun bewußtgewordenen Bauern die Fronleistung verweigern und immer wieder neue Forderungen stellen. Der Verfasser ist richtig informiert, daß es zu dieser zweiten Phase gekommen ist, aber gemäß den Bedürfnissen seiner Handlung schildert er sie als eine Fortsetzung der Greueltaten der ersten Phase. In Wirklichkeit nahm diese zweite Etappe einen weit friedlicheren Verlauf, da die Bauern sich auf den passiven Widerstand beschränkten. Die psychologische Fundierung dieser Reaktion der Bauern, die ja vorauszusehen war, wird im Roman durch die Hetzarbeit der Agenten des Bonvoisin untermauert. Die Erwartungen der Wölfe, daß diese Phase ein Vorspiel zum allgemeinen gesellschaftlichen Krieg sein wird, gehen nicht in Erfüllung, weil ihrem Führer sein Gegenspieler entgegenarbeitet, der edle Philanthrop Doktor Grimaldi, der nie die Hoffnung aufgab, daß sich die Menschen einmal bessern und ihr wirkliches Wohl einsehen werden. Dieser Mann ist eine der wichtigsten Figuren des Romans und in seinen breit ausgelegten Anschauungen ein Sprachrohr des Verfassers. Grimaldi kommt nach Galizien seinem Gegner nach, vermag der Handlung des Bonvoisin durch das Anzünden eines Magazins, in dem Geld für die Bauern aufbewahrt wurde, Einhalt zu gebieten und stirbt dann zusammen mit ihm unter den Dreschflegeln der Bauern, die in ihrer Unwissenheit Freund und Feind nicht unterscheiden, sondern alle „Herren" über einen Kamm scheren. Unter den Szenen, die seinen Aufenthalt in Galizien thematisieren, spielt die Begegnung Grimaldis auf dem Wawel, wohin er gekommen ist, um der Asche Kosciuszkos seine Hochachtung zu erweisen, mit einer alten Frau, die sich als Mutter Polonia bezeichnet, eine besondere Rolle. Es bleibt innerhalb der Romanstruktur dahingestellt, ob diese Gestalt eine schwachsinnige Frau ist, die unter der Last des Unglücks ihres Vaterlandes und ihrer Familie verrückt wurde, oder eine allegorische Figur. Eine symbolische Bedeutung kommt ihr zweifellos zu, da sie die Ansichten des Verfassers über Polens Fall ausspricht und, was besonders bezeichnend ist, sich nach dem Gespräch mit Grimaldi in die Wellen der Weichsel stürzt. Auch in ihrem Lied mit dem Refrain „Polen ist verloren!" — einer Umkehrung des Anfangs der D^browskiMasurka „Noch ist Polen nicht verloren..." — drückt der Autor seine Meinung von der Endgültigkeit des polnischen Staatsverlusts aus. Die Mutter Polonia trauert um ihre Kinder, die letzten Polen, die nun im Kampf gefallen oder ins Gefängnis geraten sind. Sie äußert die Überzeugung, daß sich die meisten ihrer Landsleute genauso wie das übrige Europa nur ihrem Egoismus hingegeben hätten. Dieses Urteil steht im Widerspruch mit der berechtigten Erwartung der Wölfe, daß gerade die Polen zu einem uneigennützigen Handeln für
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ihr Vaterland fáhig sind. Die Schlußpassagen der Aussage der Frau verdeutlichen, worauf der Verfasser zielt. Sie preist die Regierungszeit Joseph II. und redet den Teilungen Polens das Wort: „(...) denn ein Volk, dessen moralische Kraft gebrochen ist, kann nicht frei sein, kann sich nicht selbst regieren, es bedarf einer Verbindung mit gesunden Volkskörpern mit einer größern Gesamtkraft" (Bd. IV S. 35). Man müßte schlußfolgern, daß diese „moralische Kraft" der Polen infolge des mißlungenen Aufstandsversuches gebrochen wurde. Es erweist sich aber bald, daß diese Überzeugung von dem Egoismus der Polen wohl nur vorgetäuscht wurde, denn nun wird das Ausharren bei dem Ideal der verlorenen Nationalfreiheit kritisiert. Diejenigen Polen, denen noch eine moralische Kraft innewohnt, werden aufgefordert, sich voll für die Erneuerung der Menschheit, für die Rettung Europas vor dem sonst unvermeidlichen Untergang einzusetzen. Dieses weltbürgerliche Ideal der gemeinsamen Arbeit für den Fortschritt, das dem Aufklärungsgedanken entnommen wurde, scheint die echte Überzeugung des Verfassers zu sein, aber er begreift nicht, warum das für die Polen gerade in der Zeit des Verlusts des eigenen Staatsorganismus unannehmbar sein mußte. Er sucht die polnische Haltung gar nicht zu begreifen oder konsequent darzustellen. Die polnischen Begebenheiten und Gestalten werden seinem Gesamtbild des vormärzlichen Europa untergeordnet und auf der Ebene der mitgeteilten Struktur der Hauptthese des Romans angepaßt. Die Mittel der Fiktion werden von Groß-Hoffinger eingesetzt, damit er seine Kritik an der politischen und sozialen Gesellschaftsordnung seiner Zeit durchführen und seine utopische Gegenkonzeption des idealen Staates entwerfen kann. Der Vergleich zwischen der dargestellten Struktur des Romans und den Hauptgedanken des publizistischen Werkes Die Theilung Polens bestätigt die Annahme, daß der Autor mit Hilfe der erfundenen Fabel seine eigenen Anschauungen über die Entwicklung in Europa und in Polen ausdrückt. Die Zeit der josephinischen Herrschaft in Galizien wird auch in dem letztgenannten Werk sehr hoch eingeschätzt. Der Autor äußert die Überzeugung, daß, wenn die josephinischen Reformen bis 1846 fortgesetzt worden wären, es nie zu den tragischen Vorfällen jenes Winters gekommen wäre. Genauso bitter wie im Roman äußert er sich gegen das System der Geheimpolizei, der Zensur und der Bevormundung des Volkes durch den Klerus als Mittel, deren sich die Machthaber in Europa bedienen, u m die veraltete Ordnung aufrechtzuerhalten. Er meint, daß es jetzt noch unmöglich sei, die Triebfedern dergalizischen Vorfälle richtig einzuschätzen, wiederholt aber seine These, daß der polnische Aufstand von 1846 aus fremdem, eigennützigem Antrieb entfesselt wurde. Als Publizist warnt Groß-Hoffinger die Polen vor den „Wölfen im Schafsfell", ohne genauer zu präzisieren, wen er meint. Im Roman kann er seine Phantasie frei walten lassen und den Begriff „Wölfe" konkretisieren. In Die Theilung Polens werden die Polen explizite zum Verzicht auf den nationalen Befreiungskampf und zur Mitarbeit an dem Werke der politischen, sozialen und vor allem moralischen Befreiung der Menschheit aufgefordert. Der Autor spricht in die-
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sem Text eine dreifache W a r n u n g aus, der in der dargestellten Struktur seines Romans bestimmte Handlungspassagen entsprechen: vor dem Panslawismus, „machiavellistischen Liberalismus" u n d „ C o m m u n i s m u s " (S. 392), die seines Erachtens alle z u m Untergang Europas f u h r e n müßten. I n d e m er in den galizischen Begebenheiten des Jahres 1846 einen Ausdruck der Machenschaften jener Kräfte mutmaßt, verwendet er in seinem R o m a n das T h e m a des polnischen Befreiungskampfes zur Veranschaulichung seiner Gedanken. Bezeichnend ist die Angst des Verfassers vor der Demokratie u n d sein Vorurteil gegen die Slawen, obwohl er als Gegner des Systems, das in Europa nach dem Wiener Kongreß herrschte, auftritt. Sein Entwurf eines theokratischen, utopischen Staates vermag diesen Widerspruch nicht aufzuheben. Mehr mit dem Polenthema schlechthin als mit dem Galizienthema beschäftigt sich der umfassende R o m a n von Karl Ludwig Häberlin Der Schatz des letzten Jagelionen, Leipzig 1847, u n t e r dem Pseudonym H. E. R. Belani herausgegeben. Häberlin wurde 1784 in Erlangen geboren und lebte seit 1828 bis zu sein e m Tode im Jahre 1858 in Potsdam. Er war ein sehr produktiver Prosaschriftsteller. Das G e s c h e h e n des vierbändigen Romans verteilt sich auf alle Teile des besetzten Polens. Galizien steht nicht im Mittelpunkt, aber es erscheint inmitten des Panoramas des polnischen Nationallebens im Hinblick auf die Ereignisse des Winters 1846, denen ein beträchtlicher Teil des dritten Bandes gewidmet wurde. Die darstellende Struktur des Werkes erweckt den Anschein, als ob der R o m a n der Unterhaltungsliteratur zuzurechnen wäre. Von der Trivialliteratur wird das Schema des A b e n t e u e r r o m a n s ü b e r n o m m e n — das Hauptmotiv der Handlung bildet die Suche nach dem verborgenen Schatz der Jagiellonen in beständigem Wettstreit mit den Jesuiten, die ihn z u m Schluß d e m rechtmäßigen Besitzer entreißen. A u ß e r d e m besitzt der R o m a n eine Liebeshandlung, die mit den E l e m e n t e n des politischen Romans kombiniert wird. Es wimmelt von Geheimnissen, Verwechslungen, seltsamen Begegnungen der Figuren. Dieser Unterhaltungscharakter reicht aber nicht in die mitgeteilte Struktur des Werkes hinein. Im G r u n d e handelt es sich u m einen t h e s e n h a f t e n Roman, in dem die Unterhaltung der Belehrung des Lesers untergeordnet wurde. Die Lehre läßt sich kurz zusammenfassen als Aufforderung an die Polen, auf ihre Bestrebungen zur Wiedererlangung der Staatsunabhängigkeit zu verzichten u n d sich in die Arme Preußens zu werfen, das ihnen anstatt des engeren Ideals der Nationalität das großartigere des Staates, u n d zwar des preußischen Staates, u n d seiner Humanität biete. Das ist eine Konzeption, die mit der Staatstheorie des Absolutismus übereinstimmt. Der ziemlich gewagten Apologie Preußens als Heimstätte der edlen Menschlichkeit u n d der Propaganda für die preußische Politik sind die darstellende u n d die dargestellte Struktur des Werkes völlig untergeordnet. Diese Voraussetzung m u ß man berücksichtigen, wenn man in der trockenen, detaillierten Darstellung der Ereignisse in Westgalizien stets eine stark kritische Einstellung zur österreichischen Politik in diesem Land entdeckt. Die Erzählweise variiert zwischen der eingehenden Darstellung der Geschehnisse
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aus der Sicht des Helden in der dritten Person, dem zusammenfassenden Bericht des Erzählers aus der Vogelperspektive und den umfangreichen, räsonierenden Kommentaren, in denen der Erzähler seine Stellungnahme breit erörtert. Der Schauplatz wechselt immer wieder nach dem Muster des Reiseromans, aber er beschränkt sich in dem „galizischen" Teil des Buches auf die Gegend zwischen Bochnia, Tarnów und Jaslo, wo die Bauernrevolution am stärksten wütete, und auf die Republik Krakau. Zu diesem Zwecke läßt der Autor seinen Protagonisten, den Virtuosen Kasimir, und dessen Freund Krickiwicki als Vertreter der Pariser Emigration nach Galizien kommen, um sich an dem polnischen Aufstand zu beteiligen. Die Freunde entsagen bald diesem Ziel, von dem bäuerlichen Blutgericht abgeschreckt und von dem Chaos in den Reihen der Insurgenten abgestoßen. Sie treiben sich in Westgalizien herum, zum Teil als Geiseln des Generals Collin, zum Teil als „Hospitanten". Erfundene Gestalten vermischen sich mit historischen wie eben Collin, der Kreishauptmann von Tarnów Breinl und vor allem Szela. Aber auch diese werden mit Hilfe der Fiktionalisierung dem Anliegen des Verfassers untergeordnet. Der Erzähler verurteilt den polnischen Aufstandsversuch als vergeblich und strafbar, als Hochverrat gegenüber dem regierenden Staat. Als Preuße prangert er zugleich das Verhalten der österreichischen Behörden an, die in ihrer Ratlosigkeit sich an die wilden, im tierischen Zustand lebenden Bauern wenden mußten und somit die Zustimmung zum Blutbad gaben, ja die aufbrausenden Bauern gegen die Herren als Rebellen aufhetzten. Er verfügt über eine große Menge zum Teil anekdotischen Materials, das wahrscheinlich aus den journalistischen Texten von Polen und Ausländern in der u.a. preußischen Presse stammt. A u f j e d e n Fall sind österreichische Quellen (bis auf Wurzbach) auszuschließen, da der Verfasser all das sorgfaltig zusammenträgt, was Österreich desavouieren kann. Dabei sichert er sich mehrmals den Rückzug, indem er seinen Erzähler das bereits Gesagte plötzlich relativieren bzw. einschränken läßt, wodurch die literarische Fiktion stellenweise gebrochen wird. Ein Beispiel sei genannt: „Da ließ der Kreishauptmann (Breinl — M.K.) Waffe und Geld unter sie austheilen und versprach für jeden Insurgenten, den sie lebend oder tot an das Kreisamt abliefern würden, eine Prämie. Dies wurde wenigstens nachher von einer Seite behauptet, von anderer Seite aber auch geläugnet" (S. 107). Er entlastet die Regierung von der direkten Schuld an den Geschehnissen, belastet aber desto mehr einzelne Lokalbehörden. Er beschuldigt am meisten die „Unterbeamten", entschuldigt allerdings auch die höheren Behörden nicht: „Und dann fragen wir: würden die Bauern es gewagt haben, die Leichen ihrer von ihnen ermordeten Edelleute auf das Kreisamt zu bringen, wenn sie nicht Grund gehabt hätten, überzeugt zu sein, daß sie straflos dieses wagen dürften? würden sie sich nur die Mühe gegeben haben, so viel Gefangene, Todte und Verwundete meilenweit in die Kreisstädte zu fahren, wenn sie nicht die Überzeugung gehabt hätten, daß sie dafür von der Regierung Prämien erhalten würden; und konnten sie diese Überzeugung gehabt haben, wenn in ihnen nicht, sei es auch nur von gewissenlosen oder rathlosen Unterbeamten die Hoffnung
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auf solche Belohnung erregt worden wäre?" (S. 80). Die Regierung sieht er mit der schwerwiegenden Schuld behaftet, die galizischen Bauern so weit vernachlässigt zu haben, daß sie sich als des Massenmordes fähig erwiesen. Diese Schuld sieht er sowohl in der Unterlassung der Volksbildung als auch im Nichteingreifen gegen den feudalen Druck von der Seite des polnischen Adels. Dieser logische Kommentar dient dazu, den daraufhin folgenden Lobgesang auf Preußen durch Kontrastwirkung zu unterstützen. Bei der Betrachtung des Verhaltens des galizischen Adels angesichts des Aufstandes nimmt der Erzähler einen ziemlich breiten Umfang der Bewegung an. Er bemerkt allerdings, daß auch manche Adligen, die aus Vorsicht der patriotischen polnischen Bewegung ferngeblieben waren, der Bauernwut zum Opfer fielen. Er bezichtigt den Adel der feudalen Willkürherrschaft auf seinen Gütern, aber gleichzeitig gibt er zu, daß viele Herren durchaus wohlwollend, ja sogar wie Väter zu ihren Bauern gewesen waren. Der polnische Aufstand wird verdammt, die Verschwörer als „Vaterlandsfeinde" und „kompromittierte Leute" betrachtet. Interessant ist, daß bei Häberlin neben den politischen Gründen dieser Verurteilung auch gesellschaftliche auftauchen. Die adeligen „Rebellen" werden als gefährliche Jakobiner und Kommunisten bezeichnet, also der demokratische Charakter der Bewegung und ihr soziales Anliegen, die Bodeneigentumsverhältnisse in Galizien zu ändern, werden von ihm zur Kenntnis genommen und verdammt. Also nur der Staat wäre seines Erachtens berechtigt, die soziale Reform des Landes, deren Notwendigkeit er einsieht, durchzuführen. Diese Einstellung des Autors entspricht seinen Anschauungen von der Rolle des Staates und veranschaulicht seine Angst vor der Radikalisierung der Volksmassen. Die galizischen Bauern kommen im Roman als eine wenig differenzierte Masse vor. Sie rächen an ihren Herren jahrhundertelange Mißhandlungen, aber auch die österreichische Loyalität und Hoffnung auf Belohnung spielen dabei eine Rolle. So nennt der Autor alle möglichen Gründe ihres Verhaltens, ohne zu überlegen, welche davon ausschlaggebend waren. Der Leser begegnet den Bauern zusammen mit Kasimir auf den galizischen Landstraßen und wir.d zum Zeugen ihrer Roheit und Grausamkeit gegen die Adligen. Ihr sonstiges Leben scheint den Verfasser wenig zu interessieren. Nur in einem Fall macht er eine vielsagende Ausnahme : Er macht den Bauern Szela zum wichtigen Träger seiner Abenteuerhandlung. Freilich hat sein Bild des galizischen Bauernführers kaum etwas mit dem geschichtlichen Szela zu tun. Per licentia poetica läßt er ihn zum ehemaligen Untertanen des Grafen Sigismund, eines Nachkommen der Jagiellonen werden, der seinen grausamen Herrn bei den russischen Behörden als polnischen Patrioten denunziert hatte. Auch in Galizien läßt er ihn als deus ex machina überall dort auftreten, wo die Handlung seiner bedarf. Der Verfasser weiß, daß an den Ereignissen in Galizien zwei Szelas beteiligt waren. Umgekehrt aber als es die Geschichte will, schreibt er dem Sohn die Rolle des Bauernführers und „Königs" zu, während er den Vater zu einem Fünfundsiebzigjährigen macht (in Wirklichkeit war Szela damals 59 Jahre alt)
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und sich lediglich an den Vorkommnissen in Smarzowa beteiligen läßt. In den beiden Szelas, vor allem aber in der für die Handlungsführung relevanteren Gestalt des Sohnes sieht er bewußte österreichische Patrioten und loyale, verantwortliche Staatsbürger. Szelas Sohn sorgt in den Bauernreihen für Ordnung und Disziplin und greift nach seinen Kräften gegen Ausschreitungen und Greueltaten ein. Solche Beurteilung der Rolle Szelas sollte sich, zum Teil aufgrund der publizistischen Zeugnisse, später in der österreichischen Belletristik einbürgen. Der preußische Verfasser zeigt Szela als eine Art von Statthalter Galiziens. Ihn scheint dabei nicht der soziale Charakter der Tätigkeit Szelas anzusprechen, sondern ihn fasziniert dessen Rolle als Bauernkönig. Sein idealisiertes Bild Szelas ist vor allem von der Staatsloyalität dieses Untertans der Habsburger geprägt. Durch die Hervorhebung dieses wohl imaginierten Zuges konnte Häberlin diese Gestalt zum Träger seines Staatsgedankens machen. Die Legende Szelas, deren er sich bedient, bildet einen Gegenpol zur „schwarzen Legende" 5 , die von dem polnischen Adel geprägt wurde und sich in der polnischen schöngeistigen Literatur des 19. Jahrhunderts einbürgerte. In manchen Zügen ähnelt dieses Bild Szelas der plebejischen mündlichen Überlieferung, in der der Bauernanführer als Held auftritt. Aber die Deutungen sind natürlich grundverschieden — für den deutschen Autor war die vorausgesetzte staatserhaltende Rolle Szelas ausschlaggebend, während polnische Bauern, die Lieder über ihn sangen, in ihm den Verteidiger ihrer gesellschaftlichen Interessen sahen. Das erste der ausschließlich dem Thema des Polenaufstandes und des galizischen Blutbades im Jahre 1846 gewidmeten belletristischen Werke ist die Erzählung Die Polengräber von Cäsar Wenzel Messenhauser, 1848 unter dem Pseudonym Wenzeslaus March herausgegeben. Um die Ansichten des Verfassers begreifen zu können, müssen wir uns — wenigstens skizzenhaft — mit seinem Leben auseinandersetzen. Sein kurzes Leben findet seinen Höhepunkt in der Revolution des Jahres 1848 und endet mit ihrer Niederlage. Messenhauser wurde 1813 in Proßnitz in Mähren als Sohn eines Regimentmusikus geboren, bildete sich autodidaktisch und stieg vom einfachen Soldaten zum Leutnant auf. Seit 1840 veröffentlichte er in der satirischen Wiener Zeitschrift Saphirs „Der Humorist" Novellen, Erzählungen und Gedichte. Während des polnischen Aufstandes 1846 war er als Offizier in Krakau tätig, sodaß die Autopsie als erste Quelle seiner Kenntnis der Ereignisse zu nennen ist. Der polnische Historiker Stefan Kieniewicz erwähnt Messenhauser als Mitglied des am 21. März 1848 in Lemberg gegründeten Komitees zur Bildung der Nationalgarde 6 . Im Oktober 1848 wurde er zum Kommandanten der revolutionären Nationalgarde in Wien ernannt. Nach der Kapitulation vor Windischgrätz wurde er am 16. November desselben Jahres standrechtlich erschossen. Dieser Lebensgang weist deutlich genug auf die revolutionäre Gesinnung und die demokratische Haltung des jungen Dichters hin, denen er in seinem Werk Ausdruck verleiht. Gleichzeitig muß man seine große Bewunderung für den polnischen Patriotismus und das volle Verständnis des österreichischen
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Offiziers für polnische nationale Freiheitsbestrebungen betonen. Man glaubt an die „Polenlieder" über den Novemberaufstand 1830 erinnert zu werden. Der auffallende Unterschied ist aber, daß in der Erzählung Die Polengräber die Polen zwar wegen ihrer opferbereiten Vaterlandsliebe gepriesen, gleichzeitig aber wegen der sozialen Rückschrittlichkeit des adligen Lagers, das sich als die einzige Vertretung der Nation wähnt, scharf kritisiert werden. Der in seiner dargestellten Struktur ziemlich naive Text atmet noch ganz den Geist des vormärzlichen Protestes gegen die Unterdrückung des Menschen. D e n Dichter beseelen die Ideale der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit aller Menschen. Die Polengräber gehören gleichermaßen in den Umkreis des Polenthemas wie des Galizienthemas in der deutschsprachigen Literatur. U m seine Einstellung zu den polnischen Revolutionen der Jahre 1830 u n d 1846 zu begründen, wählt der Erzähler vornehmlich zwei Zeitpunkte, die durch diese Jahreszahlen markiert werden, sowie zwei kontrastierende Handlungsschauplätze. D e n ersten bildet Westgalizien, den anderen die idyllische Wildnis des Staates Ohio, wohin sich das Heldenpaar nach der Niederlage des Novemberaufstandes wandte. Kompositorisch besteht die Geschichte aus drei Teilen, wovon der zweite als eine Art R a h m e n für die letzte Phase der erzählten Zeit fungiert. In dem ersten Teil handelt es sich u m den Anteil mehrerer Mitglieder einer westgalizischen adligen Familie an der N o v e m b e r e r h e b u n g u n d ihren Entschluß nach der Niederlage ins Exil zu gehen. Der zweite Teil stellt das sorglose, freie Leben des Ehepaares u n d seiner Kinderschar in Amerika dar, bis der halbwüchsige Lolo nach Galizien zu den Großeltern entsandt wird, u m diese zu besuchen, schließlich das Warten der Eltern auf den Brief des Sohnes. Der letzte Teil thematisiert durch den Brief des im Gefängnis von Bochnia sterbenden Karl (Lolo) Glmski das galizische Blutbad zur Fastnacht 1846. In dem der Erzählung vorangestellten Vorwort formuliert der Verfasser explicite seine Einstellung zum polnischen Unabhängigkeitskampf, indem er die Polen als „das unglücklichste Heldenvolk der Neuzeit" bezeichnet und, den Vorwurf der Parteilichkeit von der Seite der Polengegner vorwegnehmend, feststellt, daß die Poesie „mit d e m Antlitz des Trösters f ü r die Einen, mit dem Nemesisblick göttlicher Anklage für die A n d e r n " (S. IV) zu erscheinen pflegt. Es liegt ihm also nicht an einem neutralen Bericht, sondern an seiner Stellungn a h m e zu den Ereignissen für die Polen. Dieses Anliegen ist das Ziel des Textes auf der Ebene der mitgeteilten Struktur, das die ganze dargestellte Struktur bestimmt. Bei d e m Bericht über den Novemberaufstand spürt der Leser die innige Anteilnahme des Erzählers an dem Schicksal Polens. Das H e l d e n t u m des Volkes wird hervorgehoben, das Fehlen an geeigneten Führern u n d die Gleichgültigkeit der ausländischen Diplomatie werden angeklagt. Hochachtung wird den Polen selbst in der Niederlage zuteil. Interessant ist das Stück des galizischen Lebens, in das u n s der Erzähler einen Einblick gewährt. Der Leser sieht die patriotische Begeisterung der adligen Familie in Lubliniec auf die Nachricht von dem ausgebrochenen Aufstand in Warschau, wobei bezeich-
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nenderweise der Geistliche u n d die Frau den Ausschlag geben. D e n Herrschaften schließt sich der getreue Diener Sebastian an, u n d diesem wiederum sein F r e u n d , der Bauer Antek, mit seinem j ü n g e r e n Bruder Jerzy. Auf diese Weise wird veranschaulicht, daß die oberen Gesellschaftsklassen nicht allein auftreten, sondern auch das Volk das polnische Freiheitsstreben teilt. Zwar verstehen die Bauern wenig von der Sache, aber sie sind mit naiver Begeisterung dabei. Die M u t t e r der j u n g e n Bauern läßt ihre einzigen Kinder u n d Ernährer mit d e m Segen in den Kampf ziehen, was der Erzähler eindeutig kommentiert: „Und doch hatte sie die allerdunkelsten Begriffe von einem Vaterlande. Sie war bitterlich arm; die Kinder ihr einziger Schatz, ihr F r e u d e n - u n d Liebesquell — doch ließ sie sie ziehen! Sie gelobte ihnen sogar von d e m Ölkrüglein ihrer A r m u t eine geweihte Kerze an j e d e m Sonn- u n d Feiertage ! Eine solche Frau ist dem gemiith- u n d herzlosen Diplomaten natürlich eine Fabel" (S.45). Zwar sind es n u r einzelne Bauern, die sich von den Herrschaften hinreißen lassen, aber das Verhältnis zwischen Dorf u n d Hof in Lubliniec wird im allg e m e i n e n als ein idyllisch-patriarchalisches dargestellt. Das wird am Beispiel der Szenen der Hochzeit zwischen Cajetan Glmski u n d Flaminia versinnbildlicht. Das exotische, farbige Leben der Emigranten auf der Farm in Ohio spielt im H a n d l u n g s g e f ü g e der Erzählung keine selbständige Rolle. Es dient hauptsächlich der Ausarbeitung des Kontrastes zwischen der Freiheit, deren sich alle Bürger Amerikas e r f r e u e n , u n d d e m politischen u n d sozialen Druck in Polen, sowie der G e g e n ü b e r s t e l l u n g des friedlichen Familienlebens in der F r e m d e u n d des Blutbades, das den ältesten Sprößling in Galizien erwartet. A u c h in diesem Teil, wie in den beiden übrigen, wird betont, daß der Erzähler die polnische Frau f ü r widerstandsfähiger als den M a n n u n d ihren Patriotismus für ein e n tieferen, a u s d a u e r n d e r e n hält. W ä h r e n d Flaminia an der Liebe zu Polen festhält, entsagt der enttäuschte Cajetan d e m P o l e n t u m . Er freut sich, daß seine Kinder bereits A m e r i k a n e r sind u n d das Märtyrertum der Polen nicht mitm a c h e n m ü s s e n . Mit Glinskis politischem Pessimismus verbindet der Verfasser eine richtige gesellschaftliche Erkenntnis: „Unser Volk, leider wird es bloß durch die Edlen repräsentiert u n d Viele w ü n s c h e n Polens Wiedererweckung n u r auf der Grundlage, daß dieser Z u s t a n d sich ins Unendliche verlängere und befestige" (S. 85). Als Sprachrohr des Verfassers lehnt er sich gegen die feudale Willkür, die U n t e r d r ü c k u n g der U n t e r t a n e n , die soziale Ungerechtigkeit in Polen auf u n d meint, daß u n t e r diesen U m s t ä n d e n j e d e r n e u e Krieg ein unwürdiger Betrug g e g e n ü b e r d e m Volk wäre. Freilich weiß der Emigrant nicht, daß der n e u e Freiheitskampf in Polen sich eben die Beseitigung dieser Mißstände z u m Ziel setzt. Daß auch der damals in Galizien a n w e s e n d e L e u t n a n t Messenhauser davon nichts zu wissen scheint, ist zwar weniger selbstverständlich, aber m a n m u ß es wohl als Tatsache gelten lassen, d e n n sonst hätte er dieses Anliegen, das in den Ideengehalt seines Werkes sehr gut passen würde, gewiß berücksichtigt. Es sei dabei erwähnt, daß auch der größte Teil der zeitgenössischen österreichischen Publizistik zu diesem T h e m a den demokratischen Cha-
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rakter des polnischen Aufstandes entweder verschweigt oder als billigen Betrug von Seiten der Aufständischen zeigt. Vor Lolos Abreise nach Europa hat sein Vater im Traum ein schreckliches Gesicht, das all seine Unruhe widerspiegelt. Er sieht das Unheil und Verderben, das die einmal entfesselten Dämonen der Rache der irregeführten Massen über das Land bringen würden. Dies ist eine Vorwegnahme des galizischen Blutbades, das im folgenden Teil der Erzählung geschildert wird. Über die Ereignisse in Galizien erzählt der Brief mit dem schwarzen Siegel, den die Eltern Lolos nach seinem Tode erhalten. Durch diese Aussageform erreicht der Schriftsteller einen neuen Zugang zum Gegenstand: Die Erzählweise wechselt zur Ich-Person, der Bericht wird subjektiver und emotionsgeladener, gleichzeitig handelt es sich um einen Briefautor, der, obgleich Pole, in Amerika aufgewachsen ist: der zwar in medias res steht, aber als ein verirrtes Opfer, ein zufallig in den Trubel der Ereignisse hineingezogener Unbeteiligter erscheint, dessen Perspektive somit unparteiischer sein muß als die eines Eingeweihten. Die Wirkung dieser Erzählerrolle wird allerdings durch das Unwahrscheinliche der Erzählsituation abgeschwächt. Ein von den Bauern arg mißhandelter, blutender junger Mann, der in dem Keller des Untersuchungsgefängnisses in Bochnia im Sterben liegt, vermag noch einen dutzend Seiten zählenden Brief zu schreiben, in dem er die Geschehnisse im Detail schidert und seinen Kommentar dazu abgibt! Dieser Brief enthält die Beurteilung der galizischen Vorfälle aus dem Blickwinkel des Verfassers. Die Beschränkung der Handlung auf den Kreis Bochnia ändert nichts an der Stichhaltigkeit der Verallgemeinerungen, da dieses Gebiet zu den am stärksten betroffenen zählte. Die Gedanken des Verfassers lassen sich in drei Hauptpunkten zusammenfassen. In der entfesselten blutigen Wut der Bauern sieht er die freilich grauenhafte Vergeltung für den feudalen Druck von der Seite des polnischen Adels, der seit Jahrhunderten andauert. Dabei gibt er zu, daß durchaus nicht alle Adligen die Untertanen gequält und ausgesogen haben — als Beispiel fungiert hier die Familie in Lubliniec — aber der blinde Zorn unterscheide nicht und richte sich gegen alle Herren. Mit diesen Feststellungen erkennt der Verfasser den gesellschaftlichen Grundcharakter der Bauernerhebung an und äußert somit eine wichtige essentielle Wahrheit über Galizien. Im Hinblick auf den polnischen Aufstand stellt Messenhauser als Augenzeuge ein geringes Ausmaß der Bewegung fest und bezeichnet ihn als Tat einer „handvoll Rasender". Er ist somit überzeugt, daß die meisten der ermordeten Edelleute gestorben sind, eine politische Schuld büßend, die sie gar nicht begangen haben. Also sogar nach den Kriterien der österreichischen Regierung sind sie als Staatsbürger als unschuldig zu betrachten. Den direkten Anlaß zum Blutbad sieht Messenhauser im Verhalten der österreichischen Beamten in Galizien, die vor Angst vor der vermeintlichen Gefahr die Bauern gegen die Polen aufgehetzt und somit das Signal zum „Herrengemetzel" gegeben haben. Bei dieser Beschuldigung stimmt er mit der polnischen Publizistik und mit Wurzbach überein. Der ganze Brief Lolos bildet eine scharfe Anklage der Lokalbehörden als Unheilstifter.
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Über die Disproportion zwischen dem Umfang der Bewegung und den Vorstellungen der Beamten schreibt der Protagonist folgende Worte: „Ja, wir waren ein ungeheures Heer, mit Gift und Dolch, mit Stricken und Henkern zur Vertilgung unserer Feinde überflüssig ausgestattet! In der Zahl von Legionen sind wir aus jedem Busch, aus jedem Hause hervorgesprungen; es galt gegen uns jedes Mittel der Abwehr — sonst war dem Aufstand nicht mehr zu begegnen, den eine handvoll Rasender wagte, nachdem sie wochenlang ihr Unternehmen den Behörden, der bewaffneten Macht wie ein Schauspiel angesagt, das in den drei letzten Tagen der Fastnacht stattfinden würde" (S. 124). Lolo trauert seinem Oheim und seinem treuen Diener, die unter schrecklichen Mißhandlungen ermordet wurden, nach: „Wenn sie (die Bauern — M. K.) Euch als Polen würgten, so durften sie hoffen, straflos zu bleiben! Alle Polen sind Giftmischer; alle Polen sind privilegierte Meuchelmörder und Banditen, wenigstens in der Meinung der Dummköpfe und in dem kalten Herzpochen der Memmen!" (S. 144 f)· Auf diese Weise bekennt sich Messenhauser zum polnischen Standpunkt, aus dem die Geschehnisse geschildert und beurteilt werden. In dem Text werden mehrmals die Regierungen Europas angegriffen, weil sie nichts tun, um Polen wiederherzustellen. Es fehlt auch nicht an versteckten Angriffen auf das reaktionäre Österreich. Die Frage nach dem Status Galiziens wird im engen Zusammenhang mit der polnischen Frage betrachtet. A m deutlichsten wird die Verdammung der drei Besatzungsmächte, als Flaminia sich Vorwürfe macht, den Sohn nach Galizien gesandt zu haben: „ihn der Heimaterde anvertrauen, wo Ketten, Kerker, Knute, Sibirien für die Vertriebenen gleichsam in der Luft schweben — ihn dem Schutz und Schirm von Verwandten zu übergeben, die selbst, wie Vogelfreie, von ihrem Staate preisgegeben wurden, — dieser Irrthum, Herr Audibon, — dieser Irrthum!" (S. 161). Der österreichische Autor zeigt auf diese Weise ein ungemeines Verständnis für die Lage der Polen, die im eigenen Land der fremden Willkür ausgesetzt sind. Er teilt auch die Überzeugung der Polen, daß ihre Niederlage keinen endgültigen Untergang bedeutet. Diese Hoffnung sieht er in der Haltung der polnischen Frau. Davon zeugt das Beispiel Flaminias, die die Hiobsbotschaft von dem Tode ihres Sohnes mit Fassung erträgt und einen symbolischen Friedhof mit den „Polengräbern" für die ihr bekannten Opfer des Jahres 1846 errichtet. So antwortet im Sinne des Autors der Gelehrte Audibon auf die Frage der kleinen Schwester Lolos, ob es denn nun keine Polen mehr gibt: „Sei getrost, mein Kind. So lange eine polnische Mutter lebt, wird es Polen geben, und — ein Polen!" (S. 162). Die späteste belletristische Fassung der galizischen Konflikte des Jahres 1846 bilden im deutschen Sprachraum zwei Erzählungen von Marie von Ebner-Eschenbach (1830—1916) aus der Sammlung Dorf- und Schloßgeschichten (1883) — Der Kreisphysikus und Jakob Szela. Wie Micha! Ciesla in seinem aufschlußreichen Aufsatz Ruchy rewolucyjne w Galicji w 1846 r. w swietle opowiadan Marli Ebner-Eschenbach7 berichtet, weist das Leben dieser mährischen Aristo-
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kratin keine persönlichen Beziehungen zu Galizien auf. Sie hat dieses Land nie besucht, und auch wenn sie in Wien irgendwelche Kontakte mit den Polen gehabt hat, haben sie sich wohl auf die gelegentlichen Begegnungen mit den Vertretern der Aristokratie und mit hohen Beamten galizischer Herkunft beschränkt. Ihr spätes Interesse an den Vorfallen in Galizien vor 1848 schreibt der Warschauer Germanist, sicherlich mit Recht, ihrer Sympathie für die Slawen schlechthin und für das einfache Volk zu. Zweifellos hat dabei auch der politische Faktor eine Rolle mitgespielt, weil die Autorin sich zum Ideal der übernationalen Habsburgermonarchie bekennt, deren Anhänger sie in den galizischen Bauern sieht. Da zu diesem Zeitpunkt bereits die beiden Kompendien über die Revolution des Jahres 1846 existierten, konnte sich die Schriftstellerin bequem auf diese Quellen stützen. Besonders ihre enge Anlehnung an Salas Monographie Geschichte des polnischen Aufstandes vom Jahre 1846 ist unverkennbar, jedoch scheint sie sich in manchem, wie die Deutung der Gestalt Szelas, mehr auf Polnische Revolutionen von Sacher-Masoch-Senior zu beziehen. Im Einvernehmen mit ihrem politischen Ideal mißbilligt die Autorin das polnische Unabhängigkeitsstreben. Aus ihren Quellen übernimmt sie das Bild der galizischen Bauern als Patrioten des Habsburgerstaates, die sich dessen bewußt sind, daß sie nur von dem Kaiser etwas Gutes erwarten können. Gerade diese Auslegung erlaubte der Schriftstellerin die galizischen Begebenheiten von 1846 im Dienst ihrer Idee des Vielvölkerstaates Österreich auszuwerten. Die Erzählung Der Kreisphysikus wird aus der Perspektive eines jüdischen Arztes aus dem Kreis Tarnów gebracht. In ihrem Mittelpunkt steht eine andere Gestalt, der polnische Revolutionär Eduard Dembowski. Doktor Nathanael Rosenzweig ist in dem ersten Teil der Erzählung ein infolge seiner entbehrungsreichen Jugend harter Mann, ein Pragmatiker, der es nur darauf abgesehen hat, zu großem Reichtum zu kommen, und den es schmerzt, daß er sein Stück Boden nur unter fremdem Namen als angebliche Pacht besitzen darf. Er erwartet eine bevorstehende Veränderung der Landesgesetze, sodaß auch die Juden an den größeren Freiheiten teilhaben können, aber er erwartet sie von der Regierung. Obwohl er sich nicht als Pole fühlt, verschweigen seine aristokratischen Patienten und zwar die schönen Damen die polnischen Verschwörungspläne durchaus nicht vor ihm. So erfährt er von dem für den Fasching 1846 (die Handlung spielt 1845) geplanten Aufstand, dessen Auftakt die Ermordung der österreichischen Offiziere während des Balls beim Erzherzog bilden soll. Dieses Gerücht von der durch die Polen angeblich geplanten sizilianischen Vesper konnte die Verfasserin sowohl von Sala als auch von Sacher-Masoch übernehmen. Mit dieser Szene thematisiert die Ebner-Eschenbach die stereotype Vorstellung von den patriotischen, aber sehr leichtsinnigen Polinnen (und Polen), die sich zu Konspiranten nicht eignen. Der jüdische Arzt fühlt sich von diesem patriotischen Treiben sowohl ethisch als auch politisch abgestoßen. Erst als der Kreisphysikus den Emissär Dembowski hörte, zeigten sich erste
Der polnische B e f r e i u n g s k a m p f des Jahres 1846
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Anzeichen der Veränderung in ihm. Dieser spielte nämlich auf die Diskriminierung der Juden in Galizien an und verlangte, daß die polnische Revolution diesen Mißstand beseitigt. Für sich selbst unverständlich, hilft der Doktor den Anwesenden, Dembowski vor dem Kreiskommissär zu verstecken. Dieser Kreiskommissär ist Breinl, den Ebner-Eschenbach auf eine sehr schmeichelhafte Weise dargestellt hat. Es ist ein jovialer älterer Herr, der mit dem polnischen Adel gesellig verkehrt und die „polnischen Konspirationen" auf die leichte Schulter nimmt. Die Erzählerin läßt ihn sogar seine Anerkennung für die polnische Vaterlandsliebe bekunden: „(...) so sehr ist der Mensch in mir im Beamten doch nicht aufgegangen, daß ich diese Polen um solcher Züge ihres oft unbesonnenen, blinden, stets aber hochherzigen Patriotismus willen nicht lieben und zugleich — beneiden müßte" (S. 44). Diese Worte spricht der österreichische Beamte als Sprachrohr der humanen Dichterin aus. Mit dem historischen Kreishauptmann von Tarnów, der im Winter 1846 die polnischen Adligen der Mordwut der Bauern preisgab, hat diese Auffassung freilich kaum etwas zu tun. Die Tätigkeit Dembowskis wird am besten durch die Szene seiner Agitation in einer Judenschenke veranschaulicht. Die Erzählerin zeigt bildlich, wie die Massen von Zuhörern, unter denen sich sogar Aristokraten und bisher österreichischgesinnte Edelleute befinden, von dem Rednerruf des Emissärs angezogen oder vom polnischen Patriotismus beseelt, sich zuerst in die Schenke drängen, dann aber, von den sozial radikalen Inhalten seiner Rede abgeschreckt, schnell weichen, so daß nur eine Handvoll der Getreuen, darunter auch Rosenzweig, bleibt. Dies ist eine Darstellung, die mit der historischen Überlieferung übereinstimmt, denn der wirkliche Dembowski war mit seiner sozialistischen Ideologie ein Schrecken des Adels. So predigt der Emissär in der Erzählung von Ebner-Eschenbach nicht so sehr den polnischen Aufstand wie Menschenliebe und gesellschaftliche Gleichheit als ihre Voraussetzung. In der Auffassung der Autorin ist Dembowskis Ideologie religiös fundiert, während er in Wirklichkeit sich in seiner letzten Lebensphase von dem christlichen Glauben stark entfernt haben soll 8 . Allerdings stimmt es, daß er sich zu agitatorischen Zwecken der christlich gefärbten Vorstellungen und einer entsprechenden Sprache bediente. Die Szene in der Schenke beendet die Verfasserin mit dem wiederholten Motiv der Errettung des Emissärs aus den Händen der österreichischen Behörden durch Rosenzweig. Diese Tat markiert die gründliche Veränderung, die im Kreisphysikus bereits stattgefunden hat. Obwohl er nun Dembowski aus den Augen verliert, befolgt er seine Lehre bis an sein Lebensende. Rosenzweig wirkt während des polnischen Aufstandes als Arzt und läßt sich auf keinen Fall von seiner Überzeugung abbringen, daß von der Revolution nichts zu fürchten sei. Die Bauernerhebung wird von der Ebner-Eschenbach in diesem Text fast verschwiegen, da die Ausführungen darüber zur Beleuchtung ihres Gegenstandes nicht nötig waren. Sie thematisiert nur kurz die Veränderung im Verhalten Breinls, der plötzlich von blinder Angst befallen wird, ohne daß sie die
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Wirkungen dieser Angst konkret zeigen würde. Als Überleitung z u m Bericht über den vermeintlichen Tod Dembowskis während der Krakauer Revolution dient ihr lediglich die Passage: „Die Erhebung war am Widerstand der Landbevölkerung gescheitert; das Korps, das die Insurgenten aufgebracht hatten, war durch dreihundert M a n n kaiserlicher T r u p p e n u n d eine zehnfache Anzahl Bauern, die sich ihnen anschlossen, unter Benedeks energischer F ü h r u n g , bei Gdow geschlagen worden" (S. 76). Voll Sympathie für den Revolutionär zeigt sie ihn, im E i n v e r n e h m e n mit den historischen Fakten, wie er während der Prozession auf Podgórze fallt. In dem Epilog benutzt aber die Schriftstellerin die Legende, daß D e m bowski damals nicht gestorben war, sondern daß er weiterhin als Bauer unter den Bauern lebte. So begegnet ihm nach Jahren sein Jünger Doktor Rosenzweig, der unter seinem Einfluß ein samaritanischer Armenarzt geworden ist, in einem Dorf in der Nähe der schlesischen Grenze. Es erweist sich dabei, daß aus d e m Revolutionär ein Anhänger der evolutionären Gesellschaftsentwicklung geworden ist: Dembowski ist sich des utopischen Charakters seiner Pläne bewußt geworden u n d wirkt n u n positiv u n t e r den Bauern, indem er ihr Leben lebt u n d ihnen etwas Bildung beizubringen sucht. Dieser Weg wird von der Autorin offensichtlich gebilligt. Jedoch auch der Dembowski-Agitator ist für sie eine Leitgestalt, die jede A n e r k e n n u n g verdient. Eingehender befaßt sich die Schriftstellerin mit den Ereignissen des Jahres 1846 in der Erzählung Jakob Szela. Sie bedient sich hier einer Szela-Legende, die sich auf die österreichische Historiographie, vor allem aber wohl auf die Überlieferung Sacher-Masochs in den Polnischen Revolutionen gründet. Folglich sieht sie in Szela einen d e m Habsburgischen Haus ergebenen, edlen Volksführer, der nur gegen die „rebellischen" Herren auftrat, erlittenes Unrecht nicht rächte, sondern sich von h ö h e r e n Motiven lenken ließ, der die Bedrängten schützte u n d nach seinen Kräften O r d n u n g u n d Zucht in den Bauernscharen einführte. Mit einem Teil der Schuld, die d e m historischen Jakob Szela zugeschrieben wird, hat sie seinen Sohn, den „düsteren Gesellen", belastet. Die Ebner-Eschenbach entlastet Szela von der Schuld, daß er aus persönlichen G r ü n d e n die Familie seines G r u n d h e r r n Bogusz aus Smarzowa hat ermorden lassen, sie läßt höchstens gelten, daß er nichts dagegen getan hat. Diese Mordtat würde ja sein ideales Image des österreichischen Patrioten beflecken. Die Autorin weiß vermutlich nicht, daß Szela seine Aktivität vor allem in der zweiten Phase der Bewegung entfaltete, die sich gegen die Wiederaufrichtung der Fronarbeit richtete, denn sie hätte sonst die historische Gestalt auf diese Weise nicht eingesetzt. In ihrer Erzählung ist Szela der erste, der die Bauern seiner Gegend zur Arbeit wieder auffordert. Seine Verbannung in die Bukowina faßt somit die Schriftstellerin als eine grelle Undankbarkeit der österreichischen Regierung auf. Auch bei Marie von Ebner-Eschenbach erscheinen die galizischen Bauern als eine undifferenzierte Masse. Das Einzige, was man von ihnen anhand ihrer Erzählung sagen kann, ist, daß sie von den G r u n d h e r r e n unterdrückt werden
D e r polnische B e f r e i u n g s k a m p f des Jahres 1846
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und infolgedessen dunkel und roh sind und daß sie die Polen hassen, die polnische Revolution verabscheuen und sich selbst als treue Anhänger des Kaisers, „Austriaci", bezeichnen. Historisch belegt ist das von Ebner-Eschenbach benutzte Motiv der „Prophezeiung" von dem bevorstehenden Blutbad, die die abergläubischen Bauern aufregt. Nur legt sie die Verfasserin von der Kehrseite aus, indem sie darin eine Vorwegnahme der Geschehnisse sieht. Damals hat vor allem das Gerücht, daß die polnischen Herren die Bauern ausrotten wollen, viel Unheil angestiftet. Mehr differenziert stellt die Autorin die Haltung des polnischen Adels dar. Sie teilt die galizischen Grundbesitzer in loyale Untertanen des Kaisers und in Verschwörer, unter denen sie Verführer und Verführte unterscheidet. Dabei schildert sie im Rahmen der kleinen Erzählung unter wenigen Gestalten der polnischen Edelleute, die näher dargestellt werden, gleich zwei Anhänger Österreichs. Beide sind positive Gestalten — der Graf O. und der alte Kastellan Sikorski. Wahrscheinlich weiß sie wenig von den wirklichen Stimmungen unter dem galizischen Landadel der vierziger Jahre, denn sie stellt sich vor, daß ein beträchtlicher Teil dieser sozialen Gruppe „gut kaiserlich" gesinnt ist. Diese Überzeugung konnte sie entweder aus ihren Quellen übernehmen (insbesondere von Sala) oder aus ihren eigenen Begegnungen mit polnischen Adligen der Verfassungsära gewinnen. Sie legt somit den polnischen Aufstand als eine Tat weniger Verführer aus, die mehrere Landsleute, vor allem die Jugend, verfuhrt haben. Dieser Blickwinkel ermöglicht es der Schriftstellerin, den Aufstand zu verurteilen, aber die polnischen Aufständischen ohne negative Emotionen zu betrachten. Sie predigt Frieden, Vergebung und Zusammenarbeit. Diese Einstellung ist bezeichnend für die Zeit nach 1867, in der alle Völker des Staates die Autonomie bekamen und zur Mitregierung der Monarchie zugelassen und sogar aufgefordert wurden. So kann man die Auffassung von Ebner-Eschenbach als ein Symptom für die Haltung derjenigen Staatsbürger Österreichs betrachten, die im staatserhaltenden Sinne für die Idee der multinationalen Habsburgermonarchie plädierten. Aus demselben Grund ist die Sympathie der Ebner-Eschenbach bei den galizischen Bauern. Sie flößen ihr als Opfer des gesellschaftlichen Druckes Mitleid ein. Aber relevant werden sie für die Ziele ihrer Erzählung erst dadurch, daß sie in ihnen ein Sinnbild des österreichischen Patriotismus sieht. So macht sie als eine treue Monarchistin den „Bauernkönig" Szela, der alles für den Kaiser getan habe, zur Leitgestalt ihrer Novelle.
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1. 2. Die nationale Problematik Galiziens im Schaffen Leopold von Sacher-Masochs Eine der wichtigsten Positionen unter jenen deutschsprachigen Schriftstellern, die sich in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg mit dem Galizienthema auseinandersetzen, nimmt Leopold von Sacher-Masoch der Jüngere (1836—1895) ein. In seinem Schaffen begegnen wir einer Reihe von Erzählungen und Romanen aus dem Umkreis der nationalen, sozialen und konfessionellen Probleme Galiziens. Im Hinblick auf die nationalen Fragen interessieren den Schriftsteller sowohl der Status des polnischen Staatsbürgers der Monarchie, den er mit Hilfe von Themen aus der Sphäre des polnischen Unabhängigkeitskampfes zum Ausdruck bringt, als auch derjenige des ukrainischen Bewohners Galiziens, den er durch die Darstellungen des nationalen „Erwachens" der Ruthenen seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts thematisiert. Man darf bei der Erörterung der Gestalt Sacher-Masochs und seines Werkes nicht außer acht lassen, daß gerade dieser Name dem Wiener Psychiater Richard von Krafft-Ebing zur Bezeichnung einer sexuellen Abartigkeit, deren Beschreibungen im Werk dieses Schriftstellers oft vorkommen, als „Masochismus" gedient hat 9 . Bedauerlicherweise hat diese Tatsache die Literaturforscher dazu verleitet, sich mehr auf den Krankheitsfall als auf die Werke des Verfassers zu konzentrieren 1 0 . Erst in den letzten sechs Jahren haben die Forschungen des Germanisten und Romanisten Michael Farin dazu beigetragen, ein mehr adäquates Bild des Schriftstellers erstehen zu lassen. Beachtenswert ist auch die kleine Monographie von Albrecht Koschorke Leopold von SacherMasoch. Die Inszenierung einer Perversion (1988), die die Ausgangsthese zu belegen sucht, daß Sacher-Masoch selbst aus „publicity"-Gründen das Bild seines Masochismus bewußt erzeugte und zur Schau stellte. Leopold von Sacher-Masoch begann seine schriftstellerische Laufbahn mit interessanten realistischen Erzählungen und Romanen, wurde von dem strengen Kritiker Kürnberger für eine große Hoffnung der österreichischen Literatur gehalten und galt als Vorläufer und Wegbereiter der naturalistischen Strömung in Österreich 11 . Erst mit der fortschreitenden Krankheit und dem wachsenden Drang zur Vielschreiberei betrat er den Boden der Trivialliteratur und näherte sich zuweilen der Pornographie. Anderseits weist Hans Otto Horch in seinem Aufsatz Der Außenseiter als „Judenraphael" nicht ohne Recht darauf hin, daß die „skandalösen" und „seriösen" Werke Sacher-Masochs durch die Konstanz von Motiven und seiner Lebenshaltung, die dahinter steht, doch eine Einheit bilden 12 . Seine „galizische" Prosa bildet quantitativ einen beträchtlichen und qualitativ den besten Teil seines Œuvres. Vor allem die aus dem Erlebnis der verlassenen Heimat heraus geschriebenen Werke seiner ersten Schaffensphase gehören zu dem Wertvollsten, was er geschrieben hat. Leopold von Sacher-Masoch stammt aus Galizien und hat dort die ersten zwölf Jahre seines Lebens
D i e n a t i o n a l e P r o b l e m a t i k G a l i z i e n s im S c h a f f e n L e o p o l d v o n S a c h e r - M a s o c h s
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verbracht. Er ist in Lemberg als Sohn des bereits in dieser Arbeit erwähnten österreichischen Polizeidirektors b ö h m i s c h e r H e r k u n f t u n d der Tochter eines aus U n g a r n eingewanderten, seit 1793 an der Medizinischen Fakultät der Lemberger Universität tätigen G e l e h r t e n geboren. Die Familie hatte in Ostgalizien gelebt, bis der Vater 1848 nach Prag versetzt wurde. A u c h nach d e m Verlassen Galiziens ist Leopold von Sacher-Masoch der Jüngere darin geistig verwurzelt geblieben. Seine Liebe zu diesem Land b e d e u t e t freilich nicht, daß er die Bestrebungen der galizischen Polen nach d e m Wiedererlangen der Staatsunabhängigkeit teilt. Im Gegenteil, dieser deutschsprachige Schriftsteller slawischer A b s t a m m u n g f ü h l t sich als Österreicher. Die Idee der Habsburgermonarchie als eines mächtigen Staates, der allen seinen Völkern Schutz u n d Friede bietet u n d die Pflege ihrer Muttersprachen, Religionen u n d Nationalsitten gewährt, zieht ihn gewaltig an. In jeglichen nationalen Freiheitsbestrebungen sieht er G e f a h r f ü r die Integrität u n d I m m u n i t ä t der Universalmonarchie. Zugleich werden seine politischen Ansichten stark durch die Einstellung seines Vaters geprägt, was m a n durch den Vergleich m a n c h e r seiner Werke wie Eine Galizische Geschichte oder Sociale Schattenbilder m\X. d e m E r i n n e r u n g s b u c h seines Vaters Polnische Revolutionen leicht feststellen kann. Sein Vater war ja als vormärzlicher Polizeidirektor in Lemberg schon von Berufs wegen zur Bek ä m p f u n g der polnischen Freiheitsstrebungen verpflichtet, was er mit Eifer u n d voller Ü b e r z e u g u n g tat. So erscheinen auch d e m Sohn die polnischen Aufstandsversuche als gefährlich u n d v e r d a m m e n s w e r t , wobei er jedoch d e m Patriotismus u n d H e l d e n t u m der Polen seine A n e r k e n n u n g nicht versagen kann. Bei der Darstellung des polnischen Unabhängigkeitskampfes beschränkt sich Sacher-Masoch nicht auf das Jahr 1846, aber dieses steht bei ihm im Mittelpunkt. M e h r am R a n d e erscheinen die Ereignisse der Revolution 1848 in Galizien (so z.B. in der J u d e n e r z ä h l u n g Der Iluj). Er hat die blutige Fastnacht 1846 als zehnjähriger Knabe erlebt, aber e b e n in Ostgalizien, wo es n u r im Dorf Horozana im Kreis Sambor u n d in d e m Städtchen Narajów z u m A u s b r u c h des A u f s t a n d e s kam. So war der Junge b e s t i m m t nicht A u g e n z e u g e der Vorfälle, aber er w u ß t e sicherlich Bescheid aus den Erzählungen des Vaters, der mittendrin stand. U n d was der Sohn damals nicht erfahren hatte, das sollte ihm wohl mit der Zeit aus den E r i n n e r u n g e n des Vaters bekannt werden. D a h e r ist es durchaus verständlich, daß er die Vorfälle des Jahres 1846 aus der Sicht SacherMasoch-Seniors schildert. D e m galizischen Aufstand ist das Erstlingswerk des Schriftstellers, der u m fangreiche R o m a n Eine Galizische Geschichte. 1846 (1858; 1864 u n t e r d e m veränderten Titel Graf Donski e r n e u t herausgegeben) gewidmet. Der Verfasser ist zu dieser Zeit ein zweiundzwanzigjähriger promovierter Historiker u n d Privatdozent in Graz. D a ß der j u n g e M a n n sein erstes Werk aus der S e h n s u c h t nach Galizien heraus geschrieben hat, davon zeugt explizite schon seine umfangreiche Vorrede, die den Titel „ G r u ß an m e i n e Landsleute!" trägt. Der Verfasser wendet sich an diese mit den W o r t e n , die „in n u c e " seine ganze Einstellung
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zum Heimatlande ausdrücken: „So grüße ich Euch denn Alle, wie uns Alle ein Land: Galizien gebar; Polen, R u t h e n e n , Deutsche und Israeliten! Ob Ihr die Czemerka tragt, den Dreispitz, die Jarmurka oder den weißen Rock, ob Ihr hinter dem Pfluge geht, in der Esse oder in den Hörsälen schwitzt; ob Ihr an dem Wappenrock Eurer G e s i n n u n g den siegreichen Doppelaar oder den wehmüthigen weißen Adler tragt; ob Ihr die Welt durch ein weißrothes oder schwarzgelbes Glas anseht; ob Ihr in Synagogen, Bethäusern, Cirkew's oder Kirchen betet — ich grüße Euch herzlich" (S. VII). Weiter beklagt er sich, daß, da er sich zur deutschen Nation bekennt, in seinem Falle Heimat u n d Vaterland auseinandergehen. Er stellt fest, daß der Nutzen Deutschlands „dem E u r e n " fast entgegenläuft. Sein Buch widmet der Verfasser einem lieblichen Mädchen polnisch-deutscher A b s t a m m u n g , Minia. Diese Minia erscheint dann als eine positive Gestalt im Roman, tritt aber innerhalb seiner Handlung nur als Polin auf. Der Autor bezeichnet sich selbst als einen Mann o h n e Vaterland. So vermischt sich mit der wehmütigen Sehnsucht nach dem Land der Kindheit das Bewußtsein der fehlenden nationalen Identität. Wie seine Werke zeugen, klammert sich Sacher-Masoch an die Idee des übernationalen Österreich als einer Überbrückung dieser Kluft. Sein Anliegen in diesem Roman bezeichnet er nicht als Schilderung der Ereignisse in Galizien anno 1846, sondern des Charakters des galizischen Aufstandes und der damaligen galizischen Verhältnisse, also als das, was wir als eine essentielle Wahrheit seines Werkes bezeichnen würden. Die dargestellten Begebenheiten in Howozany (eigentlich Horozana) und im Städtchen D. (wahrscheinlich handelt es sich u m Narajów) e n t f e r n e n sich tatsächlich weit von der historischen Überlieferung 1 3 , obwohl der Verfasser offensichtlich viele Fakten sogar mit Details kennt. Meistens läßt er aber die „licentia poetica" gelten, indem er die wenig ausgedehnten Vorkommnisse in Ostgalizien im Charakter an die westgalizischen, so wie sie aus dem österreichischen Blickwinkel gesehen wurden, anpaßt. Er ü b e r n i m m t die Überzeugung seines Vaters, daß an der Verschwörung der ganze galizische Adel teilgenomm e n habe und daß dessen Versprechen an die Bauern, sie von Feudallasten zu befreien, ein bloßes Lockmittel gewesen sei. Auch sieht er in den galizischen Bauern loyale und bewußte österreichische Patrioten. Aus den historisch falschen Voraussetzungen erfolgt die falsche Beurteilung der Bewegung, die ähnlich wie bei der Ebner-Eschenbach dem Verfasser nötig war, u m seine Idee Österreichs zu veranschaulichen. Gleichzeitig entwirft Sacher-Masoch ein breites, buntes Bild der galizischen Zustände, das manche wesentliche Auskunft über das Leben in diesem Land bietet. Das soziale Panorama des Romans umfaßt alle Schichten der galizischen Bevölkerung in ihrem Verhältnis z u m polnischen Aufstand: den Adel — wobei zwischen den reicheren Grundbesitzern u n d dem kleinen Landadel unterschieden wird —, die Geistlichkeit, das Bürgertum, die Bauern, die deutschen Beamten, das Militär u n d die Juden. Es ist das umfassendste Bild des galizischen Lebens im 19. Jahrhundert, das aus einer deutschen Feder stammt. Der
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vorwiegende Teil der Handlung spielt auf dem Lande, und das Hauptaugenmerk des Verfassers ruht auf dem Landadel. Er führt seinen Leser auf einige ostgalizische Adelshöfe und zeigt, wie die polnische Revolution vorbereitet wurde: mit viel Begeisterung und Spontaneität, aber sorglos und leichtsinnig. Besonders stark unterstreicht er die inneren Zwiespalt und Streitsüchtigkeit unter den Mitgliedern der Bewegung, die extrem unterschiedliche Vorstellungen von der Staatsverfassung des künftigen Polen haben, wobei die meisten konservative, rückschrittliche gesellschaftliche Anschauungen vertreten. Die Bauern werden von den meisten der Adligen wie Vieh betrachtet. Daher sehen die Verschwörer keine Notwendigkeit, das Landvolk für den geplanten Aufstand zu gewinnen, da der Bauer ja sowieso gehorchen müsse. Beispiele der grausamen Behandlung der Untertanen bilden im Roman die Gestalten des Grafen Lanski und der beiden Donskis. Eine positive Ausnahme ist der junge Julian Myslecki, der seine Bauern für voll nimmt, sie über den Zweck der Bewegung aufklärt und sie von den Fronleistungen wirklich befreien will. Es ist zwar ein Zufall im Rahmen der dargestellten Struktur, aber kein Zufall in der Absicht des Verfassers, daß gerade dieser sanfte, gutmütige, schwärmerisch veranlagte junge Mann aus dem folgenden Gemetzel heil davonkommt. Mit Recht betont der Erzähler, daß besonders die herrschaftlichen Beamten, Mandatare, Ökonomen usw. die Bauern mißhandeln und als Werkzeuge des Drucks ihrer Herren auftreten. So ist auch die Rache der Bauern an ihnen die grausamste. Einen besonderen Platz n e h m e n im Roman die polnischen Frauen ein. Es werden die Gestalten vorgeführt, die drei Generationen einer adligen Familie vertreten. Die Großmutter, die schon zwei Söhne im Kampf um die Befreiung Polens verloren hat und nun auch den jüngsten in der Schlacht mit den Bauern verliert, realisiert das Image der ehrwürdigen polnischen Matrone, für die das Vaterland alles bedeutet. Gleichzeitig wird sie als eine Wohltäterin ihrer Bauern dargestellt. Die letzte Funktion wird auch von ihrer jüngsten Enkelin, der guten, schönen, liebenswürdigen Minia ausgeübt. So läßt die poetische Gerechtigkeit die beiden Frauen aus der Katastrophe des Jahres 1846, durch ihre dankbaren Bauern gerettet, unversehrt entkommen. Dagegen fällt die Vertreterin der mittleren Generation, die Mutter Jadwiga, von ihrem Hochmut zu falschen Schritten verleitet, unter den Sensen der Bauern. Auch die ältere Schwester Minias, die stolze Wanda, die bereits das spätere Stereotyp der herrschsüchtigen und grausamen Frau bei Sacher-Masoch vorwegnimmt, ohne es ganz zu erfüllen, fallt im Kampfe mit den Bauern. Im allgemeinen bilden die Figuren Julians, Minias und der Großmutter, sowie des Geistlichen Sirlecki, die positiven Gestalten des Romans auf polnischer Seite; sie beweisen, daß Sacher-Masoch keine besondere Abneigung gegen den polnischen Adel hegt und ihn nur aus politischen Gründen kritisiert. Mit den Adligen n e h m e n die Priester und Stadtbürger an der polnischen Bewegung teil. Die Geistlichkeit wird in der Figur des Patrioten Pater Sirlecki positiv dargestellt, dessen nationale und religiöse Anschauungen keinen Zweifel
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an ihrer Echtheit aufkommen lassen und der es auch mit den Bauern gut meint. Viel schlechter schneiden die Stadtbewohner ab, deren Vertreter, der gefräßige Student Korski, Mitglied des Nationalkomitees in Lemberg, und der Poet Macowinski, Karikaturen der polnischen Intelligenz bilden. Sonst ist nur vom „städtischen Gesindel" die Rede, das zwar laut schreie, aber leicht Angst bekomme und äußerlich einen ziemlich zerlumpten Eindruck mache. Auf diese Weise wird die Rolle des Bürgertums bei der Bewegung des Jahres 1846 als unwesentlich abgetan. Für die galizischen Bauern hat der Verfasser viel Verständnis und Sympathie, ohne sie jedoch vertiefter und differenzierter darstellen zu können. Er betont die aktive, ja aufwiegelnde Rolle der beurlaubten Soldaten bei der Bekämpfung des Aufstandes. Sonst sieht er in den Bauern die demütigen, geduldigen Opfer des gesellschaftlichen Druckes, der seit Jahrhunderten dauert. Erst wenn das Maß übervoll ist, reißen sie alle Dämme ein und greifen mit blinder Wut ihre bisherigen Verfolger an. Mit Recht verweist der Autor darauf, daß die Bauern in Ostgalizien meist nicht Polen und römische Katholiken, sondern Ruthenen und Griechisch-Unierte sind. So fühlen sie sich den Bestrebungen der „Lechi" fremd und abgeneigt. Er unterläßt es allerdings nicht, auch darauf hinzuweisen, daß sogar dort, wo die Bauern Polen sind, die Solidaritätsgrenze nicht die national-religiöse, sondern die soziale ist. Auch die polnischen Bauern fühlen sich nicht als Polen, sondern als „Kaiserliche". Ihre Loyalität und Treue zum Kaiser und zu seinen Beamten werden hervorgehoben und idealisiert. Vor allem werden aber im Roman diejenigen Schichten im günstigen Licht gezeigt, mit denen sich der Verfasser als mit den Vertretern der österreichischen Staatsgewalt in Galizien identifiziert. Die kaiserlichen Beamten werden in den Gestalten des jovialen, gemütlichen Kreishauptmanns Kern vorgeführt, der mit Polen auf freundschaftlichem Fuß verkehrt, aber dabei vorsichtig bleibt, und des wackeren Praktikanten Ernst, der als Freiwilliger an der Bekämpfung des Aufstands teilnimmt. Beide werden ziemlich schmeichelhaft porträtiert. Der Verfasser idealisiert in einem starken Ausmaß die Schicht, der er selbst entstammt, denn er zeigt nur solche vorbildlichen Haltungen der Beamten. Dagegen sowohl die aufwiegelnde Rolle der Lokalbehörden bei dem galizischen Blutbad als auch die Bestechlichkeit und Ungerechtigkeit der österreichischen Bürokratie gegenüber den niederen Gesellschaftsklassen werden von ihm verschwiegen. Diese Wahl ist symptomatisch sowohl für die gesellschaftliche als auch für die politische Haltung Sacher-Masochs. Aus dem gleichen Grund betont der Verfasser bei der Schilderung des Militärs in Galizien die Treue der Offiziere und Gemeinen zur österreichischen Monarchie, der sie den Eid geleistet haben. Diese Tatsache wird deshalb von ihm hervorgehoben, weil die meisten von ihnen zu den Landeskindern gehören und der Abstammung nach Polen sind. Im Konflikt zwischen ihrem Nationalbewußtsein und der Pflicht dem Staate gegenüber, dem sie dienen, wählen sie die Fahnentreue. Diese Haltung zeigt Sacher-Masoch als vorbildlich.
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Trotz der Verurteilung des polnischen Aufstandes sieht Sacher-Masoch Möglichkeiten für ein friedliches Zusammenleben der Polen mit Österreichern in Galizien. Er betont, daß der Sieg der Revolution im Frühling 1848 die zu den Festungsstrafen Verurteilten wieder in die Heimat brachte. Auch zeigt das Happyend des Romans, die Verbindung Julians mit Minia, die von dem Autor empfohlene Richtung der Entwicklung an: Der Entschluß des Paares, auf dem Dorfe zu bleiben, wo ihre Angehörigen ermordet worden sind, symbolisiert die Möglichkeit des Vergessens, der gegenseitigen Vergebung der Schuld und des Aufbaus auf den Trümmern eines neuen, friedlichen Lebens. Die Voraussetzungen dieses Lebens wären aber natürlich nicht nur die Gerechtigkeit gegen die Bauern, sondern auch das Nichtprovozieren der Regierung durch konspiratorische Tätigkeit. Dieser Appell enthält das Anliegen des Werkes auf der Ebene der mitgeteilten Struktur. Im Rahmen der dargestellten Struktur entspricht dieser Absicht ein bestimmtes Bild der galizischen Gesellschaft, sodaß manche Klassen und Schichten ein Muster der staatserhaltenden Haltung bilden, während der galizische Landadel zwar in seinen politischen Bestrebungen kritisiert wird, aber in manchen seiner Vertreter doch eine Chance auf eine bessere Zukunft zeigt. Diese bessere Zukunft steht für Sacher-Masoch natürlich im Zeichen des Vielvölkerstaates Österreich. Zum zweiten Mal greift Sacher-Masoch das Problem Galiziens in der Erzählung Der Emissär. Eine galizische Geschichte (1863) auf, wo er seine Stellungnahme zum polnischen Unabhängigkeitskampf und zur Staatsidee Österreichs noch deutlicher präzisiert. Die schlichte Liebeshandlung mit zwei Paaren zu Ende der Geschichte und die Handlung um einen Aufstandsversuch dienen lediglich dazu, die politische Überzeugung des Verfassers zum Ausdruck zu bringen. Die Handlung spielt im März 1848, aber der ganze darin geschilderte Aufstandsversuch wird der polnischen Erhebung und der bäuerlichen „Konterrevolution" des Jahres 1846 nachgebildet. Die Analogien zum Erstlingsroman des Schriftstellers sind unverkennbar. Die Darstellung der Greuel der blutigen Fastnacht wird hier jedoch gegen eine versöhnliche Fabelentwicklung vertauscht, die den Absichten des Apologeten Österreichs besser zusagt, was eben die Veränderung der Jahreszahl und die Einführung eines erfundenen Aufstandsversuches ermöglicht hat. So erscheint dasselbe Thema, das in der Galizischen Geschichte, 1846 in der Tonart des Trauerspiels behandelt werden mußte, hier ins Heiter-Komische umgeschlagen. Das Thema der Geschichte ist die Vereitelung eines polnischen Aufruhrs durch die konsequente staatsloyale und kaisergetreue Haltung der galizischen Bauern, und da die Verschwörer diesmal vernünftig genug sind, angesichts der Umstände von ihren Plänen abzusehen, wird kein Blut vergossen. Inmitten dieser Geschehnisse entwickelt sich die Liebeshandlung zwischen den Hauptpersonen des politischen Schauspiels. Sie wird dazu eingesetzt, die österreichisch-polnische Begegnung in Galizien als einen Konkurrenzkampf zu thematisieren, der überwunden werden und zur Mitarbeit beider Seiten führen kann. Der Handlung liegt eine einfache Dreiecksituation zugrunde: Die Toch-
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ter des Kreishauptmanns, Carola, ein schönes, liebliches Mädchen deutschpolnischer Abstammung, steht zwischen zwei Männern, dem jungen polnischen Adligen Roman Potocki und dem tüchtigen österreichischen Beamten, Kreiskommissär Burg. Sie glaubt zuerst Roman zu lieben und seine patriotischen Bestrebungen zu teilen. Die romantisch-heldenhafte Geschichte Polens und die Pracht des Lebens polnischer Großadliger ziehen sie an. Da auch Carolas Mutter, eine Deutschösterreicherin aus Tirol, diese Verbindung aus Ehrgeiz unterstützt, scheint der schlichte Bürgerliche Burg keine Aussichten zu haben. Carola geht sogar soweit, die Maßnahmen der österreichischen Behörden an die Verschwörer zu verraten. Dann aber kommt unter dem Einfluß Burgs die Ernüchterung: Das Mädchen wird sich dessen bewußt, daß sie sich als Galizianerin und nicht als Polin fühlt und daß sie sich auf dem polnischen Edelhof fremd fühlen müßte. In derselben Zeit verliebt sich Roman Potocki in die patriotische Emissärin Waleska und stellt fest, daß diese leidenschaftliche, zum Teil sogar als dämonisch dargestellte Frau viel besser zu ihm passen würde als die häusliche Carola. Carola rettet Burg, den die Aufständischen in eine Falle gelockt haben, indem sie sich an die Bauern wendet und an ihren österreichischen Patriotismus appelliert. Als Roman, der als ein gütiger Herr, ziemlich ähnlich dem Julian Myslecki aus dem früheren Werk — wie Carola noch mehr der Minia gleicht, gezeigt wurde, begreift, daß er um ein freies Polen gegen den polnischen Bauern kämpfen müßte, gibt er den Kampf auf. Andere schließen sich ihm nach einem kurzen Streit an. Waleska entsagt nun ihrer patriotischen Sendung, um der „natürlichen Bestimmung der Frau", Gattin und Geliebte zu werden, nachzukommen. Da das großzügige Österreich in Gestalt seines Beamten die Sünden vergibt, darf das junge Paar ein neues Leben nach den positivistischen Grundsätzen der Arbeit mit dem Volke und für das Volk beginnen. Das zweite Paar, dem die Erzählung besondere Aufmerksamkeit schenkt, bilden natürlich Carola und Burg, denen eine in den Augen des Verfassers ungemein wichtige Funktion zukommt: Sie sollen die Sendung Österreichs in Galizien erfüllen, indem sie ihrer Umgebung ein Muster der familiären, häuslichen und bürgerlichen Tugenden liefern. In der Figur der anmutigen Galizianerin Carola wird das Ideal SacherMasochs und seine Forderung an die Bürger seiner Heimat thematisiert. Er betont, daß das Mädchen durch die Mischung des slawischen und deutschen Blutes so reizvoll geworden ist. Der Wettstreit der beiden Männer um ihre Hand bedeutet zugleich einen Wettbewerb zwischen dem polnischen und österreichischen Element. Das Polnische bedeutet die großen Heldentaten und den gesellschaftlichen Glanz, das Österreichische — die Arbeit, Tüchtigkeit, Häuslichkeit. Carola verwirft die Möglichkeit, eine große Herrin zu werden, was ihr Ablegen der polnischen Pelzjacke und das Anziehen der deutschen Schürze symbolisiert, und anstatt wie Polinnen zu reiten, zu jagen und zu tanzen, wendet sie sich den häuslichen Pflichten und der Lektüre zu. Diese krasse Gegenüberstellung beruht auf Verwechslung von zwei Sachverhalten, denn was Sacher-Masoch hier als Lebensweise der Polin und der Deutschen oder vielmehr
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Österreicherin kontrastiert, ist eigentlich ein sozialer und nicht nationaler Kontrast: zwischen dem Leben einer Adligen und dem einer Bürgerin. Die Gruppierung der Figuren erfolgt durch ihre Einteilung in zwei Lager von entgegengesetzten politisch-nationalen Zielsetzungen, der polnischen Patrioten und der Anhänger des Österreichertums. Der Autor steht natürlich ganz auf der Seite der letztgenannten Gruppe, zu der er irrtümlicherweise auch galizische Bauern rechnet. Dieses Bild der Bauern als bewußter österreichischer Patrioten paßt in sein Gesamtkonzept der überwindbaren Polarität der Gesellschaft Galiziens hinein. Er ist ein politischer Gegner der Polen, aber dabei hat er viel Sympathie für ihre Eigentümlichkeiten, ihre Ritterlichkeit, Phantasie, Romantik, sogar für ihre Vaterlandsliebe. Deshalb ruft er zur Versöhnung auf, zu einem Kompromiß, der darauf beruhen sollte, daß die galizischen Polen zwar ihre nationale Eigenart behalten, aber auf ihre Freiheitsbestrebungen verzichten und sich im Politischen Österreich unterordnen, denn das sei das Land, das allen Nationalitäten die Entwicklung und Pflege ihrer Sprachen, Kulturen, Sitten gewähre sowie Frieden und Schutz biete. Da er das anhand eines Stoffes aus der Metternichschen Zeit zeigt, läßt er seinen positiven Helden Burg in dessen Bekenntnis zu Österreich den Vorbehalt machen, daß er nicht das Österreich der Kasematten und Bürokraten liebe, sondern das Österreich der zivilisatorischen Sendung, der Vereinigung der Nationen. Dies ist ein Credo an den idealen Universalstaat Österreich, den es zwar nie geben konnte, dessen Prinzipien jedoch zum Teil der Habsburgerstaat in der kommenden Verfassungsära hatte befolgen müssen. Bei Sacher-Masoch erscheint diese Vorstellung oft als das Leitbild, das er seinen Lesern übermitteln möchte. Nach seinen ersten zwei „galizischen" Texten wendet sich Sacher-Masoch anderen Stoffen zu, um in dem Skizzenband Sociale Schattenbilder. Aus den Memoiren eines österreichischen Polizeibeamten (1872) wieder auf das Thema seines Heimatlandes zurückzukommen. Die Angabe des Untertitels wird dadurch erfüllt, daß der Autor die Erzählung aus dem Blickwinkel seines Vaters, des Polizeidirektors im vormärzlichen Österreich, vorträgt. Irrig ist jedoch die Annahme von Arno Will, daß das Werk aus der Feder des Seniors stammt. Die Schrift wurde anonym herausgegeben, aber sie ist biographisch fixiert14, außerdem verweisen sowohl der Stil als auch Leitmotive eindeutig auf Leopold von Sacher-Masoch den Jüngeren. Der Autor läßt selbst in der Skizze Politische Hinrichtungen die Maske fallen, indem er seinen Vater als den Polizeidirektor von Galizien zur Zeit der Hinrichtung des polnischen Patrioten Teofil Wisniowski und des Amtsantritts des Grafen von Stadion nennt. Wie eng sich seine Beurteilung der politisch-gesellschaftlichen Situation im Galizien der Jahre 1831—1848 (mit besonderer Berücksichtigung des Jahres 1846) an die Meinungen des Vaters anlehnt, beweist die weitgehende Übereinstimmung sowohl der dargestellten Struktur der Texte als auch ihrer Einschätzung der polnischen Aufstandsversuche mit den Polnischen Revolutionen SacherMasoch des Älteren. Der Band enthält zum Teil Erzählungen, zum Teil skizzen-
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hafte Entwürfe, ausgebaute Anekdoten und ähnliche Formen, in denen das vormärzliche Österreich (nicht immer ist es Galizien) im Hinblick auf verschiedene Polizeidelikte behandelt wird. Dabei vermischt der Autor Kriminelles mit dem politischen „Verbrechen" der Freiheitsbestrebungen der Polen, was die Leser gegen diese voreinnehmen sollte. Trotz der politischen Gegnerschaft ist der Ton der Bewunderung des Erzählers für die persönlichen Vorzüge der anderen Seite unverkennbar. Darin weicht er von den Meinungen seines Vaters ab, auch wenn er die historischen Begebenheiten genau nach dessen Bericht darstellt. In den Polnischen Emissären rühmt er die „seltsame Opferwilligkeit und geniale Umsicht" der polnischen Emigration nach 1831. Ganz besonders imponieren ihm die von ihr entsandten Emissäre, die er als „Männer von dem uneigennützigsten Patriotismus, einer gewissen Genialität und außerordentlichen Kühnheit und Gewandtheit" (S. 36) bezeichnet. Als den begabtesten und kühnsten Emissär, der in Galizien in der Zeit 1834—1846 seinen Wirkungskreis gefunden hat, nennt der Autor Eduard Dembowski, den er nach dem mythisierenden Bericht seines Vaters schildert. In der Skizze Eine Damenverschwörung werden der Patriotismus und die Opferbereitschaft polnischer Frauen zum Ausdruck gebracht, in denen er die hauptsächlichsten Triebfedern der Revolution von 1846 sieht. Den Bericht seines Vaters über die geplante „sizilianische Vesper" als Quelle benutzend, schreibt Sacher-Masoch den Damen eine viel aktivere und moralisch nicht unbedenkliche Rolle bei der Beseitigung der Feinde zu, als dies historisch belegt ist. Den Ausbruch des Februaraufstandes und die Rolle der Bauern bei dessen Beseitigung sieht er ganz wie sein Vater, indem er die Sorglosigkeit des Herzogs d'Esté, des Landesgouverneurs, bedauert, den Kreishauptmann Breinl und den Polizeidirektor Sacher-Masoch als einzige, die der Gefahr rechtzeitig gewahr wurden, lobt und den „leichtfertigen Beamten" Baron von Sala anschwärzt. Die Polemik gegen das „widerliche offiziöse Pamphlet des Herrn Baron Sala" erscheint auch in der Skizze Politische Hinrichtungen als eines der Ziele des Bandes. In der Konkurrenz zwischen den Monographien seines Vaters und Salas möchte Sacher-Masoch die Glaubwürdigkeit des ersten bekräftigen. Er zeigt den galizischen Aufstand als einen allgemeinen, den ganzen Adel und die Intelligenz umfassenden und behauptet, daß die Erhebung bestimmt den — zumindest vorläufigen Sieg — davongetragen hätte, „wenn nicht Alles an der historischen Treue des galizischen Bauers, polnischer wie russischer Nationalität, gescheitert wäre" (S. 122). Das auf diese Weise geprägte Bild des galizischen Landvolkes wird in der Skizze Ein Demokrat im Bauernkittel in der Gestalt des vielumstrittenen Bauernführers Szela konzentriert. Der Autor versieht Szela mit einem Heiligenschein, indem er ihn als einen Menschen von makelloser ethischer Haltung zeigt, der ein Vorbild für alle Bauern ist und dem österreichischen Kaisertum mit ganzer Seele ergeben bleibt. Daher rührt die Empörung des Verfassers gegen die Undankbarkeit Österreichs, das diesen treuesten Sohn im Jahre 1848 in die Bukowina zwangsumsiedelte. Außer dem österreichischen Patriotismus
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schreibt Sacher-Masoch Szela ein gesellschaftliches Bewußtsein und solche Anschauungen zu, die für die deutschen bürgerlichen Liberalen der Vormärzzeit charakteristisch sind. Die Rolle Szelas bei der Bewegung des Jahres 1846 zeigt er entgegen der historischen Überlieferung als die eines Schlichters und Beschützers, der in seinem Edelmut nicht nur an die Vergeltung des alten Unrechts nicht gedacht haben soll, sondern auch die ehemaligen Bedrücker nach seinen Kräften vor der Wut der Bauern rettete. In seiner Tätigkeit soll er sich auf gesetzmäßige Schritte gegen den adligen Aufstand gegen Österreich beschränkt haben. Dieses idealisierte Bild Szelas erinnert den Leser stark an die bereits besprochene Erzählung von Marie von Ebner-Eschenbach. Innerhalb der dargestellten Struktur läßt sich diese Ähnlichkeit durch den wahrscheinlichen Gebrauch einer gemeinsamen Vorlage, d. h. der Polnischen Revolutionen erklären. Die beiden Autoren verwenden dieses Bild mit einer bestimmten Mitteilungsabsicht, und zwar als Element des Mythos vom idealen Vielvölkerstaat Österreich, zu dessen Anhängern und Verteidigern Angehörige verschiedener Nationalitäten und Gesellschaftsklassen gehören. Sacher-Masoch hat im Verlauf seines weiteren Schaffens noch zahlreiche Erzählungen aus dem Umkreis des galizischen Lebens geschrieben, von denen ein Teil in den nächsten Kapiteln dieser Arbeit behandelt werden soll, aber das polnische Unabhängigkeitsstreben erscheint nur noch einmal im Mittelpunkt seines Textes in der Erzählung Der Jesuit. Erzählung eines polnischen Emissärs von 1846 aus der ersten Folge der Sammlung Galizische Geschichten (1875). Gleichzeitig ist es das einzige Werk von Sacher-Masoch, in dem wir es mit dem Motiv eines polnischen Patrioten zu tun haben, dessen Agitation den erwünschten Erfolg herbeiführen kann. Zum ersten Mal bei diesem Autor haben wir es hier mit der Erzählperspektive eines Mitglieds der polnischen Freiheitsbewegung und nicht mit derjenigen eines Anhängers der österreichischen Regierung in Galizien zu tun. Man sieht dabei, welche Probleme mit einer glaubwürdigen Besetzung dieser Rolle der österreichisch gesinnte Verfasser hat. Der Erzähler bezeichnet die allgemeine Lage im geteilten Polen als gut, spricht von einer ausgezeichneten Sonderstellung des Königreichs Polen innerhalb Rußlands, und er meint, daß sich die polnische Nationalität in Posen und Galizien ziemlich frei entfalten konnte. Auf diese Weise bezeugt der Verfasser sein Unvermögen, sich in die Gedankenwelt eines seinen Staat entbehrenden Polen hineinzuversetzen. Bezeichnend ist auch, daß der Emissär seine patriotische Aktivität erst dann aufnahm, als sein persönliches Glück zertrümmert war, d. h. nach dem Tode der geliebten Frau. Diese Begründung kommt bei Sacher-Masoch öfter vor, auch seine Valeska in der Erzählung Der Emissär nahm erst dann die konspiratorische Tätigkeit auf, als ihre Hoffnung auf Glück und Liebe von Männern mißbraucht worden war. Solche Beispiele könnte man vermehren. Sie zeugen davon, daß dem österreichischen Verfasser der nationale Befreiungskampf oft als Ersatz für das nicht bzw. nicht mehr erreichbare Familienglück erscheint. Die Erzählung Der Jesuit enthält eine wichtige Erkenntnis, die man als es-
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sentielle Wahrheit über die galizische Gesellschaft betrachten kann. Der Erzähler kritisiert nämlich bei den polnischen Verschwörern, daß sie die Arbeit mit den Bauern vernachlässigen. Es ist bekannt, daß in der außerliterarischen Wirklichkeit diese Unterschätzung des bäuerlichen Elements bei der Vorbereitung des Freiheitskampfes unmittelbar zu den tragischen Ereignissen der blutigen Fastnacht 1846 führte. Der Erzähler kritisiert gleichzeitig auch das andere Extrem, die revolutionäre Tätigkeit mancher Emissäre, die den Bauern auf das erlittene Unrecht und auf seine Kraft aufmerksam machen und ihn auf diese Weise gefahrlich für den Adel machen können. Dieses Urteil ist für den gesellschaftlichen Standpunkt des Verfassers charakteristisch. Es paßt auch gut in die Erzählerrolle des Textes hinein, da viele polnische Adlige, auch Anhänger der sozialen Reformen, diese Meinung teilten. Der Erzähler plädiert dafür, die goldene Mitte zu halten. Als ein positives Beispiel schildert er die Tätigkeit eines Jesuiten adliger Herkunft, der begriff, wie wichtig es ist, dem wegen der langwierigen Knechtung mit Recht erbitterten Bauern die Liebe zu Polen anzuerziehen. Dies verlangt aber keine einmalige Aktion vor einem geplanten Aufstand, sondern eine geduldige, Jahre oder sogar Jahrzehnte in Anspruch nehmende Arbeit mit dem Volk. So versäumt jener Geistliche bei der Erfüllung seiner Alltagspflichten nie, bei Taufen, Trauungen und Begräbnissen das polnische Nationalbewußtsein zu verbreiten. Die Leute kennen ihn, wissen, daß er sie nicht betrügt. So hören sie auf seine Worte. Die Erzählung endet mit dem symbolischen Bild der Gemeinde bei der Nachternte, in dessen Zentrum sich der Jesuit befindet, der auf einem Erntewagen inmitten der Garben für die arbeitenden Bauern predigt. Dieser vereinzelte Fall ist für den Erzähler der Beweis, daß es möglich gewesen wäre, aus den vernachlässigten Bauern nationalbewußte polnische Patrioten zu machen. Diese richtige Erkenntnis richtet sich gegen das Interesse der österreichischen Regierung, deren Richtlinie ja „divide et impera" war. Aber die Erzählung ist bereits in der Verfassungsära entstanden, in der die Versöhnungstendenz vorherrschend wurde. In diesem Sinn kann man sie als symptomatisch für die damaligen Stimmungen betrachten. Da Adel und Intelligenz sich mit der österreichischen Herrschaft im autonomen Galizien vorläufig abgefunden haben, empfand Sacher-Masoch keine Notwendigkeit mehr, den polnischen Freiheitskampf mißbilligend zu gestalten. Weil das polnische Unabhängigkeitsstreben nach 1867 kein akutes Problem mehr für den Habsburgerstaat bedeutet, verschwindet mit der Zeit dieses Thema aus dem Gesichtskreis der Sacher-Masochschen Belletristik. Innerhalb der nationalen Problematik Galiziens taucht dafür ein anderer Themenbereich auf, der den Verfasser einigermaßen in Anspruch nimmt, ohne jedoch in seinem Werk den Stellenwert zu erlangen, den sein Interesse an der polnischen Frage besaß. Seit 1864 lassen sich im Schaffen von Sacher-Masoch Texte bemerken, in denen zuerst am Rande und dann sogar einigemal im Mittelpunkt das Thema des wiedererwachenden ukrainischen Nationalbewußtseins auftaucht. Diese Problematik steht dem Schriftsteller um so näher, als er selbst
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durch seine Abstammung mütterlicherseits sich zum Teil als „Ruthene" fühlt. (Sacher-Masoch verwendet für diese Nationalität eher die Bezeichnung „galizischer Russe" oder „Kleinrusse"15). Diese ukrainische Komponente, die SacherMasoch mit seinem Großvater, dem Mediziner Franz Masoch, in Verbindung bringt, läßt sich allerdings nicht nachweisen. So steht er in dem ukrainischen Kampfe in Ostgalizien um die Gleichberechtigung auf der Seite seiner Landsleute. Er betont eher die soziale und kulturelle Seite des polnisch-ukrainischen Konflikts und verlegt den politischen Aspekt in den Hintergrund seiner „galizischen" Bilder. Das erste der Sacher-Masochschen Werke, wo die Diskrepanz zwischen galizischen Polen und Ruthenen explizite zum Ausdruck kommt, ist die Erzählung Don Juan von Kolomea (1864). Dieses Werk wird von der Kritik für ein Meisterstück seiner Erzählkunst gehalten 16 . Den historischen Hintergrund des Textes bildet der polnische Januaraufstand des Jahres 1863 und seine Unterstützung durch die galizischen Polen. Der Verfasser zeigt jene Vorkommnisse aus dem Blickwinkel eines Ruthenen, dessen Bericht die Binnengeschichte der Erzählung ausmacht. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein anthropologisches, psychologisch-soziales Problem, das von dem Autor sehr kühn und modern aufgefaßt wird. Es handelt sich um die Unzuverlässigkeit und Brüchigkeit der bürgerlichen Eheinstitution, die, nach der Ansicht des Verfassers, äußerst selten die Liebe über die Probleme des Alltags und die Geburt des ersten Kindes hinaus zu retten vermag. Die Fabel ist stark im galizischen Lokalkolorit verwurzelt. Der Titelheld der Erzählung ist ein ruthenischer Edelmann, also ein Vertreter einer äußerst schmalen sozialen Gruppe 1 7 , da die meisten ukrainischen Adligen sich polonisiert haben. Sacher-Masoch war aber gerade mit diesem Milieu ziemlich vertraut und stellte es gern dar. Wahrscheinlich wollte er auf diese Weise betonen, daß es in Ostgalizien auch ruthenische Gutsbesitzer gab. Aus der Perspektive dieses Ruthenen schildert der Verfasser den Widerhall des polnischen Aufstandes in Ostgalizien. Die polnischen Gutsbesitzer erscheinen von einer fieberhaften Aktivität ergriffen. Sie kaufen Pferde und Munition an. Offenbar bereiten sie sich auf die Teilnahme an der Bewegung im Königreich Polen vor. Die ukrainischen Bauern schauen diesem Treiben wie einer Naturkatastrophe zu, sie läuten Alarmglocken und bewaffnen sich gegen die Polen. Auch der Ich-Erzähler, obwohl ein gebildeter Mann, unterscheidet sich in seiner Reaktion kaum von den von Panik ergriffenen Bauern. Er fürchtet, daß die Polen Feuer an sein Haus gelegt haben. Feindlich und mißtrauisch gestimmt beobachtet er die polnischen Vorbereitungen. Sein Nationalgefühl unterscheidet ihn von den Polen. Gleichzeitig hält er an der Idee Österreichs fest. „Man spürt auf einmal, daß man ein Vaterland hat, das seine Grenzpfähle tief hineingesenkt in slavische, deutsche und andere Erde. Was wollen die Polacken? denkt man und sorgt um den Adler vor dem Kreisamt und sorgt u m seine Scheune" (S. 243). Man erkennt in diesen Worten die Stimme des Autors, der immer auf eine ähnliche Weise für seine Idee Österreichs
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plädiert hat. Trotzdem stimmt dieses Bild insofern, als die österreichischen Ruthenen in ihrer Mehrheit staatsloyal waren und als sie sich zu dieser Zeit bereits als eigenständige Nationalität von den Polen unterschieden und ihnen in feindlicher Abwehr entgegengestellt empfanden. In dieser Hinsicht hält diese Erzählung einen wesentlichen Zug des ostgalizischen Lebens fest, während die darin anwesende Vorstellung von Österreich als dem gemeinsamen, geliebten Vaterland vieler Völker symptomatisch für die Universalstaatsauffassung des Autors ist. Auch spätere Erzählungen aus der Sammlung Galizische Geschichten (1875) bringen, zwar nur am Rande, aber deutlich genug, das Bild des nach 1848 bereits erwachten ukrainischen Nationalbewußtseins zum Ausdruck. In der Skizze Unser Deputirter handelt es sich um die Wahl eines Abgeordneten zum galizischen Landtag. Zwar erweist sich hier die soziale und nicht primär nationale Zugehörigkeit der Kandidaten als relevant, aber wir haben es in diesem Text bereits mit dem für die Zeit nach 1848 wichtigen Motiv des Wahlkampfes zwischen Polen und Ukrainern in Ostgalizien zu tun. Diese Auseinandersetzung der Parteien wird vom Erzähler auf eine scherzhafte Weise behandelt, indem er hervorhebt, daß es vor allem die ehrgeizige Polin ist, die ihren gutmütigen Mann zur Teilnahme am Agitationskampf aufstachelt, und indem der Erzähler souverän die beiden polnischen Ehehälften sich in die entsprechenden Teile des ruthenischen Konkurrenzpaares verlieben läßt. Daß der ruthenische Kandidat ein griechisch-katholischer Geistlicher ist, entspricht der Tatsache, daß um die Jahrhundertmitte die meisten ukrainischen Gebildeten in Galizien Priester waren und daß somit oft gerade sie den polnischen Kandidaten gegenübergestellt wurden. Sacher-Masoch zeichnet das ruthenische Paar warm und mit Sympathie und läßt es sich mit seiner Niederlage im Gegensatz zum polnischen Paar ohne Murren abfinden. Die Pointe verläuft nicht auf der nationalen, sondern auf der gesellschaftlichen Ebene. Die Bäuerin Katharina vermag im Agitationskampf die überraschten Bauern zu überzeugen, daß sie weder den Adligen noch den Priester, sondern einen Landmann, und zwar ihren Mann Gregor (also nb. auch einen Ruthenen), wählen sollten, denn nur ein Bauer werde die wahren Interessen des Dorfes vertreten. Diese Erzählung bildet einen wichtigen Zug der galizischen Wirklichkeit ab, denn es war nach dem Völkerfrühling 1848 typisch, daß die Bauern für die Angehörigen ihrer Klasse stimmten, falls sie aus Mißtrauen den Wahlvorgang nicht überhaupt boykottierten. Mit der Zeit lernten es allerdings die polnischen besitzenden Klassen, den ukrainischen Landmann, soweit es ging, auszustechen. Für die Problematik der Nationalsolidarität zwischen den ruthenischen Gutsbesitzern und Bauern und des abermaligen „Erwachens" der galizischen Ukrainer zum Nationalbewußtsein sind zwei Erzählungen von Sacher-Masoch besonders kennzeichnend, Das Erntefest aus der obengenannten Sammlung und Im Schlitten aus dem späten Erzählungsband des Schriftstellers Polnische Geschichten (1887). Da die Analyse der Erzählung Das Erntefest wegen der Relevanz dieses Textes für die soziale Problematik Galiziens im nächsten Kapitel
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erfolgen muß, konzentrieren wir uns im folgenden auf Im Schlitten. Die Handlung spielt in der klischeehaften Staffage wilder Wälder voller Wölfe und dann in einem ostgalizischen Dorf. Während einer gefahrlichen nächtlichen Schlittenfahrt gerät das adlige Ehepaar Augustinowitsch in einen Schneesturm und Findet Zuflucht bei ruthenischen Bauern. Sie nehmen die Angekommenen mit herzlichster Gastfreundschaft auf, und das bringt die Frau, die auch in dieser Erzählung den ehrgeizigeren und aktiveren Teil der Ehe darstellt, auf die Idee, daß durch den Anschluß an die eigene Nationalität neue Perspektiven für die politische Karriere des Mannes eröffnet werden könnten. Sie beruft sich auf die Abstammung der Familie von den alten Bojaren, die in Halitsch den Thron des Zaren umgeben haben. Diese Phrase gebrauchen die meisten ruthenischen adligen Figuren Sacher-Masochs, um sich dadurch der polnischen Tradition in Ostgalizien entgegenzusetzen und an die ältere — der ruthenischen Herzogtümer Halitsch und Wladimir anzuknüpfen 1 8 . Auf diese Weise solidarisiert sich der Schriftsteller mit den Nationalbestrebungen der Ruthenen in Ostgalizien. Dazu dient auch die zusätzliche Argumentation von Frau Augustinowitsch, die ihren Mann darauf aufmerksam macht, daß die polnischen Edelleute den einheimischen Landadel nie für ihresgleichen halten würden, obwohl solche Familien früher als die polnischen in diesem Land gelebt haben. Die Schlußfolgerung der ehrgeizigen Dame klingt: „kehren wir zu unserem Volke zurück, ich bin gewiß, daß Dich die Bauern zum Deputirten wählen" (S. 295). Die Frau behält recht. Zu Hause findet eine Umwälzung statt: Bilder an den Wänden, gespielte Melodien, getragene Kleider und empfangene Gäste werden im Zeichen des neuen Nationalgefühls gewechselt. Der Mann wird mit ukrainischen Stimmen in den Landtag gewählt, und die Frau gründet einen politischen Salon in Lemberg. Ein solches „Erwachen" des ukrainischen Nationalbewußtseins muß dem Leser als fragwürdig erscheinen, es ist ja ausschließlich pragmatisch bedingt. Das humoristische Bild der äußeren Anzeichen dieser Umwandlung wirkt lächerlich und scheint von einem gewissen Abstand des Verfassers zu seinen Helden zu zeugen. Aber der ganze Kontext sowohl dieser Erzählung als auch des Erntefestes, wo eine positive Gestalt den gleichen Entschluß faßt, bringt nirgendwo einen Beweis, daß der Autor solche Entscheidungen nicht bejaht. Im Gegenteil, er ist mit solch einer Entwicklung einverstanden und begrüßt sie als eine Chance besseren Lebens für Ostgalizien. Er plädiert für die Überwindung des Klassenantagonismus zwischen Bauern und Edelleuten ruthenischer Herkunft zugunsten der nationalen Solidarität zum Nutzen beider Klassen, die auf diese Weise ein Gegengewicht gegen die politische und kulturelle Hegemonie der Polen bilden könnten. Darin muß das Anliegen der mitgeteilten Struktur dieser Texte gesehen werden. Das zum Teil komische Bild der äußeren Attribute, die den Prozeß der Zurückfindung ruthenischer Edelleute zum eigenen Nationalbewußtsein begleiten, ist vielleicht ein Symptom davon, daß dieser Wechsel nach 1848 von den Außenstehenden mit Befremdung aufgenommen wurde und künstlich wirkte. Es ist schwer einzuschätzen, inwiefern die Hervorhebung des pragmatischen Aspekts solcher
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Entscheidungen einem typischen Sachverhalt entspricht. Sicher gab es auch solche Begründungen bei der Wahl der Nationalität, zu der sich die Bewohner Ostgaliziens bekennen wollten. Es ist aber keineswegs die Absicht von SacherMasoch diese Erscheinung zu verallgemeinern. Davon zeugt u. a. der aufschlußreichste Text des Verfassers im Hinblick auf die ukrainische Frage in Ostgalizien, die etwas zu weitschweifige, aber reizvolle Familienidylle Sascha undSaschka (1885). In diesem Text behandelt SacherMasoch anhand von zwei Generationen einer Priesterfamilie die Geschichte der Herausbildung der ukrainischen Intelligenz in Galizien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Vater — Sascha Homutofko —entstammt einem griechisch-katholischen Priestergeschlecht und setzt diese Tradition fort. Er hatte in der Jugend einen zweifachen Ehrgeiz: hohe geistliche Würden zu erlangen und der Erlöser der Ruthenen zu werden. Aus seiner Liebe zu seinem unterdrückten, zu Bauern und Landgeistlichen reduzierten Volk erfolgt seine Jugendtätigkeit im Priesterseminar: die Gründung einer „litterarischen Gesellschaft" zur Pflege der Muttersprache und zur Verbreitung der Volksbildung und die Herausgabe der mit einigen Kommilitonen eigenhändig geschriebenen Handschrift in kleinrussischer Sprache, „Die Morgenröte". Sie muß handschriftlich gemalt werden, weil es, wie der Verfasser erläutert, zu dieser Zeit in Galizien keine Buchdruckerei mit kyrillischen Lettern gegeben hatte. Es muß sich also um die Zeit vor 1835 handeln, in der es tatsächlich weder Bücher noch Zeitungen in ukrainischer Sprache gab, die für eine polnische Mundart gehalten wurde. Den Titel „Die Morgenröte" („Zorja") entlehnt der Verfasser dem ersten poetischen Almanach in Ruthenisch, der 1835 erscheinen durfte. In bezug auf die Geschichte weist diese Schilderung auf die erste Hälfte der dreißiger Jahre hin, da das Erwachen der nationalen Bewegung der Ukrainer in Ostgalizien in die Zeit nach dem polnischen Novemberaufstand fallt und mit der allgemeinen Belebung im Lande infolge dieses Ereignisses verbunden ist 19 . Die weitere Handlungsführung dient zuerst der Charakteristik des ostgalizischen Landlebens und dann dem Entwurf der Richtung, in der die nationale Entwicklung nach dieser Zeit verlief. Der junge Sascha verliebt sich in die schöne und kluge Pfarrerstochter Spiridia und muß seinem Traum von hohen kirchlichen Würden entsagen, denn Priester seines Ritus dürfen zwar heiraten, allerdings nur einmal, und zwar vor dem Empfang der letzten Weihen, nicht aber, wenn sie einen Aufstieg in der kirchlichen Hierarchie vorhaben. So wird Sascha zum Priester, kommt mit seiner Frau auf das Land zurück, wird zuerst Kaplan und dann Dorfpfarrer. Trotz materieller Not fühlt sich das junge Ehepaar glücklich, besonders nachdem der erträumte Nachfolger Saschka geboren wird. Inmitten der Tätigkeit als Landgeistlicher und Landwirt zugleich entfernt sich Sascha von seinen Jugendträumen, aber er vergißt sie nicht. Alle seine einstigen Hoffnungen projiziert er in den abgöttisch geliebten Sohn, der einst „ein Führer seines Volkes" werden soll. Diese warm geschilderte Pfarrhausidylle zeugt von einer guten Milieukenntnis des Verfassers und gibt ein über-
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zeugendes Bild von den ersten, bescheidenen Bestrebungen der Jugend, das Volk zum Nationalbewußtsein zu führen. Die neue Generation, die Saschas Sohn Saschka vertritt und die in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre und in den vierziger Jahren aufwächst, strebt schon höher. Aus Saschkas Berufswünschen ersieht man, daß er die Tradition des Volkes von Bauern und Popen nicht fortzusetzen gedenkt. Der junge Mann will Rechtswissenschaft in Lemberg studieren, und sein Vater ist damit einverstanden, obwohl das einen Bruch in der Familientradition bedeutet. Saschka argumentiert dabei vollkommen nationalbewußt: „Unsere Edelleute und Bürger sind während der glorreichen Zeit der polnischen Republik Polen geworden, nur im Landvolke und in der Kirche hat sich unser Glaube, hat sich unsre Sprache, unsre Eigentümlichkeit erhalten. Zur Zeit der Polenherrschaft wäre es für jeden Kleinrussen ganz vergeblich gewesen, außerhalb unsrer Kirche eine Würde oder ein Amt anzustreben; sogar der Kaufmann, der Handwerker war gezwungen, die Sprache der Regierenden anzunehmen, wenn er in seinem Kreise Vorteile erringen wollte. Seitdem der österreichische Kaiser hier gebietet, ist alles anders geworden: niemand wird bevorzugt, niemand verachtet; jedes Volk, jeder Glaube ist gleich geachtet. An uns ist es jetzt, den alten Traditionen, die ihre Geltung und Richtigkeit verloren haben und unserm Volke nur noch Schaden bringen, zu entsagen; das Asyl, das uns die Kirche in schweren, unseligen Zeiten geboten, zu verlassen und uns den verschiedenen nützlichen Zweigen menschlicher Thätigkeit, vor allem aber dem Lehramt, der Arzneikunde, der Advokatur und dem Staatsdienste zu widmen; es ist unsre heilige Pflicht, durch unser Wissen und Eifer Stellungen zu erringen, in denen wir die Rechte unsres Volkes verteidigen und die gegen dasselbe bestehenden Vorurteile allmählich überwinden können" (S. 104 f). Der dargestellte Sachverhalt stimmt insofern nicht ganz, da in bezug auf das vormärzliche Österreich eine Gleichberechtigung der Nationalitäten und Bekenntnisse lediglich eine Lieblingsillusion des Autors ist. Diese Vorstellung erscheint in diesem Text wie in vielen bereits besprochenen als eine Art Indikator für eine bestimmte Bewußtseinslage (die des Anhängers des Habsburgermythos). Das neue Bewußtsein der ukrainischen Jugend, daß man für die Hebung der eigenen Nationalität etwas tun kann und soll, wurde in dieser Passage historisch richtig wiedergegeben. Man kann diese Erkenntnis, die ja auch an anderen Stellen des Textes zum Ausdruck kommt, als ein Element der essentiellen Wahrheit dieser Erzählung betrachten. Der Beleuchtung dieser Problematik dient auch die Darstellung von Saschkas Studentenleben. Der junge Mann wird als ein eifriger, zielbewußter, fleißiger Student charakterisiert. Er wiederholt das Muster der Jugend seines Vaters, indem er einen Geheimbund gründet, der sich mit wissenschaftlichen Fragen beschäftigt und in dem mit der Zeit „auch jene unschuldigen, schätzenswerten kleinrussischen Bestrebungen für Hebung der Muttersprache und vaterländischer Geschichte (...), welche die Jugend schon seit mehreren Jahrzehnten beschäftigen" (S. 108), hervortreten. Bezeichnenderweise ist dieser Verein wissensbegieriger Akademiker kein rein
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national-ruthenischer, ζ. B. gehört auch der Pole Karol Zagoinski zu seinen Mitgliedern. Die Studenten sammeln u. a. unter dem Einfluß der deutschen Romantik 20 Volkslieder und Volksmärchen der Ruthenen, ohne sie herausgeben zu dürfen. Mit der Zeit gelingt es allerdings Saschka den Zensor zu überzeugen, daß derlei alte Märchen und Lieder keine Gefahr für die Regierung bilden können. Er findet keinen Verleger, der das finanzielle Risiko zu tragen bereit wäre, bekommt aber die Unterstützung für sein Vorhaben von einer vornehmen Ruthenin, die als Bettlerin lebt und ihr Geld gern für die Entwicklung der ukrainischen Nationalkultur spendet. So kommen Saschkas Sammlungen — „Kleinrussische Volksmärchen" und „Lieder des kleinrussischen Volkes in Galizien" heraus. Diese Bemühungen veranschaulichen das Wesen des Kampfes um die Möglichkeit, einige Werke der Volkspoesie und eigene, in der Volkssprache geschriebene Gedichte junger Anhänger der ukrainischen Bewegung veröffentlichen zu dürfen. Die Tätigkeit Saschkas auf diesem Gebiet findet eine Entsprechung in der außerliterarischen Wirklichkeit Galiziens. 1833 und 1834 wurden solche Unternehmen von der Zensur abgelehnt, erst 1837 gelang es, sie in Pest vereinigt im Band Rusalka Dnistrovaja zu veröffentlichen, und diese Errungenschaft bedeutete einen Wendepunkt in der Wiedererweckung des ukrainischen Nationallebens 21 . Im letzten Teil der Erzählung wendet sich Sacher-Masoch dem persönlichen Leben Saschkas zu, dessen Darstellung wiederum einem bestimmten Anliegen des Autors entspricht. Er zeigt nun, wie sich der stolze und nationalbewußte Ruthene in die Schwester von Karol Zagoinski, die zuerst vorurteilsvolle Adlige Marga verliebt. Trotz der Intrigen der Umgebung und der Bedenken, die die Polin selbst überwinden muß, erfährt diese Liebe ihre Krönung in der Eheschließung der jungen Leute. Bezeichnend ist, daß der junge Adlige Karol seinem Freund in dessen Liebesaffäre vorurteilslos beisteht und daß sogar die Eltern Margas, obwohl sie diese Ehe selbstverständlich nicht begeistert, den Entschluß der Tochter mit einiger Toleranz aufnehmen. Diese historisch wenig wahrscheinliche Handlungsführung widerspiegelt die Hoffnung des Autors auf die Überwindung des polnisch-ukrainischen Konfliktes auf dem Wege der persönlichen Bündnisse, des gegenseitigen Kennenlernens und der Überwindung nationaler Vorurteile durch die Polen. Der Verfasser ist daran interessiert, weil es ihm überhaupt an einem Zusammenleben der Völker der Monarchie in Eintracht und Einverständnis liegt. Nur auf diese Weise kann ja sein Ideal der friedlichen Vielvölkermonarchie realisiert werden. Im Streit zwischen den Ukrainern und Polen steht Sacher-Masoch auf der Seite der Ukrainer, möglicherweise hauptsächlich deshalb, weil ihn — seinen Behauptungen nach — Blutbande mit ihnen verbinden. Es ist auch von Bedeutung, daß er in ihnen die benachteiligte, schwächere Seite sieht. Letzten Endes ist aber seine politische Grundhaltung maßgebend. Die Ukrainer sind in seiner Auffassung meistens loyale österreichische Staatsbürger, während die Polen stets an ihren Zukunftsstaat denken; deshalb fällt es einem Anhänger der österreichischen Idee leichter, für die Rechte der Ruthenen einzutreten.
D i e P r o b l e m a t i k d e s d e u t s c h - s l a w i s c h e n K o n k u r r e n z k a m p f e s bei Karl E m i l F r a n z o s
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1.3. Die Problematik des deutsch-slawischen Konkurrenzkampfes bei Karl Emil Franzos Leopold von Sacher-Masoch war der erste Galizianer, der seine Heimat der deutschsprachigen Literatur erschlossen hat. Bekannter ist sie allerdings erst durch den „halbasiatischen" Zyklus von Karl Emil Franzos (1848—1904) geworden. Es ist freilich ein trauriger Ruhm, den dieser Autor Galizien zuteil werden läßt. Karl Emil Franzos war der Sohn eines jüdischen Arztes im podolischen Städtchen Czortków, das der Schriftsteller in seinem literarischen Werk als Barnow abgebildet hat. Er hat also seine Kindheit in Galizien verbracht. Magris nennt ihn irrtümlicherweise einen deutschen Juden aus der Bukowina 22 , denn der junge Franzos kam nach Tschernowitz, um dort das deutsche Gymnasium zu besuchen, erst im Jahre 1859, nach dem Tode seines Vaters 23 . Franzos' Vater fühlte sich als Deutscher und hat seinen Sohn im Sinne der Begeisterung für die deutsche Kultur und Sprache erzogen. Dabei war seine Familie gar nicht deutscher Abstammung: Seine Vorfahren waren spanische Juden gewesen, die vor Verfolgungen nach den Niederlanden geflohen waren und sich dann in Lothringen niedergelassen hatten. Erst 1770 kam sein Urgroßvater nach Polen. Franzos' Großvater fühlte sich bereits nicht mehr von Frankreich, sondern von Deutschland angezogen. Daher ist das Deutschtum der Familie, mit dem sich der Schriftsteller so stark verbunden fühlen sollte, ein ziemlich junges. Dabei muß man einräumen, daß der Vater des Schriftstellers, obwohl er in religiöser Hinsicht ein aufklärerischer Freigeist war, nie sein Judentum durch die Annahme der Taufe verleugnete und daß er die gleiche Haltung seinem Sohn einprägte. Es sei noch vermerkt, daß der später so für alles Deutsche schwärmende Verfasser bis ins sechste Lebensjahr nicht Deutsch sprechen konnte, da er sich in der Obhut einer ruthenischen Kindsmagd befand. Das biographische Element wird im Falle des Franzos so breit erörtert, da das nationale und kulturelle Bewußtsein des Schriftstellers genauso stark wie seine politischen und gesellschaftlichen Ansichten zu den Voraussetzungen seines umfangreichen „galizischen" Schaffens gehören. Franzos' Nationalgefühl war ein deutsches; er betrachtete sich als einen Deutschen israelitischen Bekenntnisses, wobei die Konfession bei ihm kein religiöses Dogma, sondern vielmehr das Gefühl einer schmerzlichen Solidarität mit dem bedrängten Judentum bedeutete. Erst gegen sein Lebensende, als der Antisemitismus in den deutschsprachigen Ländern immer stärker Wurzeln schlug, begann Franzos sich mehr als Jude zu fühlen. Er wurde zu Hause in den Traditionen der deutschen Aufklärung erzogen und schwärmte wie sein Großvater und sein Vater für Mendelssohn, Lessing und Schiller. In der deutschen Nationalität und Kultur sah er eine Verkörperung des Reinen, Selbstlosen, Idealen. Diesen Glauben haben seine Gymnasialjahre in der deutschfreundlichen Bukowina gefördert. Während seines späteren Studiums in Wien schloß er sich der deutschnationalen Burschenschaft an. Das trug ihm Schikanen der Wiener Po-
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lizei ein. Dennoch rechnet ihn Claudio Magris zu den Anhängern des Habsburgermythos und behauptet zu Unrecht, daß er sich nicht an Bismarck begeisterte 24 . Franzos' Novelle Der deutsche Teufel (1888) ist geradezu eine Huldigung für den siegreichen Bismarck. Franzos sehnte eine Vereinigung Deutschlands unter preußischer Hegemonie herbei, da ihm Österreich als ein schlecht regierter und Mißwirtschaft duldender Staat keine Garantie bot, einen künftigen deutschen Staat zur Weltmacht zu erheben. Seitdem Österreich aus dem Deutschen Bund ausgeschieden war, fühlte Franzos sich als Deutscher mit Deutschland und nicht mit dem Habsburgerreich verbunden. Er hat zwar bis 1887 als Journalist (Mitarbeiter der „Neuen Freien Presse") in Wien gelebt, aber seine Bücher hat er fast immer in Deutschland drucken lassen, und die letzten siebzehn Jahre seines Lebens verlebte er als freischaffender Schriftsteller in Berlin. Ein beträchtlicher Teil seines literarischen Werkes, darunter das Beste, was er geschrieben hat, ist Galizien gewidmet. Wir begegnen bei ihm zwar keinen Darstellungen des polnischen Unabhängigkeitskampfes in Galizien, was wohl kein Zufall, sondern eine Folge seiner politischen A n s c h a u u n g e n ist, aber in seinem Schaffen tauchen alle anderen uns interessierenden Problemkreise auf. Dabei scheint die Aussage der umfassendsten Dissertation über Franzos von Jong Dae Lim, daß seine wesentlichen literarischen Leistungen von der Thematik und Problematik des O s t j u d e n t u m s bestimmt seien 2 5 , etwas einseitig zu sein, denn die orthodoxen Ostjuden bilden zwar eine sehr wichtige Komponente seines Werkes, aber die soziale, politische und kulturelle Problematik der überwiegend slawischen Welt an den Ostgrenzen der Monarchie nimmt ihn nicht weniger in Anspruch. Davon zeugt vor allem sein bekanntestes Werk: sechs Bände „Kulturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrußland und R u m ä n i e n " — Aus Halbasien (1876), Vom Don zur Donau (1878) und Aus der großen Ebene ( 1888), z u s a m m e n kurz als Halb-Asien bezeichnet. Seine Kulturbilder begann Franzos als Reportagen für die Presse zu schreiben. Als ihm aber schon ihre erste Sammlung in einer Buchveröffentlichung eine große Popularität gebracht hatte, entschied er sich endgültig für die Buchform. Der Verfasser unterscheidet zwischen den „ethnographisch-novellistischen, sozial-politischen und literarischen Bildern" 26 , aber auch die erstgenannten weisen nie einen lediglich folkloristischen Charakter auf. Franzos ist ein bewußter Tendenzschriftsteller, dem es immer auf die politische oder soziale Kritik mit dem Zweck der Beseitigung der geschilderten Mißstände ankommt. Formal unterscheidet er zwischen Erzählungen und Essays 27 . Es scheint angebracht, noch eine Übergangsform dazu zu n e n n e n , die man etwa als Skizze bezeichnen kann — für die Texte, die zwar eine Welt der literarischen Fiktion aufbauen, aber keine oder nur eine in Keimen steckende Handlung besitzen. Seine Bilder sind literarische Werke, ihr künstlerisches Anliegen ist nicht zu verkennen. Der Verfasser bedient sich der Darstellungsformen des kritischen Realismus, die seinen Absichten am besten zusagen. I m m e r wieder, in den Einleitungen zu allen Werken und allen Ausgaben des Zyklus, n e n n t Franzos die Wahrheit als sein
D i e Problematik des d e u t s c h - s l a w i s c h e n K o n k u r r e n z k a m p f e s bei Karl Emil Franzos
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oberstes Gebot und die wahrheitsgetreue Darstellung der Verhältnisse als sein Hauptziel 28 . Er vermag es aber nicht, dieses Versprechen einzuhalten, denn er ist kein epischer objektiver Schriftsteller. In seinen Texten schimmert immer wieder der temperamentvolle Journalist durch, der mit seinen Bildern auf ein konkretes Ziel hinaus will. Das bewirkt, daß er sowohl in seinen Urteilen als auch in der Wahl des Gegenstandes parteiisch und subjektiv einseitig ist. Bei der Betrachtung seiner Werke ist es daher besonders aufschlußreich, sie als symptomatisch für eine bestimmte Bewußtseinslage aufzufassen, obwohl sie natürlich zum Teil auch im Hinblick auf die „essentielle Wahrheit" von Belang sind. In den folgenden Ausführungen sollen Franzos' Ansichten zur politischnationalen Situation in Galizien anhand einer Reihe von charakteristischen Beispielen dargestellt werden, wobei seine Vorreden zu den einzelnen Werken als ergänzende Kommentare dienen können. Alle Texte gehören zum „halbasiatischen" Zyklus. Bereits in der Einleitung zur ersten Ausgabe der Sammlung Aus Halbasien erklärt Franzos diesen von ihm geprägten Begriff. Geographisch umfaßt er damit die Gebiete Galiziens (Jenseits der schlesischen Grenze und jenseits der Karpathen", S. III), Rumäniens und Südrußlands. Er führt aber die sprachliche Neubildung „Halbasien" nicht aus geographischen Gründen ein, sondern um den politisch-sozialen Charakter dieses Territoriums nach seiner Auffassung treffend und bündig zu bezeichnen. Die Schale, die Form des Lebens in diesen Ländern sei oft eine europäische, d. h. dem Westen entlehnte, aber der Kern — der Geist — bleibe „vielfach autochthon und barbarisch". Das einheimische Element betrachtet Franzos als „asiatische Barbarei", „asiatische Indolenz" und „so wilde(n), so grausame(n) Zwist der Nationen und Glaubensgenossenschaften, wie er dem Bewohner des Westens als ein nicht blos Fremdartiges, sondern geradezu Unerhörtes, ja Ungläubiges erscheinen muß" (S. III 0 · Dabei ordnet er ohne weiteres jede Spur von Kultur und Bildung dem fremden Einfluß zu, während er in dem einheimischen Element einen rohen Naturstand sieht. Er gibt zu, daß in seinen Schilderungen das Asiatische im Vordergrund steht, weil sein Buch im Streit um Bildung und Fortschritt Stellung nimmt. Damit aber kann er eben den Standpunkt eines unparteiischen Beobachters nicht beanspruchen. Die bisherige Herrschaft der Kultur im Osten ist für ihn eine „Scheinherrschaft", was der Autor u. a. damit verbindet, daß die Völker des Ostens anstatt das positive deutsche, das angeblich negative französische Beispiel befolgen. Eine einheimische Kultur existiert für ihn gar nicht, denn ihre Anerkennung würde ja seine These von der Notwendigkeit der deutschen Sendung im Osten abschwächen 29 . Die einzige Möglichkeit für die Slawen, sich aus dem materiellen und geistigen Rückstand emporzuheben, sieht Franzos darin, daß sie deutsche Bildung annehmen. Er beklagt ihre Undankbarkeit in den Worten: „Heute wissen wir, daß wir von jenen Nationen, die wir zu einem menschenwürdigeren Dasein erziehen, keinen anderen Dank als Neid und Haß zu erwarten haben, was freilich nicht Schuld unseres Volkscharakters ist, sondern jenes unserer Schüler (...)"
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(S. IX) und behauptet, daß die Deutschen ihre Mission trotzdem nicht aufgeben werden: „Aber bleiben werden wir auch, was wir bisher waren: stille, selbstlose Vorkämpfer der Bildung und Menschlichkeit" (ebenda). Zu beachten wäre, daß den Schriftsteller der Gedanke der deutschen, und nicht etwa der österreichischen Sendung im Osten beseelt; nicht der friedliche Vielvölkerstaat, wie es das Österreich der Verfassungsära wurde, sondern ein Staat der deutschen Hegemonie gewähre seiner Ansicht nach die Zivilisierung „Halbasiens". Er wehrt sich gegen den Vorwurf, daß er ein Germanisator sei, mit den Worten: „Germanisiren — das ist ein undeutsches Wort für ein undeutsches Tun" (S. X). Er erklärt, es gehe ihm lediglich um eine Verbreitung der deutschen Kultur, die ein Stab wäre, an dem sich nachträglich die nationalen Kulturen hinaufranken könnten. Daß sich die Völker des Ostens der deutschen Sprache und Bildung verschließen, betrachtet er als krasse Undankbarkeit und kindischen Trotz. Man sieht also, daß Franzos kein Verständnis für das Bedürfnis der Nationen und Nationalitäten, ihre eigene Sprache und Kultur zu pflegen und zu entwickeln, aufbringt. Freilich ist er kein bewußter Germanisator, der eine imperialistische Politik Deutschlands herbeiwünscht, aber seine kulturpolitische Konzeption zielt doch darauf, daß jene Nationen im deutschen Element aufgehen, sich also praktisch doch germanisieren lassen. Das bestätigt seine Beurteilung der geschichtlichen Lage nach den Teilungen Polens. Er sieht eine planvolle „Kulturarbeit" als eine Pflicht der germanischen Teilungsmächte den annektierten Gebieten gegenüber. Von der österreichischen Seite habe aber lediglich der Kaiser Joseph II. den Gedanken, seine Länder durch die gemeinsame deutsche Kultur zu verbinden, während seiner kurzen Herrschaft konsequent realisiert. Franzos lobt ihn, daß er nicht nur eine deutsche Verwaltung in Galizien einführte, sondern auch deutsche Kolonisten in dieses Land verpflanzte und deutsche Schulen gründete. Nach seinem Tode wurden diese Bemühungen nur noch formal fortgesetzt, Amtssprache und Vorlesungssprache in Galizien blieb deutsch, aber sonst habe Österreich nichts mehr getan, um dieses Land der deutschen Kultur zu erschließen. Daher erwies sich das Deutschtum im Osten als ein Potemkin'sches Dorf, das der Sturm von 1848 gründlich umwarf. Der Indolenz der österreichischen Bürokratie in Galizien stellt Franzos die „ernste, planvolle Culturarbeit" Preußens in Posen (S. XIV) gegenüber. Aus allen diesen Erwägungen geht klar hervor, daß das Ideal des Autors ein germanisiertes Galizien wäre. So beschuldigt Arno Will in seinen Publikationen über diesen Verfasser 30 ohne Grund den polnischen Vorkriegskritiker Józef Flach, daß er in Franzos zu Unrecht einen Gegner Polens und der Polen sieht. Arno Will bezieht sich dabei u. a. auf Franzos' eigene Worte in seiner Vorrede, daß er die Polen nicht hasse und dort, wo sie die Unterdrückten seien, d. h. in Rußland, sie in seinen Werken in den Schutz nehme, in Galizien aber, wo sie selbst Unterdrücker seien, müsse er sie bekämpfen. Daher schildere er in den Bildern aus Rußland die Polen mit Mitgefühl, in Galizien aber prangere er sie an. Das geht deutlich durch den ganzen Zyklus Halb-Asien. Natürlich ist Fran-
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zos' Kritik an der politischen U n t e r d r ü c k u n g des ukrainischen E l e m e n t s in Ostgalizien keine grundlose. Sie wird allerdings von d e m Standpunkt eines Anhängers der d e u t s c h e n Herrschaft in Galizien aus d u r c h g e f ü h r t . Das läßt sich u. a. aus solchen Aussagen herauslesen wie ζ. B. „Der Pole herrscht in Galizien mit fast u n b e s t r i t t e n e r Gewalt ( . . . ) . Mit brutaler O f f e n h e i t darf er seine nationalen u n d staatsrechtlichen Sondergelüste proklamieren u n d z u m großen Theil werden sie befriedigt" (S. XVI), oder aus seiner Erklärung, daß er gegen die polnische Herrschaft in Galizien als D e u t s c h e r u n d daher gegen die Vergewaltigung des D e u t s c h t u m s im Lande kämpfe u n d als Österreicher — „weil ich die Frivolität verachte, mit der diese H e r r e n u n s e r Vaterland, welches stets so gütig gegen sie gehandelt, n u r als Etappe f ü r ihren Z u k u n f t s s t a a t b e t r a c h t e n " (S. XIX). Auf diese Weise hat er wohl seinen politisch-nationalen Standpunkt so klar dargelegt, daß keine Zweifel b e s t e h e n d ü r f t e n , daß er ein G e g n e r des P o l e n t u m s in Galizien war. In Skizzen aus der S a m m l u n g Aus Halbasien wie Von Wien nach Tschernowitz, Zwischen Dniester und Bis frizza oder Ein Culturfest (alle 1875 e n t s t a n d e n ) veranschaulicht der A u t o r b e s o n d e r s deutlich, was er u n t e r „Halbasien" verstehe und u n t e r welchen Bedingungen diese G e b i e t e , seiner M e i n u n g nach, zu Europa gerechnet werden d ü r f t e n . Von Wien nach Tschernowitz setzt mit der A n e k d o t e über eine westliche D a m e ein, die sich auf ihrer Reise nach Osten bereits hinter Lemberg erkundigt hat, ob die asiatische G r e n z e schon passiert wäre. In A n s c h l u ß an dieses „bon m o t " entwickelt der Erzähler seine T h e s e , daß die G r e n z e n der beiden Weltteile sehr verwickelt ineinanderlaufen. Er läßt seine Leser die Zugstrecke von W i e n nach Jassy verfolgen u n d erklärt, wie m a n an den Bahnhofsrestaurants u n d B a h n h o f s v e r k ä u f e r n e r k e n n e n könne, in welchem Weltteil m a n sich gerade befinde. Die schlesisch-galizische G r e n z e bei Dziedzitz ist für ihn die erste G r e n z e zwischen Europa und Asien. A u c h für Krakau, die alte polnische Hauptstadt, macht er keine A u s n a h m e , er n e n n t es „Cracovia la stincatoria" u n d ekelt sich vor dessen S c h m u t z und Gestank. N a c h d e m er auch Lemberg u n d die Strecke über Ostgalizien trostlos fand, preist er „das gesegnete G e l ä n d e der Bukowina", wo sich der A n k ö m m l i n g wieder in W e s t e n fühle, „wo Bildung, G e s i t t u n g u n d weißes Tischzeug zu finden. Und will er (der Reisende — M. K.) wissen, wer dies W u n d e r vollbracht, so lausche er der Sprache der Bewohner: sie ist die d e u t s c h e " (S. 112 f). Seine Schlußfolgerung lautet: „Der deutsche Geist, dieser gütigste u n d mächtigste Zauberer u n t e r der Sonne, er — u n d er allein! — hat dies b l ü h e n d e Stücklein Europa hingestellt, mitten in die halbasiatische Culturwüste! I h m sei Preis u n d Dank!" (ebenda). So bleibt die W e r b u n g für die deutsche Kultur und Sprache inmitten der scheinbar u n v o r e i n g e n o m m e n e n Skizze unverkennbar. Dabei jongliert der Verfasser geschickt mit d e m a b s t o ß e n d e n ersten Blick eines Reisenden, der das Land nicht kennt, u n d mit der Ü b e r z e u g u n g , daß o h n e materielle Kultur auch keine geistige b e s t e h e n könne. Die schmutzigen Tischtücher u n d zerfransten Kellnerröcke wirken auf den W e s t e u r o p ä e r selbstverständlich abstoßend. Vielleicht wird er gar nicht weiter forschen, was dahinter steckt. So
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glaubt der Leser dem Einheimischen Franzos, daß in solchem Land auch keine Kunst, keine geistige Kultur, keine Gesittung zu treffen seien, was natürlich nicht stimmt. Die Skizzen Zwischen Dniestr und Bistrizza u n d Ein Culturfest beziehen sich eigentlich auf das Lieblingsland des Schriftstellers, Bukowina. Sie sind für unseren Z u s a m m e n h a n g insofern von Bedeutung, als der Erzähler hier nationalpolitische Ansichten äußert, die auch für Galizien gelten. Die beiden Texte sind Gelegenheitswerke anläßlich der hundertjährigen Herrschaft Österreichs in der Bukowina. Auch hier lobt Franzos seinen Lieblingskaiser Joseph II. Noch einmal stellt der Autor die Kongruenz seines eigenen Staatsideals mit dem josephinischen fest: „Kein deutscher Nationalstaat sollte Österreich werden, aber ein deutscher Culturstaat und alle Nationalitäten sollte ein versöhnendes Band umschlingen: eine gleichartige Bildung. D a r u m schaffte er zunächst deutsche Schulen und deutsche Colonisten ins Land" (S. 131). Franzos sieht die Vorherrschaft des deutschen Elements in der Bukowina als unverrückbar an, was er selbst nach nicht viel m e h r als zehn Jahren widerrufen wird 31 . Diese Stabilität gründe sich auf die ethische Grundlage der selbstlosesten Kulturarbeit der Deutschen. Sein Glückwunsch für jenes „gesegnete Land" lautet: „Mögen all die guten Geister, die es bisher behüten, auch ferner darüber sein; der Friede, die Arbeit, d e r d e u t s c h e G e i s t ! " (S. 138). In der Skizze Ein Culturfest erklärt der Verfasser, welche Voraussetzungen die Bukowina erfüllen mußte, damit sich dort der Gedanke des Kaisers Joseph von einem deutschen Kulturstaat realisieren ließ. Das Land hätte „keine andere Signatur als j e n e des Elends u n d der Öde, u n d so konnte man i h m j e d e beliebige aufdrücken". So ließen sich dort zahlreiche deutsche Ansiedler nieder, und da jede nationale Bildung fehlte, konnte sich die deutsche Bildung leicht durchsetzen. Unverhohlen drückt der Schriftsteller seine Meinung aus: „Was anderwärts ähnliche Bestrebungen geschädigt und lahmgelegt: historisch-politische Eigentümlichkeiten, religiöser Fanatismus, Eifersucht der anderen Nationalitäten, dies alles fehlt hier gänzlich" (S. 143). Mögen die zwei letzten Faktoren stimmen, mit d e m erstgenannten hat Franzos deutlich erklärt, warum er sich mit der polnischen Herrschaft in Galizien nicht hat b e f r e u n d e n können: Eine „nationale Bildung" sowie „historisch-politische Eigenthümlichkeiten" waren ja bei der polnischen Nation vorhanden, so konnte hier das D e u t s c h t u m nicht so leicht F u ß fassen. Im weiteren Verlauf der Skizze beklagt Franzos sogar die Gefahr der Entnationalisierung des D e u t s c h t u m s in Galizien. Diesem Problem widmete er später die Erzählung Wladislaw und Wladislawa. „Wehe dem D e u t s c h t u m im Osten, wenn es sich in sublimen Kosmopolitismus auflösen würde — es wäre nicht blos sein eigenes Verderben, sondern auch das Verderben für alle Culturbestrebungen in diesem Lande!" (S. 182), ruft er warnend auf. Aber gleichzeitig ist das Ideal, das er den anderen Völkern, etwa den Slawen in der Monarchie empfiehlt, eben das A u f g e h e n in einem sublimen Kosmopolitismus u n d die A n n a h m e des Deutschen als Kultur- und Verkehrssprache.
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War die Bukowina sein positives Beispiel für das angeblich nur wohltuende Wirken des Deutschtums in der Habsburgermonarchie, so ist Galizien sein Paradigma für die Schilderung des Schlechten, das seines Erachtens aus dem trotzigen Sich-Verschließen gegenüber dem deutschen Einfluß und aus dem Beharren auf einer nationalen, polnischen Politik und Kultur erfolgt. Dabei hat der Verfasser oft recht, indem er die sozialen Mißstände (wovon im zweiten Kapitel dieser Arbeit die Rede sein wird) oder die Unterdrückung der Ukrainer beschreibt. In dieser Hinsicht kann man von der Wiedergabe wesentlicher Merkmale der galizischen Wirklichkeit in seinen Texten sprechen. Andererseits ist es symptomatisch für seine politisch-nationale Haltung, daß er jeden Wert polnischer nationaler Kultur und Tradition verkennt und außerstande ist, die polnische Sehnsucht nach dem eigenen Staate zu begreifen. Eine der Zielscheiben seiner berechtigten Kritik an der innerpolitischen Lage Galiziens sind Mißbräuche bei den Landtags- und Reichstagswahlen in diesem Lande. In einer seiner frühesten „halbasiatischen" Skizzen, Jüdische Polen (1874) schildert der Erzähler in satirischer Verzerrung die Wahlen im podolischen Städtchen Barnow, wobei er den symbolischen Stellenwert des Ortes, der für jedes beliebige galizische Städtchen stehen könnte, betont. Die ganze Darstellung des Wahlkampfes zielt daraufhin, zu beweisen, daß in Galizien die Willkürherrschaft der Polen besteht, die in ihrem Nationalstolz befangen ihre nichtpolnischen Mitbürger verachten und eine allgemeine Korrumpierung walten lassen, und daß die niederen Gesellschaftsklassen im unverschuldeten Dünkel und in Unwissenheit leben. Weil Franzos die Handlung seiner Kulturbilder immer in Ostgalizien anlegt, so ist es ihm möglich die soziale Unterdrückung der nationalen gleichzusetzen: So sind auch in dieser Skizze die Polen Adlige und höhere Staatsbeamte sowie ihre Handlanger, dagegen sind die Unterdrückten Ruthenen und Juden. Die Polen werden als verdorben, ohne jeglichen Sinn für die Gerechtigkeit, noch vermögend, aber bereits verschuldet charakterisiert. Unter den Ruthenen und Juden hebt sich eine Handvoll bereits aufgeklärte, volksbewußte Agitatoren hervor, die der Stadtintelligenz angehören. Die meisten bilden jedoch eine dunkle Masse, was als Ergebnis polnischer Herrschaft bezeichnet wird. Die polnische Partei, die sich an dem geschilderten Wahlkampf beteiligt, besteht angeblich außer dem adligen Kandidaten und dem polnischen Bezirkshauptmann nur noch aus fünf Polen, weil es mehr im Städtchen nicht gegeben hätte. In solchen Zusammenhängen wird Franzos nie müde, zu betonen, daß das galizische Städteelement vor allem aus Juden, dann aus Deutschen und auch schon Ruthenen, kaum aber aus Polen bestehe. Als Konkurrenz für die Partei der Polen tritt im Text eine ruthenischjüdische Partei auf. Die Mittel, deren sich die Polen im Wahlkampf bedienen, sind Bestechung, Fälschung von Dokumenten und Erpressung. Trotz des ökonomischen und staatspolitischen Übergewichts auf der polnischen Seite siegt die geeinigte Partei der Ruthenen und aufgeklärten Juden. Ihre Agitation ist eine antipolnische, und zwar im Namen der unterdrückten Menschenwürde der Juden und Ruthenen in Galizien. Die Lösung zeugt von einem neuen
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Geist im Lande, sie ist ein A u s d r u c k der Z u n a h m e des gesellschaftlichen u n d nationalen Bewußtseins in Galizien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Einen ähnlichen Sieg hat Sacher-Masoch in der Skizze Unser Deputirter dargestellt. Daß dieses N e u e sich aber bis z u m A u s b r u c h des Ersten Weltkrieges nicht endgültig durchgesetzt hat, davon zeugen u. a. spätere Aufsätze von Ivan Franko 3 2 über die galizischen W a h l e n m i ß b r ä u c h e . Die von Franzos geübte Kritik an der Korruption des Staatsapparates in Galizien u n d an der sozialen Ungerechtigkeit ist eine durchaus berechtigte. U n b e g r ü n d e t (obwohl aus seiner Perspektive völlig verständlich) ist allerdings, daß er n u r in den Polen die Schuldigen an der Situation der J u d e n u n d an der f e h l e n d e n Volksbildung sieht. Es handelt sich ja u m ein österreichisches Kronland, das bis 1848 deutsch verwaltet wurde. A u s Franzos' Prämissen erfolgt die Schlußfolgerung der Skizze, daß sich die galizischen J u d e n nie zu den J ü d i s c h e n Polen" b e k e n n e n sollen, die n u r ihre Konfession beibehalten haben, sich aber in nationaler Hinsicht als Polen f ü h l e n . Wie bereits a n g e d e u t e t wurde, interessiert sich Franzos für die Frage des polnischen Unabhängigkeitskampfes nur im Hinblick auf den russischen Besatzungsteil Polens. Einmal greift er allerdings dieses T h e m a am Rande einer „galizischen" Erzählung auf, u n d zwar in der e r w ä h n t e n Geschichte Wladislaw und Wladislawa (1876). Die Fabel erinnert ziemlich stark an die Novelle Gottfried Kellers Kleider machen Leute. Auch bei Franzos handelt es sich u m den Mißbrauch der Wohlwollenswoge z u g u n s t e n der T e i l n e h m e r am polnischen Januaraufstand durch schlaue Betrüger. Seine Geschichte ist jedoch in Galizien angesiedelt. Die gauklerischen Titelhelden n e h m e n in der Erzählung keine Zentralstellung ein. Diese Figuren werden dazu ausgenutzt, u m die Hauptgestalt — den polonisierten Schwaben Hafiowski zu v e r h ö h n e n u n d dadurch die galizischen D e u t s c h e n vor der polnischen Assimilierung zu warnen. Das T h e m a des polnischen A u f s t a n d e s ist f ü r den Erzähler sekundär. Für uns liefert aber diese Erzählung ein wichtiges Kettenglied zu den M e i n u n g e n des Verfassers über Polens Schicksal, da er sich hier offen wie sonst nie darüber ausspricht u n d trotz der grotesken Verzerrung ein Bild der S t e l l u n g n a h m e Galiziens zu d e m A u f s t a n d entwirft, das m a n c h e wesentlichen Züge der außerliterarischen Wirklichkeit z u m A u s d r u c k bringt. Der Erzähler stellt ein ergreifendes Bild der polnischen J u g e n d aus Galizien dar, meistens Jugendlicher, die über das in der N ä h e der russischen G r e n z e gelegene Städtchen Barnow in der Kampf gegen Rußland ziehen. V o n der patriotischen Haltung dieser Jugend spricht er zunächst mit A c h t u n g : „Wir aber wollen dieser Jünglinge gedenken. Vor echter Begeisterung, vor s c h ö n e m , schlichtem T o d e s m u t v e r s t u m m t jeder Spott. W o h l waren viele G a u n e r u n d Phraselanten in diesen Reihen ( . . . ) ; aber die große Zahl war tapfer u n d treu bis in den Tod ( . . . ) " (S. 116). Bald aber erweist es sich, daß sein Mitleid weder d e m T o d e dieser j u n g e n Leute noch der Niederlage der E r h e b u n g gilt. Er behauptet, daß er sie bemitleide, weil sie für eine „greise, ohnmächtig v e r a t m e n d e Sache" ihr Leben geopfert hätten. Er billigt die Teilungen Polens als eine eiserne Notwendigkeit u n d bricht den Stab
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über Polens Z u k u n f t : „Jedem Volke sein Recht; der R e s p u b l i c a P o l o n i a ist ihr Recht geschehen. ( . . . ) V e r t r ä u m t u n d verspielt, verraten und verloren! Kein G o t t kann den Polen helfen, nicht alle Heiligen ihres Kalenders, nicht Saint-Simon und die Heiligen der C o m m u n e , d e n n gegen sie ist die einzig mächtige Göttin, die heilige A n a n k e . . . " (S. 118 0 · Franzos' vernichtendes Urteil über Polen ist gewiß ein ehrliches, uneigennütziges in seinen Prämissen. Aber diese W o r t e allein wären wohl eine hinreichende Basis, u m mit Arno Will, der ihn in die Reihe der polenfreundlichen Schriftsteller a u f n i m m t 3 3 , nicht einverstanden sein zu k ö n n e n . Im Mittelpunkt der Erzählung steht die Geschichte des polonisierten Deutschen, der in seiner Einfalt u n d schwäbischen Treuherzigkeit z u m Besten gehalten wird. Diese Gestalt ist offensichtlich eine paradigmatische. Franzos scheut dunkle Farben nicht, u m diesen „Renegaten" d e m Publikum so abstoßend wie möglich zu präsentieren. Symptomatisch ist, daß der Autor die Möglichkeit beiseite läßt, daß ein solcher Übertritt z u m P o l e n t u m ein echter, aus tiefer Ü b e r z e u g u n g heraus vollbrachter sein könnte. Für ihn ist das generell ein Ausdruck des Strebertums u n d Karrierewillens. Auf diese Weise gestaltet er die Geschichte Haflowskis u n d seines Geschlechts. Haflowskis Vater, ein schwäbischer Kolonist n a m e n s Häufle, war in der Zeit Joseph II. nach Galizien g e k o m m e n „und baute am F u ß e der Karpathen seinen Kohl, u n b e k ü m m e r t u m die Polen, aber auch u n b e k ü m m e r t u m die Heimat u n d sein Volkstum, sehr fleißig, sehr ehrenfest u n d u n g e h e u e r gedankenlos" (S. 110). Der Erzähler schließt an diese Schilderung eine allgemeinere Reflexion an, daß diese Gleichgültigkeit im Nationalen vor allem die deutschen Katholiken in Galizien betrifft. Dieser B e m e r k u n g liegt die Beobachtung zugrunde, daß sich in der katholischen U m g e b u n g leichter Katholiken assimilierten. Häufles Sohn, ein Apotheker, hat u m des sozialen Aufstiegs willen ein adliges ältliches Fräulein von zweifelhaftem Ruf geheiratet. Auf ihren W u n s c h verändert er seinen Nam e n , seine Tracht u n d seine nationale G e s i n n u n g , sodaß er für einen Polen gehalten werden konnte. Nach d e m T o d e seiner Frau wurde Haflowski z u m Bürgermeister gewählt, w o f ü r er sich mit weiteren Zeugnissen seines polnischen Patriotismus revanchierte. W ä h r e n d des J a n u a r a u f s t a n d e s warb er eifrig u m Freiwillige nach Kongreß-Polen u n d empfing solche im Städtchen, wo sie Geleit bis zur G r e n z e b e k a m e n . D e m Leser wird dabei suggeriert, daß der Patriotismus eines Haflowski ein bloß zur Schau gestellter war. So beschränkte sich der Bürgermeister darauf, den j u n g e n Freiwilligen eine schöne Rede zu halten u n d h ö c h s t e n s die Wagen über die G r e n z e zu bezahlen. Ihr weiteres Schicksal k ü m m e r t e ihn nicht. Er wird auch als ein d e m Alkoholismus verfallener Mann bezeichnet. Sein Ä u ß e r e s wie sein Inneres stellen eine elende Karikatur des M e n s c h e n dar. Dabei unterläßt es der Schriftsteller nie, seine Beschreibungen mit b o s h a f t e n kleinen Sticheleien gegen das Polnische zu versehen. W e n n er z. B. über die schlecht proportionierten Beine des Apothekers A u s k u n f t gibt, bemerkt er mit G e n u g t u u n g : „Nur die Basis, das Piedestal, war d ü n n u n d zitterig, aber das ist n u n einmal bei allen polnischen Dingen so" (S. 113). N a c h d e m der
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Erzähler seine Figur so allseitig abstoßend vorgezeichnet hat, erweckt seine weitere H a n d l u n g s f ü h r u n g kein Mitleid mit Haflowski. Der naive Apotheker läßt sich nämlich von der Lemberger Schauspielerin Kasia u n d von ihrem Geliebten, d e m Barbiergesellen Jacek aus Zloczow, betrügen, sodaß er die erstere für ein polnisches patriotisches Edelfräulein, das seinen Heiratsantrag fast ann i m m t , u n d ihren Partner für ihren Bruder, einen der F ü h r e r des Januaraufstandes hält. Haflowski wird mit Recht d e m Gelächter preisgegeben, u n d die Leser werden vor solchen „polnischen Patrioten" gewarnt. In der Gestalt des Bürgermeisters hat Franzos die nach 1848 i m m e r häufigere Polonisierung von Galiziendeutschen 3 4 thematisiert. Gewiß gab es u n t e r ihnen in der außerliterarischen Wirklichkeit auch solche Streber, besonders in der Zeit nach 1867, als sich die Polen in Galizien tatsächlich m a n c h e r Privilegien zu e r f r e u e n begannen. Es ist jedoch bekannt, daß die polnische Kultur u n d Lebensweise auf die A n k ö m m l i n g e eine starke Anziehungskraft ausübte. Auf diese Weise wurden viele deutsche Familien binnen einiger G e n e r a t i o n e n zu polnischen Patrioten und verdienten Förderern der polnischen Kultur. Als Beispiele n e n n e n wir n u r einige N a m e n der f ü r polnische Wissenschaft verdienten G e l e h r t e n deutscher A b s t a m m u n g : ζ. B. Samuel Bogumil Linde (1771-1847), Karol Józef Estreicher (1827-1908) oder Aleksander Brückner (1856—1939). Aber dieser Aspekt interessiert Franzos nicht. Er bemerkt n u r die Kehrseite der Erscheinung, weil er von seinem nationalen Standpunkt aus sie v e r d a m m e n m u ß . Seine Verurteilung des polnischen Januaraufstandes u n d seine Ü b e r z e u g u n g von der Unwiderruflichkeit des Falles des polnischen Staates drücken eine b e s t i m m t e Bewußtseinslage aus, die aus den nationalen u n d politischen A n s c h a u u n g e n des Franzos' erfolgt. Symptomatisch ist, daß er sich in diesen Ansichten der preußischen historischen Schule wesentlich nähert. Aus seiner Ü b e r z e u g u n g von der G r ö ß e des vereinigten Deutschland und von der deutschen Misión im Osten resultierte zwangsläufig die A b l e h n u n g des polnischen Befreiungskampfes. Franzos wehrte sich nachdrücklich gegen den Vorwurf seiner G e g n e r (vor allem polnischer Publizisten), daß er ein G e r m a n i s a t o r sei. Daß er tatsächlich keine solche politische Absicht hatte, sondern daß ihn ein unzeitgemäßes, gutgemeintes, aber in späteren K o n s e q u e n z e n nicht unschädliches Ideal der deutschen K u l t u r s e n d u n g beseelte, davon zeugt eines seiner schönsten Kulturbilder — Schiller in Barnow{ 1875). Als eine Gelegenheitsbildung z u m Anlaß eines Schiller-Jubiläums e n t s t a n d e n , drückt diese Erzählung den G l a u b e n des Verfassers an den Sieg der allumfassenden Menschlichkeit über nationale u n d konfessionelle Zwistigkeiten hinaus, den Sieg, den nach seiner Ü b e r z e u g u n g im Osten Europas die deutsche Kultur a u s f e c h t e n wird, mit den W e r k e n und Ansichten solcher Vertreter wie M e n d e l s s o h n , Lessing u n d besonders Schiller. Schiller ist f ü r ihn ein S y n o n y m für das Ideal der M e n s c h e n w ü r d e , der Brüderlichkeit u n d Gleichheit aller M e n s c h e n . Die Fabel seiner Erzählung bildet einen Beitrag zur Rezeptionsgeschichte Schillers, indem der Erzähler in kaleidoskopartigen Impressionen zeigt, wer im
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podolischen Städtchen Barnow Schillers Werke, sei es in Deutsch, sei es in einer polnischen Übersetzung besitzt und liest. Jedes der fünf vorhandenen Exemplare gibt Anlaß, das Schicksal seines Besitzers zu schildern. Bei den ersten geht es wiederum negative Typen des Polen: Einer von ihnen ist ein Graf, der dem Spiele verfallen und bei den Juden bis über die Ohren verschuldet ist und der seine Wirtschaft zum Ruin führt, die zweite Besitzerin einer SchillerAusgabe ist eine „giftige Klatschrose" und permanente Ehebrecherin. Bei dieser Gestalt macht der Erzähler allerdings die Einschränkung, daß die polnische Frau nicht schlecht sei, sondern es durch die Gefühllosigkeit der Männer werde. Die günstigen Stereotype werden wieder den Juden zugeordnet: Einer dieser Schillerleser ist der Stadtarzt, einst durch sein hartes Schicksal hart geworden, dann durch die Lektüre Schillers zum besseren und glücklicheren Manne umgewandelt, übrigens eine Gestalt, die eine starke Affinität mit dem Kreisphysikus der Ebner-Eschenbach aufweist. Der zweite ist ein junger Schwärmer, den die orthodoxen Eltern zum Talmudisten bestimmt haben und der sich nach weltlicher Bildung und nach Idealen sehnt. Eine Überraschung erlebt der Leser bei dem fünften Exemplar, denn hier überwindet Franzos sein nationales Vorurteil gegen die Polen und läßt Schillers Werke zum gemeinsamen Eigentum eines Polen, Ruthenen und Juden werden, die in Freundschaft und brüderlicher Liebe miteinander verbunden sind. Der Pole ist ein junger Klosterbruder adliger Herkunft, der Ruthene ein Volksschullehrer, der sich mit einem jüdischen Proletarier zusammengetan hat, um sich einige Brocken Wissen didaktisch anzueignen. Die beiden merkwürdigen Studenten besitzen nur eine lateinische Grammatik als Handbuch und Lektüre, so lesen sie immer wieder darin. Bei dieser Beschäftigung begegnet ihnen zum ersten Mal der Pole Franz Lipecki. Auf seine Frage, was sie tun, antwortet der Ukrainer auf eine Weise, die von der üblichen und nicht unbegründeten Voreingenommenheit seines Volkes gegen die Polen zeugt: „Das geht Sie nichts an." „Warum?" „Weil Sie ein Pole sind, ein katholischer Mönch." „Aber daneben ein Mensch" (S. 83), antwortet Franziscus und verweist damit auf die Belanglosigkeit der national-konfessionellen Vorurteile. Diese drei jungen Menschen schließen Freundschaft, wobei Franziscus zum Lehrer der beiden Wissenshungrigen wird. Sogar die Zielsetzung des Ruthenen, der sich bilden will, um „ein Abgeordneter, nämlich ein Führergegen die Polen" (S. 89) zu werden, stört den polnischen Freund nicht. Diese Freundschaft ist möglich, weil alle drei jungen Männer Idealisten und Enthusiasten sind. Das Dingsymbol ihrer Freundschaft wird Schillers Gedichtband, zu dessen Miteigentümern Franz seine Freunde gemacht hat. Diese drei halten als die einzigen in Barnow eine Schiller-Feier am Geburtstag des Dichters ab, indem sie das Lied an die Freude laut lesen. So wirkt Schiller als das Band, das edle, uneigennützige Menschen verbindet. In diesem Text bildet die realistische Zeichnung der ostgalizischen Kleinstadt nur einen Hintergrund, vor dem der Zentralgedanke des Autors entwickelt wird. Die Tendenz des Werkes ist die Überwindung der nationalen, sozialen und konfessionellen Gegensätze
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und Vereinigung der Bewohner Ostgaliziens bzw. „Halb-Asiens" schlechthin zu einer harmonischen Menschengemeinschaft, wobei die deutsche Kultur als Stimulans wirken soll. Dadurch wird der Charakter des Bildes dreier Freunde, die sich für Schiller begeistern, als der eines idealen Leitbildes geprägt. Die gefährlichen ideologischen Implikationen dieses Gedankens liegen nahe, aber es muß betont werden, daß ihnen keine Absicht des Franzos zugrundeliegt. Das Galizienthema überwiegt in den zwei ersten Bänden des sechsbändigen Zyklus, d. h. in Aus Halbasien, in den beiden weiteren Teilen kommen Bilder aus Galizien nur vereinzelt vor. Für die zwei Bände Vom Don bis zur Donau (1877) ist die biographische Erzählung Martin der Rubel m politisch-nationaler Hinsicht von besonderer Bedeutung — als ein prägnantes Bild der Bestrebungen des zaristischen Rußland in den sechziger oder siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts die galizischen Ukrainer für den Panslawismus zu gewinnen. Die Erzählung stellt den Typus einer Charakterstudie dar, dessen sich Franzos in seinen Kulturbildern gerne bedient, wobei die Charakterzüge der Figur tendenziös entworfen und modellhaft zugespitzt werden. Der Ich-Erzähler schafft, wie es oft bei Franzos vorkommt, die Suggestion eines authentischen Berichts, indem er sich verbürgt, den Helden persönlich seit seiner Kindheit zu kennen. Gleichzeitig aber wird mehrmals betont, daß dergalizische „Kleinrusse" Martin Barszczynski ein beliebig auswechselbarer Paradigmafall ist. Hat Sacher-Masoch in seiner Erzählung Sascha und Saschka die Entwicklung des Nationalbewußtseins unter den galizischen Ruthenen vor 1848 mit Wohlwollen verfolgt, so weist der sonst den Ukrainern nicht weniger freundlich gesinnte Franzos auf die Gefahr hin, daß jenes aufkeimende Nationalbewußtsein zum Instrument der großrussischen Politik werden kann, indem es Rußland mißbraucht, um für eine unter dem Zepter des Zaren vereinigte Ukraine zu werben. Franzos wird dabei nie müde, zu betonen, daß galizische Ruthenen durchaus loyale, kaiserlich gesinnte österreichische Untertanen, ja Patrioten der Habsburgermonarchie waren. Aber Österreich hat nach 1848 sein Versprechen nicht erfüllt, Galizien in einen westlichen, polnischen, und einen östlichen Teil, wo die Ruthenen die absolute Mehrheit hatten, administrativ zu gliedern. So wurden sie im autonomen Galizien der Verfassungsära der polnischen Verwaltung preisgegeben. Diese Innenpolitik habe nach Franzos' Auffassung bewirkt, daß ein Teil der Ruthenen der russischen panslawischen Werbung auf den Leim gegangen sei. Zu diesen gehörten zwar keine Bauern, aber manche Lehrer und Popen. Solche Werbung wurde von einheimischen Agenten betrieben, die für ihre Dienste von Rußland bezahlt wurden. Zu diesen Agenten gehören in der Erzählung Martin der Rubel der dem Alkoholismus verfallene Pope Konstantin Barszczynski und sein Sohn Martin, der sich diesem „ B e r u f bereits als Halbwüchsiger hingibt. Von dem Popen stellt die Erzählung fest, daß er zwar gerne Rubel annahm, aber so faul oder bereits so verkommen war, daß Österreich von seiner agitatorischen Arbeit nichts zu befürchten hatte. Gefährlicher ist die Tätigkeit des Sohnes, eines schlauen, charakterlosen Emporkömmlings, der um des Geldes und der Karriere willen zu
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jeder Niederträchtigkeit fáhig ist. Als Gymnasialschüler in Tschernowitz wird Martin zum „Sekretär" der russischen Botschaft und treibt während des Schuljahres sein Unwesen in der Bukowina, im Sommer aber in dem heimatlichen Galizien. Die Pointe zeigt ihn in einem vornehmen Hotel, mit einem hohen russischen Orden ausgezeichnet, was der Erzähler mit den Worten kommentiert, daß der Mann trotzdem bloß „ein Spion höherer Sorte" bleibe. Franzos macht mit diesem Text auf die Tätigkeit solcher Agenten unter den Ruthenen Österreichs aufmerksam und warnt vor ihrem Einfluß. Dabei ist er sich dessen bewußt, daß die wahre Ursache der Popularität des Panslawismus im ukrainischen Milieu nicht die russische Propaganda oder Bestechung, sondern die unbeholfene innere Politik Österreichs ist. Deshalb ist sein Anliegen ein doppeltes: Die Bewohner Ostgaliziens will er zur Vorsicht mahnen, und die Wiener Regierung sucht er zur Veränderung des polenfreundlichen und somit für die Ukrainer ungünstigen Kurses zu bewegen. Aus der dritten Sammlung der „halbasiatischen" Kulturbilder, Aus der großen Ebene, wäre die bereits erwähnte Erzählung Der deutsche 7e«/e/(1888) hervorzuheben, in der mit Hilfe eines galizischen Stoffes die Einstellung des Verfassers zu Bismarck, zum französisch-deutschen Krieg und zur Vereinigung Deutschlands im Jahre 1871 zum Ausdruck kommt. Auch dieser Text ist eine Charakterstudie. Die Dimensionen, in denen der Held dargestellt wird, werden dabei ins Riesenhafte, Übermenschliche gesteigert. „Der deutsche Teufel" ist der Spitzname eines rheinischen Fürstensohnes, dessen Vater Preußen während der napoleonischen Kriege geholfen hatte. Erbittert und enttäuscht darüber, daß sein Land Preußen zufiel, ließ er sich in Galizien nieder. Der Sohn setzt diese Familientradition des Deutschen- und vor allem Preußenhasses fort, besonders nachdem er um die Hand eines liebenswürdigen preußischen Fräuleins als Katholik und Preußenfeind vergebens geworben hat. Die politische Tradition, der sein Geschlecht verpflichtet ist, ist der Wunsch nach der Wiederherstellung eines deutsch-römischen Reiches mit einem Habsburger Wahlkaiser an der Spitze. „Der deutsche Teufel" vertritt denselben Heldentypus wie Taras Barabola, die Hauptfigur des Romans von Franzos Ein Kampf ums Recht, eines Menschen von einem überdurchschnittlichen Rechtsgefühl, der in seiner Gegend den fehlenden Justizarm ersetzt. Nur tut er es aus der Position eines Angehörigen der privilegierten Gesellschaftsschicht. Alle Bewohner seiner Gegend in Ostgalizien und der angrenzenden russischen Gouvernements dürfen sich an ihn wenden, wenn ihnen Unrecht zustößt. Nur den Deutschen und vor allem preußischen Staatsbürgern gegenüber läßt er keine Gerechtigkeit und keine Gnade walten. Er hat seine Laufbahn als österreichischer Offizier angefangen, aber die Korruption, die im österreichischen Militär herrschte, hat den Rechtschaffenen dazu gebracht, im Gefühl seiner Machtlosigkeit das Heer zu verlassen und als Eigenbrötler auf seinen Gütern in Galizien zu leben, wo er beliebig schalten und walten darf und die Bevölkerung ihn mit abergläubischer Furcht, aber auch mit Verehrung betrachtet. Diesen moralischen Riesen läßt Franzos in der Schlußszene der Novelle
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zum Sprachrohr seiner eigenen Ansichten über Preußen und das vereinigte Deutschland werden. Der Prinz hat sich 1866 der österreichischen Heerleitung zur Verfügung gestellt, aber man hat ihn nicht angenommen. Nach der Niederlage Österreichs meint er, daß entweder Gott tot ist, oder er war sein ganzes Leben lang ein Narr gewesen. Nun kommt die Zeit des deutsch-französischen Krieges. Franzos charakterisiert die Stimmungen im Osten, die dieses Geschehen begleiteten, auf folgende Weise: „(...) ganz Deutschland erhob sich glorreich zur Abwehr; so weit Deutsche wohnten, fühlten sie, wenn sie ihres Namens würdig waren, die Wucht dieser Tage mit; die anderen jedoch, Magyaren und Slawen, wünschten Frankreich unverhohlen den Sieg. Darin waren sogar Polen und Russen einig; es war eine häßliche Stimmung im Osten, ein wahres Bacchanal des Neides und Hasses" (S. 62). Die slawische Umgebung glaubt, daß „der deutsche Teufel" als ein alter Preußenfeind ihre Empfindungen teilt. Er kommentiert den Krieg mit einem einzigen Satz, daß er Bismark beneide. Angesichts seiner bisherigen Haltung wird diese Aussage mißverstanden und ein russischer Offizier wagt den Toast: „Hoch der deutsche Teufel, aber ein Pereat den Deutschen." Der Unvorsichtige wird von dem rheinischen Fürsten zum Duell herausgefordert, und „der deutsche Teufel" legt nun eindeutig seine Einstellung zu den letzten Ereignissen los, indem er ruft: „Hoch mein tapferes, herrliches deutsches Volk, das sich endlich ermannt hat! Daß ich diesen Tag erlebt habe, werd' ich dem da droben immer danken. Er lebt — ich aber war ein Narr!" (S. 65). Er stirbt, von seinem Gegner getroffen, mit einem guten Gewissen. Vor dem Tode versucht er noch die Worte „Gott segne . . . Deutschland" auszusprechen. Diese plötzliche Wandlung in seinen politischen Anschauungen bleibt unbegründet, aber dem Verfasser geht es darum, Bismarck und die Vereinigungstat desto stärker zu verherrlichen. Deshalb bringt er zum Ausdruck, daß sogar die erbittersten Feinde Preußens, soweit sie deutscher Abstammung und keine „Renegaten" sind, sich nach seinem Sieg für das von ihm gegründete Reich begeistern müssen. Daß dieses Lob Deutschlands von einem ehemaligen Preußenfeind und einem Menschen von seltener Rechtschaffenheit ausgesprochen wird, soll die Wirkung dieser Pointe verstärken. Diese Erzählung ist für den Literaturhistoriker aufschlußreich vor allem als der deutlichste Ausdruck der ideologischen Grundhaltung von Franzos, dessen Bekenntnisses zum vereinigten Deutschland und zur Politik dieses Staates. Im Hinblick auf Galizien gibt dieser Text einige Züge der damaligen Wirklichkeit wieder, hauptsächlich den Justizmangel und die Reaktionen der slawischen Bevölkerung angesichts des Krieges zwischen Frankreich und Preußen. Symptomatisch wirkt dabei die Tatsache, daß Franzos die Teilnahme der Völker des Ostens am Schicksal Frankreichs gleich als Neid und Haß gegen Deutschland auslegt, und zwar als Gefühle, die die Größe Deutschlands hervorgerufen habe. Mit dieser Novelle sei der Überblick über die wichtigsten politischen Texte von Franzos zum Thema Galizien abgeschlossen. Damit aber die Stellungnahme des Schriftstellers zu den Veränderungen im Osten derHabsburgermonar-
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chie und vor allem in Galizien in der Zeit ca. von 1875 bis 1900 deutlich wird, sei hier ein zusätzlicher Kommentar gebracht: die Vorreden des Autors zur zweiten Ausgabe Aus der großen Ebene (verfaßt 1897) und zur vierten Ausgabe Aus Halb-Asien (aus dem Jahre 1901). Diese Texte drücken die Einstellung des Verfassers zur Entwicklungsrichtung in den behandelten Ländern aus und fassen endgültig seinen Standpunkt zum Thema „Halb-Asien" zusammen. In der ersten der obengenannten Vorreden betrachtet Franzos seine Kulturbilder rückblickend aus der Perspektive der inzwischen verflossenen ca. zwei Jahrzehnte und meint, daß sich seine Anschauungen in dieser Zeit nicht geändert haben, weil die Kulturzustände des Ostens sich inzwischen wenig „und zwar wahrlich im ganzen nicht zum Guten gewandelt haben" (S. VIII). Er kämpft weiterhin um die Verbreitung des deutschen Geistes im Osten, weil er an der Überzeugung von dessen Gründlichkeit und Selbstlosigkeit festhält. Er muß allerdings wahrnehmen, daß jener Einiluß immer geringer wird. Er nennt zwei politische Gründe für jenen Sachverhalt: Erstens habe „begründeter Neid auf Deutschlands Größe und grundlose Furcht vor seiner Eroberungslust und Herrschsucht" (S. X) seit 1870 das bisherige Wohlwollen den Deutschen gegenüber in Haß gewandelt, und zweitens trage die innere Politik Österreichs, die er als eine slawisch-antisemitische bezeichnet, Schuld an diesem neuen Kräfteverhältnis. Diese Ansichten sind kennzeichnend für die deutschnationale Haltung des Franzos. Der angenommene Standpunkt hindert den Schriftsteller daran, einzusehen, daß jene Furcht vor dem deutschen Imperialismus zu diesem Zeitpunkt bereits keine unbegründete war und daß Österreich weder aus Liebe zu den Slawen noch aus politischer Verblendung, sondern aus geschichtlicher Notwendigkeit die Slawen zur Mitregierung und Mitentscheidung im Habsburgerreich heranzog. Symptomatisch ist, daß der an die deutsche Kultursendung glaubende Franzos den Antisemitismus lediglich mit einem slawischen Judenhaß identifiziert und in der polnischen bzw. slawischen schlechthin Assimilierung der Juden und ihrem Rückgang aus dem Umkreis des deutschen Kultur- und Spracheinflusses die größte Gefahr für die Ostjuden sieht. Am ausführlichsten beschäftigt sich Franzos mit dieser Problematik in seinem letzten Vorwort zum „halbasiatischen" Zyklus, das man als ein Resümee seiner Anschauungen zur politisch-nationalen Lage der osteuropäischen Länder betrachten kann. Er bestätigt darin noch einmal, daß sein Standpunkt in der Frage „Halb-Asiens" noch durchaus derselbe wie vor fünfundzwanzig Jahren blieb 35 . Der Schriftsteller bezeichnet ihn als seine „entschiedene deutsche Gesinnung" (S. XXVIII). Mit Bedauern stellt er die Tatsache fest, daß die Kulturentwicklung im Osten eine ganz andere Richtung nahm, als er es seit zwanzig Jahren immer wieder empfahl. Der Autor des Zyklus nennt zusammenfassend die Ideen, denen sein „halbasiatisches" Werk von Anfang an dient, als den Kampf „um einen vermehrten Einfluß des deutschen Geistes im Osten", die Bekämpfung des dort herrschenden Glaubens- und Rassenhasses, schließlich das Eintreten für den Reifungsprozeß der nationalen Kulturen, die die
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„ a u t o c h t h o n e Barbarei" wie die „Nachäffung westlicher K u l t u r f o r m e n " (S. XXIX) verdrängen würden. A n h a n d der Lektüre seiner Werke läßt sich feststellen, daß er sich tatsächlich die M ü h e gibt, die zwei e r s t g e n a n n t e n P u n k t e zu verfolgen. Seine aktive S t e l l u n g n a h m e für die Beseitigung der national-konfessionellen Vorurteile im Osten erfolgt allerdings im Zeichen der W e r b u n g für die deutsche Kultur als eine, die den Ausgleich dieser Gegensätze herbeiführt. Sein Hauptanliegen, der Kampf u m die V e r m e h r u n g des d e u t s c h e n Einflusses, ist aus der historischen Perspektive, die Franzos freilich nicht h a b e n konnte, als eine nicht ungefährliche Schwärmerei aufzufassen. Im dritten Punkt, wo von der F ö r d e r u n g der nationalen Kulturen die Rede ist, verkennt der Schriftsteller seine eigene Stellungnahme. Franzos tut ja, worauf wir früher hingewiesen haben, als ob die von ihm geschilderten Völker, d a r u n t e r auch die galizischen Polen, gar keine nationale Kultur, sondern ausschließlich „ a u t o c h t h o n e Barbarei" besessen hätten. Somit b e d e u t e t f ü r ihn j e n e Entwicklung eigener K u l t u r e n ein A u f g e h e n im Kosmopolitismus deutscher Prägung. Zwar gibt es bei ihm A u s n a h m e n von dieser Einstellung, ζ. B. betrachtet er in seinen Essays Das Volkslied der Kleinrussen u n d Die Literatur der Kleinrussen mit großer W ä r m e u n d Sympathie die Entwicklung der ukrainischen Literatur, aber andere nationale K u l t u r e n finden dieses wohlwollende Interesse nicht, was an der politischen Einstellung des Autors liegt. Bezeichnend ist, daß er sich dessen nicht bewußt ist, sondern an seine positive W i r k u n g auf diesem Gebiet glaubt. Er wehrt noch einmal die Beschuldigung ab, daß es ihm u m die G e r m a n i s i e r u n g des Ostens geht. Er meint es sicher ehrlich, o h n e die möglichen Folgen auf seine Konzeption der d e u t s c h e n K u l t u r s e n d u n g im Osten abzuschätzen. Seine G r u n d h a l t u n g k o m m t in der rhetorischen Frage z u m Ausdruck: „Ist es etwa bloß ein Zufall, daß das wenige G u t e , das wir im Osten finden, fast a u s n a h m s l o s deutscher A n r e g u n g zu verdanken ist?" (S. XXX). Seine national- u n d kulturpolitischen Prämissen bewirken, daß Franzos außerstande ist eigenen Leistungen osteuropäischer Völker gerecht zu werden, weil er gegen deren E r r u n g e n s c h a f t e n v o r e i n g e n o m m e n ist. D e n G r u n d f ü r den Glaubens- und Nationalitätenhader in „Halb-Asien" sieht er darin, daß sich die Völker dieses R a u m e s d e m d e u t s c h e n E i n f l u ß imm e r m e h r verschließen. Dabei meint er vor allem Galizien u n d die Bukowina, die im Geiste der josephinischen R e f o r m e n angeblich im Frieden u n d Wohlstand lebten, solange diese Länder eine deutsche Verwaltung hatten. Er n e n n t das Gerichts- u n d Schulwesen in diesen Provinzen als „auf derselben H ö h e wie im westlichen Österreich" (S. XXXII) stehend. Alles in allem schafft sich hier der sonst in seinen B e o b a c h t u n g e n eher n ü c h t e r n e Realist den Mythos eines arkadischen Galiziens unter der deutschösterreichischen Regierung. Erst die Verfassungsära 1867 habe alle die Übel, u n t e r d e n e n Galizien leidet, zustandegebracht. Dabei vergißt Franzos seine eigenen, schonungslos kritischen Darstellungen des Elends, der Unwissenheit des Volkes, der korrumpierten Justiz Galiziens der Vormärzzeit. Auf d e m in politischer Hinsicht längst ü b e r w u n d e n e n A u f k l ä r u n g s g e d a n k e n beharrend, vermag er die Entwicklung des Natio-
D i e P r o b l e m a t i k d e s d e u t s c h - s l a w i s c h e n K o n k u r r e n z k a m p f e s bei Karl E m i l F r a n z o s
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nalbewußtseins unter den Nationalitäten der Habsburgermonarchie in der zweiten Hälfte des 19. J a h r h u n d e r t s nicht zu begreifen u n d nicht zu akzeptieren. Er erklärt, er finde die Idee der Nationalität herrlich, aber d e m Vielvölkerstaat Österreich würde dieses Prinzip z u m Unheil gereichen — eine übrigens richtige Prognose —, d e n n wie seine von d e m f e h l e n d e n Verständnis f ü r die gegenwärtige Lage zeugende B e g r ü n d u n g lautet: „Um die nationale Idee klar u n d makellos zu erfassen, dazu sind die Völker des Ostens noch zu wenig kultiviert, noch zu unfertig ( . . . ) " (S. XXXV). Z u m Schluß dieser A u s f ü h r u n g e n beschäftigt sich Franzos mit d e m nationalen Spannungsfeld in Galizien u n d gibt den Lesern das Bild der drei u n t e r d e m „polnischen Joch" d a r b e n d e n Nationalitäten der R u t h e n e n , D e u t s c h e n und J u d e n . Er n e n n t Polen, o h n e sich dabei etwa auf Ostgalizien zu beschränken, eine „nationale Minorität" im Land, was d e m historischen Sachverhalt nicht entspricht 3 6 , u m auf diese Weise den Eindruck der Ungerechtigkeit der polnischen Verwaltung im a u t o n o m e n Galizien zu verstärken. Im Hinblick auf das deutsche E l e m e n t stellt er mit Bedauern dessen Rückgang fest. Die R u t h e n e n betrachtet er als widerstandsfähiger, aber infolge der falschen Politik Österreichs seien auch sie Patrioten geworden und g e h e n „dem moskowitischen Beelsebub" auf den Leim. N o c h einmal betont Franzos, daß er das Verhängnis der O s t j u d e n darin sieht, daß sie nicht m e h r das Deutsche, sondern das Polnische als Verkehrssprache erlernen, u n d er faßt die auf der politischen B ü h n e n e u e Erscheinung des Z i o n i s m u s als eine beklagenswerte Folge des Verschwindens der d e u t s c h e n Bildung u n t e r den J u d e n auf. Mag dieses Bild in bezug auf das polnisch-ruthenische Kräfteverhältnis u n d die benachteiligte Lage der J u d e n (aber die letztere keineswegs n u r in Galizien) einige wesentliche Merkmale der damaligen Wirklichkeit wiedergeben, der einseitig-parteiische Blick des Verfassers ist nicht zu verkennen. Er pocht auf die Rechte der nichtpolnischen ethnischen G r u p p e n in Galizien, nicht damit sie Selbständigkeit erlangen, sondern damit der deutsche Einfluß wieder geltend gemacht wird. Die in diesem publizistisch gefärbten Text direkt ausgedrückten nationalen A n s c h a u u n g e n des Franzos h a b e n wir f r ü h e r a n h a n d seiner belletristischen Beiträge verfolgt, wo sie mit Hilfe der dargestellten Struktur der Texte z u m Vorschein kamen. Z u m Teil erfolgte ihre G e s t a l t u n g aus d e m Mitteilungswillen des Schriftstellers, z u m Teil wurde sie aber zu e i n e m u n b e w u ß t e n Ausdruck seiner G r u n d h a l t u n g .
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Zusammenfassung In der deutschsprachigen Belletristik zur nationalen Problematik Galiziens lassen sich drei T h e m e n k r e i s e unterscheiden, in deren R a h m e n die A u t o r e n zu den Problemen Stellung n e h m e n : der polnische Unabhängigkeitskampf in Galizien a n h a n d der Ereignisse des Winters 1846 (gelegentlich des Revolutionsjahres 1848), die ukrainische Frage und der K o n k u r r e n z k a m p f zwischen d e m einheimischen, polnischen bzw. slawischen u n d d e u t s c h e n E l e m e n t auf galizischem Boden, der sowohl auf der politischen als auf der kulturellen E b e n e verlief. In der außerliterarischen Wirklichkeit Galiziens war das erstgenannte Problem n u r zu Anfang der b e h a n d e l t e n Zeitspanne ein akutes. Spätestens nach 1867, als sich infolge der österreichischen Niederlagen von 1859 u n d 1866 auch die innenpolitische Lage änderte, gaben die galizischen Polen vorläufig die Versuche auf, durch Gewalt ihren Staat wiederherzustellen. Die ukrainische Frage taucht in derselben Zeit auf u n d findet ihren politischen Ausdruck seit dem Jahre 1848. Nach 1867 b e k o m m t sie i m m e r schärfere K o n t u r e n und besteht solange wie Galizien selbst, ja länger sogar, d e n n der ukrainische Nationalkampf wird auch nach d e m Ersten Weltkrieg fortgesetzt. Schließlich erscheint die Problematik des politisch-kulturellen K a m p f e s zwischen d e m d e u t s c h e n und d e m eiheimischen E l e m e n t in Galizien gleich nach der G r ü n dung dieser Provinz u n d bleibt bis 1848 eine akute, dann aber nach der Zwischenphase der Reaktionsjahre wird sie nach 1867 zugunsten des polnischen E l e m e n t s entschieden. W e n n wir u n s n u n die Frage stellen, inwiefern die u n t e r s u c h t e Literatur diesen Tatsachen R e c h n u n g trägt, so m ü s s e n wir einige Verschiebungen feststellen. Das T h e m a des polnischen Befreiungskampfes erscheint tatsächlich als ein diskontinuierliches, es verschwindet mit der Zeit aus d e m Blickfeld der Schriftsteller, n u r vollzieht sich dieser Prozeß mit einiger Verspätung, da seinen Abschluß die zwei Erzählungen von Marie von Ebner-Eschenbach markieren, die erst 1883 veröffentlicht wurden. Es ist etwas schwierig, diesen T h e menkreis mit den zwei anderen zu vergleichen, da wir es im Falle des erstgen a n n t e n mit einer größeren G r u p p e von A u t o r e n und bei den übrigen n u r mit einzelnen Verfassern zu tun haben, aber solange wir u n s auf das u n t e r s u c h t e Material beziehen, dürfen wohl einige g e m e i n s a m e Maßstäbe a n g e w e n d e t werden. Mit dieser E i n s c h r ä n k u n g läßt sich ü b e r das T h e m a der ukrainischen nationalen Bestrebungen in Galizien im W e r k e von Sacher-Masoch und Κ. E. Franzos feststellen, daß es in ihrem Schaffen d e m historischen Sachverhalt gemäß als ein kontinuierliches, in ihren W e r k e n über Galizien in allen Schaffensphasen v o r h a n d e n e s auftaucht. Es sei noch am Rande bemerkt, daß zwar kein belletristischer A u t o r außer diesen beiden ausfindig gemacht werden konnte, der dieses Problem aufgreifen würde, daß aber eine wertvolle Ergänzung zu seiner Erfassung etwa für die Zeit von 1885—1915 die deutschsprachigen publizistischen Beiträge des ukrainischen Dichters u n d Revolutionärs Ivan Franko
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bilden 37 . Im Umkreis des Schaffens zum T h e m a der deutsch-polnischen Konkurrenz in Galizien, das gleichzeitig das T h e m a der deutschen Sendung im Osten vertritt, läßt sich nur ein schöngeistiger Autor, und zwar Κ. E. Franzos nennen. In seinem Werk bleibt dieses Problem eine konstante G r u n d k o m p o nente, es wird also als ein kontinuierliches betrachtet. Man m u ß sogar feststellen, daß er desto stärker die verlorenen Positionen zu verteidigen sucht, je entschiedener der Sieg des einheimischen Elements wurde. Man m u ß dabei erwähnen, daß gerade dieser Themenkreis im R a h m e n der Galizienliteratur die D o m ä n e nicht so sehr der Belletristik wie der publizistisch-autobiographischen Literatur ist, in der der G e d a n k e der deutschen Kulturmission in Galizien schon mit der ersten Veröffentlichung auf diesem Gebiet über die neuerworbene Provinz, den Briefen über den itzigen Zustand von Galizien von Franz Kratter (1786) auftaucht, und innerhalb der uns interessierenden Zeitspanne als Grundprinzip ζ. B. der Skizzensammlung Aus Galizien ( 1851) von Wilhelm Zerboni di Sposetti 38 fungiert. In der Belletristik wird dieses T h e m a nach Karl Emil Franzos erst um die Zeit des Ersten Weltkrieges im Schrifttum der Galiziendeutschen, z. B. in der Erzählung von Friedrich Rech Zurückgefunden39 wieder auftauchen, wo es aber einer völlig veränderten Lage Rechnung trägt, weil es die deutsche Minorität von der Polonisierung warnt. Zwar kommt dieses T h e m a bereits in der Erzählung von Franzos Wladislaw und Wladislawa vor, aber in Franzos' Gesamtschaffen wird das deutsche Element noch als das expansive und offensive dargestellt. Mit der Zeit m u ß es eine defensive Position e i n n e h m e n , was zahlreiche Beiträge der Galiziendeutschen aus den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck bringen. Den nächsten Schritt innerhalb dieser Kapitelsynthese soll der Versuch bilden, das schriftstellerische Anliegen und den symptomatischen Wert der Werke, die Funktion des Galizienthemas und den potentiellen Adressaten der Texte aus dem Bereich der drei besprochenen Themenkreise zu erschließen. Dabei m u ß zwischen der intendierten u n d nicht intendierten Wirkung der Texte unterschieden werden. Man m u ß somit beachten, inwiefern die erschlossene nationale Haltung der Verfasser als ein Bestandteil der mitgeteilten Struktur der Texte aufzufassen ist u n d sich auf ihre Absicht zurückführen läßt, inwiefern aber sie sie als Symptom von bestimmten Bewußtseinsprozessen erscheint. Es ist kennzeichnend, daß die meisten der besprochenen Autoren eine negative Stellung z u m polnischen Aufstand des Jahres 1846 beziehen. Auf die polnische Freiheitserhebung 1830/31 reagierte ja die deutschsprachige Literatur bekannterweise mit Begeisterung, wovon die ganze Flut von „Polenliedern" zeugt. Auf die innenpolitischen G r ü n d e jenes P h ä n o m e n s kann hier nicht eingegangen werden. Der Unterschied zwischen den Reaktionen auf den Novemberaufstand u n d der Beurteilung der galizischen patriotischen Bewegung des Jahres 1846 läßt sich mit zwei Tatsachen erklären: Erstens handelt es sich zum ersten Mal u m einen polnischen Aufstand, der sich nicht gegen Rußland, sondern vor allem gegen Österreich, also einen der deutschen Staaten
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wendet 40 . Und zweitens stammen die meisten der berücksichtigten Texte aus der Zeit nach 1848, als die deutsche Literatur, der politischen Entwicklung folgend, dem bürgerlichen Liberalismus der Vormärzzeit abschwor. Allerdings stammen drei unserer Belegbeispiele aus den Jahren 1846—1848, was bedeutet, daß in ihrem Falle der zweitgenannte Grund nicht in Frage kommt. Die liberalistische Grundhaltung läßt sich deutlich in zwei Werken bemerken: im Roman Der Spion von Groß-Hoffinger und in Die Polengräber von Messenhauser. Trotz dieser ideologischen Gemeinsamkeiten ist die Einstellung der beiden österreichischen Autoren zur Polenfrage eine unterschiedliche: Messenhauser ist der Einzige, der in einem schöngeistigen literarischen Werk sein Verständnis und seine Sympathie für das polnische Freiheitsstreben zum Ausdruck bringt (eine ähnliche Einstellung ist bei Konstant von Wurzbach feststellbar, aber in den Werken, die nicht in das Forschungsfeld dieser Arbeit gehören). Groß-Hoffinger spricht hingegen den Polen das Recht zum Kampf um die Wiederherstellung ihres Staates ab und verweist sie auf allgemeinmenschliche Ideale, an deren Realisierung sie seines Erachtens mitarbeiten sollten. Man kann diesen Unterschied mit zwei Tatsachen zu erklären versuchen. Erstens ist Groß-Hoffinger ein vorbehaltloser Anhänger des Josephinismus und sieht wahrscheinlich in dem Gedanken der deutschen Kultursendung im Osten etwas Positives. Bei Messenhauser sind solche Sympathien nicht vorhanden, er vertritt eindeutig demokratische Anschauungen. Zweitens weiß Messenhauser als Augenzeuge der blutigen Vorfälle in Galizien 1846, für die er sich interessiert haben mußte, viel genauer Bescheid als Groß-Hoffinger, der vornehmlich seine Phantasie walten läßt und darin ein Ergebnis rätselhafter Verschwörungen und Komplotte von außen vermutet. Die Konzeption Groß-Hoffingers zeigt eine weitgehende Verwandtschaft mit der These des Romans Der Schatz des letzten Jagellonen von Häberlin, der jedoch die Aufforderung an die Polen, anstatt des engen nationalen Ideals das breite humanistische zu setzen, wohl nur als ein Mittel verwendet, ihnen den Schutz des preußischen Staates anzubieten. Sein Roman ist eine Apotheose Preußens und eine Einladung an die vornehmlich nicht galizischen, sondern die von diesem Staat annektierten Provinzen bewohnenden Polen, sich in dieses „große Ganze" einzufügen. Diese pragmatische Zielsetzung läßt sich nicht bei Groß-Hoffinger feststellen, der alle Staaten im vormärzlichen Europa ziemlich kritisch einschätzt und dessen positive Lösung unverkennbare Züge einer Utopie trägt. Die politische Grundhaltung Häberlins als des einzigen preußischen Verfassers unter den behandelten Autoren ist durchaus verständlich. Wenn man die galizischen und Krakauer Episoden des Romans Soll und Haben von Gustav Freytag (1855) dazu heranziehen würde, mit dessen Geringschätzung des Aufstandes und Verachtung für seine Teilnehmer, die zur bewußten Verdrehung der Tatsachen führen mußte, so könnte man vielleicht von einer spezifisch preußischen Sicht der Ereignisse des galizischen Winters 1846 sprechen, die sich in einer besonderen anthropologischen Einstellung zu ihren Trägern ausdrückt, aber die geringe Anzahl der Belegbeispiele gebietet Vorsicht mit solchen Verallgemeinerungen.
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Schließlich die zwei späteren österreichischen A u t o r e n , die sich zu diesem T h e m a äußern, Leopold von Sacher-Masoch-Junior u n d Marie von EbnerEschenbach verfügen über eine größere zeitliche Distanz, die ihnen erlaubt, d e n polnischen A u f s t a n d als Vergangenheit zu betrachten u n d somit u n b e f a n gener auf die polnischen A n g e l e g e n h e i t e n zu schauen. Die beiden vertreten ideologisch den gleichen Standpunkt wie der Historiograph Sala, und zwar den der V e r s ö h n u n g zwischen den galizischen Polen u n d der Monarchie. Sie käme zustande, w e n n die Polen die Zugehörigkeit z u m Habsburgerreich akzeptierten u n d zu loyalen Staatsbürgern w ü r d e n u n d die Monarchie ihnen dafür die freie E n t f a l t u n g ihres nationalen Lebens gewährte. Dies ist die Richtung, die in der Verfassungsära tatsächlich eingeschlagen wurde. So ist das Anliegen der mitgeteilten Struktur bei den beiden A u t o r e n das Lob der H a b s b u r g e r m o n a r chie u n d die A u f f o r d e r u n g z u m Ausgleich der Gegensätze. W e n n m a n ihre A u s f ü h r u n g e n mit d e n e n aus den vierziger Jahren vergleicht, m u ß m a n zwar eine größere emotionelle Ausgewogenheit, aber in bezug auf die historische Situation das Erliegen der L e g e n d e n b i l d u n g b e m e r k e n . Dazu gehört vor allem der Mythos von d e m getreuen galizischen Bauern, der d e m von den Polen bedrängten Österreich zu Hilfe eilt. Dieses Bild geht zwar auf einen beträchtlichen Teil der publizistisch-dokumentarischen Literatur zurück, aber es wurde von den Verfassern ü b e r n o m m e n , weil es in ihre G e s a m t k o n z e p t i o n hineinpaßte. D e m s e l b e n Ziel ist das ideale Bild Österreichs, das Sacher-Masoch schafft, u n t e r g e o r d n e t . So wirken die analysierten T e x t e der beiden A u t o r e n als Indikator für diejenige G r u n d h a l t u n g , die für ein friedliches Z u s a m m e n l e ben der Völker im Habsburgerreich optierte u n d den Mythos des idealen Staates Österreich schuf. Die zeitliche Zäsur, die die Texte von Groß-Hoffinger, Häberlin u n d Messenhauser von d e n e n von Sacher-Masoch u n d von der E b n e r - E s c h e n b a c h trennt, b e d e u t e t gleichzeitig ihre Aufspaltung in die Werke mit einer direkten, m e h r oder weniger pragmatischen Zielsetzung u n d o h n e eine solche. Die drei e r s t g e n a n n t e n A u t o r e n w e n d e n sich sowohl durch ihre auktorialen Erzähler als auch durch die Romangestalten an die Polen mit b e s t i m m t e n E m p f e h l u n gen und Appellen, wobei n u r bei M e s s e n h a u s e r die Überlegungen sowohl bewußt im Interesse der polnischen Nation angestellt werden als auch tatsächlich solche F u n k t i o n erfüllen. Für G r o ß - H o f f i n g e r ist das galizische Beispiel n u r ein Paradigmafall für die politisch-gesellschaftliche Entwicklung in Europa, und er bedient sich dieses Stoffes, u m bei seinen Lesern f ü r seine eigenen Ideale zu agitieren u n d das bisherige Staatssystem in Europa anzugreifen. Bei Häberlin handelt es sich u n v e r h o h l e n u m das preußische Staatsinteresse. Alle drei Verfasser wollen vor allem ü b e r z e u g e n u n d zur b e s t i m m t e n Stellungnahme bewegen, erst sekundär k o m m t es auf die I n f o r m i e r u n g bzw. U n t e r h a l t u n g des Lesers an. V o n e i n e m kognitiven Anliegen, das d e m agitatorischen untergeordnet ist, kann m a n eigentlich n u r bei M e s s e n h a u s e r sprechen, der ein getreues Zeugnis des Erlebten u n d E r f a h r e n e n zu geben b e m ü h t ist, wobei er die perspektivierende Rolle seines Standorts als P o l e n f r e u n d anerkennt. Bei
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Groß-Hoffinger und Häberlin kann man zweitrangig von der ludischen Funktion der Werke sprechen, die zur Unterstützung des pädagogischen Aussagegehaltes der Texte eingesetzt wird. Der Vorrang der pragmatischen Funktionen ist für die Literatur der Vormärzzeit typisch, die sich vor allem als ein Mittel zur Umgestaltung der Wirklichkeit betrachtete. Diese Wirkung wurde durch alle drei Autoren intendiert. Dagegen kommt bei Sacher-Masoch und bei der Ebner-Eschenbach vor allem die kognitiv-informative Funktion zur Geltung, während die ästhetische Grundfunktion auch deutlicher als bei den obengenannten Vormärzautoren auftritt. Das Bekenntnis der beiden späteren Autoren zur Habsburgermonarchie steht im Einklang mit der politischen Entwicklung in ihrem Staat, darunter auch in Galizien, so brauchen sie keine direkte Werbung zu betreiben. So verläuft ihre Stellungnahme für eine bestimmte Grundhaltung der österreichischen Staatsbürger viel diskreter, in den Hintergrund verschoben. Diese zwei Verfasser schildern die dargestellte Welt ihrer Werke im Rahmen der literarischen Konvention des bürgerlichen Realismus, manchmal zum verklärenden poetischen Realismus gemildert, manchmal aber bei Sacher-Masoch mit Anflügen einer naturalistischen Darstellungsweise. Das Lesepublikum aller behandelten Autoren war natürlich das deutschsprachige Publikum. Deshalb bleibt, auch wenn der Text ab und zu sich explizite an die Polen wendet, der deutsche Leser der potentielle Adressat der Veröffentlichungen. Bei den zwei letztgenannten Autoren scheinen die Texte besonders auf ein österreichisches Publikum angelegt zu sein. In den Werken von Sacher-Masoch und von Marie Ebner-Eschenbach wird die polnische Problematik der österreichischen Idee untergeordnet. Diese Grundkomponente läßt sich sowohl als ein intendiertes Anliegen der Texte als auch als eine zum Teil unbewußt idealisierende Gestaltung ihrer dargestellten Struktur beobachten. Die Texte von Groß-Hoffinger, Häberlin und Messenhauser wenden sich an den deutschen Bürger der Vormärzzeit, den sie primär überzeugen und zu bestimmten Stellungnahmen bewegen wollen. Die Informierung des Adressaten wird dem pragmatischen Anliegen der mitgeteilten Struktur untergeordnet. Die nationale „Wiedererweckung" des ukrainischen Volkes in Galizien in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts und der seit 1848 immer stärker ausgeprägte Kampf dieser Nationalität um die gleichen Rechte mit den galizischen Polen werden durch die beiden galizischen „Hauptautoren", Sacher-Masoch und Franzos, zum Ausdruck gebracht. Sacher-Masoch konzentriert sich häufiger auf die früheren Phasen der Bewegung, in denen es sich vor allem um die kulturelle und sprachliche Absonderung handelt, während Franzos mehr das Leben der Ruthenen in der Verfassungsära schildert und das Problem als ein politisches auffaßt. Die beiden Autoren behandeln die Bemühungen des ukrainischen Volkes wohlwollend und stellen sich im Streit der beiden Nationalitäten auf die Seite der Ruthenen. Beide betrachten die ukrainischen Staatsbürger der Monarchie als loyale und getreue Anhänger dieses Staates, nur bemerkt Franzos, der sich eben auf eine spätere Zeitspanne bezieht, daß diese
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Loyalität brüchig zu werden anfängt. Er sieht darin ein Ergebnis der falschen Innenpolitik Österreichs, das vor allem die Polen als die stärkste Nationalität in Galizien zu gewinnen gesucht und ihnen die Ukrainer, nach der Auffassung von Franzos, ausgeliefert hat. Franzos betrachtet die Polen als „Erbfeinde" der R u t h e n e n und sucht die letztgenannten zu überzeugen, daß sie z u s a m m e n mit den galizischen J u d e n eine Einheitsfront der Unterdrückten gegen die polnische Vorherrschaft bilden sollten (Texte wie Jüdische Polen, Der Richter von Biala oder Moschko von Parma). Sacher-Masoch dagegen treibt die Angelegenheit dieses Antagonismus nie auf die Spitze; seine Darstellung der nationalen Bewußtwerdung der R u t h e n e n trägt meist humoristische Züge, wobei er sie mit viel Sympathie betrachtet. U n d in Sascha undSaschka, seinem wichtigsten Text aus diesem Themenbereich, drückt er die H o f f n u n g auf die Überwindung des Konflikts und Versöhnung der Gegensätze zwischen den beiden Völkern innerhalb des habsburgischen Universalstaates aus. W e n n man die Texte von Sacher-Masoch und von Franzos aus dem ukrainischen Themenkreis auf ihre Zielsetzung und ihren potentiellen Leser hin untersucht, fällt als der wesentlichste Unterschied das Übergewicht des pragmatisch-pädagogischen Anliegens bei Franzos auf, während bei Sacher-Masoch die ästhetische u n d kognitive Funktion die Oberhand gewinnen. Beide schreiben für deutschsprachige Leser u n d wollen sie über das exotisch a n m u t e n d e Volk der R u t h e n e n informieren und es ihnen sympathisch machen. Aber Franzos sucht dabei seine Leser gegen die Polen e i n z u n e h m e n , w e n n er sie den R u t h e n e n in einer abscheulichen Karikatur gegenüberstellt und sie überdies bezichtigt, seit J a h r h u n d e r t e n an ihrem Elend selbst schuld zu sein. Damit hat Franzos beträchtlichen Anteil an der Schaffung des abstoßenden Polenbildes in der deutschsprachigen Literatur nach 1848. Gleichzeitig wurde sein Werk von solchen Vorstellungen über die Polen beeinflußt — er prägte sie weiter u n d wurde gleichzeitig von ihnen geprägt. Deshalb kann man sein Polenbild u n d dessen Gegenüberstellung dem viel positiveren Bilde der R u t h e n e n als einen Indikator für die Haltungen der Deutschen nach 1870 gegenüber den Polen betrachten. Seine Texte sind viel stärker auf den deutschen als auf den österreichischen Leser angelegt, weil der deutsche Staat viel stärker als die Habsburgermonarchie sein Bezugspunkt und Leitbild zugleich ist. Trotzdem versucht Franzos sich mit einem publizistischen Anliegen in der ukrainischen Frage an die österreichischen Behörden zu wenden — er möchte die Wiener Regierung überzeugen, daß sie in der nationalen Innenpolitik in Galizien einen falschen Weg eingeschlagen habe. Sacher-Masoch vermeidet solche Stellungnahmen und krasse Gegenüberstellungen der Völker der Monarchie. In seiner Schilderung des ukrainischen Bauern und Landadligen ist er viel weniger kritisch als Franzos, der trotz seiner Sympathie für die Ukrainer auch ihre negativen Züge unbeschönigt zum Ausdruck bringt und nur dadurch seine Kritik mildert, daß er mit der Verantwortung für diesen Sachverhalt die Polen belastet. Sacher-Masoch ukrainische Erzählungen weisen eine unbeschwerte Fabulierfreude auf, zeugen von dem Vergnügen des Schriftstellers am Aufrol-
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len des b u n t e n Volkslebens mit seiner Folklore. Er will zuerst den Leser erf r e u e n und u n t e r h a l t e n u n d dann erst informieren, während Franzos in diesen T e x t e n zuerst als Agitator auftritt, dann erst informiert und zuletzt an ästhetisches V e r g n ü g e n des Lesers denkt. Deshalb ist der Realismus ein kritischerer, weiter ausholenderer, während bei Sacher-Masoch innerhalb dieses T h e m e n kreises das Idyllische u n d der verklärende Blick der traditionellen Regionalliteratur deutlich b e m e r k b a r sind. Z u m Schluß der A u s f ü h r u n g e n über die nationale Problematik Galiziens sei versucht, die Frage des Wettstreites zwischen d e m deutschen und d e m slawischen E l e m e n t bei Franzos synthetisch zu erfassen. Franzos widmet seinen ganzen sechsbändigen „halb-asiatischen" Zyklus d e m G r u n d g e d a n k e n von der Notwendigkeit der Zivilisierung des Ostens, f ü r den bei ihm ca. in der Hälfte der Texte Galizien steht, als die Provinz, die er n e b e n der Bukowina am besten kennt. Seines Erachtens habe gerade die deutsche Kultur und die deutsche Nation diese zivilisatorische S e n d u n g zu erfüllen. Somit stellt er sich ideologisch in die N ä h e der preußischen oder bereits d e u t s c h e n Verfasser, die in den G r ü n d e i j a h r e n mit d e m A u f r u f zur Erfüllung der d e u t s c h e n Kulturmission im Osten der Expansionspolitik das Wort reden. Solche politischen Folgen gehören allerdings nicht zu den intendierten Zielen von Franzos. Symptomatisch ist, daß sich der Schriftsteller von der damaligen Staatsräson Österreichs entfernt, in deren R a h m e n das F i n d e n eines friedlichen „ m o d u s vivendi" mit den slawischen Völkern der Monarchie notwendig war. Franzos kämpft u m die Verbreitung des d e u t s c h e n Einflusses in Galizien, weil es seiner M e i n u n g nach des Heilsamste f ü r die Slawen und O s t j u d e n wäre, u n d somit tritt er gegen die Selbständigkeit u n d Unabhängigkeit der slawischen Völker auf, die nach seiner A u f f a s s u n g keineswegs z u m nationalen Eigenleben reif seien. Es kennzeichnet seine nationale G r u n d h a l t u n g , die er mit vielen seiner deutschen Zeitgenossen teilt, wie v e h e m e n t er sich gegen die polnische Herrschaft in Galizien wendet. Er betrachtet die polnische Verwaltung der slawischen Provinz als eine unberechtigte Minoritätsherrschaft. Aber die Herrschaft der d e u t s c h e n Minorität in diesem Lande würde er vorbehaltlos akzeptieren, d e n n darin würde er das W o h l der einheimischen Bevölkerung erblicken. Gleichzeitig b e f ü r c h t e t er den Sieg der zaristischen panslawischen Propaganda u n t e r den galizischen Ukrainern als Folge der falschen Nationalpolitik Österreichs. Er sucht die A u f m e r k s a m k e i t der B e h ö r d e n darauf zu lenken primär nicht im Interesse des Habsburgerstaates, sondern im Hinblick auf das europäische Kräfteverhältnis zwischen den beiden deutschsprachigen Ländern und Rußland. Ein in der Zeit nach d e m österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867 n e u e s Problem, das in einigen T e x t e n von Franzos deutlich wird, ist der Rückgang des D e u t s c h t u m s in den östlichen Kronländern der Monarchie. SacherMasoch ist ein Sänger Altösterreichs, der von der Eintracht und H a r m o n i e im Vielvölkerstaat träumt. Franzos hat bereits andere G r u n d s ä t z e : Er ist für die strenge U n t e r o r d n u n g des slawischen E l e m e n t s unter das deutsche. Ein Öster-
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reich, das solches Kräfteverhältnis nicht d u r c h z u s e t z e n u n d aufrechtzuerhalten vermag, sagt ihm nicht zu. So wendet er sich i m m e r m e h r von der Habsburgermonarchie ab u n d D e u t s c h l a n d zu, dessen Stärke u n d Macht ihn fasziniert und dessen Politik er falsch deutet. Trotz seiner einseitigen u n d parteiischen Ansichten bleibt Franzos seinem schriftstellerischen Anliegen nach ein Verfechter der H u m a n i t ä t . Aber seine ideologische Konzeption bringt ihn in die gefährliche N ä h e des d e u t s c h e n Nationalismus und der Kulturkampfpolitik. Man m u ß sich dessen bewußt sein, daß Franzos u n g e f ä h r ein Vierteljahrhundert lang zu den beliebtesten d e u t s c h e n Schriftstellern gehörte. W e n n m a n die vielen Ausgaben seiner W e r k e bedenkt und in Betracht zieht, daß die meisten dieser Texte zuerst in der Presse erschienen, was ihren Wirkungskreis wesentlich vergrößerte, so m u ß m a n ihn als Mitschöpfer und Mitfestiger des „halbasiatischen" Mythos von der Unterlegenheit des slawischen Rasse betrachten. Dies geschah wahrscheinlich o h n e Absicht des Verfassers, der — von d e m G e danken der d e u t s c h e n K u l t u r s e n d u n g im Osten beseelt — seiner slawischen Bevölkerung helfen wollte, ein h ö h e r e s Zivilisationsniveau zu erreichen, und der n u r gewisse Mißstände zu kritisieren gewillt war, damit sie beseitigt werden k o n n t e n . Die Prägung eines b e s t i m m t e n Polen-, Russen- oder R u m ä n e n b i l d e s in der dargestellten Struktur seiner T e x t e m u ß t e allerdings solche Folgen haben, o h n e daß sie der A u t o r in der mitgeteilten Struktur bewußt intendiert hätte. Franzos selbst war sich der Fiktionalisierung seines G e g e n s t a n d s durch die perspektivisierende Rolle seines historischen u n d politischen Standorts nicht bewußt. Er bezeichnet sich in seinen Vorreden i m m e r wieder als den objektiven, u n v o r e i n g e n o m m e n e n , unparteiischen Schilderer der Wahrheit. So kann m a n in seinen W e r k e n u. a. einen unbeabsichtigten Ausdruck der Bewußtseinslage von Franzos u n d von seinen Zeitgenossen sehen, die die spätere Rezeption im Zeichen eines antislawischen Nationalismus ermöglichte.
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Anmerkungen zum Kapitel 1 1
Die B e z e i c h n u n g „ G a l i z i a n e r " u m f a ß t in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g d i e j e n i g e n d e u t s c h s p r a c h i g e n S c h r i f t s t e l l e r , d i e a u s G a l i z i e n s t a m m t e n . D i e s e s W o r t wird in d e r v o r l i e g e n d e n A r b e i t in d e r B e d e u t u n g „die B e w o h n e r G a l i z i e n s " a n s t a t t d e s W o r t e s „ G a l i z i e r " v e r w e n d e t , weil alle d a r i n b e h a n d e l t e n s c h ö n g e i s t i g e n A u t o r e n sich d e s S u b s t a n t i v s „ G a l i z i a n e r " u n d n i c h t „ G a l i z i e r " b e d i e n e n . Es sei a u c h e r w ä h n t , d a ß n o c h 1982 in W i e n ein B u c h v o n Eva D e u t s c h u n d Brig i t t e S c h w a i g e r h e r a u s g e g e b e n w u r d e , d a s d e n T i t e l Die GalizianerinUägl. An diesen Sprachgeb r a u c h l e h n e ich m i c h a n .
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D e r v o n d e r P a r i s e r E m i g r a t i o n g e p l a n t e u n d v o n i h r e n E m i s s ä r e n in a l l e n T e i l e n d e s g e t e i l t e n P o l e n s v o r b e r e i t e t e A u f s t a n d s e t z t e sich die n a t i o n a l e u n d s o z i a l e B e f r e i u n g d e s L a n d e s z u m Z i e l , sollte a l s o d e n C h a r a k t e r e i n e r R e v o l u t i o n h a b e n . In G a l i z i e n s o l l t e n d i e B a u e r n v o n d e r F r o n a r b e i t b e f r e i t w e r d e n u n d d e n v o n i h n e n b e n u t z t e n B o d e n als E i g e n t u m b e k o m m e n . D i e a d l i g e n T e i l n e h m e r d e r B e w e g u n g g l a u b t e n j e d o c h , d a ß es r e i c h t , w e n n d e r B a u e r d a v o n im M o m e n t d e s A u s b r u c h s d e s A u f s t a n d e s e r f a h r t . A u c h w a r e n n i c h t alle m i t d i e s e m g e s e l l s c h a f t l i c h e n Ziel d e r E r h e b u n g e i n v e r s t a n d e n . D i e i n f o l g e d e s f e u d a l e n D r u c k s e r b i t t e r t e n u n d m i ß trauischen Bauern wurden von den galizischen Lokalbehörden zusätzlich gegen den Landadel a u f g e w i e g e l t , da Ö s t e r r e i c h an d e r V e r s c h ä r f u n g d e s g e s e l l s c h a f t l i c h e n K o n f l i k t s i n t e r e s s i e r t w a r . D e r A d e l v e r t r a t j a v o r w i e g e n d d i e p o l n i s c h e p a t r i o t i s c h e G e s i n n u n g , u n d es w a r w i c h t i g f ü r die T e i l u n g s m a c h t , d a ß er d i e B a u e r n n i c h t f ü r sich g e w a n n . S o k a m es d a z u , d a ß die B a u e r n a u f d e n A u s b r u c h d e s p o l n i s c h e n A u f s t a n d e s in W e s t g a l i z i e n in d e r N a c h t v o m 18. z u m 19. F e b r u a r 1846 m i t b e w a f f n e t e m W i d e r s t a n d r e a g i e r t e n . A m n ä c h s t e n T a g w u r d e n die g e f a n g e n e n u n d t o t g e s c h l a g e n e n A u f s t ä n d i s c h e n v o n d e n B a u e r n a u f d a s K r e i s a m t in T a r n ó w g e b r a c h t . D e r K r e i s h a u p t m a n n B r e i n l , d e r s c h o n f r ü h e r die B a u e r n g e g e n d e n „ r e b e l l i e r e n d e n " Adel a u f g e h e t z t hatte, lobte n u n die Staatsloyalität des Landvolks, verteilte G e l d u n d S c h n a p s an sie u n d so s t ä r k t e e r sie in d e r M e i n u n g , d a ß d i e B e h ö r d e n e i n e G e n e h m i g u n g z u r E r m o r d u n g i h r e r G r u n d h e r r e n g a b e n . E i n e W o c h e l a n g m o r d e t e n , v e r p r ü g e l t e n u n d b e r a u b t e n die B a u e r n im Bezirk T a r n ó w u n d in e i n i g e n a n d e r e n w e s t g a l i z i s c h e n B e z i r k e n ( B o c h n i a , J a s t o ) A d l i g e u n d H e r r s c h a f t s b e a m t e , w o b e i die A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e n A u f s t ä n d i s c h e n n u r a l s V o r w a n d d i e n t e . I n f o l g e d i e s e r a n t i f e u d a l e n E r h e b u n g w u r d e n s c h ä t z u n g s w e i s e 400 G u t s h ö f e a u s g e p l ü n d e r t , 1500 M e n s c h e n e r s c h l a g e n u n d w e i t e r e 3000 ( r u n d g e r e c h n e t ) ins G e f ä n g n i s g e b r a c h t . D i e A d l i g e n s a h e n im g a l i z i s c h e n B l u t b a d e i n e n p o l e n f e i n d l i c h e n A k t d e r W i e n e r Regierung oder wenigstens der Lemberger Behörden. Nach d e m heutigen Stand der Geschichtsforschung s t i m m e n j e n e Urteile nicht. Mit der direkten Schuld an den V o r k o m m n i s sen kann m a n die I n d o l e n z des L e m b e r g e r L a n d e s g o u v e r n e u r s von Este u n d d e n g e d a n k e n l o sen Eifer Breinls u n d einiger a n d e r e r K r e i s h a u p t l e u t e belasten, aber der Verlauf der Vorfälle ü b e r r a s c h t e alle a g i e r e n d e n S e i t e n . D i e Basis d e r B a u e r n e r h e b u n g w a r d e r g e s e l l s c h a f t l i c h e A n t a g o n i s m u s zwischen d e n galizischen F r o n b a u e r n u n d d e m Landadel, o h n e diesen hätte die P r o p a g a n d a a r b e i t der B e a m t e n nicht gewirkt, aber d e n direkten A n l a ß z u m Blutbad gab die U n b e h o l f e n h e i t d e r L o k a l b e h ö r d e n , die sich a n d i e B a u e r n w a n d t e n u m bei i h n e n H i l f e g e g e n d e n p o l n i s c h e n A u f s t a n d z u s u c h e n . D i e s e r V e r s u c h , d i e b l u t i g e F a s t n a c h t 1846 in W e s t g a l i z i e n in g r o b e n Z ü g e n zu r e k o n s t r u i e r e n , s t ü t z t sich h a u p t s ä c h l i c h a u f die E i n l e i t u n g v o n S t e f a n K i e n i e w i c z z u : Rewotucja polska 1846 roku. Wybor ¿rodet, W r o c l a w 1950, vgl. S. 3—54.
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Vgl. Lexikon der deutschen Dichterund Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. B e a r b e i t e t v o n F r a n z B r ü m m e r , 6. A u f l . , L e i p z i g (o. J.), Bd. 5, S. 146. I m f o l g e n d e n wird d i e s e V e r ö f f e n t l i c h u n g als B R Ü M M E R b e z e i c h n e t w e r d e n . Vgl. B R Ü M M E R , Bd. 6, S. 374 f. F r a n c i s z e k Z i e j k a v e r w e n d e t d i e s e B e z e i c h n u n g in s e i n e r M o n o g r a p h i e Ziota legenda chlopów polskich, W a r s z a w a 1984, i n d e m e r s c h r e i b t , d a ß sich im H i n b l i c k a u f die g a l i z i s c h e n B a u e r n v o n 1846 u n d i h r e n F ü h r e r S z e l a e i n e s c h w a r z e L e g e n d e h e r a u s b i l d e t e . N e b e n d i e s e r v o n d e n A d l i g e n u n d d e r s c h ö n g e i s t i g e n p o l n i s c h e n L i t e r a t u r d e s 19. J a h r h u n d e r t s v e r b r e i t e t e n s c h w a r z e n L e g e n d e existierte j e d o c h von A n f a n g an u n t e r d e n Bauern die positive L e g e n d e ü b e r S z e l a als e i n e n H e l d e n , d e r d a s a r m e L a n d v o l k b e f r e i e n w o l l t e , vgl. S. 239 u n d 253.
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A n m e r k u n g e n z u m Kapitel 1 6
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In Galicja w lalach 1846—1848, Wroclaw 1950, schreibt Kieniewicz, daß sich u n t e r den Mitgliedern des K o m i t e e s „sogar der opferwillige Revolutionär, L e u t n a n t M e s s e n h a u s e r aus dem D e u t s c h m e i s t e r - R e g i m e n t " ( Ü b e r s e t z u n g — M.K.) b e f a n d . Sonstige A n g a b e n nach B R Ü M M E R , Bd. 4, S. 43 sowie nach dem Bio-bibliographischen Lexikon Österreichs von H a n s Giebisch u n d G u s t a v Gugitz, W i e n 1964 (im folgenden als G I E B I S C H - G U G I T Z bezeichnet). Vgl. „Acta Philologica", nr 4 (1972), S. 5 - 4 5 . A r n o n Gill, der Verfasser der M o n o g r a p h i e Die polnische Revolution ¡846. Zwischen nationalem Befreiungskampf des Landadels und antifeudaler Bauernerhebung (1974) berichtet a n h a n d der F o r s c h u n g e n von I. S. Narskij z u m N a c h l a ß D e m b o w s k i s , daß j e n e r seine ursprüngliche idealistische W e l t a n s c h a u u n g zu ü b e r w i n d e n bestrebt war u n d ü b e r den A t h e i s m u s eine konseq u e n t materialistische Einstellung erreicht h a b e n soll, vgl. S. 149. Krafft-Ebing stellte diese der damaligen W i s s e n s c h a f t noch u n b e k a n n t e Krankheit in seiner Psychopatia sexualis (1886) dar u n d prägte d a f ü r den Begriff „ M a s o c h i s m u s " . Als Beispiele kann m a n die Einleitung von E. J. Görlich zur e i n b ä n d i g e n Auswahl der W e r k e Sacher-Masochs im Stiasny-Verlag u. d. T. Dunkel ist dein Herz, Europa (1957) oder den essayistischen K o m m e n t a r des m o d e r n e n österreichischen Dichters u n d Kritikers R e i n h a r d F e d e r m a n n zu seiner A n t h o l o g i e von drei E r z ä h l u n g e n j e n e s Verfassers u. d. T. Sacher-Masoch oder die Selbstvernichtung (1961) n e n n e n . Polemisch dazu stellt sich schon im Titel Sacher-Masoch oder die bedrohte Normalität ( „ G e r m a n i c a Wratislaviensia", 1975) der Aufsatz des polnischen G e r m a n i s t e n Zbigniew Swiatlowski, der die F l u c h t dieses Schriftstellers in die Welt der wuc h e r n d e n Erotik sehr ü b e r z e u g e n d als dessen R e s p o n s auf die politisch-gesellschaftliche Lage nach der gescheiterten Revolution des Jahres 1848 a u s z u l e g e n sucht. F e r d i n a n d K ü r n b e r g e r sprach u n t e r d e m Eindruck der E r z ä h l u n g Don Juan von Kolomea (1864) von Sacher-Masoch die H o f f n u n g aus, d a ß mit diesem W e r k der Osten zu einer E r n e u e r u n g s quelle f ü r die d e u t s c h e Literatur wird. Z u Sacher-Masoch als B e g r ü n d e r des österreichischen N a t u r a l i s m u s vgl. E.J. Görlich, a.a.O., S. 17 f.
Vgl. Der Außenseiter als „Judenraphael". Zu den Judengeschichten Leopolds von Sacher-Masoch. In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, hrsg. v. H a n s Otto H o r c h u n d Horst Denkler, 2. Teil, T ü b i n g e n 1989, S. 261. Vgl. auch m e i n e A u s f ü h r u n g e n zu A n f a n g des Kap. 2.1. der vorliegenden Arbeit. 13 Vgl. Stefan Kieniewicz, Ruch chtopski w Galicji 1846 roku, Wroclaw 1951, S. 170 f. 14 Vgl. z. B. das W e r k v e r z e i c h n i s zu Leopold von S a c h e r - M a s o c h - J u n i o r in der a n g e f ü h r t e n Auswahl von J. E. G ö r l i c h , S. 124 f o d e r die Ü b e r l e g u n g e n von A r n o Will, a.a.O., S. 48. Will schreibt Sociale Schattenbilder d e m Senior im A u f s a t z Obraz Polki w niemieckiej literaturze XIX wieku, Prace Polonistyczne Uniwersytetu Lódzkiego", Folge XXV, Jg. 1969, auf S. 168 zu. 15 Z. B. in der Skizze Unser Deputirter schreibt Sacher-Masoch von den „russischen" anstatt von „ r u t h e n i s c h e n Bauern", u n d er erklärt in einer F u ß n o t e seinen Sprachgebrauch mit dem W u n s c h , die B e z e i c h n u n g „ R u t h e n e " , die sich eigentlich auf kirchliche Belange bezieht, zu v e r m e i d e n (vgl. Galizische Geschichten, Leipzig 1875, S. 58). In m a n c h e n späteren W e r k e n , so z. B. in der E r z ä h l u n g Im Schlitten (in: Polnische Geschichten, 1887) w e r d e n bereits Begriffe „kleinrussisch" u n d „Kleinrusse" verwendet. Beachtenswert ist auch, daß Sacher-Masoch in e i n e m Schreiben an das Blatt „ G a r t e n l a u b e f ü r Österreich" vom 14. N o v e m b e r 1866 sich selbst als einen „galizischen R u s s e n " b e z e i c h n e t . 16 Vgl. z. B. die S t e l l u n g n a h m e R e i n h a r d F e d e r m a n n s , a.a.O., S. 21, der d e n Don Juan von Kolomea, Ein Testament u n d Basil Hymen als die drei G r u n d p f e i l e r des Zyklus Das Vermächtnis Kains erwähnt, die b e s t e h e n bleiben: „Hätte Leopold von Sacher-Masoch nichts a n d e r e s geschrieben als diese drei R o m a n e , er w ü r d e h e u t e noch als einer der G r o ß e n gelten". 17 H e n r y k Batowski b e r e c h n e t die A n z a h l der r u t h e n i s c h e n G u t s h e r r e n in Ostgalizien auf 1,7%, u n d W o l f d i e t e r Bihl spricht von etwa z e h n t a u s e n d Familien des n i e d e r e n Adels, die sozial den Bauern gleichgestellt waren. Vgl. Die Habsburgermonarchie 1848—1918, hrsg. von A d a m W a n d ruszka u n d Peter U r b a n i t s c h , Bd. III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, S. 541 u n d 562. 18 Halitsch u n d Wladimir waren zwei F ü r s t e n t ü m e r im r o t r u t h e n i s c h e n Reich ( R o t r u t h e n i e n , Russia R u b r a ) , das u n t e r Wladimir d e m G r o ß e n im J a h r e 988 das C h r i s t e n t u m in der orienta-
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Z u r n a t i o n a l e n Problematik Galiziens
lisch-slawischen F o r m a n g e n o m m e n hatte. Nach s e i n e m T o d e unterlag das Reich infolge dynastistischer Erbstreitigkeiten a n d a u e r n d T e i l u n g e n , w u r d e von Bürgerkriegen h e i m g e s u c h t und zerfiel endlich in eine ganze R e i h e von kleinen F ü r s t e n t ü m e r n . Z u E n d e des 12. J a h r h u n derts w u r d e das Land v o m F ü r s t e n R o m a n vereinigt u n d d a n n u n t e r d e m Halitscher F ü r s t e n Daniel zur Blüte gebracht. 1255 w u r d e Daniel v o m Papst I n n o z e n z IV. z u m König von R u t h e nien gekrönt. Nach s e i n e m T o d e zerfiel das Reich in vier Teile. Im J a h r e 1323 luden die Halitscher Bojaren den masovischen F ü r s t e n Boleslaw auf den T h r o n ein. Nach dessen E r m o r d u n g rückte Kasimir der G r o ß e gegen das L e m b e r g e r - H a l i t s c h e r Land u n d e r o b e r t e es 1341 f ü r Polen wieder. Vgl. A l e x a n d e r G u t t r y , Galizien. Land und Leute (1916) u n d Stanislaw Grodziski, W królestwie Galicji i Lodomerii (1976), S. 18 f. Vgl. die M o n o g r a p h i e von H e n r y k Wereszycki, Pod bertem Habsburgow. Zagadnienia narodowosciowe, Krakow 1975, S. 47 ff, bzw. Historia Ukrainy von Wtadyslaw A. Serczyk, Krakow 1979, S. 234 f, u n d in der d e u t s c h e n Sprache die A u s f ü h r u n g e n von W o l f d i e t e r Bihl, a.a.O., S. 577. Sacher-Masoch n e n n t den E i n f l u ß der d e u t s c h e n R o m a n t i k als V e r a n l a s s u n g f ü r die j u n g e n R u t h e n e n z u m S a m m e l n ihrer Volksdichtung, dagegen m e i n t H e n r y k Wereszycki ü b e r den historischen Sachverhalt, daß den R u t h e n e n das slawische Vorbild l e u c h t e t e (vgl. a.a.O., S. 48 ff). Wahrscheinlich wird beides der Fall gewesen sein. Vgl. Henryk Wereszycki, a.a.O., S. 49 f oder W o l f d i e t e r Bihl, a.a.O., S. 577. Vgl. Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. V o m Verf. autorisierte Ü b e r s e t z u n g von M a d e l e i n e von Pasztory, Salzburg 1966, S. 161. Vgl. der a u t o b i o g r a p h i s c h e Bericht von Karl Emil F r a n z o s in d e m von ihm geleiteten S a m m e l band Die Geschichte des Erstlingswerkes, Leipzig (o. J.), Mein Erstlingswerk „Die Juden von Barnow", S. 228 ff. Vgl. Claudio Magris, e b e n d a . Vgl. J o n g D a e Lim, Das Leben und Werk des Schriftstellers Karl Emil Franzos, W i e n 1981, Masch., S. 3. Vgl. Vorwort zu: Vom Don bis zur Donau, Neue Kulturbilder aus Halb-Asien, Zweite, gänzlich u m g e a r b e i t e t e u n d v e r m e h r t e Auflage, Stuttgart u n d Berlin 1901, S. VII. Vgl. Vorwort zu: Aus Halb-Asien. Kulturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrußland und Rumänien. Vierte, gänzlich u m g e a r b e i t e t e Auflage, Stuttgart und Berlin 1901, S. VIII. Vgl. z. B. die erste Auflage Aus Halbasien, Einleitung, S. XIII, vierte Auflage, S. XL, o d e r Vorwort zur zweiten Auflage Aus der großen Ebene. Neue Kulturbilder aus Halb-Asien. Stuttgart u n d Berlin 1901, S. XVI. Wie seine späteren Essays über die ukrainische Literatur b e z e u g e n , verfolgt F r a n z o s mit W o h l wollen die Entwicklung des kulturellen L e b e n s der R u t h e n e n . F ü r die historisch-national verwurzelte Kultur der Polen findet er keine W o r t e . D e r einzige Beweis, daß er — der Galizianer — sie wenigstens im J a h r e 1901 b e m e r k t hat, ist die E r w ä h n u n g im Vorwort zur vierten A u s g a b e Aus Halb-Asien, daß in den letzten f ü n f u n d z w a n z i g J a h r e n auch einige P l u s p u n k t e in der Entwicklung der N a t i o n a l k u l t u r e n „Halb-Asiens" zu verzeichnen sind, u n d d a r u n t e r : „Nicht in volkswirtschaftlicher u n d sittlicher, aber in litterarischer u n d wissenschaftlicher B e z i e h u n g ist auch von der Entwicklung der polnischen Nationalität G u t e s zu b e r i c h t e n " (S. 37).
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A r n o Will beschäftigt sich mit F r a n z o s in den in der Einleitung a u f g e z ä h l t e n Buchveröffentlic h u n g e n sowie in d e m m o n o g r a p h i s c h e n Aufsatz Karl Emil Franzos. Ein Beitrag zu den Gestalten der Polen in der österreichischen Literatur des 19. Jahrhunderts, „ L e n a u - F o r u m " H. 3/4,1969. Die Polemik mit Józef Flach wird e b e n in diesem Aufsatz d u r c h g e f ü h r t , vgl. S. 47 f.
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Vgl. das Vorwort zur zweiten Auflage Aus der großen Ebene, wo er mit B e d a u e r n feststellt, daß der d e u t s c h e E i n f l u ß in der Bukowina im steten Sinken begriffen ist (S. IX 0-
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F r a n k o veröffentlichte in d e n J a h r e n 1895—1897 in der W i e n e r „Zeit" eine Reihe von Beiträgen ü b e r die W e l t m a n i p u l a t i o n e n u n d die brutale U n t e r d r ü c k u n g der Opposition w ä h r e n d der W a h l e n in Galizien. Als Beispiele seiner publizistischen Beiträge zu diesem T h e m a k ö n n e n gen a n n t w e r d e n : Das Papiergeld des Herrn Tyszkowski, Die jüngste galizische Wahl o d e r Die erste Session des galizischen Landtages. Als ein Beispiel der B e h a n d l u n g dieser Problematik in e i n e m belletristischen T e x t kann m a n die Skizze Der stramme Bezirkshauptmann (1897) e r w ä h n e n .
A n m e r k u n g e n z u m Kapitel 1
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^ Vgl. die Passage in den S c h l u ß f o l g e r u n g e n in Polska i Polacy w niemieckiejprozie literackiej XIX wieku von A r n o Will, der u. a. F r a n z o s zu den p o l e n f r e u n d l i c h e n Schriftstellern zählt: Es habe auch „die S t r ö m u n g der p o l o n o p h i l e n Literatur (gegeben — Erg. M. K.), die sich in den Schutz der Interessen der polnischen Nation stellte und die E r s c h e i n u n g e n des gesellschaftlichen L e b e n s objektiv u n d gerecht beurteilte. Besonders b e m e r k e n s w e r t ist das Schaffen von Königk, G r e g o r o v i u s , Bettina von A r n i m , W a c h h u s e n , Roskowska, Franzos", trotz der antipolnischen P r o p a g a n d a u n d Regierungspolitik sei die literarische S t r ö m u n g i m m e r noch lebendig gewesen, die „mit vollem V e r s t ä n d n i s die polnischen A n g e l e g e n h e i t e n betrachtete, u m die geb ü h r e n d e n Rechte der u m ihr Staatswesen g e b r a c h t e n N a t i o n kämpfte, aber auch mit Besorgnis auf die M i ß s t ä n d e in u n s e r e m sozialen L e b e n hinwies" (S. 115, Ü b e r s e t z u n g — M. K.). Der gesellschaftliche Aspekt w u r d e richtig eingeschätzt, aber bei d e m politischen, auf den polnischen Staat b e z o g e n e n , ist dies keineswegs der Fall, was die a n g e f ü h r t e n Texte von Franzos eindeutig beweisen. 34 Eine ständige V e r m i n d e r u n g des d e u t s c h e n E l e m e n t s in galizischen Städten nach 1867 u. a. infolge der P o l o n i s i e r u n g e h e m a l i g e r A n k ö m m l i n g e stellen z. B. solche A u t o r e n wie K. K. Klein in seiner Literaturgeschichte des Deutschtums im Ausland, Leipzig 1939, vgl. S. 219, oder Sepp Müller in der M o n o g r a p h i e des galizischen D e u t s c h t u m s Von der Ansiedlung bis zur Umsiedlung, M a r b u r g 1961, vgl. S. 9 f, fest. 35 Es w a r e n seit 1876, d. h. seit der ersten V e r ö f f e n t l i c h u n g der ersten zwei Bände der „halbasiatis c h e n " Kulturbilder, inzwischen f ü n f u n d z w a n z i g J a h r e vergangen. 36 Marya A m e l i a Lipszyc n e n n t in der Dissertation Wirtschaftliche Studien über Galizien, Zürich 1901, als A n g a b e n der V o l k s z ä h l u n g von 1890 ü b e r 53% B e w o h n e r mit der polnischen und ein wenig ü b e r 43% mit der r u t h e n i s c h e n U m g a n g s s p r a c h e (der Rest d ü r f t e dem D e u t s c h e n zufallen, d e n n das Jiddische d u r f t e ja nicht a n g e g e b e n w e r d e n , vgl. S. 7). Die Habsburgermonarchie 1848—1918 n e n n t f o l g e n d e Z a h l e n : Bihl b e r e c h n e t den Prozentsatz der R u t h e n e n in Galizien in der Z e i t s p a n n e 1880—1910 als 42,9% zu A n f a n g u n d 40,2% zu E n d e der Periode (vgl. S. 560), u n d Batowski n e n n t nach d e m Österreichischen statistischen Handbuch 797/4,672.500 Polen in Galizien, d. h. ca. 58,5% der L a n d e s b e v ö l k e r u n g , allerdings die J u d e n , die Polnisch als U m gangssprache a n g e g e b e n h a b e n , eingeschlossen (vgl. S. 526 f). Eine u m f a n g r e i c h e S a m m l u n g dieser in der W i e n e r Presse v e r ö f f e n t l i c h t e n Aufsätze sowie der weniger zahlreichen in der d e u t s c h e n Sprache publizierten E r z ä h l u n g e n u n d belletristischen Skizzen F r a n k o s w u r d e von der A k a d e m i e der W i s s e n s c h a f t e n der D D R in Berlin u n t e r n o m m e n u n d u n t e r der R e d a k t i o n von W. W i n t e r u n d P. Kirchner im Jahre 1953 u. d. T. Ivan Franko. Beiträge zur Geschichte und Kultur der Ukraine. Ausgewählte deutsche Schriften des revolutionären Demokraten 1882—1915 h e r a u s g e g e b e n . 38 Diese a n o n y m v e r ö f f e n t l i c h t e S a m m l u n g von Reisebildern wird in der in der Einleitung unserer Arbeit e r w ä h n t e n Deutschösterreichischen Literaturgeschichtevon Castle u. a. als Werk eines F r e u n d s H e b b e l s , des Schriftstellers Z e r b o n i di Sposetti, der eine Zeitlang ein G u t in Galizien besaß, identifiziert (vgl. S. 517 f). "ΙΩ
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Diese Erzählung, die das Bestreben eines galizischen I n g e n i e u r s d e u t s c h e r A b s t a m m u n g , sich zu polonisieren u n d d a n n seine reuevolle R ü c k k e h r zur eigenen Nationalität thematisiert, wurde zuerst im „Kalender des B u n d e s f ü r Christliche D e u t s c h e " 5, 1913 a n o n y m veröffentlicht u n d steht stellvertretend f ü r viele T e x t e dieser Art. Der A u f s t a n d sollte sich nach den u r s p r ü n g l i c h e n Plänen gegen alle drei T e i l u n g s m ä c h t e richten, aber im Königreich Polen u n d im G r o ß h e r z o g t u m Posen w u r d e er d u r c h V e r h a f t u n g e n unter den V e r s c h w o r e n e n vereitelt. Dasselbe gilt f ü r den g r ö ß t e n Teil Ostgaliziens. So kam es nur im Freistaat Krakau, wo sich der A u f s t a n d zehn Tage lang b e h a u p t e n k o n n t e , u n d z u m Teil in Westgalizien z u m A u s b r u c h . Vgl. Stefan Kieniewicz, Rewolucja polska 1846 roku, Einleitung.
2. ZUR GESELLSCHAFTLICHEN PROBLEMATIK IN DER „GALIZIENLITERATUR" Die schöngeistige Prosa über Galizien, die sich auf die Darstellung der gesellschaftlichen Beziehungen konzentriert, bildet in zweierlei Hinsicht kein Analogon zum Forschungsgegenstand des 1. Kapitels dieser Arbeit. Zum Thema der nationalen Problematik Galiziens und insbesondere der Teilnahme dieser Provinz am polnischen Befreiungskampf haben sich relativ viele Autoren, mehrere Nicht-Galizianer eingeschlossen, geäußert. Dagegen tritt der jetzt zu behandelnde Problemkreis nur im Schaffen einiger Prosaiker auf, die aus Galizien stammen und um die internen Angelegenheiten des Landes besonders gut Bescheid wissen. Diese Tatsache hat sich auf den äußeren Aufbau dieses Kapitels ausgewirkt, das aus drei den drei Verfassern gewidmeten Teilen besteht. Dabei läßt sich nur im Falle des Werkes von Hans Weber-Lutkow (eigentlich Hans Pokorny) das betreffende Material leicht überblicken, während wir es im Schaffen von Sacher-Masoch und von Franzos mit einer Stoffhülle zu tun haben, die das Erfassen aller zu diesem Problemkreis gehörigen Texte unmöglich macht und somit zur Wahl einiger Beispiele zwingt. Anderseits ist das Untersuchungsfeld dieses Kapitels ziemlich heterogen gebaut, während die Literatur mit nationaler Problematik verhältnismäßig einheitlich war. Wir haben es dabei mit einem breiten Spektrum von schriftstellerischen Anliegen und diesen zufolge gewählten literarischen Aussageformen zu tun, das von gesellschaftskritisch eingestellten Beiträgen über kleine Sittengemälde bis zur sensationellen Unterhaltungsliteratur reicht. Um das Thema dieses Kapitels trotz dieser Vielfalt einigermaßen deutlich zu umreißen, sei hier erklärt, daß zu diesem Bereich sowohl die Werke, die der Thematisierung des gesellschaftlichen Lebens in Galizien gewidmet sind, gerechnet werden, als auch solche, in denen der Verfasser das soziale Panorama dieses Landes dazu verwendet, seiner Reflexion über die gesellschaftlichen Beziehungen seiner Zeit überhaupt eine konkrete Gestalt zu verleihen. Einige Schwierigkeiten bereitete die Aussonderung der zu erörternden Werke in bezug auf die Zeitverhältnisse innerhalb der dargestellten Struktur. Unsere Beispiele gehören in dieser Hinsicht einem der drei Modelle an: Entweder fallen darin sowohl der Erzählzeitpunkt als auch die dargestellte Zeit in die Epoche nach 1848, und die Fabel bringt bereits die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse in Galizien zum Ausdruck 1 , oder die erzählte Zeit
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Z u r g e s e l l s c h a f t l i c h e n P r o b l e m a t i k in d e r „ G a l i z i e n l i t e r a t u r "
der Texte reicht noch in die Jahre vor 1848 (bzw. vor 1846) zurück, aber die Ebene der Erzählzeit ist bereits die Verfassungsära. In solchen Fällen stellen die Autoren die beiden geschichtlichen Situationen zusammen, um sie in bezug auf das soziale Leben des Landes miteinander zu vergleichen. Die dritte Möglichkeit, die berücksichtigt wurde, besteht darin, daß der Verfasser die Zeitangaben entweder ganz ausläßt oder sie als irrelevant nur beiläufig erwähnt. Solche Texte wurden dann herangezogen, wenn ihre Problematik die gesellschaftlichen Zustände betrifft, die bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Europa und insbesondere in Galizien anzutreffen waren. Eine Abgrenzung zwischen den Werken mit nationaler und denen mit sozialer Thematik erwies sich als notwendig, obwohl das ein heikles, in einigen Fällen kaum durchführbares Vorhaben war, da diese Umkreise manchmal als ein ineinander geflochtener Themenkomplex erscheinen. Deshalb kann es passieren, daß einige in dem sozialen Zusammenhang besprochene Texte auch aufschlußreiche Bemerkungen zur national-politischen Lage in Galizien, auf die kurz eingegangen werden muß, enthalten, und vice versa. Da aber in den allermeisten Fällen sich das Hauptthema des Werkes einem dieser Umkreise zuordnen läßt, wurde es vermieden, denselben Text in mehreren Kapiteln zu behandeln. Auf die Texte aus dem Stoffkreis des Jahres 1846 wird jetzt somit nicht erneut eingegangen, da sie schon einmal besprochen wurden. Auch zahlreiche Texte aus dem Bereich der Judenfrage in Galizien werden trotz ihrer deutlichen sozialen Komponente vorläufig weggelassen.
2.1. Das Bild des gesellschaftlichen Lebens in Galizien im Werk von Leopold von Sacher-Masoch Alle Werke von Sacher-Masoch, in deren Mittelpunkt das gesellschaftliche Leben Galiziens steht, entstammen seiner zweiten Schaffensphase, die die Literaturhistoriker ab 1870 ansetzen 2 . Da unsere Beispiele aus vier verschiedenen Sammlungen kommen, die während einer Zeitspanne von fünfzehn Jahren (1872—1887) entstanden, ist es notwendig, weitere Differenzierungen einzuführen. Die Darstellung der Entwicklungsbahn von Sacher-Masoch bei Eduard Hasper und anderen Verfassern 3 läßt erwarten, daß die einzelnen Veröffentlichungen Stationen eines Verfalls vom Bedeutenden zum Wertlosen markieren würden. Tatsächlich verläuft die Richtung im allgemeinen von künstlerisch interessanten Texten zur Trivialliteratur, von sozialkritischen, auf die Auseinandersetzung mit Problemen angelegten Erzählungen zum platten Unterhaltungsstoff, manchmal mit einer pornographischen Komponente. Das Bild wird zusätzlich durch den Umstand kompliziert, daß die Spuren des Masochismus mit derZeit in den Werken des Schriftstellers deutlicher werden. Das drückt sich in der fortschreitenden Vorliebe des Autors für die Darstellung starker, grausamer Frauen aus, die mit Vergnügen die in sie verliebten schwachen Männer psychisch und manchmal auch physisch quälen. Trotzdem kann
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man die chronologische Reihenfolge nicht immer als ausschlaggebend betrachten, denn es gibt bereits in den Werken aus den frühen siebziger Jahren manches, was nur auf Effekthascherei hinweist. Umgekehrt gelingen noch um das Jahr 1885 dem Autor manche schönen Bilder, wie etwa die bereits besprochene Idylle Sascha und Saschka. Für das gesellschaftliche Panorama Galiziens sind vier größere Textsammlungen von Sacher-Masoch von Belang, die sehr unterschiedliches Gewicht haben. Dies sind — chronologisch aufgezählt: Sociale Schattenbilder (1872), Das Vermächtnis Kains (1874)4, Galizische Geschichten (1875, neue Folge 1881), schließlich Polnische Geschichten (1887). Da Das Vermächtnis Kains, die großzügig geplante Auslegung seiner Weltanschauung durch den Dichter, einen ganz anderen Rang als die übrigen Sammlungen von wesentlich anspruchsloseren und kürzeren Texten einnimmt, wollen wir zuerst ausgewählte „galizische Geschichten" aus jenen Veröffentlichungen besprechen und dann das große Vorhaben des Autors separat betrachten. Bei den zum Teil im Kapitel 1 berücksichtigten Socialen Schattenbildern erübrigt sich eine ausführlichere Behandlung der um die gesellschaftliche Problematik konzentrierten Texte, da wir es mit einer schablonenhaften Kriminalliteratur zu tun haben. Als Beispiele seien die Skizzen Eine Mesalliance und Ein Mord in den Karpathen genannt. Die darin entworfenen Stereotype des polnischen Adligen werden dann im späteren Schaffen von Sacher-Masoch beibehalten. Über die Einförmigkeit des Klischees ragen nur die Skizzen aus dem polnischen Freiheitskampf und der kleine Essay Karpathenräuber hinaus, der auf das Thema des Hajdamakenkampfes als Selbsthilfe des ukrainischen Volkes gegen die Adelswillkür hinweist, ein Thema, das der Autor in seinem späteren Erzählwerk mehrmals aufgreifen wird (Magaß, der Räuber, Der Hajdamak, Die wilden Frauen)5. Von einem wesentlich größeren Wert für die Erschließung wesentlicher Züge des gesellschaftlichen Lebens in Ostgalizien sind die kleinen Novellen, die Sacher-Masoch unter dem Titel Galizische Geschichten veröffentlichte. Die meisten dieser Geschichten spielen auf dem Lande und lassen sich, besonders im Falle der ersten Folge von 1875, dem Genre der gesellschaftskritischen Dorfgeschichte 6 zuordnen, in einigen Fällen dem der „Schloßgeschichte", wobei der Begriff „Schloß" für einen ziemlich bescheidenen Adelssitz stehen müßte. Nur die Erzählung Fahrende Komödianten berührt den Umkreis des Lebens in einer galizischen Stadt. Diese Texte besitzen zwar keine tiefgründige psychologische Fundierung, sie bilden aber in packenden epischen Bildern das bunte, für den westeuropäischen Leser exotische Dorfleben Galiziens mit seinen sozialen Konflikten und Spannungen ab. In Magaß, der Räuber entblößt Sacher-Masoch die auf die feudale Willkür gegründeten Beziehungen zwischen Dorf und „Schloß" in Galizien vor 1848 und stellt das Hajdamakenwesen als eine Selbsthilfe der Bauern dar, denen der Staat keinen wirksamen Schutz zusichern kann. Nach der Meinung des Autors bedeutet aber das Jahr 1848, die Aufhebung des Untertänigkeitsverhältnisse in
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Zur g e s e l l s c h a f t l i c h e n Problematik in der „Galizienliteratur"
Galizien, die endgültige Wende im Leben der Landesbevölkerung, was den Kampf der Karpatenräuber um die soziale Gerechtigkeit überflüssig gemacht haben soll. Diese neue Situation wird in mehreren Erzählungen thematisiert, wie in der bereits besprochenen Novelle Unser Deputirterüber die Wahl eines Bauern zum galizischen Landtag. Man sieht anhand dieser Texte, wie die Bauern ihre Kraft und Unabhängigkeit vom Adel allmählich lernen und wie sie auf vorfeudale Selbstverwaltungsformen zurückgreifen. Damit werden von Sacher-Masoch wesentliche Merkmale des gesellschaftlichen Lebens in Galizien nach der Aufhebung der Fronarbeit zum Ausdruck gebracht. Besonders nachhaltig wird der Unterschied zwischen „einst" und J e t z t " in der Erzählung Das Erntefest betont. Das dargebotene Bild des ostgalizischen Dorfes nach 1848, das sein Erntefest feiert, erscheint in der Konvention einer Dorfidylle. Gastfreundschaft des ruthenischen Landvolkes, emsige Vorbereitungen der Bauern auf die bevorstehende Feier, die ihre Arbeit krönt, Friede und Ruhe in der sommerlichen Natur Podoliens, harmonische Eintracht zwischen dem ruthenischen Landadligen und der Bauerngemeinde — alle diese Elemente schaffen eine spezifische Stimmung. Vor allem die Raumgestaltung übt einen bestrickenden Reiz auf den Leser aus. Der Verfasser läßt jedoch dieses Bild nicht problemlos erscheinen. Voller Sympathie für die einfachen Menschen seiner Heimat polemisiert er gegen diejenigen, die das Stereotyp des dummen, trägen und dem Trunk ergebenen galizischen Bauern verbreiten. Er nennt als Ursache der einstigen Vernachlässigung der Wirtschaft durch die Bauern die Rechtlosigkeit dieser gesellschaftlichen Klasse vor den Teilungen Polens und stellt die rhetorische Frage, wie der Bauer das Land lieben und mit Eifer hätte bebauen sollen, wenn er dort wie ein Tier gehalten wurde und straflos getötet werden durfte 7 . Die Patente des Kaisers Josephs II. hätten theoretisch die Lage der Bauern erleichtern sollen, aber die Edelleute umgingen sie. Dazu weiß der gut informierte Sacher-Masoch auch darüber Bescheid, daß die Zahl der Robottage durch die ständige Teilung der Bauernwirtschaften unter die Kinder des Eigentümers, was ungesetzlich, aber von dem Landadel gerne gesehen war, ins Unendliche wuchs 8 . Ein alter Bauer faßt im Gespräch mit dem Ich-Erzähler der Geschichte, den der Autor mit autobiographischen Zügen ausstattete, die Situation vor 1848 auf folgende Weise zusammen: „Es war also damals auch nicht am besten. Wenn der Bauer den ganzen Tag hinter dem Pflug ging, so geschah es, damit der Edelmann auf Silber speist, die Edelfrau mit vier Pferden im Schlitten fahrt, er selbst aber Haferbrot kaut und sein Weib barfuß im Schnee watet" (S. 57). So wäre das unmäßige Trinken die einzige Fluchtmöglichkeit gewesen, um dem Bewußtsein des Elends zu entrinnen. In dem kaiserlichen Patent zur Regelung der Bodenverhältnisse und über die Aufhebung der Fronarbeit in Galizien sieht der Bauer die große Wende: „Wir sind frei geworden, der Grund und Boden gehört uns" (S. 59). Seit dieser Zeit sei das Niveau der Wirtschaft wesentlich gestiegen, das Schulwesen entwickle sich weit besser, da die Bauern jetzt die Möglichkeit des Unterrichts in der Muttersprache (d.h. in Ukrainisch) haben. Dies wäre aber erst der Anfang, der
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alte Landwirt weiß konkret von fehlenden Eisenbahnen, Straßen und Schulen zu berichten. Als die zur Zeit drückendsten Lasten nennt er die Steuern und das übermäßige Anwachsen der Bürokratie. Der Held (und mit ihm der Schriftsteller Sacher-Masoch) plädiert für eine Erweiterung der Selbstverwaltung der Gemeinde, denn die Gemeinden machen vieles besser als die kaiserlichen Beamten. Sacher-Masoch bringt in seinen Werken öfter seine Begeisterung für die Einrichtung der slawischen Gemeinde zum Ausdruck, die das beste Werkzeug zur Beibehaltung der Gleichheit und Gerechtigkeit gewesen sein soll. So läßt der Autor den alten Bauern sagen: „Es wird noch weit anders werden, weit anders, Sie werden es noch erleben, m a n s o l l n u r d e r G e m e i n d e m e h r F r e i h e i t g e b e n . Es war bei uns von alten Zeiten her, daß die Gemeinde alles war, und sie ist es jetzt auch, wenn auch die Regierung sie nicht so anerkennt. Es könnten weniger Beamten sein, es wäre uns besser und dem Reiche" (S. 61). Als Sprachrohr des Autors leistet er sich dabei die kritische Bemerkung, die Regierung wolle nicht, daß sie fliegen lernten. Damit erfaßt die Erzählung einen wichtigen Zug der außerliterarischen Wirklichkeit, denn die Angst der Oberschicht vor der Radikalisierung der Volksmassen und vor dem Verlust eigener Hegemonie im Staate prägte auch nach 1848 nach wie vor die Innenpolitik der Monarchie. Eine Pointe liefert die malerische Darstellung des feierlichen Erntezuges der Gemeinde und der Kommentar des Ich-Erzählers, der darin ein Sinnbild ihrer Kraft und Einheit erblickt: „So zieht wie vor Tausenden von Jahren d i e s l a v i s c h e G e m e i n d e , Einer für Alle, Alle für Einen, ein Sinn, e i n g r o ß e r M e n s c h " (S. 67). Die gesellschaftliche Perspektivierung in diesem Text, ähnlich wie in anderen Erzählungen Sacher-Masochs über das galizische Dorf, erfolgt hier zugunsten der benachteiligten Klasse, der Bauern. Der Autor hält die ostgalizischen Bauern keineswegs für „unmündig", nicht reif für die Selbstverwaltung, wie damals die vorherrschende Meinung war. Mit voller Anerkennung für ihre schwere Arbeit und ihr Rechtsgefühl betrachtet sie der Schriftsteller als vollwertige Mitglieder des gesellschaftlichen und politischen Lebens. Diese Einstellung ist auch in der in ihrem Inhalt eher banalen Erzählung aus derselben Sammlung Der verwandelte Pfarrer zu spüren, deren kritische Spitze sich gegen Mißstände unter galizischen Landpriestern wendet. Die Geschichte über die Bestrafung des lüsternen Pfarrers gibt dem Verfasser die Gelegenheit, die Institution der Gemeindegerichte als Ersatz bzw. Ergänzung des fehlenden oder einen schleppenden Gang gehenden Justizwesens zu präsentieren und die strenge, gesunde Moral des Bauernvolkes in Galizien zu preisen. Die Charakteristik der Verhältnisse auf dem Lande nach der Aufhebung des Frondienstes bringt wesentliche Merkmale der Neugestaltung der gesellschaftlichen Lage in dieser Provinz nach 1848 zum Ausdruck. Anderseits muß man sie im Rückblick gesehen als etwas zu optimistisch einschätzen. Entweder sollte diese Idealisierung des Modells der pädagogischen Absicht des Autors dienen, oder sie ist auf die Sehnsucht Sacher-Masochs nach der Heimat seiner Kindheit zurückzuführen, die ihn Galizien in einem verklärenden Lichte sehen ließ.
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Weniger interessant sind diejenigen „galizischen Geschichten" aus der ersten Folge, die sich auf das „Schloß" beziehen. Sie sind ziemlich schablonenhaft aufgebaut und bringen nicht viel Neues in der Problemstellung. In der Skizze Eine Schlittenfahrt stellt der Erzähler vor dem Hintergrund der Landschaftsstaffage wilder Wälder mit Wölfen und einsamer Schlösser ein Ansinnen an die reichen, faulenzenden, gelangweilten Damen, sie sollten eine der Allgemeinheit nützliche Arbeit verrichten und dem Volke als Lehrerinnen oder Ärztinnen helfen. In Die Todten sind unersättlich wird der Aberglaube eines Teiles des galizischen Landadels verspottet. Das Einleitungsbild der Novelle, in dem Sacher-Masoch die slawische Gastfreundschaft preist, beweist, wie stark sich dieser deutschschreibende Schriftsteller mit der längst verlassenen slawischen Heimat identifiziert. Der erzählte Raum wird dadurch zu einem verklärten Erinnerungsraum. Die den Kern der Erzählung bildende banale Liebes- und Gespenstergeschichte kann ähnlich wie der Text Vom Baume des Schweigens aus der zweiten Folge als eine Parodie der Schauerromantik aufgefaßt werden. Als eine für Sacher-Masoch typische Ausprägung des ungleichen Kräfteverhältnisses zwischen dem galizischen Adel und dem Bauerntum kann das malerische Diptychon Tag und Nacht in der Steppe aus der neuen Folge der Galizischen Geschichten gelten. Die Gestaltung des erzählten Raumes, der grenzenlosen podolischen Steppenlandschaft, spielt in den beiden miteinander kontrastierenden Teilen der Geschichte eine wichtige Rolle, indem die Natur als stimmungsbildendes Element die Handlung begleitet. Im ersten Teil, Tag, entwickelt sich eine idyllische Liebesgeschichte zwischen zwei Partnern aus der gleichen Gesellschaftsklasse, dem schönen Bauernmädchen Eva, dessen Hütte einsam in der Steppe steht, und dem Pferdehirten Akenzy. Das Bild der goldenen Kornfelder und die Stille der Steppe an einem heißen Sommertag prägen die Stimmung dieses Teiles der Geschichte. Mit diesem Bild kontrastiert die Ansicht der Steppe in der Dämmerungsstunde und dann in der Nacht im tiefen Herbst im zweiten Teil der Novelle, Nacht, als der nach Jahren wieder an diesen Ort angelangte Ich-Erzähler die brennende Hütte Evas erblickt. Dieser Teil erzählt rückblendend von einer Verführungsgeschichte und schlägt in ein gewalttätiges Ende um. Es erweist sich, daß die Liebesbeziehung und die darauffolgende Ehe zwischen dem Bauernpaar durch die Werbung eines Edelmanns zerstört wurde. Er verführte Eva und betrog sie, um sie dann zu verlassen, als sich ihm die Gelegenheit zu einer standesgemäßen Ehe bot. Die nicht zu leugnende Schuld des adligen Verführers wird in dieser Novelle durch das für den älteren Sacher-Masoch so kennzeichnende Bild des „dämonischen Weibes" überdeckt, das das gesellschaftliche Moment hinter dem psychologisch-kriminellen zurücktreten läßt. Denn Eva hat im Glauben an die Liebe des Herrn Delgopolski und die Möglichkeit der Ehe mit ihm ihren Mann und ihre drei Kinder umgebracht. Als sie dann ihren Irrtum einsieht, legt sie Feuer an ihre Hütte, in die sich der untreue Geliebte zufällig flüchtete. So liefert sie ihm einen qualvollen Tod. Sie selbst stürzt sich in die Flammen. Der Racheakt
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der Bäuerin, der zugleich ein Selbstvernichtungsakt ist, läßt sich gesellschaftlich als ein verzweifelter Selbsthilfeversuch der schwächeren Seite deuten — auf diese Weise wurzelt diese Erzählung in der außerliterarischen Wirklichkeit Galiziens. Von dem Erzähler wird er aber indirekt auf die grausame Frauennatur zurückgeführt. Davon zeugt die Tatsache, daß die Protagonistin mit dem Mord an ihren unschuldigen nächsten Angehörigen aus Leidenschaft zu einem anderen Mann belastet wird. Diese Verdrängung des sozialen Konflikts in den Hintergrund zugunsten des Geschlechtsantagonismus ist charakteristisch für die spätere Schaffensphase Sacher-Masochs. Die dritte der zu erörternden Sammlungen, in denen Galiziens gesellschaftliche Problematik angeschnitten wird, trägt den Titel Polnische Geschichten. Es überwiegen darin Stoffe aus der Geschichte der altpolnischen Republik, die in äußerst düsteren Farben abgebildet wird. Der künstlerische Verfall des Autors wird deutlich angesichts seiner Vorliebe für die Schauereffekte in der Schilderung grausamer, gewalttätiger Naturen (vor allem von Frauen). Solche Motive werden in verschiedenen Variationen abgewandelt. In bezug auf die gesellschaftliche Problematik Galiziens sind zwei Texte von einigem Belang, nämlich Die wilden Frauen und Auf der Heimfahrt. Das Image der dämonischen Frau wird darin wesentlich gemildert, aber die ästhetischen Mängel lassen sich deutlich spüren. In Den wilden Frauen haben wir es mit einer Kombination von mehreren im früheren Schaffen des Autors bereits vorhandenen Motiven zu tun: mit dem Streit zwischen einem gesetzeskundigen Bauern und der Gutsverwaltung, mit der Robinsonade in einer Karpateneinöde und mit dem Hajdamakenkampf. Das einzig Neue an der Motivauswertung ist die Tatsache, daß die Hauptgestalten, die sich an dieser Rebellion beteiligen, Frauen sind, was eher aus dem Interesse des Verfassers an starken, unbeugsamen Frauen als aus dem geschichtlichen Sachverhalt resultiert. Interessanter vom Problemgehalt her erscheint die skizzenhafte Erzählung Auf der Heimfahrt, offensichtlich ein Pendant zu Eine Schlittenfahrt. Die dort vorgezeichneten Rollen des Mannes, der seine künftige Frau zum wertvollen, tüchtigen, zuverlässigen Menschen erzieht, und der Frau, die bis zu dieser Zeit ein schmarotzerhaftes Leben der gelangweilten Edeldame führte, werden hier vertauscht. Es erklingt das Lob der freien, selbständigen Frau, die ihrem Mann als gleichwertiger Partner zur Seite steht. In diesem Falle ist es aber die Frau, die den Mann zuerst zu ihrem Niveau erheben muß. Das Edelfräulein Afra Drohojewska erfüllt auf die positive Weise das Stereotyp der starken Frau, dem der Leser im Schaffen von Sacher-Masoch begegnet. Sie erzählt dem jungen Nichtstuer Martin Bilinski von ihren sozialen Ideen, rettet ihn vor den Räubern und als er ihr einen Heiratsantrag macht, will sie nur unter der Bedingung einwilligen, ihn zur vernünftigeren Wirtschaftsführung zu bewegen. Der Text besteht mehr aus pädagogischen Überlegungen (Reden Afras an den Bewerber und Kommentaren des auktorialen Erzählers) als aus Handlung und macht dadurch einen wenig überzeugenden Eindruck. Aber die nicht sehr schmeichelhafte Charakteristik der jungen Männer adliger Herkunft in Galizien enthält
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Z u r g e s e l l s c h a f t l i c h e n P r o b l e m a t i k in d e r „ G a l i z i e n l i t e r a t u r "
durchaus ein Körnchen „essentielle Wahrheit". Afra sagt nämlich von ihnen, sie spielen j a g e n , reiten, liebeln und machen Schulden. Wenn ihnen kein Jude mehr etwas borgt, dann heiraten sie. Dieser „Bildungsgang" scheint für einen Teil der sozialen Schicht des Landadels typisch zu sein. Die von dem Verfasser vorgeschlagene Lösung der positiven Arbeit unter der Leitung desjenigen der Ehepartner, der dazu fähiger ist, klingt ziemlich plausibel. Man könnte zwar in der Gestalt Afras einen Ausdruck seiner Sehnsucht danach, von einem „starken Weib" beherrscht zu werden, erblicken, aber der Erzähler plädiert doch für die Gleichberechtigung der Partner. Das bezeugt am besten die Vertauschbarkeit der Rollen mit der Geschichte Eine Schlittenfahrt. Den wichtigsten Platz im Schaffen von Leopold von Sacher-Masoch nimmt der großangelegte Zyklus Das Vermächtnis Kains ein, in dem der Schriftsteller sein weltanschauliches System darlegen wollte. Im folgenden sollen einige Bemerkungen zu dem Gesamtvorhaben des Schriftstellers mit diesem Zyklus gemacht werden, die sich primär auf die Dissertation von Eduard Hasper 9 stützen. Sacher-Masoch beabsichtigte in diesem Werk sechs Gebiete des menschlichen Lebens als Erbstücke Kains — des Blutvergießers, dessen Name das Symbol des Hanges der menschlichen Natur zum Bösen ist, zu erfassen. Die geplanten Teile sollten folgende Titel haben: Die Liebe, Das Eigentum, Der Staat, Der Krieg, Die Arbeit, Der Tod. Es gelang ihm allerdings nur die beiden ersten Teile auszuführen, die jeweils aus sechs Erzählungen bestehen. Das Hauptthema des zweibändigen Teilzyklus Die Liebe bilden die Beziehungen zwischen den beiden Geschlechtern, die Sacher-Masoch auf eine kühne, in vielem den Naturalismus vorwegnehmende Weise gestaltet. In diesen Erzählungen wird die Möglichkeit einer harmonischen Verbindung zwischen Mann und Frau geleugnet. So zeigt z.B. die Erzählung aus dem galizischen Bauernmilieu vor 1848 Der Kapitulant die leidenschaftliche Liebe des Mannes, die keine Erfüllung findet, weil die Frau keiner selbstlosen, hingebungsvollen Liebe fähig ist. Ein Teil dieser Geschichten wurzelt im galizischen Lokalkolorit, aber die gesellschaftliche Problematik spielt darin eine sekundäre Rolle. Dagegen dient in den zwei nächsten Bänden des Zyklus, u.d.T. Das Eigentum, die Darstellung der gesellschaftlichen Beziehungen, die sich auf konkrete Eigentumsverhältnisse gründen, dazu, die sozialen Anschauungen des Autors zu verdeutlichen. Es wurden dabei galizische Stoffe bevorzugt. Es ist bekannt, daß der dritte Teil des Zyklus, Der Staat, die Übel der absoluten Monarchie und die Lügenhaftigkeit des bisherigen Konstitutionalismus bloßstellen und als eine positive Lösung ein demokratisches Gebilde der Vereinigten Staaten Europas den herkömmlichen politischen Systemen gegenüberstellen sollte. Dieser Plan wurde nicht ausgeführt. Den Gesamtzyklus sollte die Novelle Die heilige Nacht abschließen, in der die Gestalt Christi als Erlöser der Menschheit erscheinen sollte. Hasper berichtet über diese Konzeption Sacher-Masochs: „Die sechs Erbstücke Kains sind in seiner (d.h. Christi — M.K.) Person aufgehoben: ohne Geschlechtsliebe, ohne Eigentum, ohne Vaterland, ohne Streit, ohne Arbeit ging er durchs Leben und starb freiwillig für eine Idee" (S. 27).
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Hasper bezeichnet den Plan Sacher-Masochs als „offensichtlich unter dem Einfluß sozialistischer Theorien entstanden" (S. 28), und tatsächlich weisen vor allem die Erzählungen aus dem Themenkreis „das Eigentum" eine starke Affinität zu den Konzeptionen des utopischen Sozialismus auf. Gleichzeitig zeugen die Texte des Zyklus von einer pessimistischen, ja fatalistischen Weltanschauung des Dichters, die er aus seinem Glauben an die unabwendbare Gesetzmäßigkeit der Natur herleitet. Er gestaltet mit Vorliebe Beispiele passiver Schicksalergebenheit der galizischen Bauern und Juden, die seiner Meinung nach sowohl aus ihren religiösen Vorstellungen als auch aus der täglichen Erfahrung erfolgt, daß der Mensch den Gesetzen der Natur unterworfen sei. Als prägnante Beispiele der gesellschaftlichen Ansichten Sacher-Masochs, die mit Hilfe eines in der galizischen Wirklichkeit wurzelnden Stoffes zum Ausdruck gebracht werden, seien die Erzählungen Der Hajdamak und Basil Hymen aus dem Teilzyklus Das Eigentum analysiert. In der Erzählung Der Hajdamak wird eine ausführliche Deutung des Karpatenräubertums als eines gesellschaftlichen Kampfes der Benachteiligten gegen ihre Bedrücker gegeben. Es ist eine Rahmengeschichte, der Rahmen bildet dabei eine selbständige, ausgebaute Handlung. Diese Handlung spielt nach 1848 und stellt eine typische Exkursion feiner Damen und Herren aus der Stadt auf Tscherna Hora, den östlichsten Teil der galizischen Karpaten dar 10 , um die wilde, von der Zivilisation unberührte Natur zu genießen. Dabei wird die Konvention romantischer Schilderungen von Gebirgsausflügen leicht parodiert. Als Führer begleitet die Herrschaften ein huzulischer Bauer, der ein ehemaliger Wataschko der Hajdamaken ist. Die große Verteidigungs- und zugleich Angriffsrede dieses Mannes im sozialistischen Sinne, die sich gegen die ungerechte Verteilung der materiellen Güter richtet, bildet kompositorisch eine Überleitung von dem Rahmen in die Binnengeschichte hinein. Sie drückt gleichzeitig das Anliegen der mitgeteilten Struktur des Textes aus: Anklage der gesellschaftlichen Ordnung, die auf Ungerechtigkeit beruht. Man darf zwar die Ansichten des Erzählers der Binnengeschichte, eines ehemaligen Karpatenräubers, nicht in allem mit denen des Autors identifizieren, denn auch Mord, Raub und Gewalt werden als Antwort auf die Rechtlosigkeit und ungleiche Güterverteilung von dem Hajdamaken gebilligt, aber seine Empörung gegen die bestehende Weltordnung ist dem Protest des Verfassers gleichzusetzen. Die Rahmengeschichte enthält neben der Beschreibung der lustigen Gesellschaft aus Lemberg die Schilderung einer typischen huzulischen Wirtschaft, der Volkssitten und Gebräuche der Huzulen sowie die Überlegungen des Erzählers über die Herkunft und die Charakterzüge der Huzulen. Damit wird der erzählte Raum im Sinne der Regionalliteratur als eine bestimmte ethnographische Landschaft gestaltet. Ähnlich wie der ein wenig später wirkende Franzos fühlt sich Sacher-Masoch von der exotischen Erscheinungsart dieser Gebirgsbewohner angezogen und breitet seine Spekulationen über die Abstammung dieses in Wirklichkeit ukrainischen Stammes aus. Er glaubt, sie wären von dem Kaukasus in der Völkerwanderungszeit in die Karpaten gekom-
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Z u r g e s e l l s c h a f t l i c h e n P r o b l e m a t i k in d e r „ G a l i z i e n l i t e r a t u r "
men, wovon angeblich römische Einflüsse in ihrem Wortschatz zeugen sollten. Als ihre ausgeprägtesten Charakterzüge nennt er Stolz, Gastfreundschaft, Ehrgefühl und hohe Sittlichkeit, wobei er durch die Betonung der letztgenannten Eigenschaft in Widerspruch zu Franzos gerät, der sie eher als heidnischamoralisch auffaßt. Den Hintergrund des dargestellten Raumes bildet eine malerische Karpatenlandschaft, inmitten welcher mehrere Bauerngestalten erscheinen. Die vorgeführten Gestalten der Huzulen werden durchaus ernst genommen, während die poesiesüchtigen Damen und gelehrten Herren aus der Stadt leicht karikiert werden. Das Gespräch kommt auf den Hajdamakenführer Dobosch, und die Kluft zwischen den ethischen Auffassungen der Städter und der Gebirgsbewohner wird merkbar. Der Lemberger Professor kann nicht begreifen, wieso man die Gebirgsräuber in „ehrliche" und „unehrliche" teilen kann. Für die Bauern war aber Dobosch ein großer Held, und den permanenten Krieg zwischen den Karpatenräubern und den Edelleuten fassen sie als einen heiligen auf. Um die moralische Berechtigung dieses Kampfes den Lembergern begreiflich zu machen, fängt der alte Hajdamak Hrehora mit sozialkritischen historischen Ausführungen an, und zwar mit der Geschichte der Unterwerfung der freien rotruthenischen Bauern durch den polnischen Adel. Das Kosakenwesen in den Steppen wird als ein Widerstand gegen diese Verknechtung erläutert. Diese Auslegung ist historisch gesehen im Hinblick auf den sozialen Sachverhalt eine richtige. Dagegen wirkt die Überbetonung des nationalen Gegensatzes zwischen Polen und Ruthenen in bezug auf die früheren Jahrhunderte anachronistisch. Diese Einstellung ist symptomatisch für die Vorstellungen des Autors, der seine Erfahrungen über die gegenwärtigen Wechselbeziehungen zwischen Polen und Ukrainern in Ostgalizien unbewußt auf die Vergangenheit überträgt. Die Zeit nach den Teilungen Polens wird für eine günstigere Periode im Leben der galizischen Bauern erklärt. Jedoch erst die Aufhebung der letzten Feudallasten im Jahre 1848 hätte sie frei gemacht. Ähnlichen Urteilen begegnet man sehr oft bei Sacher-Masoch, aber in dieser Erzählung geht er weiter, indem er mit der Bemerkung des Hajdamaken, daß auch jetzt Armut und Elend unter dem Volke herrschen, zu einer generellen Anklage der herkömmlichen Gesellschaftsordnung übergeht. Die angenommene Rolle eines Bauern und ehemaligen Gebirgsräubers erleichtert eine solche Wortführung. Aber es sind doch Konzeptionen des Verfassers, um die es sich handelt. Die Gestalt fungiert als sein Sprachrohr, wenn Hrehora sagt: Erde und Wälder sollten kein Privateigentum sein, so wie sie ursprünglich ein gemeinsames Gut gewesen waren. Jeder dürfe nur das besitzen, was er sich selbst erarbeitet habe, jede Vererbung der materiellen Güter sei höchst ungerecht. Die Reichen hätten sich ihr Vermögen mehr oder weniger durch Raub erworben. Dann aber sagen sie zu dem armen Mann, daß man nicht rauben dürfe. Es steht zwar das Gebot geschrieben „Du sollst nicht töten", aber, und hier knüpft der Erzähler an das Symbol der Kainschen Erbschaft an, die Menschen stammen ja vom Blutvergießer Kain, sie müssen töten, um zu überleben. Auf diese Weise wird die biblische Überliefe-
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rung in den Umkreis der Theorie des Kampfes u m s Dasein eingearbeitet. Das Christentum wird von dem Erzähler hoch eingeschätzt, aber er weist darauf hin, daß die Reichen die Botschaft Christi verraten hätten. Sie hätten sich der Kirche bemächtigt u n d verbreiten Ansichten, die gegen die Lehre Christi sind, denn sie betreiben mit ruhigem Gewissen die A u s b e u t u n g der A r m e n . Deshalb wäre ein Ende des sozialen Krieges nicht abzusehen. Die Binnenerzählung setzt mit der Lebensgeschichte des Hajdamaken ein, die diese These bestätigt. Im Laufe seiner Erzählung wird jedoch seine Biographie durch die Geschichte seines Hauptmanns, des Räuberhäuptlings Dobosch, zurückgedrängt. Die Eltern Hrehoras haben ein Stück Wald schlagen müssen, u m etwas Boden bebauen zu können. Sie haben sich umsonst jahrelang abgerackert, denn nach einigen Mißernten hatte die Familie nichts mehr, u n d der Junge konnte den gestorbenen Eltern nicht einmal ein Begräbnis zusichern. Auf diese Weise wird das Schicksal eines armen Bauern aus der unfruchtbaren Gebirgsgegend modellhaft dargestellt. Bei dieser Gelegenheit wird eine scharfe Kritik gegen die Kirche geführt, die den A r m e n von G e b u r t an bis z u m Begräbnis ihr bißchen Geld ablistet. Es wird gezeigt, daß der Protagonist in seinen j u n g e n Jahren keine Möglichkeit hatte, in der bestehenden Gesellschaftsordnung seinen Platz zu finden. So lief er zur Räuberbande des Dobosch über. In der Erzählung über den b e r ü h m t e n R ä u b e r h a u p t m a n n in den Ostkarpaten, Olexa Dobosch (eigentlich: Doubusch) nutzt Sacher-Masoch das zahlreiche Volksdichtungsgut, Sagen und Lieder über diese Gestalt, und verlegt dessen Tätigkeit fast u m ein Jahrhundert später, so wie er in der Skizze Die Karpathenräuber um das Jahr 1820 den H ö h e p u n k t seiner Wirkung festsetzt. Dagegen war der historische Doubusch, wie Wladyslaw A. Serczyk in der Monographie Hajdamacy berichtet, bereits während der Hajdamakenbewegung der dreißiger Jahre des 18. Jahrhunderts aufgetreten und wurde schon im Jahre 1745 vom Bauer Dzwiiiczuk getötet. Der Volksmund hat die Legende von dieser Tat als dem Racheakt eines eifersüchtigen E h e m a n n e s umgedeutet 1 1 . Sacher-Masoch ü b e r n i m m t das, ähnlich wie er auch viele märchenhafte Motive aus der Kindheit u n d über die Gefeitheit des Helden gegen die meisten Todesarten aus der Volksüberlieferung übernimmt. Trotz dieser Verschiebung in der Zeit gibt der Autor mit d e m Bild der Tätigkeit der Hajdamakenbande wesentliche Züge der galizischen Wirklichkeit vor 1848 wieder. Historisch betrachtet verbindet Sacher-Masoch mit Recht die Figur seines Dobosch mit der antifeudalen Bauernbewegung in der Ukraine 1 2 und läßt ihn als Rächer der unterdrückten Bauern auftreten. Anders als der spätere galizische deutschsprachige Schriftsteller H e r m a n n Blumenthal, der in seinem Roman Der Herr der Karpathen aus dem Jahre 1915 Dobosch als einen h u m a n e n , barmherzigen Menschen stilisiert hat, scheut Sacher-Masoch nicht vor der Darstellung der Greueltaten des Volkshelden zurück, er schildert die grausamen Foltern und das qualvolle Sterben der Bauernverfolger, die in die Hände des Räubers fallen. Diese Fassung stimmt mit der historischen Überlieferung überein. Der
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Zur g e s e l l s c h a f t l i c h e n Problematik in der „Galizienliteratur"
Autor betont zugleich, daß jene grausamen Femegerichte eine gerechte Vergeltung für das dem Volke angetane Unrecht brachten. So dient die angeführte Geschichte des Dobosch, ähnlich wie andere Texte von Sacher-Masoch aus dem Stoffkreis „Hajdamaken", der Anklage der feudalen Bauernunterdrückung in Galizien vor 1848, die diese gewaltsame Selbsthilfe notwendig machte. Der Schlußteil des Rahmens enthält eine reizvolle Darstellung des Morgens im Gebirge und ergänzt das Bild des huzulischen Lebens um einige interessante Elemente ihres Aberglaubens. Die Hauptfunktion dieses Teiles ist, das Erzählte zu resümieren und die Reflexionen des Dichters darüber auszudrücken. Der gebildete Erzähler knüpft an den Unterschied zwischen der Zivilisation der Städte und der unberührten Natur der Berge an und weist auf eine ähnliche Gegenüberstellung zwischen der Welt des Westens und Ostens hin. „Dort drüben das müde Europa, verwittert wie das Gestein, das unter unseren Füßen zur Tiefe bröckelt, kranke Völker mit allen Leiden behaftet, die Alter und Reichtum mit sich bringen; dort gibt es nichts was nicht gemessen und berechnet, was nicht gewogen und benannt wäre (...). Hier dagegen die jugendfrischen Nationen des Aufgangs, mit kindlichen Sinnen den Geheimnissen der Schöpfung lauschend, welche sie liebevoll an ihr Herz schließt, beherrscht von dem Gefühle der Naturnotwendigkeit, des ewigen unveränderlichen Menschenschicksals" (S. 115). Die Gegenüberstellung von der verpesteten, im ungesunden Treiben begriffenen Zivilisation und der friedvollen, ursprünglichen Natur ist natürlich kein neuer Gedanke. Für die traditionelle Regionalliteratur ist die Gestaltung solcher Polarität sogar eines der konstitutiven Merkmale. Man sollte jedoch auf die spezifische Ausprägung dieses Motivs bei Sacher-Masoch hinweisen, der den Menschen des Ostens einen ruhigen Fatalismus zuschreibt. Dieser Fatalismus beruhe darauf, daß sie sich weise mit dem sowieso nicht veränderbaren Lauf der Dinge abfinden. Sacher-Masoch sympatisiert mit dieser Haltung, die er angesichts seiner deterministischen Weltanschauung für die einzige richtige hält. Eine radikale Kritik an der bestehenden Gesellschaftsordnung enthält auch die galizische Erzählung Basil Hymen. Auch in ihrem Mittelpunkt steht ein Mensch, den die ökonomischen Verhältnisse zwangen, als Außenseiter eine Zeitlang außerhalb der Gesellschaft schlechthin und dann außerhalb seiner sozialen Klasse zu leben. Der Hauptheld ist ein ukrainischer Edelmann, ein ehemaliger Gutsbesitzer, der zum Erzählzeitpunkt als Winkelschreiber unter den Bauern lebt und ihnen auf dem Rechtswege den Kampf gegen den Adel führen hilft. Obwohl die Erzählzeit bereits als die Periode nach 1848 bestimmt wird, erscheint diese Selbsthilfe der sozial Schwächeren gar nicht als überflüssig. Die Erzählung umfaßt weniger abstrakte Überlegungen als die vorher geschilderte. Die Schlußfolgerungen lassen sich vornehmlich aus der Lebensgeschichte Basil Hymens ziehen. Die Erzählsituation ergibt sich aus einer zufälligen Begegnung zwischen dem mit dem Verfasserais identisch angelegten IchErzähler und dem Protagonisten in einer ostgalizischen Bauernhütte. Der Le-
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ser lernt den Helden zuerst aus der warmen Schilderung der Bauern kennen, erst dann betritt Basil persönlich den Schauplatz der Geschichte. Eine Unterredung unter den Bauern bereitet das Thema der ungerechten Güterverteilung vor. Der Felddieb Gabris vertritt die gleiche Auffassung von dem gerechten bzw. ungerechten Eigentum wie der ehemalige Hajdamak Hrehora aus der bereits analysierten Erzählung: „Aber bedenkt doch, (...) hat Gott irgendeinem das Feld abgesteckt oder Grenzsteine gesetzt in den Wald? Er läßt die Bäume und die Erde Frucht tragen für jedermann. Wer ist hier der Dieb? Jener, der für sich allein nimmt, was allen gehört, und seinen Raub nach seinem Tode seinen Erben hinterläßt." (S. 276). Wiederum sind es soziale Ansichten, die nur einer spezifischen Figur zugeordnet werden, aber der Verfasser scheint die von den Bauern allgemein vertretene Auffassung zu teilen, daß lediglich die ursprüngliche Gesellschaftsordnung, die auf dem gemeinsamen Besitz des Bodens durch die Gemeinde beruhte, gerecht gewesen war. Es wird über Basil Hymen als über einen Menschen berichtet, der alles verloren hat und sich dennoch, oder erst recht, als er nichts mehr sein eigen nennen kann, glücklich fühlt. Die Bauern halten seine Geschichte für ein Beispiel, daß das Eigentum den Menschen unglücklich mache. Er selbst erzählt von der Habsucht der Menschen, von einem unerbittlichen Kampf der Egoismen als von einem Daseinskampf, der dem Selbsterhaltungstrieb entspringt. Allen diesen generellen Bemerkungen folgt die Geschichte Basils, die sich auf spezifische Bedingungen des gesellschaftlich-ökonomischen Lebens gründet. Sie werden konkret als galizische Verhältnisse der dreißiger Jahre ausgeformt und vom Verfasser als typisch für die damalige Wirklichkeit betrachtet. Der ehemalige Gutsbesitzer Basil hat laut Erzählung sein Vermögen infolge einer ungünstigen Schicksalsfügung und seiner kleinen Schwäche für Gäste und Geselligkeit verloren. Was bei anderen deutschschreibenden Schriftstellern als galizische Verschwendungssucht erscheint, die zu Recht mit wirtschaftlichem Ruin bestraft wird, betrachtet Sacher-Masoch als eine an sich positive, ja schöne Eigenschaft, die aber, von egoistischen Schmarotzern mißbraucht, den Großzügigen zum Fall bringen kann. In der Geschichte Basils haben der Novemberaufstand des Jahres 1830/31 und die darauf folgende Choleraepidemie die Rolle der „objektiven" Schicksalschläge gespielt, aber erst Basils Mitmenschen, seine adligen Gäste und die Emigranten aus dem Königreich Polen, die sich patriotisch gebärdeten, ohne wirkliche Verdienste für das Vaterland zu haben — wie der Erzähler bezeichnenderweise durchblicken läßt — haben den großmütigen Gastgeber endgültig zum Fall gebracht. Der einzige, der dem jungen Edelmann und seiner bereits schwangeren Frau zu helfen suchte, so lange es ging, war der jüdische Faktor der Familie. Aber dann konnte auch er keinen Kredit mehr für den unsoliden Gläubiger bekommen, und Basils Gut wurde nach und nach verpfändet. Als Basil sogar das Haus verlassen soll, verschanzt er sich darin und will seine Habe vor den Gerichtsbeamten mit Gewalt verteidigen. Schließlich sprengt er das belagerte Haus und flieht mit seiner Frau ins Gebirge. Der folgende Teil der Erzählung hat die Form einer
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Z u r g e s e l l s c h a f t l i c h e n P r o b l e m a t i k in d e r „ G a l i z i e n l i t e r a t u r "
Robinsonade, der Darstellung eines harmonischen unbeschwerten Familienlebens inmitten der Karpateneinöde. Nach zwei Jahren lassen sich die Eheleute von dem alten Freund Salomon zur Rückkehr in die menschliche Gesellschaft überreden, und das gleiche Unglück des Bankrotts passiert wieder. Basil hat nun sein Glück als Verkaufsvermittler versucht, aber er ist dabei zu ehrlich, so daß er sich und der Familie den Lebensunterhalt nicht sichern kann. Sein altes Gut erwarb ein ehemaliger deutscher Mandatar, der seinen Herrn betrogen und die Bauern ausgebeutet hatte. Der Verfasser betrachtet solchen Sachverhalt als einen typischen. Er zeigt, daß es dem Unehrlichen gut geht, daß der rücksichtslose Mensch emporkommt, während der redliche und sensible Basil wiederum scheitert. Seine Familie hungert, die Frau wird krank und stirbt, und Basil vermag nur mit Hilfe seines Juden das Geld zu ihrer Bestattung zu erhalten. Dann stirbt auch sein kleiner Sohn. So nimmt der vom Leben Enttäuschte endgültig Abschied von der Gesellschaft. Er kehrt in die Karpaten zurück, führt ein unstetes Wanderleben und wird zum Berater und Helfer der Bauern aus der ganzen Umgegend. Erst jetzt fühlt er sich glücklich, da ihn kein Eigentum mehr fesselt. Als ihm ein Onkel in der Bukowina sein Gütchen übereignen will, lehnt er ab. Lieber lebt er unabhängig und frei inmitten der schönen Natur, die auch in dieser Erzählung als Gegenpol zur verdorbenen menschlichen Gesellschaft aufgefaßt wird. Die beiden Erzählungen beschäftigen sich mit der Problematik der auf Privateigentum gegründeten Gesellschaftsordnung und des unerbittlichen Daseinskampfes anhand der Beispiele, die in der außerliterarischen Wirklichkeit Galiziens im 19. Jahrhundert wurzeln. Die künstlerische Gestaltung dieses Stoffes zum erzählten Raum versieht dieses Land mit einem Doppelgesicht. Einerseits steht Galizien für die menschliche Gesellschaft der sozialen Ungerechtigkeit, der ungleichen und unbegründeten Güterverteilung, des Kampfes der Starken gegen die Schwachen. Anderseits zeigt der Verfasser exotische Karpatengegenden, Dörfer auf den Bergabhängen, Almen, Wälder und Felsenschluchten und Menschen, die diese Landschaft bewohnen, friedliche, in ihr Schicksal ergebene Bauern und setzt sie dem Bereich der Stadt und Zivilisation entgegen. Das anhand der ausgewählten Beispiele dargestellte Panorama des gesellschaftlichen Lebens in Galizien stellt trotz mancher Schablonen und sich wiederholenden Motive eine Vielfalt dar, die sich in der Problemstellung nicht auf einen Nenner bringen läßt. In den allermeisten Fällen spielen sich die „galizischen Geschichten" Sacher-Masochs auf dem Lande im östlichen Teil der Provinz ab, meistens entweder auf der podolischen Ebene oder in den Karpaten. Dabei wird die Rolle der Landschaft entweder auf die einer klischeehaften Staffage reduziert (z.B. in Sociale Schattenbilder), oder sie bildet auf eine originellere Weise den Stimmungshintergrund. Außerdem kann die Raumgestaltung eine Gegenüberstellung der Natur der verdorbenen Welt der (Stadt-)Zivilisation enthalten. Von den beiden wichtigsten gesellschaftlichen Klassen, die diese Gegenden Galiziens bevölkerten, werden häufiger die Bauern als Hauptfigu-
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ren der E r z ä h l u n g e n v o m A u t o r gewählt. I n n e r h a l b der Klasse der Adligen bevorzugt S a c h e r - M a s o c h die S c h i l d e r u n g v o n kleinen L a n d e d e l l e u t e n (wie z.B. Basil H y m e n ) , die selbst ö k o n o m i s c h e P r o b l e m e h a b e n . Die wirklichen „Herren", die G r o ß g r u n d b e s i t z e r e r s c h e i n e n fast i m m e r in der F u n k t i o n des G e genspielers u n d des „schwarzen Charakters". D e r H a u p t h e l d ist m a n c h m a l als Kollektiv g e s e h e n , die ganze D o r f g e m e i n d e tritt ab u n d zu in dieser F u n k t i o n auf. Die K o n f l i k t s i t u a t i o n e n e r g e b e n sich fast i m m e r aus der gesellschaftlichen U n g e r e c h t i g k e i t u n d U n g l e i c h h e i t , wobei der Schriftsteller ganz e i n d e u t i g sein e S y m p a t h i e f ü r die b e d r ü c k t e n u n d b e d r ä n g t e n B a u e r n m a n i f e s t i e r t . Die m e i s t e n K o n f l i k t e w e r d e n in der Zeit vor 1848 angesiedelt, u n d der K o m m e n tar des Erzählers b e t o n t , daß sie der V e r g a n g e n h e i t a n g e h ö r e n , weil ihre Ursac h e n nicht m e h r existieren. W o die dargestellte S t r u k t u r der T e x t e diese Disk o n t i n u i t ä t der P r o b l e m s t e l l u n g z u m A u s d r u c k bringt, weist die mitgeteilte S t r u k t u r keine p r a g m a t i s c h e Z i e l s e t z u n g auf. Die g e s c h i l d e r t e n B a u e r n der V o r m ä r z z e i t h a b e n k a u m M ö g l i c h k e i t e n , sich g e g e n das i h n e n z u g e f ü g t e U n recht zu w e h r e n . Als die einzigen M o d e l l e der A b w e h r e r s c h e i n e n die gewalttätige Hilfe des H a j d a m a k e n u n d die Hilfe d u r c h d e n W i n k e l s c h r e i b e r , der es d e n D o r f b e w o h n e r n ermöglicht, ihre Klagen auf d e m g e s e t z l i c h e n W e g e vora n z u b r i n g e n . Die M a s s e der B a u e r n bleibt passiv u n d s u c h t Trost in fatalistischer Schicksalsergebenheit. S a c h e r - M a s o c h f i n d e t diese H a l t u n g , die aus der N a t u r v e r b u n d e n h e i t u n d -abhängigkeit des M e n s c h e n des O s t e n s erklärt wird, a n z i e h e n d , da sie a u c h mit seiner e i g e n e n p e s s i m i s t i s c h - d e t e r m i n i s t i s c h e n W e l t a n s c h a u u n g ü b e r e i n s t i m m t . Er solidarisiert sich aber m i t d e n j e n i g e n Held e n , die sich selbst h e l f e n wollen, u n d billigt sogar d e n W e g der G e w a l t , da jen e r zur Justiz wenig h e l f e n k o n n t e . N i c h t s d e s t o w e n i g e r m ü n d e n die „Rebell i o n e n " seiner H e l d e n als verzweifelte S e l b s t h i l f e v e r s u c h e in N i e d e r l a g e n . Dam i t w u r d e das gesellschaftliche K r ä f t e v e r h ä l t n i s im h i s t o r i s c h e n Galizien richtig w i e d e r g e g e b e n . In solchen E r z ä h l u n g e n wie Das Erntefest o d e r Unser Deputirter e r s c h e i n e n die B a u e r n n a c h 1848 als die endlich von d e n F e u d a l l a s t e n befreiten, w e n i g s t e n s f o r m a l g l e i c h b e r e c h t i g t e n Staatsbürger, die trotz f e h l e n d e r Bildung g e s u n d e n M e n s c h e n v e r s t a n d u n d sozialen Instinkt a u f w e i s e n . Diese E i g e n s c h a f t e n e r l a u b e n i h n e n , richtige E n t s c h e i d u n g e n zu t r e f f e n . M a n c h m a l läßt der Schriftsteller v o n der Perspektive der Zeit nach 1848 aus d u r c h b l i c k e n , er wisse d o c h Bescheid, daß nicht alle P r o b l e m e in Galizien gelöst w o r d e n sind. U n d in d e n E r z ä h l u n g e n a u s d e m Band Das Eigentum in d e m Zyklus Das Vermächtnis Kains ä u ß e r t er seine Ü b e r z e u g u n g , daß die auf P r i v a t e i g e n t u m u n d u n g l e i c h e G ü t e r v e r t e i l u n g g e s t ü t z t e G e s e l l s c h a f t s o r d n u n g u n g e r e c h t ist u n d d u r c h eine sozialistische im S i n n e der u r t ü m l i c h e n E i g e n t u m s g e m e i n schaft a b z u l ö s e n wäre. Die dargestellte S t r u k t u r solcher T e x t e ü b e r m i t t e l t ein Bild der gesellschaftlichen B e z i e h u n g e n in Galizien, das g e m ä ß d e m A n l i e g e n der m i t g e t e i l t e n S t r u k t u r n u r als ein Beispiel f ü r die falsche G e s t a l t u n g der bisherigen G e s e l l s c h a f t s o r d n u n g in E u r o p a s c h l e c h t h i n f u n g i e r t .
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Zur g e s e l l s c h a f t l i c h e n Problematik in der „Galizienliteratur"
2.2. Die gesellschaftskritische Dorfgeschichte bei Karl Emil Franzos Die „galizischen" Werke von Karl Emil Franzos aus dem Umkreis der gesellschaftlichen Problematik stellen ein wesentlich einheitlicheres Bild als die besprochenen Texte von Sacher-Masoch dar. Allen diesen Geschichten liegt in einem schwächeren oder stärkeren Ausmaß das gesellschaftskritische Anliegen zugrunde. Das gilt für den gesamten „halb-asiatischen" Zyklus sowie die meisten Einzelveröffentlichungen. Unterschiede gibt es in bezug auf den Rang der Gesellschaftskritik im Text und auf die Gestaltungsweise. Manchmal steht diese Tendenz im Mittelpunkt der Interessen des Autors, zuweilen bildet sie lediglich den Hintergrund. Die Gesellschaftskritik wird entweder ausschließlich indirekt durch die Handlungsführung ausgedrückt, oder sie kommt außerdem in den moralisierenden Kommentaren des Erzählers zur Geltung. Von den Werken, in denen die gesellschaftlichen Beziehungen Galiziens die Zentralstellung einnehmen, klammern wir vorläufig den ganzen Bereich der „Judengeschichte" aus und beschäftigen uns im folgenden mit Texten über das Bauernmilieu in Ostgalizien. Die Bezeichnung „Dorfgeschichte" wird dabei umfassend angewandt, neben den novellenartig straff konstruierten Erzählungen werden auch die lockerer aufgebauten, nur mit Ansätzen von einer Handlung operierenden „Kulturbilder" in Betracht gezogen. Nur am Rande unseres Forschungsfeldes bleibt aus chronologischen Gründen das umfangreichste epische Werk von Franzos, das er dem Leben der ostgalizischen Bauern widmete, der Roman Ein Kampf ums Recht (1882). Die Handlung dieses Romans ist nämlich in der genau festgelegten Zeit von 1835 bis 184013 angesiedelt. Da jedoch eine Erörterung der sozialen Ansichten des Schriftstellers ohne Berücksichtigung seines wichtigsten Textes aus diesem Umkreis unmöglich ist, sei auf die Problematik des Romans wenigstens zusammenfassend hingewiesen. Motive aus dem Bereich des gesellschaftlichen Antagonismus zwischen dem galizischen Adel und den Bauern einerseits und den kaiserlichen Beamten und den Bauern anderseits, die in kleineren Werken des Verfassers einzeln auftreten, werden hier zu einem Gesamtpanorama des sozialen Lebens im vormärzlichen Ostgalizien integriert. Das Thema des Romans ist der Kampf eines ukrainischen Bauern um das Recht. Die Handlungsstruktur erinnert an die Novelle Michael Kohlhaas, aber der Held des Romans führt jenen Kampf anders als der Protagonist Kleists, nicht um das persönlich erlittene Unrecht zu rächen, sondern um zuerst seiner Gemeinde und dann der ganzen Provinz zu ihrem Recht zu verhelfen 14 . Taras Barabola wird mit einem besonders sensiblen Gefühl für Gerechtigkeit ausgestattet. Er versucht sein Dorf, in dem er das Amt des Richters bekleidet, auf den Weg der friedlichen Lösung der Konflikte mit der Grundobrigkeit zu leiten. Der unredliche Mandatar des in Paris lebenden Gutsbesitzers mißbraucht die Rechtschaffenheit der Bauern, um der Gemeinde ungesetzliche Feudallasten aufzubürden. Nach denselben Grundsätzen handelt Taras, als es zu einem Streit zwischen
Die gesellschaftskritische D o r f g e s c h i c h t e bei Karl Emil F r a n z o s
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der Gemeinde und dem Dominium wegen eines dem Dorfe zugehörigen Ackers kommt, auf dem die Bauern unvorsichtiger Weise das schwarze Kreuz verrückten, das einst die Grenze markiert hatte. Taras sucht nach Recht auf dem Justizwege und bestreitet den Prozeß vom eigenen Vermögen. Als die korrumpierten galizischen Behörden versagen, geht der zähe Bauer sogar zum Kaiser. Der geistesschwache Ferdinand ist jedoch nicht imstande, sein Begehren zu verstehen, geschweige denn zu erfüllen. In dem Augenblick, als der Held den negativen Bescheid bekommt und somit endgültig in seinem Glauben an den gerechten Lauf der Welt erschüttert wird, sagt er seinem Kaiser den heiligen Krieg im Namen der verletzten Gerechtigkeit an. Er führt ihn als Hajdamak, als Hauptmann einer Bande von Karpatenräubern, sucht also jetzt das Recht mit Gewalt wiederherzustellen. So überfällt er galizische Edelleute, Pfarrer und Beamte, gegen die ihn arme Leute um Hilfe bitten, denen ein Unrecht zugestoßen ist. Erst als er erfährt, daß eines der Mitglieder seiner Bande sich seiner als Werkzeug einer privaten Rache bediente, um einen unschuldigen Edelmann zu töten, hört er auf, an seine göttliche Sendung zu glauben und liefert sich den Behörden aus. Das Todesurteil nimmt er gelassen hin, als Sühne für seine Taten, doch in der Überzeugung, daß es ohne seine Tätigkeit mehr Unrecht in Galizien gegeben hätte. Den Volksmassen im Roman von Franzos fehlt das soziale Bewußtsein, oder es ist erst im Entstehen begriffen. Sie sind nicht imstande, das erlittene Unrecht selbst zu rächen, erst ein außergewöhnlicher Mensch kann sich ihrer annehmen. Von diesem aufkeimenden Bewußtsein zeugt allerdings die Tatsache, daß die den „Schreibern des Kaisers" nicht mehr trauenden Bauern von Zulawce, nun auf sich selbst angewiesen, eine Republik gründen, die sich einige Monate lang behaupten kann. Diese Episode aus der Ebene der dargestellten Struktur fungiert als ein Leitbild, das das gesellschaftskritische Anliegen des Werkes um die Elemente einer konstruktiven Lösung erweitert. Der Verfasser ist sich jedoch des utopischen Charakters dieser Konzeption bewußt, so scheitert die Bauernrepublik nach einiger Zeit. Die wichtigsten Zielscheiben seiner Kritik im Roman sind einerseits die überkommenen, vielerlei Mißbräuche ermöglichenden Feudalverhältnisse in Galizien, anderseits die Korruption des staatlichen Verwaltungsapparats in dieser Provinz. Da Franzos diesen Roman schon in der Verfassungsära verfaßte, war das zu diesem Zeitpunkt schon historische Bild des feudalen Abhängigkeitsverhältnisses der Bauern zum Großgrundbesitz wahrscheinlich nur ein Vorwand, u m das Ziel der mitgeteilten Struktur zu realisieren. Als solches muß die Bestrebung des Autors aufgefaßt werden, die nach wie vor auch nach 1848 und 1867 bestehenden Mißstände im gesellschaftlichen und juristischen Leben des Landes aufzudecken und die Bauern als die sozial Schwächsten in Schutz zu nehmen. Die gleiche Grundeinstellung des Verfassers, der sich für die unterdrückten und in Unwissenheit lebenden ostgalizischen Bauern einsetzt, läßt sich in seinen Novellen und Skizzen beobachten, wobei er sich dort bereits entweder zeitgenössischer Stoffe bedient oder die Zeitebenen vor und nach 1848 zusam-
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Z u r g e s e l l s c h a f t l i c h e n P r o b l e m a t i k in d e r „ G a l i z i e n l i t e r a t u r "
menstellt. Besonders typisch u n d als Z e i t d o k u m e n t ergiebig sind zwei G e schichten aus d e m ersten Band der S a m m l u n g Aus Halbasien: Der Aufstand von Wolowce (1874) u n d Der Richter von Biala (1875). Der Aufstand von Wolowce trägt die F o r m einer doppelten Rahmengeschichte. Der äußere R a h m e n zeigt den Ich-Erzähler, der deutliche autobiographische Züge aufweist, wie er nach f ü n f z e h n Jahren, n a c h d e m er die Heimat als Halbwüchsiger verlassen hatte, sie wieder besucht. Sein Verhältnis zu Galizien ist ein recht zwiespältiges. Einerseits schämt er sich angesichts der „schmutzigen G ä ß c h e n " , „dumpfigen H ü t t e n " u n d „verwahrlosten M e n s c h e n " und beneidet alle, „welche ihrer Heimat als einer lichten, f r e u n d l i c h e n Stätte gedenken k ö n n e n " (S. 5). Anderseits hängt er doch an dieser H e i m a t und meint, daß dies der Z a u b e r der Natur, der Heide, der podolischen E b e n e bewirke. Dieses Lob der heimatlichen N a t u r ist ein typisches Merkmal der traditionellen Regionalliteratur des 19. J a h r h u n derts, während die Kritik an ihren sozial-ökonomischen u n d kulturellen Zuständen als ein Erbe des didaktischen A u f k l ä r u n g s g e d a n k e n s erscheint u n d eher eine V e r n e i n u n g der h e r k ö m m l i c h e n „Heimatliteratur" bedeutet. Auf der Heide begegnet der Erzähler e i n e m Kreuz aus schwarzen T a n n e n b a l k e n , auf d e m sich keine Figur des Christus, sondern n u r eine eingeritzte Hacke als Freiheitssymbol befindet. Es wurde aufgerichtet, „da die Hörigkeit von den Leibern dieser a r m e n M e n s c h e n fiel", also im Jahre 1848. Der Ich-Erzähler begegnet zwei armselig gekleideten u n d verschüchterten H i r t e n k n a b e n , u n d er glaubt sich in j e n e Zeit vor f ü n f z e h n Jahren zurückzuversetzen. D e r innere R a h m e n schafft die eigentliche Erzählsituation des Textes: Der u m f ü n f z e h n Jahre verjüngte Erzähler wird aus d e m S c h l u m m e r auf der Heide von d e m alten Jacek, einem geisteskranken Spielmann, geweckt u n d erfährt von ihm die Geschichte des „Aufstandes von Wolowce", an d e m sich j e n e r beteiligt hat. Die a n d e r e n Bauern sind im Gefängnis, aber Jacek wurde als u n z u rechnungsfähig vom Kreisgericht freigesprochen. Seine Gestalt verbindet den R a h m e n mit der Binnengeschichte. Ihre Fabel ist ziemlich einfach u n d bis zu e i n e m gewissen P u n k t durchaus konventionell: Es handelt sich u m eine auf feudale gesellschaftliche Verhältnisse u n d das vielfach von der schöngeistigen Literatur bloßgestellte „ius primae noctis" g e g r ü n d e t e E n t f ü h r u n g s g e s c h i c h t e , die von der Willkür u n d G r a u s a m k e i t polnischer G r u n d b e s i t z e r r u t h e n i s c h e n Bauern g e g e n ü b e r zeugen soll. D e r Dorfbesitzer von Wolowce, der seit eh und je hiesigen M ä d c h e n nachstellte, e n t f ü h r t u n d vergewaltigt die Verlobte des stolzen Kosaken u n d ehemaligen kaiserlichen Soldaten Fedko. Dieser verzichtet aber, seiner Mutter, der Religion u n d vor allem der Ehre seines Regiments zuliebe, auf Rache u n d n i m m t es schweigend hin, daß sich die unglückliche Xenia das Leben n i m m t . Erst nach Jahren überwindet er den Schmerz soweit, daß er sich entschließt, ein anderes M ä d c h e n , die schöne u n d reiche Hanusia zu heiraten. Aber auch diese wird von Herrn Barwulski gleich nach der Hochzeit e n t f ü h r t , vergewaltigt und mißhandelt. D a r a u f h i n entscheidet sich Fedko, den das ganze Dorf unterstützt, zur Selbsthilfe u n d Bestrafung des Missetäters. D e r erste Angriff auf die Burg mißglückt, die Bauern h a b e n Verluste. Erst
Die gesellschaftskritische D o r f g e s c h i c h t e bei Karl Emil F r a n z o s
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bei d e m zweiten Versuch gelingt es ihnen, das Schloß zu erobern u n d den Herrn g e f a n g e n z u n e h m e n . Barwulski hat sein Leben verwirkt, da ihm aber der barmherzige F e d k o erlaubt, vor d e m T o d e den Priester zu rufen, gewinnt der Schuldige Zeit u n d wird von d e m inzwischen aus der Stadt geholten Militärregiment befreit. Die „Rebellen" ergeben sich u n d werden nach e i n e m Gerichtsverfahren zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt, n u r Fedko flieht in die Berge u n d wird z u m Hajdamaken. Nach einiger Zeit wird er von Michalko, dem Handlanger des Herrn, erwischt u n d erschossen. Diese Geschichte wird mit zwei K o m m e n t a r e n versehen: d e m „naiven" des geistesschwachen Bauern Jacek u n d d e m reflektierenden des gebildeten Erzählers. In d e m G l a u b e n des Greises, der unerschütterlich auf die Gerechtigkeit des Kaisers baut, wird die abgöttische V e r e h r u n g der Bauern f ü r den Kaiser, der wiedergutmachen wird, was seine „Schreiber" verschuldet haben, thematisiert u n d das willkürliche Walten der österreichischen Beamten in Galizien einer scharfen Kritik unterzogen. Die Tatsache, daß die Gestalt, die diesen naiven G l a u b e n ausspricht, ein W a h n s i n n i g e r ist, scheint d e m literarischen T o p o s des Irren als des einzigen richtig d e n k e n d e n M e n s c h e n in der verkehrten Welt zu entsprechen. D e r Ich-Erzähler faßt die Geschichte mit einem Naivität vortäuschenden R e s ü m e e z u s a m m e n : „Es ist nicht gut, daß solche G e s c h i c h t e n geschehen. Es ist nicht gut f ü r die Polen, nicht f ü r die R u t h e n e n , nicht für die österreichische Regierung" (S. 10). Der Schlußteil des äußeren R a h m e n s dient der Beweisführung, daß sich in Galizien in j e n e n letzten f ü n f z e h n Jahren nichts verändert habe. Nach Herrn Barwulski gefragt, antworten die kleinen Hirten, er sei vor f ü n f Jahren „am Schnaps" gestorben. Der n e u e G r u n d h e r r von Wolowce, der A r m e n i e r Bogdan sei auch nicht besser. Davon zeugt schon die Tatsache, daß er u n t e r den Bauern den Spitznamen „die W a n z e " trägt. D e r Junge verallgemeinert das, ind e m er die J a h r h u n d e r t e alte E r f a h r u n g seiner sozialen Klasse auszusprechen weiß: „ein Engel wird doch nie G u t s h e r r in Podolien". Der Erzähler k o m m e n tiert diese Aussage mit den W o r t e n „Engel bräuchten es nicht zu sein, w e n n es n u r M e n s c h e n wären!" (S. 48). Diese Replik enthält in nuce das gesellschaftskritische Anliegen des Textes. Als Symbol f ü r die bisherige Unverrückbarkeit der gesellschaftlichen Beziehungen in Galizien fungiert das schwarze Kreuz, dessen Bild den R a h m e n schließt: „Es ward aufgerichtet, da die Hörigkeit von den Leibern dieser a r m e n M e n s c h e n fiel. W a n n k o m m t der Tag, da sie von ihren Seelen fällt? Armes, armes Volk, wann k o m m t dein Tag?" (S. 49). Die Mittel der Fiktionalisierung w u r d e n in dieser Erzählung auf zwei Z e i t e b e n e n eingesetzt, u m zu veranschaulichen, daß die Kritik an der feudalen Willkürherrschaft in Galizien trotz der A u f h e b u n g der Fronpflicht im Jahre 1848 in der Zeit, in der dieser Text veröffentlicht wurde, aktuell blieb. Der A u t o r sieht auch keine guten Prognostiken f ü r die Z u k u n f t in dieser Provinz. Die Novelle Der Aufstand von Wolowce enthält im Keime alle Situationen, die auch f ü r das reifere W e r k von Franzos charakteristisch sind. Dazu g e h ö r e n drei Etappen der H a n d l u n g s f ü h r u n g . Als das katalysierende M o m e n t f ü r die
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Z u r g e s e l l s c h a f t l i c h e n P r o b l e m a t i k in d e r „ G a l i z i e n l i t e r a t u r "
Zuspitzung des sozialen Konflikts fungiert die V e r f ü h r u n g bzw. Vergewaltigung eines B a u e r n m ä d c h e n s . Die zweite Phase bildet die anfängliche D u l d u n g des U n r e c h t s bzw. Suche nach d e m Recht auf d e m Justizweg. Diese zweite Variante k o m m t im Aufstand von Wolowce nicht in Frage, da die Bauern Bescheid u m die Korruption der B e h ö r d e n wissen. Die letzte Phase wird durch die Entscheidung für die Selbsthilfe gekennzeichnet, als das U n r e c h t jedes Maß übersteigt. Dieser Versuch e n d e t mit der Niederlage der sozial benachteiligten Klasse. Als eine Variation des Selbsthilfemotivs erscheint die Flucht in die Berge, d e n n n u r der unabhängige Hajdamak könne den f e h l e n d e n Justizarm ersetzen. Aber auch ihn erwartet f r ü h e r oder später die Niederlage, die aus d e m gesellschaftlichen Kräfteverhältnis resultiert. Solche Fabelgestaltung entspringt der Erkenntnis des Autors, daß das galizische B a u e r n t u m keine C h a n c e hatte, sich gegen die Großgrundbesitzer zu b e h a u p t e n . Die gesellschaftliche Kritik des Verfassers richtet sich vor allem gegen die galizischen Gutsbesitzer u n d Beamten, die die Erlässe des Kaisers mißachten und ihre adligen Brüder in deren Willkürherrschaft decken, u n d am Rande auch gegen die Geistlichen. Die Vertreter der zwei angeprangerten Klassen sind in der Novelle der E d e l m a n n Barwulski, der Bezirksvorsteher von Struzek und der Bezirkskommissär Krapulinski. Alle drei stellen feste Typen dar, denen m a n auch im späteren Schaffen von Franzos i m m e r wieder begegnet. Es sind eher Karikaturen als realistisch gezeichnete Gestalten, obwohl der ganze Text in der K o n v e n t i o n des Realismus verfaßt wurde. Herr von Barwulski wird mit allen möglichen negativen Z ü g e n ausgestattet. Der Erzähler sagt ihm Prasserei, leidenschaftliches Hasardspiel, u n m ä ß i g e T r u n k s u c h t , Grausamkeit der eigenen Frau gegenüber, rücksichtslose Frauenjägerei u n d beispielhafte Häßlichkeit nach. D e r letztgenannte Zug beweist am deutlichsten, daß es sich u m kein Porträt, sondern u m ein Zerrbild handelt. Die beiden Beamten werden weniger genau geschildert, aber aus einigen rasch e n t w o r f e n e n Z ü g e n ersieht m a n klar, daß Feigheit u n d vorbehaltloses Z u s a m m e n h a l t e n mit V e r m ö g e n den ihre Hauptcharakteristika bilden. Bei d e m katholischen Geistlichen wird der unmoralische Lebenswandel, beim P o p e n die T r u n k s u c h t angegriffen. Die r u t h e n i s c h e n Bauern erscheinen in ihrer Masse als äußerst friedliche, geduldige u n d stille M e n s c h e n , die erst in einer Extremsituation den ungleichen Kampf a u f n e h m e n . V o n der Masse unterscheidet sich Fedko, dessen stärkeres Selbstbewußtsein u n d ausgeprägteres E h r g e f ü h l auf seine H e r k u n f t aus einem Kosakengeschlecht u n d den Militärdienst zurückgeführt werden. Die Schilderung des sozialen Konflikts enthält wesentliche Merkmale der außerliterarischen Wirklichkeit Ostgaliziens, auch w e n n die novellistische Handlungsgestaltung ziemlich sensationell wirkt. Dieses Überraschende u n d Seltsame der Bauernrebellion ist aber keineswegs unwahrscheinlich, w e n n m a n sich die zeitliche N ä h e zu den historischen Ereignissen des Jahres 1846 in Westgalizien vergegenwärtigt. Die Spontaneität u n d mangelndes soziales Bewußtsein bei der A u f n a h m e des K a m p f e s entspricht d e m damaligen niedrigen Bildungsgrad des galizischen Dorfes. Das Scheitern des Bauernaufstandes ist
D i e g e s e l l s c h a f t s k r i t i s c h e D o r f g e s c h i c h t e bei Karl E m i l F r a n z o s
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u n t e r d e n h e r r s c h e n d e n U m s t ä n d e n die einzige ü b e r z e u g e n d e L ö s u n g . N u r in einer H i n s i c h t stößt der Leser auf eine f ü r die G r u n d h a l t u n g des F r a n z o s s y m p t o m a t i s c h e V e r s c h i e b u n g des Bildes, w o v o n ü b r i g e n s a u c h die e r w ä h n t e n karikierten Bilder einiger F i g u r e n z e u g e n : In m a n c h e r l e i H i n w e i s e n wird d e r V e r s u c h u n t e r n o m m e n , d e n in seiner N a t u r gesellschaftlichen Konflikt, der o h n e weiteres a u c h u n t e r d e n V e r t r e t e r n der gleichen Nationalität h ä t t e passieren k ö n n e n , als e i n e n n a t i o n a l e n darzustellen. D e r A u t o r e r w ä h n t m e h r mals die „ E r b f e i n d s c h a f t " zwischen d e n Polen u n d R u t h e n e n , er h e b t d e n beg r ü n d e t e n H a ß der U k r a i n e r gegen ihre p o l n i s c h e n Peiniger hervor. D i e negativen F i g u r e n w e r d e n i m m e r w i e d e r mit d e m B e i n a m e n „der Pole", der wie ein S c h i m p f w o r t v e r w e n d e t wird, v e r s e h e n . I m Falle des p r i m ä r e n Konflikts zwis c h e n d e n p o l n i s c h e n G r u n d b e s i t z e r n in d e r U k r a i n e u n d d e n r u t h e n i s c h e n B a u e r n deckt sich tatsächlich die gesellschaftliche K l u f t mit der n a t i o n a l e n Z u gehörigkeit, aber relevant ist dabei der Klassenkonflikt. I m Falle des k o r r u m pierten V e r w a l t u n g s a p p a r a t e s ist die Bestechlichkeit u n d Gewissenlosigkeit der B e a m t e n auf k e i n e n Fall auf d e r e n Nationalität z u r ü c k z u f ü h r e n . Somit ers c h e i n t diese „Fiktionalisierung zweiten G r a d e s " d u r c h die V e r t a u s c h u n g der gesellschaftlichen D i m e n s i o n mit der n a t i o n a l e n als A u s d r u c k der im Kapitel 1 e r ö r t e r t e n politischen G r u n d h a l t u n g des A u t o r s . E i n e ä h n l i c h e F a b e l s t r u k t u r wie Der Aufstand von Wolowce weist die Novelle Der Richter von Biala auf. A b e r im G e g e n s a t z zur v o r h e r b e s p r o c h e n e n Novelle, in der wir es m i t e i n e m K o l l e k t i v h e l d e n zu t u n h a b e n , vertritt diese den Typ e i n e r b i o g r a p h i s c h e n E r z ä h l u n g , f ü r d e n F r a n z o s eine Vorliebe hat. D e r R a h m e n wird hier d u r c h eine von d e m Ich-Erzähler geleistete E i n f ü h r u n g ersetzt, in d e r er vorgibt, ein F r e u n d des T i t e l h e l d e n g e w e s e n zu sein, auf dessen einstige Bitte er n u n seine L e b e n s g e s c h i c h t e n i e d e r s c h r e i b t . Die mit einigen plastischen Z ü g e n g e z e i c h n e t e G e s t a l t des D o r f r i c h t e r s v o n Biala wird von d e m E r z ä h l e r als ein typischer R u t h e n e a u f g e f a ß t : „In Dir war die Eigenart Dein e s V o l k e s fast typisch ausgeprägt, u n d wer von Dir erzählt, erzählt v o n Dein e m Volke. D u warst langsam, schwerfällig, vorurteilsvoll, aber auch ehrlich, dankbar, treu bis z u r A u f o p f e r u n g " (S. 47) 15 . D i e s e keineswegs unkritische, aber w a r m e u n d t e i l n a h m s v o l l e E i n s t e l l u n g des Erzählers zu ukrainischen B a u e r n wird in der g a n z e n Novelle wie a u c h in d e m G e s a m t w e r k von F r a n z o s s c h l e c h t h i n d u r c h g e h a l t e n . Die d u l d s a m e n , U n r e c h t l e i d e n d e n u n d e i n e n ang e b o r e n e n G e r e c h t i g k e i t s s i n n a u f w e i s e n d e n R u t h e n e n w e r d e n d e n Polen, die in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g s y n o n y m f ü r die ö k o n o m i s c h u n d politisch privilegierten Klassen der G r o ß g r u n d b e s i t z e r u n d z u m Teil B e a m t e n v e r s t a n d e n w e r d e n , e n t g e g e n g e s e t z t . D e r A u t o r plädiert f ü r die ü b e r n a t i o n a l e u n d überk o n f e s s i o n e l l e Solidarität der U n t e r d r ü c k t e n in Galizien, die er g l e i c h e r m a ß e n in r u t h e n i s c h e n B a u e r n wie in der j ü d i s c h e n B e v ö l k e r u n g sieht. Das wird in d e n W o r t e n des Richters v o n Biala auf eine naive W e i s e t h e m a t i s i e r t : „ ( . . . ) was also die J u d e n betrifft, so wässert ja dieser M o s c h k o (der Schenkwirt von Biala, m i t d e m es der Richter als ein gleich a n d e r e n B a u e r n d e m Alkohol verfallener M e n s c h viel zu t u n hat — M.K.) d e n Schnaps, aber es ist d o c h ein h i m m e l -
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Z u r g e s e l l s c h a f t l i c h e n P r o b l e m a t i k in d e r „ G a l i z i e n l i t e r a t u r "
s c h r e i e n d e s U n r e c h t . N ä m l i c h was m a n i h n e n t h u t . Also was d e n k t sich so ein Pole? Er sagt: der J u d e ist ein H u n d ( . . . ) " (S. 46) u n d „Also m e i n e ich a u c h , wir u n d die J u d e n sollen j e d e r f ü r sich w e i d e n , a b e r g e m e i n s a m a u s s c h l a g e n , daß es n u r so w e t t e r t " (S. 47). D e r s e l b e G e d a n k e wird d a n n in der g r ö ß e r e n u n d reif e r e n E r z ä h l u n g von F r a n z o s Moschko von Parma weiterentwickelt, in der a u c h a n d e r e Motive aus Dem Richter von Biala w i e d e r z u f i n d e n sind. Die L e b e n s g e s c h i c h t e von Iwon M e g e g a wird aus d e s s e n Perspektive eines e i n f a c h e n , u n g e b i l d e t e n M e n s c h e n , der g e r n e p h a n t a s i e r t , u m s e i n e n Z u h ö rern zu i m p o n i e r e n , erzählt. D e r Ich-Erzähler, der diese G e s c h i c h t e a u f z e i c h net, v e r m e r k t es n u r i m m e r wieder, ob es sich im jeweiligen M o m e n t u m W a h r heit o d e r u m D i c h t u n g h a n d e l t . D e n e r s t e n Teil des H a n d l u n g s g e f ü g e s bildet die Liebe der Titelfigur zur s c h ö n e n Kasia, die S c h w a n g e r s c h a f t des M ä d c h e n s u n d die A s s e n t i e r u n g des H e l d e n . D e r j u n g e M a n n wollte sich selbst v e r s t ü m m e l n , u m d e m Militärdienst zu e n t g e h e n u n d die G e l i e b t e h e i r a t e n zu k ö n n e n , d e n n die R e k r u t e n w u r d e n im v o r m ä r z l i c h e n Österreich f ü r v i e r z e h n J a h r e e i n b e r u f e n . A b e r I w o n s Vater, der damalige D o r f r i c h t e r , verweist ihn deswegen a u f s schärfste u n d m a c h t ihn auf seine patriotische Pflicht a u f m e r k s a m . Er r u f t im Z o r n aus, sein S o h n sei „ärger als ein J u d e , sogar s c h o n so schlecht wie ein Pole!" u n d b e l e h r t d e n A b t r ü n n i g e n : „ D u hast vergessen, daß D u ein ,Austriak' bist, u n d willst D e i n e n Kaiser b e t r ü g e n " (S. 65). Die staatserhaltende Motivation in b e z u g auf d e n Militärdienst k o m m t a u c h in der s p ä t e r e n Skizze von F r a n z o s aus d i e s e m T h e m e n k r e i s , Der Fehlermacherib, vor. Im M u n d e e i n e s galizischen B a u e r n klingt diese A r g u m e n t a t i o n nicht s e h r ü b e r z e u g e n d , m a n kann sie e h e r als e i n e n A u s d r u c k der A n s i c h t e n des A u t o r s ü b e r die Rolle des Staates u n d d e n Militärdienst als eine der wichtigsten Pflichten des Bürgers b e t r a c h t e n . Gleichzeitig e n t s p r i c h t diese A u s s a g e e i n e m der A n l i e g e n der m i t g e t e i l t e n S t r u k t u r des T e x t e s , die T r e u e der galizischen B a u e r n zur M o n a r chie h e r v o r z u h e b e n . In d i e s e m Z u s a m m e n h a n g stellt der alte M e g e g a als S p r a c h r o h r des V e r f a s s e r s fest, d a ß die T e i l u n g e n P o l e n s f ü r die galizischen B a u e r n eine W o h l t a t b e d e u t e t e n , d e n n u n t e r der p o l n i s c h e n H e r r s c h a f t w ä r e n sie s c h l e c h t e r als V i e h b e h a n d e l t w o r d e n . S e i t d e m der ö s t e r r e i c h i s c h e Kaiser das Land regiere, seien sie zu M e n s c h e n g e w o r d e n . Allerdings h e r r s c h e a u c h u n t e r d e m zweiköpfigen A d l e r n u r halbwegs O r d n u n g in Galizien, weil es so weit abseits liege, d a ß die g e r e c h t e n B e s t i m m u n g e n des Kaisers v o n s e i n e n „ S c h r e i b e r n " n u r z u m Teil a u s g e f ü h r t w e r d e n . Diese H a l t u n g des MegegaSenior m u ß als s y m p t o m a t i s c h f ü r die B e w u ß t s e i n s l a g e des F r a n z o s a u f g e f a ß t w e r d e n , w ä h r e n d die Reaktion des S o h n e s m e h r A u f s c h l u ß ü b e r die B e z i e h u n gen im h i s t o r i s c h e n Galizien gibt. Iwon f ü g t sich n ä m l i c h in d e n Willen seines Vaters, a b e r nicht, weil ihn j e n e r ü b e r z e u g t hätte, s o n d e r n weil e r s i e h mit Ente r b u n g b e d r o h t sieht. D i e s e p r a g m a t i s c h e B e g r ü n d u n g wird v o n d e m A u t o r auf die U n r e i f e des H e l d e n z u r ü c k g e f ü h r t , d e n n der alte I w o n , d e r d e m Ich-Erzähler s e i n e n L e b e n s l a u f erzählt, d e n k t s c h o n ganz a n d e r s davon. Er versieht s e i n e n v i e r z e h n j ä h r i g e n D i e n s t mit d e m K o m m e n t a r : „Soldatsein hat ü b e r h a u p t n o c h n i e m a n d e m g e s c h a d e t " (S. 69). Diese W o r t e g e b e n die Ü b e r z e u -
D i e g e s e l l s c h a f t s k r i t i s c h e D o r f g e s c h i c h t e bei Karl E m i l F r a n z o s
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gung des Verfassers von dem wohltätigen Einfluß des Militärdienstes auf galizische Bauern in einem dem einfachen Menschen adäquaten Medium wieder. Über Iwons lange Militärzeit wird allerdings wenig berichtet, denn die Erzählung, wie ihn der Kaiser in Wien mit „Kascha und Pirogi" bewirtet habe, gehört natürlich zu dem märchenhaften Teil seiner Biographie. Der Autor läßt ihn ausgiebig davon erzählen, weil es ein wichtiger Beleg für den Kaiserkult unter dem galizischen Landvolk ist, das sich den Herrscher und seinen Haushalt nach eigener Lebensweise vorstellt. Die nun folgende Geschichte, wie Iwon zum Dorfrichter gewählt wurde, ist nach ähnlichem Muster wie Der Aufstand von Wolowce gebaut. Die direkt Beteiligten sind die Nichte Iwons, der in sie verliebte Bauer mit dem Beinamen „wilder Wassilij", der sich dem Mädchen zuliebe bessern und sein Leben ändern will, und der polnische Graf Xaver, Bruder des Dorfeigentümers. Der junge Graf, der es nie gelernt hat, „sein Gelüst zu bezähmen", verführt trotz seines Ehrenwortes gegenüber Wassilij das Mädchen. Als Vergeltung wird der Edelmann in eine Falle gelockt und von Wassilij getötet. Dabei kommt auch der Bruder des Bauern ums Leben. Nun flieht Wassilij nach dem bewährten Schema in die Karpaten, und der Graf Agenor ruft vergebens die Bauern auf, dem Täter nachzuspüren. Als er den Tod seines Bruders an Kasia als an einer „Metze" rächen will, sagt ihm Iwon die Wahrheit und wird dafür von der Gemeinde zum Richter gewählt. Die von ihm in Sicherheit gebrachte Kasia stirbt an dem Gefühl der Schmach, und Wassilij wird zum „großen Hajdamaken". Es wird betont, daß das Dorf sich von dieser Selbsthilfe distanziert. Keiner würde den Landsmann verraten, aber es unterstützt ihn auch keiner. Diese Rechtsschaffenheit der Ruthenen wird besonders im Schlußteil der Handlung hervorgehoben, als während der Unruhen des Jahres 1846 der Räuber den Hof überfällt und den Grafen mit seinen zwei Gästen gefangennimmt. Er wartet auf eine Sanktionierung seines Tuns durch die Gemeinde und erklärt dem Richter, es sei nun endlich die Zeit gekommen, den Polen heimzuzahlen, was sie dem Volke angetan haben. Da befiehlt ihm Iwon, die Adligen freizulassen. Daraufhin erschießt sich der Hajdamak, einen Brief mit den Worten hinterlassend: „Um meines Volkes willen bin ich ein Frevler geworden und mein Volk hat mich verstoßen" (S. 105). Die Ruthenen lehnen also den Weg der Selbsthilfe ab, sie wollen lieber Unrecht dulden als den Weg des Rechts verlassen. Der Dorfrichter, der zugleich den Willen der Gemeinde ausführt und gestaltet, vertritt mit seiner Einstellung des österreichischen Patrioten die Haltung, die Franzos als eine für die ostgalizischen Bauern typische darstellt. Im Jahre 1846 läßt Iwon entgegen dem Rat des feigen Kreiskommissärs von Barnow Bauernwachen aufstellen und im Falle eines polnischen Angriffes Widerstand leisten. Auch 1848 setzt er sich dem Revolutionssturm entgegen, indem er die Meinung vertritt, man solle der Obrigkeit gehorchen, denn Gott selbst habe es befohlen. Für diesen Auftritt zur Erhaltung der herkömmlichen Ordnung bekommt er vom Kaiser eine goldene Medaille, auf die er besonders stolz ist. Ostgalizische Bauern werden also von Franzos als das konservative Element auf-
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Z u r g e s e l l s c h a f t l i c h e n P r o b l e m a t i k in d e r „ G a l i z i e n l i t e r a t u r "
gefaßt, das vor jeder Umwälzung zurückscheut, auch wenn sie zu seinem Gunsten wäre. Lieber erleiden sie schweigend Unrecht, als daß sie selbst Unrecht begehen, nicht aus Feigheit, sondern aus Rechtsgefühl und wohl auch aus dem Zweifel daran, daß sich definitiv etwas zum Besseren wenden könnte. Die Überzeugung des Verfassers, daß sich mit der Abschaffung der Fronarbeit im Jahre 1848 in Praxis die gesellschaftlichen Verhältnisse in Galizien wenig verändert haben, wird auch in dieser Novelle durch den Vergleich zwischen der Ebene der erzählten Zeit und der des Erzählzeitpunktes zum Ausdruck gebracht. Der alte Iwon sagt: „Wenn heute ein polnischer Herr einen Haß gegen den Bauer hat, so braucht er ihn wahrhaftig nicht hinunterschlucken. Und heute haben wir die ,Konstitucya' und keine Robot mehr und Gott allein weiß, wie viele schöne Gesetze wir jetzt haben: ein Mensch kann es sich nicht so gut merken, vielleicht weil er nicht viel davon spürt" (S. 96). Auch diese kritische Einstellung zu den sozialen Zuständen in Galizien nach 1848 ist gemeinsam für die beiden analysierten Novellen. Obwohl beide über eine spannende, dem westeuropäischen Leser vielleicht exotisch scheinende Handlung verfügen, ist ihre dargestellte Struktur nur ein Vorwand, um die mitgeteilte Struktur zum Ausdruck zu bringen, d.h. den Leser mit den sozialen Zuständen in Ostgalizien bekannt zu machen und scharfe Kritik an ihnen vom Standpunkt eines liberalen Bürgerlichen aus zu üben. Das umfassendste Panorama des gesellschaftlichen, ökonomischen und nationalen Lebens in Galizien bildet unter den Texten des „halbasiatischen" Zyklus das umfangreiche, schillernde Genrebild Markttag in Barnow aus der Sammlung Vom Don zur Donau. Die Struktur des Textes ist keine novellenartige, die einzige zusammenhängende Handlung um den Aufbruch des Bauern Olexa und seinen Anteil an dem Jahrmarkt ist geringfügig. Die bunte Anschaulichkeit der Figuren und die große Dynamik der Bilder steigern die Wirkung dieses klassischen „Kulturbildes", das durch die Wahl der für galizisches Leben typischen Jahrmarktsituation einen Überblick über verschiedene Gesellschaftsschichten bietet. Gleichzeitig ermöglicht es dieser Stoff, vielfältige Probleme aus dem Bereich der gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Lage dieser Provinz kurz zu skizzieren. Der Handlungsort — zuerst das ostgalizische Dorf Biala und dann das Städtchen Barnow — und die Nebengestalt des Dorfrichters Megega schaffen eine Querverbindung zwischen diesem Text und anderen Werken des Verfassers. In dem Einleitungsteil werden Vorbereitungen des wohlhabenden podolischen Bauern Olexa Nudak, der mit seiner Familie zum Markt in Barnow aufbricht, dargestellt. Dieses Thema erlaubt dem auktorialen Erzähler einen für diese Kategorie der Wirtschaft typischen Bauernhof vorzuführen, den Leser mit der üblichen Tagesordnung des Landwirtes, seiner Frau und des Gesindes bekannt zu machen und über die ökonomische Situation und Lebensweise der ostgalizischen Bauern zu reflektieren. In einigen Zügen entwirft er ein sehr düsteres Bild dieses Lebens. Das erste auffallende Merkmal ist der haarsträubende Alkoholismus der podolischen Landleute. Der hiesige Bauer, berichtet der
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Erzähler, besaufe sich obligatorisch am Sonntag nach dem Kirchgang und am Dienstag während des Jahrmarktes im Städtchen, am Montag und Mittwoch schlafe er seinen Rausch aus, und nur am Donnerstag, Freitag und Sonnabend arbeite er. Dabei macht der Erzähler die ironische Einschränkung, daß dies nur für fleißige, gesittete Hausväter gelte; die anderen haben alle Tage Sonntag. Es trinken auch die Frauen, weil es Sitte ist, weil es der Schein verlangt. Sonst würde man als Bettler gelten. Auch die Geistlichen liefern ihren Pfarrkindern kein erbauliches Beispiel. Der auktoriale Erzähler versieht diese Bilder mit seinem Kommentar, in dem er auf einen sicheren wirtschaftlichen Ruin als die unabwendbare Folge dieses Phänomens hinweist. Mit dem Seufzer „unsere arme verachtete Heimath" stellt er fest, daß nur der „Gott in eigener Brust", das Bewußtsein der Menschenwürde, gegen diese Plage helfen könnte: „Aber niemand ruft diesen Gott wach, nicht der polnische Schlachziz, noch der polnische Beamte, im Gegenteil, die haben diesen Gott betäubt und vielleicht für immer vergiftet und getödtet" (S. 15). Neben dieser schwerwiegenden Beschuldigung fällt in diesem Teil des Textes noch eine andere, konkretere gegen den polnischen Adel. Es wird berichtet, daß Olexas Knecht, Hawrilo, ganze Wochentage bei dem polnischen Großgrundbesitzer Herrn von Wassilkowski abarbeitet, obwohl ja seit 1848 keine „Robot" mehr in Galizien besteht. Auf diese Weise zahle der Bauer dem Edelmann Zinsen von der Geldanleihe ab, die ihm jener gegen den Zinsfuß von 1000% ermöglichte. Franzos entlarvt an diesem Beispiel den Wucher auf Kosten der naiven, leichtgläubigen Bauern als eine lukrative Einkunftsquelle dergalizischen Großgrundbesitzer 1 7 und bringt somit einen wichtigen Zug der außerliterarischen Wirklichkeit Galiziens nach 1848 zum Vorschein. Zu anderen Merkmalen der galizischen Bauern, die am Rande erwähnt werden, gehören der Schmutz, die Roheit gegen Frauen und der Aberglaube, in dem besonders der Zug zum Fatalismus betont wird, der die Passivität der Bauern mitverschuldet. Die Hauptschuld an der Vernachlässigung der Volksbildung und an der ökonomischen Situation des Bauern trifft nach der Auffassung von Franzos den polnischen Adel. Damit bestimmt er seinen sozialen Standort als den eines Bürgerlichen, der die Überreste der Feudalstruktur bekämpft. Als Folge der geschilderten Mißstände sieht er die Verkommenheit der bäuerlichen Wirtschaften, so daß er seinen Erzähler verallgemeinernd zusammenfassen läßt: „Unser Olexa ist ein wohlhabender Bauer, das heißt leider in's Ostgalizische übersetzt: es beginnt erst langsam mit ihm abwärts zu gehen" (S. 17). Im Hauptteil des Textes wird die Schilderung des Jahrmarkttreibens mit reflektierenden Kommentaren des Erzählers verflochten. Eine Vielfalt von Nationalitäten, Konfessionen und gesellschaftlichen Klassen wird im Bild festgehalten. Im Jahrmarktsverkehr auf dem Marktplatz in Barnow sieht Franzos symbolisch „die starre Eigenart dreier Völker, in welchen der Gegensatz zwischen Cultur und Barbarei zusammenfluthet oder doch kaum unterscheidbar in Eins zusammenschillert" (S. 31). Er meint, daß das Tauschprinzip bei den Jahrmarktgeschäften oft vorkommt, was bei dem westeuropäischen Leser des
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Textes den Eindruck des Exotischen und Urtümlichen fördern mußte. Aber auch andere entwickeltere Stadien des Geschäftsverkehrs seien vertreten: Handel, Zwischenhandel, Wechselverkehr, Börsenspiel. Der Erzähler betont, daß der Markttag für die meisten Teilnehmer nicht nur das Geschäftemachen, sondern auch Unterhaltung und Zerstreuung bedeute. Nur sei das Niveau dieser Unterhaltung erschreckend niedrig. Der Erzähler berichtet über die jungen Adelstrolche, die nach jedem Bauern-, Bürger- oder Judenmädchen greifen und alte, kränkliche Juden mißhandeln. Er bemerkt dazu, daß früher solche Handgreiflichkeiten auch gegen junge und starke Juden üblich waren, aber jetzt hätten diese gelernt, sich zur Wehr zu setzen. Intellektuell ungemein höher als der polnische Landadel stehen seiner Meinung nach die polnischen Juden, deren Lieblingsbeschäftigung auf dem Jahrmarkt im Börsenspiel besteht, das Phantasie und Scharfsinn anrege und keiner körperlichen Anstrengung bedürfe. Er vermerkt dazu, daß es im Interesse des Landes wäre, wenn die große geistige Begabung der Juden nicht auf nur auf dem Gebiet der Geldspekulationen gebraucht würde und daß es auch gesünder für sie wäre, die körperliche Arbeit nicht zu scheuen. Auch bei der Darstellung der Geschäfte, die auf dem Wochenmarkt abgeschlossen werden, sind die Akzente sehr deutlich verteilt. Der Erzähler lobt den Fleiß tüchtiger jüdischer Frauen, die mit ihrem Kleinhandel oft die ganze Familie erhalten, während sich der Mann den Talmudstudien hingibt, und tadelt die Intoleranz ruthenischer Bäuerinnen, die sich gegen die jüdische Konkurrenz mit Schimpfworten durchsetzen. Symptomatisch ist, daß im Falle einer Konfliktsituation zwischen Juden und Ruthenen der Autor nicht versucht auch die andere Seite zu verstehen. Die Perspektivierung erfolgt dann (nicht nur in diesem Text) zugunsten der Juden. Unter den Typen, die ehrlich eine vollwertige Ware anbieten, nennt der Erzähler die jüdischen Sektierer Karaiter und die christlichen Lippowaner 18 , die mit schönem Obst handeln. Dabei macht er auf den Unwillen der podolischen Bauern aufmerksam, von den vererbten Grundsätzen ihrer Vorväter abzuweichen. Deshalb legen sie keine Obstkulturen an, obwohl sich der podolische Boden vorzüglich dazu eignen würde. Allgemeiner betrachtet ist seiner Meinung nach dieses starre Festhalten an der Tradition der Grund des niedrigen Niveaus der Bodenkultur in Ostgalizien. Lobend erwähnt er die deutschen Kolonisten, obwohl er bei ihnen ein fehlendes Nationalbewußtsein feststellen muß. Ihr Fleiß, ihre Sauberkeit und Nüchternheit zeugen aber, so der Verfasser, davon, daß ihre Rasse höher als die slawische stehe. Andere Verkäufer werden zu der Gruppe gezählt, die zwischen dem Handel, der Bettelei und oft auch dem Diebstahl stehe. Die nationale Perspektivierung schimmert in diesen Beurteilungen oft durch. Außer den materiellen Verkaufsartikeln werden auf dem Markt „Waren" angeboten, die auf die Befriedigung der geistigen Bedürfnisse hinzielen. Mit Sympathie schildert der Erzähler den blinden „Kobsar", den greisen ruthenischen Sänger, der alte D u m e n über „Ljachen" und „Moskowiter" als „Erbfein-
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de" der Ukrainer vorträgt. In einem Zuge werden der Mann mit der Elektrisiermaschine, der „starke Eindrücke" vermittelt, und der Bilderhändler genannt. Besonders dieser wird eingehender behandelt, denn der vielseitige Verkäufer bietet ein schockierend zusammengewürfeltes Sortiment an: von katholischen und ikonenartigen Heiligenbildern über Porträts der Kaiserfamilie und Radetzkys einerseits und polnische patriotische Öldrucke anderseits bis zu pikanten französischen Bildern und Hamburger Pornobildern. Bei dem Kommentar läßt sich der Erzähler teilweise durch den Dorfrichter Megega vertreten. Dieser entrüstet sich über die letztgenannten Erzeugnisse, was ihn als Sinnbild der gesunden Sittlichkeit des ukrainischen Bauern charakterisieren soll. Als ein braver österreichischer Patriot fordert er seine Bauern zum Kauf der Bilder des Kaiserpaares auf und erinnert sie an die Dankbarkeitspflicht der Monarchie gegenüber. Der zusätzliche Kommentar des Erzählers macht überdeutlich, daß der Autor die Ansicht der Bauern, daß erst Österreich sie zu Menschen erhoben hat, vollkommen teilt und unterstützt. Es ist dagegen ein Dorn im Auge dem Erzähler, daß ein Teil der jüdischen Neureichen die Assimilation an die Polen anstrebt. Diese Tendenz wird am Beispiel der Gestalten der ehrgeizigen Frau Hortense und ihrer Töchter gezeigt, die Polinnen werden wollen, weil „alle noblen Leute" Polen seien. So fordert die energische Dame ihren eingeschüchterten Mann auf, bezeichnenderweise einen Kosciuszko und „das Bild, wo die Russen Kinder schlachten" (S. 93) zu kaufen. Sonst bleibt der gute Absatz der polnischen patriotischen Ikonographie ohne Kommentar, obwohl zwischen der Behauptung des Erzählers, daß die Städter Kosmopoliten seien, und dem Bericht, daß unter den an diesen Bildern Interessierten sich viele Bürger befinden, ein Widerspruch besteht. Der auktoriale Erzähler äußert sich kritisch über den sozialen Aufstieg der Gutspächter, der jüdischen und armenischen Emporkömmlinge, die keinen Geschmack, aber viel Geld haben. Diese Leute verdanken ihren Aufstieg nicht nur ihrer eigenen Fähigkeit, List und Sparsamkeit, sondern auch der Verlotterung ihrer Schuldner, der polnischen Adligen. Der Erzähler betont dabei, daß sie selber auf ihren neuerworbenen Gütern deutsche Direktoren einstellen, auf deren Ehrlichkeit sie sich verlassen können, was im Falle ihrer eigenen Stammesgenossen nicht zutrifft. In dieser Verallgemeinerung ist wieder eine nationale Perspektivierung zugunsten der Deutschen bemerkbar. Zusammenfassend meint der Erzähler, daß man diese neue gesellschaftliche Erscheinung als Wirklichkeit in Kauf n e h m e n müsse, obwohl sie moralisch eine Verurteilung verdiene, aber der faule Boden trage eben Sumpfpflanzen. Mit diesem Motiv verbindet sich der von dem Erzähler mehrmals betonte Gedanke von der Unausweichlichkeit des ökonomischen Verfalls und Ruins des polnischen Landadels. Als eine Konsequenz prognostiert er die Austilgung der polnischen Nationalität in Galizien. Als ein Argument für diese Ansicht werden die Jahrmarktszenen eingesetzt, in denen herabgekommene polnische Adlige an den Ständen jüdischer Wucherer Geld borgen. Der Erzähler räumt zwar ein, daß solche Edelleute, um die es noch nicht ganz schlecht be-
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stellt ist, derartige Geschäfte nicht auf der Straße, sondern in den Wucherstuben abschließen. Die meisten seien aber schon so heruntergekommen, daß sie nicht einmal den Schein wahren. Als Ursachen nennt Franzos die wirtschaftliche Ignoranz und die Trägheit des polnischen Adels. An einer anderen Stelle wird behauptet, daß die einzigen fähigen Geschäftsleute in Galizien Juden und Armenier seien. Eine besonders scharfe Kritik übt der Erzähler am Unvermögen des galizischen Adels, es auf diesem Felde zu etwas zu bringen: „Niemand ist überhaupt zu industrieller Thätigkeit so wenig tauglich, wie der galizische Edelmann. Denn er ist in der Regel faul, hochfahrend und leichtsinnig, vereinigt also drei Untugenden, deren jede genügend ist, einen Kaufmann zu ruinieren" (S. 109). Diese Kritik an einer gesellschaftlichen Klasse, die in der Zeit der kommenden Industrialisierung ihre Rolle schon ausgespielt hat, hat ihre Berechtigung. Aus der heutigen historischen Perspektive erscheint diese gesellschaftlich-ökonomische Einschätzung der einzelnen Klassen als Faktoren des galizischen Wirtschaftslebens als richtig. Man könnte in diesem Zusammenhang von der essentiellen Wahrheit des Textes sprechen. Dagegen erscheint die stellenweise vorhandene Vertauschung der gesellschaftlichen Perspektive mit der nationalen als ein Indikator für die ideologische Grundhaltung des Franzos. Besonders bezeichnend ist dafür die Voraussetzung des Schriftstellers, daß die polnische Nationalität in Galizien sich lediglich auf Adlige beschränkt, und seine Schlußfolgerung, daß mit dem Verfall des polnischen Landadels die Polen den übrigen Bevölkerungsgruppen Platz räumen müßten. Das stimmt freilich mit dem historischen Sachverhalt nicht überein, denn polnisch waren die Bauernmassen — vor allem in Westgalizien, und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es auch immer mehr polnische Stadtbürger. Als eine Ergänzung des Bildes von ostgalizischen Bauern in der Dorfgeschichte von Franzos sei an dieser Stelle ein Text außerhalb der „halb-asiatischen" Sammlung herangezogen. Es handelt sich um die Novelle Der Stumme, die im Band Tragische Novellen (1886) veröffentlicht wurde. Hier verzichtet der Autor auf jeden moralisierenden, didaktischen Kommentar und läßt ausschließlich das Milieubild sprechen. Im Mittelpunkt seines Interesses steht diesmal die psychologische Zeichnung. Man stößt in diesem künstlerisch kohärenten und überzeugenden Text nicht auf direkte Gesellschaftskritik. Die Darstellung der Unwissenheit, des unverschuldeten geistigen Dünkels und Aberglaubens der Bauern, die am Fuße der Karpaten leben, zwingt jedoch unwillkürlich zur Frage, wo denn der Staat sei, der diese Leute ohne jegliche Bildung und Aufklärung lasse. Das Hauptmotiv der Geschichte bildet der Aberglaube, daß manche Menschen den „bösen Blick" haben und damit ihren Mitmenschen Schaden zufügen können. Das gleiche Motiv taucht übrigens in einem etwas früher entstandenen polnischen Roman auf, dessen Handlung in einer ähnlichen Umgegend Galiziens und in demselben Zeitalter spielt, in Czarny Matwij (1860) von Walery -Lozihski. Trotz unterschiedlicher nationaler Perspektivierung sehen die beiden Schriftsteller die gesellschaftlichen Beziehungen in Galizien ähnlich.
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In der Novelle Der Stumme entspricht die Diskrepanz zwischen dem gebildeten Ich-Erzähler deutscher Nationalität und seinen Gesprächspartnern, der lebenserfahrenen Huzulin und der Titelgestalt, dem Abstand zwischen dem Schriftsteller Franzos und den galizischen Bauern. Der Ich-Erzähler berichtet über sein Abenteuer in galizischen Urwäldern voller Mitleid und Sympathie für die Bewohner jener Gegenden. Ihr fatalistischer Schicksalsglaube sowie die Passivität und der Aberglaube, die sich daraus erklären lassen, bringen ihn aber immer wieder zum Staunen und Erschrecken. Innerhalb der dargestellten Struktur des Werkes tritt eine Sensationshandlung mit einigen Elementen der Schauergeschichte auf. Die Handlungsführung wurde dem psychologischen Bildnis der Hauptfigur und ihrer Umwelt untergeordnet. Das Geheimnisvolle, angeblich Unnatürliche, das die Anfangsstimmung der Binnengeschichte schafft, wird von dem aufgeklärten Erzähler nach und nach auf die Dimensionen des rational Erfaßbaren zurückgeführt. In der Binnengeschichte lernt der Leser das tragische Schicksal des als „der Stumme" bezeichneten Greises kennen, dessen Begegnung mit dem Ich-Erzähler die Novelle mit einem Rahmen umschließt. Von Kindheit an wurde Matko, der Protagonist der Erzählung, von dem Aberglauben der Mitmenschen verfolgt, daß sein „böser Blick" Unheil bringe. Das rührte wahrscheinlich davon, daß der Junge nicht nur häßlich war, sondern auch infolge der Hartherzigkeit der Umgebung und vor allem des schönen und erfolgreichen Vaters dem „mißratenen" Sohn gegenüber ein düsteres Gemüt entwickelte. Nach einem persönlichen Unglück ließ er sich in den Karpatenwäldern nieder und schweifte umher. Nur notgedrungen näherte er sich menschlichen Siedlungen. Aber auch diese wenigen Begegnungen bringen Unheil. Zufällig enden sie mit Todesfallen, was die einheimischen Bauern in der Überzeugung befestigt, daß sein Blick Unglück verheiße und bewirke. So ist die freundliche Gesprächspartnerin des Erzählers ganz sicher, daß zuerst ihr Mann und dann ihr Sohn durch den Blick des Stummen ums Leben gekommen seien. Das Erschütterndste aber ist, daß der Greis selbst unter dem Einfluß der Mitmenschen an seine unheilbringende Beschaffenheit glaubt. Er ist siebzig, kann aber kaum altern und befürchtet, das Schicksal des ewigen Juden Ahasvérus teilen zu müssen, obwohl er den Tod herbeisehnt. Die Erzählung endet mit einem versöhnlichen Schluß: Der Rahmen schließt mit dem Bericht, daß der Ich-Erzähler bei seiner abermaligen Karpatenwanderung von dem Tod des Stummen erfährt. Die alte Huzulin erzählt ihm, daß der Alte verunglückt ist, als er ihr Urenkelkind aus den strömenden Fluten eines Gebirgsbachs rettete. So gedenkt sie nun dankbar seiner. Diese versöhnliche Lösung weist auf ein Anliegen der mitgeteilten Struktur des Textes hin, die Chance einer helleren, mehr vernunftgeleiteten Zukunft für dieses Volk anzudeuten. Aber die gesamte Gestaltung der dargestellten Struktur des Textes zeugt davon, daß es wenig Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung der Zustände in Galizien gibt. Die galizische Dorfgeschichte bei Franzos hat nie den Charakter eines idyllischen Genrebildes, wie es die traditionelle Regionalliteratur gerne entwirft.
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Auch wenn der Schriftsteller den erzählten R a u m als anmutige podolische Heide oder als geheimnisvolle Karpatenwildnis schildert, bleibt der Reiz der Natur d e m kritischen Blick auf die Beziehungen u n t e r g e o r d n e t , u n t e r d e n e n die Bewohner der dargestellten G e g e n d leben. Zwar läßt sich auch bei Franzos der Wille b e m e r k e n , das deutschsprachige Publikum, das j e n e G e g e n d e n nicht kennt, durch das Exotische u n d Sensationelle in S p a n n u n g zu halten, aber keiner der Texte ist lediglich auf die U n t e r h a l t u n g des Lesers ausgerichtet. Das Publikum soll die fremdartigen Verhältnisse k e n n e n l e r n e n u n d sie kritisch betrachten. N e b e n den Dorfgeschichten, die dieses Ziel mit Hilfe einer e r f u n d e n e n Fabel realisieren, gibt es im „halb-asiatischen" Zyklus auch publizistisch gefärbte Texte, in d e n e n das didaktische Anliegen unverhüllt ausgesprochen wird. Anders als Sacher-Masoch, der im Zyklus Das Vermächtnis Kains Galizien als Paradigma f ü r die G e s t a l t u n g der gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt heranzieht, ordnet Franzos die Welt der sozialen Z u s t ä n d e Galiziens ein e m engeren Paradigma „Halb-Asiens" zu, und der Rückschrittlichkeit dortiger Beziehungen stellt er indirekt die europäische Welt der Zivilisation u n d Kultur gegenüber. Er verharmlost die Probleme nicht. Im Gegenteil: manchmal spitzt er seine Bilder zwecks größerer Wirksamkeit polemisch zu. Die besitzenden Klassen Galiziens, der Adel u n d die B e a m t e n interessieren ihn nie an sich, sondern n u r als Gegenspieler der u n t e r d r ü c k t e n Klassen. Seine Sympathie gilt im R a h m e n dergalizischen Gesellschaft den Bauern u n d d e m jüdischen Proletariat. Er stellt allerdings die niederen Klassen keineswegs unkritisch dar. Er schätzt das Kulturniveau der galizischen Volksmassen als sehr zurückgeblieben ein. Nicht die Bauern jedoch, sondern die Adligen u n d die Vertreter des Verwaltungsapparates werden als Schuldige an diesem Z u s t a n d gezeigt. In der A u f h e b u n g der Feudallasten im Jahre 1848 sieht Franzos keine entscheidende W e n d e , da er i m m e r wieder die Überbleibsel j e n e r Verhältnisse und eine weitere Abhängigkeit der Bauern von den privilegierten Gesellschaftsklassen b e m e r k e n m u ß .
2.3. Das galizische Dorf in den Novellen von Hans Weber-Lutkow Eine ganz andere Sicht auf das ostgalizische Dorf vertritt der deutschsprachige Schriftsteller H a n s Pokorny, der seine W e r k e u n t e r d e m P s e u d o n y m H a n s Weber-Lutkow veröffentlichte. Pokorny ist einer der wenigen Verfasser in u n s e r e r Übersicht u n d wohl der einzige Galizianer u n t e r ihnen, der in sozialer Hinsicht den G r o ß g r u n d b e s i t z vertritt, was z u m Teil auch seinen im Vergleich zu den Schriftstellern bürgerlicher A b s t a m m u n g völlig unterschiedlichen Blick auf das galizische Dorf erklärt. Seine aus B ö h m e n eingewanderte Familie besaß seit 1820 das Landgut Lowce bei Jaroslaw 1 9 . H a n s Pokorny wurde 1861 in Lemberg geboren, studierte Rechte u n d Philosophie in L e m b e r g u n d Wien, fand als Dr. jur. eine Anstellung als Richter in W i e n u n d d a n n als Bezirksrichter in
Das galizische Dorf in den Novellen von Hans Weber-Lutkow
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der Nähe von Salzburg. Nach seiner Pensionierung kehrte er im Jahre 1912 nach Galizien zurück, wo er bis zu seinem Tode im Jahre 1931 lebte. Zum Teil widmete er sich der Verwaltung des ererbten Gutes Lowce, zum Teil verbrachte er die Zeit auf dem Landgut seines Bruders in Lutkow bei Radymno 20 . Er hatte auch die Zeit des Ersten Weltkrieges in Lowce verlebt und veröffentlichte eine Reihe von Erzählungen und Gedichten, in denen er die verheerenden Folgen des Krieges in Galizien zeigte 21 . Seine wichtigsten „galizischen Werke", in denen er das Bild des Lebens auf dem Lande in Ostgalizien entwirft, wurden bereits 1900 und 1901 herausgegeben. Es handelt sich um die zwei Bände „Geschichten aus Kleinrußland" (wie der Untertitel in den beiden Fällen lautet), nämlich Schlummernde Seelen und Die schwarze Madonna. Seine Kenntnis Galiziens, auf die sich diese Erzählungen gründen, stammt also aus seiner Kindheit und wahrscheinlich auch aus der Zeit seiner Ferienaufenthalte in der Heimat. Weber-Lutkow bedient sich einer naturalistischen Darstellungsweise, die nur durch einige poetische Naturschilderungen nach dem Muster der traditionellen Regionalliteratur gemildert wird. Auch die Weltanschauung der Geschichten ist eine naturalistische: die Helden Weber-Lutkows verharren in einem fatalistischen Schicksalsglauben, der ihre grenzenlose Passivität verursacht. Zugleich sind es rohe Triebmenschen, die lediglich ihren Instinkten gehorchen. Weder die Moralgesetze oder Religion noch Furcht vor der Strafe bringen sie von grauenvollen Verbrechen ab, wenn sie sich endlich zu einer Tat aufraffen. Die Erzählungen handeln von Liebe, die als eine elementare Leidenschaft, ein Aufwallen der Sinne dargestellt wird, von Mord- und Unglücksfällen, manchmal von der Geldgier der Gestalten. Dabei weist Weber-Lutkow eine ausgeprägte Vorliebe für Schilderung von Kriminaldelikten auf, so daß in fünf der sieben Novellen das Motiv eines unnatürlichen Todes vorkommt und in vier davon im Zentrum der Handlung steht. Zweimal handelt es sich um blutige Mordtaten, die direkt geschildert werden (in Iwan und Die schwarze Madonna), zweimal um den Tod der Antagonisten der Hauptfiguren, den das Verhalten der Titelhelden verursachte (in Dymitr und Witold Mirski). Die Namen der Hauptfiguren geben die Titel der Novellen ab. Es sind psychologische Novellen, allerdings weisen die entworfenen Charakterstudien alle auf bestimmte Verhaltensmuster und nicht etwa auf individuelle Anlagen und Züge der Gestalten hin. Die beiden Novellensammlungen sind als Ganzes zu betrachten, weil sie sich weder durch die dargestellten Figurentypen und Motive noch durch stilistische Merkmale voneinander unterscheiden. Das krasseste Beispiel der Behandlung des Motivs durch den Verfasser bildet die Novelle Die schwarze Madonna, weil hier neben dem für diesen Schriftsteller gängigen Fatalismus, grausamen Naturinstinkten und fehlenden Moralbegriffen der Bauern das blasphemische Leitmotiv eines Gottesmutterbildes erscheint. Nach der Überzeugung der Heldin ließ die schwarze Madonna sie die greuelhafte Mordtat vollziehen. Die wenigen Figuren der Geschichte realisieren das banale Modell eines Liebesdreiecks zwischen der Frau, ihrem ungeliebten Ehemann und
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Z u r g e s e l l s c h a f t l i c h e n Problematik in der „Galizienliteratur"
dem begehrten Dritten in der sozial begründeten Variante. Die schöne und junge, aber arme Marta hat sich aufs Anraten ihrer alten Mutter, der in diesem Modell die Rolle der Kupplerin zukommt, entschlossen, den alten, häßlichen und dem Alkoholismus verfallenen, aber reichen Bauern Gregor zu heiraten, obwohl sie den jungen und schönen Peter liebt. Die Mutter tröstet sie mit der Aussicht, daß ihr bejahrter und infolge der Trunksucht verkommener Mann bald sterben wird, sie dann seinen Besitz behält und ihren Geliebten heiraten darf. Der Fatalismus der beiden Frauen verbindet sich mit ihrer ausgeprägten Frömmigkeit. Die Mutter glaubt, daß der Gott ihre gute Marta bald mit dem Tode des ungeliebten Mannes segnen wird. Die junge Frau ist gleichfalls tief überzeugt, daß Gott ihren Gehorsam gegen den Willen der Mutter belohnen wird, und diese Belohnung besteht für sie eben in einem sozial sanktionierten Partnerwechsel. Mit wenigen Zügen malt der Erzähler den Ekel des reinlichen und ordnungsliebenden Mädchens vor dem verwahrlosten stinkenden Säufer, der ihren Abscheu zusätzlich begründet. Die Kriminalhandlung wird dadurch eingeleitet, daß Marta unter dem beleuchteten Bilde der Muttergottes von Tschenstochau zwei Sterbekreuze bemerkt, die für sie und ihren Mann bestimmt sind. In irren Träumen ahnt sie und zugleich sehnt sie den Tod ihres Mannes herbei. Als sie erwacht, glaubt sie, daß die schwarze Madonna von ihrem Wunsch weiß und ihr gütig zulächelt. Nun erwartet sie, daß die Gottesmutter ein Wunder für sie tut und Gregor eines sanften Todes entschlafen läßt. Als das nicht eintrifft, steigert sie sich in den Wahn hinein, die milde lächelnde Maria gebe ihr den Gedanken ein, den Mann zu ermorden, und stimme dieser Tat zu. Nun betet Marta ausschließlich darum, dazu Kraft genug zu haben, und als sie den starken Mann nicht zu erwürgen vermag, schlachtet sie ihn mit einem Beil hin. Nach der Tat empfindet sie keine Reue, sondern nur Freude, daß sie sich jetzt mit ihrem Geliebten verbinden darf. Sie will ihrem Mann ein fürstliches Begräbnis bereiten. Sie glaubt ihm jetzt Dank und Verehrung zu schulden, denn er habe doch zu ihrem Glück verholfen. Das fromme Lied, das sie am Morgen nach dem Mord jubelnd singt, ist ein Ausdruck ihrer Überzeugung, eine gute Tat vollbracht zu haben. Die eigentliche Handlung der Novelle wurde durch ein Prologgespräch Martas mit der alten Mutter über ihre Ehe und Liebe eingeleitet. Von den Folgen der Tat erfährt der Leser aus einem gleichgebauten Epilog. Das Geschworenengericht, vor das Marta gestellt wurde, sprach sie frei, weil sie den Schwur tat, auf Geheiß der Muttergottes gehandelt zu haben. Marta wiederholt im Gespräch die Meinung des Gerichtspräsidenten, sie habe Glück gehabt, daß nicht die Herren aus der Stadt, sondern Bauern auf der Geschworenenbank saßen, und sie versieht das mit ihrem eigenen Kommentar: „(...) die Bauern wissen doch am besten, daß wir vom Dorfe mit heiligen Dingen niemals sündiges Spiel treiben" (S. 29). Nun bekommt sie ihren Peter zum Mann, und die Mutter jubelt über das Glück der Tochter. Der Autor gestaltet die psychologische Zeichnung seiner Frauenfiguren so,
Das galizische Dorf in den Novellen von Hans Weber-Lutkow
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daß keine von ihnen das Schreckliche von Martas Tat begreift. Die Mörderin benimmt sich wie ein unschuldiges Mädchen, und ihre Mutter nennt sie ihr „frommes Lämmchen". Beide sind im G r u n d e nicht unmoralisch, sondern amoralisch, sie haben trotz ihrer Religiosität keine A h n u n g , daß man nicht töten darf. Die Motive von Martas Handlung waren ihre triebhafte Liebe zu Peter und ihr genauso instinktiver Haß zu Gregor bei gleichzeitiger Angst vor dem Rückfall in das alte Elend, die ihr ihre Mutter einflößte. Allein diese G r ü n d e hätten nicht dazu gereicht, daß das bisher passiv duldende Mädchen die Mordtat vollbringen könnte. Dies bewirkt ihre tiefe u n d falsch aufgefaßte Bauernfrömmigkeit. Sie läßt die innere Stimme ihres Unterbewußtseins als die Stimme der G o t t e s m u t t e r gelten u n d verliert weder während noch nach der Tat die Sicherheit, ein frommes, gottgefälliges Werk getan zu haben. Weber-Lutkow setzt in dieser Erzählung die Mittel der Fiktionalisierung dazu ein, das erschreckend niedrige moralisch-intellektuelle Niveau der ostgalizischen Bauern zum Ausdruck zu bringen und insbesondere auf die gefährlichen Folgen der primitiven Religiosität dieser sozialen Gruppe hinzuweisen. Dieselbe gesellschaftliche Perspektivierung aus dem Blickwinkel eines „Herrn" wird in allen Texten der beiden Sammlungen durchgehalten, u n d die Kritik an der seiner M e i n u n g nach übertriebenen und verkehrt aufgefaßten Bauernfrömmigkeit wird auch in der Novelle Jewka geübt. Allerdings wirkt das dort vorgeführte Beispiel weniger drastisch, und der Ausklang der Geschichte ist weniger eindeutig. Die psychologische G r u n d s t r u k t u r des Porträts von Marta finden wir wieder, nur bei dem Ausschalten des Faktors Frömmigkeit, in der Erzählung Iwan22. Im Mittelpunkt der Novelle steht ein junger Bauer, dessen Vater gestorben war, als der Junge sechs Jahre alt war. Dann heiratete seine Mutter abermals. Von Anfang an ließ sich Iwan von seinem Stiefvater mißhandeln. Als erwachsener M a n n läßt er sich u m seinen väterlichen Erbteil bringen. Er gibt sich dem Müßiggang hin, weil die Wirtschaft seiner Mutter ihn nichts angeht, und die Arbeit als Knecht verstößt gegen seine „Ehre" des Wirtsohnes. Im psychischen Bilde Iwans gesellen sich Faulheit und Feigheit, Passivität und Fatalismus. Davon, daß diese Züge, die Weber-Lutkow in vielen Geschichten als typisch für ukrainische Bauern darstellt, nicht sozial akzeptiert waren, zeugt in diesem Text nur eine Bemerkung des Erzählers: „Er (Iwan — M.K.) war unzufrieden mit sich selbst und wußte, daß er im Dorfe nicht beliebt war, denn die Bauern hassen denjenigen, der, ohne sich zu wehren, Unrecht erduldet" (S. 63). Diese Erwähnung stimmt mit dem Gesamtbild des ukrainischen Bauerntums bei Weber-Lutkow nicht überein u n d scheint ohne Absicht des Verfassers ein wesentliches Merkmal des Dorflebens im historischen Galizien wiederzugeben. Iwan träumt davon, seiner Dorfgemeinde u n d dem ihn stets demütigenden Stiefvater zu zeigen, daß sie ihn falsch einschätzten u n d daß er zu einer „großen Tat" fähig sei. Er rafft sich aber erst dann z u m Handeln zusammen, als ihn die Leidenschaft zur schönen Hania, der reichsten Erbtochter des Dorfes er-
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faßt und als das Mädchen ihn zurückweist, wie er meint — wegen seiner Armut, um mit einem reichen Verehrer zu tanzen. Nun will Iwan zuerst seinen Stiefvater um sein Erbteil bitten. Bald aber vergegenwärtigt er sich, daß der harte Bauer ihm nichts freiwillig gibt. Sein eigenes Geld stehlen möchte er nicht, weil ihm die Leidenschaft Mut zu seiner „großen Tat" gibt, die den Dorfbewohnern ein für allemal Respekt für ihn einflößen würde. So bringt Iwan seinen Stiefvater mit einem Beil um. Seine Mutter wird Zeugin der Tat. Um sie zum Schweigen zu bringen, erschlägt er, ohne viel zu überlegen, auch sie. Bezeichnend ist das Verhalten des jungen Mannes nach dem Mord. Er kehrt auf den Platz vor der Judenschenke, wo eben getanzt wird, zurück, mit dem entwendeten Geld in den Taschen, lädt Hania mit einer Selbstsicherheit wie nie zuvor zum Tanz ein, streut sein Geld unter die spielenden Zigeuner, tauscht Zärtlichkeiten mit dem Mädchen und fühlt sich glücklich wie noch nie in seinem Leben. Erst nach einer freudestrunkenen Nacht mit dem geliebten Mädchen erinnert er sich an das Geschehen, murmelt mehrmals „Wie häßlich, wie häßlich" (S. 76 0 und läßt sich von seiner Geliebten nicht trösten. Er schläft aber in seiner Stube ruhig ein, obwohl die Opfer nebenan liegen, und erst eine Kindheitserinnerung im Schlaf vergegenwärtigt ihm, daß er mit der Mordtat sein Leben verwirkt hat. Er kleidet sich sorgfältig an, um sich nicht verwahrlost den Gendarmen zu stellen und wird von ihnen abgeholt. Auch in diesem Fall haben wir es mit einem „Helden" zu tun, der sich zuerst passiv mit seinem Dahinvegetieren abfindet und dann von Leidenschaft aufgestachelt zu einer doppelten Mordtat fähig wird. Die primäre Leidenschaft, die ihn aus seiner Untätigkeit aufrüttelt, ist die Liebe oder vielmehr das sinnliche Begehren nach dem schönen Mädchen. Dazu kommen noch die tiefer sitzenden, im latenten Zustand seit Jahren bestehenden Gefühle der Demütigung, Rachsucht und das Bestreben, sich als vollwertig zu erweisen. All das ist durch die grausame Härte des Stiefvaters psychologisch begründet. Ein merkwürdiger Fehlschluß ist jedoch, daß Iwan überzeugt ist, durch seine Mordtat dem Dorfe imponieren zu können. Der Mord an der Mutter erfährt keine Motivierung z.B. in einem haßerfüllten Verhältnis des Sohnes zu ihr. Iwan denkt nur an die Beseitigung der Zeugin, will aber anderseits mit seiner Tat vor dem Dorfe prahlen und glänzen und denkt gar nicht an ihre Verheimlichung. Vielleicht sollte diese Inkonsequenz die Primitivität seines Gedankenhorizonts zusätzlich hervorheben. Im Zentrum der dargestellten Struktur des Textes befindet sich der pathologische Einzelfall, der allerdings von Weber-Lutkow als ein typischer aufgefaßt wird. Das ist für das Anliegen der mitgeteilten Struktur seiner Erzählungen, ein vollständig negatives Bild des ostgalizischen Bauern zu schaffen, charakteristisch. Anderseits liefert dieses Zerrbild wichtige Hinweise über die Gestaltung der wirtschaftlichen Struktur auf dem Dorfe. Der ökonomische Faktor spielt in der Geschichte Iwans eine wichtige Rolle: Wäre der junge Mann um das ihm zukommende Geld nicht betrogen worden, so hätte er nicht zur Mordtat schreiten müssen, um das Mädchen, das ihm gefiel, zu erobern. Der Erzähler betont jedoch, daß für die Gestalt selbst das Geld lediglich
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die instrumentale Rolle des Mittels spielt, das Iwan braucht, um sich beliebt zu machen. Nach der vollzogenen Mordtat vergißt er es und wird ärgerlich, als er sich daran erinnert und deswegen seinen Gang zum Tanzplatz verzögern muß. Während die zwei besprochenen Novellen sich auf die Schilderung des Bauernmilieus und seiner internen Angelegenheiten beschränkten, thematisieren die übrigen fünf die Begegnung zwischen zwei Welten. In Dymitr handelt es sich um den Zusammenstoß zwischen dem herabgekommenen Bauerntum und Adel einerseits und dem emporkommenden Judentum anderseits. In allen fünf Geschichten wird die Begegnung zwischen dem Bauern und dem Landadel gezeigt, die in der Auffassung Weber-Lutkows keinen konfliktartigen Charakter hat. Auch diese Novellen lassen sich zu Paaren ordnen: Dymitr und Witold Mirski (sowie am Rande die Novelle Onipro) einerseits und Nastia und Jewka anderseits gehören motivisch zusammen. Als besonders aufschlußreich für die gesellschaftliche Problematik Galiziens seien im folgenden drei Texte analysiert: Dymitr, Witold Mirski und Nastia. In der Novelle Dymitr bildet die Verarmung des galizischen Bauerntums und Adels und das Emporkommen der Juden die ökonomisch-soziale Basis des geschilderten Konflikts. Den ersten Teil der Handlung bildet die Rückkehr des Burschen Dymitr aus dem Militärdienst in sein Heimatdorf, seine Verblüffung, daß sein Familienhaus und Gut jetzt einem Juden gehört, und sein Dienst bei dem heruntergekommenen polnischen Herrn Barski, der dann von jüdischen Gläubigern auf die Straße gesetzt wird. Das Hauptmotiv, das diesen Szenen zugrunde liegt, ist der wirtschaftliche Ruin, dem sowohl ukrainische Bauern als auch polnische Edelleute in Ostgalizien anheimfallen. Dabei wird in den beiden Beispielfällen der Verfall als nicht selbstverschuldet von den Helden dargestellt. Diese Auffassung unterscheidet Weber-Lutkow von anderen deutschsprachigen Verfassern, die diese gesellschaftliche Erscheinung behandeln. Dymitr erfahrt nach seiner Rückkehr, daß es zur Katastrophe seiner Familie kam, weil er so lange beim Militär bleiben mußte. Sein alter Vater wurde krank und hatte keine Kraft mehr um zu arbeiten, und seine Schwester war nicht imstande, die schwere Arbeit allein zu verrichten. Auf diese Weise konnten sie nicht einmal die Steuern bezahlen und wurden nach und nach von dem jüdischen Gläubiger Isaak gepfändet, bis er sie ganz hinauswerfen konnte. Dymitr zieht daraus die Schlußfolgerung, daß sich ehrliche Arbeit gar nicht lohne, weil man dann nichts mehr von ihr habe. Es ist kennzeichnend für den Fatalismus und die Passivität der dargestellten slawischen Gestalten, daß Dymitr kein einziges Mal den Versuch unternimmt, seinen Vater und seine Schwester zu finden: „Entweder, so dachte er, waren sie schon todt, und dann hätten ihre Leiden aufgehört, oder sie lebten noch immer im Elend, und dann müßten sie es geduldig tragen" (S. 21). Dasselbe Modell wiederholt sich im Falle des Herrn Barski. Von der alten Tomaschowa wird bezeugt, daß er den Bauern immer ein guter, leutseliger, hilfsbereiter Herr war. Jetzt ist er aber ganz heruntergekommen. Der um Hilfe und Anstellung bittende Dymitr findet den Edelmann gealtert und verwahr-
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lost. Barski trägt schäbige Kleidung und zerrissene Schuhe, wohnt im verfallenen, schmutzigen Schloß, kann seiner todkranken Frau auf keine Weise helfen, ernährt sich von Branntwein, trockenem Brot, Kartoffeln und Grütze. Seine Haustiere haben die Gläubiger längst geschlachtet, und seine Felder gehören jetzt zwei Juden, die ihn nur deshalb noch in seinem Hause wohnen lassen, weil sie miteinander nicht einig werden können, welcher von ihnen das Schloß übernimmt. Der Edelmann stellt erbittert fest: „Einmal, vor Jahren, war ich reich und arbeitsam, aber was hatte ich davon? Sorgen, Mühen und Plagen! Und dann kamen Hagel und Mißernten, Milzbrand und Pferderotz und endlich die Juden, und hin war alles! Daß ich mich so lange Zeit im Schweiß meiner Stirne gemüht habe, thut mir leid!" (S. 18). Diese Selbstcharakteristik wird zwar in der dargestellten Struktur der Erzählung von keinem Zeugen bestätigt, aber auch nicht geleugnet. Es sieht so aus, als ob der Erzähler sie als eine den Tatsachen entsprechende zeigen wollte. So ziehen es Herr und Knecht vor, im Alkoholrausch und dumpfen Brüten ihre Tage dahinzuleben, bis nach dem Begräbnis von Barskis Frau der Jude Isaak den Hof übernimmt. Interessant ist die Szene der Übernahme des Gutshofes durch den Juden. Der Amtshandlung wohnt ein Gerichtskommissär bei, der sich im Namen des Staates ganz auf die Seite des neuen Eigentümers stellt. Er beglückwünscht den neuen Besitzer und behauptet bezeichnenderweise: „Dem besitzenden, wahrhaft staatserhaltenden Theile der Bevölkerung gehört die volle Sympathie der Regierung" (S. 30). Barski weiß sich würdig von seinem Ahnensitz zu verabschieden und gratuliert seinem Verdränger. Dagegen gibt der Jude seiner Freude über den neuerworbenen Besitz einen ziemlich ungestümen Ausdruck. In seiner Reaktion werden einige Gefühle sichtbar: einerseits eine deutliche Habgier, anderseits aber Freude und Genugtuung, die er als Angehöriger eines durch Jahrhunderte gedemütigten Volkes empfindet. Er trägt den schimpflichen Namen „Schmälich", aber sein Sohn werde „Seelig" heißen dürf e n j u b e l t der Jude. In seinen Plänen für eine glänzende Zukunft seines Sohnes, eines hohen Staatsamtes und eines Adelsdiploms, kommen sein maßloser Ehrgeiz, aber auch seine zärtliche Kindesliebe zum Ausdruck. Diese Emotionen erscheinen psychologisch sehr glaubwürdig. In diesen Episoden wurde die wichtige wirtschaftliche Erscheinung des Verfalls eines Teils der galizischen Adelsfamilien und der Übernahme ihres Besitzes durch Emporkömmlinge zum Ausdruck gebracht. Anders als Franzos betrachtet Weber-Lutkow diese Veränderung nicht als selbstverschuldet vom Adel und mit einem gewissen Mitleid für die Gescheiterten. Diese Optik mag aus seiner sozialen Perspektivierung erfolgen. Den zweiten Teil der Novelle bildet die Liebeshandlung zwischen Dymitr und der Tochter Isaaks, der schönen Lea. Dymitr, der von dem Juden samt Inventar einfach als Knecht übernommen wurde, empfindet sinnliches Begehren nach dem Mädchen. Er weiß aber, daß er die reiche Erbin nie zur Frau bekommt. Gleichzeitig erfährt er, daß seine Schwester Marynka in der Stadt zur Prostituierten geworden ist, damit ihr alter Vater nicht Hungers sterbe. Anstatt
D a s galizische D o r f in d e n N o v e l l e n v o n H a n s W e b e r - L u t k o w
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dies als eine Verpflichtung für sich aufzufassen, beginnt Dymitr Lea als die in seiner Vorstellung Schuldige an dem Unglück der Seinigen zu hassen. Haß und sinnliche Liebe beherrschen ihn. Als er aber eine Gelegenheit findet, seine Begierde zu befriedigen, wird ihm das Mädchen sexuell gleichgültig, Lea dagegen hat sich in ihn verliebt und drängt sich Dymitr mit ihrem Gefühl auf. So springt sie auf sein Pferd, als er mit den Pferden zur Schwemme eilt, und will nicht loslassen, auch wenn Dymitr droht, die Pferde tiefer ins Wasser zu treiben. Er macht die Drohung zur Tat, und Lea ertrinkt. Die Versinkende versucht sich an ihn zu klammern, aber er stieß ihre Hände zurück. Nun empfindet er das Vorgegangene als eine Art von sozialer Vergeltung für das Elend der Seinen. Als er den verzweifelten Vater des Mädchens sieht, bedauert er ihn zuerst, dann verhärtet er sich jedoch gegen menschliches Unglück. Er verläßt seinen Dienst und wird zum Landstreicher. Einmal begegnet Dymitr in der Stadt seiner Schwester. Sie ist stattlich aufgeputzt und mit ihrem Schicksal zufrieden. Sie denkt auch nicht, obwohl der Vater nicht mehr lebt, an einen anderen Broterwerb. Die Gefühle, die der Held während dieser Epilogszene erlebt, sind die der Freude über das Glück seiner Schwester und Genugtuung über die ausgleichende Gerechtigkeit: „Und zum ersten Mal in seinem Leben tauchte der Gedanke in ihm auf, daß es ein höheres Wesen gab, das mit weisen Händen Glück und Unglück unter die Erdenkinder verteilte. Im stillen Dankgebet erhob er den Blick zum Himmel" (S. 56). Diese Dankbarkeit Dymitrs für das Schicksal Marynkas gehört zu diesen Elementen der dargestellten Struktur des Textes, die eingesetzt wurden, um den intellektuellen Horizont des Titelhelden nachdrücklich zu charakterisieren. Glücklich sein heißt für ihn satt sein, schöne Kleider tragen, also ausschließlich materielle Bedürfnisse befriedigen. Etwas Höheres existiert für ihn nicht. Er hat keinen Begriff davon, daß das Gewerbe Marynkas als „ehrlos" gilt. Er ist nicht einmal imstande, nach Leas Tod Reue über seine Tat zu empfinden. Dies wird sowohl mit seinem niedrigen geistigen Niveau als auch mit seinem harten früheren Schicksal erklärt. Sehr deutlich wird es in der Szene, als Dymitr die sanfte Stimme des greisen Pfarrers aus seiner Kindheit zu vernehmen glaubt: „Kindlein, liebet euch unter einander!" und seine Schuld zu begreifen anfängt, dann aber an die Mißhandlungen und Entbehrungen seiner Kindheit und Jugend denkt und an den in seinen Augen sinnlosen Militärdienst mit seinen unverständlichen Befehlen und Strafen, während dessen die Familie zu Hause verkommen mußte. Diese Einschätzung des Militärdienstes durch die Fabelgestaltung scheint davon zu zeugen, daß der Verfasser die Abneigung des galizischen Landvolkes dagegen für begründet hält, obwohl man darin nur ein nicht intendiertes Zeichen sehen kann. Als Dymitr an diese Etappen seines Lebens zurückdenkt, entgegnet er seinem Gewissen: „Ja, ja, wer aber hat mir jemals im Leben Liebe erwiesen?" (S. 4 6 0 · Damit wird er seine Reue los. Seine Tat ist also ein Ausdruck blinder, triebhafter Rache für die gesellschaftliche Ungerechtigkeit, aber gleichzeitig ein Ergebnis der pathologischen Entwicklung seines Gefühlslebens.
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Z u r g e s e l l s c h a f t l i c h e n P r o b l e m a t i k in d e r „ G a l i z i e n l i t e r a t u r "
Die Novelle Witold Mirski weist in b e z u g auf d e n H a n d l u n g s a u f b a u eine ä h n l i c h e S t r u k t u r wie Dymitr auf. A u c h hier entwickelt sich die zu A n f a n g als Liebes- u n d F a m i l i e n g e s c h i c h t e angelegte E r z ä h l u n g zu einer Kriminalgeschichte, wobei der T o d des A n t a g o n i s t e n d u r c h e i n e n Unfall, e i n e n S t u r z v o m Pferd, erfolgt u n d es schwer e i n z u s c h ä t z e n ist, inwieweit die H a u p t f i g u r ihn n u r h e r b e i g e w ü n s c h t u n d inwieweit sie ihn a u c h bewirkt hat. D e r ö k o n o m i sche Konflikt wird stark b e t o n t u n d sogar z u m H a u p t m o t i v des V e r h a l t e n s der Titelgestalt e r h o b e n . In d i e s e m W e r k w e r d e n drei soziale Klassen z u s a m m e n g e f ü h r t , wobei die B e z i e h u n g e n zwischen d e m Adel u n d d e m B a u e r n t u m n i c h t a n t a g o n i s t i s c h e F o r m e n a n n e h m e n , was a u c h in der v o r h e r b e s p r o c h e n e n Novelle der Fall war. M a n k a n n darin ein K e n n z e i c h e n der gesellschaftlic h e n S t e l l u n g n a h m e des A u t o r s s e h e n , aber w e n n m a n die E n t s t e h u n g s z e i t der W e r k e b e a c h t e t , darf m a n wohl v e r m u t e n , daß diese K o n f i g u r a t i o n in ein e m gewissen G r a d e a u c h in d e r V e r l a g e r u n g des S c h w e r p u n k t e s der gesells c h a f t l i c h e n K o n f l i k t e im d a m a l i g e n Galizien wurzelt. So verläuft der G r u n d konflikt des T e x t e s zwischen d e n bisher im Agrarland Galizien wichtigsten Klassen u n d d e m n e u r e i c h e n , e m p o r k o m m e n d e n B ü r g e r t u m . D e r H a u p t h e l d der E r z ä h l u n g , W i t o l d Mirski, trägt e i n e n adligen N a m e n u n d vertritt in der G e s c h i c h t e die I n t e r e s s e n der G r u n d b e s i t z e r . D o c h er ist das a u ß e r e h e l i c h e Kind e i n e r v o r n e h m e n G u t s b e s i t z e r i n u n d eines ihrer B a u e r n . Er weiß Bescheid ü b e r seine H e r k u n f t , o b w o h l er vor der W e l t als legitimer S o h n des v e r s t o r b e n e n H e r r n Mirski gilt. Er ist sogar stolz darauf, ein Kind der Liebe u n d nicht e i n e r v e r l o g e n e n E h e zu sein. Er e r i n n e r t sich an d e n stillen, r u h i g e n B a u e r n , der sein n a t ü r l i c h e r V a t e r war, u n d an s e i n e n Z i e h v a t e r u n d faßt das in d e n W o r t e n an seine adlige M u t t e r z u s a m m e n : „ G o t t l o b , daß ich nicht E u r e s g l e i c h e n , d a ß ich ein Bauer bin!" (S. 67). Es wird nicht g e n a u e r erörtert, was er s e i n e m Pflegevater v o r z u w e r f e n hat, a b e r der s c h l e c h t e R u f seiner M u t t e r , die i h r e m T r i e b f o l g e n d L i e b s c h a f t e n mit B a u e r n e i n g e h t u n d diese s c h o n zu L e b z e i t e n ihres M a n n e s zu u n t e r h a l t e n pflegte, d e u t e t auf die Schild e r u n g der U n z u c h t des galizischen Adels hin. U m ein ä h n l i c h e s V e r h ä l t n i s zwischen der v e r h e i r a t e t e n H e r r i n u n d d e m d e m ü t i g e n D o r f b e w o h n e r h a n d e l t es sich in der Novelle Onipro aus d e r s e l b e n S a m m l u n g . W i t o l d , der seiner H e r k u n f t nach ein „Mischling" ist, s t e h t zwischen d e n beiden W e l t e n u n d zeigt keine K o n s e q u e n z in seiner I d e n t i t ä t s s u c h e . Er g e h t ein d a u e r h a f t e s B ü n d n i s mit d e m B a u e r n m ä d c h e n H a n k a ein, hat mit ihr zwei Kinder, k a u f t ihr eine H ü t t e u n d d e n k t z u e r s t daran, sein L e b e n mit s e i n e n Lieben als ein e i n f a c h e r L a n d m a n n zu v e r b r i n g e n . V o n e i n e r E h e mit der M u t t e r seiner K i n d e r ist allerdings nicht die Rede. Die Liebe zu dieser Familie h a t t e ihn e i n m a l , wie die E i n g a n g s s z e n e der E r z ä h l u n g r ü c k b l e n d e n d zeigt, vor S e l b s t m o r d b e w a h r t , als er sein g a n z e s V e r m ö g e n im Spiel verloren hatte. Als ihn a b e r seine i n z w i s c h e n verwitwete M u t t e r bat, die V e r w a l t u n g ihres G u t e s zu ü b e r n e h m e n , willigte er ein. D a b e i hat er die g a n z e Zeit ü b e r die b e g r ü n d e t e H o f f n u n g , daß n a c h d e m T o d e seiner M u t t e r das G u t T o p o l o w i h m u n d s e i n e n K i n d e r n als E r b e n g e h ö r e n wird.
Das galizische Dorf in den Novellen von H a n s W e b e r - L u t k o w
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Eine Gefahr für seine Zukunftspläne entsteht, als die trotz der Trostsuche in den Armen bäuerlicher Verehrer sich einsam fühlende Mutter den Entschluß faßt, den ehrgeizigen und wesentlich jüngeren bürgerlichen Bezirkshauptmann Tokarski zu heiraten. Witold ist entschieden gegen diese Ehe, die so sehr den Interessen seiner eigenen Familie widerspricht. Außerdem ekelt ihn der eingebildete Beamte an. In der Gestalt Tokarskis zeichnet der Erzähler ein sehr negatives Bild des emporstrebenden galizischen Bourgeois und gleichzeitig galizischen Beamten par excellence. Damit wird die typische Tendenz des Strebens nach dem sozialen Aufstieg durch die Verbindung mit einer alten Adelsfamilie zum Ausdruck gebracht, und die Unfähigkeit der Bürokratie wird kritisiert. Die ausgebaute Szene der Begegnung der Antagonisten in Tokarskis Büro, wo ihn Witold auf Bitte seiner Mutter zu einem Spazierritt abholen soll, dient der eingehenden Charakteristik des Strebers. Tokarski hat Witold und dem Adel schlechthin gegenüber Minderwertigkeitskomplexe wegen seiner bürgerlichen Herkunft, sucht sie aber durch Amtswürde und politische Macht zu kompensieren. Als wirksamstes Mittel dazu erscheint ihm eine Ehe mit der Grundbesitzerin Mirska. Er gilt als ein begabter Politiker und Beamter. Dennoch vergeudet er seine Arbeitsstunden damit, seit Jahren Uniformenentwürfe für die k.k. Bürokratie zu zeichnen, was den Leerlauf der österreichischen Ämter sehr gut charakterisiert. Am unsympathischsten macht ihn jedoch seine verächtliche, zurückweisende Verhaltensweise einfachen Menschen gegenüber, die in seinem Büro etwas zu erledigen haben. Dabei wagt er noch mit dem Selbstlob seiner Gerechtigkeit, Güte und Milde zu prahlen. Nachdem er den vorgeladenen demütigen Bauern zur Tür hinausgeworfen hat, jammert er zu Witold: „(...) o, wäre doch die Prügelstrafe nicht abgeschafft! Diese Leute machen es ja so, als wären wir nicht Diener des Kaisers, sondern Diener der Bauern. Den Unterschied zwischen Menschen und Bauern kennt man heute leider nicht mehr." (S. 76). Das Anliegen der mitgeteilten Struktur erweist sich hier als Charakteristik und Kritik an einer bestimmten sozialen Schicht. Gleichzeitig bewirkt im Rahmen der dargestellten Struktur des Textes dieses Bild bei dem Leser eine deutliche Abneigung gegen Tokarski, sodaß er sein folgendes jähes Ende nicht bedauern kann. Witold hat nämlich anstatt eines sanften Pferdes für den Bezirkshauptmann ein widerspenstiges, noch kaum zugerittenes Tier genommen. Wahrscheinlich beabsichtigte er damit, den ungeschickten und auf sein Können stolzen Reiter zu demütigen. Die Pferde gehen aber durch, Tokarskis Roß schleift den Reiter zu Tode, was den geheimsten, vielleicht sogar sich selbst nicht eingestandenen Wünschen Witolds entspricht. Mirski rettet sich nur knapp vor dem Hinabgleiten seiner Stute in eine verhängnisvolle Schlucht. Zu Hause angekommen, denkt er gar nicht daran, seinem Gegner zu Hilfe zu eilen. Ganz passiv schaut er dem Zuge zu, der Tokarskis Leichnam in das Haus seiner verzweifelten Mutter schafft. Alle sozialen Klassen, die am Beispiel ihrer Vertreter in der Novelle gezeigt werden, erfahren eine kritische Behandlung. Der bürgerliche Karrierist
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Zur g e s e l l s c h a f t l i c h e n Problematik in der „Galizienliteratur"
Tokarski wird schonungslos bloßgestellt, aber auch der alte Adel wird in der Gestalt der Mutter Witolds als triebverhaftet dahinlebend negativ gezeichnet. Witold, der das plebejische Element mit dem adligen verbindet und dessen vorgezeichneter Gedankenhorizont der eines Gebildeten ist, erweist sich als ein Mensch, der sich von keinen ethischen Grundsätzen lenken läßt und seinen Instinkten zügellos gehorcht. Auch er ist, ähnlich wie andere slawische Gestalten bei Weber-Lutkow, ergriffen von einem Fatalismus, der ihn mit der Bewußtlosigkeit eines Schlafwandlers auf Ereignisse reagieren läßt. Diese Novelle liefert ein Bild von wichtigen sozialen Veränderungen in Galizien gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die Gestaltung der Figuren, die Abneigung des Lesers gegen sie und eine Verurteilung ihres Handelns hervorrufen muß, kann allerdings nur als Indikator für die Vorurteile des Autors gegen die einheimische Bevölkerung Ostgaliziens betrachtet werden. Dasselbe gilt übrigens für andere Novellen der beiden Sammlungen. In zwei Geschichten mit Frauennamen im Titel und Frauenschicksalen im Zentrum der dargestellten Struktur, Nastia und Jewka, verwendet WeberLutkow das Handlungsmuster der Liebesbeziehung zwischen einem Adligen und einem ihm untergeordneten Mädchen einfacher Herkunft. Es sind allerdings keine Verführungsgeschichten, wie sie etwa bei Franzos oder SacherMasoch vorkommen, die Frauen werden von dem Erzähler keineswegs bemitleidet, der Autor sieht in der dargestellten Bindung kein soziales Problem. Der Standpunkt des Erzählers bleibt andauernd derselbe: Er erzählt das Vorgekommene aus dem Blickwinkel des Mannes und unternimmt keinen Versuch, die weibliche Psyche zu verstehen. Von größerer Bedeutung für die gesellschaftliche Problematik Galiziens ist die Novelle Nastia. Der Verfasser entwirft darin ein schauerliches Bild einer dem Alkoholismus ergebenen, auf einer sehr primitiven Denkstufe und in passiver Schicksalsergebenheit lebenden Bauernfamilie in Ostgalizien. Der halbwüchsigen schönen, aber vollkommen verwahrlosten, wie ein wildes Tier lebenden Nastia nimmt sich der gute deutsche Herr von einem benachbarten Gut an. Dieser Handlungseingang und zum Teil die anfangliche Handlungsführung erinnern an die polnische Novelle Dobra pani von Eliza Orzeszkowa. Der Erzähler macht jedoch keinen Hehl daraus, daß der „gute Herr" aus dem Mädchen gleich seine Geliebte macht, ohne auch einen Tag gewartet zu haben. Das Naturmädchen Nastia gibt sich ihm gedankenlos hin und ist glücklich, daß nach den vielen Mißhandlungen im Elternhaus endlich jemand gut und zärtlich zu ihr ist. Nach und nach lernt sie, sich elegant anzuziehen, sich beim Essen richtig zu verhalten, endlich verlangt sie nach einem Lehrer, der ihr Lesen und Schreiben beibringen würde. Bezeichnend für die Grundhaltung des Autors ist, daß es sich um die deutsche Sprache handelt, die das Mädchen als ein Synonym der Kultur auffaßt. Nastia liest mit der Zeit Schewtschenkos Kobsar und erlebt das Schicksal der Najmytschka mit 23 , ja sie vermag sogar ihren nüchternen Geliebten für Literatur zu begeistern. Als aber ihr Vater, der degenerierte Säufer, der sie wahrscheinlich um Geld anbetteln wollte, infolge eines Unfalls unter den Rädern
D a s g a l i z i s c h e D o r f in den N o v e l l e n v o n H a n s W e b e r - L u t k o w
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ihres Herrschaftswagens umkommt, erfolgt die Umkehr. Nastia kehrt in das Elternhaus zurück, bereitet den Leichnam zum Begräbnis vor und verweigert dann die Rückkehr in das Schloß. Als ob sie alles Gelernte vergessen hätte, vegetiert sie wieder wie ein Tier in den Tag hinein, ernährt sich zusammen mit ihrer Mutter vom Weinbrand und gestohlenen Gut und ertrinkt endlich im Teich, in den sie einen Hund hineinwerfen wollte. Bezeichnend ist, daß ein Bauer bei diesem Vorgang völlig passiv zusieht. Dadurch wird dem Leser der Wink gegeben, daß es sich im Falle von Nastias Familie um keine Ausnahme handelt, sondern daß sie für das ostgalizische Bauernmilieu typisch sei. Das Erschütterndste an dieser Novelle ist die Milieuzeichnung. Es handelt sich darin u m eine pathologische, infolge der Trunksucht äußerst verkommene Familie. Ihrer Schilderung entspricht auf dem Niveau der mitgeteilten Struktur die Absicht des Verfassers, die Geschichte als typisch erscheinen zu lassen. Die dargestellten Bauern folgen ihren elementaren Trieben: nach Essen, nach Sinnlichkeit, endlich nach Alkohol. Sie verhalten sich passiv, tun nichts, u m ihr Leben zu ändern. Bei der Mutter von Nastia ist sogar der Lebensinstinkt so abgeschwächt, daß sie sich nicht einmal wie ein wildes Tier ernähren kann und nach dem Tod ihrer Tochter verhungert. Das Verhalten des jungen Herrn, der zuerst das junge Mädchen „retten" wollte und sie dann, allerdings sich ihrem Willen fügend, preisgibt, wird keineswegs als negativ bewertet. Der Erzähler deutet es als die Verbindung des Angenehmen (sinnliches Vergnügen) mit dem Nützlichen, dem Versuch, Nastia aus ihrer elenden Umgebung wegzubringen. Es erweist sich aber — und dies ist die Hauptthese der mitgeteilten Struktur dieses Textes —, wie wenig die Kultur gegen die Natur vermag. Der rohe Instinktmensch läßt sich nach der Auffassung von Weber-Lutkow nicht retten, er kehrt in das ihm vertraute Elendsmilieu zurück, er läßt sich nicht zivilisieren. Solche Anschauungen, die ganz im Gegensatz zu Franzos' Überzeugung von der Notwendigkeit und Wirksamkeit einer „deutschen Kultursendung im Osten" stehen, übermittelt Weber-Lutkow in seinen „Geschichten aus Kleinrußland". Für das Gesamtbild des galizischen gesellschaftlichen Lebens sind die Novellen Weber-Lutkows durchaus von Bedeutung, indem sie einige wesentliche Merkmale der sozialen Strukturierung der Provinz gegen das Ende des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck bringen. Die nationale, gesellschaftliche und wahrscheinlich auch berufliche Perspektivierung des Verfassers verursacht jedoch, daß der westeuropäische Leser sich anhand ihrer Lektüre ein verzerrtes Bild Galiziens schaffen mußte. Weber-Lutkows Prosa nähert sich am meisten der naturalistischen Strömung, womit sich das Hervorheben des Grellen, „Häßlichen", Abstoßenden verbindet. Er scheint eine Vorliebe für Kriminalfalle zu haben, die wohl aus seiner langen juristischen Praxis (aber nicht in Galizien) resultiert. Das Ergebnis ist, daß der Schriftsteller pathologische Ausnahmefälle als typisch betrachtet. In seinen Novellen entwirft er sozial begründete psychologische Porträts galizischer Bauern oder (seltener) Edelleute, die am Rande der menschlichen Existenz leben und über keine Moral verfügen.
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Z u r g e s e l l s c h a f t l i c h e n P r o b l e m a t i k in d e r „ G a l i z i e n l i t e r a t u r "
Das Dorfleben wird als ein trübes Dahinvegetieren im Elend, Schmutz und Alkoholismus dargestellt, wofür der Verfasser weder seine eigene Klasse der Grundbesitzer noch die österreichische Regierung verantwortlich macht. Anders als alle bisher behandelten Autoren stellt er keinen Konflikt zwischen Bauern u n d Edelleuten fest, sondern eher ihre friedliche Koexistenz. Dabei gleichen die beiden Klassen einander in ihrem Triebleben und passivem Fatalismus, der sie den ökonomischen Ruin wie den Tod gleichgültig ertragen läßt. Aktiv sind nur Emporkömmlinge — J u d e n u n d Bürger. Aber auch sie werden als moralisch bedenkliche Figuren gezeichnet. Das ukrainische Bauerntum erscheint in den Werken von Weber-Lutkow als eine dunkle Masse, die weit davon entfernt ist, ein politisch-soziales Bewußtsein zu entwickeln. Sie kenne ja nicht einmal die einfachsten moralischen N o r m e n des gesellschaftlichen Lebens. W e n n man die v e r k o m m e n e n „gestrandeten Existenzen" Weber-Lutkows mit den Bauerngestalten im Werk seines Zeitgenossen Ivan Franko vergleicht, der sich ebenfalls auf Ostgalizien bezieht, also über die gleiche gesellschaftliche Klasse und Nationalität schreibt, sieht man, wie grundverschieden der Gutsbesitzer Pokorny u n d der Bauernsohn u n d Revolutionär Franko auf diese Menschen schauen. Der ukrainische Dichter zeigt fleißige, ökonomisch und sozial schwer bedrückte, aber mit h o h e m moralischem Bewußtsein u n d gesundem sozialem Instinkt ausgestattete Figuren. Zwar gibt es noch wenige, wie er das darstellt, die ein klares politisch-gesellschaftliches Bewußtsein haben, aber sie s e h n e n sich nach „Licht" u n d haben ein unbestechliches G e f ü h l für Gerechtigkeit. Weber-Lutkow dagegen betrachtet sie als potentielle Verbrecher und schaut den Bauern seiner Heimat mit einem Mißtrauen des F r e m d e n entgegen, den sowohl seine soziale Position als auch die nationale A b s t a m m u n g von ihnen trennt. Das Bestehen dieser doppelten Kluft bestätigt im späteren Schaffen Weber-Lutkows u.a. die Darstellung der ukrainischen Bauern zu Anfang des Ersten Weltkrieges in seiner autobiographischen Erzählung Die Russen in Lowce, abgedruckt in den H e f t e n 1—4 des Jahrgangs 1916 der Zeitschrift „Deutsch-Ungarn".
Zusammenfassung
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Zusammenfassung In diesem Kapitel wurde das Bild des gesellschaftlichen Lebens Galiziens in den Werken von drei verschiedenen Verfassern analysiert, die aus der Zeitspanne ca. von 1870 bis 1901 stammen, also vorwiegend in dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entstanden sind. In der dargestellten Zeit greifen sie allerdings oft tiefer in die Geschichte zurück. Sacher-Masoch und Franzos wählen häufig das vormärzliche Galizien als Schauplatz und Thema ihrer Texte. In ihrer Prosa erscheint das Jahr 1848 als Meilenstein in der inneren Geschichte Galiziens, und zwar nicht so sehr wegen der Freiheitsbewegung des „Völkerfrühlings", sondern als das Jahr der Abschaffung der Robot und anderer Überbleibsel der Feudalherrschaft in dieser Provinz. Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied zwischen der Auffassung von Sacher-Masoch, der auf diesen Wechsel große Hoffnungen bezüglich der Lage der galizischen Bauern setzt, und des weit skeptischeren Franzos, der immer wieder behauptet, daß sich trotz dieser Umwälzung die gesellschaftliche und ökonomische Situation des Landvolkes gar nicht verbessert hat. Die Aktualität dieser Feststellung wird indirekt von dem jüngeren Schriftsteller Weber-Lutkow bestätigt. Beide Stellungnahmen scheinen begründet durch die außerliterarische Wirklichkeit zu sein: Anfänglicher Hoffnung auf eine grundsätzliche Wendung zum Besseren direkt nach 1848 entspricht die Beurteilung der gesellschaftlichen Zustände in einigen Texten Sacher-Masochs; späterer Enttäuschung und Entmutigung — die Schilderung des Sachverhalts bei Κ. E. Franzos. Als symptomatisch erscheint dagegen die Tatsache, daß das andere für die innere Geschichte Galiziens schwerwiegende Datum 1867, nämlich die Verfassung in Österreich und der Beginn der autonomen Regierung Galiziens, von der deutschsprachigen Prosa nicht berücksichtigt wird. Auch die in diesem Kapitel besprochenen Autoren empfinden es offenbar als kein wichtiges Moment für die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse in dieser Provinz. Der Blick der einzelnen Verfasser auf die gesellschaftlichen Beziehungen in Galizien und auf die Rolle der einzelnen Klassen und Schichten in diesem Gefüge kann zum Teil auf die Perspektivierung durch die eigene nationale und soziale Herkunft der Autoren zurückgeführt werden. Κ. E. Franzos stammt aus dem Bürgertum und bekennt sich zum Deutschtum und zum Judentum, identifiziert sich jedoch grundsätzlich mit dem ersteren. Leopold Sacher-MasochJunior entstammt einer geadelten Beamtenfamilie, wobei die spezifische Funktion seines Vaters als Polizeidirektor zu beachten ist. Er fühlt sich stark mit dem slawischen Element verbunden, vor allem durch die angeblich ukrainische Abstammung seiner Mutter. Aber auch sein Vater war einer der vielen germanisierten Böhmen, die im vormärzlichen Galizien bedeutende Stellen bekleidet hatten. Pokorny (Weber-Lutkow) entstammt einer Großgrundbesitzerfamilie und führt ihre Traditionen fort. Er hält sich für einen Vertreter der Deutschen in der Diaspora. Seine Texte aus der Zeit der Jahrhundertwende
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Z u r g e s e l l s c h a f t l i c h e n P r o b l e m a t i k in d e r „ G a l i z i e n l i t e r a t u r "
thematisieren das nicht, aber in den Erzählungen nach 1914 äußert er sich sehr deutlich darüber. So empfindet er zwar Ostgalizien als Heimat, aber deren slawische Bevölkerung betrachtet er als fremd. Obwohl diese Haltung in den in dieser Arbeit behandelten Texten nicht direkt zum Ausdruck kommt, kann die Gestaltung und Beurteilung des ostgalizischen Milieus darin als ein Indikator für das Vorhandensein solcher Einstellung betrachtet werden. Alle besprochenen Autoren sind Akademiker, und in zwei Fällen scheint auch ihr Beruf von Bedeutung zu sein: der von Franzos ausschließlich erlernte und der von Pokorny auch ausgeübte Beruf des Juristen beeinflußt ihr Interesse an Stoffen aus dem Bereich von Rechtsfällen. Bei Franzos spielt auch die Tatsache eine Rolle, daß er sich jahrelang als Journalist betätigt hatte. Das wirkt sich vor allem auf die darstellende Struktur seiner polemisch geprägten Werke aus. Trotz der sich aus diesen unterschiedlichen gesellschaftlichen Erfahrungen und individuellen künstlerischen Anlagen ergebenden Unterschiede, auf die im folgenden eingegangen werden soll, bleibt der Haupteindruck, den ihre Werke hinterlassen, in einigen wesentlichen G r u n d z ü g e n derselbe. Keiner dieser Autoren betrachtet die gesellschaftliche Lage in Galizien als zufriedenstellend. Sacher-Masoch u n d noch stärker Franzos bringen die gesellschaftliche Ungleichheit u n d Benachteiligung der Bauern trotz der konstitutionellen Garantie der gleichen Rechte für alle Staatsbürger z u m Ausdruck. Bei SacherMasoch wird allerdings in einigen Erzählungen über die Zeit nach 1848 die H o f f n u n g ausgesprochen, daß die neue gesellschaftliche Situation die Zulassung der Bauern zur Verwaltung ihres Dorfes und der Heimat zur Folge haben wird (vgl. Unser Deputirter, Das Erntefest). Alle drei Schriftsteller beziehen sich vor allem auf die Verhältnisse auf dem Lande und stellen Galizien als ein Agrarland dar. Als seine wichtigsten gesellschaftlichen Klassen betrachten sie folglich den Adel u n d das Bauerntum. Dies ist eine der Wirklichkeit entsprechende Schilderung des Sachverhalts. Im allgemeinen m u ß man jedoch aus heutiger historischer Perspektive eine geringe Beachtung der Entwicklungstendenzen — des allmählichen Übergangs zum Kapitalismus, der Industrialisierung, der E n t s t e h u n g der Arbeiterklasse — feststellen. Im Umkreis der gesamten schöngeistigen „Galizienliteratur" in der deutschen Sprache wurden bei der Stoffsammlung für diese Arbeit nur zwei Texte gefunden, die solche Problematik berühren: die ursprünglich auf Ukrainisch verfaßte und dann vom Autor ins Deutsche übersetzte Erzählung von Ivan Franko Der Schaßiirt, eine wichtige Darstellung des ostgalizischen Ölgebietes u m Boryslaw u n d des Wandels eines Teiles besitzloser Bauern in Arbeiter, u n d der Roman von H e r m a n n Blumenthal Der Weg zum Reichtum (1913) aus demselben Stoffkreis. Das letztere Werk ist ein typischer „Kulturroman" mit sensationellen Elementen, dessen mitgeteilte Struktur von der moralisierenden These bestimmt ist, daß der Reichtum kein Glück bringe. Es läßt sich darin kein besonderes Interesse des Verfassers an gesellschaftlicher Problematik feststellen, aber bei der Wahl des Themas, wie das Industriegebiet u m Boryslaw entsteht u n d sich weiterentwickelt, m u ß t e die dargestellte Struktur das Milieu des Proletariats wenigstens
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im Hintergrund berücksichtigen, und die soziale Frage mußte wenigstens am Rande der mitgeteilten Struktur erscheinen. Die meisten der in Galizien angesiedelten Texte bleiben stofflich im Umkreis der Dorfgeschichte, bzw. der „Dorf- und Schloßgeschichte". Bei allen behandelten Schriftstellern wird das Bild der gesellschaftlichen Beziehungen in Galizien durch das der ökonomischen Lage der Provinz untermauert, die, euphemistisch gesagt, sehr unerfreulich ist. Franzos stellt sogar fest, daß das Land dem wirtschaftlichen Ruin entgegensteuere. Weber-Lutkow behauptet zwar derlei nicht explizite, aber seine düsteren Bilder aus dem Leben Ostgaliziens scheinen solche Mitteilungsabsicht des Autors beweiskräftig zu unterstützen. Das materielle Elend wird von den Verfassern meistens anhand seiner Folgen als Verwahrlosung, Schmutz, Krankheiten und sonst vermeidbare Todesfälle, Hunger und Flucht in den Alkoholismus gezeigt. Diese Symptome werden vor allem an Beispielen von Bauernwirtschaften, manchmal aber auch des verfallenden Landadels dargestellt. Auch Emporkömmlinge, Leute, die vorwärtskommen, werden von keinem der Schriftsteller als Hoffnung für Galizien betrachtet. Meistens sind es in ihren Texten Juden oder Armenier, seltener Deutsche oder skrupellose Polen (Beamte bzw. ehemalige Gutsverwalter), auf jeden Fall handelt es sich um Personen, die nur ihr egoistisches Interesse verfolgen. Dieses Bild der ökonomischen Lage Galiziens kann als ein Teil essentieller Wahrheit über diese Provinz aufgefaßt werden. Dabei muß man natürlich beachten, daß die katastrophische Prognostizierung und gelegentlich vorhandene Identifizierung der abwirtschaftenden Gesellschaftsklasse (Adel) mit der polnischen Nation auf das nationale Vorurteil der Verfasser zurückgehen, also als ein Ausdruck ihrer national-politischen Haltung gelten können. Unterschiede in der sozialen Optik gibt es vor allem bei der Beantwortung der Frage, wer an diesem sprichwörtlichen Elend Galiziens schuld sei, und bei der Beurteilung der Rolle der einzelnen Klassen sowie des Verhältnisses zwischen den wichtigsten Klassen der Edelleute und der Bauern. Weber-Lutkow ist der einzige Verfasser, der keine Schuldfrage stellt. Als ein mit zwei gesellschaftlich privilegierten Schichten der Großgrundbesitzer und der k.k. Beamten direkt verbundener Mann sieht er weder im einheimischen Adel noch in der österreichischen Regierung Verantwortliche für die himmelschreienden Zustände, die er in seinen Erzählungen zum Ausdruck bringt. Die Gestalt Tokarskis in Witold Mirski weist zwar auf die Mißstände im lokalen Verwaltungsapparat hin, aber es ist der einzige Fall in den zwei behandelten Bänden. Anhand seiner Schilderung m u ß der Leser die Schlußfolgerung ziehen, daß Faulheit und Fatalismus das Elend der Bewohner Ostgaliziens verursachen. Der Autor scheint jedoch jenen Fatalismus gewissermaßen zu teilen, indem er die wenigen seiner Gestalten, denen es gut geht, als rücksichtslose Streber zeigt und Schicksalsschläge, d.h. unverschuldete Ereignisse als Gründe des Elends seiner Helden zeigt (vgl. die Novelle Dymitr). Die Schilderungen von Sacher-Masoch und Franzos beziehen sich meistens auf eine etwas frühere Zeitspanne, oft sogar auf die Zeit vor 1848. Folglich
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Z u r g e s e l l s c h a f t l i c h e n P r o b l e m a t i k in d e r „ G a l i z i e n l i t e r a t u r "
steht in ihrem Mittelpunkt der gesellschaftliche Konflikt zwischen d e m zur Fronarbeit — oft in e i n e m weit ü b e r das herrschende Gesetz hinausgreifenden A u s m a ß — g e z w u n g e n e n Bauern u n d d e m Großgrundbesitzer, der meistens nicht in persona erscheint, sondern sich durch Mandatare, Ö k o n o m e n u n d andere Verwalter vertreten läßt. Mit ihnen sieht sich der Bauer als mit d e m direkten I n s t r u m e n t des gesellschaftlichen Drucks konfrontiert u n d erblickt in ihnen somit seine eigentlichen Erpresser. Dieses Verhältnis von Dorf u n d Schloß wird als ein durchaus antagonistisches dargestellt. Dieses Gesamtbild liefert A u f s c h l u ß über wesentliche Züge des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses u n d des sozialen Bewußtseins der galizischen Bauern. Die Verfasser zeigen, wie sich die Bauern zu wehren versuchen, schätzen aber deren Möglichkeiten als sehr begrenzt ein. E n t w e d e r wählen die D o r f b e w o h n e r den W e g des Rechts u n d lassen sich durch Winkelschreiber Klagen aufsetzen, w e n d e n sich an die offizielle Justiz, oder sie fliehen ins Gebirge u n d s u c h e n als Karpatenräuber, „Hajdamaken", auf d e m W e g der Gewalt das verletzte Recht wiederherzustellen. Das letztgenannte Motiv k o m m t in der „Galizienliteratur" besonders oft vor, was wahrscheinlich eher auf seine Exotik u n d sensationellen E l e m e n t e als auf seine häufige Erscheinung in der außerliterarischen Wirklichkeit Galiziens zurückgeht. Bei Franzos erweist sich — g e m ä ß der wirklichen Kräftekonstellation — keiner dieser Wege als erfolgreich. In d e m ersteren Falle verhindert es die Korruption des Verwaltungsapparates, die Bürokratie u n d der Klassencharakter der Justiz, daß d e m Bauern Recht wird. Bezeichnenderweise ist Franzos geneigt, alle diese Fehler der polnischen Nation zuzuschieben, er läßt dabei die Tatsache außer acht, daß im wirklichen Galizien der Metternichschen Zeit n u r wenige Angehörige dieser Nation zur Verwaltung ihres Landes zugelassen wurden. Meistens wurden bessere Stellen von D e u t s c h e n u n d T s c h e c h e n bekleidet. In seinen späteren Darstellungen scheint er manchmal seine Kritik an der galizischen Bürokratie der Vormärzzeit zu vergessen u n d meint, daß erst die polnische Verwaltung der Verfassungsära alle diese Mißstände hervorgebracht habe. Diese I n k o n s e q u e n z ist symptomatisch für die Bewußtseinslage dieses Autors, als intendiert läßt sie sich wohl nicht betrachten. D e r Adel ist f ü r Franzos eine v e r k o m m e n e Gesellschaftsklasse, u n d er interessiert den Schriftsteller als G e g e n s t a n d seines Schaffens lediglich im gesellschaftlichen Konflikt mit den Bauern, eventuell im nationalen Konflikt mit der d e u t s c h e n „Kulturmission". Auf die Bauern schaut er mit Mitleid u n d Sympathie, aber auch mit gesellschaftlicher Überlegenheit eines Gebildeten. Da es slawische, g e n a u e r gesagt ukrainische Bauern sind, die er schildert, so kann er nicht u m h i n , sie als rohe N a t u r m e n s c h e n zu betrachten, die m a n zuerst zivilisieren m ü s s e , bevor m a n sie f ü r voll n e h m e n dürfte. Er n i m m t Anstoß an ihrem Schmutz, Alkoholismus, Aberglauben u n d an ihrer fatalistischen Passivität. Gleichzeitig schreibt er i h n e n allerdings Rechtsgefühl u n d ges u n d e moralische Begriffe zu. G e m ä ß seinem Blickwinkel eines Vertreters der liberalistischen Geisteshaltung erblickt er in den Bauern eine schwer bedrängte Klasse, die n u r von oben her befreit werden könnte, u n d zwar zuerst durch
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ihre „Zivilisierung" u n d dann durch soziale Reformen. Die Revolte der Hajdamaken ist für ihn ein Ausdruck des begründeten Zornes des Volkes, aber sie führe zu Unrecht. Eine Verbesserung der gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse könnte nur der Staat zustandebringen, u n d ihre Voraussetzung wäre die Zuverlässigkeit der Lokalverwaltung. Eine besonders positive Rolle im Enkulturationsprozeß schreibt er dem Militärdienst der galizischen Bauern zu. Alle diese Ansichten entspringen der Auffassung des Franzos von der Rolle des Staates u n d den Pflichten u n d Rechten der Bürger. Noch anders sieht die Beurteilung der gesellschaftlichen Situation in Galizien bei Sacher-Masoch aus. Sein Schaffen ist weitaus weniger sozialkritisch eingestellt als das von Franzos, obwohl in einem Teil seiner „galizischen" Werke dieses Element eine wichtige Rolle spielt. W ä h r e n d sich Franzos nur für die Bauern interessiert, findet Sacher-Masoch einen anziehend-abstoßenden Gegenstand seiner Schilderungen ebenfalls im galizischen Adel. Obwohl auch dieser A u t o r das „Hajdamakentum" als einzige Hilfe sieht, die den Bauern vor 1848 zur Verfügung steht, glaubt Sacher-Masoch anders als Franzos, daß dank der A u f h e b u n g der „Frohnen" sich die Ursachen dieser Einrichtung überlebt hatten u n d sie somit überflüssig wurde. Die Einschätzung der galizischen Bauern ist bei Sacher-Masoch höher als bei Franzos. Er hält sie für fleißig, mit gesunder Moral u n d sozialem Instinkt versehen, sodaß sie, als der Völkerfrühling 1848 sie befreite, als ein selbständiger Faktor des politisch-gesellschaftlichen Lebens auftreten konnten. Eine Schicht innerhalb der adligen Klasse, die Sacher-Masoch mit ähnlicher Sympathie wie die Bauern betrachtet, sind kleine Landadlige, besonders ruthenischer H e r k u n f t (z.B. Basil H y m e n oder der „Don Juan von Kolomea"). Mit ihnen scheint er sich am ehesten zu identifizieren. Selten gibt es bei ihm eine Kritik an der galizischen Verwaltung, was wahrscheinlich auf die Familientradition zurückgeht. Die Beamten u n d Militärs tauchen bei ihm als Träger der verklärten Idee Österreichs auf. Die Adligen werden meistens als Verschwender dargestellt, ihre Gastfreundschaft u n d Geselligkeit wirken aber auf den Erzähler oft anziehend. In einigen Fällen werden sie als „Blutsauger" u n d arge Bedrücker des Volkes gezeichnet, doch es fehlt auch nicht an freundlichen Bildern des Adels. Oft begegnet m a n bei SacherMasoch dem Typus der „galizischen Geschichte" mit sozialem Hintergrund, jedoch o h n e die Thematisierung eines Konflikts, nach dem Muster des Genrebildes gebaut. Die sozialkritischen Texte überwiegen zuerst in seinem Schaffen, dann werden sie immer m e h r durch Unterhaltungsliteratur ersetzt. In den Werken aus dem Zyklus Das Vermächtnis Kains wird nicht die galizische Feudalgesellschaft, sondern die bisherige auf soziale u n d materielle Ungleichheit gegründete Gesellschaft schlechthin angegriffen. E r g e h t darin über die liberalistische Grundhaltung hinaus u n d sympatisiert mit einer utopisch-sozialistischen Gesellschaftsordnung nach dem Muster der slawischen Urgemeinde. Auch bei Sacher-Masoch gibt es Darstellungen des fatalistischen Schicksalsglaubens der galizischen Bauern, aber anders als Franzos hat er dafür viel Verständnis, da es seiner eigenen deterministischen Konzeption des Menschen
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Zur g e s e l l s c h a f t l i c h e n Problematik in der „Galizienliteratur"
entspricht. Keineswegs meint er, daß sie deshalb faul wären, er sieht darin lediglich ein schönes Sich-Einfügen in den Kreislauf der Natur. Wenn man das Anliegen der mitgeteilten Struktur der in diesem Kapitel analysierten Werke in bezug auf die gesellschaftliche Problematik Galiziens zusammenzufassen sucht, lassen sich die Texte der einzelnen Verfasser, natürlich vereinfachend, auf einer Zweierskala vorstellen. Man könnte sie in Werke mit dem direkten Ziel der Veränderung der überkommenen bloßgestellten Verhältnisse in Galizien gliedern (Franzos) und in solche, die auf keine Beeinflussung der außerliterarischen Wirklichkeit zielen (Sacher-Masoch, Weber-Lutkow). Bei der letztgenannten Gruppe lassen sich allerdings zwei Arten von Texten unterscheiden: a) gesellschaftskritische Beiträge (Erzählungen von Sacher-Masoch aus der Sammlung Das Eigentum und ein Teil seiner Galizischen Geschichten), b) Texte, die durch den Entwurf eines exotischen Milieus und einer sensationellen Handlung (vorzüglich sind es Kriminal- oder Liebesgeschichten) der Unterhaltung des westeuropäischen Lesers dienen sollten (Weber-Lutkow, ein Teil der Socialen Schattenbilder, Galizischen Geschichten und Polnischen Geschichten von Sacher-Masoch). Während die Texte der Gruppe 1 und 2a Mängel und Fehler der gesellschaftlichen Wirklichkeit Galiziens zum Ausdruck bringen und wesentliche Merkmale der herrschenden Situation in künstlerischer Umgestaltung wiedergeben, erweisen sich die Texte der Gruppe 2b meistens als stereotype schablonartige Schilderungen von Sachverhalten, die nicht unbedingt in Galizien hätten lokalisiert werden müssen. Das bezieht sich im Falle von Weber-Lutkow vor allem auf die Fabelgestaltung, die als ein Indikator für die Vorurteile dieses Schriftstellers gegen die slawische Bevölkerung seiner Heimat aufgefaßt werden kann. Seinen Zerrbildern läßt sich allerdings ein Einblick in die Gestaltung der sozial-ökonomischen Beziehungen in Galizien abgewinnen. In einem recht geringen Ausmaß betrifft diese Feststellung sogar die zuletzt erwähnten Erzählungen, in denen Sacher-Masoch nach krassen Effekten hascht. Natürlich prägten die Texte aller behandelten Verfasser bei ihrem Publikum, intendiert oder nicht beabsichtigt, ein bestimmtes, sehr negatives Bild der gesellschaftlichen Zustände in Galizien. Über die Art und Weise, wie ein literarisches Werk das Bild Galiziens gestaltet, entscheidet schließlich auch die künstlerische Darstellungsstruktur, die der jeweilige Verfasser gewählt hat. Die in diesem Kapitel besprochenen Werke stammen aus der Zeit der realistischen und zum Teil naturalistischen Strömung in der deutschsprachigen Literatur, manche aus der Zeit des Fin de siècle. Die Darsteller der gesellschaftlichen Zustände in Galizien greifen vor allem nach den künstlerischen Mitteln der Konventionen des kritischen Realismus und des Naturalismus, u m den Sachverhalt aufzudecken. Der erstgenannten Richtung ist Franzos 24 zuzuordnen, der letzteren zum Teil SacherMasoch, der allerdings den Naturalismus zeitlich vorwegnimmt und eher als sein Wegbereiter betrachtet werden kann 25 . Ein sehr deutlicher Naturalist ist Weber-Lutkow, dessen Erzählungen außerdem einige Bezüge zur „Heimat-
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kunst" aufweisen. Bei Sacher-Masoch überwiegt das realistische Grundtimbre. Interessant erscheinen seine gelegentlichen Bezüge zur Romantik (vor allem zur Schauerromantik), manchmal leicht parodierend aufgefaßt (z.B. die Schilderung des Ausflugs auf Tscherna Hora in Der Hajdamak, Vom Baum des Schweigens oder Die Todten sind unersättlich), manchmal aber ernst gemeint, wie in der Erzählung Tag und Nacht in der Steppe oder in einigen Kriminalgeschichten der Sammlung Sociale Schattenbilder. In diesem Zusammenhang könnte man vom Epigonentum in seinem Schaffen sprechen.
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Z u r gesellschaftlichen Problematik in der „Galizienliteratur"
Anmerkungen zum Kapitel 2 1
2
Nach d e m A u s b r u c h der Märzrevolution erwies sich die N o t w e n d i g k e i t der A u f h e b u n g der F r o n a r b e i t als das a k u t e s t e gesellschaftliche P r o b l e m in Galizien. In der L e m b e r g e r Petition vom 19. März 1848 w u r d e der Verzicht auf die R o b o t und alle a n d e r e n f e u d a l e n L e i s t u n g e n der Bauern an d e n Adel postuliert, wobei allerdings die A u f h e b u n g des Dienstbarkeitsverhältnisses zwischen D o r f g e m e i n d e und D o m i n i u m auf Gegenseitigkeit b e r u h e n sollte. Die Beseitigung der Fronpflicht sollte eine S c h e n k u n g der G r u n d b e s i t z e r an die Bauern sein, d.h. es wurde keine E n t s c h ä d i g u n g v o r g e s e h e n . In der zweiten galizischen A d r e s s e (vom 6. April) war bereits von einer E n t s c h ä d i g u n g die Rede. Es w u r d e darin b e t o n t , daß das A u f h ö r e n der R o b o t und die S c h e n k u n g der rustikalen G r u n d s t ü c k e an die Bauern nicht im N a m e n des Kaisers, s o n d e r n d e m des p o l n i s c h e n N a t i o n a l k o m i t e e s erfolgen sollte. W i e n ließ diese F o r d e r u n g e n o h n e A n t w o r t . Inzwischen f ü h r t e n im März u n d April viele polnische G r u n d b e s i t z e r diese S c h e n k u n g auf eigene F a u s t durch. Viele Adlige zögerten allerdings, o b w o h l sie in ihrer Angst vor der W i e d e r h o l u n g des Blutbades von 1846 an einer Regelung der B e z i e h u n g e n mit d e m B a u e r n t u m d u r c h a u s interessiert waren. Sie waren sich aber dessen b e w u ß t , daß der Verzicht auf die bäuerliche F r o n a r b e i t bei d e m B e s t e h e n aller D i e n s t b a r k e i t s p f l i c h t e n des D o m i n i u m s f ü r sie d e n ö k o n o m i s c h e n Ruin b e d e u t e n m ü ß t e . Es h a n d e l t e sich vor allem u m das Recht der B e n u t z u n g von Wald u n d W e i d e d u r c h die Bauern, a b e r auch u m die Verwaltungs- u n d Justizkosten, die das D o m i n i u m belasteten, u m die U r b a r i a l s t e u e r u n d die U n t e r s t ü t z u n g e n f ü r die Bauern. Die Pariser Emigration forderte den galizischen Adel zur schleunigsten A u f h e b u n g aller F e u d a l l a s t e n auf, weil es der einzige W e g war, d e n Bauern zur Neutralität im Falle einer p o l n i s c h e n N a t i o n a l e r h e b u n g zu bewegen. D e r d e m o k r a t i s c h e Nationalrat in L e m b e r g appellierte im A u f r u f v o m 17. 4. an die G r u n d b e s i t z e r , a m O s t e r s o n n t a g die A u f h e b u n g der F r o n a r beit feierlich zu v e r k ü n d e n . Man wies dabei auf d e n N u t z e n hin, den dieser Schritt f ü r die patriotischen B e s t r e b u n g e n der Polen b e d e u t e t . D e n D e m o k r a t e n ist aber der L a n d e s g o u v e r n e u r Galiziens, der Graf von Stadion, z u v o r g e k o m m e n . Z u e r s t l e h n t e er diese F o r d e r u n g ab. Als er a b e r einsah, daß dieser Schritt u n v e r m e i d l i c h ist u n d v o m p o l n i s c h e n patriotischen Lager ausg e n u t z t w e r d e n k a n n , verlangte er von den Z e n t r a l b e h ö r d e n eine schnelle E n t s c h e i d u n g . Er m a c h t e darauf a u f m e r k s a m , daß Österreich sonst e n t w e d e r mit d e m Verlust Galiziens o d e r mit e i n e m n e u e n Blutbad r e c h n e n m u ß . D a es galt, der p o l n i s c h e n A k t i o n , die mit d e m Osterfest v e r b u n d e n sein sollte, v o r z u b e u g e n , n u t z t e er die e r h a l t e n e n V o l l m a c h t e n aus u n d redigierte ein R u n d s c h r e i b e n , n o c h bevor eine A n t w o r t aus W i e n eintraf. In diesem Text, der e i n e n Tag vor Ostern im g a n z e n L a n d vorgelesen w e r d e n sollte, hieß es, daß ab 15. Mai alle R o b o t e n u n d u n t e r t ä n i g e n L e i s t u n g e n auf Kosten des Staates (d.h. gegen eine E n t s c h ä d i g u n g f ü r die G r u n d besitzer) a u f g e h o b e n w e r d e n sollen. D e r Kaiser bestätigte Stadions E n t s c h l u ß in e i n e m vordatierten Patent, das das D a t u m 17. April trägt, aber erst im Mai in Galizien b e k a n n t g e m a c h t wurde. A u f diese Weise w u r d e den Polen ein wichtiges P r o p a g a n d a a r g u m e n t aus den H ä n d e n geschlagen, d e n n die Bauern w u r d e n in der Ü b e r z e u g u n g gestärkt, daß der Kaiser als ihr einziger W o h l t ä t e r sie bei ihren G r u n d h e r r e n „losgekauft" hätte. Dabei w u r d e n die K o s t e n der Entschädigung von den S t e u e r g e l d e r n bestritten, s o d a ß sie die galizischen Bauern n o c h lange belasteten. Ein wichtiges P r o b l e m , das das kaiserliche Patent unerledigt ließ u n d das somit jahrz e h n t e l a n g einen n e u e n A n t a g o n i s m u s zwischen D o r f u n d Schloß n ä h r t e , war die Servitutenfrage. Der Kaiser e m p f a h l in dieser A n g e l e g e n h e i t ein freiwilliges A b k o m m e n zwischen Bauern u n d G r o ß g r u n d b e s i t z e r n , s o d a ß die ersteren gegen eine B e z a h l u n g Wald u n d W e i d e weiterhin b e n u t z e n k ö n n t e n , aber es fehlte an e i n e m klaren E n t s c h l u ß in dieser heiklen u n d f ü r die beiden Klassen so wichtigen Frage. Vgl. Stefan Kieniewicz, Pomiçdzy Stadionem a Goslarem. Sprawa wìoscianska w Galicji w 1848 r., Wroclaw 1980, Kap. II (Inicjatywa polska) u n d III (Kontrakcja Stadiona). Vgl. vor allem E b e r h a r d Hasper, Leopold von Sacher-Masoch, Diss., Greifswald 1932, a u ß e r d e m z.B. R e i n h a r d F e d e r m a n n , Sacher-Masoch oder die Selbstvernichtung, G r a z u n d W i e n 1961, oder Zbigniew Swiatlowski, Sacher-Masoch oder die bedrohte Normalität, „ G e r m a n i c a Wratislaviensia", XXVII, S. 149-171.
A n m e r k u n g e n z u m Kapitel 2
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A u ß e r den im P u n k t 2 g e n a n n t e n A r b e i t e n wäre hier die Einleitung von E. J. Görlich zur Auswahl Dunkel ist dein Herz, Europa, G r a z u n d W i e n 1957, S. 5—27 zu e r w ä h n e n , oder der mit großer E i n f ü h l u n g verfaßte Aufsatz des österreichischen Dichters der J a h r h u n d e r t w e n d e , Herm a n n Bahr, Sacher-Masoch, „Die Zeit", 25/1895, S. 187 f. Das Jahr 1874 als E r s c h e i n u n g s d a t u m n e n n e n m e h r e r e Bibliographien, wie z.B. B R Ü M M E R , Bd. 6, S. 97, o d e r die Bibliographie am E n d e der e r w ä h n t e n A n t h o l o g i e von E. J. Görlich Dunkel ist dein Herz, Europa. Dagegen die von mir b e n u t z t e Erstausgabe des Zyklus n e n n t a n d e r e D a t e n : f ü r den 1. Teil - Stuttgart 1870, f ü r den 2. - Bern 1877. Der Verfasser identifiziert d e n Begriff des H a j d a m a k e n , so wie es d a n n a u c h Κ. E. F r a n z o s tut, mit d e m eines G e b i r g s r ä u b e r s in den Karpaten. D e r ursprüngliche Sinn des W o r t e s bezieht sich auf die a n t i f e u d a l e Kosaken- u n d B a u e r n b e w e g u n g im 18. J a h r h u n d e r t . Wladystaw A. Serczyk berichtet davon in seiner M o n o g r a p h i e Hajdamacy, 2. Aufl. Krakow 1978, auf f o l g e n d e Weise: „Die H a j d a m a k e n b e w e g u n g d a u e r t e nicht lange. Die letzten A u f t r i t t e dieses Types, die in schnellen Ausfällen auf Adelssitze u n d S c h e n k e n , im R a u b u n d in der blitzschnellen F l u c h t ü b e r die G r e n z e b e s t a n d e n , f a n d e n in den n e u n z i g e r J a h r e n des 18. J a h r h u n d e r t s statt. D e r Begriff des H a j d a m a k e n w e s e n s v e r s c h w a n d j e d o c h nicht. Er hat sich bis zur G e g e n w a r t erhalten, o b w o h l er h e u t e ganz a n d e r e I n h a l t e als vor 200 J a h r e n u m f a ß t (als Beispiel k ö n n e n die „Hajdam a k e n " - A b t e i l u n g e n d i e n e n , die w ä h r e n d des Bürgerkrieges u n d der G e g e n r e v o l u t i o n in der Ukraine im J a h r e 1918 tätig waren)." (Vgl. S. 11. Ü b e r s e t z u n g — M.K.). Jürgen H e i n , der Verfasser der M o n o g r a p h i e Dorfgeschichte, Stuttgart 1976, reflektiert ziemlich lange ü b e r verschiedene Möglichkeiten, die Begriffe „ D o r f g e s c h i c h t e " u n d „ D o r f d i c h t u n g " zu u m r e i ß e n , wobei er auf die N o t w e n d i g k e i t hinweist, „keine n o r m i e r t e n u n d unhistorisch konzipierten G a t t u n g s b e g r i f f e " (S. 20) darin zu s e h e n . Sein eigener D e f i n i t i o n s v e r s u c h lautet: „ D G läßt sich also als Teilgebiet im Bereich der b ä u e r l i c h e n Epik ( D o r f d i c h t u n g , Landliteratur usw.) b e s t i m m e n , das d u r c h spezifische f o r m a l e u n d inhaltlich-stoffliche M e r k m a l e g e k e n n zeichnet ist. Z u den f o r m a l e n M e r k m a l e n g e h ö r e n der U m f a n g (zwischen einer u n d 200 Seiten) u n d e r z ä h l t e c h n i s c h e A s p e k t e (Erzählung, G e s c h i c h t e , Novelle; G r e n z f ä l l e : Epos u n d F o r m e n der Sachprosa), zu d e n inhaltlich-stofflichen die B i n d u n g an ein regional begrenztes, lokales, soziales, ö k o n o m i s c h e s u n d kulturelles Milieu, das H a n d l u n g s t r ä g e r u n d H a n d l u n g s g e s c h e h e n b e s t i m m t . " (S. 25). Die Straflosigkeit der T ö t u n g eines Bauern w u r d e v o m p o l n i s c h e n Sejm im J a h r e 1768 aufgeh o b e n . D a das aber erst so kurz vor den T e i l u n g e n Polens erfolgte, schreiben m a n c h e deutschsprachigen Schriftsteller dieses V e r d i e n s t bereits d e n T e i l u n g s m ä c h t e n zu. Die rechtliche Stellung der Bauern hat sich d u r c h die P a t e n t e des Kaisers J o s e p h s II. tatsächlich etwas verbessert. Das Patent von 1781 b e s c h r ä n k t e die A n z a h l der R o b o t t a g e auf max. drei von e i n e m B a u e r n h o f e , 1782 w u r d e die Leibeigenschaft als persönliche U n f r e i h e i t des Bauern in Galizien abgeschafft, 1784 w u r d e n sog. (obligatorische) Hilfstage a u f g e h o b e n , u n d das Patent v o m J a h r e 1786 regelte die G e s a m t h e i t der V o r s c h r i f t e n ü b e r die F e u d a l l e i s t u n g e n der Bauern, a b e r die ö k o n o m i s c h e N o t , die mit d e m wirtschaftlichen Verfall des L a n d e s z u s a m m e n h ä n g t , hat bewirkt, daß m a n die Lage der Bauern k a u m als günstiger s e h e n kann. Die Vero r d n u n g von 1787 v e r b o t die Teilung der B a u e r n w i r t s c h a f t e n u n t e r die E r b e n , a b e r die Betroff e n e n w u ß t e n dieses G e s e t z zu u m g e h e n , u n d die G r u n d o b r i g k e i t deckte sie, weil sie auf diese Weise das Vielfache der M a x i m a l l e i s t u n g im Hinblick auf die F r o n p f l i c h t erzielen k o n n t e . Vgl. Franciszek Bujak, Rozwój gospodarczy Galicyi (1772—1914), Lwów 1917. Vgl. A n m e r k u n g 2. In d e m Illustrierten Führer durch Galizien von Mieczyslaw Orlowicz u n d R o m a n Kordys, W i e n u n d Leipzig 1914, wird C z a r n a h o r a als das h ö c h s t e Gebirgsmassiv in d e n Ostkarpaten bezeichnet; h ö c h s t e r Gipfel, Howeria, beträgt 2058 m (vgl. S. 9 f ) · Vgl. Wladystaw A. Serczyk, a.a.O., S. 127 u n d 135 f. Ich stütze mich bei dieser Feststellung auf Serczyk, op.cit. D a h e r m u ß die B e h a u p t u n g von A r n o Will, daß im H i n t e r g r u n d dieses R o m a n s die Ereignisse des galizischen Blutbades von 1846 e r s c h e i n e n u n d daß es sogar einer der besten R o m a n e aus diesem Stoffkreis sei, als ein M i ß v e r s t ä n d n i s betrachtet w e r d e n . Vgl. Polska i Polacy w niemieckiej prozie literackiej XIX wieku, L o d z 1970, S. 84 f.
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Z u r gesellschaftlichen Problematik in der „Galizienliteratur"
Auf diesen U n t e r s c h i e d m a c h t der H e r a u s g e b e r der N o v e l l e n s a m m l u n g von F r a n z o s Der wilde Starost und die schöne Jutta, G ü n t e r C r e u t z b u r g a u f m e r k s a m , der sie mit der a u f s c h l u ß r e i c h e n Einleitung Ein Kampf ums Recht. Leben und Werk von Karl Emil Franzos versieht, Berlin 1964, S. 5 - 3 3 . Der Aufstand von Wolowce w u r d e in dieser Arbeit nach der A u s g a b e Aus Halbasien. Culturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrußland und Rumänien, Leipzig 1876 zitiert. Die a n d e r e n in diesem Kapitel a n g e f ü h r t e n Texte von F r a n z o s stützen sich auf f o l g e n d e A u s g a b e n : Der Richter von Biala wird nach der 4. Auflage derselben S a m m l u n g , Stuttgart u n d Berlin 1901 zitiert, Markttag in ßarnow — nach d e m ersten Band der S a m m l u n g Vom Don zur Donau in derselben A u s g a b e des G e s a m t z y k l u s , u n d die E r z ä h l u n g Der Stumme k e n n e ich aus d e m B ä n d c h e n Galizische Erzählungen, Berlin u n d W e i m a r 1980. Die Skizze Der Fehlermacher (1879) w u r d e im ersten Band der S a m m l u n g Aus der großen Ebene veröffentlicht. Inwiefern dieser Sachverhalt in der außerliterarischen Wirklichkeit Galiziens wurzelt, kann m a n sich ü b e r z e u g e n , w e n n m a n im a n g e f ü h r t e n Werk von Franciszek Bujak, S. 33 nachschlägt. Er n e n n t darin den Z i n s f u ß von 52 oder sogar 104% (bei d e m „ g e w ö h n l i c h e n " von etwa 15%) als keine Seltenheit bei den galizischen J u d e n u n d berichtet von der Praxis m a n c h e r Edelleute, die sich Arbeitskräfte f ü r einen Spottpreis sichern wollen u n d zu diesem Zweck u n t e r d e n Bauern sog. „porcye" vergeben, G e l d a n l e i h e n von 15 bis 30 ZI, von d e n e n lediglich als Prozent dem G r u n d b e s i t z e r eine Arbeitsleistung von e i n e m Tag j e d e W o c h e zusteht. Ü b e r die Bukowiner L i p p o w a n e r hat F r a n z o s ein interessantes „Kulturbild" u.d.T. Die „Leute vom wahren Glauben" verfaßt (Zyklus Aus Halb-Asien, 4. Aufl., Bd. 2, S. 273—296). A n g e f ü h r t nach Jacob Rollauer, Die Literatur der Josefinischen Ansiedler in Kleinpolen (Galizien), in: Gedenkbuch zur Erinnerung an die Einwanderung der Deutschen in Galizien vor 150 Jahren, hrsg. von T h e o d o r Zöckler, Posen 1931, S. 158—171, vgl. S. 161. Vgl. B R Ü M M E R , Bd. 5, S. 316. Von d e m N a m e n j e n e s L a n d g u t e s hat er o f f e n b a r den zweiten Teil seines P s e u d o n y m s g e n o m m e n . Z.B. die E r z ä h l u n g e n Die Russen in Lowce, „ D e u t s c h - U n g a r n . Mitteilungen des Vereins zur Erhaltung des D e u t s c h t u m s in U n g a r n " , 5 (1916), H. 1/2, S. 2 - 6 u n d 3/4, S. 7 - 1 3 , Die Haferernte, „Kalender des B u n d e s der christlichen D e u t s c h e n in Galizien", 1918, S. 84 f o d e r Heimkehr, „ O s t d e u t s c h e s Volksblatt", 5(1926), Folge 34, S. 2 - 6 . Die Novellen Iwan, Dymitr u n d Nastia s t a m m e n aus der S a m m l u n g Schlummernde Seelen, Die schwarze Madonna, Witold Mirski, Onipro und Jewka aus der zweiten N o v e l l e n s a m m l u n g Weber-Lutkows. N a j m y t s c h k a — die T a g e l ö h n e r i n — ist die Titelgestalt der epischen D i c h t u n g von Taras S c h e w t s c h e n k o aus d e m Jahre 1845. Kobsar ist die erste ukrainische G e d i c h t s a m m l u n g von S c h e w t s c h e n k o , hrsg. 1840. F r a n z o s selbst hat seine literarische Eigenart als einen „ r o m a n t i s c h e n R e a l i s m u s " betrachtet (vgl. G. C r e u t z b u r g , a.a.O., S. 12). Dieser zarte S c h i m m e r einer poetischen Verklärung des G e g e n s t a n d e s , der bei F r a n z o s zuweilen bei N a t u r s c h i l d e r u n g e n u n d bei der Darstellung einiger positiver Gestalten aus d e m Volke auftritt, s c h e i n t j e d o c h eine u n b e d e u t e n d e Rolle zu spielen. D e s h a l b f i n d e ich die B e z e i c h n u n g „Realismus" o h n e Adjektiv bzw. „kritischer Realismus" adäquater. D a r a n e r i n n e r n u.a. R e i n h a r d F e d e r m a n n , a.a.O., S. 17, u n d E. J. Görlich, a.a.O., S. 18. Federm a n n n e n n t Sacher-Masoch einen B a h n b r e c h e r des N a t u r a l i s m u s lange vor Zola, e i n e n unerm ü d l i c h e n Kritiker der gesellschaftlichen K o n v e n t i o n e n . A u c h Görlich betrachtet ihn als Beg r ü n d e r des österreichischen N a t u r a l i s m u s u n d gleichzeitig dessen Vorläufer.
3. ZUR PROBLEMATIK DER JÜDISCHCHRISTLICHEN NACHBARSCHAFT IN GALIZIEN Erst nach der Annexion Galiziens hat die Habsburgermonarchie es mit Massen von jüdischen Staatsbürgern zu tun bekommen. In Galizien bildete die israelitische Bevölkerung ungefähr 10% der Bewohner des Landes, während andere Provinzen (bis auf die Bukowina) viel geringere Prozentsätze aufwiesen 1 . Dabei muß beachtet werden, daß die Juden in der Habsburgermonarchie nie als Nation betrachtet wurden. Bis 1861 galt das Verbot des Gebrauches der hebräischen Sprache und der Herausgabe jiddischer Druckschriften. Bis zum Ersten Weltkrieg gehörte das Jiddische nicht zu den staatlich anerkannten Sprachen, die bei der Volkszählung als „Umgangssprache" angeführt werden durften. Diese Tatsache bereitet Schwierigkeiten bei der Auswertung der statistischen Angaben sowie bei der Eingliederung des jüdischen Fragenkomplexes in das Umfeld der vorliegenden Arbeit. Die Sonderstellung dieser Gruppe unter den Völkern der Monarchie resultiert ja aus dem Zusammentreffen der politischen, sozialen, kulturellen und religiösen Faktoren, wobei die letztgenannten wenigstens genetisch die ausschlaggebenden waren. Deshalb wendet sich diese Arbeit der Problematik des galizischen Judentums in einem besonderen Kapitel zu. Als Definition der jüdischen Bevölkerungsgruppe soll der Satz von Wolfdieter Bihl übernommen werden: „Die Juden stellen eine Gemeinschaft spezifischer Prägung — eine Abstammungsgemeinschaft mit der Jahwereligion als historischem Kern und geistigem Zusammenhalt — dar" 2 . Die österreichische Regierung betrieb seit Joseph II. bis in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein in den Angelegenheiten der Sprache, Bildung und Tracht eine Assimilationspolitik, die die galizischen Juden dem deutschen Element zuführen sollte. Das Revolutionsjahr 1848 brachte zwar den jüdischen Staatsbürgern Österreichs die politische Freiheit und bürgerliche Gleichstellung. In der Zeit des reaktionären Rückfalls wurden den Juden die errungenen Rechte jedoch wieder entzogen, ohne daß sie offiziell zurückgenommen worden wären 3 . Die endgültige Aufhebung aller Beschränkungen den Juden gegenüber erfolgte in der Habsburgermonarchie durch die Bestimmungen des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867. In Galizien akzeptierte der Landtag im Jahre 1868 eine Regierungsvorlage, die keine konfessio-
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nellen Beschränkungen m e h r kannte. Das System von j ü d i s c h e n Haupt- u n d Trivialschulen war eines der Mittel der H i n f ü h r u n g des galizischen J u d e n t u m s zur deutschen Sprache u n d Kultur. Seit 1868 begann jedoch die Polonisierung dieser Anstalten. Seitdem die Richtung der nationalen Assimilation i m m e r m e h r z u m polnischen E l e m e n t hin zu tendieren begann, wurden die B e h ö r d e n nachsichtiger in der Einstellung zum o r t h o d o x e n J u d e n t u m . Erst allmählich wurden die J u d e n z u m Staatsdienst zugelassen. So d u r f t e n sie erst seit 1868 als Lehrer an Volks- u n d Mittelschulen angestellt werden. In den ersten W a h l p e rioden versuchten die galizischen J u d e n bei den Reichstagswahlen eine separate politische Partei zu bilden resp. ein Bündnis mit d e n R u t h e n e n einzugehen, aber seit ca. 1879 gaben sie diese B e s t r e b u n g e n auf u n d traten als Abgeordnete in den Polenklub ein. Die ganze Problematik der d e u t s c h e n oder polnischen Assimilation u n d der politischen S t e l l u n g n a h m e bezog sich allerdings lediglich auf die Minderheit der galizischen J u d e n , nämlich die d ü n n e Schicht der Intelligenz und einen Teil des w o h l h a b e n d e r e n Bürgertums, besonders die n e u r e i c h e n E m p o r k ö m m l i n g e . Die niederen Volksschichten hingen nach wie vor d e m Chassidismus an, f ü h l t e n sich von der Affäre u m die Dynastie des W u n d e r r a b b i von Sadagora u n d deren Streit mit d e m N e u - S a n d e z e r Zaddik erschüttert u n d g e h o r c h t e n der Orthodoxie, die einen u n a u f h ö r l i c h e n Krieg gegen die A u f k l ä r u n g f ü h r t e . In d e n achtziger J a h r e n bereichert sich dieses Panorama u m die jüdisch-nationale Richtung, u n d seit den neunziger Jahren wird Galizien zu einem mit W i e n wetteifernden Z e n t r u m des Zionismus. Eine der Ursachen der a n w a c h s e n d e n N a t i o n a l b e s i n n u n g der J u d e n in der D o n a u m o n a r c h i e war seit den achtziger Jahren der z u n e h m e n d e Antisemitismus, der grundsätzlich von der ö k o n o m i s c h e n Basis genährt wurde. Dieser kurze U m r i ß der Lage der J u d e n im historischen Galizien wurde d e m Kapitel über die jüdisch-christliche Nachbarschaft als eine notwendige Prämisse f ü r die A u s w e r t u n g des literarischen Materials vorangestellt. D e n G e g e n s t a n d der A u s f ü h r u n g e n in diesem Kapitel bildet die deutschsprachige Belletristik, die die Nachbarschaft u n d d e n Z u s a m m e n p r a l l der Juden in Galizien mit den Wirtsvölkern, Polen u n d Ukrainern, z u m Teil auch mit den D e u t s c h e n thematisiert. Konfessionell betrachtet werden darin also die j ü disch-christliche Begegnung in Galizien u n d die sich daraus e r g e b e n d e n Probleme u n d Konflikte z u m Ausdruck gebracht. Zwar lebten die galizischen Juden in d e n bis 1868 z u m Teil zwangsweise u n d dann freiwillig aufrechterhalten e n b e s o n d e r e n Judenvierteln der Städte, aber die B e w o h n e r dieser „Ghetti" kamen oft in B e r ü h r u n g mit der christlichen Bevölkerung des Landes. Die Juden in Galizien ü b t e n ja verschiedene Vermittlerberufe aus; sie k a m e n als Kaufleute, Händler, Schenkwirte, G e l d w u c h e r e r , Pächter, Verwalter u n d mit der Zeit auch als G r u n d b e s i t z e r in vielfältige geschäftliche B e z i e h u n g e n mit der sonstigen Bevölkerung des Landes. Die Gestalt des j ü d i s c h e n Faktors bleibt ein unsterblicher Typ in der Literatur. Die Begegnung zwischen J u d e u n d Christ, die u n s in diesem Teil der Arbeit interessieren wird, beschränkt sich nicht auf die B e r ü h r u n g e n u n d A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n zwischen den
D a s T h e m a im S c h a f f e n der g a l i z i s c h e n Maskilim
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Menschen, sondern umfaßt auch die Problematik der Tangierung des galizischen Juden mit der von den Christen geschaffenen Kultur, meistens in der Form des literarischen Werkes, sowie mit dem modernen, weltoffenen Lebensmodell und seiner Einflüsse. Nicht berücksichtigt wurden in der vorliegenden Abhandlung Texte und Autoren, die lediglich das Genre der sog. „Ghettogeschichte" vertreten, d. h., die sich auf die interne Problematik des galizischen Judentums beschränken. Allerdings konnte diese Problematik nicht vollständig außer acht gelassen werden, da die Gesetze des inneren Ghettolebens den Charakter der Begegnung mit der Außenwelt vielfältig bestimmt hatten. Die jüdische Orthodoxie verwehrte den Mitgliedern ihrer Glaubensgemeinschaft das Durchbrechen der Ghettoschranken. Diese Feststellung gilt sowohl für den Talmudismus — die rabbinistische Strömung, der strenggenommen der Name der Orthodoxie allein zukommt — als auch für den unter den breiten Volksmassen der Ostjuden ungemein populären Chassidismus. Es werden in diesem Kapitel keine Texte erörtert, die sich in solcher Problematik erschöpfen, aber viele Beispiele aus dem Themenkreis der jüdisch-christlichen Nachbarschaft in Galizien beachten die Perspektive der doppelten Gegnerschaft gegen die Ghettoausreißer: der christlichen Opposition von außen, die den Juden in das Ghetto zurückdrängen wollte, und der sehr starken Opposition von innen, die den Juden im Ghetto zurückzuhalten suchte. Dieser Tatsache müssen auch die folgenden Ausführungen Rechnung tragen.
3.1. Das Thema im Schaffen der galizischen Maskilim Das Wort „Maskil", PI. „Maskilim" bedeutet auf Hebräisch den Gebildeten und bezeichnet in der deutschsprachigen Literatur über Galizien einen Anhänger der jüdischen Aufklärung, der „Haskalah" 4 . In Galizien ließen sich die ersten Anzeichen dieser geistigen Strömung in der Zeit der metternichschen Reaktion bemerken, kurz nachdem die in den Jahren 1787—1806 durchgeführte Schulreform gescheitert war. Die aus Deutschland bzw. Böhmen importierten „Kulturträger" mit Herz Homberg an der Spitze hatten damals kein Verständnis für die lokalen Verhältnisse aufzubringen gewußt. Nun ließen sich die ersten aufklärerischen Bemühungen unter den galizischen Juden selbst beobachten. In Galizien wuchs die erste Generation der Maskilim heran, junger Leute, die sich heimlich unter unsäglichen Mühen einige Brocken weltlicher Bildung und moderne Sprachkenntnisse aneigneten, europäische schöngeistige Literatur lasen, sich für die deutsche Dichtung, besonders für Lessing und Schiller begeisterten. Sie wollten zwar keineswegs mit dem Judentum, wohl aber mit seiner bornierten Abgeschlossenheit von der Welt brechen, die sich in der Diaspora infolge der jahrhundertelangen Diskriminierung herausgebildet hatte. Es entstanden die zwei ersten von Einheimischen gegründeten modernen Schulen für jüdische Kinder: Seit 1813 existierte die musterhafte „deutsch-jüdische" Schule von Josef Perl in Tarnopol, seit 1818 die Realschule
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in Brody. Die erste Generation der galizischen Haskalah vertreten u.a. Nachmann Krochmal, Salomo Leib Rapoport, Isaac Erter und Majer Letteris. Sie betrieben in geheimen Zusammenkünften Selbstbildung und wissenschaftliche Diskussionen als Bahnbrecher auf dem Gebiet der Popularisierung profaner Bildung und neuhebräischer Literatur unter der galizischen Judenschaft. Die Orthodoxie erklärte allen diesen noch ziemlich schüchternen und kompromißbereiten Bestrebungen einen unerbittlichen Krieg, der übers ganze 19. Jahrhundert in Galizien und in der Bukowina geführt wurde. Die literarischen Werke, auf die in diesem Unterkapitel eingegangen werden soll, bilden ein etwas verspätetes literarisches Abbild dieser Bemühungen um die Erschließung der Welt der modernen Kultur und Bildung für die Juden durch das Medium der deutschen Sprache und Literatur sowie der öffentlichen Schule deutscher Prägung. Sie lassen sich ideengeschichtlich der Strömung der Haskalah zuordnen, und in nationaler Hinsicht vertreten sie vorwiegend die deutsche Assimilationsrichtung. Ihre Verfasser sind persönlich im Emanzipationskampf engagiert, und ihre Werke sollen eine Waffe im Krieg des Fortschritts mit der Orthodoxie sein. Daher kommt die symptomatische Verzeichnung des Bildes, die intendierte bzw. nicht intendierte Verteilung der Akzente in der Weise, daß alle positiven Phänomene der Haskalah und alle negativen dem Chassidismus und Rabbinismus zugeordnet werden. Als „galizische Maskilim" werden in dieser Arbeit solche Verfasser betrachtet, die drei Voraussetzungen entsprechen: Sie stammen aus Galizien, sind Mitglieder der mosaischen Glaubensgemeinschaft und bekennen sich zur Haskalah. Andere Schriftsteller, die nicht alle diese Prämissen erfüllen, werden im Unterkapitel „Der Blick von außen" besprochen. Zu Anfang der deutschsprachigen schöngeistigen Literatur, die von galizischen Juden stammt, steht der Name von Moritz Rappaport (1808—1880), der in dieser Arbeit nur am Rande berücksichtigt wird, da es sich um keinen Prosaiker, sondern um einen Poeten und Dramatiker handelt. Jedoch muß er als Vorläufer und Bahnbrecher der deutsch-jüdischen Belletristik in Galizien genannt werden. Rappaport, der in Lemberg den Beruf eines praktischen Arztes ausübte, stellt zugleich einen Paradigmafall für die jüdische Aufklärung in Galizien dar, die er in seiner öffentlichen Tätigkeit verfocht. Er dichtete deutsch und begeisterte sich für die deutsche Kultur, wovon solche Gelegenheitsgedichte wie Goethe, seinen Manen geweiht (1852) oder Festgedichte zur Lessing-Feier (1860) zeugen. Gleichzeitig aber bekannte er sich zur doppelten ethnischen Zugehörigkeit, er fühlte sich als Pole und als Jude, sodaß ihn Filip Friedmann in seiner Monographie Die galizischen Juden im Kampfe um ihre Gleichberechtigung wiederholt als einen glühenden polnischen Patrioten bezeichnet 5 . Man muß auch seine Verdienste als Vermittler zwischen der polnischen und deutschen Kultur erwähnen, von denen seine Übersetzungen der polnischen Dichtung, u. a. der Balladen von Mickiewicz, zeugen. In politischer Hinsicht gehörte Rappaport der radikalen, reformfreudigen Intelligenz an, im stürmischen Jahr 1848 nahm er aktiv an der politischen Bewegung teil, zog sich aber dann enttäuscht in der
D a s T h e m a im Schaffen der galizischen Maskilim
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Reaktionszeit auf das Gebiet der Literatur zurück. Ein Ausdruck seiner Teilnahme an der Revolution 1848 waren seine poetischen Flugblätter, ζ. B. das Gedicht Gruß an die Freiheit, mit dem er die aus dem Spielberg und aus Kufstein befreiten politischen Häftlinge begrüßte. Zu seinen wichtigeren Werken gehört das epische Gedicht Bajazzo (1863), dessen Konflikt und innere Tragik sich aus der internen Problematik des galizischen Judentums ergibt: der Unduldsamkeit der Orthodoxie gegenüber jeglichen Andersdenkenden und ihrer Feindschaft gegen weltliche Bildung, Aufklärung und Fortschritt. Der auktoriale Ich-Erzähler wendet sich an die geschilderte Figur des Haupthelden mit einem innigen „Du", das auf einen autobiographischen Charakter des Textes schließen und in der Figur des Bajazzo ein „alter ego" des Verfassers vermuten läßt. Später wird er durch die Ich-Erzählung des Protagonisten abgelöst. Dieses Werk berücksichtigen wir wenigstens am Rande, da es an einigen markanten Stellen das Thema der verhängnisvollen Doppelzugehörigkeit berührt. Der Harlekin deutet an, daß ihn auf die verachtete Laufbahn eines Hanswurst seine polnisch-jüdische Herkunft gebracht habe. Die politische Situation in Europa erwägend, klagt er Österreich an, „sich am Fremden vollgesaugt" zu haben (S. 47), so sollte es seiner Meinung nach dem künftigen deutschen Staate nicht angeschlossen werden. Er erinnert die Deutschen daran, daß „der Väter roher Mut" „nach fremdem Eigenthum begehrt" habe, was ihn zur Forderung veranlaßt: „Gebt sie heraus, die Völker, Länder" (S. 46). Im zweiten Teil des Werkes konkretisiert sich der nationale Standort des Helden. Der Bajazzo trauert über den Fall Polens als den seines zweiten Vaterlandes und preist die Größe des untergegangenen polnischen Reiches: „Das Land, wo Kraft und Hochsinn thronen, / Die Weichsel ziert, ein Silberband / Das edle Reich der Jagiellonen. / Es ist mein theures Vaterland". Ergreifend klingen dann die Zeilen, die sich dem Bekenntnis des Helden „Vernimm es Freund — ich bin ein Ρ o 1 e ! " (S. 92) gesellen: „Ein Pole und ein Jude sein / Das ist das Unglücks Doppelkranz" (S. 93). Die Chronisten des galizischen Judentums, Majer Balaban und der bereits genannte Filip Friedmann führen diese Aussage als ein autobiographisches Bekenntnis des Autors an 6 . Eine zusätzliche Identifizierungsebene schafft die Aussage des Helden, daß er als ein mit diesem Doppelverhängnis belasteter Mensch Dichterwerden mußte. Die aufklärerische Tätigkeit Rappaports setzen die Maskilim der jüngeren Generation sowohl auf dem Gebiet der Literatur als auch auf dem des öffentlichen Lebens fort. Ein bezeichnendes Beispiel liefert die Erzählprosa von Leo Herzberg-Fränkel (1827—1915), deren mitgeteilte Struktur von dem Kampfwillen für den Fortschritt und gegen den erstarrten Talmudismus bestimmt ist. Die Kritik wird bei dem jüngeren Schriftsteller deutlicher und direkter, das pragmatische Anliegen beeinträchtigt sogar die ästhetische Gestaltung des Textes. Der Geburtsort Herzberg-Fränkels ist das „galizische Jerusalem" Brody, die spätere Heimatstadt von Joseph Roth. Ähnlich wie Rappaport stellt Herzberg-Fränkel den Typus eines politisch und gesellschaftlich engagierten
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Aufklärers dar, der nicht nur mit der Feder den Sieg der Vernunft auszufechten sucht. Auch er beteiligte sich aktiv an der Revolution des Jahres 1848. Das Neue an seiner Laufbahn des galizischen Maskils ist, daß er sich schon früh der Journalistik zuwandte und seine ersten Skizzen aus dem Leben der polnischen Juden als Zeitschriftenbeiträge verfaßte. Nach einigen Jahren, die er als Journalist und Redaktionsmitglied einiger Zeitschriften in Wien verbracht hatte und einer längeren Reise nach Bessarabien kehrte er 1854 in seine Heimatstadt Brody zurück. Er bekleidete dort 42 Jahre lang die Stelle des Sekretärs der Handels- und Gewerbekammer und wirkte gleichzeitig als Inspektor der israelitischen Hauptschule, die als Konkurrenz für die Chederanstalten den jüdischen Kindern moderne Bilddung beibringen wollte 7 . Die ersten Skizzen und Erzählungen aus dem ostjüdischen Stoffkreis veröffentlichte Herzberg-Fränkel seit 1856/57 in österreichischen Zeitschriften, dann gab er 1866 diese Beiträge in der Sammlung u. d. T. Polnische Juden. Geschichten und Bilder heraus. Die zweite Auflage, erweitert um ein die Zielsetzung der Veröffentlichung erklärendes Vorwort und um zwei neue Erzählungen, erschien 1878. In j e n e m Vorwort stellt sich der Verfasser als ein Mitglied der israelitischen Glaubensgemeinschaft vor und erklärt, daß auch ihm der Gebrauch der Bezeichnung „ein polnischer Jud'" als eines Schimpfwortes Schmerz bereite. Die Adressaten seines Buches seien vor allem die Nicht-Juden. Daher betont er in seiner Vorrede mit Nachdruck, daß die Verurteilung der polnischen Juden wegen ihres niedrigen Zivilisationsniveaus eine ungerechte sei. Nicht sie, sondern diejenigen, die ihnen den Zugang zum Ackerbau sowie zu mehreren Gewerben verschlossen und sie zu Beschäftigungen, „die die Moral verwirft", gezwungen hätten, seien an ihrem geistigen Dünkel schuld. Herzberg-Fränkel wählt in seinem Werk die Methode der wahrheitsgetreuen Abbildung der Wirklichkeit. Daher überwiegen in der dargestellten Struktur seiner Texte düstere Farben. Seine Perspektivierung des Blickwinkels ist eine bewußte. Er erklärt, daß er kein unparteiischer Beobachter sein will. Er schreibt dieses Buch als ein Rechtsanwalt seines Volks und sieht das Hauptanliegen der mitgeteilten Struktur seiner Bilder darin, in erster Linie dem nichtjüdischen Leser „die lichten, bewunderungswürdigen Punkte im Leben der polnischen Juden im Umkreis der Familie zu zeigen" (S. IV). Herzberg-Fränkels Texte haben oft die Form skizzenhafter Entwürfe, seltener sind es vollständig ausgearbeitete Novellen, die eine epische Begabung ahnen lassen. Alle sind sie dem deutlich pragmatischen Ziel untergeordnet: die Aufklärung unter den Juden und in bezug auf die „Judenfrage" unter den Christen zu verbreiten. Er sucht die Vorurteile der christlichen Mitbürger gegen die Juden bloßzustellen und dadurch abzubauen, er verlangt vollständige Gleichberechtigung für die Juden im bürgerlichen Leben. Sein Aufruf zur Emanzipation ist aber nicht dem nach der unbedingten Assimilation der Ostjuden gleichzusetzen. Der Verfasser warnt vor Taufe, Mischehe und sowohl vor PoIonisierung als auch Verdeutschung als Mitteln, die angewendet werden, um den Israeliten seinem Volke zu entfremden und ihn doch nicht als
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einen gleichwertigen Bürger zu akzeptieren. Im Mittelpunkt seiner Bilder steht das galizische bzw. russische Ghetto mit seiner geistigen Enge und mit dem orthodoxen Fanatismus, mit Schmutz und Elend, aber auch mit dem bewunderungswürdigen Gemeinschafts- und Familiensinn seiner Angehörigen. Seltener wird die uns primär interessierende Begegnung der Juden mit der christlichen Umwelt zum Thema seiner Prosa. Die meisten Texte beziehen sich auf die Zeit vor 1867, als die durch den „Völkerfrühling" 1848 aufgehobenen Beschränkungen für die Juden wieder galten. Der erzählte Raum läßt sich meistens als ein von polnischen Juden bewohntes, typisches „Shtetl" bestimmen, dagegen ist es nicht immer klar, ob der Erzähler Galizien oder das Königreich Polen meint. Es werden im folgenden vier Erzählungen aus der Sammlung Polnische Juden besprochen werden, von denen zwei die Frage der jüdisch-christlichen Begegnung direkt thematisieren, eine die Beeinflussung der Juden durch die Lebensweise der christlichen Umgebung darstellt und schließlich eine das Zusammenleben der Vertreter beider Konfessionen in Galizien am Rande behandelt. Vorbildliche Haltungen im Sinne der Beschäftigung der Juden mit praktischen Berufen und ihrer Zuwendung zum Ackerbau propagiert die Erzählung Der Autodidact, in der der belehrende Zweck sehr deutlich dominiert. Die dargestellte Struktur vereint zwei Handlungsfaden: den der Nachstellungen eines polnischen Herrn der schönen Jüdin gegenüber und die Geschichte eines jungen Juden, der seine Stelle des armseligen Talmudlehrers aufgeben und etwas Nützliches lernen möchte. Die Ausführung des ersten Handlungsfadens veranschaulicht das Ausgeliefertsein derjüdischen Familie auf dem Lande an den Grundherrn, das in der „Galizienliteratur" als eine typische Modellsituation erscheint. Der polnische „böse Herr", ein Wollüstling und Verschwender, übt Rache an seinem Arendar und dessen Familie, weil ihn die Tochter des Juden abgewiesen hat. Da die Eltern das Mädchen weggebracht haben, um es vor der Gefahr zu retten, setzt der Edelmann die Familie auf die Straße und verpfändet ihre Mobilien. Der zweite Handlungsfaden setzt mit der Geschichte des jungen Autodidakten ein, der in dieses Mädchen verliebt ist. Der junge Mann unterrichtet die Kinder des Arendars, und in den Nächten studiert er heimlich profane Wissenschaften. Er spart jahrelang Geld für ein Wundarztstudium. Als er jedoch von der Not der Arendarfamilie erfährt, überläßt er den Bedrängten seine gesamten Ersparnisse. Für diese edle Tat wird er mit einer Schicksalswendung belohnt, die wie ein „deus ex machina" kommt: Der böse Grundherr hat sich mit seiner Mißwirtschaft zugrundegerichtet, und sein Nachfolger, „ein ausgezeichneter Mann, ein echter polnischer Edelmann, der ein Herz im Leibe hat" (S. 150), nimmt die Arendarfamilie wieder auf. Dem jungen Mann hilft er, indem er ihm eine günstige Grundpacht verschafft. Auf diese Weise bekommt der Titelheld die Möglichkeit, das geliebte Mädchen zu heiraten und sich einer sinnvollen, produktiven Tätigkeit hinzugeben. Der Verfasser bedauert nicht, daß der Autodidakt seine Studienpläne nicht realisieren kann; offensichtlich sieht er in dessen Zuwendung zum Ackerbau eine zumindest gleichwertige Le-
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Zur Problematik der j ü d i s c h - c h r i s t l i c h e n N a c h b a r s c h a f t in G a l i z i e n
bensalternative für j u n g e L e u t e jüdischer A b s t a m m u n g . Mehrmals betont die Erzählung die Tatsache, daß es sich lediglich u m einen Pachtvertrag handeln kann, weil die J u d e n in Österreich keinen G r u n d als E i g e n t u m besitzen dürfen. Diese Beschränkung wurde im historischen Galizien zuerst 1848 aufgehoben, d a n n wieder eingeführt u n d erst 1867 endgültig beseitigt. Die mitgeteilte Struktur des Textes wird von d e m didaktischen Anliegen bestimmt, die J u d e n für die produktive Arbeit des Landwirts zu interessieren. Diese Konzeption hatte schon der Kaiser Joseph II. in bezug auf die galizischen J u d e n zu realisieren versucht, allerdings o h n e Erfolg. Gleichzeitig dient die Fabelgestaltung der Kritik an den b e s t e h e n d e n Verhältnissen: der Willkür des galizischen Landadels u n d der G e s e t z e , die den J u d e n vom Bodenbesitz ausschließen. Die Milieuzeichnung gibt m a n c h e wesentliche Züge der galizischen Wirklichkeit wieder, im Mittelpunkt der A u f m e r k s a m k e i t des Verfassers steht j e d o c h nicht das Abbild, sondern das zu propagierende Leitbild. Davon zeugt die Handlungsf ü h r u n g des Werkes. Die der zweiten Ausgabe des Bandes h i n z u g e f ü g t e Erzählung Eine Mischehe behandelt das P h ä n o m e n der E h e n zwischen J u d e n u n d Nicht-Juden a u f g r u n d eines durch d e n Staat a n e r k a n n t e n zivilen Vertrages, also der standesamtlichen Trauung. Diese Problematik wird am Beispiel einer solchen E h e zwischen einer verarmten adligen katholischen Polin u n d e i n e m J u d e n erörtert, der seinem Vater vor dessen T o d e schwören m u ß t e , daß er nie Christ wird. Die Möglichkeit einer unkonfessionellen Eheschließung erscheint d e m Paar der Liebenden als das höchste Glück, doch dann scheitert das Bündnis an den Sticheleien der christlichen Schwiegermutter u n d an der Schwäche der E h e f r a u . Die Familie vereinbart zuerst, daß das erste Kind getauft u n d katholisch wird u n d das zweite mosaischer Konfession sein soll. U m diesen zweitgeborenen J u n g e n f ü h r e n die von katholischen Priestern a u f g e h e t z t e n F r a u e n ständigen Krieg mit seinem Vater. Endlich, als sie gerade am J o m Kipur ( V e r s ö h n u n g s tag) versuchen, ihn zu e n t f ü h r e n , entscheidet sich der enttäuschte M a n n f ü r die T r e n n u n g . Die einfache dargestellte Struktur des Werkes wird von d e m Verfasser eingesetzt, u m zu veranschaulichen, daß selbst eine scheinbar so m o d e r n e und liberale Lösung wie eine Mischehe d e m J u d e n keine Möglichkeit bietet, von der christlichen U m g e b u n g akzeptiert u n d wie ihresgleichen betrachtet zu werden. Diese W a r n u n g vor den B e m ü h u n g e n u m den A n s c h l u ß an die Christen ist das Anliegen der mitgeteilten Struktur des Textes. Z u den interessantesten, am sorgfältigsten ausgearbeiteten T e x t e n des Bandes gehört die satirische Erzählung Jentele, die die oberen sozialen Schichten des galizischen J u d e n t u m s darstellt. Die beißende Kritik des Erzählers richtet sich gegen jüdische Spießer, gegen E m p o r k ö m m l i n g e , die mit ihrem neu erw o r b e n e n R e i c h t u m prahlen u n d sich auch in geistiger Beziehung als Vorbilder d ü n k e n , in Wirklichkeit aber gar keine Bildung u n d Kultur besitzen. Dies ist freilich kein n e u e s T h e m a in der Literatur, aber durch die Berücksichtigung der B e s o n d e r h e i t e n des j ü d i s c h e n Milieus u n d durch die kraftvolle Kontrastierung zwischen zwei Familien, d e n n e u r e i c h e n , d e u t s c h t u e n d e n Landes u n d
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d e n d e m alten j ü d i s c h e n „Jiches" (Adel) a n g e h ö r e n d e n K o h n s wirkt seine Darstellung im R a h m e n der „Galizienliteratur" neuartig. Das Bild des Milieus bringt die E r s c h e i n u n g des sozialen u n d ö k o n o m i s c h e n Aufstiegs e i n e r G r u p pe galizischer J u d e n z u m A u s d r u c k , u n d die P e r s p e k t i v i e r u n g erfolgt z u u n g u n s t e n dieser G r u p p e . Als E x e m p e l wird die Familie e i n e s e h e m a l i g e n D o r f s c h e n k e r s gewählt, die w ä h r e n d des K r i m k r i e g e s d u r c h G e t r e i d e s p e k u l a t i o n reich w u r d e u n d n u n in der Stadt ein v o r n e h m e s L e b e n f ü h r t . Im M i t t e l p u n k t s t e h t J e n t e l e , v o n i h r e n N a c h b a r n die Nigideste, d. h. die V o r n e h m t u e n d e , gen a n n t . E i n g e b i l d e t , prahlerisch u n d ehrgeizig, zwingt sie i h r e n M a n n , sich u m E h r e n ä m t e r zu b e w e r b e n . Ihre T o c h t e r Malka, i m m e r auf D e u t s c h Malie gen a n n t , m ö c h t e sie u n b e d i n g t mit e i n e m M a n n aus einer alten Familie b e r ü h m ter S c h r i f t g e l e h r t e r v e r h e i r a t e n , u m d e m G e s c h l e c h t endgültig z u m gesells c h a f t l i c h e n A n s e h e n zu v e r h e l f e n . D i e Familie K o h n , die an dieser V e r s c h w ä g e r u n g t e i l h a b e n soll, wird nicht so e i n d e u t i g wie die L a n d e s beurteilt. Einerseits b e t o n t der E r z ä h l e r die E c h t h e i t ihres V e r h a l t e n s , ihre a u f r i c h t i g e Familienliebe u n d E i n t r a c h t , im G e g e n s a t z zur gespielten bei d e n L a n d e s . A n d e r seits w e r d e n i h n e n zwei w e s e n t l i c h e S c h w ä c h e n angekreidet. Die K o h n s weisen keine b r e i t e r e n geistigen H o r i z o n t e als ihre U m g e b u n g auf. Sie g e r a t e n nämlich in Panik d a r ü b e r , daß ihr S o h n , der N a c h k o m m e der b e r ü h m t e n F a m i lie, kein T a l m u d g e l e h r t e r w e r d e n , s o n d e r n s t u d i e r e n u n d e i n e n praktischen Beruf a u s ü b e n m ö c h t e . N u r u m ihn davor zu b e w a h r e n , willigen sie in seine nicht „ s t a n d e s g e m ä ß e " E h e mit F r ä u l e i n L a n d e s ein. D a b e i k o m m t ihr zweiter F e h l e r z u m A u s d r u c k , u n d zwar ihr u n m ä ß i g e r Stolz auf ihre H e r k u n f t , der sie auf die a n d e r e n v o n o b e n h e r a b s c h a u e n läßt. D i e geringfügige H a n d l u n g , die als V o r w a n d zur a u s f ü h r l i c h e n M i l i e u s c h i l d e r u n g u n d C h a r a k t e r i s i e r u n g der b e i d e n F a m i l i e n m o d e l l e dient, e n d e t damit, daß m a n die V e r l o b u n g s f e i e r auflöst, weil der v e r d e u t s c h t e N a m e d e r k ü n f t i g e n S c h w i e g e r t o c h t e r die K o h n s nicht a h n e n ließ, daß sie wie F r a u K o h n eigentlich Malke M a r j i m heißt. D a s bed e u t e t u n t e r d e n o r t h o d o x e n J u d e n ein H i n d e r n i s f ü r die E h e s c h l i e ß u n g . Dieser Sachverhalt wird v o n d e m V e r f a s s e r dazu b e n u t z t , g e g e n die „ D e u t s c h sucht", also die T e n d e n z zur d e u t s c h e n Assimilation u n t e r d e m h o c h g e k o m m e n e n j ü d i s c h e n B ü r g e r t u m a u f z u t r e t e n u n d mit Hilfe der satirischen Mittel der d a r s t e l l e n d e n S t r u k t u r diese E r s c h e i n u n g d e m G e l ä c h t e r des Lesers preisz u g e b e n . Ü b r i g e n s ist H e r z b e r g - F r ä n k e l n o c h in e i n e m stärkeren A u s m a ß ein G e g n e r der p o l n i s c h e n Assimilation der J u d e n , was die e r s c h ü t t e r n d e Erzählung aus d e m U m k r e i s d e r W a r s c h a u e r J u d e n u. d. T. Die Täuschungen beweist, d e r e n H e l d an d e m J a n u a r a u f s t a n d t e i l n i m m t u n d d a n n v o n d e n P o l e n betrogen wird. Die erst in der A u s g a b e v o n 1879 g e d r u c k t e E r z ä h l u n g Der Almosenier gehört zu d e n s c h ö n s t e n u n d t h e m a t i s c h originellsten des B a n d e s . Es wird darin der T y p u s eines a r m e n galizischen J u d e n e n t w o r f e n , der d e m M u s t e r einer H e i l i g e n l e g e n d e entspricht. D u r c h diese G e s t a l t u n g d e r dargestellten S t r u k t u r bringt der V e r f a s s e r z u m A u s d r u c k , daß große T u g e n d e n keine ausschließliche D o m ä n e d e r C h r i s t e n sind. D a s kleine, u n a n s e h n l i c h e M ä n n l e i n ,
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das im Mittelpunkt dieser Charakter- und Milieustudie steht, ist eine Leitbildgestalt. Dieser arme Mann lebt, seitdem er seine eigene Familie verloren hat, als ein Almosenier, der bei seinen Glaubensgenossen u m milde Gaben bettelt, um sie dann für noch ärmere J u d e n zu verwenden: für Kranke und für mittellose Familien, damit sie religiöse Feste, Hochzeiten und Begräbnisse würdig begehen können; für Töchter armer Eltern, damit sie dank der gesammelten kleinen Mitgift heiraten können. Bei Christen bettelt er nicht, weil sie an der Lauterkeit seiner Absichten zweifeln würden. W e n n sie ihm aber etwas aufzwingen, bringt er dieses Geld dem Pfarrer für mittellose Christen. Seine Zusammenarbeit mit dem Pfarrer, von dem er ζ. B. Geld für Bedürftige leihen darf, bezeugt einen ökumenischen Geist. Der Verfasser weist auf diese Haltung als auf eine vorbildliche hin. Bei der Krankenpflege holt sich Jakob Pereies eine tödliche Krankheit und stirbt dann wie ein Heiliger. Dieser Ausgang betont zusätzlich die Verwandtschaft dieser Erzählung mit der christlichen Hagiographie. Die Funktion der Geschichte besteht darin, die Juden in den Augen christlicher Leser moralisch aufzuwerten und das gängige Vorurteil, daß sie geldgierig und eigennützig seien, zu entschärfen. Der dritte Vertreter der galizischen Haskalah, die ihre deutschsprachigen Werke als Mittel im Kampfe u m die Verbreitung der Bildung und Aufklärung unter den Glaubensgenossen verstehen, ist der aus Stryj in Ostgalizien stamm e n d e Nathan Samuely (1846—1921). Samuely war Lehrer an der deutschisraelitischen Hauptschule in Lemberg. Er bediente sich als Dichter zuerst der hebräischen Sprache und übersetzte Werke großer deutscher Dichter ins Hebräische. Durch Moritz Rappaport angeregt, begann er seit Mitte der achtziger Jahre Erzählungen, Skizzen und H u m o r e s k e n in Deutsch herauszugeben 8 . Seine deutschen Prosatexte weisen einen m e h r differenzierten Charakter als die von Herzberg-Fränkel auf. Manchmal sind es auch bei ihm lediglich pragmatisch gerichtete Schriften. In einem Teil der Erzählungen und Skizzen ist das künstlerische Gestaltungsvermögen allerdings deutlich zu erkennen. Ein zarter lyrischer Unterton, der einen großen Teil seiner Texte durchdringt, unterscheidet sie stark von den Werken der anderen jüdischen Aufklärer in Galizien. Zu seinen wichtigsten deutschsprachigen Texten gehören Cultur-Bilder aus dem jüdischen Leben in Galizien (1885 u n d 1892), die Erzählung Zwischen Licht und Finsternis (1887) und die Skizze Alt-Lemberg (\%2) über das Schicksal der Juden in Alt-Polen. Die pragmatische Erzählung Zwischen Licht und Finsternis, deren Titel den Handlungsverlauf andeutet, läßt sich besonders leicht in das Paradigma des aufklärerischen Kampfes gegen die Unwissenheit, Borniertheit und Intoleranz einreihen. Das künstlerische M o m e n t tritt hinter dem pädagogischen zurück. Das Anliegen der mitgeteilten Struktur ist die W e r b u n g für eine m o d e r n e Schule für jüdische Kinder. Die künstlerischen Mittel, die der Verfasser dazu benutzt, sind geschickte, psychologisch wahrscheinliche Handlungsführung, anschauliche, interessante Milieuschilderung, lyrisches Stimmungsbild und Humor. Die Handlung zerfällt in zwei Teile, die zeitlich zwölf Jahre auseinan-
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derliegen. Der erzählte Raum wird modellhaft gestaltet. Die Handlung spielt im ostgalizischen Städtchen S., das gewisse Züge des heimatlichen Stryj des Autors trägt. Es handelt sich allerdings nicht um einen Einzelfall, sondern der Kampf um eine moderne Schule in S. steht für alle Kämpfe dieser Art, wie sie die Anhänger der Haskalah mit den galizischen Chassiden schon seit dem bahnbrechenden Unternehmen Josef Perls in Tarnopol durchzustehen hatten. Samuelys Perspektivierung erfolgt aufgrund der Voraussetzung, daß der Chassidismus ein mächtiger Feind der Aufklärung ist, den es zu bekämpfen um jeden Preis gilt. Deshalb werden in der Erzählung die Vertreter des Fortschritts ausschließlich mit hellen Farben gemalt, während den Anhängern des Konservatismus alle Schatten zugeschrieben werden. Der Verhinderung der Judenemanzipation von außen schenkt dieser Text wenig Aufmerksamkeit. Dieser Aspekt wird lediglich in einigen Episoden mit dem versoffenen christlichen Bürgermeister dargestellt. Dieser sucht zuerst die Gründung einer modernen jüdischen Schule zu vereiteln. Dann läßt er sich allerdings von einem schlauen Juden überzeugen, daß diese neue Bildungsanstalt angeblich nichts anderes als ein neuer Cheder sein wird. Der Bürgermeister begünstigt die orthodoxe Partei, weil er weiß, daß die Anhänger des Rückschritts keine Konkurrenz für die christliche Bevölkerung bilden können. Symptomatisch ist, daß das Amt des Bürgermeisters von einem Christen besetzt wird, obwohl im Text nur jüdische Stadtbewohner gezeigt werden. Die Haltung dieses Mannes stellt in der künstlerischen Verdichtung das Abbild der damaligen Politik der österreichischen Regierung den Juden gegenüber dar. Die Frage der Nachbarschaft ist in diesem Text nur ein Nebenproblem, deshalb wird sie nicht ausführlich erörtert. Außer in dieser Karikatur des Ortsvorstehers kommt sie nur noch in den Reflexionen der Fortschrittler zum Ausdruck, die auf die Gefahr des christlichen Antisemitismus hinweisen, der im gleichberechtigten Juden einen Konkurrenten sieht und ihn zu unterdrücken sucht. Samuely bejaht zwar vollständig die Emanzipation der Juden, aber er macht gleichzeitig auf die Kehrseite des Problems aufmerksam, die er als Gefahr des jüdischen „Indifferentismus" bezeichnet. Damit ist gemeint, daß ein Teil der wirtschaftlich aufgestiegenen Juden sich so stark assimiliert, daß sie ihre Religion und ihr Zusammengehörigkeitsgefühl aufgeben. So erscheint in der mitgeteilten Struktur des Werkes neben der Hauptabsicht, die weltliche Bildung unter den Juden zu propagieren und die Orthodoxie zu kritisieren, als ein sekundäres Anliegen die Warnung, daß man die religiösen und moralischen Werte des Judentums nicht untergraben dürfe. Das zweite Werk von Samuely, das für die Erschließung seines Galizienbildes v o n B e d e u t u n g ist, ist die S a m m l u n g Cultur-Bilder
aus dem jüdischen
Leben
in Galizien. Die Erzählungen und Skizzen der ersten, wahrscheinlich um 1885 veröffentlichten Folge bewegen sich im Umkreis der internen Problematik des jüdischen Lebens. In unserem Zusammenhang wären davon nur zwei Texte zu berücksichtigen. Bemerkenswert ist die dem berühmten Maler Maurycy Gottlieb gewidmete Skizze Zwei Denkmäler, in der man den biographischen Ansatz
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zur Entschlüsselung der späteren Erzählung Das Rosele findet. Die Problematik der jüdisch-christlichen Nachbarschaft taucht nur am Rande auf. Der Erzähler beruft sich auf ein Gespräch, das er kurz vor dem frühen Tode Gottliebs mit dem jungen Maler geführt haben soll. Die Mittel der Fiktion werden in diesem Text primär zum Zweck der Kritik an dem reichen Judentum eingesetzt, das die Verdienste des Künstlers nicht zu schätzen wußte und ihm nur ein bescheidenes Armengrab auf dem Krakauer Friedhof gönnte. Diese Kritik wird durch die Zusammenstellung und Kontrastierung von zwei Bildern gesteigert: Auf einer Seite steht jenes vergessene Grab, auf der anderen — das Gemälde Gottliebs Juden am Versöhnungstage, das der Erzähler als das wahre, bleibende Denkmal des Malers betrachtet. Die Kritik an den christlichen Mitbürgern Gottliebs steht am Rande des Textes, aber sie kommt darin ebenfalls zur Geltung. Der Held erklärt nämlich dem Erzähler, wie er auf die jüdische Thematik in seiner Kunst gekommen sei. Er habe in der Malerschule in Krakau, von hohen Idealen beseelt, seine Herkunft vergessen. Doch das gehässige Verhalten eines christlichen Kommilitonen hätte eine längst vernarbte Wunde in ihm wieder zum Bluten gebracht — „es war die alte tausendjährige Wunde der jüdischen Leidensgeschichte" (S. 174). Samuely sieht dieses Schicksal als typisch für einen galizischen Juden. Der von ihm zum Ausdruck gebrachte Sachverhalt wird in der vor kurzem in Polen erschienenen Monographie Zydzi polscy. Dzieje i kultura im Hinblick auf den Maler Gottlieb von Zygmunt Hoffman bestätigt 9 . Der zweite Text, auf den hier eingegangen werden soll, bedient sich einer erfundenen Fabel. Es ist die Erzählung „Nur nicht jüdisch!", die ähnlich wie die besprochene Novelle Jentele von Herzberg-Fränkel sich gegen die vorbehaltlose Assimilierung der Juden und ihre Sucht, sich dem christlichen Milieu vollständig anzupassen, wendet. Diese satirische Erzählung prangert das eifrige Bestreben der galizischen jüdischen Neureichen und vor allem ihrer Kinder an, alles Jüdische zu vermeiden und alles Christliche nachzuahmen. So bekommt das vornehmtuende Fräulein Olga den Korb von einem sehr „unjüdisch" wirkenden deutschen Juden, in den sie sich verliebte und folglich alles tat, um ihr Elternhaus als ein nach den christlichen Sitten lebendes darzustellen. Als die Kerzen auf dem Christbaum angezündet werden sollen, entschuldigt sich der junge Mann mit der Begründung, Chanukalichter zu Hause anzünden zu müssen, und verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Einer analogen Pointe bedient sich zu demselben Zweck der Verfasser in der späteren Erzählung Die Goethetorte, wo der christliche Leckerbissen sich zur Schande der für alles Deutsche und Christliche schwärmenden Gastgeber als eine Sabbathkugel entpuppt. Die Skizzen und Erzählungen der Neuen Folge von Cultur-Bildern aus dem jüdischen Leben in Galizien von 1892 verbindet das Motiv des alten Familiengebetbuches, das als Klammer eingesetzt wird. Die Texte lassen sich inhaltlich in einige Gruppen gliedern: autobiographische Skizzen (meistens Kindheitserinnerungen), Charakter- und Milieustudien, schließlich Erzähltexte, denen weit-
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anschauliche Überlegungen zugrundeliegen. Zum Thema der jüdisch-christlichen Nachbarschaft in Galizien seien aus der zweiten Gruppe Das Rosele und aus der dritten Sünder und Sünden angeführt. Die Novelle Das Rosele thematisiert den Aufstieg eines galizischen Judenjüngelchens aus einer Provinzstadt zu einem großen Maler. In der Gestalt des Historienmalers Arthur Liebgott lassen sich leicht manche Züge des in der besprochenen Skizze Zwei Denkmäler porträtierten Maurycy (von Samuely auf Deutsch Moritz genannt) Gottlieb erkennen: der erfundene Name entpuppt sich als ein leicht entschlüsselbares Anagramm, die Abstammung aus dem Städtchen D. stimmt mit Gottliebs Geburtsort Drohobycz überein, die Erwähnung der Erfolglosigkeit des künstlerisch veranlagten Jungen in der Schule geht ebenfalls auf Gottliebs Lebenslauf zurück. Andere Angaben stimmen jedoch nicht — so war z. B. Gottlieb kein Sohn eines armen Schneiderleins, das ihn aus Not an den reichen Grafen abtrat, sondern der Sohn eines Petroleumunternehmers 1 0 . Das zeugt davon, daß es dem Verfasser nicht auf eine biographische Novelle, sondern auf die Darstellung eines typischen Falles ankam. Nicht Gottliebs Lebenslauf, aber der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Galizien, entspringt die Figur des „verrückten Grafen". Die Gestalt dieses Sonderlings weist übrigens eine weitgehende Affinität zu Grafengestalten bei Joseph Roth auf 11 . Der polnische Magnat wird als Wohltäter des Städtchens und seiner Juden, an denen er im Grunde hängt, gezeigt. Er ist es, der die Begabung des Schneidersohnes entdeckt und ihn nach Krakau zum Studium schickt. Gleichzeitig aber werden seine Wohltaten von bizarren Nebeneffekten begleitet, die von seiner Zerstörungslust zeugen und alle Einwohner vor den Einfallen des phantasiereichen Edelmanns erzittern lassen. Man sieht ihn als einen Mann, der dem Städtchen Segen bringt, der aber dank seiner ökonomischen und sozialen Position seine wildesten Launen austoben lassen darf. Die modellhafte Gestaltung dieses Falles weist auf einige Aspekte der Wechselbeziehungen zwischen dem galizischen Adel und Judentum hin. Die Situation des galizischen Juden in einer christlichen Umwelt wird in der Erzählung Sünder und Sünden zum Anlaß für die Überlegungen über die unbegründeten Vorurteile der Christen gegen ihre jüdischen Mitbürger. Am Beispiel eines polnischen Beamten werden die Wurzeln des Judenhasses aufgedeckt und bloßgestellt. Übrigens wird der Christ im Text nie direkt als Pole bezeichnet, nur die kleinen sprachlichen Winke lassen die Nationalität der Figur erkennen. Jener kleine Beamte wurde einmal von einem Wucherer derart hintergangen, daß er wegen seiner Leichtgläubigkeit bei seinem ganzen Fleiß und Eifer dem wirtschaftlichen Ruin entgegensieht. Er ist überzeugt, daß jener unehrliche Geschäftsmann Jude war. Wer sonst betrüge die Mitmenschen? Er wünscht sich, alle Juden totschlagen zu dürfen. Als ihm sein Nachbar, der Vater des Ich-Erzählers, Hilfe anbietet, ist er verblüfft, daß ein Jude auch uneigennützig handeln kann. Der Nachbar will ihm nicht nur Geld leihen, sondern er sucht auch jenen Wucherer auf, um ihn vom unehrlichen Handel abzubringen. Jener entpuppt sich allerdings als ein Christ, betrachtet sich zumin-
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dest als solchen: „Zum Glück gehörten meine Ur- und Ururahnen nicht jenem Volke von Gaunern, von Banditen und Blutsaugern an, die unseren Heiland gekreuzigt" (S. 203). Diese Erfahrung ist innerhalb der dargestellten Struktur ein Verweis für den christlichen Beamten, der deshalb erteilt wird, damit der Autor das Anliegen der mitgeteilten Struktur zum Ausdruck bringen kann, und zwar seine nicht-jüdischen Leser von der Grundlosigkeit der Vorurteile gegen die Juden zu überzeugen. Diese Perspektivierung zugunsten der Juden und Bestimmung des Textes vor allem für den christlichen Adressaten sind nicht zu verkennen. Allerdings möchte sich der Verfasser nicht auf diese eine Seite beschränken und fordert sowohl Christen als auch Juden zur gegenseitigen Toleranz und zum Verwerfen gängiger Vorurteile auf. Mit den Fazitworten „Es giebt keine speziell jüdischen und auch keine speziell christlichen Sünden, es giebt nur Sünden" (S. 204) wirbt der Schriftsteller um eine gute Nachbarschaft und gegenseitige Anerkennung zwischen den galizischen Christen und Juden.
3.2. Die „Begegnung" aus der Perspektive des Deutschassimilanten Karl Emil Franzos In der ersten Auflage dieses Buches habe ich Karl Emil Franzos in die Sparte der galizischen Maskilim zugewiesen, allerdings mit Vorbehalt. Meine Bedenken gegen diese Zuordnung wurden mit der Zeit stärker, u. a. unter dem Einfluß der Aufsätze der Franzos-Forscherin Margarita Pazi. Er steht zwar den ideologischen Zielsetzungen der Anhänger der Haskalah nahe, aber sein Schaffen erfolgt unter anderen Prämissen. In biographischer Hinsicht wäre dabei der Abstand zwischen dem einer gebildeten, mit dem deutschen Element assimilierten Judenfamilie entstammenden Schriftsteller und dem galizischen Ghetto zu betonen. Als Sohn des Czortkower Stadtarztes, der in seiner Jugend zu den ersten jüdischen Mitgliedern deutschnationaler Burschenschaften gehört hatte, wurde Franzos außerhalb des jüdischen Stadtviertels erzogen. Der einzige orthodoxe Jude, den er kannte, war sein Religionslehrer. Erst als Halbwüchsiger in Czernowitz begann er dieses Milieu zu beobachten. So ist zwar sein Blick auf das Ghetto einerseits objektiver durch die Distanz als der eines Menschen, der in seinen Mauern aufgewachsen ist. Anderseits stellt eben Margarita Pazi, Franzos mit anderen deutschsprachigen „Ghettopoeten" wie Bernstein oder Kompert vergleichend, fest, daß sein Blick auf das Ghetto oberflächlicher bleiben mußte: „Ihm fehlte, was sie besaßen: das jüdische Wissen, Kenntnis des Talmuds und persönliche Erinnerungen" und „Keiner dieser Autoren war von dem gleichen Eifer wie Franzos geleitet, die deutsche Kultur als höchstes erstrebenswertes Ziel einem nur in negativen Formen dargestellten Beharren in jüdischer Tradition gegenüberzustellen, und keiner dieser Autoren war so scharf in der Verurteilung der Orthodoxie, des Chassidismus
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und der,Wunderrabbis' " 12 . Dieses bedingungslose Plädieren für die deutsche Kultur und deutsche Assimilation (bis auf die Religion) ist das zweite wesentliche Merkmal, das Franzos — zumindest in seinen jüngeren Jahren — von den galizischen Maskilim unterscheidet. Aber auch wenn man bei Franzos den Mangel an einer gründlichen Kenntnis des ostjüdischen Milieus feststellen soll, der ihn mit den außenstehenden Ghettoschilderern verbindet, so muß man doch bedenken, daß er ostjüdischer Herkunft war, in Galizien und der Bukowina aufgewachsen, und daß somit sein Blick auf das Ghetto keiner eines unparteiischen Beobachters war, sondern der Standpunkt eines Menschen, der sich zur Solidarität mit den unterdrückten Glaubensgenossen bekannte und ihre benachteiligte soziale Lage mitempfand, weil die Abstammung auch seinem Leben Hindernisse in den Weg gelegt hat. Mit seiner Protesthaltung wollte er sowohl gegen die Diskriminierung der Juden durch die Christen Abhilfe leisten als auch gegen den inneren Druck ankämpfen, den die jüdische Orthodoxie ausübte. So nimmt er eine Mittelstellung zwischen den ostjüdischen Anhängern der Haskalah und den fremden Ankömmlingen ein. Wie die ersteren strebt er den Lösungen der Aufklärung und der Weimarer Klassik nach, wie diese bekämpft er die jüdische Orthodoxie und den Chassidismus, nur fehlt ihm — sein Alterswerk ausgeschlossen — der Sinn für die hellen Seiten der ostjüdischen Tradition, da er sie nur oberflächlich kennt. Nichtsdestoweniger hat er bestimmt bessere Vorkenntnisse als Außenstehende. Das läßt sich ζ. B. gleich durch den Vergleich mit dem Ungaren Moritz Friedländer feststellen, der im nächsten Unterkapitel besprochen wird, der ja auch Jude und engagiert in jüdische Angelegenheiten war, aber von den Lebensumständen in Osteuropa kaum Bescheid wußte. Entgegen der Behauptung von Sacher-Masoch würde ich Franzos auch besseren Zugang zur Problematik des Milieus als nichtjüdischen Autoren zumuten, er hat immerhin mosaischen Religionsunterricht genossen und sich als Kind für die großen Gestalten des Alten Testaments begeistert, und, obwohl die Familientradition primär an der deutschen Kultur orientiert war, so mußten ihm doch auch Elemente jüdischer Tradition vermittelt worden sein. Dem jüdischen Milieu in einem ostgalizischen Provinzstädtchen hat Franzos sein Erstlingswerk, die Erzählungssammlung Die Juden von Barnow gewidmet. Der fiktive Ortsname steht für seine Heimatstadt Czortkow, gleichzeitig vertritt Barnow symbolisch das ostjüdische „Shtetl" schlechthin, wie Franzos es aus Galizien und der Bukowina kannte. Die Novellen des Bandes, von dem autobiographischen Christusbild an, schrieb Franzos in den Jahren 1868—1872 und veröffentlichte sie zuerst zum Teil in Zeitschriften 13 . Erst 1877 konnten Die Juden von Barnow nach vielen Schwierigkeiten auf dem Büchermarkt erscheinen, und von dem Ausmaß des Erfolgs auch dieses (nach Aus Halb-Asien) Werkes von Franzos zeugt die Tatsache, daß es bis 1905 sechs deutsche Auflagen erlebte und in sechzehn Sprachen übersetzt wurde 14 . In bezug auf die galizische Problematik lassen sich die Texte des Bandes in zwei Gruppen gliedern. Die größere und gewichtigere umfaßt die Erzählungen, in denen der der Hand-
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lung zugrundeliegende Konflikt sich aus der Nachbarschaft und Begegnung zwischen Juden und Christen ergibt. Die zweite enthält die Novellen, die sich auf die Darstellung der internen Situation im galizischen Ghetto beschränken (Esterka Regina, Das „Kind der Sühne" und Ohne Inschrift). Allerdings wird auch in den Werken der ersten Gruppe der spezifische Verlauf des Konflikts durch die im orthodoxen jüdischen Milieu herrschenden Normen ausgelöst. Die Hauptgestalt der Novelle DerShylock von Barnow ist ein reicher und angesehener jüdischer Kaufmann, der als alleinstehender Witwer sein Töchterchen Esther großzog. Sie geht ihm aber mit einem ungarischen Offizier durch. Die dargestellte Struktur des Textes betont sehr stark, wie hart die orthodoxen Juden einen solchen Fehltritt strafen. Von nun an ist für Moses Freudenthal seine Tochter gestorben. Er hält sieben rituelle Trauertage für sie. Nachdem der Liebhaber Esther verlassen hat, kommt sie an die Schwelle des väterlichen Hauses und fleht ihn um Einlaß an. Sie wird von dem Vater verstoßen, obwohl ihn diese Handlung die größte Selbstüberwindung kostet. Die Verstoßene stirbt draußen vor Hunger und Kälte. Die christliche Gesellschaft, die in diesen tragischen Geschehnissen einen Unterhaltungsstoff findet, kommentiert auf boshafte Weise, daß die Juden kein Herz hätten. Sie verleiht dem unglücklichen Moses den Beinamen „Shylock von Barnow", nach dem Drama von Shakespeare. Der Erzähler betont aber die Qual des liebenden Vaters, der seinem Kinde alles verzeihen würde, jedoch die Gebote der Religion als stärker gegenüber seinen persönlichen Gefühlen ansieht. Die Erzählung enthält außer dem Hauptmotiv des unglücklichen Vaters eine Reihe von Motiven, die in anderen Werken von Franzos ebenfalls verwertet werden. Dazu gehören: 1. Liebe zwischen Jüdin und Christ als Ursache des folgenden Unglücks; 2. verhängnisvoller Einfluß der christlichen (polnischen) Umgebung, am Beispiel der heuchlerischen Frau Bezirksrichter gezeigt, die dem nach Wissen und Lektüre begierigen Mädchen die Romane von de Kock in die Hände spielt und sich dann an der „Unmoral" der Jüdin ergötzt; 3. das Motiv des als Abtrünniger verschrieenen aufgeklärten Juden, des Onkels von Esther, der ihr einige Zeitlang Deutsch und profane Wissenschaften beibringen darf; 4. schroffe Verurteilung der jüdischen Sitte, Kinder ohne Rücksicht auf ihre Gefühle zu verheiraten. Mit Hilfe dieser Motive übt Franzos Kritik sowohl an der Haltung der Christen gegenüber ihren jüdischen Mitbürgern als auch an dem blinden Gehorsam der orthodoxen Juden gegenüber der Tradition. Das im Punkt 4 erwähnte Problem der frühen und ausschließlich nach rationalen Gründen geschlossenen Ehen jüdischer Kinder, über die nur die Eltern zu verfügen haben, behandelt die Novelle Nach dem höheren Gesetz. Sie ist eine der wenigen, in denen Franzos die edle Humanität den Sieg über die Strenge der religiösen Gesetze davontragen läßt. Die Fabel stützt sich auf ein einfaches Liebesdreieck, dessen untypische Eigenschaft darin besteht, daß alle drei Beteiligten positive Gestalten sind, deren Beweggründe dem Leser einleuchten müssen. Der wohlhabende jüdische Kaufmann Silberstein erfahrt, daß seine Frau Chane den christlichen Bezirksrichter Herrn von Negrusz liebt. Nach
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dem mosaischen G e s e t z dürfte er sie als E h e b r e c h e r i n (die sie de facto gar nicht ist) steinigen lassen. Er handelt aber nach d e m „ h ö h e r e n Gesetz". Er entsagt der Frau, die er liebt, d e n n er weiß, sie war nie gefragt worden, ob sie ihn liebte, ob sie ihn heiraten wollte. Er verlangt n u r von d e m Christen, die Frau tatsächlich zu heiraten, sonst würde er ihre Schmach rächen. Der Richter erweist sich als ein ehrlicher M a n n , er geht mit C h a n e eine glückliche E h e ein, und der großmütige J u d e bleibt der beste F r e u n d der Familie. Das „happy e n d " ist j e d o c h nicht o h n e einen T r o p f e n Bitterkeit: Die Frau m u ß sich natürlich taufen lassen, u m den Christen heiraten zu dürfen, u n d sie wird e b e n s o selbstverständlich von ihrem Vater verflucht. T r o t z d e m scheint die L i n i e n f ü h r u n g der Novelle eher einen W u n s c h t r a u m des Verfassers auszudrücken als der galizischen Wirklichkeit zu entspringen. Mit Hilfe der literarischen Fiktion wird hier ein Leitbild geschaffen, dessen F u n k t i o n in der A u f f o r d e r u n g zur Überwindung gegenseitiger Vorurteile besteht. A u ß e r d e m lassen sich in der mitgeteilten Struktur solche Ziele erblicken wie die Kritik an der traditionellen Eheschließung der J u d e n u n d die moralische A u f w e r t u n g der J u d e n in den A u g e n des christlichen Lesers durch die Schilderung der vorbildlichen Haltung des Nathan Silberstein. Die Novelle Der wilde Starost und die schöne Jutta hat ebenfalls eine doppelte Zielsetzung: Sie enthält eine eindringliche Anklage der Willkür galizischer Edelleute d e n machtlosen J u d e n gegenüber u n d bringt zugleich die grausame Härte u n d Intoleranz des o r t h o d o x e n Milieus z u m Ausdruck. Dieser Text, vorbildlich in seinem H a n d l u n g s b a u u n d in der Figurenzeichnung, enthält manche Motive, die d a n n in der größeren Erzählung Judith Trachtenberg auftauchen. Die Fabel der Geschichte ist sehr einfach: Ein polnischer Starost, der J u d e n haßt u n d verachtet, b e m e r k t die schöne Jüdin Jutta u n d holt sie sich mit Gewalt, d a n n aber verlieben sich beide ineinander. Jutta lebt freiwillig mit d e m Starosten z u s a m m e n , gebiert ihm ein Kind, u n d sie sollen heiraten. Zuerst m u ß Jutta natürlich getauft werden. Bevor es passieren kann, n u t z e n fanatische J u d e n die A b w e s e n h e i t des Starosten aus, u m mit Gewalt in sein H a u s einzudringen. Sie e n t f ü h r e n Jutta u n d ihren J u n g e n , obwohl sie sich wehrt, u n d von der Zeit an kann der überall s u c h e n d e Adlige sie nicht finden. Als Vergeltung f ü r die Verschollene m ü s s e n viele J u d e n des Städtchens einen qualvollen T o d sterben. D e r Starost wird zu e i n e m w ü t e n d e n Judenverfolger. Diese Geschichte wird aus zwei Perspektiven erzählt: des alten Dieners des Starosten, der u m das Unglück seines Herrn trauert, u n d kontrapunktisch dazu aus d e m Blickwinkel der Witwe des j ü d i s c h e n G e m e i n d e v o r s t e h e r s , den die Christen am Fronleichnamstag aus Vergeltungssucht u m b r a c h t e n . Durch diese G e s t a l t u n g der dargestellten Struktur wird die Relativität der als gleichberechtigt g e s e h e n e n S t a n d p u n k t e betont. D e r J u d e n h a ß , den der Feudalherr und sein D i e n e r verkörpern, wird angeprangert, aber auch die jüdische Intoleranz, die das Glück zweier Liebender zerstört hat, wird verurteilt. Erschütternd wirkt die A n w e n d u n g des Bildes der Fronleichnamsfeier als R a h m e n für die Geschichte. An diesem Tage, an d e m Christen voller F r e u d e mit B l u m e n und
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Mädchen in Weiß, der Unschuldsfarbe, ihr h o h e s Fest b e g e h e n , g e s c h e h e n die meisten A u s s c h r e i t u n g e n gegen die J u d e n , weil die galizischen Christen in ihre geistigen Enge damit Christi T o d zu rächen glauben. D u r c h dieses der außerliterarischen Wirklichkeit des katholischen Galiziens e n t n o m m e n e Bild weist Franzos auf die ü b e r k o m m e n e Erscheinung des religiösen Antisemitismus hin. Mit d e m straflosen W ü t e n eines polnischen Feudalherrn gegen die J u d e n haben wir es auch in der Erzählung „Baron Schmule" zu tun. Noch einmal wird das Ausgesetztsein eines mittellosen J u d e n an den Feudaladel z u m Ausdruck gebracht: Ein polnischer Herr verprügelt in blinder W u t einen j ü d i s c h e n Jungen so, daß ihm dabei ein Auge ausgeschlagen wird. D e n in dieser Sache eingeleiteten Prozeß verliert der Beschädigte. Dies ist eines der vielen Beispiele von Fehlurteilen der galizischen Justiz im Schaffen des Franzos, die der A u t o r auf ihren nationalen (polnischen) u n d gesellschaftlichen Charakter zurückführt. In der Gestalt des J u d e n , d e m die U m g e b u n g d e n Spitznamen „Baron S c h m u le" beigibt, hat Franzos einen n e u e n Typus des galizischen J u d e n abgebildet: den des ehrgeizigen, hartnäckig auf ein Ziel z u s t r e b e n d e n J u d e n , der tatsächlich eine Blitzkarriere macht. Das Streben der Gestalt hat eine ganz b e s o n d e r e Richtung. Er erwartet, daß j e n e r F e u d a l h e r r z u m Bettler wird, und m ö c h t e dann sein Wohltäter werden. Dieses gelingt d e m u n e r m ü d l i c h e n Schmule tatsächlich, sodaß er den T r i u m p h erlebt, in polnischen Z e i t u n g e n zu lesen, „daß der unverbesserliche Vagabund u n d T r u n k e n b o l d Baron Wladislaw Wodnicki durch einen edlen W o h l t ä t e r f ü r Lebenszeit versorgt worden sei" (S. 225). Diese H a n d l u n g s f ü h r u n g dient außer der Verurteilung straflos bleibender Willkür des Adels den sozial Niedrigergestellten g e g e n ü b e r der Veranschaulichung der von Franzos auch in seinen „Kulturbildern" ausgedrückten These, daß der polnische Adel in Galizien bereits abwirtschafte u n d nach u n d nach von tüchtigen Nachfolgern abgelöst werde. Einen versöhnlicheren T o n schlägt die Novelle Das Christusbild ein, die am f r ü h e s t e n verfaßte Erzählung des Bandes. Laut Bericht von Franzos in Mein Erstlingswerk: „Die Juden von Barnow"i5 liegt diesem Text eine a u t h e n t i s c h e Erfahrung zugrunde. Franzos hatte sich in ein christliches M ä d c h e n verliebt, das seine Liebe erwiderte. Sie verlobten sich u n d wollten eine Mischehe eingehen. Aber nach einiger Zeit bekam er von der von Vorurteilen der U m g e b u n g aufgeschreckten G e l i e b t e n einen Absagebrief. Diese E r f a h r u n g hat der Verfasser ins Ostgalizische umgesiedelt. Diese Transposition b e d e u t e t e für Franzos die Notwendigkeit, den Stoff mit stärkeren Z ü g e n der J u d e n v e r a c h t u n g bei der christlichen U m g e b u n g u n d der Verurteilung freien wissenschaftlichen Strebens durch die G h e t t o j u d e n zu versehen. Die Fiktionalisierung dieser Geschichte sollte der Kritik der beiden H a l t u n g e n dienen. In der Novelle Das Christusbild verliebt sich ein galizischer Jude, der sich in der Welt Bildung u n d A n s e h e n erworben hat, in ein polnisches Edelfräulein. Jadwiga liebt ihn auch, aber in d e m e n t s c h e i d e n d e n Augenblick bringt sie nicht den Mut auf, u m sich über die Vorurteile des Milieus hinwegzusetzen. Als A n d e n k e n dieser Liebe
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bleibt das Christusbild in der Barnower Kirche, in dem Jadwiga die Züge ihres Geliebten festgehalten hat. Die Tatsache, daß dem für die Katholiken bestimmten Bild des Erlösers ein Jude Modell gestanden hat, knüpft an die jüdische Herkunft Christi an. In der mitgeteilten Struktur des Textes enthält sie den Hinweis auf die Grundlosigkeit der christlichen Vorurteile gegen die Juden. Das Hauptanliegen der Erzählung ist der Appell um die religiöse Toleranz und die Verurteilung der gesellschaftlichen Diskriminierung der Andersgläubigen. Das autobiographische Element bewirkte wohl, daß der Grundton ein ruhigerer, versöhnlicherer als in den meisten Barnower Erzählungen ist. Wahrscheinlich wollte Franzos damit andeuten, daß er die Geschichte verarbeitet hat. Die skizzenhaften Entwürfe des „halb-asiatischen" Zyklus aus dem Leben der galizischen Juden werden hier außer acht gelassen. Man kann sie zum Teil als Vorarbeiten, zum Teil auch als kommentierende Erläuterungen zu den wichtigsten Texten von Franzos zum Thema der Wechselbeziehungen zwischen Juden und Christen in Galizien betrachten. Gemeint sind die drei umfangreichen Erzählungen: Moschko von Parma (1880), Judith Trachtenberg (1890) und Leib Weihnachtskuchen und sein Kind( 1896). Der große Roman von Franzos, Der Pojaz (1905) ist nur am Rande zu berücksichtigen, da er zwar der Problematik des jüdischen Lebens in Galizien, aber nicht dem Nachbarschaftsthema gewidmet ist. Besonders ausführlich soll Moschko von Parma erörtert werden, weil dieser Text für unsere Problematik am ergiebigsten ist und neben dem Roman Der Pojaz das künstlerisch am höchsten stehende Werk von Franzos darstellt. Mit Moschko von Parma entwirft Franzos die beste seiner „Judengeschichten", ein Werk, in dem sich plastische Milieuschilderung mit eindringlicher psychologischer Charakterzeichnung paart und der ideologische Aussagegehalt nahtlos aus der Wirklichkeitszeichnung in der Erzählung erfolgt. Die Handlung bildet der Lebenslauf eines Juden aus einer notleidenden kinderreichen Familie aus Barnow. Der Protagonist zeichnet sich durch seine körperliche Kraft und seinen Mut aus. Durch diese Gestaltung der dargestellten Struktur widerlegt der Autor das herkömmliche Vorurteil, daß die Juden feige seien. Diese Bekämpfung des bestehenden Stereotyps ist eines der Ziele des Textes. Moschko wird mit zwölf Jahren (auf Grund der religiösen Sitte) 16 volljährig erklärt und ist von nun an nur auf sich selbst angewiesen. Er wählt zuerst den Soldatenberuf, der seiner körperlichen Anlage entsprechen würde. Doch er wird von der Militärbehörde mit Hohn zurückgewiesen. Daraufhin erlernt er bei einem ukrainischen Schmied dessen Handwerk, einen Beruf, den galizische Juden kaum ausübten. Man muß berücksichtigen, daß der erste Handlungsteil in der Vormärzzeit spielt, in der das in Zünften organisierte Handwerk NichtChristen (also praktisch Juden) ausschloß. Das weitere Merkwürdige an Moschkos Laufbahn ist, daß er es ablehnt, eine Jüdin, die der Heiratsvermittler für ihn ausgesucht hat, zu heiraten. Damit setzt Franzos seine Kritik an der traditionellen jüdischen Ehe, die ohne Rücksicht auf die Gefühle des Paares ge-
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schlossen wird, fort. Moschko verliebt sich in ein christliches Mädchen, das er wegen des Glaubensunterschiedes nie heiraten darf. Es handelt sich um die ukrainische Magd Kasia, die Schwester seines Kollegen Hawrilo. Als Kasia schwanger wird, entscheidet sich Moschko für ihr gemeinsames Kind zu sorgen. Ähnlich wie in der Dorfgeschichte Der Richter von Biala wirkt der Verwirklichung dieses Planes der Einberufungsbefehl für den Helden entgegen. Moschko wird assentiert und muß vierzehn Jahre lang den Militärdienst im Regiment von Parma leisten. Von Versprechungen des Vorgesetzten verblendet, entscheidet er sich danach für sieben Jahre eine „Kapitulation" zu machen, d. h., den Dienst freiwillig fortzusetzen. Diese Jahre werden für ihn zum Verhängnis, denn es kommt im neunzehnten Jahre seines Heerdienstes zum italienischen Feldzug, der ihn zum Krüppel macht. Auf diese Weise knüpft der Verfasser an die historische Tatsache der österreichischen Niederlage im Krieg im Jahre 1859 an. Vom Staat nicht (oder zumindest nicht genügend) versorgt, muß der ausgediente Soldat als Bettler in die Heimatgemeinde zurückkehren. Moschko hat sich ihr allerdings durch seinen Entschluß, das verabscheute Kriegerhandwerk freiwillig forzusetzen, restlos entfremdet. Zu Hause findet er die Seinen gut aufgehoben. Seine Geliebte hat ein ehrlicher ukrainischer Knecht geheiratet, seinen Sohn hat an Kindes statt Kasias Bruder angenommen. Für Moschko gibt es da keinen Platz mehr. Er darf sich seinem Sohn nicht als dessen Vater zu erkennen geben, aber um sich seine Zuneigung zu erwerben, erzählt er ihm Lügengeschichten aus dem Militär. Sie bewirken, daß der unerfahrene Junge freiwillig einrücken möchte. Erst dann deckt Moschko vor ihm die ganze Misere der Soldatenexistenz auf. Es wird Moschko vergönnt, versöhnt mit der Welt, nach dem Abschied von seiner Geliebten und dem Jungen, der zwar nichts von seiner Vaterschaft weiß, aber an dem kranken Juden hängt, ruhig zu sterben. Wie in den meisten Geschichten in der Sammlung Die Juden von Barnow ist das Anliegen der mitgeteilten Struktur der Erzählung ein doppeltes. Einerseits handelt es sich um die jüdisch-christliche, konkret um die jüdisch-ukrainische Nachbarschaft in Ostgalizien, um die Notwendigkeit der gegenseitigen Toleranz und Anerkennung. Anderseits dient die Milieuzeichnung und Handlungsführung auch der Kritik an der geistigen Erstarrung und Unduldsamkeit des orthodoxen „Shtetl". Wie ein roter Faden zieht sich durch das ganze Werk die Diskussion um den Wert und die Relativität der Religionen und um das Wesen des „Jüdischseins". Der Autor schaltet ohne Bedenken lange, auf die Herkunft von der Aufklärung hinweisende moralische Kommentare des auktorialen Erzählers zu diesem Thema ein. Als sein Sprachrohr werden außerdem zwei Gestalten eingesetzt: der humane, aufgeklärte Stadtarzt jüdischer Abstammung, der den todkranken Moschko umsonst behandelt 1 7 , und zum Teil die Titelgestalt. Moschko drückt nämlich die Ansichten des Verfassers in dem Lebensbekenntnis aus, das er vor jenem Arzt im Angesicht des Todes ablegt. Es sind Meinungen, die im Munde eines ungebildeten Juden aus der galizischen Provinz nicht ohne weiteres glaubhaft erscheinen. Ihren Höhe-
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punkt bildet die Einsicht des H e l d e n in das wahre W e s e n der Religion. Die dargestellte Struktur b e g r ü n d e t z u m Teil diese Entwicklung Moschkos durch seine unkonventionelle L e b e n s b a h n , vor allem durch die E r f a h r u n g e n der Arbeit, F r e u n d s c h a f t u n d Liebe in einer christlichen U m g e b u n g u n d seiner W a n d e r u n g e n als Soldat, sowie durch seine spezifische Veranlagung, die Moschko z u m A u ß e n s e i t e r des G h e t t o macht. Dieses aufklärerische Kredo des Helden b e s t i m m t die mitgeteilte Struktur des Werkes. Es wird ganz in den Kategorien des Lessingschen Nathan u n d der Ringparabel aufgefaßt, daß keine der K o n f e s s i o n e n G o t t an sich a n g e n e h m e r als eine andere sei. Die Relativität der Religionen wird auf der E b e n e der dargestellten Struktur als Tatsache z u m Ausdruck gebracht, u n d als eine Schlußfolgerung daraus erscheint auf der Ebene der mitgeteilten Struktur das Postulat der religiösen Gleichberechtigung. Als ein Beispiel f ü r die vorurteilsfreie H a l t u n g z u m J u d e n fungiert in der Erzählung die Gestalt des ukrainischen Schmiedes, der selbst areligiös lebt und nichts dagegen hat, Moschko in seiner Werkstatt einzustellen. Symptomatisch wirkt j e d o c h , daß er d e n J u d e n nicht auf G r u n d des Toleranzgebotes akzeptiert, s o n d e r n im N a m e n der Solidarität der u n t e r d r ü c k t e n Völker in Ostgalizien gegen ihre Bedrücker. Die letztgenannte Rolle spielen wie gewöhnlich in Franzos' Werk die Polen. Ein anderes positives Beispiel bildet die F r e u n d schaft zwischen Moschko u n d s e i n e m Kollegen Hawrilo. Hier werden allerdings die G r e n z e n der Bereitschaft u n d Fähigkeit, die Andersartigkeit des F r e u n d e s zu begreifen, deutlich gezeigt. Der ukrainische Lehrling n i m m t Moschko f ü r voll, n a c h d e m er sich von dessen Stärke u n d Mut überzeugt hat. Die beiden Lehrlinge glauben von einander, der andere werde nach d e m T o d e wegen seines Irrglaubens H ö l l e n q u a l e n erleiden m ü s s e n . Das Wechselgespräch zwischen den J u n g e n läßt diese Vorstellung relativieren, wobei die beiden überrascht feststellen m ü s s e n , daß ihre Religion Nächstenliebe gebietet, aber weder die A n h ä n g e r des C h r i s t e n t u m s noch die des Mosaismus dieses G e b o t einhalten. Die Geliebte Moschkos, Kasia, ist voller Vorurteile gegen die J u d e n , als sie d e m Kollegen ihres Bruders z u m ersten Mal begegnet. D e r Verfasser stattet sie mit d e m ganzen Arsenal von Mitteln des traditionellen bäuerlich-naiven A n t i s e m i t i s m u s aus u n d desavouiert mit Hilfe der Repliken Moschkos ein A r g u m e n t nach d e m a n d e r e n : die religiöse Motivation wie die Stereotypenbildung, die bei Kasia bereits nach einer ungünstigen E r f a h r u n g erfolgte, — „Und weil ihr solche Schwindler seid. Im vorigen Jahre hat mir einer Glas f ü r Korallen verkauft", endlich „Und weil ihr feig u n d heimtückisch seid" (S. 74). Logische A r g u m e n t a t i o n des J u n g e n , vor allem aber sein persönliches Beispiel überzeugen Kasia, daß sie im U n r e c h t war. Sie beginnt Moschko zu lieben. Nach Jahren zeigt sich j e d o c h , daß weder sie noch ihr Bruder durch diese E r f a h r u n g mit Moschko ihre Einstellung zu d e n J u d e n geändert haben. Kasias u n d Moschkos Sohn wurde im h e r k ö m m l i c h e n Unwillen gegen d i e Juden erzogen, n u r für den alten F a m i l i e n f r e u n d ist er bereit, eine A u s n a h m e zu machen. A n d e r e in einigen Episoden a u f t a u c h e n d e Gestalten der Christen vertreten die konventionelle antijüdische Haltung. Ζ. B. der Pope prägt seinen
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Bauern den religiösen Haß ein. Er selbst weiß allerdings von der Sympathie seiner Pfarrkinder zu Moschko oder deren Notwendigkeit, mit einem Juden mitzuarbeiten, Handel zu treiben, der seine privaten Einkünfte vergrößert. Er verkauft nämlich „wunderbare" Heiligenbilder, die die Gegenwart eines Juden unschädlich machen sollen, und vergibt gegen eine gute Belohnung die Sünde, sich mit einem Juden eingelassen zu haben. Die Frau des Hawrilo möchte von dem jüdischen Landstreicher nichts wissen und verzweifelt, daß er durch sein Sterben ihr Haus entweiht. Anhand dieser Beispiele stellt Franzos eine sehr düstere Diagnose im Hinblick auf die Behandlung der galizischen Juden durch ihre christlichen Mitbürger. Diese Gestaltung des Stoffes gibt ein typisches Bild der Verhältnisse auf dem Lande wieder. Gleichzeitig wendet sich seine Kritik gegen die Normen des orthodoxen Judenmilieus in Galizien. Nicht kleiner als Angst und Abneigung der Christen gegen die Juden ist in der Erzählung die Angst und Abneigung der Juden nicht nur vor jeder Berührung mit dem Christentum, sondern auch vor jedem Überschreiten der traditionellen Laufbahn. Jede wichtige Entscheidung, die Moschko auf seinem Lebensweg trifft, erscheint in ihren Augen als Sünde: sein noch kindlicher Entschluß, „Sellner" zu werden, seine Ablehnung der frühen Heirat ohne Liebe, zum Teil auch seine Wahl des Berufes als Schmied. In diesem Fall vermag der uneigennützige väterliche Freund Moschkos, der Marschallik Türkischgelb, die Gemeinde zu überzeugen, daß weder die Thora noch der Talmud einem Rechtgläubigen diesen Beruf verwehren. Vier Jahre lang arbeitet Moschko in der Schmiede, und es gelingt ihm, sich in das neue, christliche Milieu zu integrieren und gleichzeitig sich dem Ghetto nicht ganz zu entfremden. Diese Situation drückt gewiß eine Wunschvorstellung des Autors aus. Die weitere Handlungsführung zeugt jedoch davon, daß Franzos sich des utopischen Charakters dieses Bildes bewußt ist, denn mit der Assentierung werden alle Hoffnungen des Helden zunichte. Mit viel größerem Einfühlungsvermögen als es in seiner Skizze Der Fehlermacher der Fall war, reflektiert Franzos über die Gründe, die die Juden den Militärdienst verabscheuen lassen, und er gestaltet die Soldatenlaufbahn des Moschko so, daß sie diese Haltung überzeugend begründet. Eine weitere Zielscheibe der Kritik ist in dieser Erzählung, wenigstens am Rande berücksichtigt, der österreichische Staat, der den ausgedienten Soldaten und Kriegsbeschädigten verhungern läßt. Der Erzähler betont die Unnachgiebigkeit der Juden in der Betrachtung desjenigen, der das Pech hatte, auf Grund der Verlosung eingezogen zu werden. Sie sehen ihn als einen verlorenen Sünder, der es zwar ohne seine eigene Schuld geworden ist, aber nun doch unheimlich wirkt. Ihre unduldsame Härte erweist sich dann in ihrem ganzen Umfang, wenn jemand wie Moschko aus freien Stücken dieses sündige Leben des Soldaten länger mitmacht, als er dazu gezwungen worden ist. Er verwirkt sich somit das Anrecht auf ihre Unterstützung und Barmherzigkeit. Sogar als Moschko todkrank wird, verweigert ihm der sonst wohltätige Vorsteher die A u f n a h m e in das jüdische Krankenhaus, denn nur nach dem Tode dürfe einem so großen Sünder verziehen werden. Die Perspektivierung des
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Verfassers erfolgt so, daß er keine Überlegungen anstellt, ob diese Haltung von ihrem Standpunkt aus nicht notwendig war. Als ein Anwalt des Fortschritts und der Humanität verurteilt er sie eindeutig. Gleichzeitig versucht er eine optimistische Zukunftsprognose aufzustellen, indem er diese Episode mit dem Kommentar versieht: „Schon heute gibt es viele jüdische Männer in Podolien, nicht minder gottesfürchtig als Nathan, die doch anderen Bescheid auf ähnliche Bitten wüßten. Noch sind sie Ausnahmen, aber die Zeit ist nicht ferne, da auch hier die Menschlichkeit siegen wird" (S. 175). Im Hinblick auf die Juden sieht er also die Hoffnung auf eine Wendung zum Guten als mehr berechtigt als im Falle der ostgalizischen Christen. Das Fazit des Werkes bildet die Szene zwischen dem jüdischen Arzt und Moschko vor dessen Tod. Die Situation des Kranken betrachtend, von dem sich sowohl Juden als auch Christen, bis auf Kasia und ihren Sohn, lossagen, stellt der Arzt fest: „Gewiß! diese armen Menschen bedürfen des Glaubens und sänken unergründlich tief, wenn man ihn ihnen freventlich rauben wollte! Und doch! — dem einen gebietet sein Glaube, einem Sterbenden jede Hilfe zu weigern, und dem anderen, ihn auf die Straße zu werfen, sofern sich nicht zufallig einige Gulden dabei verdienen lassen", und er fragt sich, ob der Glaube ohne Aberglaube tatsächlich ein Traum bleiben müsse (vgl. S. 177 f). Diesen Glauben ohne Aberglauben vertritt als ein Wunschbild des Verfassers der sterbende Moschko. Von dem Arzt gefragt, ob er bei der mosaischen Religion geblieben ist, antwortet er: „Ja — obwohl ich schon seit langer Zeit weiß, daß ich bei einem Wechsel nur unter einen anderen Obersten gekommen wäre. Der General ist für alle Regimenter derselbe" (S. 181). Lessings Nathan klingt hier deutlich an. Der sterbende Jude faßt sein Judentum nicht mehr wie früher als „Unglück", sondern als „Schicksal wie jedes andere" auf. Er sieht jetzt ein, daß er sich gegen Kasia nicht deshalb versündigt hatte, weil sie Christin, sondern weil sie ein ehrliches Mädchen war: „Sehen Sie, so selbstsüchtig wird ein Mensch, wenn er I Η Ν nur für seinen eigenen Obersten hält und nicht für den General aller" (S. 185). Auf diese Weise fungiert das der galizischen Wirklichkeit entnommene Problem der Nachbarschaft zwischen Juden und Slawen als ein Beispiel und Bestandteil des breiteren Problemfeldes „Religion und Toleranz". Auch die zwei übrigen umfangreichen Erzählungen von Franzos aus dem ostgalizischen Milieu zeigen die Kluft zwischen den jüdischen und christlichen Bewohnern Galiziens, ohne auf die Darstellung der für die Handlungsführung nicht weniger relevanten in sich selbst abgekapselten Ghettowelt zu verzichten. Judith Trachtenberg ist weniger interessant als andere Erzählungen, weil man sie wie eine erweiterte Fassung der in Der Shy lock von Barnow und Der wilde Starost und die schöne Jutta vorgezeichneten Konflikte und Motive betrachten kann. Die Tragödie des zärtlichen Vaters, dessen Tochter mit einem Christen flieht; Mitschuld der verdorbenen christlichen Umgebung, die das naive jüdische Mädchen zum Fehltritt antreibt und dann moralische Entrüstung über sein Handeln zum Ausdruck bringt; Intoleranz und Härte der Ghet-
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tojuden gegen die „Abtrünnige"; Unehrlichkeit des christlichen Verführers und gleichzeitig Willkür des in Galizien straflosen Feudalherrn seinen jüdischen Mitbürgern gegenüber — all dies sind Motive, die der Leser schon aus früheren Texten des Franzos kennt. Eine Bereicherung des Blickfeldes erfolgt in zweierlei Hinsicht. Der wichtigste Unterschied im Fabelbau bezieht sich auf den Ausgang der Geschichte, demzufolge Judith zwar als Person zugrundegeht, aber vor dem Tode einen doppelten Sieg erringt — über die christliche Umgebung und über die orthodoxen Juden — indem sie erreicht, daß der Graf Baranowski sie ohne Glaubenswechsel zur Frau macht und ihren Sohn als einen legitimen Erben anerkennt. Durch ihren Triumph mit ihrem strenggläubigen Bruder und mit dem Ghetto des Heimatstädtchens versöhnt, überlebt Judith ihren Sieg nicht. Sie erklärt das auf die Weise, daß sie es als Schuldige am Tode ihres Vaters nicht darf. Aus der Handlungsführung ließe sich schlußfolgern, daß sie wohl der Kampf und die Enttäuschung über den Betrug ihres Geliebten zum weiteren Leben unfähig gemacht hätte. Sie flieht in den Selbstmord. Die Inschrift auf ihrem Grabmal symbolisiert jedoch den optimistischen Ausklang der Geschichte: Der Name der Verstorbenen vereinigt in sich die Komponente ihrer jüdischen Herkunft und ihres Anrechts auf den Namen einer polnischen Gräfin. Sie hat es vollbracht, diese zwei scheinbar unvereinbaren Gegensätze zu verbinden. Auf diese Weise dient die Fiktionalisierung in diesem Text dazu, die Forderung des Autors nach der Überbrückung der Gegensätze auszudrücken. Durch den anschließenden Kommentar „Sie starb in Dunkelheit, aber es wird einst tagen" (S. 376) 18 entwirft der Erzähler eine Zukunftsperspektive, die die Hoffnung des Verfassers auf eine derartige Entwicklung in Galizien zeigt. Der zweite Unterschied, auf den kurz eingegangen werden soll, ist die Auffassung der Figur des polnischen Grafen, der Judith aus dem väterlichen Hause entführt. Sonst hatten wir es in solchem Zusammenhang mit Typen grausamer Adliger zu tun, die obendrein gedankenlose Judenhasser waren. Die Gestalt Baranowskis ist komplizierter. Er ist kein schlechter Mensch „an sich" — er liebt Judith und würde sie gerne heiraten, wenn das nicht einen „moralischen Selbstmord" durch gesellschaftliche Ächtung für ihn bedeuten würde. Der Erzähler verdeutlicht nach und nach, wie es möglich wurde, daß dieser zu Anfang ehrliche Mann Judith durch eine Scheinehe betrügt. Er ist ein schwacher Mann, der sein moralisches und existentielles Rückgrat in dem Stolz auf seine hochadligen Ahnen sucht. Auf diese Weise versucht Franzos auch der anderen Seite gerecht zu werden und weist auf das falsche gesellschaftliche Bewußtsein des galizischen Adels als auf die Ursache des falschen Handelns von einzelnen Menschen hin, die es nicht wagen, sich diesem Stereotyp entgegenzusetzen. Um den sozialen Anschein zu bewahren, wird der Graf zu einer niederträchtigen Tat fähig. In seiner Einstellung zu den Juden zeigt er sich zu Anfang der Geschichte als Antisemit, aber einer, der den Gegner nicht verleumdet. Er weiß um dessen Vor- und Nachteile Bescheid. Baranowski erkennt auch, daß diese oft als eine Folge der geschichtlichen Entwicklung aufzufassen sind, und
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er erfaßt die ökonomische Grundlage des Streites. Franzos versucht die Perspektive der anderen Seite, des polnischen Adels zu rekonstruieren und läßt den Grafen Baranowski eine entsprechende Argumentation vorbringen. Dieser sagt nämlich, daß der alte Adel verfalle, weil er von den fleißigen, rührigen Juden verdrängt werde, und er, der Graf, dürfe doch nicht untätig zuschauen, wie seine eigene Klasse zugrundegehe. Diese Begründung erweist sich allerdings bei der näheren Betrachtung als ein Ausdruck der eigenen Ansichten des Autors über die Lage des galizischen Adels, nur wurden in der Aussage Baranowskis Ursache und Folge miteinander vertauscht. Es wurde schon in den früheren Kapiteln dieser Arbeit festgestellt, daß diese Beurteilung der gesellschaftlichen Rolle des Adels in der Zeit des Übergangs zum Kapitalismus eine richtige Erkenntnis von Franzos war. Die letzte „Judengeschichte" von Franzos, die Erzählung Leib Weihnachtskuchen und sein Kind stützt sich ebenfalls vornehmlich auf das bereits von dem Verfasser ausgewertete Reservoir von Motiven. Die dargestellte Struktur enthält folgende für das Werk von Franzos typische Elemente: 1. das Motiv der von den Eltern lediglich aus rationalen Gründen beschlossenen Frühehe des jüdischen Mädchens mit einem Partner, den es nicht lieben kann — in diesem Text ist es ein reicher Greis; 2. die in ein Unglück mündende Liebe zu einem nichtjüdischen Partner — hier einem ruthenischen Bauern; 3. der Antisemitismus der Bauern, der in einem Einzelfall überwunden werden kann — durch Freundschaft zwischen dem alten Leib und dem Ruthenen Janko; 4. das Ausgeliefertsein sowohl des jüdischen Pächters als auch des ukrainischen Bauern an den polnischen Edelmann. Ein meisterhaft in die Fabel eingebautes Nebenmotiv kommt im Oeuvre von Franzos wohl zum ersten Mal vor. Es handelt sich um den Bau einer Eisenbahnlinie durch das Dorf Winkowce und um die Reaktionen der Bauern und des Großgrundbesitzers auf dieses Ereignis. Um jedes der aufgezählten Hauptmotive wird ein Handlungsstrang gesponnen, und alle diese Handlungen werden vor allem durch zwei Gestalten, die des jüdischen Schenkwirtes Leib Weihnachtskuchen und die des Ukrainers Janko Wygoda integriert. Das im Titel erwähnte „Kind", die schöne Miriam, spielt in der Handlungsstruktur lediglich eine passive Rolle. Im Mittelpunkt der dargestellten Struktur steht die Figur des Leib, eines alten Juden, der sich durch eine tiefe, kompromißlose Frömmigkeit und als Folge seines Glaubens durch einen großen Edelmut den Mitmenschen gegenüber auszeichnet. Die moralische Aufwertung der Juden in den Augen der christlichen Leser mit Hilfe dieser Leitgestalt bestimmt die mitgeteilte Struktur des Textes, während andere Probleme (ζ. B. die Verurteilung traditioneller Eheschließung) als sekundär erscheinen. Leib vergilt zu Anfang der Geschichte das Unrecht dem Ruthenen Janko mit Güte und Vergebung, und so kommt es zu einem vertrauten Verkehr zwischen den beiden Männern. Der Schenkwirt unterstützt die Bemühungen des zähen Bauern, seine Wirtschaft schuldenfrei zu machen und sich vom polnischen Edelmann nicht übervorteilen zu lassen. Auch diese Gestalt bildet einen Gegenpol zum damals herrschenden Stereotyp des Juden,
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denn er ist nicht nur uneigennützig und hilfsbereit, sondern geht darin so weit, daß er aus Nächstenliebe gegen sein und seiner Familie Interesse handelt. Obwohl er zuerst dem Entschluß seiner Frau nachgibt, Miriam mit dem alten Witwer zu verheiraten, betont die ganze Fabelgestaltung, daß er keine Schuld daran trägt. Auch das Unglück, das ihn am Ende trifft, der Tod Miriams, die der eifersüchtige Janko zusammen mit ihrem neuvermählten Mann und sich selbst im Dnestr versenkt, wurde direkt durch seine Barmherzigkeit möglich. Er ließ sich nämlich von dem Ortsgeistlichen überzeugen, für den verhafteten Janko zu bürgen, sodaß jener freigelassen wurde. In biographischen Erörterungen zu Karl Emil Franzos findet man, daß er sich in der Zeit des verstärkten Antisemitismus in Europa für die Sache der Juden einzusetzen beginnt. Manfred Kühne nennt hier als Anfangsdatum die Judenverfolgungen im zaristischen Rußland im Jahre 1882, Jost Hermand das Jahr 189119. Das zeigt sich u. a. in seinem Eintritt in das Deutsche Zentralkomitee für die russischen Juden. Von einem anderen ideologischen Standpunkt aus behauptet der Verfasser der nazistischen Literaturgeschichte des Deutschtums im Auslands. K. Klein, daß Franzos in seinen letzten Lebensjahrzehnten seines Irrtums, als ein deutscher Schriftsteller gelten zu wollen, gewahr worden sei, was kaum stimmt. Recht hat aber Klein damit, daß sich Franzos zum Judentum zu bekennen begonnen hat 20 . Diesem verstärkten Bewußtsein der jüdischen Zugehörigkeit entspringen sowohl die Erzählung Leib Weihnachtskuchen und sein Kind als auch der auf Deutsch posthum veröffentlichte Roman Der Pojaz. Jost Hermand bemerkt mit Recht, wie gerade diese Erzählung die veränderte Einstellung des Schriftstellers zum Ostjudentum widerspiegelt: „Überhaupt liest sich diese Geschichte, mag auch der Schluß noch grausig sein, fast wie eine leise Entschuldigung dem alten, östlichen Judentum gegenüber. Franzos weist zwar selbst hier wiederholt auf diese allgemeine Rückständigkeit dergalizischen Zustände hin, betont jedoch zugleich die tiefe Weisheit dieser Menschen" 2 1 . Dies ist eine zutreffende Meinung. Zum ersten Mal macht Franzos in diesem Text einen orthodoxen Juden, der keine Wende zum Aufklärertum durchmacht, zur Leitgestalt, und zum ersten Mal zeigt er so viel Verständnis und Hochachtung für die Werte des traditionellen Judentums. Margarita Pazi bezeichnet diese Haltung von Franzos, die sich auch in seinem letzten Roman Der Pojaz bemerkbar macht, als „eine deutliche Veränderung des Schilderungs- und Reaktionsmusters", und zwar: „die ideologische und ästhetische Verurteilung der Orthodoxie wird von einerwachsenden Sensibilisierung des Autors für die Problematik der sozialen und emotionellen Konfliktsituationen entschärft, ein neues Verständnis für die komplexe Realität dieser Lebensformen kommt in den Vordergrund der Darstellung" 22 . Diese Erkenntnis entsteht unter dem Druck des in den Ländern deutscher Zunge immer größere Wellen schlagenden Antisemitismus. Davon zeugt u. a. die Rezeptionsgeschichte seines letzten und besten Romans Der Pojaz. Franzos hat diesen Roman bereits 1893 abgeschlossen. Schon mit der Publikation seiner Judith Trachtenberg hatte der Schriftsteller wegen der antisemitischen
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Stimmungen Probleme, sodaß er sie letzten Endes in seiner „Deutschen Dichtung" drucken ließ. DerPojaz wurde von der Revue „Vom Fels zum Meer" und dann auch von „Über Land und Meer" abgelehnt, weil die Redakteure Reaktionen des Publikums auf einen die Juden positiv darstellenden Roman aus diesem Milieu fürchteten. Der verbitterte Autor verkaufte daraufhin die Veröffentlichungsrechte in der englischen und russischen Sprache für zwei Jahre 23 (auf Russisch ist der Roman im Jahre 1895 u.d.T. Sender Glatteis erschienen). Erst Franzos' Witwe ist es 1905 gelungen, die deutsche Erstveröffentlichung zustandezubringen. Franzos nennt in seinem Vorwort Den Pojaz einen humoristischen Roman und verbindet die Tatsache, daß er zum ersten Mal diesen Ton anschlägt, mit seinem Alter, denn erst die Lebenserfahrung lehre das „Lächeln unter Tränen" (S. 6). Sein Blick auf das traditionsgesinnte Judentum ist jetzt milder, nachsichtiger geworden. Obwohl er nach wie vor Grundfehler dieses Milieus scharfer Kritik unterzieht, hat er jetzt gleichzeitig mehr Sinn für dessen positive Seiten. So bildet DerPojaz ein komplexes, farbenfreudiges Bild der galizischen Kleinstadtjuden. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich die Entwicklungslinie Senders Glatteis ab, dessen Streben nach der Betätigung seines schauspielerischen Talents die Handlungsführung des Werkes bestimmt. In seiner Geschichte schildert der Autor das Leben eines potentiellen Ghettoausreißers, eines jungen, aufgeweckten Menschen, der sich über diese Enge hinaussehnt, aber an der Gleichgültigkeit und Intoleranz zugrundegeht, bevor er seine Pläne verwirklichen kann. Seiner Sehnsucht nach der Welt wird sich der Protagonist des Romans bewußt, als er in Czernowitz zufällig einer Theateraufführung beiwohnt, die eine deutsche Wandertruppe veranstaltet. Er unterhält sich mit dem Direktor Nadler, einem assimilierten deutschen Juden, der in der Ahnung der außergewöhnlichen Begabung des Provinzlers ihn auf den Weg des autodidaktischen Studiums lenkt. Auf dieser Etappe schaltet der Verfasser in einigen Episoden das Thema der jüdisch-christlichen Nachbarschaft und der Beeinflussung des jungen Juden durch die europäische Kultur ein. Zuerst findet Sender einen Lehrer in einem ehemaligen Wiener Studenten, der in der Reaktionszeit nach 1848 als Strafe für seinen Anteil an der Revolution als Gemeiner ins Militärfuhrwesen eingezogen wurde 24 . Nach einiger Zeit wird jener als „Rebell" erschossen, und Sender ist wieder auf sich selbst angewiesen. Nun erfolgen heimliche Studien des Helden in einer ungeheizten und unbenutzten Bibliothek des Dominikanerklosters, die er deswegen benutzen kann, weil er den Pförtner, einen einfachen Ruthenen, mit Slibowitz regelmäßig schmiert. Auch das ist ein kleiner Beitrag zur Gestaltung der jüdisch-christlichen Nachbarschaft in Galizien. Die erste Lektüre, die dem Lernbegierigen in die Hände fällt und die ihn gewaltig beeindruckt, ist bezeichnenderweise Lessings Nathan der Weise. Für einige Zeit findet der Autodidakt einen verständnisvollen Lehrer in einem der Patres des Klosters, dem aus Schlesien strafversetzten alten gelehrten Mönch Pater Marianus. Diese Episodengestalt gibt in der dargestellten Struktur des Romans ein weiteres Beispiel dafür ab, daß der Wissensdurst und
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das uneigennützige Streben nach Idealen eine Basis der Mitarbeit und Freundschaft zwischen Jude und Christ bilden können. Solche Beispiele drücken das Anliegen der mitgeteilten Struktur aus, für die Überwindung der national-religiösen Vorurteile zu plädieren. Allerdings ist die Tatsache, daß in diesen Fällen (ähnlich wie in Schiller in Barnow) eben die deutsche Kultur und Sprache die Grundlage für solch eine Zusammenarbeit schafft, als ein Indikator für die Anschauungen des Franzos auch im Hinblick auf die jüdisch-christliche Nachbarschaft zu sehen. So erscheint der wegen der Erkrankung an Tuberkulose nicht realisierte Lebenstraum des Jungen, ein deutscher Schauspieler zu werden, als ein Ausdruck des Wunsches von Franzos nach der deutschen Assimilation der Ostjuden. Die Fabelgestaltung und vor allem der Handlungsausgang, der Tod des Zweiundzwanzigjährigen, weisen wohl darauf hin, daß der Verfasser die Verwirklichung seiner Konzeption in der galizischen Realität für nicht durchführbar hielt, sondern damit lediglich eine Utopie gestaltete. In Senders Streben, die provinzielle Enge zu durchbrechen und den Anschluß an die deutsche Kultur zu finden, spiegelt Franzos zugleich seinen eigenen geistigen Entwicklungsgang. Zwar haben ihm die unterschiedliche soziale Herkunft und die Familientradition der Aufklärung im Gegensatz zu seinem Helden ermöglicht, die Sehnsucht nach Bildung und Wissen zu befriedigen, jedoch kennt auch er die Hindernisse, die bei der Erfüllung dieses Traumes die kleinstädtische Umgebung zu schaffen pflegt. Auch er kennt, obwohl nicht in solchem Ausmaß wie der „Pojaz", die materielle Not, deren Überwindung die erste Voraussetzung des Erfolgs ist. Durch die persönliche Tonart und den autobiographischen Bezug bilden die erste (deutschsprachige) Novelle des Autors, Das Christusbild, und sein zuletzt veröffentlichter Text, der Roman Der Pojaz, eine Klammer, die das Werk von Karl Emil Franzos umschließt.
3.3. Der Blick von außen Unter dieser Bezeichnung werden die Beiträge zum Thema der jüdisch-christlichen Nachbarschaft zusammengefaßt, die von solchen Erzählern stammen, die entweder nicht aus Galizien kommen oder nicht der mosaischen Konfession angehören, oder aber weder die erste noch die zweite Voraussetzung erfüllen. Im Umkreis der Autoren, die sich darüber in ihrem Schaffen äußern, wurden drei solche Beispiele gefunden. Diese sind: Moritz Friedländer —Jude, aber kein Galizianer, Leopold von Sacher-Masoch — Christ (Katholik) und Galizianer, und schließlich Alfred Steuer — wahrscheinlich Christ und Nicht-Galizianer. Moritz Friedländer (1844?—1919) stammt laut Aussage der Sigilla Veri25 aus Bur St. Georgen, wurde in Wien zum Schüler des Oberrabbi Rappaport, fühlte aber zu liberal, um selbst Geistlicher zu werden. Er wirkte als Journalist, wurde 1875 Sekretär der Alliance Israélite Universelle in Wien, reiste in deren Auftrag nach Brody und vermochte die Millionärsfamilie des jüdischen Baron
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Hirsch zur Stiftung eines sehr beachtlichen Fonds für die galizischen Juden zu veranlassen. Er ist Verfasser zahlreicher Werke aus der Geschichte des Judentums und der Wechselbeziehungen zwischen der christlichen Kirche und dem Mosaismus, Mina Schiffmann, die Autorin der neben dem Beitrag im SemiKürschner einzigen der Verfasserin der vorliegenden Arbeit bekannten biographischen Notiz über ihn, schreibt: „Friedländer war kein Galizianer, sondern geborener Ungar, der dann als Religionslehrer in Wien wirkte. Er kennt Galizien nur von seinen längeren Reisen" 26 . Seine literarischen Beiträge stellen verständlicherweise nur ein Nebenprodukt seiner Tätigkeit als Volksaufklärer und Aktivist der Israelitischen Allianz dar. Friedländers Erzählungen weisen kaum einen künstlerischen Charakter auf, vielmehr sind es pragmatisch ausgerichtete, didaktisch gefärbte Darstellungen von einer trockenen Ausdrucksweise. Auf Galizien beziehen sich zwei Texte: die nur mit den Buchstaben F. v. St.G. signierte Broschüre Vom Cheder zur Werkstätte. Eine Erzählung aus dem Leben der Juden in Galizien ( 1885) und das unter dem Pseudonym Marek Firkowicz herausgegebene Triptychon Die drei Belfer. Culturbilder aus Galizien (1894). Die beiden Büchlein erscheinen als von dem Wunschdenken des Verfassers abgeleitete Werbetexte an die jungen Juden Galiziens, die sie auffordern, sich nicht im Ghetto freiwillig von der Welt abzusperren, sondern Mut zu fassen, mit den traditionellen Bildungs-, Berufs- und Lebensmustern zu brechen und einen Platz in der Gesellschaft für sich zu finden, wo man seine Kräfte und Anlagen am sinnvollsten einsetzen könnte. Durch diesen Ausbruch aus dem Ghetto muß es zu einer Berührung zwischen den Figuren seiner jüdischen Helden und der christlichen Umgebung kommen. In der erstgenannten Erzählung, die im Einvernehmen mit ihrem Titel den Weg eines galizischen Juden aus einer typischen chassidischen Familie vom Cheder in die Handwerkstätte zeigt, wird diese Nachbarschaft kaum zum Ausdruck gebracht. Es scheint, als ob der Protagonist vorwiegend mit den assimilierten Juden verkehrte und bei ihnen Hilfe fände. Die zweite Erzählung ist für uns ergiebiger, da sie vielfältige Verbindungen zwischen den drei Titelgestalten und dem christlichen Milieu herstellt. Die Skala der Berufsmöglichkeiten, die der Autor in Die drei Belfer seinen galizischen Glaubensgenossen anbietet, stellt sich in der dreifachen Lösung dar, die die von ihm angeregte Baron-Hirsch-Stiftung auf ihre Fahne geschrieben hat: Schule, Handwerk, Ackerbau. Die Erzählung hat die Form einer Rahmengeschichte, deren Binnengeschichte ein kleines Triptychon, den drei Titelgestalten gewidmet, darstellt. Den Rahmen bildet eine Zusammenkunft der drei Freunde in Tarnopol im Jahre 1893, dreißig Jahre nach der Trennung ihrer Lebenswege. Die Binnenhandlung setzt in der gleichen Lebensphase der Gestalten wie in Vom Cheder zur Werkstätte ein: Die Jungen sind gerade dem Cheder entwachsen, haben ihn „mit verkrüppelten Gliedern", wie es der Erzähler immer wieder metaphorisch bezeichnet, verlassen. Und da sie somit nichts können und von den Familienverhältnissen her auf sich selbst gestellt sind, ist die einzige Laufbahn, die
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ihnen im Jahre 1862/63 nach der Auffassung des Autors in Galizien offen steht, der mühsame Weg eines Beifers, eines Lehrergehilfen im Cheder. Alle drei finden Anstellung in verschiedenen Ortschaften, kommen aber nach wie vor zusammen, um Erfahrungen auszutauschen. Nun beginnt die Geschichte der autodidaktischen Bemühungen der drei. Der am meisten aufgeweckte von ihnen, Chaskele, begegnet nämlich einem Christen, der sich seiner annimmt, einem humanen, gelehrten Ortspfarrer schwäbischen Herkunft, der mit Chaskeles Arbeitgeber, einem jüdischen Gutspächter auf freundschaftlichem Fuße verkehrt. Diese Freundschaft zwischen einem fanatischen Chassiden und einem christlichen Geistlichen wächst im gemeinsamen Interesse am hebräischen Bibel- und Talmudstudium heran. Sie ist eines der vielen Elemente der dargestellten Struktur dieses Textes, die das Ziel der mitgeteilten Struktur ausdrücken, den jüdischen Lesern die Hoffnung einzuflößen, daß eine gute Nachbarschaft zwischen ihnen und ihren christlichen Mitbürgern möglich sei. Ohne den kleinen Belfer bekehren zu wollen, bringt ihm der Pfarrer das „deutsche" Alphabet und die Anfangsschulkenntnisse bei und weckt auf diese Weise seinen Wissenshunger. Die innere Wandlung spiegelt sich im äußeren Bild des Jungen wieder. Chaskele beginnt sich regelmäßig zu waschen und Wert auf saubere Kleidung zu legen, was verdächtig auffallt. Seine Entdeckungen teilt er seinen Freunden mit, und so beginnen alle drei heimlich autodidaktische Studien zu betreiben und durch Briefwechsel einander zu fördern. Leider kommt man in einigen Monaten ihrem Treiben auf die Spur, weil die Empörung, daß sich der unvorsichtige Chaskele am Sabbath mit Seife wäscht, die Frommen zu einer Hausdurchsuchung in seiner Kammer verleitet. Man findet geschriebenes Material und beauftragt den Dorfrichter und den einzigen Deutschkundigen im Ort, den Schulleiter, die Sache zu untersuchen. Damit wurde das chassidische Milieu in Galizien eindringlich charakterisiert. Als ein interessantes Zwischenmotiv taucht die Episode mit dem Januaraufstand auf, die auf die typische Haltung Österreichs zu dieser polnischen Bewegung hinweist. Wegen des im Königreich Polen andauernden Aufstandes sind nämlich galizische Behörden, die sonst laut Bericht des auktorialen Erzählers wie im Schlaf zu arbeiten pflegen, auf der Hut, sich kein politisch verdächtiges Element entgehen zu lassen. Und da man im Geschreibsel der Jungen Phrasen über den unerträglichen Druck, den es abzuschütteln gilt, und ähnliche, die sich auf ihr aufklärerisches Streben beziehen, findet, verdächtigt man die kleinen Belfer des Hochverrats und der Geheimbündelei. Die Behörden erlassen Steckbriefe nach den zur rechten Zeit Entflohenen. Schließlich werden die Jungen doch erwischt, aber auf eine wunderbare Weise von polnischen Insurgenten befreit, die Expeditionen über die Grenze zu unternehmen pflegten, „um sich bei ihren galizischen Connationalen, welche ebenso heimlich als opferwillig die Sache des Aufstandes förderten, Waffen und Munition zu holen und sich über alles Wissenswerthe orientieren zu lassen" (S. 38 f)· Die Handlungsfuhrung dieser Episode wirkt unwahrscheinlich, was man übrigens über
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den ganzen Verlauf der Geschichte, in der alles zugunsten der Helden ausschlägt, sagen kann. Aber die Bezeugung einer lebhaften Teilnahme der galizischen Polen an der Erhebung gegen Rußland im Text eines deutschsprachigen Schriftstellers (ähnlich wie in Wladislaw und Wladislawa von Franzos) ist für den historisch interessierten Leser von Bedeutung. Die wunderbar Geretteten trennen sich, um nach dem Vorschlag Chaskeles für die Zeit des bevorstehenden Versöhnungsfestes in drei Sitzen der galizischen Wunderrabbis, in Husiatyn, Czortkow und Buczacz unterzutauchen und dann eine neue Laufbahn, die ihren Wünschen nach Lernen und einer nützlichen Tätigkeit entsprechen würde, einzuschlagen. Gemäß dem propagandistischen Charakter der mitgeteilten Struktur stellt sich nach dreißig Jahren heraus, daß alle drei glänzende Karrieren gemacht haben. Bei Chaskele wiederholt sich fast genau das Muster, das in Vom Cheder zur Werkstätte vorkommt. Der Starke und Kluge wählt den Handwerkerberuf, er wird Schlosser und bringt es so weit, daß er zum Direktor und Miteigentümer einer großen Maschinenfabrik in Manchester wird. Es helfen ihm dabei der von den Chassidim als Aufgeklärter verpönte Schlosser Schloime und der Meister Lewicki in Stanislau. Das Neue im Vergleich zu Vom Cheder zur Werkstätte ist, daß jener Lewicki als ein Christ dargestellt wird, der durchaus nichts dagegen hat, begabten Judenjungen den Weg nach oben zu erleichtern. Dabei weist er eine vollständige Toleranz für ihre Religion auf und ist sogar bereit, solche jüdischen Bräuche zu akzeptieren, die seine Lehrlinge der Umgebung nicht entfremden. Der zweite der Freunde, der in der dargestellten Struktur für den Bereich des Ackerbaus steht, hat zu Anfang weniger Glück, weil er als Buchhaltergehilfe und dann Verwalter bei einem orthodoxen Juden untergebracht wird. Bei seinem Arbeitgeber wird er allerdings mit der Praxis der Landwirtschaft und der Tabakherstellung vertraut gemacht, was ihm später eine erfolgreiche Laufbahn in Übersee ermöglicht. Er entscheidet sich nämlich mit einer Gruppe ukrainischer Bauern für die Emigration nach Amerika. Dabei werden die Leser vor dem Unwesen verschiedener Agenten gewarnt, die die Landleute zur Auswanderung mit falschen Aussichten auf ein Dorado in Übersee anlocken. U m das Ziel der mitgeteilten Struktur zu realisieren, gestaltet der Autor die weitere Handlungsführung in diesem Teil des Textes so, daß der gescheite Junge nicht nur sich selbst, sondern auch seinen christlichen Landsleuten zu helfen weiß. Er bringt es zu einem Großfarmer und Tabakfabrikbesitzer in Milwaukee. Der letzte der Freunde, der intelligente, aber körperlich schwächliche Majer wird zum Gelehrten, zu einem Universitätsprofessor in Paris, einem weltberühmten Orientalisten. Auch ihm haben gute Leute, und zwar zwei Polen, ein Gymnasialprofessor aus Tarnow und ein Edelmann in Krakau geholfen, sich Wissen und Bildung zu erwerben. Der zufällig angetroffene Gymnasiallehrer glaubt in dem Jungen ein Opfer des polnischen Patriotismus zu sehen, obwohl jener nachdrücklich betont, daß ihre Verhaftung auf einem Mißverständnis beruhte. Der Pole hat offenbar keine Vorurteile gegen Juden, im Gegenteil, durch Mickiewiczs Gestaltung der Figur des Jankiel in Pan Tadeusz hat sich im Bewußt-
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sein des Polnischlehrers ein positiver Typ des das polnische Vaterland liebenden Juden geprägt. Diese Vorstellung ist symptomatisch für Friedländers Bewußtseinslage bezüglich der jüdisch-polnischen Nachbarschaft in Galizien. Der Lehrer ermöglicht dem Jungen die Gymnasialstudien in kürzerer Zeit zu absolvieren und befördert ihn weiter nach Krakau, von wo ihn sein Freund, ein großmütiger polnischer Edelmann nach Paris zum weiteren Studium schickt. Ein glänzender Aufstieg steht somit dem galizischen Majerle offen. Keiner der Freunde hat dabei vergessen, daß sie sich geschworen haben, ihren galizischen Glaubensgenossen zu helfen, sie aus dem Elend und dem geistigen Dünkel emporzuheben. Die beiden ökonomischen Potentaten stellen jüdische Flüchtlinge an und ermöglichen ihnen Lernen und Broterwerb, auch wirken sie in Wohltätigkeitsvereinen. Der Professor aber, in dieser Hinsicht offenbar das literarische porte-parole des Verfassers, hat als Mitglied der Israelitischen Allianz die Öffentlichkeit darauf aufmerksam gemacht, daß auch in Europa, und zwar in seiner Heimat, die Juden wegen ihrer Unwissenheit ein kümmerliches Dasein führen und kaum Schulen besuchen. So hat er sie angeregt, eine große Aktion zur Hebung des Bildungsniveaus der unteren jüdischen Schichten in Galizien einzuleiten. Nun schätzen die Freunde seine Tätigkeit als die zweckmäßigste ein und wollen sich ihr anschließen. Der ganze Appellcharakter des Werkes wird zum Schluß durch ein Zitat aus dem Neuen Testament 2 7 (auch dies ein Zeugnis der aufgeschlossenen Haltung des Autors) unterstrichen: „Die Ernte ist groß, und nur wenige sind der Arbeiter!" (S. 129). Daher erweist sich das Anliegen der mitgeteilten Struktur des Textes als ein doppeltes: Er wendet sich primär an die galizischen Juden, aber sekundär auch an die Westjuden, die zur Hilfe für ihre galizischen Glaubensgenossen aufgefordert werden. Moritz Friedländer ist ein typischer Maskil, der gegen die Chedererziehung auftritt und für die moderne Schule und die Beteiligung der Juden an produktiver Arbeit im Handwerk bzw. in der Industrie und Landwirtschaft wirbt. Er beachtet keine Hindernisse von außen, die den Zugang dazu erschweren würden. Das einzige Problem sieht er in der traditionellen, durch die historische Entwicklung geprägten Haltung der Juden, die sich von der christlichen Umgebung abschließen und nur veraltete, hergebrachte Verhaltensmuster anerkennen. Um diesem Festhalten an dem Herkömmlichen entgegenzuarbeiten, schreibt er seine Geschichten, die den jungen jüdischen Lesern Mut zum Neuerertum zusprechen. Er schreibt offenbar für jüdische Adressaten, aber natürlich können ihn nur solche Ostjuden lesen, die schon den ersten Schritt gewagt haben, die bereits deutsche Bücher weltlichen Inhalts lesen, also in denen dieser Wunsch nach Emanzipation schon früher wachgeworden ist. Er wirbt unter ihnen um Anhänger der unter dem galizischen Judentum bisher nicht anerkannten bzw. sozial niedrig angesehenen Berufe. Dabei bedient er sich allerdings eines sehr vereinfachenden Aufstiegsmusters etwa nach dem amerikanischen Rezept „Vom Liftboy zum Direktor", das die Schwierigkeiten beim Beschreiten dieses neuen Weges außer acht läßt und in einem naiven Le-
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ser die Überzeugung hervorrufen kann, der Lebenserfolg hänge nur von ihm selbst ab; die orthodoxe Umgebung werde sich mit seinem Entschluß abfinden und die Christen werden ihn mit offenen Armen aufnehmen. Die Darstellung der Hilfsbereitschaft christlicher Umgebung, durch den deutschen Pfarrer, den ukrainischen Handwerker in Stanislau und die beiden Polen in Westgalizien verkörpert, wirkt zwar rührend, aber man muß sie als einen Ausdruck der Wünsche des Verfassers betrachten. Sicher hat es im historischen Galizien auch solche Zeugnisse von Toleranz und Humanität gegeben, aber es handelt sich um keine typischen Situationen. Als eine bewußte Fiktionalisierung ist es kaum zu betrachten, weil das Wagnis, einen unerfahrenen Leser nur auf solche Haltungen einzustellen, die Wirksamkeit der pädagogischen Absicht der Texte vermindern mußte. Das pauschale, durch Wohlwollen und Hilfsbereitschaft den Juden gegenüber schmeichelnde Bild der christlichen Bevölkerung, das in der „Galizienliteratur" sonst kaum vorkommt, scheint auf die unzureichende Kenntnis der Zustände zurückzuführen zu sein. Diesen Eindruck bestätigt die Lektüre einer späteren Erzählung Friedländers, Der Freiwillige des Ghetto (1903), deren Handlung in einem böhmischen Kurort spielt. Friedländer beurteilt darin jene galizische Assimilationsströmung als ein wegen der Feindlichkeit der Christen mißlungenes Vorhaben. Der Protagonist der Erzählung, ein bejahrter Jude lehnt den Zionismus ab, weist jedoch nachdrücklich auf die „verschmähte Liebe" der galizischen Juden zu Polen als auf die Hauptwurzel der neuen Strömung hin 28 . Viel umfassender und differenzierter ist in bezug auf die uns interessierende Thematik das Schaffen von Sacher-Masoch, der unter den von der Literaturgeschichte erwähnten „Ghetto-Poeten" als der einzige, der weder durch Konfession noch durch Herkunft dem Judentum angehört 29 , eine Sonderstellung einnimmt. In dieser Hinsicht schildert er das Leben des galizischen „Shtetl" als ein Außenstehender, aber gleichzeitig ist er wie diese Menschen Galizianer und bekennt sich zur gemeinsamen Heimat mit ihnen. Seine Kenntnis des jüdischen Milieus in Galizien wurde von der älteren Forschung zur deutschen Ghettoliteratur meistens ziemlich hoch eingeschätzt. Sein Zeitgenosse Wilhelm Goldbaum äußert sich über seinen literarischen Beitrag zum Judenthema folgendermaßen: „(...) Sacher-Masoch ist zwischen Lemberg und Tschernowitz zuhause wie der enragirteste Chassid, der alljährlich fünfmal per pedes zum Rabbi von Sadagóra pilgert". Die Haltung Sacher-Masochs seinen jüdischen Landsleuten gegenüber charakterisiert Goldbaum in den Worten: „Sacher-Masoch tritt in das Ghetto hinein und sagt theilnahmsvoll: Ihr Armen, grämt Euch nicht; es gibt draußen Manche, die es weniger verdienen, als Ihr, Gottes Ebenbilder zu heißen und der Tag der Freiheit wird auch Euch dämmern" 30 . Dieses Urteil, dem sich auch die Verfasserin der vorliegenden Arbeit anschließt, haben dann über Sacher-Masoch als „Ghetto-Poeten" auch Gustav Karpeles und Mina Schiffmann geäußert 31 . Freilich gibt es Grenzen seiner Kompetenz in jüdischen Belangen, die er von außen her — als interessierter und sympathisierender Christ — wahrnimmt, wie es auch Grenzen in seiner Fä-
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higkeit gibt, sich in die Perspektive eines jüdischen Subjekts zu versetzen (wie es ζ. B. Der Judenraphael belegt). Sacher-Masoch hat das jüdische Milieu in zwei Genres porträtiert: liebevollverklärend in kurzen novellen- bzw. skizzenartigen „Ghettogeschichten", die er zu seinen Lebzeiten u. a. in den Sammlungen Judengeschichten (1878), Neue Judengeschichten (1881), Polnische Ghettogeschichten (1886), Jüdisches Leben in Wort und Bild (1891) und Polnische Judengeschichten (1896) veröffentlichte, und in längeren Erzählungen, die größere Problemkomplexe umfassen und als kleine Romane betrachtet werden können. Die wichtigsten Werke der zweitgenannten Gruppe sind Hasara Raba(\%ll), Derlluj und Der Juden-Raphael (beide 1882 erschienen). Die erstgenannte Gruppe, die in den meisten Fällen das interne Ghettoleben zum Ausdruck bringt und sich bei weitem nicht immer auf Galizien bezieht, wollen wir anhand nur eines für unsere Problematik bedeutenden Textes, Moses Goldfarb und sein Haus aus der Sammlung Judengeschichten von 1878 präsentieren. Von der zweiten gehören Derlluj und DerJuden-Raphael'm unseren Zusammenhang. Es sei noch bemerkt, daß Figuren jüdischer Herkunft zu wichtigen Nebengestalten auch in den übrigen „galizischen" Texten von Sacher-Masoch gehören und dort eine ziemlich differenzierte Bewertung erfahren, was die Glaubwürdigkeit seines Gesamtbildes des galizischen Judentums vergrößert. Unvergeßlich bleibt ζ. B. die positive Gestalt des der Familie Potocki ergebenen Faktors Moses Löwy in der Novelle Der Emissär. Dagegen spielt der Schenkwirt Isaak Mendel in Eine Galizische Geschichte. 1846 ah Handlanger und Denunziant beider Seiten zugleich eine fragwürdige Rolle. Diese differenzierte Einschätzung des galizischen Judentums gibt es auch in der Erzählung Der Kreisphysikus von Marie von Ebner-Eschenbach, die ebenfalls einen Beitrag zur Judenfrage in Galizien leistet 32 . Moses Goldfarb und sein Haus ist eine kleine Familienidylle, als Ich-Erzählung mit deutlichen autobiographischen Zügen gebaut. Sowohl die Gestaltung des erzählten Raumes als auch die Charakteristik der Hauptfigur erfolgen aus der Perspektive der Sehnsucht des Erzählers nach dem Lande seiner Kindheit. Im Mittelpunkt der dargestellten Struktur steht die Gestalt des Pächters einer Schenke an der Kaiserstraße nach Lemberg, die den Erzähler in seiner Kindheit stark angezogen habe. Eine zusätzliche Verbürgung für die Authentizität der Fiktion soll der Hinweis sein, daß die nach Jahren im Theater in Lemberg angetroffene Tochter des Moses den Erzähler auf seine Galizischen Geschichten anspricht. Von der geheimnisvollen Stätte von klein an fasziniert, versäumt der Erzähler nicht, zu betonen, wie ungerecht die Vorurteile der Christen gegen ihre jüdischen Mitbürger sind. Über den Schenker Goldfarb sagt er: „Einen Blutsauger nannte ihn Herr Raczinski, der Besitzer des Dorfes, von dem er die hinter der Schänke gelegene Branntwein-Brennerei gepachtet hatte, einen Blutsauger nannte ihn der unredliche Mandatar, der in einem verschossenen Sommer-Röcklein zu diesem Gutsbesitzer gekommen war und sich später zur allgemeinen Überraschung selbst ein Gut kaufte, einen Blutsauger nannte ihn der katholische Pfarrer des Dorfes und der Pastor der be-
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nachbarten deutschen Kolonie und es war dies der einzige Punkt, in dem diese beiden frommen Männer einig waren" (S. 31). Auf diese Weise veranschaulicht der Erzähler, daß die Vorurteile gegen die Juden oft deshalb entstanden und verbreitet wurden, weil die christliche Umgebung einen Sündenbock brauchte, der die Aufmerksamkeit von ihren eigenen Fehlern ablenkte. Der Intoleranz der christlichen Geistlichen wird die Handlung des alten Juden gegenübergestellt, der den jugendlichen Besucher nie zu bekehren trachtete; „während der Pastor mir jedesmal (...) von den Vorzügen seiner Kirche, römischem Götzendienst und evangelischer Einfachheit predigte. Die Juden haben vor allen Bekennem anderer Religionen den Vorzug, daß sie keine Proselyten zu machen suchen" (S. 34). Die Freundschaft mit dem ältesten Sohn Goldfarbs hatte dem Ich-Erzähler die Judenschenke geöffnet. Er bewunderte die schlichte Frömmigkeit der Eltern und die Liebe zwischen ihnen und den drei Kindern des Schenkers, Abraham, Benjamin und Esterka. Im Jahre 1857 besucht der Erzähler seine Heimat wieder und erfährt, was aus den Kindern geworden ist. Sie wurden vom Geiste der neuen Zeit angeweht, denn sie setzen die traditionelle Laufbahn der frommen Eltern nicht fort. Abraham ging freiwillig zum Militär und brachte es bis zum Feldwebel. Die schöne und etwas eitle Esterka ist zur Geliebten eines Grafen geworden. Der wißbegierige Benjamin lernt im Gymnasium, um danach Theaterkritiker und Dichter in Lemberg zu werden. Jedes der Geschwister sucht aber auf rührendste Weise, wie der Erzähler behauptet, jede Demonstration seiner Fortschrittlichkeit zu vermeiden, die den alten Vater kränken würde. Abraham ißt gerne Speck, aber nur heimlich. Ester könnte zur Frau des Grafen werden, aber sie verzichtet darauf, weil sie sich dazu taufen lassen müßte, und Benjamin läßt kein Wort verlauten, daß er sich in die weite Welt hinaussehnt. Diese Beweise kindlicher Liebe sind sehr unterschiedlichen Formats und zum Teil recht fragwürdig — man müßte ja fragen, ob es den alten „Täte" nicht gekränkt habe, daß einer seiner Söhne „Sellner" wurde und vielleicht auch, daß der andere Aufgeklärter wurde, und ganz besonders, daß seine Tochter mit einem christlichen Geliebten lebt! Jedes dieser Motive wurde in der gleichen Zeit für Franzos zum Startpunkt für eine tragische Erzählung. SacherMasoch sieht die neuen Strömungen der Zeit, die Sehnsucht der jungen Generation galizischer Juden nach einem neuen, freieren Leben, aber er entwertet schwerwiegende Probleme, indem er sie zum idyllischen Genrebild zurechtstutzt. Daher kann die Signalisierung des Dranges nach Emanzipation in diesem Text nur als ein Symptom, nicht aber als eine bewußte Intention der mitgeteilten Struktur aufgefaßt werden. Als das Anliegen, das der Verfasser übermitteln möchte, erweist sich die Aufforderung zur Überwindung der antisemitischen Vorurteile und die moralische Aufwertung der Juden durch das Bild der Familienliebe und Harmonie im Haus Goldfarbs. Auch andere Novelletten und Skizzen von Sacher-Masoch wie Abe Ν ahum Waßerkrug, Pintschew und Mintschew, Der Prostek, Der Dalles des roten Pfeffermann oder Mein Schneider Abrahame^ bezeugen, daß dieser Autor das Ghet-
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toleben im Schimmer einer poetischen Verklärung betrachtet. Er beschränkt sich darin auf die Schilderungen des jüdischen Milieus und geht von einem realistisch wirkenden Sachverhalt aus, den er dann in eine Idylle oder eine kleine Legende münden läßt. Er idealisiert darin das galizische Judentum, aber wie der Vergleich mit anderem zeitgenössischem Quellenmaterial beweist, hat diese Idealisierung eine reale Basis in den besten der typischen Eigenschaften des Milieus, in seiner Familienliebe, Solidarität den Glaubensgenossen gegenüber, seiner Gelehrsamkeit (verstanden als theologische Kompetenz) und seiner opferwilligen Hilfsbereitschaft. Diese verklärende Perspektivierung ist in bezug auf das Ziel des Schriftstellers, die Vorurteile seiner nichtjüdischen Leser zu bekämpfen und die Juden in ihren Augen aufzuwerten, durchaus begründet. Daß Sacher-Masoch sich nicht immer über die großen internen und aus den Beziehungen zur christlichen Umwelt sich ergebenden Probleme der Ostjuden hinwegsetzt, beweisen seine Judenromane, die dasselbe Milieu auf eine andere Weise zum Ausdruck bringen. Das Bild des galizischen Judentums in diesen Werken ist keineswegs so idealisierend wie in seinen kleinen Novellen. Am deutlichsten zeigt es der kleine Bildungs- und Entwicklungsroman Derlluj (in anderen Ausgaben Der Hau). „Der Iluj" bedeutet eine Leuchte und bezeichnet einen durch reiche intellektuelle Gaben ausgezeichneten Menschen, der den anderen Licht bringt34. Nur die erste Etappe der Entwicklung des Helden spielt sich im jüdischen Milieu ab. Der ganze Roman bringt ein sehr kritisches Bild des gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Lebens im vormärzlichen Österreich. Die Ausgangssituation bezieht sich auf das typische ostgalizische „Shtetl" und das Leben eines jungen, außerordentlich begabten Juden, den sein Vater zum Talmudgelehrten bestimmt hatte. Dies ist die höchste gesellschaftliche Position in den Augen der orthodoxen Juden. Solch ein Mann gilt bei der Umgebung als „Iluj", und jeder Jude wäre stolz darauf, ihm seine Tochter zur Frau geben zu dürfen. So wird der jugendliche Sabbathai Benaja rasch verheiratet und könnte ein glückliches, problemloses Leben in den traditionellen Bahnen führen. Da kommt die erste Wende in seinem Schicksal: Benaja lernt einen jungen Mann kennen, der als Hofmeister bei der Familie des Präsidenten angestellt ist. Dieser eitle, selbstsichere Höfling erschließt dem Juden zum Teil aus Langeweile zum Teil aus Spaß die Welt der profanen Kultur und Wissenschaft. Der junge Schriftgelehrte greift nach den Werken schöngeistiger Literatur. Die Erzählung betont es sehr stark, daß es die polnische Literatur ist, die er mit Begeisterung liest, und daß in ihm unter ihrem Einfluß ein polnisches Nationalbewußtsein aufkeimt. Von seiner Lektürenliste werden genannt — als das erste bahnbrechende Leseerlebnis Denkwürdigkeiten des Pan Severin Sopliza von Rzewuski, Malczewskis Maria und eine Reihe der Titel von Mickiewicz — Sonette aus der Krim, Faris, Dziady und besonders natürlich Pan Tadeusz35. Über das letztgenannte Werk wird berichtet: „(...) vor allem wühlte der Pan Tadeusz die Tiefen seiner Seele förmlich auf und zwar die Gestalt des Juden Jankiel,
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des glühenden Patrioten; eine Saite klang in seinem Herzen, die bisher nicht fähig schien, nur einen Ton von sich zu geben, u n d sie klang mit einem Male so voll, so schön, so rührend und mit Garcyñskis ,Waclaw' fühlte er ein V a t e r l a n d , er gedachte, daß er ein Pole sei" (S. 156 0 · Dies ist eine seltene Mitteilung eines deutschsprachigen Schriftstellers, daß es sogar vor 1848 im österreichisch verwalteten Galizien J u d e n gab, die sich zur polnischen Nationalität bekannten. Noch m e h r als von der Dichtung ist der exakte Geist Benajas von den Naturwissenschaften angetan. Er beginnt entsprechende Studien zu betreiben, die vor der U m g e b u n g geheimgehalten werden müssen, weil sie von den orthodoxen J u d e n als eine Entweihung des göttlichen N a m e n s aufgefaßt werden würden. Dieses Handlungsmodell kennt der Leser schon aus den Werken galizischer Schriftsteller jüdischer A b s t a m m u n g (Samuely, Franzos). So weiß man, was folgen muß: Bannfluch u n d entweder Vertreibung oder Flucht aus dem Ghetto. Sacher-Masoch bereichert diese Handlung u m ein Element, von dem deutsch-jüdische A u t o r e n kaum etwas verlauten lassen: Die Entdeckung von Benajas verbotenem Treiben wird von der jüdischen Geheimpolizei gemacht. Sie ist eine Art Inquisition, die überall herumspioniert, ob sich alle an die orthodoxen Vorschriften halten, und die dank ihrer Spitzel beinahe allwissend ist. Die Existenz solcher Institution, die u n g e m e i n jede selbständige Regung des Geistes in bezug auf profane Gegenstände erschweren mußte, wird von Simon D u b n o w in seiner grundlegenden Geschichte des Chassidismus (dt. 1931) bestätigt. Der weitere Teil der Handlung spielt sich in einer christlichen U m g e b u n g in der Landeshauptstadt ab. Benaja, schon früher zum geistigen Ausreißer aus dem G h e t t o geworden, m u ß jetzt als ein von den J u d e n Verstoßener sein Glück u n t e r den Christen versuchen. Das Zeugnis, das dabei von dem der katholischen Konfession a n g e h ö r e n d e n Schriftsteller seinen Glaubensgenossen vorgesetzt wird, ist ein niederschmetterndes; es bezieht sich allerdings keineswegs auf die christliche Gesamtbevölkerung Galiziens, sondern auf drei Kreise: die Schicht der h o h e n Staatsangestellten, das Jesuitentum und die Frauen aus den h ö h e r e n Schichten 3 6 . Benaja hat Pech, gerade unter diese Leute zu geraten. Zuerst macht er eine Blitzkarriere. Er ist eine Modeerscheinung geworden, Frauen und Jesuiten reißen sich u m ihn. In die schöne Isabella verliebt, läßt er sich taufen, was ihm gleichzeitig die Laufbahn des Universitätsgelehrten eröffnet. Er wird Dozent, soll einen Lehrstuhl b e k o m m e n . N u n k o m m t die jähe W e n d e . Dabei ist zu betonen, daß die weiteren Schwierigkeiten u n d das Martyrium, die seinen weiteren Lebensweg zeichnen, nicht in seiner jüdischen Abstammung, sondern im Forschungsdrang des Wissenschaftlers ihren G r u n d haben und in d e m moralischen Imperativ des Lehrers, der ihm befiehlt, die ihm zugängliche Wahrheit zu verbreiten. Da dieser weitere Handlungsverl a u f f ü r die Judenfrage irrelevant ist, sei er hier in drei Sätzen rekapituliert: Der nächste Schritt Benajas ist die A b w e n d u n g von der christlichen Religion, weil ihn seine Forschungen dem Darwinismus nahegebracht haben. N u n hat er es
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sich mit den beiden f ü h r e n d e n Kräften verdorben, dem politischen Metternichregime und der Kirche. Der Neid der Kollegen tut das übrige; der Gelehrte wird durch die Bosheit seiner Frau und eine Jesuitenverschwörung in eine Irrenanstalt eingeliefert, wo Mißhandlungen ihn zu einem geistig u n d physisch gebrochenen M e n s c h e n machen. Dieser Ausschnitt der dargestellten Struktur bedient sich nicht m e h r der realistischen Gestaltungsmittel, sondern wurde in A n l e h n u n g an das Modell des Schauerromans geschaffen. Interessant ist der Schlußteil — die Schilderung der Revolution 1848 in Lemberg, die Benaja aus seinem Gefängnis befreit. Der auktoriale Erzähler stellt im Hinblick auf diese historische Situation eine allgemeine Verbrüderung der Angehörigen verschiedener Nationalitäten und Gesellschaftsklassen fest: „Auch hier dachte zuerst niemand an seine Nation, seinen Stand; brüderlich zogen Studenten und Edelleute, J u d e n und Christen, Polen, Kleinrussen u n d Deutsche durch die Straßen" (S. 276). N a c h d e m der Erzähler zuerst das Versagen des jüdischen, dann des christlichen Milieus in bezug auf Benaja dargestellt hat, der ja mit seinen intellektuellen Kräften seinen Mitbürgern eine Leuchte sein sollte, zeigt er die H o f f n u n g auf eine freiere, bessere M e n s c h e n g e m e i n schaft. Diese H o f f n u n g wurzelt in der konkreten historischen Situation des „Völkerfrühlings" 3 7 . Aber die Revolution wird niedergeschlagen. Benaja beteiligt sich z u s a m m e n mit anderen Polen noch an d e m ungarischen Aufstand und fallt im Kampfe als ein polnischer Patriot. V o m nationalen Standpunkt aus hat sich also die Assimilation als eine dauerhafte erwiesen. Aber weder die traditionell gesinnten „dunklen" J u d e n im ostgalizischen Städtchen noch die „aufgeklärten" Christen in der Großstadt haben es vermocht, den Andersdenkenden zu akzeptieren u n d von seiner Begabung zu profitieren. N e b e n den beiden G r u p p e n der Bevölkerung Galiziens wird das vormärzliche Österreich zur Zielscheibe der Kritik in diesem Roman. Diese Kritik erfolgt aus d e m Standpunkt eines Anhängers des Liberalismus und einer demokratischen Gesellschaftsordnung, und sie wendet sich nicht so sehr gegen das historische P h ä n o m e n des Metternichschen Systems als vielmehr gegen die herkömmliche europäische Gesellschaft schlechthin, in der die Menschen, die d e m herrschenden sozialen Verhaltensmuster nicht genügen, unterdrückt werden. Das andere größere Werk Sacher-Masochs, in dem die Begegnung zwischen galizischen Juden und Christen thematisiert wird, wobei beide Seiten ziemlich kritisch behandelt werden, ist Der Juden-Raphael. Die dargestellte Struktur erinnert auf der Handlungsebene an die Liebesgeschichten von Franzos, vielleicht besonders stark an die (vierzehn Jahre später entstandene) Erzählung Leib Weihnachtskuchen und sein Kind. Die zwei ethnisch-religiösen G r u p p e n , die dabei aufeinander prallen, sind im Text Sacher-Masochs Juden u n d Ukrainer. Die Ukrainer werden diesmal, ziemlich untypisch für die deutschsprachige „Galizienliteratur" der Zeit, durch die d ü n n e soziale Schicht der „Intelligenzler" vertreten. U m den Titelhelden, einen begabten, aber notleidenden j u n g e n Maler Plutin schart sich ein Freundeskreis: ein verabschiedeter Offizier, ein verkrachter Jusstudent u n d Winkelschreiber, ein j u n g e r Dichter, ein
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Kirchensänger. Alle diese jungen Menschen, die überdies unterschiedlicher sozialer Herkunft sind (Söhne von Bauern, Bürgern und Kleinadligen), vergeuden ihre Zeit und Begabung, indem sie ihre Phantasie in abgeschmackten Streichen, deren Opfer die Juden des Ortes sind, sich austoben lassen. Die Schilderung dieser Witze, die die vielzitierte Ängstlichkeit jüdischer Bevölkerung mißbrauchen und sich angeblich gegen den Aberglauben der Juden, im Grunde aber auch gegen ihre religiösen Gesetze richten, nimmt in der Geschichte einen breiten Raum ein. Es handelt sich eigentlich um keinen Judenhaß, sondern vielmehr um die alberne Gedankenlosigkeit der goldenen Jugend, die die angestammte Judenverachtung als selbstverständlich übernimmt. In diesem Bild werden typische Züge eines gemäßigten Antisemitismus festgehalten. Nur bei dem Haupthelden entwickelt sich diese Einstellung zum Judenhaß, und zwar auf Grund eines negativen Erlebnisses, das er als Porträtmaler mit einer Familie jüdischer Neureicher hatte. Gesellschaftlich betrachtet läßt sich diese antijüdische Haltung der jungen Männer als ein Indikator für das soziale Scheitern der gebildeten bzw. halbgebildeten Jugend auffassen, die keine sinnvolle Betätigung finden kann. Deshalb rächen sie ihr soziales Scheitern, ihre Arbeitslosigkeit und Enttäuschung in ihren Berufswünschen nach der Theorie des Sündenbocks an den Juden, die sich nicht wehren können. So kommt Plutin verkleidet mit seinen Freunden zum Purim, dem jüdischen Fastnachtsfest, um dort seine d u m m e n Späße zu treiben. Er verliebt sich dort in die schöne Jüdin Hadaßka, die sich vornimmt, ihn von seinem Vorurteil gegen die Juden abzubringen. Die Liebesgeschichte wird ziemlich klischeehaft gebaut. Dieser Teil der dargestellten Struktur dient jedoch vornehmlich dazu, die Meinungen des Verfassers über die soziale Position der Juden zum Ausdruck zu bringen. Dieses Anliegen der mitgeteilten Struktur realisiert in der dargestellten Struktur des Textes Hadaßka. Als Sprachrohr des Autors erklärt sie Plutin, die schlechten Eigenschaften der Juden rührten daher, daß man diese seit Jahrhunderten gezwungen hätte, sich auf den Handel zu beschränken: „Wenn aber diese Fehler eines Handelsvolkes den jüdischen Charakter ausmachen, wie kommt es dazu, daß die Karaiten dieselben nicht an sich haben? Und diese sind vielleicht die echtesten Juden, weil sie sich nur an das mosaische Gesetz halten". Den Kern der mitgeteilten Struktur enthält die Feststellung des Mädchens: „Je mehr man die Juden ausstößt, je länger man ihnen die Rechte vorenthält, welche die Christen haben, um so später werden sie jene Eigenschaften ablegen, die Vielen so verächtlich und gefährlich erscheinen" (S. 84). Die Bekehrung Plutins, den die Geliebte angeblich überzeugt hat, bleibt allerdings für den Leser wenig glaubwürdig, weil es den Maler daran nicht hindert, an neuen Streichen gegen die Juden des Städtchens teilzunehmen. Das Liebesidyll ist von kurzer Dauer. Das Mädchen wird von den Eltern gezwungen, einen Juden zu heiraten, den Goi darf sie nicht Wiedersehen. Sie gehorcht, und zwar nicht aus Liebe zu ihren Eltern, sondern weil sie Angst vor deren Fluch hat. Der christliche Liebhaber reagiert ganz in der Konvention sei-
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ner bisherigen „Judenspäße". Zuerst will er sich mit seinem jüdischen Konkurrenten schießen, und als jener es vernünftig ablehnt, schneidet ihm der Maler zur Strafe Schmachtlöckchen ab. Während der Hochzeit dringt Plutin in das Haus Hadaßkas ein, nimmt sie zum Tanz (was bei orthodoxen Juden als Sünde gilt 38 ), und seine Geliebte fallt tot um. Daraufhin begibt sich Plutin in eine Waldeinöde und beendet nach einigen Monaten sein mißglücktes Leben. Diese Endpassagen weichen von der realistischen Konvention ab. Ihre Intention läßt sich wohl als die Überzeugung von der Unmöglichkeit, die Kluft zwischen Jude und Christ in der damaligen Wirklichkeit Galiziens zu überbrücken, entschlüsseln. Als ein wahrscheinlich nicht intendiertes Zeichen (d. h. als Symptom) wirkt der Tod Plutins wie ein Hinweis auf die Sinnlosigkeit solches Lebens, wie es seine soziale Gruppe führte. Die Geschichte ist seichter als die Erzählung von Franzos; es fehlt ihr der tiefere psychologische Unterbau. Aber als ein Beitrag zur jüdisch-christlichen Nachbarschaft in Galizien ist sie sehr aufschlußreich. Der Erzähler hebt die Schuld der Eltern Hadaßkas an ihrem Tode hervor, weil sie sie zu einer Ehe mit einem Partner, den sie nicht liebte, zwangen und von ihrer Ehe zum mittellosen Ukrainer nichts wissen wollten. Auf diese Weise beurteilt der Autor die Vorkommnisse aus dem Blickwinkel eines Christen. Er relativiert diese Perspektivierung nicht, obwohl sie viele Zweifel aufkommen läßt. Denn, selbst wenn das religiöse Gesetz den Eltern des Mädchens solche Entscheidung nicht verbieten und die Rücksicht auf die materielle Sicherung der Zukunft Hadaßkas sie davon nicht abhalten würde, konnten sie ihre Tochter einem Mann geben, der sich derart gehässig und verächtlich den Juden gegenüber verhielt? Das geschilderte Verhalten der ukrainischen Jugend, und zwar einer sozialen Schicht, die die geistige Elite ihres Volkes sein sollte, zu jüdischen Mitbürgern ruft die Empörung des Lesers heraus, was offensichtlich der Zielsetzung des Autors entspricht. Gleichzeitig läßt sich diese Haltung als ein Indikatior für das gesellschaftliche Scheitern der Figuren, dessen Folge und Ausdruck sie ist, betrachten. Der dritte der „Judenromane", Hasara Raba, gibt ein umfassendes Bild des jüdischen Milieus in der galizischen Provinz, ohne daß die Begegnung mit den christlichen Mitbürgern eine wichtige Rolle spielt. Die Figuren des Magnaten Kalinoski, der aus dem kecken Juden Baruch sein Faktotum macht und ihn negativ beeinflußt, und der Familie Polawski, bei der dessen Frau Chajke als „Faktorka" beschäftigt wird, sind zwar wesentliche Bestandteile des Fabelgefüges, aber stimuliert wird die Handlung durch Entscheidungen und Taten der Juden. Die mitgeteilte Struktur zielt auf die Kritik der internen Ghetto-Zustände ab, und zwar rechnet sie mit der religiösen Engstirnigkeit der Orthodoxen ab. Es wird gezeigt, wie grausam unbarmherzig diese Menschen sein können, wenn sich jemand an ihre Verhaltensmuster nicht hält, und zwar trifft es nicht nur den Ausreißer, sondern auch dessen unschuldige Familie. Im Mittelpunkt des Romans stehen zwei Gestalten — der ziemlich kritisch behandelte Freigeist Baruch und seine tüchtige Frau Chajke, die als eine Leitgestalt für die mitge-
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teilte Struktur des Textes von größter Bedeutung ist. Die Handlungsführung des Romans beweist, daß Sacher-Masoch das nicht-assimilierte, an der Religion und den alten Sitten hängende O s t j u d e n t u m bevorzugt. Im Gegensatz zu den Werken der besprochenen jüdischen Autoren, die Ghettoausreißer immer als positive Gestalten u n d Kämpfer u m Aufklärung und Licht zeigen, macht Sacher-Masoch seinen Fortschrittler zu einem Trinker, Spieler und Frauenhelden, der die Judenemanzipation offenbar nur als eine Emanzipation des Fleisches versteht. Dagegen steht dessen Frau Chajke für die unveränderbaren Werte der Familienliebe und Gottesergebenheit, die den Autor offenbar stark ansprechen. Als das Maß ihrer Leiden voll ist, läßt der Verfasser ein W u n d e r für die kleine Dulderin geschehen. Der Prophet Elias verteidigt sie vor der Gemeinde, die sie steinigen wollte, und ihr Mann kommt als reicher und f r o m m e r Pilger aus Jerusalem zurück. So hat der freisinnige Baruch zur Religion u n d Tradition zurückgefunden. In diesem Schlußteil wurde die realistische Gestaltungsweise zugunsten der mythologisierenden aufgegeben. Man findet hier dieselbe T e n d e n z zur Mythisierung der Stoffe aus dem Umkreis des Ostjudentums und die gleiche Sympathie für die kleinen in traditionellen Bahnen lebenden Leute aus dem galizischen „Shtetl" wie bei dem jüngeren und begabteren Landsmann Sacher-Masochs, Joseph Roth. Wir haben diesen Roman von Sacher-Masoch am Rande berücksichtigt, obwohl er über unseren Z u s a m m e n hang hinausragt, u m ein Gesamtbild der Haltung dieses Autors in bezug auf die Judenfrage in Galizien zu gewinnen. Die Betrachtung seiner wichtigsten Werke aus diesem Stoffkreis zeigt nämlich, daß dieser Schriftsteller die akuten Probleme des jüdischen Milieus durchaus bemerkte u n d sie in seinen Romanen zum Ausdruck brachte. W e n n er sie aber in seinen idyllischen Novelletten dem Gesichtskreis des Lesers entzog oder wie im Schlußteil der Hasara Raba auf eine der Konvention der biblischen Erzählung entspringende Weise löste, machte er eine Verklärung des jüdischen Milieus bewußt, u m es in den Augen der christlichen Leser aufzuwerten. Man kann es im Anschluß an G o l d b a u m auch als eine Bestrebung des Schriftstellers betrachten, durch das Quäntchen Idealisierung den jüdischen Mitbürgern eine ausgleichende Gerechtigkeit zu verschaffen. Der dritte der in diesem Unterkapitel zu berücksichtigenden Autoren, Alfred Steuer, steht außerhalb des galizischen J u d e n t u m s sowohl durch seine A b s t a m m u n g als auch (wahrscheinlich) durch seine Konfession. Der 1869 in Alexanderfeld im Österreichisch-Schlesien geborene Steuer war nicht Berufsschriftsteller, sondern Arzt, der nach der Erlangung des Doktorgrades seine Praxis in Galizien — zuerst in Krakau und dann in Biala — aufnahm. Spärliche biographische Angaben 3 9 besagen nichts über seine national-konfessionelle Zugehörigkeit. A n h a n d der in seinem Buche enthaltenen Urteile u n d Einstellungen ist es wahrscheinlich, daß wir es mit einem Deutschösterreicher christlichen Glaubens zu tun haben. Sein nach den Angaben der Lexika einziges literarisches Werk bilden die künstlerisch u n b e h o l f e n e n , aber durch die bloße Mitteilung der schrecklichen Sachverhalte erschütternden Galizische(n) Ghet-
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togeschichten und Bilder (\%9\). Steuer ist einer der wenigen Verfasser aus dem Umkreis unserer Interessen, der Westgalizien kennt und folglich einen Teil seiner Ghettogeschichten dort, und genauer gesagt in der Krakauer Judenstadt Kazimierz ansiedelt. Zur Aufzeichnung seiner Beobachtungen veranlaßte ihn die katastrophale materielle, hygienische und kulturelle Lage der galizischen Juden, mit der er täglich konfrontiert wurde, erklärt er in seinem Vorwort. Steuer nennt dort die Wahrheit als sein Hauptanliegen, d. h. er verkündet seine Absicht, nur wirklichkeitsgetreue Schilderungen zu liefern, die sowohl als Einzelfall als auch in der Verallgemeinerung mit der Realität übereinstimmen sollen. Dagegen behauptet er keinen Anspruch auf eine künstlerische Geltung zu erheben. Man dürfte zwar die Frage stellen, warum er seine Stoffe trotzdem in belletristischer Form gestaltet hat, aber vielleicht hat er gerade von den Mitteln der Fiktionalisierung eine stärkere Wirkung erwartet. Stilistisch paßt er sich den Zeitströmungen an, denn anstatt der zu erwartenden und von ihm proklamierten realistischen Gestaltungsweise begegnen wir in seiner Prosa zum Teil den extreme Farben wählenden naturalistischen Beschreibungen, zum Teil den etwas verschwommenen impressionistischen Bildern. Auf das Ghetto des Kazimierz beziehen sich fünf Erzählungen bzw. „Kulturbilder": Simson, Frau Barkochba, Das Haus zum Berge Zion, Die Grenzen der Menschheit sowie Die Josephsgasse — eine Fundgrube des Wissens um das Krakauer Judenmilieu am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Von Belang für die Problematik der jüdischchristlichen Nachbarschaft in Galizien sind die zwei erstgenannten Erzählungen, auf die es im folgenden eingegangen werden soll. Die Handlung der übrigen Erzählungen (Der Rabbi von Mieroslaw, Die Jagd nach dem Glück, Fahrende Leute und Eine Heimkehr) spielt hauptsächlich in der ostgalizischen Provinz, und sie stellen meistens eine Kombination herkömmlicher Motive aus dem jüdischen Stoffkreis dar. Die Handlung der Novelle Simson entspringt der Tatsache einer dichten Nachbarschaft des orthodoxen Kazimierz-Ghetto und des katholischen Krakau mit seinen Kirchen und christlichen Praktiken. Die Hauptgestalten der Geschichte sind ein buckeliger Judenjunge von großer Sensibilität und bildnerisch-künstlerischer Begabung und dessen alter Vater, eine der vielen Figuren des zärtlichen Vaters in der Uberlieferung der Literatur über die galizischen Juden. Der gebrechliche Greis strengt alle seine Kräfte an, um dem geliebten Sohn das Existenzminimum zu sichern. Während der Vater bis spätnachts arbeitet, hat der Junge Muße, um in Krakau herumzustreifen. Von der christlichen Bildsymbolik und von der sakralen Kunst der alten Königsstadt angetan, beginnt er nach ihrem Vorbild Zeichnungen zu entwerfen und Figuren zu schnitzen. Nach dem überwältigenden Erlebnis des Inneren der Marienkirche während einer Chorprobe macht sich der Junge daran, eine Figur Christi zu schnitzen und beginnt sie sogar anzubeten. Als die Umgebung dieses in den Augen der Juden doppelt sündigen Treibens 4 0 gewahr wird, will die Menge den Lästerer holen. Als Erster erreicht ihn sein Vater, und bei dem Versuch, die verhaßte Bildsäule zu zerschmettern, trifft er in der Wut seinen Sohn und
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bringt auf diese Weise den heißgeliebten Einzigen um. Die Zielsetzung dieses Textes ist die Anklage des Fanatismus u n d der geistigen Enge der orthodoxen Juden. Der Junge folgte in seinem T u n seiner ästhetischen Empfänglichkeit und Begabung. Die U m g e b u n g kann sich seine Motive nur als religionsbezogene und darum als lasterhafte erklären. Aus der Unwissenheit, der religiösen Unduldsamkeit u n d dem Haß gegen alles Christliche erfolgte die Tragödie. Die intendierte Schockwirkung des Textes wird durch solche Gestaltung der dargestellten Struktur verstärkt, daß der Junge von seinem eigenen Vater getötet wurde, einem f r o m m e n , sanftmütigen Menschen, der seinen Sohn über alles liebte. In Frau Barkochba wird der nationale Aspekt polnisch-jüdischer Nachbarschaft in Galizien behandelt. Die Probleme, die daraus entstehen, werden am Beispiel einer Extremsituation, und zwar des Anteiles der polnischen Juden am Januaraufstand, erörtert. Im Hintergrund steht das Problem der Engstirnigkeit u n d Intoleranz orthodoxer J u d e n Galiziens A n d e r s d e n k e n d e n gegenüber. In diesem Fall handelt es sich u m die Titelgestalt, eine deutsche Jüdin, die nach Galizien heiratet u n d wegen ihrer „Freisinnigkeit" und der Fremdartigkeit ihrer Sitten von den Glaubensgenossen gehässig betrachtet wird. Im Mittelpunkt steht allerdings die Frage, ob die Polen ihre jüdischen Mitbürger, und zwar die Jugend, zum Kampf u m Polens Freiheit auffordern durften. Der Standpunkt des Verfassers ist dabei ganz eindeutig. Er drückt ihn sowohl in den Aussagen der Frau, die im Januaraufstand die beiden Söhne verloren hat (daher der Schimpfname „Barkochba", mit d e m sie die Gassenjungen verhöhnen) als auch durch die K o m m e n t a r e des Ich-Erzählers aus. Er meint, die Polen hätten schon dadurch einen schweren Fehler begangen, daß sie in der damaligen Lage, die keine Chancen des Sieges bot, ihre eigene Jugend geopfert hätten. Die J u d e n hätten sie aber immer von sich gestoßen, nie als Polen betrachtet. So wäre es ein unentschuldbares Verbrechen, die jüdische Jugend in den Kampf hinzureißen, zum Teil den diesem Alter eigenen Enthusiasmus ausnutzend, zum Teil die Unwilligen mit D r o h u n g e n u n d S c h m ä h u n g e n zwingend. Diesen Standpunkt teilen auch andere deutschsprachige Verfasser, die dasselbe T h e m a mittels einer im Königreich Polen angesiedelten Fabel darstellen, u n d zwar Herzberg-Fränkel und Samuely 4 1 . Diese Stellungnahme zeugt als ein Symptom davon, von welchen H e m m u n g e n die polnische Assimilation der Juden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begleitet wurde. Das oben angeführte Urteil deutschsprachiger Schriftsteller erfolgte natürlich aus einer einseitigen nationalen Perspektivierung der Autoren. V o m polnischen Standpunkt aus faßt man es zwangsläufig als ein ungerechtes auf. Aber schon sein dreimaliges V o r k o m m e n innerhalb unseres Forschungsfeldes zeugt davon, daß ihm ein wirklicher Sachverhalt zugrundelag. Die Mittel der Fiktion haben es nur ermöglicht, mit Hilfe der Übertreibung und künstlerischen Zuspitzung die dargestellte Struktur der Texte so zu gestalten, daß diese aus d e m nichtpolnischen nationalen Blickwinkel durchgeführte Kritik veranschaulicht wurde u n d deutlicher z u m Ausdruck kam.
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Das Bild des jüdischen Lebens in Galizien und der Koexistenz zwischen Christen und J u d e n im Werk von Steuer stimmt in den G r u n d z ü g e n mit dem anderer Schriftsteller überein. N u r verraten einige Texte eine radikalere soziale Sicht als bei den früher besprochenen Autoren. So bringt ζ. B. Die Josephsgasse, ein dynamischer Querschnitt durch das Leben einer typischen Straße des Krakauer G h e t t o zu Ausgang des 19. Jahrhunderts, u. a. die Anfänge der kapitalistischen Entwicklung in Galizien zum Vorschein. Die Erzählung Eine Heimkehr entlarvt den Amerikamythos, der arme Juden zur Auswanderung verlockt. Ein besonders charakteristisches Beispiel für die gesellschaftliche Optik Steuers bietet das Sittenbild Fahrende Leute, ein in der Konvention des Picaroromans verfaßtes Zeugnis der Solidarität der sozial Benachteiligten, über konfessionelle u n d nationale Bindungen hinaus. Steuer verwendet die traditionellen Motive der „Ghettogeschichte", bereichert sie aber u m einige neue Elemente. So erscheinen seine Texte, wie holprig sie auch manchmal wirken, als ein wichtiges D o k u m e n t des „hic et n u n c " ihrer Entstehung, der Betrachtungsweise des galizischen Großstadtghetto und des „Shtetl" aus dem Blickwinkel des Beobachters, der befremdet, aber mitleidsvoll die ihn schokkierenden Zustände wahrnimmt und registriert.
Zusammenfassung Die Gliederung dieses Kapitels stützte sich auf die Voraussetzung, daß die Einstellung der zu berücksichtigenden Verfasser zur Problematik der J u d e n in Galizien davon abhängt, ob ihre Blickrichtung von außen oder von innen her verläuft, d. h. ob sie selbst der jüdischen Gemeinschaft e n t s t a m m e n (was bei fünf der behandelten Autoren der Fall ist) u n d ob Galizien ihr Herkunfts- u n d Kindheitsland ist (was ebenfalls bei fünf Verfassern vorkommt). Franzos, der diese Voraussetzungen erfüllt, wurde den „galizischen Maskilim" nicht zugeordnet, weil er wegen seiner T e n d e n z zur Deutschassimilierung der Ostjuden zum Teil andere Prämissen befolgt. Da er sich von ihnen auch durch seine außerhalb der G h e t t o m a u e r n verbrachte Kindheit und deutschassimilierte Erziehung in seinem Vaterhaus unterscheidet, wurde ihm trotz ideologischer Gemeinsamkeiten ein besonderes Unterkapitel zugewiesen, was seine Mittelstellung zwischen den einheimischen Maskilim u n d den Ankömmlingen von außen zum Ausdruck bringen soll. Die Z u o r d n u n g des Maskils Moritz Friedländer zu dem Komplex der A u ß e n s t e h e n d e n kann vielleicht Zweifel erwekken. Man darf allerdings darauf bestehen, da er die galizischen Verhältnisse nur aus der Perspektive eines Reisenden kennt, der zwar über die Kenntnis vieler Details verfügt, aber zu wenig Einblick in das hauptsächliche Kräfteverhältnis hat. Alle diese Schriftsteller sind in eine persönliche Berührung mit Galizien und seinem jüdischen Milieu g e k o m m e n , d. h. sie verfügen über einiges Wissen aus erster Hand. Da sich die meisten von ihnen biographisch als Mitglieder
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der mosaischen B e k e n n t n i s g e m e i n s c h a f t identifizieren lassen, beziehen sie, wie es zu erwarten war, die Partei für die galizischen J u d e n . Diese Perspektivierung läßt sich sowohl als b e w u ß t e Absicht der A u t o r e n innerhalb der mitgeteilten Struktur b e o b a c h t e n als auch als nicht intendiertes Symptom in der dargestellten u n d ebenfalls mitgeteilten Struktur der Texte b e m e r k e n . Dieser Blickwinkel erklärt auch das F e h l e n von antisemitischen T e n d e n z e n , die sonst vor allem in d e n V e r ö f f e n t l i c h u n g e n seit den achtziger Jahren präsent sein m ü ß ten. Die f ü n f b e h a n d e l t e n A u t o r e n schreiben j e d o c h ü b e r ihre eigene Abstammungsgemeinschaft. Steuer steht zwar etwas abseits, aber seine Haltung weist ein tiefes Mitleid für die a r m e n J u d e n auf. D e n Reichen gegenüber ist er viel distanzierter. Schließlich Sacher-Masoch vertritt eine typische Haltung des christlichen J u d e n f r e u n d e s . Er ist in seinen T e x t e n sogar ein innigerer Anwalt des galizischen G h e t t o s als diejenigen, die seinen M a u e r n entwachsen sind, ohne diese Welt vollständig zu begreifen. Innerhalb der b e s p r o c h e n e n G r u p p e h a b e n wir es mit e i n e m breiten Spektrum von künstlerischen Begabungen, Stilrichtungen u n d schriftstellerischen Anliegen zu tun. Alle diese Texte lassen sich j e d o c h in einer Hinsicht auf einen N e n n e r bringen, egal, ob das ihre b e w u ß t e Zielsetzung oder n u r ein S y m p t o m ist: Sie bilden Beiträge zur Diskussion ü b e r die „Judenfrage", über die Emanzipation, Gleichberechtigung u n d Assimilation mit den Wirtsvölkern. Im Falle der galizischen J u d e n erscheinen hier drei Alternativlösungen, die miteinander konkurrieren: eine deutsche, eine polnische Assimilation und das Bestreben, die Sonderstellung in der Diaspora beizubehalten. Alle b e h a n d e l n Probleme der politischen, ö k o n o m i s c h e n , sozialen bzw. kulturellen Lage der J u d e n im h e t e r o g e n e n Staatsgebilde der Habsburgermonarchie. Wie akut u n d aktuell dieser Fragenkomplex trotz der Lösung der „Judenfrage" auf der Staatsebene in der Zeit von 1848—1867 geblieben ist, davon zeugt die Tatsache, daß die allermeisten der analysierten T e x t e nach 1867 e n t s t a n d e n sind. Die Problematik der Nachbarschaft u n d der W e c h s e l b e z i e h u n g e n zwischen J u d e n u n d Christen in Galizien, die im Mittelpunkt der Interessen dieses Kapitels stand, läßt sich sowohl auf w e r k i m m a n e n t e r E b e n e als auch in der Relation A u t o r — Werk — Leser verfolgen. In der e r s t g e n a n n t e n Hinsicht wird die T h e matik von den A u t o r e n auf zwiefache Weise z u m Ausdruck gebracht: indirekt, indem die B e r ü h r u n g des G h e t t o b e w o h n e r s mit d e m K o n k u r r e n z m o d e l l der christlichen Mitbürger bzw. mit der europäischen Kultur Ausschlag für den Entschluß der Figur, das G h e t t o zu verlassen, gibt; u n d direkt, indem die Interaktionen zwischen den galizischen J u d e n u n d Christen dargestellt werden. Im ersteren Falle bleibt die K o n f l i k t f ü h r u n g des Textes in der inneren Problematik des „Shtetl" bzw. G r o ß s t a d t g h e t t o verankert. Im Mittelpunkt der dargestellten Struktur solcher Texte steht die A u s e i n a n d e r s e t z u n g zwischen „Licht" u n d „Finsternis", d. h. zwischen der Aufklärung, die für Fortschritt, weltliche Bildung u n d Emanzipation der J u d e n auftritt, u n d der sog. Orthodoxie. Als G e g n e r des Lichts werden meistens nicht die echten O r t h o d o x e n , die A n h ä n ger des T a l m u d i s m u s , sondern die in Galizien u n g e m e i n populären Chassidim
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betrachtet. Das Bild der Anhänger des Chassidismus, die als Dunkelmänner, Trinker und moralisch verdächtige Individuen dargestellt werden, ist ein symptomatisches Beispiel, wie die Anhänger der Aufklärung die Mittel der Fiktion einsetzen, um den Sachverhalt entsprechend zu perspektivieren. Heutzutage wird jene geistige Strömung, die breite Massen von Ostjuden erfaßte, differenzierter eingeschätzt, und es wird oft auf ihre positiven gesellschaftlichen und moralischen Werte, besonders in den Anfangsphasen der Bewegung, hingewiesen 42 . Aber für die Haskalah war der Chassidismus ein mächtiger Feind, den es um jeden Preis zu bekämpfen galt. Dabei waren sich die Autoren der Einseitigkeit ihres Blickes oft unbewußt. Alle behandelten Autoren, vielleicht mit Ausnahme von Sacher-Masoch, engagieren sich im Kampfe der Fortschrittler mit den Konservativen auf der Seite der Anhänger des „Lichts". Unterschiede zwischen ihnen ergeben sich in der Frage, ob und inwiefern sie unter der Emanzipation auch eine nationale Assimilation verstehen. In dieser Angelegenheit beziehen die Schriftsteller unterschiedliche Stellungen. Es ist jedoch bezeichnend, daß sie in einem die gleiche Meinung haben: Keiner stellt die Taufe als eine echte Lösung dar. Entweder zeigen sie überhaupt keine Beispiele dieser Art, oder sie führen die Schicksale der betreffenden Gestalten zu einem als unvermeidlich angesehenen Scheitern. Sie verdammen die Menschen, die diesen Weg wählen, nicht, aber sie zeigen ihre Tragik derjenigen, die sich dem Judentum entfremdet haben und doch in den Augen der Mitchristen immer als Juden gelten. Auf diese Weise wird ein typisches Merkmal der galizischen und freilich nicht nur galizischen Wirklichkeit zum Ausdruck gebracht. Als eine intendierte Feststellung erscheint in der mitgeteilten Struktur der Texte aller Autoren der Hinweis, daß die mosaische Konfession als das Bindeglied aufzufassen sei, das den emanzipierten Israeliten mit seiner Abstammungsgemeinschaft vereinigen solle. Dabei wird das genaue Einhalten der religiösen Gebote, wie es die orthodoxen Juden voraussetzen, keineswegs verlangt. Karl Emil Franzos spricht einer deutschen Assimilation das Wort; seines Erachtens bewirke der Vorrang der deutschen Kultur und die Nähe des Jiddischen zur deutschen Sprache, daß der galizische Jude als „Deutscher israelitischen Bekenntnisses" die besten Bedingungen zur Selbstentfaltung haben wird. Franzos wählt somit als Vorbild ein Modell, das sich in seiner eigenen Familie bewährt hat. Dagegen solche Maskilim wie Leo Herzberg-Fränkel, Nathan Samuely und Moritz Friedländer halten an der Vorstellung einer kulturell-historischen Eigenart fest und erblicken nicht in der Religion allein ein geistiges Gut, das die Juden aufbewahren sollten. Erhaltenswert erscheinen ihnen insbesondere die moralischen und kulturellen Werte des Judentums. Deshalb beschweren sich Samuely und Friedländer über den einsetzenden „Indifferentismus" eines Teiles der wohlhabenden Juden und reden zwar keineswegs dem Zionismus, aber doch der Vorstellung von der Erhaltung des Ostjudentums als einer Sondergruppe das Wort. Allerdings muß man bedenken, daß schon die bewußte Wahl des Deutschen als sprachlichen Mediums, mit dem sie ihre Adressaten erreichen wollen, als ein
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Symptom aufzufassen ist, daß alle diese Autoren zwar nicht unbedingt zur deutschen Nationalität, aber auf jeden Fall zur deutschen Kultur stehen. Im Einvernehmen mit dieser Voraussetzung stehen sie dem Gedanken an die deutsche Assimilation der galizischen Juden viel freundlicher und näher gegenüber als der Möglichkeit, daß diese sich als J ü d i s c h e Polen" fühlen könnten. Eine Sonderstellung nimmt in dieser Beziehung der älteste der besprochenen Maskilim ein, nämlich Moritz Rappaport, der ein deutliches Gefühl der doppelten Zugehörigkeit zum Polentum und Judentum hat. Obwohl er beides als Verhängnis betrachtet, ist er gleichzeitig stolz darauf. Ein stehendes Motiv dieser Literatur ist der autodidaktische, entsagungsvolle Weg eines jüdischen Jungen aus einem orthodoxen Milieu zu Bildung und Wissen. In den allermeisten Fällen wird dabei bezeichnenderweise betont, daß es die deutsche Literatur und Sprache war, die dem in Dunkelheit Tappenden die Welt des Lichts erschlossen hat. Vor allem Franzos wird nie müde, solche Typen nachzuzeichnen, mit seinem „Pojaz" an der Spitze. Auch bei Samuely, Herzberg-Fränkel, Friedländer und Sacher-Masoch sind sie vorhanden. Viel seltener schildert einer dieser Verfasser die Beeinflussung der jüdischen Jugend Galiziens durch das Erlebnis der Lektüre von polnischer Literatur. Nur in Der Iluj von Sacher-Masoch und in Die drei Belfer Friedländers kommt eine solche Situation vor. W e n n wir aber dieses Tendieren zur deutschen Kultur und evtl. auch zur deutschen Nationalität als einen festen Bestandteil unseres Forschungsgegenstandes feststellen müssen, so lassen sich daraus keine allzu verallgemeinernden Rückschlüsse auf die Wirklichkeit ziehen. Solche Gestaltung der dargestellten Struktur der Texte ist vor allem symptomatisch für den Blickwinkel ihrer Verfasser. Die Belletristik in der deutschen Sprache bildet ja nur einen Ausschnitt des literarischen Panoramas von den und über die galizischen Juden. Um das Ganze kennenzulernen, müßte man auch entsprechende Beiträge in Neuhebräisch und dann auch in Jiddisch sowie Polnisch heranziehen, dann wäre das Bild ihrer Bestrebungen ein differenzierteres. Einen besonderen Stoffkreis bilden die Werke, die die Problematik der jüdisch-christlichen Nachbarschaft in Galizien durch eine direkte Darstellung von Begegnungen zwischen Juden und Christen zum Ausdruck bringen. Die meisten der erörterten Schriftsteller äußern sich zu diesem Thema, obgleich mit unterschiedlicher Frequenz. Am häufigsten kommt es bei Karl Emil Franzos vor, der sich in dieser Hinsicht ganz fester Stereotype bedient, die aus seinem nationalen Standpunkt erfolgen: Die Polen sind da meistens niederträchtige Verführer jüdischer Mädchen und Frauen bzw. Schurken, die den ehrlichen Juden ökonomisch und sogar physisch zugrunderichten. Es gibt einige wenige Ausnahmen von diesem Muster in den Gestalten von Herrn Negrusz in Nach dem höheren Gesetz und Groza in Judith Trachtenberg. Arno Will macht auf diese Figuren aufmerksam und betont dabei mit Recht, daß es sich in solchen Fällen im Schaffen des Franzos um Bürgerliche handelt 43 . Im Hinblick auf die jüdisch-christliche Nachbarschaft stehen die Ukrainer in der dargestell-
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ten Struktur der T e x t e v o n F r a n z o s etwas abseits. Sie bespötteln e h e r g u t m ü t i g die J u d e n , aber in der A b w e h r g e g e n die g e m e i n s a m e n F e i n d e , die P o l e n , treten sie solidarisch zu. S c h l i e ß l i c h f u n g i e r e n die D e u t s c h e n , w o sie a u f t a u c h e n , als L e h r e r und L e i t g e s t a l t e n für die j ü d i s c h e B e v ö l k e r u n g . D i e anderen A u t o ren stellen zwar keine derart einseitig geprägten Bilder auf, aber bei fast allen z e i c h n e t sich die leise T e n d e n z ab, die Juden e n t g e g e n d e m h e r r s c h e n d e n Stereotyp als die v o n den christlichen M i t b ü r g e r n Ü b e r v o r t e i l t e n , den k ü r z e r e n Z i e h e n d e n a b z u b i l d e n . D i e s e s B e s t r e b e n resultiert aus der Perspektivierung der T e x t e z w e c k s e n t w e d e r moralischer A u f w e r t u n g der Juden oder Kritik an h e r k ö m m l i c h e n V o r u r t e i l e n g e g e n diese G e s e l l s c h a f t s g r u p p e . Es k o m m t in den T e x t e n m a n c h m a l als ein intendiertes Z e i c h e n der mitgeteilten Struktur, m a n c h m a l als ein u n b e w u ß t e s S y m p t o m der H a l t u n g der A u t o r e n vor. Lediglich Friedländer bedient sich eines Leitbildes, das als Wirklichkeitsbild dargestellt wird, und bezeugt folglich gutmütig Hilfsbereitschaft aller Nationalitäten den Juden g e g e n ü b e r . A l l e r d i n g s n i m m t er in der N o v e l l e Der Freiwillige des Ghetto dieses Urteil zurück. D i e nationale Z u g e h ö r i g k e i t der F i g u r e n ist nicht i m m e r v o n B e d e u t u n g . S o stellt ζ. B. N a t h a n S a m u e l y in Sünder und Sünden das falsche V o r u r t e i l der C h r i s t e n g e g e n die Juden bloß, i n d e m die Niederträchtigkeit, die d e m Juden z u g e s c h r i e b e n w u r d e , sich als die T a t eines N i c h t j u d e n erweist. H e r z b e r g - F r ä n k e l zeigt in Der Autodidact zuerst e i n e n s c h u r k i s c h e n polnischen E d e l m a n n , d a n n führt er aber mit S i n n für A u s g e w o g e n h e i t d e s s e n e d e l m ü t i g e n N a c h f o l g e r , gleichfalls e i n e n P o l e n , ein. S o b e m ü h e n sich die m e i s t e n V e r f a s s e r darum, das u n g e r e c h t e pauschale S t e r e o t y p des b ö s e n Juden nicht durch das e b e n s o u n b e g r ü n d e t e des b ö s e n C h r i s t e n zu ersetzen. T r o t z d e m s e h e n sie sich oft g e z w u n g e n , eher eine negative als positive Einstellung der christlichen B e v ö l k e r u n g G a l i z i e n s z u ihren j ü d i s c h e n M i t b ü r g e r n festzustellen. Natürlich ist diese F e s t s t e l l u n g a u c h ein D e r i v a t ihres Blickwinkels, primär ist sie j e d o c h a u f die K r ä f t e g e s t a l t u n g u n d den B e w u ß t s e i n s z u stand i m historischen G a l i z i e n z u r ü c k z u f ü h r e n . A u ß e r h a l b der w e r k i m m a n e n t e n E b e n e b e f i n d e t sich die Frage der B e z i e h u n g der e i n z e l n e n A u t o r e n z u m galizischen J u d e n t u m , auf die bereits eingeg a n g e n wurde, u n d die der „ B e g e g n u n g " z w i s c h e n Jude u n d Christ a u f der A d r e s s a t e n e b e n e — der B e g e g n u n g z w i s c h e n d e m T e x t u n d s e i n e m nicht-jüdischen Leser. D e r C h a r a k t e r der dargestellten Struktur in diesen W e r k e n hängt natürlich a u c h d a v o n ab, für w e l c h e n Leserkreis die V e r f a s s e r sie b e s t i m m e n . Einige v o n i h n e n lassen etwas d a v o n direkt verlauten: H e r z b e r g - F r ä n k e l betont, er adressiere seine E r z ä h l u n g e n vor allem an den nicht-jüdischen Leser, u m ihn a u f die N o t der galizischen J u d e n a u f m e r k s a m zu m a c h e n u n d die wenigen lichten P u n k t e aus i h r e m L e b e n z u m A u s d r u c k zu bringen. F r a n z o s behauptet s o w o h l für die C h r i s t e n , die das U n r e c h t der g e s e l l s c h a f t l i c h e n Benachteiligung der Juden e i n s e h e n sollten, als a u c h für die Juden, d e n e n ihre M ä n g e l v o r g e z e i g t w e r d e n , zu schreiben. D a s g l e i c h e A n l i e g e n läßt sich a u c h aus den K u l t u r b i l d e r n S a m u e l y s u n d in e i n e m kleineren A u s m a ß a u c h aus den T e x t e n Steuers erschließen. Bei den anderen A u t o r e n ist der B e z u g a u f die bei-
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den Lesergruppen ebenfalls feststellbar oder zumindest wahrscheinlich. Nur Friedländer schreibt seine werbenden Büchlein deutlich genug grundsätzlich für die Juden, und zwar sowohl für die ostjüdische Jugend, die er gewinnen will, als auch für die Westjuden, die ihren Glaubensgenossen in Galizien helfen sollten. Obwohl alle diese Texte als Beiträge zur Judenfrage gesehen werden können, unterscheiden sie sich voneinander im Hinblick auf ihre Zielsetzung nicht nur meritorisch, sondern auch funktionell. Es gibt hier Texte mit oder ohne pragmatische Zielsetzung, mit oder ohne künstlerisches Anliegen; endlich Werke, in denen der didaktische und solche, in denen der Unterhaltungscharakter überwiegt. Unter Werken mit pragmatischer Zielsetzung werden hier solche verstanden, deren mitgeteilte Struktur bewußt eine Veränderung der Wirklichkeit, und zwar entweder der internen jüdischen Verhältnisse oder der jüdisch-christlichen Beziehungen in Galizien anstrebt. Den reinsten Fall solch einer belehrenden Gebrauchsliteratur stellt Friedländer dar. In einem ziemlich starken Ausmaß ist dieses Anliegen auch bei Herzberg-Fränkel und in einem Teil der Texte (vor allem der sog. Kulturbilder) von Franzos und Samuely präsent. Bei Sacher-Masoch wird das pädagogische Anliegen direkt nicht ausgedrückt, aber man kann es zum Teil aus der idealisierten Darstellung seiner jüdischen Gestalten als Appell an die Christen um eine gerechtere Behandlung der jüdischen Mitbürger ablesen. Ein Teil seiner idyllischen, humorvollen Judengeschichten dient primär der Amüsierung des Lesers. Bei Steuer überwiegt offensichtlich die kognitive Funktion, doch auch der Zug zur Unterhaltung durch eine schauervolle Fabel ist deutlich. Elemente der Unterhaltungsliteratur gibt es auch bei Franzos, jedoch betrachtet er sie nie als ein Ziel für sich. Er bedient sich oft der Schemata der Liebes- bzw. Kriminalgeschichte, um durch die darstellenden Mittel möglichst viel Spannung zu erzeugen, die die pädagogische Wirksamkeit der Texte vergrößern soll. Zum Schluß sei versucht zu bestimmen, inwiefern bei den einzelnen Verfassern die ästhetische Funktion anwesend ist, und den Bezug zu den herrschenden stilistischen Richtungen und literarischen Strömungen der Zeit festzustellen. Zwei Autoren unserer Gruppe deklarieren den absichtlichen Verzicht auf die Schöpfung eines Kunstwerkes. Sie behaupten, keine Romanciers zu sein und nur die Wahrheit ungeschmückt wiedergeben zu wollen, gemeint sind Friedländer und Steuer. Bei allen anderen ist das Bestreben vorhanden. Texte zu schreiben, die ästhetischen Ansprüchen genügen. Zwischen Journalistik und Literatur steht Herzberg-Fränkel. Er gibt manchmal nur reportageartige, didaktisch geprägte Berichte, manchmal aber entwirft er eindringliche epische Bilder, schildert interessante Typen oder anmutig wirkende festliche Bräuche der Ostjuden, die der Leser lange im Gedächtnis behält. Die Werke von Rappaport, Samuely, Franzos und Sacher-Masoch weisen schon ein bewußtes künstlerisches Anliegen auf, wobei die genannten Autoren weder einander gleich sind noch in allen ihren T e x t e n zum Judenthema dasselbe Niveau erreichen. Das beste, was in der deutschsprachigen „Galizienliteratur" aus die-
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sem Stoffkreis bis 1914 geleistet wurde, sind einige ausgereifte, eine Vielfalt von Aspekten erschließende W e r k e von Franzos, vor allem Moschko von Parma u n d Der Pojaz. Die starke Seite Samuelys, wie auch des älteren Dichters Rappaport liegt m e h r im lyrischen E l e m e n t , im zarten K o m p o n i e r e n von Stimm u n g e n und G e f ü h l e n . Franzos und Sacher-Masoch sind dagegen vor allem Erzähler, deren Texte F r e u d e am b u n t e n , breiten Fabulieren und an plastischer Milieuschilderung auszeichnet. Ideengeschichtlich betrachtet vertreten fast alle diese ja erst in der zweiten Hälfte des 19. J a h r h u n d e r t s entstandenen Werke die Losungen der Aufklärung. G e m ä ß d e m schriftstellerischen Anliegen und d e m G e g e n s t a n d der Texte überwiegt in den meisten Fällen die realistische Gestaltungsweise. Sie ist die alleinige bei Herzberg-Fränkel u n d Friedländer. Bei Samuely, Franzos u n d Sacher-Masoch herrscht sie vor, bei jed e m in einer eigenartigen Ausprägung. Bei Rappaport sind noch die Einflüsse der Romantik bemerkbar. Mit einzelnen E l e m e n t e n aus d e m Reservoir der Schauerromantik hantiert noch zuweilen Sacher-Masoch, bei d e m sich manchmal auch die Beeinflussung durch die Struktur der biblischen Legende beobachten läßt. Steuer wählt eine z u m Teil naturalistische, z u m Teil impressionistische Darstellungsart, mit der er nicht richtig fertig wird. Im allgemeinen überwiegen in diesen T e x t e n solche darstellenden Strukturen, die die für den nicht-jüdischen Leser etwas exotische, geheimnisvolle Welt der j ü d i s c h e n Folklore u n t e r die rationale Leuchte der A u f k l ä r u n g bringen wollen, u m die Intentionen der mitgeteilten Struktur wirksam z u m A u s d r u c k zu bringen.
A n m e r k u n g e n z u m Kapitel 3
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Anmerkungen zum Kapitel 3 ' In d e n siebziger J a h r e n des 18. J a h r h u n d e r t s b e t r u g die Zahl der galizischen J u d e n ca. 150000, was b e i n a h e 3/4 der g a n z e n österreichischen J u d e n s c h a f t a u s m a c h t e , u m 1850 gab es bereits 333 000 J u d e n in Galizien (bei ca. 476000 in ganz Österreich). Im J a h r e 1910 v e r z e i c h n e t das Österreichische Statistische Handbuch 871 895 J u d e n in Galizien, was 10,86% der G e s a m t b e v ö l kerung der Provinz a u s m a c h t . Die statistischen A n g a b e n stützen sich auf den Beitrag Die Juden von W o l f d i e t e r Bihl in: Die Habsburgermonarchie 1848-1918, a.a.O., S. 8 8 0 - 9 4 8 , u n d auf Horst Glassi, Das österreichische Einrichtungswerk in Galizien (1772—1790), W i e s b a d e n 1975, S. 183-219. 2 W o l f d i e t e r Bihl, a.a.O., S. 880. 3 So b e s t i m m t e das G e s e t z von 1848 die u n b e s c h r ä n k t e Besitzfáhigkeit der J u d e n , doch eine V e r o r d n u n g des Kaisers, die ein Provisorium sein sollte, aber in Galizien bis 1868 galt, setzte bis zur endgültigen R e g e l u n g der Frage die alten G e s e t z e wieder in Kraft. Die L e m b e r g e r Statthalterei b e n u t z t e diesen Sachverhalt als V o r w a n d , lästige W o h n r e c h t - u n d A u f e n t h a l t s b e s c h r ä n k u n g e n f ü r die J u d e n weiterhin a u f r e c h t z u e r h a l t e n . Lediglich in b e z u g auf P a c h t u n g e n von h e r r s c h a f t l i c h e n G r ü n d e n , P r o p i n a t i o n s r e c h t u n d ähnliches v e r ä n d e r t e sich die Lage der J u d e n günstig. Seit 1860 galt f ü r Galizien die B e s t i m m u n g der Z u l a s s u n g der J u d e n z u m Realbesitz, w e n n sie e i n e n b e s t i m m t e n Bildungsnachweis e r b r i n g e n k o n n t e n . D a s half j e d o c h n u r ganz w e n i g e n . Die z u n f t m ä ß i g e n B e s c h r ä n k u n g e n bei der A u s ü b u n g eines H a n d w e r k s w u r d e n erst mit d e m kaiserlichen Patent von 1859 a u f g e h o b e n , w o d u r c h d e n J u d e n endlich der Z u g a n g zu allen G e w e r b e n g e ö f f n e t wurde. 4 „ H a s k a l a h " heißt auf H e b r ä i s c h „Bildung", erst s e k u n d ä r w u r d e dieses W o r t zur B e z e i c h n u n g der S t r ö m u n g der A u f k l ä r u n g v e r w e n d e t . 5 Vgl. Filip F r i e d m a n n , Die galizischen Juden im Kampfe um ihre Gleichberechtigung. 1848—1868, F r a n k f u r t a. Main 1929, S. 58 u. 210. 6 Vgl. M a j e r Balaban, Dzieje Zydów w Galicji i Rzeczypospolitej Krakowskiej 1772—1868, Lwow 1914, S. 197, u n d F r i e d m a n n , a.a.O., S. 37. 7 A n g a b e n nach: Deutschösterreichische Literaturgeschichte. Handbuch zur Geschichte der deutschen Dichtung in Österreich-Ungarn. Hrsg. v. Castle, Nagl, Zeidler, Bd. 4, W i e n u n d Leipzig 1937, S. 1391 f, ergänzt d u r c h F r i e d m a n n , a.a.O., S. 38, sowie d u r c h B R Ü M M E R , Bd. 3, S. 181 u n d G I E B I S C H - G U G I T Z , S. 152. 8 Vgl. F r i e d m a n n , a.a.O., S. 39. 9 H o f f m a n berichtet, daß der A n t i s e m i t i s m u s eines Professors u n d der K o m m i l i t o n e n G o t t l i e b z u m Verlassen der K u n s t a k a d e m i e g e z w u n g e n hat. Vgl. Marian Fuks, Z y g m u n t H o f f m a n , Maurycy H o r n , Jerzy T o m a s z e w s k i , Zydzi polscy. Dzieje i kultura, Warszawa 1982, S. 73. D a s von S a m u e l y b e s p r o c h e n e G e m ä l d e trägt dort d e n Titel Pisarz Tory. 10 Z u d e n b i o g r a p h i s c h e n A n g a b e n zu G o t t l i e b vgl. a.a.O., S. 72 f. 11 Ich d e n k e etwa an die F i g u r e n des G r a f e n Chojnicki in Radetzkymarsch o d e r des G r a f e n M o r stin in Die Büste des Kaisers, vor allem aber an die n a m e n l o s e Figur „unseres G r a f e n " im autob i o g r a p h i s c h e n R o m a n f r a g m e n t R o t h s Erdbeeren. 12 Margarita Pazi, Karl Emil Franzos' Assimilationsvorstellung und Assimilationserfahrung. In: Conditio Judaica, 2. Teil, a.a.O., S. 222. 1 "1 Ursprünglich trug diese Novelle d e n Titel David der Bocher(d. h. „Junggeselle"), u n t e r d e m sie zuerst 1870 in d e n „ B u c h e n b l ä t t e r n " e r s c h i e n e n ist. U.d.T. Das Christusbild wird sie d a n n 1870 in „ W e s t e r m a n n s M o n a t s h e f t e n " veröffentlicht; es folgten weitere P u b l i k a t i o n e n in d e r s e l b e n Zeitschrift sowie in „ Ü b e r Land u n d M e e r " u n d in der „ G a r t e n l a u b e " . A n g a b e n n a c h : Karl Emil F r a n z o s , Mein Erstlingswerk: „Die Juden von Barnow", in: Die Geschichte des Erstlingswerkes, Leipzig (o. J.), vgl. S. 236 ff. 14 Vgl. G ü n t e r C r e u t z b u r g , Ein Kampf ums Recht. Leben und Werk ν o n Κ. E. F r a n z o s —Vorrede zu Der wilde Starost und die schöne Jutta, 2. Aufl., Berlin 1967, S. 11. Die B e s p r e c h u n g des B a n d e s Die Juden von Barnow in m e i n e r Arbeit stützt sich auf die e r w ä h n t e erweiterte 6. Aufl. v o m Jahre 1905.
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Z u r Problematik der jüdisch-christlichen N a c h b a r s c h a f t in Galizien
Vgl. S. 233 f. Es war die sog. Bar Mizwa: Ein d r e i z e h n j ä h r i g e r J u n g e w u r d e als reif in d e n religiösen Angeleg e n h e i t e n erklärt u n d d u r f t e von n u n an die G e b e t e im G o t t e s h a u s z u s a m m e n mit erwachsen e n M ä n n e r n verrichten. Dieser Tag b e d e u t e t e somit das E n d e der Kindheit.
D i e s e m Arzt hat laut F r a n z o s ' A u s s a g e n sein Vater Modell g e s t a n d e n . Vgl. Mein Erstlingswerk: 18 „Die Juden von Barnow", a.a.O., S. 220. Zitiert nach der A u s g a b e : Karl Emil F r a n z o s , Moschko von Parma. Drei Erzählungen, Berlin 1972. 19 Vgl. M a n f r e d K ü h n e , N a c h w o r t zu: Κ. E. Franzos, Vom Don zur Donau. Ausgewählte Kulturbilder, Berlin 1970, S. 406, u n d Jost H e r m a n d . N a c h w o r t zu: Κ. E. F r a n z o s , Der Pojaz. N e u g e s e t z t nach der Auflage 1906, K ö n i g s t e i n / T s . 1979, S. 367. 20 Vgl. Κ. K. Klein, Literaturgeschichte des Deutschtums im Ausland, Leipzig 1939, S. 218. Klein schreibt, F r a n z o s h a b e sich eine Zeitlang eingebildet, der Papst der d e u t s c h e n Literatur zu sein. „ G e g e n das E n d e seines Lebens stieg aber das R a s s e n b e k e n n t n i s , das er j a h r z e h n t e l a n g geleugnet und zurückgedrängt hatte, in ihm siegend hoch. Er fühlte und bekannte sich als Jude". 21 Jost H e r m a n d , a.a.O., S. 368. 22 Margarita Pazi, a.a.O., S. 233. 23 Vgl. Margarita Pazi, Der Gefühlspluralismus im Werk Karl EmiI Franzos ' . I n : Galizien — eine literarische Heimat, hrsg. v. Stefan H. Kaszynski, P o z n a n 1987, S. 108 f. 24 In der Gestalt j e n e s unglücklichen S t u d e n t e n hat F r a n z o s s e i n e m ersten Privatlehrer, dessen L e b e n von der Reaktion z u g r u n d e g e r i c h t e t wurde, ein D e n k m a l gesetzt. D e r j u n g e M a n n hieß H e n r i c h Wild, m u ß t e Trainsoldat w e r d e n u n d starb vorzeitig. Vgl. Mein Erstlingswerk: „Die Juden von Barnow", S. 224. Dieselbe Gestalt steht im M i t t e l p u n k t der Novelle Der lateinische Kanonier aus d e m zweiten Band der S a m m l u n g Aus Hatb-Asien. In diesem T e x t h a n d e l t es sich u m e i n e n e h e m a l i g e n Prager S t u d e n t e n , der infolge eines M i ß v e r s t ä n d n i s s e s w ä h r e n d der Revolution 1848 v e r h a f t e t u n d z u m langwierigen Militärdienst als G e m e i n e r im F u h r w e s e n verurteilt wird, wo er an T u b e r k u l o s e stirbt. 25 Vgl. Sigilla Veri. Ph. Stauffs Semi-Kürschner, 2. Aufl., E r f u r t 1929, Bd. 2, S. 541. D i e L e b e n s d a ten w e r d e n allerdings der Dissertation von Mina S c h i f f m a n n , Die deutsche Ghettogeschichte, W i e n 1931, S. 94, e n t n o m m e n , d e n n der Semi-Kürschnemennl n u r das G e b u r t s j a h r Friedländers, u n d zwar 1842. 26 A.a.O., S. 94, A n m . 1. Vgl. seine Fünf Wochen in Brody (1882) u n d Reiseerinnerungen aus Galizien (1900). 27 Vgl. das E v a n g e l i u m des hl. M a t t ä u s , 37—38. IX. 28 Vgl. Der Freiwillige des Ghetto, Z ü r i c h 1903, S. 22 f. 29 Sacher-Masoch lehnte i m m e r wieder energisch die B e h a u p t u n g e n seiner G e g n e r ab, d a ß er Jude sei. — Vgl. Sacher-Masochs „Jüdisches Leben" — Ein Dossier von Michael Farin in Jüdisches Leben in Wort und Bild, D o r t m u n d 1985, S. 357 ff., allerdings läßt sich der j ü d i s c h e U r s p r u n g seiner Familie väterlicherseits nicht ausschließen. A u c h soll laut d e m Polski Stownik Biograßczny, Wroclaw - Warszawa - G d a ñ s k - Krakow 1975, Bd. XX, S. 132, seine G r o ß m u t t e r m ü t t e r licherseits Rosa Piero eine Italienerin j ü d i s c h e r H e r k u n f t g e w e s e n sein. A u s s c h l a g g e b e n d ist f ü r m i c h allerdings das B e w u ß t s e i n des A u t o r s , seine E r z i e h u n g u n d F a m i l i e n t r a d i t i o n — dergleichen N a c h f o r s c h u n g e n nach einer j ü d i s c h e n K o m p o n e n t e in seiner A b s t a m m u n g halte ich f ü r gegenstandslos. 30 W i l h e l m G o l d b a u m , Literarische Physiognomien, Kap. Ghetto-Poeten, W i e n u n d T e s c h e n (o. J.), S. 163—216. Zitiert w e r d e n die A u s s a g e n von S. 207 u n d 216. 31 Vgl. G u s t a v Karpeles, das Geleitwort zu: Ausgewählte Ghetto-Geschichten von Leopold von Sacher-Masoch, Leipzig 1918, S. VII f, u n d Mina S c h i f f m a n n , a.a.O., S. 57. 32 Die an d i e s e m P r o b l e m Interessierten f i n d e n a u f s c h l u ß r e i c h e Ü b e r l e g u n g e n zur Frage der Jud e n e m a n z i p a t i o n in der E r z ä h l u n g Der Kreisphysikus im A u f s a t z von M i c h a ! Ciesla, Ruchy rewolucyjne w Galicji w r. ¡846 w swietle opowiadan Marii Ebner-Eschenbach, a.a.O., vgl. b e s o n d e r s S. 1 5 - 2 0 . 33 Die zwei erstgenannten Texte wurden z u s a m m e n mit Moses Goldfarb und sein Haus in Judenge-
A n m e r k u n g e n z u m Kapitel 3
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schichten von 1878 veröffentlicht. Die übrigen T e x t e k e n n e ich aus der Anthologie von G u s t a v Karpeles, vgl. A n m . 28. In der S e k u n d ä r l i t e r a t u r bin ich ausschließlich der F o r m „der Hau" begegnet: in der Auswahl von Karpeles, auf die ich mich stütze, k o m m t die F o r m „der Iluj" vor. Sacher-Masoch erklärt dieses W o r t auf S. 118 als „ein Licht f ü r a n d e r e " . Die Titel der p o l n i s c h e n W e r k e w e r d e n im S a c h e r - M a s o c h s c h e n W o r t l a u t a n g e g e b e n . Dabei scheint das finstere Bild der s c h ö n e n Isabella auf die spezifische Einstellung des A u t o r s zu F r a u e n u n d seine Vorliebe f ü r d e n T y p u s der „ g r a u s a m e n F r a u " u n d nicht b e s o n d e r s auf die galizischen Verhältnisse z u r ü c k z u g e h e n . Diese D e u t u n g stützt sich auf die A u s f ü h r u n g e n von Zbigniew Swiatiowski, Sacher-Masoch oder die bedrohte Normalität, „ G e r m a n i c a Wratislaviensia", XXVII, S. 149—171, vgl. S. 155. W i e Salcia L a n d m a n n in Erzählten Bilderbogen aus Ostgalizien, M ü n c h e n 1975, berichtet, tanzte m a n u n t e r O s t j u d e n streng g e t r e n n t , weil der M a n n die Frau, mit der er nicht verheiratet war, nicht b e r ü h r e n d u r f t e . Die mir zugänglichen A n g a b e n s t a m m e n von G I E B I S C H - G U G I T Z , S. 403, u n d B R Ü M M E R , Bd. 7, S. 71. D e r o r t h o d o x e J u d e d u r f t e ü b e r h a u p t keine Bilder von G e s t a l t e n m a c h e n , das war s c h o n die erste Ü b e r t r e t u n g der G e b o t e d u r c h d e n J u n g e n . A u ß e r d e m m a c h t e er das Bild des von d e n Juden f ü r e i n e n Irrlehrer g e h a l t e n e n Christus, was sie b e s o n d e r s e m p ö r e n m u ß t e . D e n s e l b e n S t a n d p u n k t bezieht u n d veranschaulicht auf eine wesentlich eindringlichere W e i s e Herzberg-Fränkel in der e r s c h ü t t e r n d e n E r z ä h l u n g Täuschungen. Bei S a m u e l y wird er, o h n e direkt a u s g e s p r o c h e n zu w e r d e n , im E r i n n e r u n g s b i l d Gotteshilfe aus der zweiten Folge seiner Cultur-Bilder deutlich. Vgl. z. S. der Aufsatz von K u r t S c h u b e r t , Das Judentum in Osteuropa, in: Das österreichische Judentum. Voraussetzungen und Geschichte. F ü r die Red. verantwortlich N i k o l a u s Vielmetti, Wien und M ü n c h e n 1974, S. 183 ff, oder Salcia L a n d m a n n , Der ewige Jude, M ü n c h e n 1974, S. 60 f, 75 f u n d 100-115. Vgl. A r n o Will, Karl Emil Franzos. Ein Beitrag zu den Gestalten der Polen in der österreichischen Literatur des 19. Jahrhunderts, a.a.O., vgl. S. 55 f. Will n e n n t die positiven Figuren des H e r r n Florian Bolinski u n d des Richters N e g r u s z aus der Novelle Nach dem höheren Gesetz u n d bes t i m m t sie g e n a u e r gesellschaftlich als V e r t r e t e r der städtischen Intelligenz, die aus d e m vera r m t e n Adel s t a m m e n .
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Schlußbemerkungen
Schlußbemerkungen Bevor der Versuch unternommen wird, das Panorama Galiziens anhand der besprochenen deutschsprachigen Literatur zu rekonstruieren, seien noch einmal die biographischen Beziehungen zu Galizien resp. das Fehlen solcher bei den berücksichtigten Autoren vergegenwärtigt, weil es die erste und oft wichtigste Voraussetzung des Bildes dieses Landes in ihren Werken bildet. Geborene Galizianer sind innerhalb unseres Forschungsfeldes: Franzos, HerzbergFränkel, Rappaport, Sacher-Masoch, Samuely und Weber-Lutkow. Steuer hat in Galizien einen Teil seines Berufslebens verbracht, und bei Friedländer und Messenhauser lassen sich kürzere Aufenthalte in diesem Land nachweisen. Die persönliche Berührung mit Galizien war also in den meisten Fällen ausschlaggebend für die Wahl eines galizischen Themas. In den übrigen Fällen, die sich daraus nicht erschließen lassen (Ebner-Eschenbach, Groß-Hoffinger, Häberlin), lenkte das Aufsehen, das die Vorfälle des galizischen Winters 1846 in Europa erregt hatten, die Aufmerksamkeit der Schriftsteller auf diese Provinz. Wenn man die Tatsachenliteratur berücksichtigte, würde die letztgenannte Paradigmareihe bedeutend anwachsen. Die geringe Anzahl solcher Veröffentlichungen bei den einzelnen Verfassern (nie mehr als eine, höchstens zwei) veranschaulicht die Tatsache, daß es nur gelegentliche Schöpfungen waren. Dagegen haben unter den Autoren galizischer Herkunft mehrere des öfteren über Galizien geschrieben. Bei Franzos und Sacher-Masoch muß das Galizienthema als ihr „Lebensthema" wenigstens für einige Phasen ihres Schaffens betrachtet werden. Auch Herzberg-Fränkel, Samuely und WeberLutkow haben eine Reihe von Beiträgen zum Galizienthema in deutscher Sprache geliefert. Bis auf Häberlin waren alle Autoren, die sich dem Galizienthema zuwandten, wenigstens ursprünglich österreichische Staatsbürger. Aber die österreichische Staatsbürgerschaft sagte im Vielvölkerstaat der Habsburger noch nichts über die nationale Zugehörigkeit aus; und das Nationalbewußtsein der einzelnen Autoren bestimmte ja weitgehend die Perspektive, aus der sie Galizien betrachteten. Die meisten der berücksichtigten Autoren waren in ihrem Selbstverständnis Deutsche, aber bei weitem nicht alle. Viele der Verfasser jüdischer Herkunft fühlten sich als Juden, obwohl diese Abstammungsgruppe offiziell als Nationalität nicht anerkannt war. Nur Franzos deklarierte sich als Deutscher mosaischen Bekenntnisses. Lediglich bei Sacher-Masoch, der sich anfanglich als Deutscher bezeichnet, dann aber immer mehr seine Verbindungen mit dem Slawentum betont, hat sich so etwas wie ein österreichisches Nationalgefühl über die einzelnen Nationalitäten des Donaureiches hinaus herauskristallisiert. Da wir es ausschließlich mit deutschschreibenden Autoren zu tun haben — nicht immer ist es allerdings die einzige Sprache, in der sie publizieren —, bekennt sich beinahe keiner von ihnen zur polnischen Nationalität. Es wird „beinahe" gesagt, denn bei Rappaport gibt es ja ein doppeltes Nationalbewußtsein, das der Zugehörigkeit zum jüdischen und zum polnischen Volk.
Schlußbemerkungen
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Keiner dieser Verfasser kannte nur Galizien. Fast alle verließen das Land der Kindheit manchmal schon als Schüler, spätestens aber als Erwachsene. Als Beispiele seien Franzos, der im Alter von elf Jahren nach Czernowitz in der Bukowina ging, und Sacher-Masoch, der zwölfjährig Lemberg verließ, um seinem Vater nach Prag zu folgen, genannt. Nach Galizien kamen sie nur noch zu Ferienbesuchen. Andere kehrten nach Jahren zurück, wie Herzberg-Fränkel, der eine Stelle in seiner Heimatstadt Brody bezog, oder Pokorny (Weber-Lutkow), der als fünfzigjähriger Pensionist auf das Landgut seiner Familie zurückkam. Aber bei jedem ist die Kenntnis anderer Gebiete als das provinzielle Galizien eine Schaffensprämisse. Alle kennen Wien, die meisten auch Berlin, einige Paris. Sie haben den Vergleich zwischen ihrer Heimat und den westlichen Kronländern der Habsburgermonarchie sowie in vielen Fällen auch anderen Ländern vor Augen und schreiben über Galizien aus dem Bewußtsein der besonderen Situation dieses Landes heraus. Ihre Beschäftigung mit galizischen Stoffen setzt das Moment der gedanklichen Distanz zum Gegenstand voraus, bewirkt meistens durch eine räumliche und zeitliche Entfernung von der Heimat. Immer aber ist es eine Verfremdung des Bekannten, die sich aus dem Bewußtsein des Unterschieds zwischen Galizien und der „großen Welt" ergibt. Diese Betrachtungsweise kennzeichnet auch die nicht-galizischen Autoren, die in diese Provinz geraten. Galizien ist die Peripherie, die am Zentrum gemessen wird. Die Folgen dieses Vergleichs sind meistens kläglich für Galizien, da die Autoren es an den gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Zuständen Wiens und der reichen Provinzen Westösterreichs oder Berlins und der anderen deutschen Großstädte messen und somit seine Unzulänglichkeit feststellen. Somit ist ihre Bewertung Galiziens ganz anders als in der traditionellen Regionalliteratur, die die Heimat zu verklären pflegt. Lediglich bei SacherMasoch kommt ab und zu der Blick des von der Zivilisation und den Großstädten enttäuschten Menschen auf die ländlichen Teile Ostgaliziens als auf die ideale urtümliche Naturlandschaft vor. Das Anderssein Galiziens wird meistens deshalb in der dargestellten Struktur der Texte thematisiert, um dem didaktischen Anliegen des Autors zum Ausdruck zu verhelfen. Der Verfasser vertritt dabei die These, daß eine Angleichung an die zivilisatorisch höher stehenden Regionen stattfinden sollte. In weniger zahlreichen Fällen wird die Fremdartigkeit und manchmal sogar Exotik des Phänomens Galizien zum Anlaß, dem Publikum einen spannenden, unterhaltenden Lesestoff zu liefern. Im ersteren Falle sind die Werke primär an die Bewohner Galiziens, im zweiten eher an die westeuropäische Leserschaft adressiert. Nur sehr selten wird Galizien als vorbildlich dargestellt, und das natürlich keineswegs in bezug auf die Gesamtheit des galizischen Lebens, aber wenigstens in gewissen Zügen, ζ. B. bei Wurzbach und Messenhauser wegen des Patriotismus der Polen, bei Herzberg-Fränkel wegen der großen Familienliebe und Solidarität der jüdischen Bevölkerung, und bei Sacher-Masoch sowohl aus den oben genannten Gründen als auch wegen des schönen Sich-Einfügens der Slawen in den Kreislauf der Natur und der großzügigen Gastfreundschaft. In den meisten Werken wird
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Schlußbemerkungen
jedoch das Bild der galizischen Wirklichkeit so modelliert, daß vor allem das Negative, Veränderungsbedürftige zum Ausdruck kommt. Die Entscheidungen der einzelnen Autoren, die Mittel der Fiktion eben auf diese Weise einzusetzen, erfolgen primär aus der national-politischen und gesellschaftlichen Perspektive der Schriftsteller. Geographisch betrachtet stammen alle diese galizischen Verfasser aus Ostgalizien. Das entspricht dem Sachverhalt, daß Westgalizien ethnisch relativ einheitlich war. Die Polen bildeten hier die absolute Mehrheit, die Juden waren viel weniger zahlreich als im Osten des Landes. Schließlich gab es, vor allem bis 1867, Deutsche, die nach der Annexion des Landes für den Verwaltungsapparat „importiert" worden waren, aber auch diese Nationalität war im Westen des Landes viel schwächer als im Osten vertreten, da es im dicht bevölkerten Westgalizien wenig Möglichkeiten für die Landkolonisation des Kaisers Joseph II. gegeben hatte. Dagegen war Ostgalizien ein multinationales Gebilde, in dem prozentmäßig die ukrainische Bevölkerung überwog, die vor allem der Bauernklasse angehörte. Als die zweitgrößte Gruppe sind die Polen zu nennen, die vor allem als Großgrundbesitzer und Landadlige, weniger zahlreich auch als Stadtbürger (vor allem in Lemberg) und Bauern auftraten. Außerdem gab es dort auch viele Juden und Deutsche. Deshalb schreiben die allermeisten der besprochenen Autoren über Ostgalizien, zum ersten, da sie es wesentlich besser kennen, und zum zweiten wahrscheinlich auch, weil dieses Völker- und Konfessionenkonglomerat einen durch seine Vielfältigkeit besonders attraktiven Stoffumkreis bot. Auch im Hinblick auf die Problemstellung bildete die ostgalizische Wirklichkeit ein viel differenzierteres Betrachtungsfeld (für einen nichtpolnischen Schriftsteller). Nur die zwei in Galizien nicht einheimischen Verfasser, Friedländer und Steuer, siedeln ihre Erzählungen sowohl im Westen als auch im Osten der Provinz an, da sie beides einigermaßen kennen und als fremdartig empfinden. Sonst kommt Westgalizien lediglich innerhalb eines Themenkreises zum Vorschein, und zwar bei der Schilderung der Ereignisse des Jahres 1846, die sich ja in diesem Teile des Landes abspielten. Nur Sacher-Masoch hält sich selbst bei diesem Thema an den Osten, den er besser kennt. Man muß sich diese entschiedene Bevorzugung ostgalizischer Handlungsschauplätze und T h e m e n vergegenwärtigen, wenn man erstaunt feststellt, wie wenig dieser exotische, wilde, urtümliche erzählte Raum der deutschsprachigen Belletristik den Vorstellungen in der polnischen öffentlichen Meinung von Galizien als einem Vorflur Wiens ähnelt. Ein Bewohner des heutigen Krakow denkt bei dem Stichwort „Galizien" vor allem an seine Heimatstadt und an Kleinpolen. Dagegen hat die Verfasserin dieser Arbeit einigemal im Gespräch mit (gebildeten!) deutschen Partnern festgestellt, daß sie mit diesem historischen Begriff nur das ehemalige Ostgalizien assoziieren und verblüfft gefragt haben, ob denn Krakau und Kleinpolen auch Galizien gewesen war. Ohne dieses verallgemeinern zu wollen, muß man in bezug auf die deutschsprachigen Verfasser des untersuchten Zeitraumes 1846—1914 als Tatsache annehmen, daß sie unter Galizien vor allem den Teil der Provinz
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östlich des San verstanden, und zwar je östlicher, desto fremdartiger und somit interessanter, wobei auch die Nähe der Grenze zum Zarenreich nicht ohne Belang war. Die Gründe dieser Perspektivierung waren sowohl meritorischer als auch ästhetischer Natur. Im Hinblick auf die Beziehung zur historischen Zeit lassen sich in unseren Texten einige Phasen mit der einzigen Zäsur des Jahres 1848 erblicken. Dabei muß die Zeitspanne 1846—1848 separat behandelt werden. Der verhinderte polnische Aufstand in Galizien im Februar 1846 und die darauffolgende Bauernbewegung bedeuten die ersten und bis zur Zeit des Ersten Weltkrieges letzten Ereignisse auf diesem Boden, die das Interesse der deutschsprachigen Schriftsteller und ihres Publikums auf Galizien lenkten. Dabei wird das Schwergewicht vom Gesellschaftlichen auf das Politische verschoben, und die meisten Autoren suchen das blutige Herrengemetzel als ein Zeugnis der unerschütterlichen Treue galizischer Bauern für den Kaiser und für Österreich auszulegen. Diese Deutungen sind als ein Indikator der politisch-nationalen Haltungen der Autoren und insbesondere ihrer Einstellung zum österreichischen (bzw. in einem Fall zum preußischen) Staat zu betrachten. Der sozial-ökonomische Grund des Konflikts zwischen dem galizischen Landadel und seinen Untertanen interessiert sie weniger. Da der Aufstand des Jahres 1846 die erste der Waffenerhebungen im geteilten Polen war, die sich nicht gegen Rußland, sondern gegen einen der deutschen Staaten wandte, wird er sowohl von den österreichischen Autoren als auch von dem den preußischen Standpunkt vertretenden Häberlin mißbilligt. Unter den Belletristen überwindet lediglich Messenhauser diese Optik, während auf dem Gebiet der Tatsachenliteratur noch Wurzbach zu nennen ist. Diese zwei Autoren beziehen einen Standpunkt, der auch einem Polen zuzumuten wäre, allerdings gleicht die Perspektive Messenhausers der eines polnischen Demokraten, während diejenige Wurzbachs sozial weniger radikal ist. Die Ereignisse der Revolution von 1848 werden in der „Galizienliteratur" nur selten thematisiert (und zwar in dem Judenroman Der Iluj von Sacher-Masoch und in Galizien in diesem Augenblick von Wurzbach). Sie waren ja nicht so spektakulär wie die Vorfälle in Wien oder in Berlin, auch hat das Land seine Kräfte während der Tragödie des Jahres 1846 wesentlich verausgabt. In den großen Städten Lemberg und Krakau brach die Revolution zwar aus, aber auf dem Lande reichte es, den Adel an die Kraft der Bauern zu erinnern, um ihn ganz einzuschüchtern. Dessen sind sich die deutschsprachigen Schriftsteller bewußt, wenn sie ihren Lesern nachdrücklich versichern, daß dem Habsburgerstaat von der Seite Galiziens keine Gefahr mehr droht. Als eine Zäsur in der Literatur über Galizien erscheint das Jahr 1848 wegen der Aufhebung der Fronleistung. Mit diesem Ereignis wurden die Überreste der feudalen Struktur in dieser Provinz offiziell beseitigt. Die Möglichkeiten der gesellschaftlichen kapitalistischen Entwicklung sind von nun an de jure gegeben, aber die Rückschrittlichkeit der ökonomischen Basis, die koloniale Ausbeutung des Landes durch Österreich sowie die Vernachlässigung seiner
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wirtschaftlichen Entwicklung durch die polnischen vermögenden Klassen, die vor allem auf innenpolitische und kulturelle Freiheit hinzielten, bewirken, daß sie nur sehr langsam und schwer vorwärtsging. Für die polnische Sicht auf die Geschichte Galiziens ist das Jahr 1867 von allergrößter Bedeutung, da zu Ende dieses Jahres ganz Österreich die Verfassung bekam und ihr zufolge auch Galizien die innere Autonomie errang. Von nun an beginnt die Blütezeit des polnischen Nationallebens in Galizien. Das Land darf sich endlich selbst verwalten. Es entwickeln sich die Künste, Wissenschaften, Literatur und Presse in der polnischen Sprache. Es ist symptomatisch für die nationale Blickrichtung der deutschsprachigen Literatur, daß sie dieses Datum vollkommen übersieht. Innerhalb unseres Forschungsfeldes ist es somit keine Zäsur. Man sieht sich genötigt, die historische Entwicklung seit 1848 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges in bezug auf das Spektrum dieser Literatur als Kontinuum zu betrachten. Wenn man die Themenkreise, in denen Galizien dieser Periode erscheint, untersucht, sieht man, daß in den meisten Fällen Kontinuität bewahrt wurde. Der einzige auffallende Unterschied ist das Fehlen der Stoffe aus dem polnischen Unabhängigkeitskampf, was der Gestaltung der politischen Situation in der außerliterarischen Wirklichkeit dieser Provinz entspricht. Nur vereinzelt erscheint am Rande einiger Texte das Problem der Teilnahme galizischer Polen am Januaraufstand. Im Werk von Κ. E. Franzos ist jedoch ein neues Thema aufgetaucht, das dem neuen Kräfteverhältnis in Galizien Rechnung trägt, das des Konkurrenzkampfes zwischen dem deutschen und einheimischen Element im Osten der Habsburgermonarchie, der zum Bedauern des Schriftstellers zum Rückgang des Deutschtums in Galizien und den benachbarten Kronländern führte. Die anderen Themenkreise werden fortgesetzt. Nach wie vor wird die Entfaltung des ukrainischen Nationallebens, das nach 1848 vom Staat gefördert wird, zum Thema, wobei die Perspektivierung günstig für die Ukrainer verläuft. Es entwickelt sich nach wie vor die zum Teil gesellschaftskritische Literatur aus dem Bereich des Dorflebens und des Judenshtetl. Obwohl sowohl Bauern als auch Juden vor dem Gesetz nun gleichberechtigte Staatsbürger sind, bezeugt die Literatur das Fortbestehen der sozialen Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Nur langsam verlagern sich die von der Literatur registrierten sozialen Konflikte: Die verarmten Bauern verstärken die Reihen des Stadtproletariats, die Stelle des traditionellen Konflikts zwischen dem Herrenhof und der Bauerngemeinde n e h m e n zuweilen die Konflikte innerhalb der Bauernklasse selbst oder zwischen dem Unternehmer und den Arbeitern ein. Aber der gesellschaftliche Grundkonflikt zwischen arm und reich findet im Agrarland Galizien in der Literatur bis zum Ersten Weltkrieg immer noch am häufigsten seine Konkretisierung in der Darstellung des Konflikts zwischen dem Großgrundbesitzer und den Bauern. Als ein neues Thema erscheint die Massenemigration der Bauern und Juden, die dem materiellen Elend und gesellschaftlichen Ausgeliefertsein zu entrinnen suchen. Durch die Gestaltung dieser Themen mit Hilfe der literarischen Fiktion werden wesentliche Züge des
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gesellschaftlichen Lebens in Galizien in der zweiten Hälfte des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck gebracht. W e n n man die dem J u d e n t h e m a gewidmete Literatur ausklammert, wirkt auffallend, wie wenige der behandelten Werke als Handlungsschauplatz eine Stadt wählen. Die dargestellte Struktur der allermeisten Texte zeigt eine ländliche Welt, die Handlung spielt im Herrenhof oder in der Bauernhütte, oft auch in der Dorfschenke; auf den Feldern, Wiesen, in der Steppe, im Walde oder im Gebirge. Diese Ortswahl ist nicht zufällig, sondern bezeichnend für die Überzeugung der Verfasser, daß sich das „eigentliche" galizische Leben auf dem Lande abspielt. W e n n eine Stadt dargestellt wird, so ist es in den allermeisten Fällen entweder ein Judenstädtchen oder ein Judenviertel der Großstadt. In dem Leser wird der Eindruck hervorgerufen, daß galizische Städte lediglich von der Bevölkerung mosaischen Bekenntnisses bewohnt wurden, was selbst im Falle Ostgaliziens, wo die J u d e n sehr zahlreich waren, nicht ganz mit d e m historischen Sachverhalt übereinstimmt u n d auf die Bevorzugung der Stoffe aus d e m jüdischen Milieu durch viele unserer Verfasser zurückzuführen ist. Auch die Landeshauptstadt Lemberg erscheint in diesen Texten meistens als jüdischer W o h n o r t (in Wirklichkeit bildeten die Juden ca. ein Viertel der Stadtbevölkerung Lembergs). Manchmal wird sie nur in der Funktion des Hintergrunds erwähnt, u n d zwar der Staffage der Provinzmetropole, wo die Landesverwaltung ihren Sitz hat. Krakau k o m m t quantitativ etwas öfter vor, aber vor allem in den Werken über das Jahr 1846, wo diese Stadt als Schauplatz des nur hier sich einige Zeit lang b e h a u p t e n d e n Aufstandes nicht umgangen werden kann. Aber als ein integraler Bestandteil der Handlung erscheint Krakau in der „galizischen" Prosa lediglich in den Judengeschichten Steuers, allerdings bei ihm ausschließlich auf die Judenstadt Kazimierz beschränkt. Diese Verteilung der galizischen Stoffe zwischen Land u n d Stadt deckt sich nicht ganz mit d e m Sachverhalt in der außerliterarischen Wirklichkeit. Obwohl tatsächlich der größte Teil der Bewohner Galiziens auf dem Lande lebte, prosperierten sogar in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wenigstens einige Städte gut, und in der zweiten Jahrhunderthälfte k o m m t es, wie Tadeusz Lepkowski in der Monographie Polska — narodziny nowoczesnego narodu (1967) berichtet, zu einer deutlichen Entwicklung der Städte u n d des Bürgertums in Galizien. Daß diese Tatsache nicht beachtet wird, läßt sich z u m Teil durch das gesellschaftliche Anliegen der Werke, die ü b e r k o m m e n e n Verhältnisse auf d e m Lande zu kritisieren, u n d durch die ästhetischen Bedürfnisse der Gestaltung des erzählten Raumes erklären. In einem gewissen A u s m a ß kann man diese Ignorierung auch als Symptom der national-gesellschaftlichen Perspektivierung betrachten, infolge deren manche A u t o r e n galizische Polen nur mit der Klasse des Adels identifizieren. Der Wahl der Handlungsschauplätze entspricht die soziologische Bestimm u n g der dargestellten Figuren, besonders der Haupthelden. Bis auf ganz wenige A u s n a h m e n sind die Hauptgestalten der „Galizienliteratur" Landadlige, Bauern oder verschiedene Vermittlerfunktionen ausübende Juden. Die fast ein-
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zige Beschäftigung der Landesbevölkerung ist in diesen Texten der Ackerbau bzw. die Verwaltung der Landgüter. Erst in den Werken aus den Anfangen des 20. Jahrhunderts lassen sich Anzeichen der Industrialisierung des Landes feststellen. Vereinzelt erscheinen auch in den Erzählungen, deren Handlung in der Vormärzzeit spielt, Gestalten von Beamten, Ärzten und Vertretern anderer freier Berufe; meistens sind es jedoch die Nebenfiguren. Gemäß der bis 1848 herrschenden Situation sind es meistens keine Polen. Die Beamtenstellen werden von Deutschen bzw. germanisierten Tschechen bekleidet, die freien Berufe werden auch von Juden ausgeübt. Die Juden kommen in den meisten Texten entweder als Vertreter des Handels und anderer Vermittlerberufe vor, die sie mit der ganzen Bevölkerung zusammenbringen, oder als die dem Bibel-, Talmud- und Kabbalastudium ergebenen Frommen. Sozialökonomisch stellen diese Texte eine ganze Palette von Figuren dar, von ganz Armen, die für ihre geistlichen Dienstleistungen kleine Gaben bekommen, bis zu den im Überfluß lebenden Wunderrabbis. Außer als Stadtbewohner fungieren sie in den Werken als Dorfschenker und auf den adligen Landhöfen unentbehrliche Faktoren. In der Belletristik über die Zeit nach 1848 lassen sich einige wirtschaftliche Verschiebungen beobachten. Ein Teil des alten Adels, dessen Wirtschaftsführung schon in den Texten über das ältere Galizien einer scharfen Kritik unterzogen wurde, hat nun abgewirtschaftet. Ihre Güter wurden von den Neureichen erworben, Menschen, die durch ihre Tüchtigkeit oder aber Unehrlichkeit den Weg von Herrschaftsbeamten oder Pächtern nach oben machten. Auf diese Weise thematisiert die deutschsprachige Literatur den gesellschaftlichen Prozeß der Deklassierung von vielen Landadligen in Galizien. Die Figuren der Edelleute treten meistens als negative Gestalten auf. Die Bauern werden dagegen von den Autoren bemitleidet und mit Sympathie, aber ohne tieferes Verständnis ihrer Lage betrachtet. Man spürt den sozialen Abstand zwischen den gebildeten Erzählern und den von ihnen geschilderten Bauern. In der Literatur der Jahrhundertwende spielt der Gegensatz zwischen den Großgrundbesitzern und der Dorfgemeinde nicht mehr die führende Rolle. In den Texten von Weber-Lutkow kommt es zu einer friedlichen Koexistenz zwischen Gestalten aus dem Adel und den Dorfbewohnern. Der Schwerpunkt des gesellschaftlichen Grundgegensatzes verlagert sich langsam, in Übereinstimmung mit der außerliterarischen Wirklichkeit, von der sozialen Herkunft auf die ökonomische Situation der Figuren. Die gesellschaftliche Optik der einzelnen Verfasser hängt sowohl von ihrer Herkunft als auch von ihren sozialen und politischen Anschauungen ab. Somit läßt sie sich in den Texten sowohl als ein bewußtes Anliegen der mitgeteilten Struktur als auch als ein nicht intendiertes Symptom beobachten. Die Autoren identifizieren sich weitgehend mit den Ansichten deijenigen gesellschaftlichen Klasse bzw. Schicht, der sie selbst entstammen oder durch berufliche Tätigkeit angehören. Als Beispiel kann der feindselig-mißtrauische Blick auf das ostgalizische Dorf des Grundbesitzers Pokorny (Weber-Lutkow) genannt werden. Die beiden wichtigsten „Galizienautoren" des 19. Jahrhunderts, Sacher-
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Masoch und Franzos, gehören zum Bürgertum (Sacher-Masoch entstammte zwar einer geadelten Familie, die aber durchaus bürgerliche Berufe ausübte und vom bürgerlichen Bewußtsein geprägt war). Bürgerliche Abstammung ist auch bei den übrigen Schriftstellern, bis auf Marie von Ebner-Eschenbach, vor allem denjenigen jüdischer Herkunft nachzuweisen. Diese bürgerlichen Autoren begegnen in Galizien einem absolute Vorrangstellung besitzenden Adel, der erst spät und äußerst ungern Bürgerliche zur Mitregierung zuließ. Deshalb reagieren sie auf die herrschende Situation, die von der im viel stärker kapitalisierten Westeuropa abweicht, mit Entrüstung. In Galizien hatten ja bis 1848 die überkommenen feudalen Verhältnisse die offizielle Sanktionierung besessen, und nach diesem Datum bestanden sie in Praxis fort, da mit der Abschaffung der Fronleistungen keine Bodenreform verbunden war. Diese Zustände rufen bei den Verfassern, die entweder aus Westeuropa kommen oder Galizianer sind, aber bereits westliche Länder kennen, Bestürzung hervor. Alle Verfasser aus dem 19. Jahrhundert betrachten in gesellschaftlicher Hinsicht den galizischen Adel äußerst kritisch, wozu ihnen besonders die Ereignisse des Jahres 1846 Anlaß geben. Sie belasten mit der Schuld daran diese Gesellschaftsklasse aus der Perspektive der Bürgerlichen wegen des sozialen Drucks, den sie gegen die Bauern ausübte, und aus der Perspektive der Deutschösterreicher, die die politische Einstellung des polnischen Adels verurteilen. Sie beschuldigen ihn der fehlenden Loyalität der Habsburgermonarchie gegenüber. Diese Meinung vertritt auch Franzos. Sowohl die Belletristik als auch die Tatsachenliteratur bringen ziemlich stark zum Ausdruck, daß in Galizien nur der Adlige als ein vollgültiger Staatsbürger gilt. Der Adel schaut herablassend auf das Bürgertum und sträubt sich dagegen, mit dem Verlust des Vermögens selbst zum Bürger abzusinken. Da die Autoren selbst dem Bürgertum angehören, haben sie diese Verachtung von der Seite des Adels bestimmt an der eigenen Haut erfahren und lehnen das Verhalten jener Klasse desto stärker ab. Das Bürgertum wird in den Texten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts meistens in den Gestalten von Juden und Deutschen vertreten. Viel seltener tauchen die Figuren von Polen oder noch seltener Ukrainern in dieser Eigenschaft auf. Symptomatisch wirkt, daß, wenn Sacher-Masoch in Eine Galizische Geschichte. 1846 einen Dichter und einen Studenten als Mitglieder der polnischen Nationalerhebung zeigt, wir es nur mit Zerrbildern des Intellektuellen zu tun haben. Die deutschsprachigen Schriftsteller, die über Galizien schreiben, identifizieren oft die soziale Zugehörigkeit der Figuren mit der nationalen. Daraus ergeben sich die Doppelrollen des Edelmanns und Polen, des Bauern und Ruthenen, des Stadtbürgers und Juden. Im Falle der jüdischen Bevölkerung kommt die konfessionelle Zugehörigkeit als wichtiger Faktor hinzu. Dagegen werden die Versuche, den Polen als Katholiken gegen den Ruthenen als GriechischOrthodoxen abzugrenzen, selten unternommen, weil wir es in der galizischen Wirklichkeit meistens nur mit einem Ritusunterschied zwischen der römischkatholischen und griechisch-unierten Bevölkerung zu tun haben. Jedoch ver-
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säumen es Sacher-Masoch und Franzos nicht, zu betonen, daß der katholische Glaube der ukrainischen Bevölkerung Galiziens einmal von den Polen aufgedrängt worden war. Diese Bemerkung erfolgt aus der nationalen Perspektivierung dieser Autoren. Solche Verteilung der nationalen Rollen war natürlich vor allem in den Werken, deren Handlung in Ostgalizien spielt, möglich, bei den Berichten über das Jahr 1846 wurde sie lediglich von Sacher-Masoch beibehalten. Aus der gesellschaftlichen Gegenüberstellung des polnischen Adels als „Blutsauger" und Besitzer der ökonomischen (und mit der Zeit auch politischen) Macht im Lande und der ihrer Willkür preisgegebenen armen ruthenischen Bauern und jüdischen Kleinbürger und Proleten ergibt sich die Verurteilung der polnischen Nation als eines angeblichen „Herrenvolkes". Die Autoren wollen bezeichnenderweise kaum zur Kenntnis nehmen, daß die polnische Nationalität in Galizien nicht lediglich aus Adligen bestand. Diejenigen, die über die Vorfälle in Westgalizien im Winter 1846 schreiben, müssen zwar die polnische Nationalität der Bauern feststellen, aber sie berufen sich zugleich auf das fehlende polnische Nationalgefühl dieser Klasse, was mit dem historischen Sachverhalt übereinstimmt, und auf das österreichische Nationalbewußtsein dieser Klasse, was nur stimmt, wenn man damit den naiven Kaiserkult gleichsetzen würde. Diese Gestaltung der galizischen Bauern als österreichischer Patrioten ist natürlich ein Ausdruck der proösterreichischen Haltung der Autoren. Gemäß ihrem nationalen Standpunkt thematisiert keiner der Schriftsteller die Tatsache, daß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Entwicklungsprozeß des polnischen Nationalbewußtseins einsetzt und einen beträchtlichen Teil der Bauernmassen ergreift. Dagegen wurde die Entwicklung des ukrainischen Nationalbewußtseins in Ostgalizien, solange Österreich keinen ukrainischen Separatismus zu befürchten hatte, gerne wahrgenommen und zum Ausdruck gebracht. Jedoch in den Momenten, wo die panslawische Propaganda galizische Ukrainer dem Zarenrußland näherzubringen suchte, erklärt sich die deutschsprachige Literatur dagegen. Die rasche Entwicklung eines Stadtbürgertums mit polnischem Nationalbewußtsein wird meistens nur am Rande berücksichtigt, allerdings werden die jüdischen und im Falle des Franzos auch die deutschen Bürger Galiziens vor der Polonisierung, die nach 1867 immer breitere Wellen schlug, gewarnt. Die Judenfrage wird von den meisten Verfassern als Kulturfrage aufgefaßt, und zwar sehen sie in der deutschen Sprache und Literatur das Medium, das die Ghettojuden der europäischen Zivilisation zuführen soll. Eine Germanisierung der galizischen Juden wird explizite nicht postuliert, aber die Vorstellungen eines Franzos reichen so weit, daß die Erfüllung seiner Wünsche in Praxis eben dazu führen würde. Für einen jüdischen Nationalismus wäre es in den Werken über Galizien im 19. Jahrhundert noch zu früh. Allerdings weisen die Bemerkungen besonders von Friedländer und Samuely über den Wert des Judentums über das Religiöse hinaus auf die künftige Entwicklungsrichtung hin. Fast alle diese Werke zeigen Galizien als ein multinationales Land und thematisieren die Begegnungen zwischen den Vertretern von zwei oder mehreren Nationalgruppen auf diesem
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Territorium. Die dargestellten nationalen, gesellschaftlichen und konfessionellen Beziehungen zwischen diesen Gruppen weisen oft einen antagonistischen Charakter auf, aus dem sich die Konflikte der Texte entwickeln. So erscheint Galizien als eine Kulturlandschaft, die sich aus dem Zusammenleben und der gegenseitigen Spannung mehrerer nationaler und sozialer Interessengruppen ergibt. Nicht berücksichtigt wurde in dieser Arbeit die spezifische Literatur oder vielmehr das Schrifttum der Galiziendeutschen, das in Galizien vor allem die deutsche Heimat sieht und somit als „Heimatdichtung der Galiziendeutschen" auftritt. Dieses Gebiet wurde ausgeklammert, da zwar die galiziendeutsche Bewegung bereits in der Zeit der Jahrhundertwende einsetzt, jedoch die belletristische Literatur erst später nachfolgt und sich in ihren Buchveröffentlichungen als eine in ihrem Grundcharakter ziemlich einheitliche Strömung deutlich in der Zwischenkriegszeit herauskristallisiert. Ich betrachte diese Strömung innerhalb der „Galizienliteratur" als eine, der erst in der chronologischen Fortführung der vorliegenden Arbeit der gehörige Platz eingeräumt werden müßte. Zum Schluß dieser Betrachtungen sei es mir noch erlaubt, mit einem flüchtigen Ausblick auf den späteren Verlauf der deutschsprachigen Prosa zum Problemfeld Galizien zu verweisen, die ich als ein noch nicht abgeschlossenes Phänomen auffasse. Nach der Zäsur des Jahres 1918, die den Zusammenbruch der Habsburgermonarchie, die Gründung der zweiten polnischen Republik und somit das Ende Galiziens bedeutet, entwickelt sich diese Literatur zweispurig. Die eine Gruppe bilden solche Texte, die diesem historischen Sachverhalt Rechnung tragen und somit Galizien als etwas Vergangenes, als Legende, als Mythos zeigen. Die andere Gruppe besteht aus den Werken der im ehemaligen Galizien und nach 1918 in Kleinpolen gebliebenen Deutschen, die in ihrem Leben in der Enklave der national einheitlichen Dorfsiedlungen eine Fortsetzung des Lebens in Galizien sehen und den erzählten Raum Galizien als eine noch existierende Gegenwart gestalten. Die Zäsur bildet in diesem Fall erst die von Hitler im Winter 1939/40 unternommene Umsiedlung der Galiziendeutschen „heim ins Reich". Seit dieser Zeit ist Galizien auch im Bewußtsein dieser Gruppe zur „verlorenen Heimat" geworden und wurde somit von der Mythenbildung erfaßt. Die erstgenannte Gruppe von Werken, die Galizien und Lodomerien als ein Kronland der untergegangenen Habsburgermonarchie betrachten, stammt meistens von Schriftstellern, die ihre Kindheit in Galizien verbracht haben und sich nach diesem Lande ihres Ursprungs zurücksehnen. Die zeitliche Entfernung bedeutet in diesem Falle sowohl die historische Distanz von einem nicht mehr existierenden Land und Staat als auch die persönliche Entfernung von den Kindheitsjahren. Eine zusätzliche Prämisse ist dabei der räumliche, geographische Abstand vom Schauplatz ihrer Prosa. D e n n man muß zuerst Galizien als verloren empfinden, um dann dieses Gebiet aus der Perspektive der manches verklärenden, manches vergrößernden, die realen Dimensionen gegen die mythischen vertauschenden Sehnsucht zu sehen. Der hervorragend-
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sie Vertreter dieser Richtung ist gleichzeitig der größte Dichter auf dem Gebiet der „Galizienliteratur" überhaupt, nämlich Joseph Roth. Aber die Quelle dieser Strömung ist noch nicht versiegt, solange Menschen leben, die in Galizien geboren sind und ihre Vorstellungen von diesem Lande mit persönlichen Erinnerungen verknüpfen können. Innerhalb des Umfelds der deutschsprachigen Literatur sind es n e b e n den Vertretern der ehemaligen Galiziendeutschen einige Autoren jüdischer Abstammung, die in deutscher Sprache veröffentlichen. Als Beispiele seien hier drei Bücher genannt: Da geht ein Mensch. Ein autobiographischer Roman (1945), Erinnerungen des hervorragenden deutschen Schauspielers jüdisch-galizischer Herkunft Alexander Granach, Die Wasserträger Gottes. All das Vergangene... (1974), der Kindheitsroman des in Frankreich verstorbenen Schriftstellers Manès Sperber, schließlich Erzählte Bilderbogen aus Ostgalizien (1975; 2. Aufl. u.d.T. Erinnerungen an Galizien, 1983) von Salcia Landmann, der verdienten Kennerin und Liebhaberin der ostjüdischen Tradition u n d der jiddischen Sprache. Die zweite Strömung fließt zwar nach dem Zweiten Weltkriege mit der ersteren zusammen, läßt sich aber als „Heimatdichtung der Galiziendeutschen" in ihrem Gesamtverlauf als ein besonderes P h ä n o m e n verfolgen. Bis 1939 bleibt sie grundsätzlich dem Leben der eigenen ethnischen Gruppe gewidmet, und zwar dem Teile der deutschen Minorität in Polen, der Kleinpolen bewohnte. Galizien wird darin als „deutsche Heimat" besungen. Dieser Heimatbegriff beschränkt sich auf deutsche Dorfsiedlungen, die bereits vom Kaiser Joseph II. angelegt worden waren. Die Merkmale der nationalistisch gefärbten Heimatliteratur sind in solchen Texten vorhanden. In der Zeit des Dritten Reiches kommt bei manchen Verfassern die aggressive Einstellung der Grenzlandliteratur deutlich hinzu. Es ist symptomatisch, daß Vertreter anderer Nationalitäten meistens nur am Rande erscheinen, was der Tatsache entspricht, daß die Galiziendeutschen abgekapselt in ihrer eigenen Welt lebten. Allerdings werden die Leser solcher Texte von den Autoren vor der G e f a h r der Polonisierung gewarnt, die mit dem Verlassen des Heimatdorfes auf einen im polnischen Staat lebenden D e u t s c h e n der Zwischenkriegszeit stärker lauert, als es zur Zeit des a u t o n o m e n , aber Österreich untergeordneten Galiziens der Fall war. Das Renegatentum anprangern gilt als Ziel der mitgeteilten Struktur solcher Texte. Mit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten in Deutschland erscheinen im galiziendeutschen Schrifttum verstärkte Akzente der Abwehrstellung und Feindschaft gegen das polnische u n d zuweilen auch jüdische Element in dieser Literatur. Dieser Status der Nichtbeachtung und später z u m Teil der feindseligen Begegnung mit anderen Völkern Galiziens verändert sich in der Prosa aus der Zeit nach 1945. Jetzt sucht man die gutnachbarlichen Beziehungen zu den polnischen, ukrainischen u n d jüdischen Mitbürgern nachträglich nachzuweisen. Zuweilen kommt auch eine revisionistische Note vor, aber die meisten der heute in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen Galiziendeutschen schreiben ihre Texte aus der Nostalgie nach dem unwiederbringlich verlorenen Land der Kindheit heraus.
Bibliographie
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Quellennachweis
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NAMENSVERZEICHNIS (ohne Vorbemerkungen und Bibliographie) Aristoteles 23 A r m i n von Bettina 101 Bahr H e r m a n n 153 Balaban M a j e r 159, 205 Bartels Adolf 28 Batowski H e n r y k 99, 101 Beer J o h a n n e s 35 Benedek Ludwig 54 Bernstein A r o n 168 Bihl W o l f d i e t e r 99, 100, 101, 155, 205 Bismarck von Otto 28, 74, 8 5 - 8 6 B l u m e n t h a l H e r m a n n 113, 146 Bogusz von S m a r z o w a 54 Boleslaw von M a s o w i e n 100 Breinl J o s e p h 40, 45, 53, 98 Brückner A l e x a n d e r 82 B r ü m m e r F r a n z 98, 99, 153, 154, 205, 207 Bujak Franciszek 153, 154 Buszko Józef 35 Castle E d u a r d 27, 29, 101, 205 C h o d e r a Jan 17, 34 Ciesla M i c h a ! 51, 52, 206 C r e u t z b u r g G ü n t e r 154, 205 Daniel, Halitscher F ü r s t 100 Dabrowski H e n r y k 42 D e m b o w s k i E d u a r d (Edward) 52—54, 64 D e n k l e r H o r s t 99 D e u t s c h Eva 98 Diederichs Ulf 32 D o b o s z ( D o u b u s c h ) Olexa 112-114 D u b n o w S i m o n 191 Dzwinczuk, Bauer 113 E b n e r - E s c h e n b a c h von Marie 18, 37, 51—55, 58, 65, 83, 90, 93, 94, 188, 206, 208, 215 Erter Isaac 158 d'Esté E r z h e r z o g , L a n d e s g o u v e r n e u r Galiziens 64, 98 Estreicher Karol Józef 82 Farin Michael 32, 56, 206 Farin S u s a n n e 32 F e d e r m a n n R e i n h a r d 99, 152, 154 F e r d i n a n d der G ü t i g e 119 Firkowicz M a r e k — s. F r i e d l ä n d e r Moritz Flach Jozef 76, 100 F r a n k o Ivan 80, 90, 100, 101, 144, 146 F r a n z o s Karl Emil 22, 2 7 , 2 8 , 3 0 , 3 2 , 3 3 , 3 7 , 7 3 89, 9 0 , 9 1 , 9 5 , 9 6 , 97, 1 0 0 , 1 0 1 , 1 0 3 , 1 1 8 - 1 3 2 ,
142, 143, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 168-182, 185, 189, 192, 194, 198, 200, 203, 204, 205, 206,, 207, 208, 209, 212, 216 F r a n z o s Ottilie 181 Freytag G u s t a v 92 F r i e d l ä n d e r Moritz 169, 182-187, 200, 202, 203, 204, 206, 208, 210 F r i e d m a n n Filip 158, 159, 205 Friedrich der G r o ß e 40 F u k s Marian 205
154, 201, 215,
201,
Garczynski Stefan 191 Geiger Ludwig 29 Giebisch H a n s 99, 205, 207 Gill A r n o n 35, 99 Glassi Horst 35, 205 Görlich E. J. 99, 153, 154 G o e t h e von J o h a n n W o l f g a n g 23, 158 G o l d b a u m W i l h e l m 29, 187, 195, 206 G o t t l i e b Maurycy (Moritz) 165-166, 167, 205 G r a n a c h A l e x a n d e r 218 G r e v e r u s Ina-Maria 18, 34 Grodziski Stanislaw 35, 100 G r o ß - H o f f i n g e r A n t o n 4 0 - 4 4 , 92, 93, 94, 208 Gugitz G u s t a v 99, 205, 207 G u t t r y A l e x a n d e r 100 H ä b e r l i n Karl Ludwig 4 4 - 4 7 , 92, 93, 94, 208, 211 H a s p e r E d u a r d 104, 110, 111, 152 H e b b e l Friedrich 101 Hein J ü r g e n 153 H.E.R. Belani — s. Häberlin Karl Ludwig H e r d e r J o h a n n G o t t f r i e d 34 H e r m a n d Jost 32, 180, 206 H e r z b e r g - F r ä n k e l Leo 30, 159-164, 166, 197, 200, 201, 202, 203 Hirsch Moritz 183 Hitler Adolf 217 H o f f m a n Z y g m u n t 166, 205 H o m b e r g H e r z 157 H o r c h H a n s - O t t o 56, 99 H o r n Maurycy 205 H r y n c z u k Jan 34 I n n o z e n t IV., Papst 100 Jauss H a n s R o b e r t 23, 24, 26, 34, 35 J o s e p h II., österreichischer Kaiser 17, 40, 43, 76, 78, 81, 106, 153, 155, 162, 210, 218
230
Namensverzeichnis
Kann R o b e r t 35 Karpeles Gustav 187, 206, 207 Kasimir der G r o ß e , polnischer König 100 Kaszynski Stefan H. 31, 32, 206 Keller Gottfried 80 Kieniewicz Stefan 35, 47, 98, 99, 101, 152 Kirchner P. 101 Klein Karl Kurt 27, 101, 180, 206 Kleist Heinrich 118 Klanska Maria 34, 35 K o m p e r t Leopold 168 K o n s t a n t i n o v i i Zoran 31 Kordys R o m a n 153 K o s c h o r k e Albrecht 56 Koselleck Reinhart 23, 24, 26, 34 Kosciuszko Tadeusz 129 Krafft-Ebing Richard 56, 99 Kratter F r a n z 91 K r o c h m a l N a c h m a n 158 K ü h n e Manfred 180, 206 Kürnberger Ferdinand 56, 99 L a n d m a n n Salcia 207, 218 Lessing G o t t h o l d Ephraim 73, 82, 157, 158, 175, 177, 181 Letteris M a j e r (Moritz) 158 Lilien Ephraim M o s e s 32 Lilien Otto Moses 32 Lim J o n g - D a e 74, 100 Linde Samuel Bogumil 82 Lipszyc Marya A m e l i a 101 Liidtke Franz 35 Lutz Heinrich 34 Lepkowski Tadeusz 213 Lozinski Walery 130 Magris Claudio 28, 30, 74, 100 Malczewski Antoni 190 March Wenzeslaus — s. M e s s e n h a u s e r Cäsar Wenzel M a s o c h F r a n z 67 Matthäus der Heilige, Evangelist 206 Meciszewski Hilary 38 M e n d e l s s o h n M o s e s 73, 82 M e s s e n h a u s e r Cäsar W e n z e l 4 7 — 5 1 , 9 2 , 9 3 , 9 4 , 99, 208, 209, 211 Metternich Lothar 38, 63, 148 Mickiewicz Adam 158, 185, 1 9 0 - 1 9 1 Müller Sepp 26, 31, 101 Nadler J o s e f 28 Nagl J o h a n n Willibald 27, 29, 205 Napoleon Bonaparte 40, 41 Narskij I.S. 99 Nitschner J a k o b 38, 39
Opel A d o l f 33 Orlowicz Mieczyslaw 153 Orlowski Hubert 17, 21, 34 Orzeszkowa Eliza 142 Pasztory Magdalene 100 Pazi Margarita 33, 168, 180, 205, 206 Perl J o s e f 157, 165 Piero R o s a 206 Pokorny Hans — s. W e b e r - L u t k o w Hans Pollack Martin 32 Radetzky, österreichischer Feldherr 129 Rapoport Salo L e i b 158 Rappaport Moritz 30, 1 5 8 - 1 5 9 , 164, 201, 203, 204, 208 R e c h Friedrich 91 R i n n e r Fridrun 32 Ritter Alexander 27 Rollauer J a k o b V. 27, 154 R o m a n , Halitscher Fürst 100 Rosegger Peter 18 R o s s b a c h e r Karlheinz 18, 19, 34 Roth J o s e p h 30, 32, 159, 167, 195, 205, 218 Rosseau J e a n J a c q u e s 34 R ü s e n Jörg 34 Rzewuski Henryk 190 S a c h e r - M a s o c h Leopold von S e n i o r 39, 5 2 , 5 4 , 57, 63, 64, 65, 145 Sacher-Masoch Leopold von J u n i o r 22, 28, 30, 32, 33, 37, 5 6 - 7 2 , 73, 90, 93, 94, 95, 96, 99, 103, 1 0 4 - 1 1 7 , 118, 132, 142, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 169, 182, 1 8 7 195, 199, 200, 201, 203, 204, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 2 1 4 - 2 1 6 Sala Moritz von 39, 52, 55, 64, 93 Samuely Nathan 30, 1 6 4 - 1 6 8 , 197, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 207, 208 Saphir G o t t l i e b Moritz 47 S c h e w t s c h e n k o Taras 142, 154 S c h i f f m a n n M i n ( n ) a 30, 183, 187, 206 Schiller Friedrich 73, 8 2 - 8 4 , 157, 182 S c h m i t t Franz A n s e l m 26, 35 S c h u b e r t Kurt 207 Schwaiger Brigitte 98 Schwarzenberg Friedrich von 38, 39 S c h w ö b A n t o n 35 Seefeldt Fritz 35 Serczyk Wtadystaw A. 35, 100, 113, 153 Shakespeare William 170 Slawmski Janusz 35 Sperber M a n è s 218 Stadion Franz von, Statthalter Galiziens 63, 152
Namensverzeichnis Stauff Philipp 183, 206 Stefanowska Zofia 35 Sternbach H e r m a n n 27 S t e u e r A l f r e d 1 8 2 , 1 9 5 - 1 9 8 , 1 9 9 , 203,208,210, 213 Stifter A d a l b e r t 18 Stoffers W i l h e l m 30 Strelka J o s e p h 33 Szela J a k o b 4 5 , 4 6 , 4 7 , 51, 52, 5 4 - 5 5 , 6 4 - 6 5 , 9 8 Swiatlowski Zbigniew 99, 152, 207 T o m a s z e w s k i Jerzy 205 Topolski Jerzy 24—25, 35 Turczynski E m a n u e l 228 U r b a n i t s c h Peter 35, 99 Vielmetti Nikolaus 207
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W a n d r u s z k a A d a m 35, 99 W e b e r - L u t k o w H a n s (eigentl. Pokorny Hans) 31, 103, 132-144, 145, 146, 147, 150, 154, 208, 209, 214, 215 Wereszycki H e n r y k 35, 100 Wielopolski A l e k s a n d e r 38 Wild Heinrich 206 W i n t e r W. 101 Wisniowski Teofil 63 W l a d i m i r der G r o ß e , r o t r u t h e n i s c h e r F ü r s t 99 W u r z b a c h K o n s t a n t von 3 8 , 3 9 , 4 5 , 9 2 , 2 0 9 , 2 1 1 Zeidler J a k o b 27, 29, 205 Z e r b o n i di Sposetti W i l h e l m 91, 101 Z e r i n s c h e k Klaus 32 Ziejka Franciszek 98 Zöckler T h e o d o r 154 Zola Emile 154
AUSWAHL JUDAICA Aschkenas Erscheint jährlich. Jahresabonnement:DM 98.-/ÖS 686.ISSN 1016-4987 Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden. Hg. von Friedrich Battenberg und Markus J. Wenninger in Verbindung mit dem Institut für Geschichte der Juden in Österreich und dem Deutschen Koordinierungs-Rat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit.
A Ifred Ebenbauerl Klaus Zatloukal (Hg.) Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt 1991. 3 2 0 S. 4 Karten. Br. D M 98-/ÖS 686.1SBN 3 - 2 0 5 - 0 5 3 4 2 - 7 Renommierte internationale Wissenschaftler unterschiedlicher Fachbereiche befassen sich mit Lebensbedingungen und der Geschichte der Juden im europäischen Mittelalter. Im Mittelpunkt stehen die weit in der Vergangenheit wurzelnden Klischees antijüdischer Ressentiments wie Greuelpropaganda, mittelalterliche Judenverfolgung, Ritualmordlegenden: Auschwitz beginnt nicht erst 1941!
tet wird, und den verschiedenen Entfaltungen jüdischer Identität und Antisemitismus zu k n ü p f e n . Rad i k a l i n s o f e r n , a l s d i e s e r V e r s u c h b e r e i t s im antisemitischen Sinn gemacht wurde, z u m Beispiel seit Richard W a g n e r . T h e s e des B u c h e s ist die Feststellung, daß es einen bestimmten, gewiß positiven Z u s a m m e n h a n g zwischen der sozialen und geistigen Situation der Juden zu E n d e des 19. Jahrhunderts und der Art, wie die beschriebenen Persönlichkeiten in der Kultur die intellektuellen und geistigen Probleme ihrer Zeit zu lösen versuchten, gibt.
Klaus Hödl „Vom Shtetl an die Lower East Side" Galizische Juden in New York
Leopold von Sacher-Masoch Der Judenraphael
( B ö h l a u s Z e i t g e s c h i c h t l i c h e B i b l i o t h e k , hg. von Helmut Konrad) 305 S. Br. 13 S W - A b b . D M 68.-/öS 476.ISBN 3 - 2 0 5 - 0 5 4 4 2 - 3 Die vorliegende Arbeit des Historikers Klaus Hödl zeichnet die Emigration und die Akkulturationsprozesse der galizischen Juden in New York City um die Jahrhundertwende nach. A l s gänzlich neuer Ansatz erweist sich die Untersuchung des Integrationsv o r g a n g e s in die amerikanische Gesellschaft vor dem Hintergrund der sozioökonomischen Verhältnisse des Heimatlandes Galizien.
Geschichten aus Galizien. Hg. v. Adolf Opel. (Österreichische Bibliothek. In V e r b i n d u n g mit W i l l i a m M . Johnston, Claudio Magris, herausgegeben von R o m a n Rocek. Bd. 10.) 495 S. Ln. mit SU. D M 38.-/ÖS 266.1SBN 3 - 2 0 5 - 0 5 2 0 1 - 3
Marsha L. Rozenblit Juden in Wien
1867-1914 Leon Botstein Judentum und Modernität Essays zur Rolle der Juden in der deutschen und österreichischen Kultur 1848-1938. 232 S. Geb. D M 57.-/ÖS 398.ISBN 3 - 2 0 5 - 0 5 3 5 8 - 3 Persönlichkeiten österreichischer und deutscher Kulturgeschichte zwischen 1848 und 1938, die selbst Juden waren oder mit dem Judentum in enger - positiver oder negativer - Beziehung standen, sind Akteure dieses Buches. Neu an Leon Botsteins Darstellung ist der radikale Strömung, die gewöhnlich als „ m o d e r n " betrach-
Assimilation und Identität. (Forschungen zur Geschichte des Donauraumes. Bd. 11) 258 S. Br. D M 68.-/ÖS 476.ISBN 3 - 2 0 5 - 0 1 2 0 2 - X Dieses Werk zeigt auf, wie die jüdischen Z u w a n d e rer, die nach dem Jahr 1867 den L o c k u n g e n der k. u. k. Reichshaupt- und Residenzstadt folgten, erf o l g r e i c h traditionelle V e r h a l t e n w e i s e n m o d e r n e n großstädtischen L e b e n s f o r m e n anpaßten, o h n e dabei ihre ethnische Identität a u f z u g e b e n . Lebensstil und Berufswechsel von Generation zu Generation, Siedlungsmuster und Vielfalt der zur Sozialintegration gewählten Mittel stehen im Mittelpunkt der Darstellung.