Positionen der Germanistik in der DDR: Personen - Forschungsfelder - Organisationsformen 9783110223842, 9783110201345

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German Pages 698 [700] Year 2012

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Table of contents :
Positionen der Germanistik in der DDR. Eine Einleitung
Personen
Evaluation und Transformation in der DDR-Germanistik. Ein Erfahrungsbericht
Paradigmenwechsel in der germanistischen Sprachwissenschaft. Erfahrungen in der Berliner. „Akademie der Wissenschaften“ (1954—1991)
Flucht nach dem Mauerbau
‚Bürgerliche‘ Professoren — Remigranten — Nachwuchskader. Typische Habitusformen in der DDR-Germanistik der fünfziger und sechziger Jahre
Die Zweite Hochschulreform in der Rostocker Germanistik. Zur Durchsetzung sozialistischer Universitätspolitik am Beispiel der Auseinandersetzungen um Hildegard Emmel und Walter Epping
Kunst und Wissenschaft im Dialog: die Universität im Theater. Peter Weiss, Manfred Haiduk und das Volkstheater unter Hanns Anselm Perten
Forschungsfelder
„In der Deutschen Demokratischen Republik hat das Mittelalter endgültig ausgespielt“. Die Jenaer Altgermanistik zwischen Beharrung und sozialistischer Umgestaltung
Zur germanistisch-mediävistischen Editionstätigkeit in der DDR
„Das alte Wahre, faß es an“: zur editorischen Tätigkeit an den „Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar“ (NFG)
Faszinosum und Irritation: Heinrich von Kleist im Diskurs der DDR-Literaturwissenschaft
Claus Träger und die germanistische Romantik-Forschung an der Universität Leipzig in den siebziger Jahren
Literaturgeschichtsschreibung der DDR und BRD im Vergleich. Am Beispiel von „Geschichte der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik“ (Berlin/Ost 1976) und „Die Literatur der DDR“ (München 1983)
Von gesellschaftswissenschaftlicher zu ,humanistisch-normativer‘ Rezeptionsästhetik. Zu einem methodischen Rückschritt in Germanistik und Erbetheorie der siebziger und achtziger Jahre
Von der Erziehung durch Literatur zur Erziehung zur Literatur. Literaturtheorie und -methodik der DDR in Beiträgen der Zeitschrift „Deutschunterricht“
Methoden des Literaturunterrichts in der DDR am Beispiel Schöpferische Dramenlektüre und Darstellendes Spiel
Zum Zusammenhang von sozialistischem Erbebegriff und schöpferischer Literaturaneignung im Deutschunterricht der DDR am Beispiel von Lessings „Nathan der Weise“
Theorie und Erforschung der deutschen Literatursprache. Zu den Forschungen Mirra Moiseeva Guchmanns und den Ergebnissen aus der Zusammenarbeit zwischen zwei Akademien
Germanistische Lexikographie in der DDR. Ergebnisse, Wirkungen, Probleme am Beispiel des „Wörterbuches der deutschen Gegenwartssprache“
Zur Geschichte der Schriftlinguistik in der Germanistik der DDR
Stilistik als Forschungs- und Lehrgegenstand an den Hochschulen der DDR
Funktionalstilistik von Elise Riesel als Voraussetzung zur Entstehung des gesamtdeutschen Stilforschungsraums. Ein Blick aus Moskau
Germanistische Soziolinguistik in der DDR. Ein forschungsgeschichtlicher Abriss
Grammatikforschung in der DDR
Die Generative Grammatik in Ost- und Westdeutschland
Das Ringen um eine deutsche Grammatik — in West und Ost. Das Beispiel inhaltbezogene oder funktionale Grammatik
Organisationsformen
„Wissenschaftlicher Beirat Germanistik“ und „Zentrale Fachkommission Deutsch“ als Organe der (An-)Leitung / Lenkung / Steuerung der Sektion Germanistik an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen der DDR
Die Durchführung der Dritten Hochschulreform an der Philosophischen Fakultät Rostocks
Deutschlehrerausbildung an der Karl-Marx-Universität Leipzig: Entwicklungen — Zäsuren — Verluste
Kampfauftrag, Friedenssicherung und Verteidigungsbereitschaft. Zur Lenkung der studentischen Diskussionen um Mauerbau und Wehrpflicht am Germanistischen Institut der Universität Rostock
Der doppelte Boden der Satire. Ein Studentenkabarett im Visier des Ministeriums für Staatssicherheit
Die DDR auf dem II. Internationalen Germanistenkongress in Kopenhagen 1960 als Fallbeispiel für internationale Kontakte/Auslandskontakte
Versuche der Behörden und der Germanistiklektoren aus der DDR, auf die polnische Germanistik einzuwirken. Der Fall der Warschauer Germanistik
Universitätspartnerschaften zwischen Frankreich und der DDR. Erfahrungen, Aspekte, Horizonte
Personenregister
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Positionen der Germanistik in der DDR: Personen - Forschungsfelder - Organisationsformen
 9783110223842, 9783110201345

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Positionen der Germanistik in der DDR

Positionen der Germanistik in der DDR Personen - Forschungsfelder Organisationsformen

Herausgegeben von

Jan Cölln und Franz-Josef Holznagel

De Gruyter

Gefördert durch die Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung.

ISBN 978-3-11-020134-5 e-ISBN 978-3-11-022384-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ” 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Jens Kretschmer, Hamburg Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen auf eine Tagung zurück, die vom 13. bis 17. Mai 2008 aus Anlass des 150-jährigen Jubiläums des Rostocker Instituts für Germanistik – der ältesten Seminareinrichtung in der Geschichte des Faches (Gründungsurkunde 11.06.1858) – an der Universität Rostock stattgefunden hat und von der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung ermöglicht wurde. Ihr danken wir für die angenehm unbürokratische Förderung und Herrn Dr. Markus Stanat für seine freundliche Betreuung. Die Tagungsorganisation und die Vorbereitung der Publikation wurden durch die Universität Rostock, ihre Philosophische Fakultät, die Gesellschaft der Förderer der Universität Rostock und nicht zuletzt durch den Verlag De  Gruyter unterstützt: Dafür danken wir sehr. Wissenschaftsgeschichte ohne ihre Verbindung mit jungen Studierenden- und Wissenschaftlergenerationen gerät in Gefahr, museal zu werden: Wir freuen uns daher besonders über die Beiträge von Oliver Müller (Magdeburg), Tim Reiß (Münster), Christopher Dietrich, Anita Krätzner, Björn Kutz und Gesa Vollmer (Rostock). Während der Tagung und bei den Vorarbeiten zu diesem Band durften wir auf das weit über das Vereinbarte hinausgehende Engagement von Annika Bostelmann, Jobst Herzig, Silke Hoklas und Anita Krätzner zählen. Zu danken haben wir aber auch für die Geduld der Beiträger, der Fritz Thyssen Stiftung und besonders des De Gruyter Verlages, namentlich von Frau Dr. Manuela Gerlof, die den langwierigen Prozess der Herausgabe der Tagungsergebnisse bis zur Drucklegung abwarten mussten. Ein letzter und ganz besonderer Dank für seine zuverlässige Gründlichkeit sowie beste Lösungen findende und angenehme Zusammenarbeit geht an Jens Kretschmer, der das Layout des vorliegenden Bandes gesetzt hat. Rostock, im September 2012

Jan Cölln Franz-Josef Holznagel

Inhalt Jan Cölln Positionen der Germanistik in der DDR. Eine Einleitung ...................... 1

Personen Heinz-Jürgen Staszak Evaluation und Transformation in der DDR-Germanistik. Ein Erfahrungsbericht .......................................................................... 29 Jürgen Scharnhorst Paradigmenwechsel in der germanistischen Sprachwissenschaft. Erfahrungen in der Berliner „Akademie der Wissenschaften“ (1954–1991) ...................................... 43 Heinz Vater Flucht nach dem Mauerbau .................................................................. 59 Rainer Rosenberg ‚Bürgerliche‘ Professoren – Remigranten – Nachwuchskader. Typische Habitusformen in der DDR-Germanistik der fünfziger und sechziger Jahre .......................................................... 68 Kersten Krüger Die Zweite Hochschulreform in der Rostocker Germanistik. Zur Durchsetzung sozialistischer Universitätspolitik am Beispiel der Auseinandersetzungen um Hildegard Emmel und Walter Epping ... 91

VIII

Positionen der Germanistik in der DDR

Arnd Beise Kunst und Wissenschaft im Dialog: die Universität im Theater. Peter Weiss, Manfred Haiduk und das Volkstheater unter Hanns Anselm Perten ......................................................................... 120

Forschungsfelder Reinhard Hahn „In der Deutschen Demokratischen Republik hat das Mittelalter endgültig ausgespielt“. Die Jenaer Altgermanistik zwischen Beharrung und sozialistischer Umgestaltung ....................................... 143 Rudolf Bentzinger Zur germanistisch-mediävistischen Editionstätigkeit in der DDR ...... 167 Jochen Golz „Das alte Wahre, faß es an“: zur editorischen Tätigkeit an den „Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar“ (NFG) .............................................. 185 Heike Steinhorst Faszinosum und Irritation: Heinrich von Kleist im Diskurs der DDR-Literaturwissenschaft ................................................................ 210 Monika Schneikart Claus Träger und die germanistische Romantik-Forschung an der Universität Leipzig in den siebziger Jahren ............................... 230 Jörg Schönert Literaturgeschichtsschreibung der DDR und BRD im Vergleich. Am Beispiel von „Geschichte der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik“ (Berlin/Ost 1976) und „Die Literatur der DDR“ (München 1983) ........................................ 248

Inhalt

IX

Tim Reiß Von gesellschaftswissenschaftlicher zu ‚humanistisch-normativer‘ Rezeptionsästhetik. Zu einem methodischen Rückschritt in Germanistik und Erbetheorie der siebziger und achtziger Jahre .......... 269 Christian Vorein Von der Erziehung durch Literatur zur Erziehung zur Literatur. Literaturtheorie und -methodik der DDR in Beiträgen der Zeitschrift „Deutschunterricht“ .................................................... 294 Wolfgang Brauer Methoden des Literaturunterrichts in der DDR am Beispiel Schöpferische Dramenlektüre und Darstellendes Spiel ............................. 312 Björn Kutz / Gesa Vollmer Zum Zusammenhang von sozialistischem Erbebegriff und schöpferischer Literaturaneignung im Deutschunterricht der DDR am Beispiel von Lessings „Nathan der Weise“ ..................... 324 Natalja Semenjuk / Natalja Babenko Theorie und Erforschung der deutschen Literatursprache. Zu den Forschungen Mirra Moiseeva Guchmanns und den Ergebnissen aus der Zusammenarbeit zwischen zwei Akademien ........ 337 Dieter Herberg / Klaus-Dieter Ludwig Germanistische Lexikographie in der DDR. Ergebnisse, Wirkungen, Probleme am Beispiel des „Wörterbuches der deutschen Gegenwartssprache“ ............................. 363 Dieter Nerius Zur Geschichte der Schriftlinguistik in der Germanistik der DDR ..... 387 Ulla Fix Stilistik als Forschungs- und Lehrgegenstand an den Hochschulen der DDR ...................................................................... 398

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Positionen der Germanistik in der DDR

Natalja Troshina Funktionalstilistik von Elise Riesel als Voraussetzung zur Entstehung des gesamtdeutschen Stilforschungsraums. Ein Blick aus Moskau ......................................................................... 416 Christina Janz Germanistische Soziolinguistik in der DDR. Ein forschungsgeschichtlicher Abriss .................................................. 427 Wolfgang Motsch / Peter Suchsland Grammatikforschung in der DDR ..................................................... 448 Heinz Vater Die Generative Grammatik in Ost- und Westdeutschland .................. 470 Wolfgang Sucharowski Das Ringen um eine deutsche Grammatik – in West und Ost. Das Beispiel inhaltbezogene oder funktionale Grammatik .................... 489

Organisationsformen Oliver Müller „Wissenschaftlicher Beirat Germanistik“ und „Zentrale Fachkommission Deutsch“ als Organe der (An-)Leitung / Lenkung / Steuerung der Sektion Germanistik an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen der DDR ...................................................................... 509 Matthias Glasow Die Durchführung der Dritten Hochschulreform an der Philosophischen Fakultät Rostocks ..................................................... 542 Annemarie Mieth Deutschlehrerausbildung an der Karl-Marx-Universität Leipzig: Entwicklungen – Zäsuren – Verluste .................................................. 568

Inhalt

XI

Anita Krätzner Kampfauftrag, Friedenssicherung und Verteidigungsbereitschaft. Zur Lenkung der studentischen Diskussionen um Mauerbau und Wehrpflicht am Germanistischen Institut der Universität Rostock ...................................................................... 582 Christopher Dietrich Der doppelte Boden der Satire. Ein Studentenkabarett im Visier des Ministeriums für Staatssicherheit .................................................. 608 Gabriele Czech Die DDR auf dem II. Internationalen Germanistenkongress in Kopenhagen 1960 als Fallbeispiel für internationale Kontakte/Auslandskontakte ................................................................ 633 Karol Sauerland Versuche der Behörden und der Germanistiklektoren aus der DDR, auf die polnische Germanistik einzuwirken. Der Fall der Warschauer Germanistik ................................................. 655 Günter Krause Universitätspartnerschaften zwischen Frankreich und der DDR. Erfahrungen, Aspekte, Horizonte ....................................................... 665 Personenregister .................................................................................. 678

Jan Cölln

Positionen der Germanistik in der DDR Eine Einleitung

Eine Bemerkung zum Begriff „Position“: Erstens sollten die verschiedenen methodologischen Lösungswege und Verfahren, mit denen die Wissenschaftler und Schriftsteller zur Entwicklung der marxistischen Literaturtheorie beigetragen haben, herausgearbeitet werden. Zweitens sollte sichtbar werden, welche theoretischen Erfahrungen und Entdeckungen bei der schöpferischen Anwendung des Marxismus-Leninismus auf die spezifischen Fragestellungen der einzelnen literaturwissenschaftlichen Fachdisziplinen sowie bei der künstlerischen Bewältigung unterschiedlicher Gegenstände gemacht wurden. Drittens war deutlich zu machen, daß die marxistische Literaturtheorie nicht als isolierte Fachdisziplin entwickelt werden konnte, sondern die literaturgesellschaftlichen und kulturpolitischen Zusammenhänge einbeziehen muß. Daher wird auch der kulturtheoretische und kulturpolitische Aspekt der vorgestellten literaturtheoretischen Positionen besonders herausgearbeitet. Schließlich lag uns daran, die jeweils eigene, besondere Art und Weise zu beschreiben, auf die die verschiedensten Dichter und Wissenschaftler zum Marxismus gekommen sind, weil diese Wege und Wegzeichen zu Marx und Lenin oftmals mehr über literaturtheoretische Positionen aussagen als einzelne Endergebnisse.1

Mittenzweis „Vorbemerkung“ zu dem ersten größeren Versuch einer wissenschaftsgeschichtlichen Selbstbeschreibung und Standortbestimmung der Literaturwissenschaft in der DDR perspektiviert den von ihm herausgegebenen Band „Positionen. Beiträge zur marxistischen Literaturtheorie in der DDR“, 1969 in Reclams Universal-Bibliothek, Leipzig, erschienen. Obwohl eigentlich nur drei akademische Literaturwissenschaftler (Gerhard Scholz2, 1 2

Mittenzwei, Vorbemerkung, in: Mittenzwei (Hg.): Positionen, S. 6. 1969 war Scholz, der in den Dreißigern ins Exil gezwungen wurde, Professor an der Berliner Humboldt-Universität, wo er seit 1958 lehrte; zuvor war er bis 1953 Direktor der „Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten in Weimar“ (vgl. dazu den Beitrag von Jochen Golz in diesem Band) und einer der einflussreichsten Lehrer marxistischer Literaturwissenschaft mit einer großen Reihe von Schülern, die nachfolgend an Lehrstühlen gelangten, wie z. B. Edith Braemer (Professorin in Rostock und Leipzig) und Ursula Wertheim (Professorin in Jena),

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Wilhelm Girnus3 und Werner Krauss4) portraitiert werden und sonst sieben Schriftsteller (Becher, Brecht, Fürnberg, Arnold Zweig, Seghers, Hermlin und Friedrich Wolf ), zwei Kulturpolitiker und Parteifunktionäre (Alfred Kurella und Alexander Abusch) sowie ein Literaturkritiker (Paul Rilla), markiert der Band eine neue Phase in der Geschichte dieser Disziplin5, die auch insgesamt für die Geschichte der Germanistik in der DDR gelten kann. Ein Jahr später erschien Gerhard Helbigs „Geschichte der neueren Sprachwissenschaft“ im Bibliographischen Institut VEB Leipzig – hier mit dem Untertitel „Unter dem besonderen Aspekt der Grammatik-Theorie“ – und als Lizenz in Reinbek bei Rowohlt in der Reihe Rororo-Studium. Helbigs Historisierung der Fachdisziplin der Linguistik scheint gleichermaßen ein Indikator dafür zu sein, dass eine solche neue Phase auch in der germanistischen Sprachwissenschaft erkennbar ist. Die monographische Darstellung, ihre Publikation in DDR und BRD, die ungleich fachwissenschaftlichere Ausführung und der verhältnismäßig geringfügige Anteil, den Helbig der Linguistik in der DDR an der „Geschichte der neueren Sprachwissenschaft“ einräumt, zeigen jedoch genauso erkennbar, dass die beiden Teilbereiche der Germanistik ein sehr unterschiedliches Selbstverständnis haben. Darauf wird noch einzugehen sein. Mittenzweis Positionen-Begriff enthält vier Beschreibungsfaktoren, die für die Wissenschaftsgeschichtsschreibung (nicht nur) von akademischen Disziplinen in der DDR auch in dem vorliegenden Sammelband relevant bleiben: Pluralisierung, Historisierung, gesellschaftspolitische Kontextualisierung und Individualisierung. Dass in Mittenzweis Sammelband diese Be-

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aus deren Feder das Portrait in den „Positionen“ stammt. Zu Scholz und seinem Kreis gibt es zahlreiche Forschungen: vgl. die neueren Aufsätze von Hahn, Gerhard Scholz und sein Kreis; und Klausnitzer, Wissenstransfer und Gruppenbildung (jeweils mit Hinweisen auf ältere Literatur). Wilhelm Girnus war seit 1933 in mehreren Konzentrationslagern interniert und ist nur knapp dem Tod entkommen. Der frühere Redakteur für „Neues Deutschland“ und Staatssekretär für Hoch- und Fachschulwesen war 1962–1971 Professor für Allgemeine Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin, zudem 1964–1981 Chefredakteur von „Sinn und Form“. Zu Girnus’ Einfluss auf Hochschul- und Wissenschaftspolitik in der DDR mit besonderem Augenmerk auf seine Haltung gegenüber der Mediävistik vgl. die Beiträge von Bentzinger und Hahn in diesem Band. Der Romanist Werner Krauss war 1969 Professor an der „Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin“, zuvor an der Leipziger Universität. Er war Schüler Vosslers und Auerbachs, insbesondere in den vierziger Jahren Widerstandskämpfer, dann inhaftiert und nur aufgrund eines psychiatrischen Gutachtens von mit ihm bekannten Ärzten der Todesstrafe entkommen. Vgl. den autobiographischen Bericht seines Schülers Manfred Naumann, Werner Krauss 1947. Von Karlheinz Barck, Naumann und Winfried Schröder stammt das Krauss-Portrait in den „Positionen“. Diesen Stellenwert gibt dem Sammelband bereits Hans Kaufmann in seiner „Vorbemerkung“ zu den „Materialien zur Geschichte der marxistischen germanistischen Literaturwissenschaft in der DDR“, in: Zeitschrift für Germanistik 3.1 (Februar 1982), S. 5–20, hier S. 6. Vgl. auch Saadhoff, Germanistik in der DDR, S. 170–171.

Positionen der Germanistik in der DDR. Eine Einleitung

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schreibungsfaktoren auf die ideologischen Grundlagen der „marxistischen Literaturtheorie“, des „Marxismus-Leninismus“ insgesamt angewandt werden, macht das Bemühen um einen Raum von Selbstmächtigkeit oder doch selbständigen Entfaltungsmöglichkeiten in vorgegebenen, selbstverständlich internalisierten und daher für die Autoren nicht problematisierbaren Grenzen deutlich. Dieses Bemühen bestimmt die jüngere WissenschaftlerGeneration, die eine neue Phase der Germanistik in der DDR prägt6, wesentlich mehr als die vorangegangene, die im Laufe der sechziger Jahre pensioniert wird. Literaturwissenschaftler wie Wilhelm Girnus, Gerhard Scholz und seine ersten Schüler wie Edith Braemer verstanden sich zum Teil als Aktivisten, zu deren Selbstverständnis es gehört, die eine einzige Wahrheit marxistischer Literaturwissenschaft mit ‚parteilicher Objektivität‘ gegen eine Phalanx ‚bürgerlicher‘ Literaturwissenschaftler zu erkämpfen, die ‚den‘ Fortschritt in der gesamten akademischen Breite der Forschung und Lehre be- und verhinderten.7 Für Mittenzwei hingegen galt: Unsere Bemühungen richteten sich nicht nur auf die prägnante Erfassung und Beschreibung der literaturtheoretischen Positionen der älteren Dichter- und Wissenschaftlergeneration. Es ging uns auch darum zu zeigen, daß die von uns beschriebenen Traditionen weitergeführt werden. Zwar stellt jede Zeit neue Aufgaben, die wiederum neue Methoden und Lösungswege erforderlich machen. Doch betrachten wir die Art und Weise, mit der die hier beschriebenen Dichter und Wissenschaftler mit den großen Epochenproblemen ihrer Zeit fertig wurden, als ein verpflichtendes Beispiel.8 6

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Vgl. das Kapitel zu den „Versuchen einer fachspezifischen Konturierung“ in Saadhoff, Germanistik in der DDR, S.  195–205, hier bes. S.  201–204. Mittenzwei schreibt in seinen Erinnerungen selbst, dass er „die Lage auf meinem Fachgebiet“ nie „so aussichtslos, so entmutigend wie Ende der sechziger Jahre“ fand. „Für keine andere Konzeption war mehr Platz, selbst wenn diese auf das gleiche Ziel hinsteuerte. […] Bis dahin hatte sich immer ein Terrain besetzen lassen, auf dem man eigene Gedanken plazieren und diskutieren konnte, wenn gelegentlich auch mit Blessuren.“ (Mittenzwei, Zwielicht, S. 259) Diese letzte Aussage ist so sicher nicht verallgemeinerbar; Mittenzwei hat selbst eigentlich überhaupt erst in diesen von ihm so beschriebenen sechziger Jahren mit seinen Publikationen öffentliche Diskussionen z. B. im sog. ‚Realismusstreit‘ ausgelöst. Öffentliche Diskussionen haben „Terrain[s]“ der Germanistik in der DDR immer schon erheblich eingeschränkt, auch Mittenzweis etwa in den Lukács-Debatten der Fünfziger (vgl. das Interview mit Werner Mittenzwei in: Boden/Böck [Hg.], Modernisierung ohne Moderne, S.  61). Doch Mittenzweis Formulierungen belegen die Erfahrung des starken Bedürfnisses nach Spielräumen für Diversität und damit für individuelle Entfaltungsmöglichkeit im wissenschaftlichen Diskurs. Die „Personalpolitik“ an den Universitäten der DDR zwischen 1945 und 1958 beschreibt und dokumentiert am Beispiel der Germanistik ausführlich Boden, Universitätsgermanistik in der SBZ/DDR; vgl. dazu mit Bezug insbesondere auf die Auseinandersetzungen mit Hildegard Emmel in der Rostocker Germanistik auch den Beitrag von Kersten Krüger in diesem Band sowie den Beitrag von Anita Krätzner, die zeigt, wie sich Edith Braemer bei der ‚Aktivierung‘ der Studierenden einsetzt, um eine kollektivierte öffentliche Zustimmung zur Einführung der Wehrpflicht 1962 zu erwirken. Mittenzwei, Vorbemerkung, S. 7.

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Die Autoren des Bandes kamen aus dem „Zentralinstitut für Literaturgeschichte“ (ZIL) der „Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin“ [ab 1972 „Akademie der Wissenschaften der DDR“ (AdW)] – die Romanisten Karlheinz Barck, Manfred Naumann9 und Winfried Schröder, der Germanist Werner Mittenzwei, die Slawistin Nyota Thun sowie der Anglist Robert Weimann –; dazu gehörten aber auch die assoziierten Universitätsgermanisten Joseph Pischel (Rostock) und Ursula Wertheim (Jena), von den „Weimarer Beiträgen“ und der „Neuen deutschen Literatur“ die Redakteure Anneliese Große, Reinhard Weisbach (später ebenfalls ZIL) und Werner Neubert sowie schließlich der Cheflektor des Rostocker Hinstorff Verlages Kurt Batt und der Redakteur der SED-Parteizeitschrift „Einheit. Zeitschrift für Theorie und Praxis des Wissenschaftlichen Sozialismus“ Hermann Kähler. Das „Uns“, das Mittenzwei „der älteren Dichter- und Wissenschaftlergeneration“ gegenüberstellt, ist keine geschlossene homogene Gruppe – Hermann Kähler sucht keineswegs nach einer Pluralisierung marxistischleninistischer Denkformen – , doch fast alle Beiträger – eine Ausnahme macht die 1919 geborene Ursula Wertheim – sind zwischen ca. 1925 und 1935 geboren, haben ihre Kindheit also im Nationalsozialismus und unter den Bedingungen des Zweiten Weltkrieges verbringen müssen, bekommen aber nach 1945 in der entstehenden DDR neue, zum Teil früher schon ersehnte Chancen der wissenschaftlichen Ausbildung – zuvor durch den Krieg abgebrochen oder aufgrund sozialen Herkommens nicht einmal denkbar.10 Ein großer Teil insbesondere der jungen Männer und männlichen Jugendlichen stammt aus Arbeiterfamilien (Gärtner, Industriearbeiter, Landwirte, Schneider etc.), einige sind noch im Krieg oder nach Kriegsende aus Pommern oder Schlesien umgesiedelt, nicht wenige, die bald nach 1945 ihren Schulabschluss nachholten, haben ihre Hochschulreife in Vorstudienanstalten oder nachher so benannten „Arbeiter- und Bauern-Fakultäten“11 erlangt, wo sie durch idealistische Neulehrer oder kommunistische Lehrer mit Exil- und/oder Lagervergangenheit im Nationalsozialismus beeindruckt und von einem Gemeinschaftsgeist des sozialistischen Gesellschaftsauf9

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Zur Rezeptionsästhetik, die der Romanist in dem v. a. von ihm verantworteten Band „Gesellschaft – Literatur – Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht“ von 1973 geprägt hat, vgl. den Beitrag von Tim Reiß in diesem Band. Später hat Werner Mittenzwei selbst diese Generation im Kapitel „Der Jahrgang 1927: die junge Generation“ seines Buches „Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945–2000“ beschrieben: Mittenzwei, Die Intellektuellen, S. 75–78; zu den „Positionen“ vgl. Mittenzwei, Zwielicht, S. 269–271. Ein Beitrag über Effekte der Generationen-Bildung, über kultur- und bildungspolitische sowie wissenschaftsgeschichtliche Auswirkungen der Ausbildung an „Arbeiter- und BauernFakultäten“ für das Fach Germanistik fehlt leider nicht nur in diesem Band. Zur Institution und ihren grundsätzlichen soziologischen Auswirkungen auf Biographien in der DDR am Fallbeispiel Greifswald vgl. Miethe/Schiebel, Biografie, Bildung und Institution.

Positionen der Germanistik in der DDR. Eine Einleitung

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bruchs begeistert werden.12 Hans Kaufmann – selbst 1926 in Berlin geboren, erhielt er dort in der Vorstudienanstalt seine Hochschulreife – beschreibt diese Wissenschaftlergeneration so: Ich und meinesgleichen lebten in dem Bewußtsein, daß wir durch den Faschismus, den Krieg und den Nachkrieg eine Reihe von Jahren verloren hatten. Ich habe im Alter von 22 Jahren angefangen zu studieren (manche begannen aber damals mit 30, ja mit 35 Jahren). Das Bedürfnis nachzuholen, war eine wesentliche Triebkraft, eine noch stärkere war daneben das Bewußtsein, an einem gesellschaftlichen Neubeginn mitzuwirken. Das Wichtigste aber war vielleicht noch etwas anderes: Durch den Gang der Dinge an der Universität – aber das war nur ein Spiegelbild der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung – wurden wir sehr früh gefordert. Wir wurden vielleicht etwas zu früh gefordert.13

Diese Anforderungen bestanden nicht nur darin, z. B. sofort Lehr- und Führungsverantwortung für wenig jüngere Studierende zu übernehmen.14 Diese Generation hat die Kämpfe mit den zum Teil wegen ihres profunden wissenschaftlichen Wissens und ihrer langen Akademikererfahrung unendlich überlegenen und daher durchaus angesehenen ‚bürgerlichen‘ Professoren15 wie den Literaturwissenschaftlern Hermann August Korff (Leipzig) und Joachim Müller (Jena) oder den Sprachwissenschaftlern Hermann Teuchert (Rostock) und Fritz Tschirch (Greifswald, Jena) sowie die ideologischen Richtungsauseinandersetzungen in den fünfziger und sechziger Jahren (Lukács-Debatte; Realismus-Streit) miterlebt und musste sie zum Teil früh mitkämpfen oder hat dies in ideologischer Treue und kulturpolitischer Mitverantwortung für den sozialistischen Neubeginn geglaubt tun zu müssen. Sie konnte zudem durch unterschiedliche Schulen etwa in der Akademie durch Wolfgang Steinitz (1905–1967) oder an der Potsdamer Pädagogischen Hochschule durch Wilhelm Schmidt (1914–1982) in der Sprachwissenschaft, in der Literaturwissenschaft z. B. durch nichtuniversitäre Persönlichkeiten wie Gerhard Scholz (1903–1989) in Weimar 12 13 14

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Vgl. die Zeitzeugenanalyse dieser „neuen Elite“ im Beitrag von Hans-Jürgen Staszak über „Elitenwechsel“ in der Germanistik in der DDR. Gespräch mit Hans Kaufmann in den „Materialien“ (Zeitschrift für Germanistik 3.2 [Mai 1982]), S. 162. Der Ausbildungsgeschichte der Germanistik – in den unterschiedlichen Phasen nicht nur der Germanistik in der DDR – wird wissenschaftsgeschichtlich insgesamt noch zu wenig Beachtung geschenkt: Die Studierenden von heute sind die Wissenschaftler von morgen. Zu Aspekten der wissenschaftsgeschichtlichen Verbindung zwischen Ausbildung und Geschichte der Fachdisziplin vgl. die Beiträge von Brauer, Kutz/Vollmer, Mieth und Vorein zur Methodik des Literaturunterrichts sowie die Aussagen zur Ausbildung im Bereich der Stilistik in den Beiträgen von Fix und Troshina. Vgl. auch Krüger und Scharnhorst. Vgl. von Rainer Rosenberg den Beitrag zu den Habitusformen dieser ersten ProfessorenGeneration auf germanistischen Lehrstühlen an Universitäten der DDR (s.a. Rosenberg, Die deutschen Germanisten) und den Beitrag von Kersten Krüger zur Zweiten Hochschulreform und zu den mit ihr im Zusammenhang stehenden in Rostock und später in Greifswald heftig ausgetragenen Auseinandersetzungen um die Literaturwissenschaftlerin Hildegard Emmel.

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und seinen Schüler-Kreis an den Universitäten, in Leipzig durch Frings (1886–1968) in der Sprach- und durch Hans Mayer (1907–2001) in der Literaturwissenschaft geprägt werden. In den ausgehenden fünfziger und in den sechziger Jahren werden die meisten dann mit eigenverantwortlichen Professuren betraut. Die einsatzbereite Solidarität mit dem neuen Staat, dem sie ihre Lebens- und Karrierewege ‚dankten‘, ist im Klappentext der „Positionen“ von 1969 als Ausdruck, aber auch als Einforderung eines in der und für die DDR erwarteten ‚staatstreuen‘ Wissenschaftler-Habitus folgendermaßen formuliert: So ist diese Gemeinschaftsarbeit, orientiert auf die aktuellen Fragen der Realismustheorie, Bilanz einer erfolgreichen Entwicklung und zugleich operativer Beitrag zur Klärung unabgegoltener literaturtheoretischer Probleme. Vor allem aber: Dank der Literaturwissenschaftler an ihre Republik und die Persönlichkeiten, deren Arbeit das geistige Profil der 20jährigen DDR mit geprägt hat.

Diese „erfolgreiche Entwicklung“ erfährt die beschriebene Akademiker-Generation insbesondere in den fünfziger und sechziger Jahren als einen Prozess sowohl der wissenschaftsinternen als auch ideologischen Konturierung der Fachdisziplin, deren Resultat eine zunehmende und mehr oder weniger akzeptierte Diversität der Fachwissenschaft zur Folge hat. Sie erfährt aber auch, dass Diversität, die staatlichen Instanzen oder einflussreichen Autoritäten des Diskurses zu weit geht, heftiger öffentlicher Disziplinierung ausgesetzt sein kann und was „operative[] Beitr[äge] zur Klärung unabgegoltener literaturtheoretischer Probleme“ bedeuten können.16 Mittenzwei berichtet in seiner Autobiographie auch von verschiedenen Versuchen der Einflussnahme auf die Publikation der „Positionen“: „Das Ministerium traute dem Band, der unterschiedliche Positionen nebeneinanderstellte, nicht recht. […] Deshalb wollte man ihn lieber mit einer kleinen Auflage bei Aufbau als mit einer Massenauflage bei Reclam.“17 Dass dies von den Autoren dann doch durchgesetzt werden konnte, ist für diese neue Phase der Geschichte der Germanistik in der DDR wohl ebenso bezeichnend wie der kosmetische Eingriff, nach dem die Reihenfolge der Beiträge nun von Kählers Aufsatz „Selbstbesinnung der Poesie. Zur ästhetischen Position Johannes R. Bechers“ angeführt werden sollte statt von Mittenzweis „Erprobung einer neuen Methode. Zur ästhetischen Position Bertolt Brechts“. 16

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Das weite Feld der ‚Operationen‘ vom Druck durch Parteimitglieder und -funktionäre über ‚ideologisches Mobbing‘, bis hin zu ‚operativen Vorgängen‘ durch die Staatssicherheit ist in diesem Sammelband nicht abgeschritten worden. Dies nicht in moralischer oder politischer, sondern in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive für die Germanistik an Akademien und unterschiedlichen Universitäten vergleichend aufzuarbeiten, bleibt ein Desiderat. In diesem Band vgl. insbesondere den Beitrag von Christopher Dietrich zum Rostocker Studentenkabarett, Anita Krätzners Beitrag über die Steuerung von Studierenden nach dem Mauerbau sowie die eindrücklichen Schilderungen von Heinz Vater zu seiner Flucht aus der DDR. Mittenzwei, Zwielicht, S. 271.

Positionen der Germanistik in der DDR. Eine Einleitung

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Auch handelt es sich bei den Beiträgen nicht um kritisch diskutierende Auseinandersetzungen mit den jeweiligen Positionen, sondern eher um würdigende Portraits. Konfliktpotentiale werden zudem ausgespart: Obwohl gerade Mittenzwei sich nie ganz von ihnen distanziert hat, gibt es keinen Lukács-Beitrag und selbstverständlich auch keinen Beitrag über den 1963 in den Westen gegangenen Hans Mayer.18 Die „Positionen“ pluralisieren die ideologischen Grundlagen und blicken ansatzweise zurück auf die Phase der Konstituierung und Profilschärfung der marxistischen Literaturwissenschaft in der DDR – hochschulpolitisch gesteuert durch die Zweite Hochschulreform.19 Sie verschweigen freilich die nach 1945 für den Betrieb an den Universitäten ‚notgedrungen‘ gedulteten Anfänge sogenannter ‚bürgerlicher‘ Literaturwissenschaft. Zudem fällt der Zeitpunkt der Veröffentlichung in eine Phase der neuerlichen hochschulpolitischen Steuerung der Lehre und Wissenschaft – in die Dritte Hochschulreform. In funktionsbezogen abgewandelten Ausführungsbestimmungen betrifft dieser letzte einschneidende staatliche Steuerungsprozess auch die Akademie, die nachfolgend von einer „Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin“ mit letztlich immer noch gesamtdeutschen Anspruch zu einer dezidiert eigenstaatlichen „Akademie der Wissenschaften der DDR“ transformiert wird.20 Zur Genese dieser Dritten Hochschulreform, deren Planung 1963 auf dem VI. Parteitag der SED offiziell beginnt,

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Nicht nur die ‚Krauss-Schule‘ und ‚Scholz-Schule‘, sondern auch die Auseinandersetzungen mit Lukács und der Einfluss Hans Mayers ziehen sich wie Topoi der Fachgeschichte der Literaturwissenschaft in der DDR durch sämtliche Zeitzeugengespräche der „Materialien“ in der „Zeitschrift für Germanistik“. Alfred Klein (Zeitschrift für Germanistik 4.4 [November 1983], S. 397) und Siegfried Streller (Zeitschrift für Germanistik 5.1 [Februar 1984], S.15) sprechen zu der Zeit ohne jede Polemik auch von sich selbst als ‚Mayer-Schüler‘ genauso wie später Mittenzwei (Mittenzwei, Zwielicht, S. 82–87, hier besonders S. 87). Zu unterschiedlichen Auseinandersetzungen mit Mayer vgl. die Beiträge von Czech und Müller sowie Schneikart und Steinhorst in diesem Band. Vgl. den Beitrag von Kersten Krüger in diesem Band. Zur Dritten Hochschulreform vgl. insbesondere den Beitrag von Matthias Glasow in diesem Band. Einen zusammenfassenden Überblick über die Hochschulreformen in der DDR bietet Siegfried Baskes Kapitel „Das Hochschulwesen“, in: Führ/Furck (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte 6.2, S. 202–228. Welche Auswirkungen diese Reform auf die Universität Jena hatte, beschreiben Kaiser/Stutz/Hoßfeld, Modell- oder Sündenfall? Vgl. dazu auch die vorzüglichen Kapitel in den Darstellungen zu den Universitätsjubiläen von Leipzig (Hehl [Hg.], Das zwanzigste Jahrhundert), Jena (Hoßfeld/Kaiser/Mestrup [Hg.], Hochschule im Sozialismus) und Berlin (Schulz, „Sozialistische Wissenschaft“). Zu der Akademiereform vgl. Scheler, Akademie; Malycha, Akademie der Pädagogischen Wissenschaften; mit besonderem Akzent auf die Sprachwissenschaft: Nötzold, Wolfgang Steinitz und die Akademie; mit Fokus auf das „Zentralinstitut für Literaturgeschichte“: Boden/Böck (Hg.), Modernisierung ohne Moderne (zu Mittenzwei selbst in diesem Prozess vgl. ebd., S. 34–50, sowie das Interview mit ihm, besonders S. 60–77).

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gehört als Voraussetzung, dass die DDR sich und seine Bürger von der BRD durch den Mauerbau definitiv abgegrenzt hat.21 Später werden die „Positionen“ dann sogar zur offiziellen „Pflichtliteratur“ im „Lehrprogramm für das Lehrgebiet Marxistisch-leninistische Literaturtheorie zur Ausbildung in der Grundstudienrichtung Germanistik“, das vom „Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen“ 1978 erlassen wird. 1982 ist es in der Fachzeitschrift „Zeitschrift für Germanistik“ wohl nicht mehr heikel für Hans Kaufmann in seiner „Vorbemerkung“ zu den „Materialien zur Geschichte der marxistischen germanistischen Literaturwissenschaft in der DDR“ zu formulieren, „daß die ‚gegebenen‘, ‚fertigen‘ Erkenntnisse in Wahrheit unter bestimmten Bedingungen von Personen, Gruppen, Klassen, Gesellschaften und im Widerstreit mit anderen Auffassungen hervorgebrachte Produkte sind und daß dieser Prozeß des Werdens einer Wissenschaft auch heute und in Zukunft weitergeht“ oder dass der Marxismus „Dominanten, Trends, gemeinsame Züge“ habe, sich aber erst durch „Individuen [realisiere], in deren Handeln sich das Allgemeine auf besondere Weise durchsetzt, entsprechend der jeweiligen Biographie, Fähigkeit, Neigung, der subjektiven Art, sich den Erfordernissen zu stellen“.22 Historisierung, Kontextualisierung, Pluralisierung und Individualisierung (ansatzweise sogar eine Subjektivierung) insbesondere der fachwissenschaftlichen Konturierung in unterschiedlichen Diskursfeldern, aber auch des ideologischen Fundamentes marxistischer Literaturwissenschaft sind wiederum die wissenschaftsgeschichtlichen Beschreibungsinstrumentarien, mit denen der wissenschaftliche Bewegungsspielraum freilich innerhalb der gesellschaftspolitisch als selbstverständlich aufgefassten Grenzen ausgelotet wird – die Gesprächsreihe mit Ursula Wertheim (*1919), Hans Kaufmann (*1926), Hans-Günther Thalheim (*1924)23, Hans Jürgen Geerdts (*1922)24, Claus Träger (*1927)25, Inge Diersen (*1927)26, Alfred Klein (*1930), Siegfried Streller (*1921)27, Hans Richter (*1928), Horst Haase 21

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Zu den staats- und kulturpolitischen Steuerungsmaßnahmen, mit denen das Verhalten der Akademiker – insbesondere der Studierenden – an den Universitäten zum Mauerbau gelenkt wurde, vgl. den Beitrag von Anita Krätzner in diesem Band. Kaufmann, Vorbemerkung, in: Materialien (Zeitschrift für Germanistik 3.1 [Februar 1982]), S. 5. Zu Thalheim vgl. in diesem Band den Beitrag zur Kleistforschung in der DDR von Heike Steinhorst. Zu den Beiträgen von Geerdts und Haase zum 11. Band über die „Literatur der DDR“ der kulturpolitisch geplanten und von der Akademie durchgeführten „Geschichte der deutschen Literatur“ vgl. den Beitrag von Jörg Schönert. Vgl. den Beitrag von Monika Schneikart in diesem Band. Zu Inge Diersen vgl. Müller, Die Erzählforscherin Inge Diersen. Zu Strellers Kleistforschung vgl. in diesem Band den Beitrag von Steinhorst.

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(*1929)24 und Hans-Georg Werner (*1931)28 ist dem 100. Todestag von Karl Marx gewidmet. Es ist bereits gesagt worden, dass nicht alles, was bislang am Beispiel der „Positionen“ zur Literaturwissenschaft in der DDR ausgeführt wurde, in demselben Maße auch für die Sprachwissenschaft gilt. Eine ganz entscheidende Differenz liegt darin, dass sich – trotz der bekannten Arbeiten z. B. von Friedrich Engels – zunächst keine der Literaturwissenschaft analoge ‚marxistische Sprachtheorie‘ als ideologisches Fundament der Linguistiken in der DDR etabliert hat, die in wissenschaftlichen oder kulturpolitischen Debatten hätte eingefordert werden können. Stattdessen ist die germanistische Sprachwissenschaft in der DDR bis in die sechziger Jahre hinein geprägt durch einen Prozess der Internationalisierung und Verwissenschaftlichung der Linguistik und besonders der Grammatiktheorie nach 1945, die im gesamten Deutschland überhaupt erst einen Theorie- und Terminologieanschluss an die im Nationalsozialismus verhinderte Konturierung der Disziplin leisten musste. Dies erfolgte insbesondere durch die Anknüpfung germanistischer Sprachwissenschaft an neue Theorieansätze in der europäischen Linguistik des 20. Jahrhunderts, besonders im ‚Prager Strukturalismus‘29 und seiner Variante in Kopenhagen, durch die Anwendung neuerer Beschreibungsmodelle wie der Valenzgrammatik sowie in den fünfziger Jahren dann durch die Reflexion und Applikation des amerikanischen Strukturalismus Chomskys auf die deutsche Sprache.30 Dem entspricht eine für das Selbstverständnis dieser Fachdisziplin erhebliche Ausdifferenzierung und Schwerpunktverlagerung: Dominant werden die Allgemeine Sprachwissenschaft und die in der Germanistik bis dahin höchstens in Ansätzen vorhandene Gegenwartslinguistik31, die die vorher fast ausschließlich verfolgte zentrale Disziplin der Sprachgeschichte stärker an den Rand des wissenschaftlichen Feldes drängt.32 28 29

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Zu Werners Konzepten der Rezeptionsforschung vgl. den Beitrag von Tim Reiß, zu Werners Bedeutung für die Methodik des Literaturunterrichts vgl. Christian Vorein in diesem Band. Vgl. den Einfluss dieser Richtung auf die Lexikographie in der DDR, den der Beitrag von Jürgen Scharnhorst in diesem Band deutlich macht, sowie die Beiträge zur Stilistik in der DDR von Ulla Fix und von Natalja Troshina zu Elise Riesel in diesem Band. Vgl. die Beiträge von Vater und Motsch/Suchsland in diesem Band. Völlig neu entstandene Paradigmen der germanistischen Linguistik sind dabei die Lexikographie der Gegenwartssprache, die Orthographieforschung sowie die Soziolinguistik: vgl. die Beiträge von Herberg/Ludwig, Nerius und Janz in diesem Band. Dies beschreibt Jürgen Scharnhorst in diesem Band als einen „Paradigmenwechsel“ in seiner eigenen wissenschaftlichen Vita, die ihn von seinen Rostocker Anfängen bei dem Sprachhistoriker Hermann Teuchert und dem Vergleichenden Sprachwissenschaftler Hans Jensen an die „Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin“ führte, um dort zunächst bei Frings an dem von den Gebrüdern Grimm iniziierten historisch angelegten „Deutschen Wörterbuch“, dann aber bei Wolfgang Steinitz am „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ zu arbeiten.

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Diese Situation der Fachdisziplin lässt sich an Helbigs Rückblick auf die „Geschichte der neueren Sprachwissenschaft“ (1. Aufl., 1970) gut ablesen: 1.) Den Anschluss an internationale Debatten der Linguistik markiert die Monographie auf den ersten 120 Seiten, in denen Helbig die „Neuorientierung“ bei de Saussure sowie die „Herausbildung der strukturellen Linguistik“ in der Prager Schule, der Kopenhagener Schule, im amerikanischen Deskriptivismus, sowie in den unterschiedlichen Schulen des Strukturalismus in den USA, der Sowjetunion, England und Frankreich beschreibt. 2.) Die germanistische Linguistik zwischen 1945 und 1970 wird – in der DDR wie in der BRD – in erheblichem Maße pluralisiert und entwickelt sich zu einer wissenschaftlich stark konturierten Disziplin mit hoher fachinterner Diversität. Helbig beschreibt und diskutiert sechs unterschiedliche Verständnis- und Beschreibungsmodelle der Grammatik. Im „Vorwort“ formuliert Helbig: Wenn im gegenwärtigen Augenblick – trotz der stürmischen Entwicklung der Linguistik und der daraus resultierenden Tatsache, daß heute kaum noch alle Richtungen von einem einzigen Linguisten verarbeitet werden können – eine zusammenfassende Darstellung gewagt worden ist, so vor allem deshalb um dem dringenden Bedürfnis nach einem Werk mit Überblickscharakter abzuhelfen.33

3.) Entwicklungen in der Sprachgeschichtsschreibung kommen in seiner „Geschichte der neueren Sprachwissenschaft“ in der gewählten Perspektive auf Grammatiktheorien nicht vor.34 Dass die Sprachgeschichtsschreibung dennoch in der DDR mehr noch als in der BRD ein wichtiges Paradigma der germanistischen Linguistik bleibt, liegt weniger an den sprachhistorischen Arbeiten bedeutender Mediävisten nicht zuletzt eines Heinz Mettke, die an der Peripherie des wissenschaftlichen Feldes entstehen können35, sondern an der Konstellation in der „Akademie der Wissenschaften der UdSSR“, in der mit der Person von Mirra Moiseeva Guchmann eine prägende Wissen33 34

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Helbig, Geschichte, S. 9. Symptomatisch dafür ist, dass auch in dem „Rundtischgespräch“ über „Ergebnisse, Positionen und Perspektiven der germanistischen Linguistik in der DDR“ vom 10. Juni 1988 fast ausschließlich synchron arbeitende Sprachwissenschaftler (Erwin Arndt, Wolfgang Fleischer, Wolfdietrich Hartung, Gerhard Helbig, Gotthard Lerchner, Georg Michel, Wolfgang Motsch, Dieter Nerius, Werner Neumann, Dieter Viehweger) auf ihre Fachdisziplin zurückblicken. Rudolf Grosse hatte an gleicher Stelle im Mai 1985 einen Einzelbeitrag über „Die Sprachgeschichtsforschung in der DDR“ publiziert Die Transkription des „Rundtischgespräches“ ist dann von der Geschichte überholt worden, als es im Dezember 1989 und im Februar 1990 in der „Zeitschrift für Germanistik“ erschien. Gleiches gilt für die Vorträge einer Tagung des „Zentralinstituts für Sprachwissenschaft“ am 30.10 und 1.11.1989, die 1991 publiziert wurden. – Eine wissenschaftsgeschichtlich kommentierte Edition solcher Dokumente der Fachgeschichte – auch die „Materialien zur Geschichte der marxistischen germanistischen Literaturwissenschaft“ gehörten dazu – bleibt ein Desiderat. Zu den Leistungen der Jenenser Germanistik in der Sprachgeschichtsschreibung, insbesondere von Henrik Becker und Heinz Mettke vgl. den Beitrag von Reinhard Hahn in diesem Band.

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schaftlerin in der Sprachgeschichtsschreibung wirkt.36 4.) Helbigs Monographie verzichtet und kann verzichten auf jede ideologische Fundierung oder darauf, sich als ‚parteilicher‘, ‚operativer Beitrag‘ im staatlichen Kampf der Systeme zu inszenieren respektive dies von sich einzufordern – auch wenn dieser Aspekt in dem Vorwort 1970 angesprochen werden muss: Es ist selbstverständlich, daß es sich beim gegenwärtigen Stand der Entwicklung vornehmlich um eine kritische Bestandsaufnahme handeln muß und noch keineswegs alle linguistischen Modelle unter dem Gesichtspunkt einer – noch nicht voll ausgearbeiteten – marxistischen Sprachtheorie durchleuchtet werden können.37

Auf Weiterentwicklungen der Grammatiktheorie, die in der DDR erbracht werden, geht Helbig zudem explizit nur auf wenigen Seiten in den Kapiteln zur funktionalen sowie generativen Transformationsgrammatik ein.38 Als Helbigs Buch erscheint, erfolgt jedoch die ‚marxistisch-leninistische‘ Wende zur Sprachwissenschaft als einer „Produktivkraft“39 für „unsere Menschen“ in der DDR, um „ihr Sprachvermögen besser als Instrument und Waffe im Klassenkampf gegen den Imperialismus einsetzen [zu] können“.40 Eingeläutet, forciert und programmatisch eingefordert wird dies im Rahmen der Dritten Hochschul- und der Akademiereform von Werner Neumann. Als erster Leiter des neu geschaffenen „Zentralinstituts für Sprachwissenschaften“ (ZISW)41 der Akademie und Vorsitzender des „Rates für Sprachwissenschaft“42 fordert er, dass „alle Sektionen und Institute im Leninjahr 1970 eine intensive politisch-ideologische Arbeit leisten, um jede Form des Konservatismus, jede Isolierung der Sprachwissenschaft vom politisch praktischen Kampf der Arbeiterklasse und ihren theoretisch-ideologischen Auseinandersetzungen zu überwinden.“43 Helbigs Monographie über die „Entwicklung der Sprachwissenschaft seit 1970“ von 1984 bildet diese 36

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Zur sprachgeschichtlichen Forschung an der „Akademie der Wissenschaften der DDR“ vgl. Schmidt, Sprachhistorische Forschung. Zu Guchmann und der Zusammenarbeit zwischen den Akademien der UdSSR und der DDR vgl. den Beitrag von Semenjuk/Babenko. Helbig, Geschichte, S. 9. Zur Diskussion der Grammatikmodelle vgl. in diesem Band die Beiträge von Vater, Motsch/Suchsland und Sucharowski. Zur „Linguistik im geteilten Deutschland“ vgl. Skibitzki/Vater. Zu diesem Funktionsverständnis von Wissenschaft als Teil der Gesellschaft vgl. Malycha, „Produktivkraft Wissenschaft“. Neumann, Die Sprachwissenschaft der DDR vor neuen Aufgaben, S. 438. Aufgelöst wird dadurch das „Institut für deutsche Sprache und Literatur“; vgl. dazu Bentzinger, Das Institut für deutsche Sprache und Literatur; zu seiner Auflösung s. ebd., S. 164–167. Nach eigener Aussage ist „die zentrale Planung, Koordinierung und Kontrolle der sprachwissenschaftlichen Forschung der DDR nach den Prinzipien der modernen sozialistischen Wissenschaftsorganisation“ die Aufgabe dieses Rates (Neumann, Sprachwissenschaft der DDR, S. 437). Ebd., S. 441. Zur Politisierung der Sprachwissenschaft und zu Neumann vgl. Wurche, Marx und Engels in der DDR-Linguistik, S. 90–94.

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Wende ab, indem das erste Kapitel durch Abschnitte eingeleitet werden, die „Anforderungen der Gesellschaft an die Sprachwissenschaft“ und die „Marxistisch-leninistische[n] Grundpositionen in der Sprachwissenschaft“ formulieren. So wird auch die germanistische Linguistik von ideologischen und/oder staatlichen Steuerungsmaßnahmen beeinflusst: Die fachinterne Diskussion der Beschreibungsmodelle für Grammatiken insbesondere zwischen Vertretern der funktionalen und generativen Grammatik bekommt in den siebziger Jahren durch ideologische Argumente zur Profilierung der funktionalen Grammatik als eines maßgeblichen Modells vor allem für die Schulen öffentlichkeitsrelevante und damit bildungs- und wissenschaftspolitische Brisanz.44 Vom Standort der Pädagogischen Hochschule Potsdam aus, an der Wilhelm Schmidt45 1972 ein „Institut für marxistisch-leninistische Sprachtheorie in der Sprachlehrerausbildung“ gründete, – und damit im Zentrum des bildungs- und wissenschaftspolitischen Feldes – agieren Vertreter der funktionalen Grammatik zusätzlich mit ideologischen und bildungspolitischen Argumenten gegen Vertreter der generativen Grammatik mit ihren vor allem wissenschaftsinternen, zudem von dem amerikanischen Strukturalismus inspirierten Argumenten vom Standort der Berliner „Arbeitsstelle strukturelle Grammatik“.46 Die funktionale Grammatik war den Anforderungen an eine Sprachwissenschaft der DDR, denen Neumann als Leiter des neu geschaffenen ZISW Ausdruck verlieh, so erfolgreicher anzupassen.47 44

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Vgl. die Darstellung bei Motsch/Suchsland in diesem Band, die ausführen, dass die in dieser Diskussion wirkungsmächtigste Autorität für die funktionale Grammatik, Wilhelm Schmidt, mit ideologisch geformten bildungspolitischen Argumenten insbesondere gegen den Anspruch der Befürworter für strukturelle Grammatik um Walter Flämig vorging, eine theoretische Grundlegung für den Sprachunterricht erarbeitet zu haben. Schmidts „Grundfragen der deutschen Grammatik. Eine Einführung in die funktionale Sprachlehre“ waren im Berliner Volk und Wissen-Verlag 1965 erschienen und wurden bis 1983 sechsmal aufgelegt. Obwohl Manfred Bierwisch, Karl-Erich Heidolph, Wolfgang Motsch und Peter Suchsland die Unterstützung von Werner Neumann – er hatte an der „Skizze der deutschen Grammatik“ von 1972 auch mitgewirkt – für das erste Heft der „Linguistischen Studien“ (1973) organisierten, hat der Versuch, ihren Ansatz einer von Chomsky ausgehenden generativen Grammatik als konform mit Neumanns neuer Parole marxistisch-leninistischer Sprachwissenschaft als ‚Produktivkraft‘ gegen den Imperialismus darzustellen, keinen dauerhaften Erfolg. Vgl. den Gemeinschaftsbeitrag zur „Grammatiktheorie, Sprachtheorie und Weltanschauung. Bemerkungen über das Verhältnis der marxistisch-leninistischen Sprachwissenschaft zur generativen Transformationsgrammatik N. Chomskys“. Schon im folgenden zweiten Heft verbeugt sich Neumann vor dem Nestor der funktionalen Grammatik, Wilhelm Schmidt, mit einem ihm gewidmeten Beitrag. Schmidt wiederum ist Redaktionsmitglied der „Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung“, in der Neumann seine programmatischen Beiträge zur marxistisch-leninistischen Sprachtheorie publiziert. Vgl. dazu auch den Rückblick von Bierwisch, Grammatikforschung in der DDR; sowie: Wurzel, Wolfgang Ullrich: Zur Geschichte der theoretischen Grammatik in der DDR, in:

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Auch in Helbigs „Entwicklungen der Sprachwissenschaft seit 1970“ stehen die Abschnitte zur generativen Grammatik nun im Kapitel „Kritische Einschätzung älterer Sprachauffassungen und Grammatiktheorien“. Die jetzt „funktional-kommunikativ“ genannte Richtung stellt er im zweiten Hauptteil über die „Richtungen der kommunikativ-pragmatisch orientierten Linguistik“ dar, die er auch noch eigens von der englisch-amerikanischen Sprechakttheorie abgrenzt. Außerdem konnte sich Potsdam durch diese Argumentationsstrategie wohl die Unterstützung weiterer staatlicher Institutionen des hochschulpolitischen Feldes sichern.48 Dies impliziert aber keinen Abschluss der innerdisziplinären Diskussion – noch heute weder in der einen noch in der anderen Richtung. Da die „Arbeitsstelle strukturelle Grammatik“ an der „Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin“ im Zuge ihrer Transformation zur „Akademie der Wissenschaften der DDR“ aufgelöst wurde, gruppierten sich Mitarbeiter der Arbeitsstelle im entstandenen „Zentralinstitut für Sprachwissenschaften“ neu und veröffentlichten ihre Grammatik insbesondere unter der Leitung von Walter Flämig (1918–2009), wenn auch mit starker verlagspolitisch begründeter Verspätung 1981.49 Im gleichen Jahr erscheint auf der Basis der funktionalen Grammatiktheorie unter der Leitung von Karl-Ernst Sommerfeldt und Günter Starke die „Einführung in die Grammatik und Orthographie der deutschen Gegenwartssprache“ (Dieter Nerius verantwortete den Abschnitt zur Orthographie), die von 1988 bis 1997 als „Einführung in die Grammatik der deutschen Gegenwartssprache“ nicht nur in der DDR sehr erfolgreich bleibt. Trotz der Auseinandersetzungen im Diskurs des bildungs- und wissenschaftspolitischen Feldes setzt sich methodische Diversität durch, die die Fachdisziplin wissenschaftlich weiter konturiert. Sobald die Sprachwissenschaft mit ihren Forschungs- und Arbeitsprojekten in den Fokus kulturpolitischer Interessen des Staates gelangt, ergeht es einzelnen Vertretern wie ihren literaturwissenschaftlichen Kollegen. Das v. a. als Forschungsinnovation in den fünfziger Jahren an der Akademie unter der Leitung von Wolfgang Steinitz begonnene Pionierprojekt eines „Wörterbuchs der deutschen Gegenwartssprache“ mit dem Anspruch, ein gesamtdeutsches Wörterbuch zu sein, wird – sicher auch aus Gründen der

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Drews/Lehmann (Hg.), Dialog ohne Grenzen, S. 131–141. Beide waren Mitglieder der „Arbeitsstelle strukturelle Grammatik“. Vgl. kurz zusammenfassend Wurche, Marx und Engels in der DDR-Linguistik, S. 95–96. Vgl. den Beitrag von Motsch/Suchsland in diesem Band. Den Einfluss der „Zentralen Fachkommission Deutsch“ und des „Wissenschaftlichen Beirates Germanistik“ gälte es allerdings aufgrund von Archivmaterialien genauer zu belegen und zu untersuchen. Zu diesen einflussreichen Institutionen der Hochschul- und Wissenschaftspolitik vgl. die Beiträge von Czech und besonders von Müller in diesem Band. 1991 erscheint von Walter Flämig die „Grammatik des Deutschen. Einführung in Strukturund Wirkungszusammenhänge“, erarbeitet auf der theoretischen Grundlage der „Grundzüge einer deutschen Grammatik“ von 1981.

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wissenschaftspolitischen Profilierung – vom Staat nicht nur stark gefördert. Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre wird auch die Wörterbucharbeit in den Dienst des ideologischen Klassenkampfes genommen, um die DDR ‚parteilich‘ von der BRD abzugrenzen.50 In den siebziger Jahren wird z. B. die Orthographieforschung staatlich gefördert und in einem zentralen Forschungsplan aufgenommen, um sich bei Anfragen zu einer gesamtdeutschen Orthographiereform von der BRD Einfluss sichern zu können.51 In den achtziger Jahren kann die politische Förderung dieser wissenschaftlichen Projekte sogar in Publikationsverbot umschlagen, wenn die politischen Direktiven zu Maßnahmen staatlicher Abgrenzung von den Forschungsergebnissen unterlaufen zu werden scheinen. Die bereits durch soziale Vernetzung u. a. auch mit Forschern und Verbünden in der BRD erstarkte Eigendynamik der linguistischen Forschungen aber wollte oder konnte man wohl nicht mehr beliebig steuern. Solche Eigendynamik von Forschung in den einzelnen wissenschaftlichen Teildisziplinen der Germanistik führt durch Publikationen und Tagungen, Arbeitsgesprächen und großräumigen Forschungsverbünden nicht nur zur vom Staat gewünschten und geförderten Profilierung, sondern auch zu einer sozialen Vernetzung innerhalb und außerhalb der DDR. Institutionelle Orte der Vernetzung – zum Teil mit lange in die Zeit vor dem Nationalsozialismus reichenden Traditionen – im wissenschaftssoziologischen Feld der Germanistik sind v. a. die Akademie52 mit ihren ost-/westdeutschen Kooperationsprojekten wie dem „Deutschen Wörterbuch“, dem „Goethe-Wörterbuch“ und den Editionsreihen53, die „Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten in Weimar“ mit den Editionsprojekten der „Nationalausgabe“ von Schiller und Heine (v. a. zusammen mit französischen Germanisten) sowie der Nietzsche-Ausgabe (mit italienischen Kooperationspartnern).54 Auch Kooperation von Wissenschaft und Kultur produziert nicht nur Diversität des kulturellen Lebens: Aufführungen von Peter Weiss’ Theaterstücken in Rostock führen zur besonderen Erforschung dieses Autors in der DDR und umgekehrt zu dessen neuer literarischer Tätigkeit.55 Vernetzung leis50

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Dies beschreiben und dokumentieren eindrücklich Dieter Herberg und Klaus-Dieter Ludwig in ihrem Beitrag zu diesem Band. Vgl. auch die Arbeiten von Lech Zieliński, z. B.: Zieliński, Ideologie und Lexikographie Dies führt Dieter Nerius in seinem Beitrag zu diesem Band aus. Vgl. dazu Nötzold, Akademie als Zentren der Forschung. Vgl. z. B. den Beitrag von Rudolf Bentzinger zu den seit 1904 im Berliner Akademie-Verlag erscheinenden „Deutschen Texten des Mittelalters“, zu denen nach 1945 nicht nur westdeutsche Mediävisten Bände beitrugen, sondern auch Wissenschaftler aus anderen nichtsozialistischen Staaten. Vgl. dazu den Beitrag von Jochen Golz. Dies führt der Beitrag von Arnd Beise vor. Die Sperrigkeit und Eigenwilligkeit des Autors lässt sich allerdings nicht nur in der ehemaligen BRD schlecht vereinnahmen: Sein Trotzki-

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ten Deutsch-Lektorate an ausländischen Universitäten56, überhaupt die zahlreichen internationalen Kooperationsvereinbarungen und Studentenaustausche57 sowie große internationale Tagungen, insbesondere die regelmäßigen Germanistenkongresse58. Disziplinäre Vernetzung erfolgt auch auf den Distributionswegen der Forschungsergebnisse durch Verlage59, deren Publikationen das Forschungsprofil der DDR auch außerhalb ihrer Grenzen auf dem Wissenschaftsmarkt lancieren und zudem zum Teil auch mit Lizenzvereinbarungen z. B. in westdeutschen Verlagen erscheinen.60 Eine umfassende, ihrer Ergebnisse enzyklopädisch gewisse wissenschaftliche Aufarbeitung des Faches Germanistik in der DDR steht trotz inzwischen zahlreicher Publikationen noch aus und wird auch nicht durch den vorliegenden Sammelband erreicht, dessen Beiträge auf eine Tagung zurückgehen, die 2008 aus Anlass des 150jährigen Jubiläums der ältesten Seminareinrichtung in der Geschichte des Faches an der Universität Rostock stattgefunden hat und von der „Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung“

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Stück macht die Veröffentlichung von Manfred Haiduks wissenschaftlicher Monographie über Peter Weiss im Henschel-Verlag zu einem Politikum. Vgl. zu dieser besonderen ‚Vernetzung‘ insgesamt den Briefwechsel zwischen Autor und Wissenschaftler in: Gerlach/Schutte (Hg.), Diesseits und jenseits der Grenze. Über Möglichkeiten und Problematik dieser natürlich stets staatlich gesteuerten Auslandskontakte vgl. z. B. den Beitrag von Günter Krause und insbesondere von Karol Sauerland. Zur Germanistik in Warschau vgl. auch Stroka, Germanistik in Warschau; zu solchen internationalen Vernetzungen vgl. insgesamt den thematischen Schwerpunkt „Dialog der Germanisten in Zeiten der Teilung“ im Jahrbuch „Convivium“ 2009. Zu teilweise überraschenden Möglichkeiten für Studentengruppen nicht nur im sozialistischen Ausland vgl. den Beitrag von Christopher Dietrich über Auftritte und Austausch von Studentenkabaretten. Vgl. dazu den Beitrag von Gabriele Czech, der vorführt, wie staatliche Instanzen der DDR die komplexen Prozesse des Austausches an diesen Orten des sozialen Netzwerkens zu steuern versuchen. Zur Problematik der Teilung von für die Germanistik wichtigen Verlagen am Beispiel des früher Hallensischen, dann auf Halle und Tübingen verteilten, schließlich nur noch in Tübingen existierenden Niemeyer Verlages vgl. den Beitrag von Rudolf Bentzinger in diesem Band. Das bereits erwähnte Buch von Gerhard Helbig ist dabei kein Einzelfall: Insbesondere zahlreiche Einführungen und Gesamtdarstellungen zur deutschen Sprachwissenschaft im VEB Bibliographischen Institut Leipzig gelangten in die universitäre Ausbildung in der BRD. – Umgekehrt ist die Steuerung von Wegen der Publikations-Importe zu berücksichtigen, was bislang nicht systematisch für die Wissenschaftsdisziplin der Germanistik erforscht ist. Nach staatlichen Forschungsplänen ist z. B. die Rostocker Germanistik – hier war Hans-Joachim Bernhard bereits zu einem Fachmann für Heinrich Böll profiliert – zuständig gemacht worden für die Erforschung der Literatur der BRD, zu der ein Teilband im Rahmen der „Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart“ (vgl. dazu den Beitrag von Jörg Schönert) zu verfassen war. Die Beschaffung der notwendigen Literatur erfolgte dafür auch über den Umweg der USA, wohin Bernhard – natürlich gedeckt und bewacht von staatlichen Instanzen – eine Institutspartnerschaft organisierte.

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gefördert wurde. Die Tagung wie der vorliegende Band verfolgen das Ziel, die Ergebnisse der jüngeren Forschungen auf den unterschiedlichen Feldern der Fachgeschichte durch exemplarische Einzelfallstudien zu Personen, Forschungsfeldern und Organisationsformen der Institutionengeschichte zu bündeln und zu vertiefen. Dabei liegt der Schwerpunkt dieses Bandes auf der Analyse von Forschungsschwerpunkten und Methodendiskussionen in drei zentralen Teildisziplinen (Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft und Fachdidaktik, genauer: Methodik des Literaturunterrichts).61 Die institutionelle Einbindung der akademischen Germanistik wird gegenstandsbezogen mal mehr und mal weniger im wissenschaftssoziologischen Feld von Forschung, Politik und Öffentlichkeit reflektiert – ein Aspekt, der in einigen Beiträgen im eigentlichen Fokus der Untersuchung liegt. Auf diese Weise zeichnet der vorliegende Band das System und die Geschichte einer bedeutenden akademischen Disziplin an unterschiedlichen Standorten in der DDR und in ihren verschiedenen Phasen nach, indem er die wissenschaftlichen Leistungen dokumentiert und wissenschaftshistorisch reflektiert. Die Beiträge als Ganzes skizzieren aber auch die Geschichte der ideologischen Vereinnahmungen von Forschung durch den Staat und beschreiben dessen Einflussnahme auf einzelne Wissenschaftler, Ausbildungsstrukturen und Forschungsfelder. Das möge nicht vereinfacht als politische Anklage an ein nicht mehr existentes Staatssystem verstanden werden: Wissenschaft und Ausbildung zu ermöglichen ist die Aufgabe jedes Staates und es gibt keinen, der dafür komplett freie Gestaltungsräume vorhält. Die Forderung von Jaspers an staatliche Hochschulpolitik und an die Verantwortung der Wissenschaftler nach dem Ende des Nationalsozialismus war damals schon und ist auch heute noch idealistisch im besten Sinne: Daß das Dasein und die äußere Gestalt der Hochschule von politischen Entscheidungen abhängig sind, und auf dem verläßlichen Staatswillen beruhen, bedeutet, daß innerhalb der Hochschule – diesem durch den Staatswillen freigegebenen Raum – nicht der praktische Kampf, nicht politische Propaganda, sondern allein das ursprüngliche Wahrheitssuchen seinen Ort hat. Das bedeutet die Forderung der unbedingten Lehrfreiheit. Der Staat sichert an dieser Stelle einer Korporation das Recht, ohne Beeinflussung durch den politischen

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Leider war es nicht in angemessener Weise möglich, das Fach ‚Deutsch als Fremdsprache‘ in die Tagung zu integrieren. Dies ist umso bedauerlicher, als das Fach nicht nur aus bildungspolitischen Gründen ein wichtiger Bestandteil der DDR-Germanistik war, sondern durch seine fachlichen Leistungen internationales Renommee besitzt. Vgl. die große Bedeutung, die Gerhard Helbigs und Joachim Buschas Lern-Handbuch für Deutsch als Fremdsprache hat: Gerhard Helbig und Joachim Buscha: Deutsche Übungsgrammatik, Leipzig 1977 (jetzt: Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht, Berlin 2006). Zur Geschichte dieser Fachdisziplin vgl. Blei, Fachgeschichte Deutsch als Fremdsprache.

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Parteiwillen oder weltanschaulichen Zwang rein aus der Sache heraus den Versuch zu machen, die Wahrheit zu erforschen und zu lehren.62 […] Die Lehrfreiheit bedeutet: Die Forscher gehen die Wege Ihrer Forschung und ihrer Lehre nach eigenem Ermessen. Die Staatsverwaltung bezieht sich nicht auf den Inhalt des wissenschaftlichen Tuns, dieser ist Sache des je Einzelnen. Der Staat schützt diese Freiheit sowohl gegen sich selber wie gegen Eingriffe von anderer Seite. Lehrfreiheit steht in Analogie zur Religionsfreiheit. Sie wird nicht nur gegen den Staat, sondern durch den Staat nach allen Seiten gesichert. Solche Lehrfreiheit kann jedoch nur bestehen, wenn die Forscher, die sie in Anspruch nehmen, sich ihres Sinns bewußt bleiben. Lehrfreiheit heißt nicht etwa das Recht zu beliebiger Meinungsäußerung. […] Die Lehrfreiheit besteht nur in wissenschaftlicher Absicht. Sie besteht in Bindung an Wahrheit. Keine praktische Zielsetzung, keine inhaltlich bestimmte Erziehungstendenz, keine politische Propaganda kann sich auf Lehrfreiheit berufen. […] Wer allgemein das Recht der freien Meinungsäußerung für sich in Anspruch nimmt, tut es als Staatsbürger vor dem Staat. […] Lehrfreiheit heißt Freiheit für Leben und Werk in der geistigen Gestalt der Gründlichkeit, Methodik und Systematik, heißt nicht Verantwortungsfreiheit in der Stellungnahme zu Tagesfragen.63

Hat die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für Ausbildung zur notwendigen Konsequenz, vereinheitlichend in Ausbildungsstrukturen einzugreifen, diese zu planen und regelmäßig zu akkreditieren und zu reakkreditieren? Sollen Universitäten und ihre Mitglieder ständigem ökonomischen Leistungsdruck unterworfen sein, um ihre Forschung als gesellschaftsrelevant ausweisen zu können? Steht dies alles noch im Dienste, dem „vom Staatswillen freigegebenen Raum“ die Möglichkeit zu gestalten, „die Wahrheit zu erforschen und zu lehren“? Braucht der Freiheitsraum der Wissenschaft auch zwingende Impulse vom Staat zur ständigen Weiterentwicklung dieser Möglichkeiten? Wie weit aber ist die Steuerung und Lenkung der Freiheit von Lehre und Wissenschaft notwendig und bis zu welchen Grenzen akzeptabel? Die Organisation der Transformationsprozesse nach der Wende in den Struktur- und Evaluationskommissionen war eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Ihre Steuerung hat durch den Druck staatlicher Sanktionierungen aber auch eine Selbstneuorganisation der universitären Einrichtungen nicht oder doch nur sehr eingeschränkt zustande kommen lassen.64 Das grundsätzliche und nicht systematisch gelöste methodische 62 63 64

Jaspers, Die Idee der Universität, S. 111. Ebd., S. 112–113. Die Tagung begann mit einem eindrucksvollen, auch autobiographischen Referat zu den Transformationsprozessen während und nach der Wende aus einer Rostocker Zeitzeugenperspektive (Heinz-Jürgen Staszak) und wurde ergänzt durch eine Podiumsdiskussion

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Problem, quis custodiet custodes, hat auch bei diesem Transformationsprozess zu strukturellen Vorprägungen geführt, die Möglichkeiten der Neuorganisation von vornherein nicht zustande kommen ließen. Während der Tagungsorganisation und während der Vorbereitungen dieses Sammelbandes sind bedeutende Wissenschaftler verstorben: Ich nenne stellvertretend Heinz Mettke († 2007), Gerhard Helbig († 2008) und Walter Flämig († 2009). Sie waren und bleiben Zeitzeugen, die das Fachbewusstsein der Germanistik geprägt haben. Ihr Tod mahnt dazu, das Selbstverständnis germanistischer Wissenschaft und Ausbildung weiter nachfragend zu erforschen und dies zu dokumentieren, damit etwas übrigbleibt, wenn „einwärts von den Rändern, welkt das Laub“ (Karl Mickel, Das Gedächtnis).

ehemaliger Beteiligter über Probleme, Leistungen und Fehlleistungen in den Evaluationskommissionen der Rostocker Germanistik. Zudem führt der Beitrag vor, dass die staatlich organisierten Kommissionen am Rostocker Institut einen Prozess der immer offener werdenden, intensiven und rückhaltlosen akademischen Selbstverwaltung hat abbrechen lassen. Im Plenum wurde rasch deutlich, dass dieser Transformationsprozess trotz identischer oder doch ähnlicher Strukturen an anderen Standorten durchaus divergente Resultate hatten. Vgl. dazu Boden, Anmerkungen zur Evaluierung; Boden/Hausmann, Evaluationskultur.

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Personen

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Evaluation und Transformation in der DDR-Germanistik Ein Erfahrungsbericht1

Um es gleich vorweg zu sagen: Ich stehe hier als ein Lückenbüßer. Ich sage dies ohne Vorwurf, ohne Rückversicherung und auch ohne Entschuldigung, nur damit man weiß, von welchem Ort aus das Folgende gesprochen wird. Ursprünglich hatte die Kollegin Petra Boden diesen Einführungsvortrag übernommen, musste dann aber absagen, und ich bin einfach eingesprungen. Im Gegensatz zu ihr habe ich über das, was jetzt in Rede stehen soll, über Evaluation und Transformation der DDR-Germanistik, nicht wissenschaftlich gearbeitet. Ich habe sie nur erlebt. Ich sage nur, weil sogenannte Zeitzeugen, meist im Gegensatz zu ihrem eigenen Verständnis, durchaus nicht immer die zuverlässigsten Zeugen sind. Gern würde ich hier aus den sicheren Palisaden der Wissenschaftlichkeit sprechen, aus dem Hort der Nüchternheit, der scheinbaren Faktengewissheit und Objektivität. Aber wie gesagt, ich habe es nur erlebt, ich kann nur sagen, ich bin dabei gewesen. Deshalb bin ich mir auch nicht sicher, ob das, was ich unterbreiten will, den Namen eines Erfahrungsberichtes verdient. Eher werden es ungewisse Erinnerungsimpressionen sein, subjektiv geprägt und vielleicht auch zurechtgeschneidert, reduziert auf den Blickwinkel eines Rostocker Literaturwissenschaftlers, obwohl dies nicht ausschließlich mein Vorsatz ist. Deshalb habe ich hier als Themenbezeichnungen auch die gleichsam offiziösen Wörter Evaluation und Transformation gewählt: glatt, rund geschliffen, unangreifbar wie Kiesel, die das, was sie enthalten, verbergen. Es gab und gibt auch andere Worte dafür: ,Revolution‘ war damals, als die Sache passierte, ein besonders hochherziges, oder – noch heute gebräuchlich, das freundlich-harmlose ,Wende‘ oder – schon deutlicher – ,Elitenwechsel‘ 1

Es schien mir nicht sinnvoll, den Gestus der mündlichen Rede ausdrücklich zu verschriftlichen, so dass der nachfolgende Text im Wesentlichen dem Vortragsmanuskript folgt.

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oder das beamtentechnische ,Abwicklung‘ oder das gekränkte ,Kolonisierung‘ oder … oder … Vermutlich ist keines ganz unzutreffend, wie ebenso keines ganz zutreffend ist. Es ist deshalb sicherlich eine produktive Idee, das Jubiläum des Rostocker Institutes für Germanistik nicht mit einer gängigen stolzen Erfolgsbilanz zu feiern, sondern es zu nutzen, um einen Blick auf die Problemzonen seiner Geschichte zu werfen – nicht um endlich Aufklärung über das Vergangene zu finden, sondern um uns unsere Gegenwart ein wenig durchsichtiger zu machen. Und da drückt uns ja vielleicht noch immer besonders die letzte dieser Problemzonen, die Wende, der Systemwechsel, der im Herbst 1989 eingeleitet wurde, denn fast alle, die wir hier jetzt sitzen, wären in der einen oder anderen Weise nicht diejenigen, die wir jetzt sind, wenn es dies nicht gegeben hätte. Dennoch – und vielleicht gerade deswegen – sollten wir nicht übersehen, dass das Rostocker Institut in seiner Geschichte mehreren solcher Transformationen ausgesetzt war. In den letzten 100 Jahren, in den letzten zwei Dritteln seiner Existenz, war es – so sollten wir uns erinnern – in gleich vier solche Systemwechsel verwickelt, die gleichsam die Signatur dieses schrecklichen 20. Jahrhunderts markieren. Und man sage mir nicht, da gäbe es keine Zusammenhänge. Der erste war der Wechsel vom wilhelminischen Kaiserreich zur Weimarer Republik, 1918/19. Das Bewusstsein eines notwendigen Elitenwechsels entstand hier nicht einmal im Ansatz. Bestenfalls wechselte man ins ,System‘, wie man in rechtskonservativen Kreisen die Republik damals nannte. Und so konnte die Universität Rostock zu ihrem 500-jährigen Jubiläum 1919 ganz unschuldig den gerade abgesetzten mecklenburgischen Großherzog als Ehrengast einladen. Das ist ja fast so, als wenn die Universität, hätte sie erst 1990 ihr 570-jähriges Jubiläum von 1989 gefeiert, dazu Egon Krenz, den ehemaligen Generalsekretär des SEDPolitbüros, noch als Ehrengast geladen. Der zweite Systemwechsel, die Vernichtung der Republik durch die Machtübernahme der Nazidiktatur im Jahre 1933, machte überraschenderweise in den Rostocker akademischen Kreisen auch keinen grundsätzlichen Elitenwechsel notwendig. Konservativ und national war man ohnehin, und ,judenfrei‘ fast auch schon, so dass nur ein sehr geringer Teil (schätzungsweise etwa ein Sechstel) der damaligen Rostocker Professorenschaft ausgewechselt wurde, zumeist – wie das damals hieß – aus rassischen Gründen, also weil sie als ,jüdisch‘ und somit als rassisch minderwertig galten, vertrieben ins Ausland oder in den Freitod, wie Hans Moral, der Rostocker Professor für Zahnheilkunde. Diejenigen Rostocker Studenten, die sich damals, im Mai 1933, nur wenige Monate nach der Machtergreifung an der reichsweiten Bücherverbrennung beteiligten und Bücher der schwarzen

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Liste an den Schandpfahl nagelten, gehörten nicht zu einer neuen Elite, sondern zur alten. Dieses Verhältnis kehrte sich beim nächsten System- und Elitenwechsel an der Rostocker Universität nahezu um. Der Wechsel in den Jahren nach 1945 von der Nazidiktatur zur antifaschistisch-demokratischen Ordnung, wie sich das auf dem Gebiet der nachmaligen DDR unter sowjetischer Oberaufsicht neu etablierende gesellschaftliche System selbst nannte, führte bis zum Ende der fünfziger Jahre zur Auswechslung von (wiederum schätzungsweise) deutlich mehr als der Hälfte der Rostocker Professorenschaft, freiwillig oder erzwungen – und in diesem radikalen Elitenwechsel scheint irgendwie die Notwendigkeit eines ähnlich radikalen Elitenwechsels bei der nächsten Transformation, bei der nach 1989 zu liegen. Der Zusammenhang mag deutlicher werden, wenn wir uns den Fragen stellen, die sich im immer noch glatten Wort vom Elitenwechsel verstecken, nämlich den beiden Fragen: Wo bleiben eigentlich die ausgewechselten Eliten? Und wo kommen eigentlich die eingewechselten Eliten her? Wenn wir Antworten suchen, werden signifikante Unterschiede sichtbar. Ein Mann wie der Rostocker Professor für neuere und neueste Literaturgeschichte Willi Flemming, der zugleich Reichslektor und Gauschrifttumsbeauftragter war und dessen noch 1944 veröffentlichte Schrift „Wesen und Aufgaben volkhafter Literaturgeschichtsschreibung“ 1945 auf den Index gesetzt wurde2, ein solcher Mann musste damals gar nicht die Elite verlassen, sondern er musste nur seinen oder ihren Ort wechseln – er lehrte nach 1945 an der Universität Mainz. Und weil aus solchen Geschichten zu lernen war und ihre Wiederholungen auch unter anderen Bedingungen vermieden werden mussten, deshalb ist wohl der historisch berechtigte und notwendige Elitenwechsel nach 1989 so konsequent durchgeführt worden. Man könnte fast meinen, die Bundesrepublik habe mit dem Elitenwechsel bei der Übernahme der DDR die eigene Vergangenheit bei der Bewältigung der nazistischen Vergangenheit und der Restauration der Demokratie gleichsam am anderen Ort stellvertretend bewältigen wollen. Also, um im oben mit der Rede vom Ein- und Auswechseln angedeuteten, etwas leichtfertigen Fußball-Bild zu bleiben: Die damals (nach 1945) ausgewechselte akademische Elite (und nicht nur die nazistisch belastete) musste nicht das Elitendasein quittieren oder auf der Reservebank Platz nehmen; sie musste oder konnte in ihrer Mehrzahl den Verein wechseln. Das war offenbar nicht günstig für die gesellschaftliche Verfasstheit beider Vereine, der Bundesrepublik wie der DDR. Dort, in der Bundesrepublik, wurden die belasteten Teile dieser Elite wiederum zur Belastung der Gesellschaft, was 1968 dann im vollen Umfang sichtbar wurde. Hier, in der DDR, 2

Vgl. „Mögen viele Lehrmeinungen um die eine Wahrheit ringen“ – 575 Jahre Universität Rostock, hg. v. Rektor der Universität Rostock. Rostock 1994, S. 121.

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fehlten deshalb die unbelasteten Teile dieser Elite, sie saßen eben nicht auf der Reservebank (wie etwa in den anderen sog. sozialistischen Ländern), was auch schon 1968, im Prager Frühling, den es in der DDR eben auch deshalb nicht gab, in vollem Umfang aber erst 1989 sichtbar wurde. Dies führt zu der Frage zurück, woher denn die nach 1945 eingewechselte und nach 1989 wieder ausgewechselte akademische Elite eigentlich her kam? Sie saß damals eben nicht auf der Reservebank, jedenfalls nicht in ausreichender Anzahl, um damit einen Staat zu machen – denn sie war in die Bundesrepublik gewechselt. Die neue Elite wurde nachdrücklich herangebildet, buchstäblich gebildet, aus jenen Schichten, die man damals die proletarischen nannte und heute die ,bildungsfernen‘ nennen würde, damit sie in die Aula der Universität gelangen konnte (wie Herrmann Kant es in seinem gleichnamigen Roman darstellt). Dies schuf für mindestens zwei Generationen von DDR-Intellektuellen, besonders jene, die an Positionen in den Hohen Schulen gelangten, ein spezifisches Mentalitätsprofil. Fast alle waren wir, um es zugespitzt zu sagen, Parvenüs – nicht nur pejorativ gemeint, empor gekommen aus dem Untergrund der Gesellschaft an ihre relativen Spitzen, meist durch nichts anderes als durch eine staatliche Quotenregelung und durch die Währung der DDR für den sozialen Aufstieg, durch Bildung nämlich, wenn auch nicht immer die klassische. Aber nicht eingebunden, wie die alten Eliten, in eine befestigte und Halt gebende weit zurückreichende Tradition, in ein Herkommen, in dem die Zugehörigkeit zur geistig-kulturellen Elite so selbstverständlich war, dass sie sich in ihren besten Teilen kritisch reflektieren konnte. Von daher rührt dann wohl, viel eher als von dem bloßen Übergang aus der einen Diktatur in eine andere, das demokratische Versagen eines großen Teils der akademischen Elite in der DDR, von daher wohl jene bewusste und unbewusste, verdrängende Loyalität, jene weit verbreitete treuherzige Mitläuferschaft gegenüber dem, der diesen Aufstieg ermöglicht hatte, gegenüber dem Vater Staat und den von ihm reklamierten Traditionen, die zwar als demokratisch deklariert wurden, aber nie als solche funktionierten. Das klingt hier einfacher, als es tatsächlich gewesen war. Und es sei nicht vergessen, dass viele den Systemwechsel nach 1945 mit Arbeitslager und Gefängnis bezahlen mussten – und manche auch mit ihrem Leben, wie der Rostocker Student Arno Esch, der aus politischen Gründen durch die sowjetische Besatzungsmacht hingerichtet wurde. Diese neue akademische Elite ist also im Transformationsprozess nach 1989 ausgewechselt worden, auch am Germanistischen Institut der Rostocker Universität, auf das ich mich nun fokussieren will. Dieser Prozess umfasste den Zeitraum vom Herbst 1989 bis zum 1. Oktober 1992, dies war das gesetzlich festgelegte Abschlussdatum der strukturellen Transformation und personellen Erneuerung. Im Rückblick gliedert er sich für mich in zwei

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deutlich unterscheidbare Phasen, den Zeitraum vom Herbst 1989 bis zum 3. Oktober 1990, dem Datum der staatsrechtlichen Vereinigung, oder genauer des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik; ich will diesen Zeitraum die Phase der Erneuerung nennen, was aber gleich differenziert werden muss. Und in den Zeitraum zwischen Oktober 1990 und Oktober 1992, den ich die Phase der Einpassung nennen will. Die Erneuerung am Germanistischen Institut ist nicht gut zu charakterisieren, ohne ihre Einbettung in den allgemeinen Prozess der gesellschaftlichen Erneuerung in der zunehmend implodierenden DDR zu berücksichtigen, wie er durch die Leipziger Montagsdemonstrationen eingeleitet wurde. Auch in Rostock gab es solche Demonstrationen, wenn auch mit der geschichtsnotorischen Mecklenburger Verspätung, sie fanden donnerstags statt, auch sie nahmen ihren Ausgangspunkt bei der Kirche, hier war es die Marienkirche, auch sie führten zur Stasizentrale, also zur August-BebelStraße, dort, wo heute ironischerweise auch das Institut für Germanistik seinen Sitz hat. Dort wurden Kerzen aufgestellt und die Auflösung der Stasi gefordert. Auffällig ist, dass diese Demonstrationen, nicht nur in Rostock, und im Gegensatz etwa zur Tschechoslowakei, unter fast völliger Abwesenheit der akademischen Eliten stattfanden, sowohl des Lehrkörpers und der Wissenschaftler als auch der Studierenden. Dies kennzeichnete auch die interne Lage am Institut, die weniger durch verstocktes Beharren auf dem sozialistischen status quo gekennzeichnet war, als durch eine lähmende Verunsicherung und tiefe Orientierungslosigkeit, gleichsam ein Abducken. In der allgemeinen gesellschaftlichen Erneuerung hatte sich längst eine tatsächliche revolutionäre Situation, eine Umsturzsituation hergestellt: Die oben konnten nicht mehr, wie sie wollten, die unten wollten nicht mehr, wie sie sollten – Honecker trat zurück, die riesige Demonstration am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz forderte eine grundsätzliche Demokratisierung der DDR, die Mauer fiel, die Machtorgane der DDR wurden unter die Kontrolle der Runden Tische gestellt, Ende Januar nannte sich die SED in PDS um. All dies fand seine, meist etwas verspäteten Reflexe auch in Rostock, aber vorerst nicht am Rostocker Institut. In der Stadt allerdings übersteigerte es sich dann zu einer Einmaligkeit – an die ich hier wenigstens kurz erinnern will. Rostock nämlich war die einzige Stadt in der DDR, in der in dieser Zeit die offiziellen Machtorgane der DDR tatsächlich gestürzt wurden, wo eigentlich wirklich Revolution gemacht wurde. Im Februar 1990 wurde der Rostocker Oberbürgermeister zum Rücktritt gezwungen und die Leitung der Rostocker Kommune wurde von einer vom Runden Tisch eingesetzten Initiativgruppe wahrgenommen, fünf unerschrockene, auf die Verwirklichung von Demokratie drängende Bürger: Oberbürgermeister wurde jemand, der erst kürzlich noch als Studentenpfarrer tätig gewesen war, eine der ‚Senatorenfunktionen‘ nahm eine

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junge, der Kirche nahestehende Kollegin aus dem Rostocker Germanistischen Institut wahr. Ich wunderte mich jeden Morgen immer wieder, dass die Straßenbahnen wie sonst fuhren. Es begann, wie eine jüngere Publikation es nennt – „Das wunderbare Jahr der Anarchie“.3 In dieser Anarchie, in dieser plötzlichen, ungeregelten Öffnung auf neue Möglichkeiten, verdichteten sich nun auch die Erneuerungsbestrebungen am Institut. Sie waren längst latent vorhanden gewesen, eigentlich schon seit dem Beginn der Gorbatschow-Zeit 1985, sie hatten nur – wie das damals genannt wurde – auf die ,biologische Lösung‘, auf den Tod Honeckers gelauert, um eine grundsätzliche Reform des realen sozialistischen Systems anzustreben. Nun hatte die Geschichte die Reformunfähigkeit und Unbrauchbarkeit des realen Sozialismus erwiesen. Erneuerung war nicht mehr nur wünschbar, sondern notwendig und unumgänglich. Dabei stand ein Systemwechsel, und schon gar nicht ein schneller, durchaus noch nicht auf der Agenda. Bundeskanzler Kohl hatte ja selbst noch im Januar den Vorschlag einer Konföderation zwischen den beiden deutschen Staaten unterbreitet. Der politische Untergrund dieser Erneuerungsbestrebungen am Institut, die wesentlich die jüngeren Mitgliedern des – wie man heute sagt – akademischen Mittelbaus trugen, wurde zumeist geprägt von einem geradezu unerschrockenen Geschichtsoptimismus und einer fortdauernden Anhänglichkeit an das sozialistische Ideal, von einem endlich zu realisierenden Überschuss an Utopie, der in den bleiernen Zeiten der Spät-DDR still gestellt worden war. Wir – wenn ich ab jetzt oft wir sagen werde, dann soll dies nicht jenes kollektiv vereinnahmende Wir aus dem Sprachgebrauch der DDR sein, es soll und könnte auch nicht die Gesamtheit der damaligen Institutsangehörigen repräsentieren, es meint einfach jene Gruppe oder Gruppierung, die damals die Meinungsführerschaft erringen konnte, wenn auch nicht immer die Entscheidungsgewalt – und dieses wir soll mir nur den ermüdenden Gebrauch relativierender Fügungen ersparen. Also, wir glaubten und hofften damals die mit der Niederschlagung des Prager Frühlings vergebene Chance nun endlich nutzen zu können, mit dem Entwurf eines neuen, eines demokratischen Sozialismus. Und in reformatorischer Ungeduld wollten wir gar nicht abwarten, welche Rahmenbedingungen dazu die Geschichte gebären würde, sondern wir wollten es jetzt und hier und sofort am Ort, eben am eigenen Institut, das zu einem Institut werden sollte einer modernen Germanistik, die nicht mehr nur im Dienst einer orthodoxen Ideologie stehen, aber eine Wissenschaft von der und für die – in Klammern: möglichst sozialistische – Gesellschaft in einer globalisierten Welt sein sollte (Gorbatschow hatte damals das Wort von den ,globalen Problemen‘ geprägt). Dieses hehre Ziel wurde versucht zu 3

Links, Christoph/Nitsche, Sybille/Taffelt, Antje: Das wunderbare Jahr der Anarchie. Von der Kraft des zivilen Ungehorsams 1989/90, Berlin 2004.

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erreichen, wie aus systematisierungsfähigem Abstand deutlich wird, auf drei Ebenen, in der praktischer Ausführung durchaus anarchisch, ohne einen anderen Auftrag, als den der eigenen Erneuerungsbereitschaft, mit Lust an der neugewonnenen Freiheit und Möglichkeit der Selbstbestimmung. Übrigens in Parallelität – das muss unbedingt erwähnt werden – mit sich nun auch immer deutlicher spürbar machenden Reformbestrebungen für die gesamte Universität, die aber keineswegs von den Gesellschaftswissenschaften ausgingen und wohl auch nicht einmal ähnliche Ziele verfolgten. Als diese drei Ebenen kann man ansehen die strukturelle, die der Inhalte in Lehre und Forschung und die Auseinandersetzung mit, oder auch die Bewältigung der eigenen sozialistischen Vergangenheit. Auf der strukturellen Ebene wurden die Apparate der zentralistisch-administrativen Gängelung des Hochschulwesens einfach hinweggefegt, die führende Rolle der Partei war sowieso schon außer Kraft gesetzt. Das Institut, das ja seit der Hochschulreform von 1969 nur noch ein ‚Fachbereich‘ der Sektion Sprachund Literaturwissenschaft war, etablierte sich neu als selbständige und selbstbestimmte und selbstverwaltete wissenschaftliche Einheit. Es gab sich – das muss noch in der ersten Hälfte 1990 gewesen sein – eine demokratische Verfassung, und zwar, in der Ungeduld und Euphorie des Aufbruchs zu neuen Ufern, natürlich eine radikal basisdemokratische Verfassung. Der wieder nötige Institutsdirektor, der sich natürlich Institutssprecher nannte, wurde von sämtlichen gleichberechtigten Institutsmitgliedern gewählt, übrigens nach einem heftigen Wahlkampf. Er blieb bis zum Januar 1993 im Amt. Er ist und bleibt wohl der einzige Institutsdirektor der Rostocker Germanistik, der auf diese Art und Weise zu Amt und fragwürdigen Würden gelangte. Auf der inhaltlichen Ebene setzte ein heftiger Verständigungsprozess um die künftigen Inhalte und Orientierungen von Lehre und Forschung ein; massenhaft wurden konzeptionelle Papiere verfasst (das kannten wir noch aus alten Zeiten) und diskutiert; in den Archiven sind sie leider kaum mehr auffindbar. Dabei ging es vornehmlich, wenn ich mich recht erinnere, um zwei Eckpunkte, um die Befreiung der Rostocker Germanistik aus der In-Dienstnahme durch eine Ideologie und zugleich, dies die andere unerlässliche Seite dieser Medaille, um die Erhöhung ihrer Wissenschaftlichkeit, insbesondere natürlich in Bezug auf die Literaturwissenschaft. Wir bemühten uns auch um die Neuformulierung eines Erziehungszieles – geradezu rührend kommt einem dies aus heutiger Sicht vor. Aber wir waren geradezu unerschütterlich in unserem Glauben, dass die Germanistik als Wissenschaft auch eine gesellschaftliche Verantwortung zu tragen hätte, die sich eben in solch einem Erziehungsziel manifestieren ließe. Wir definierten es damals als die ,Bildung zur kritischen Intellektualität‘ und wollten damit einerseits die dogmatische Berufsorientierung des DDR-Germanistik-Stu-

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diums auf den Lehrerberuf, der ja ohnehin eine der wirkungsvollsten Indoktrinierungsanstalten gewesen war, aufbrechen wie ebenso den Rückzug in den reinlichen Elfenbeinturm der Wissenschaft vermeiden. Ich muss dazu auch sagen, dass wir für das Fortschreiten insbesondere auf diesen beiden Ebenen kräftige und nützliche Unterstützung durch Kollegen aus der Bundesrepublik erhielten, zu denen sich sehr schnell wissenschaftliche und sonstige Kontakte hergestellt hatten, schon gleich nach dem Fall der Mauer beispielsweise zu Hamburger Kollegen. Die heftigsten Schwierigkeiten erwarteten uns allerdings auf der dritten Ebene, der Bewältigung unserer eigenen Vergangenheit, und sie zeigten uns bald, auf welchen komplizierten Weg wir uns da bewegen wollten. Diese schwierige, psychisch, geistig und praktisch schwierige Arbeit konzentrierte sich auf das Stasi-Problem, denn der Stasiapparat war zum Symbol geworden der rigiden, undemokratischen, volksfeindlichen Machtausübung der SED. Natürlich wusste jeder, dass die Stasi auch um die Rostocker Germanistik keinen Bogen gemacht hat, passiv wie aktiv. Und die Tatsache, dass die Rostocker, die Greifswalder und die Jenenser Germanistik-Gebäude jeweils an Untersuchungsgefängnisse grenzten, war schon immer Anlass zu bitteren, auch zynischen Witzen gewesen. Was nun aber nach und nach sichtbar wurde, war doch erschreckend: Von den rund 40 Mitarbeitern des Instituts damals waren mindestens neun, also fast ein Viertel Inoffizielle Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes, gestreut vom Professor bis zum Assistenten – ein überdurchschnittlicher Besatz. Sicherlich auch ein Resultat des vorhin charakterisierten Mentalitätsprofils. Vielleicht aber auch ein Indiz dafür, wie argwöhnisch die Germanistik beäugt wurde, obwohl die Anlässe für solchen Aufwand wohl eher geringer waren. Sichtbar geworden ist dieses Ausmaß damals übrigens auf durchaus – wenn man so will – wiederum basisdemokratische Weise, d. h. auf zumeist freiwilliger Basis der Betroffenen, denn eine funktionierende Gauck-Behörde, deren Akten man hätte einsehen können, gab es damals noch nicht. Es war damals gelungen, am Institut eine Atmosphäre der Auseinandersetzung zu schaffen, in der sich die IMs öffentlich zu ihrer Tätigkeit bekennen, sie begründen und sich dazu verantwortend positionieren konnten, im Angesicht derer, die sie bespitzelt hatten – im Gegensatz zu dem, was man da aus anderen Germanistischen Instituten der DDR hörte, wo schon mal die Messer gewetzt wurden. Und natürlich haben nicht alle IMs diese Möglichkeit genutzt. Dennoch – ich sage es offen – bin ich nicht ohne Stolz auf diese Leistung des Rostocker Institutes. Mir persönlich ist allerdings in diesen scharfen und schmerzlichen Auseinandersetzungen sehr bald klar geworden, dass wir diesen Prozess der anstehenden personellen Erneuerung, der ja neben seiner politischen Seite auch noch eine wissenschaftliche hatte, die wir nur in allerersten Schritten

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angegangen waren, nicht allein bewältigen konnten, schon weil es kaum Vorstellungen über mögliche Sanktionen gab. Eine rücksichtslose politische und wissenschaftliche Selbstreinigung war offenbar nicht möglich, auch aus ganz billigen psychologischen Gründen. Es war eben leichter den fremden Oberbürgermeister zu stürzen als einen Kollegen, mit dem man 20 Jahre – so oder so – zusammengearbeitet hatte, auch wenn man sein politisches oder wissenschaftliches Verhalten missbilligte – jedenfalls so lange man nicht in blinde Rache oder das Begleichen alter Rechnungen verfallen wollte. Die Erneuerung, die ja ohne personelle Erneuerung keine wirkliche Erneuerung sein konnte, war ohne Hilfe von außen, von außerhalb des Systems, in dem wir immer noch – zumindest in psychischen Residuen – befangen waren, nicht zu schaffen. So stellte sich nachträglich dieses „wunderbare Jahr der Anarchie“, diese kurze Zeit der konsequent gesuchten Erneuerung nur als der kurze Marsch durch die Illusionen heraus. Und die Geschichte, oder wie damals unser Altkanzler sagte, der vorüber fliegende Mantel der Geschichte, tat sein Übriges. Schon am Beginn des Jahres 1990 hatte sich die dominierende Losung der Demonstrationen aus ,Wir sind das Volk‘ in ,Wir sind ein Volk‘ verwandelt, was ja nicht nur Ausdruck einer nationalen Sehnsucht war, sondern auch des nicht mehr aufzuhaltenden Begehrens nach vorenthaltenem Wohlstand und ungehinderter Reisefreiheit. Da ging die Geschichte eigene und andere Wege als die illusionär erhofften. Das war für einen wie mich etwa damals, der marxistisch zu denken meinte und demzufolge glaubte, die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte zu kennen, besonders beschämend, irritierend und – im Buchstabensinn – erschütternd, dass sich die Geschichte nun so gar nicht an diese Gesetzmäßigkeiten hielt. Der Systemwechsel oder der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik rückte auf die Agenda und wurde schließlich, geradezu blitzschnell, am 3. Oktober 1990 vollzogen. Aus der beabsichtigten Erneuerung musste nun, auch wenn sie nach wie vor so genannt wurde, etwas anderes werden, nicht der Entwurf, das Ausprobieren neuer, bisher vielleicht noch gar nicht realisierter Möglichkeiten, sondern der Übergang in etwas längst Bestehendes und Gefestigtes, in das politische, soziale und kulturelle System der Bundesrepublik; dies war die Hilfe, die von außen kam. Nach der Zeit der Erneuerung kam die Zeit der Einpassung und Einfunktionierung, eben die Transformation und auch der Elitenwechsel rückte damit wieder auf die Agenda. Dies ist weder ironisch, noch klagend, noch nos- oder ostalgisch zu verstehen. Schon kurz nach seiner Wahl bestätigte der Landtag von MecklenburgVorpommern ein Landeshochschulgesetz, das die Modalitäten der Transformation und der dazu nötigen Evaluation regelte. Unsere Sorgen über die Zukunft der Rostocker Germanistik und die Schwierigkeiten der Auf-

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arbeitung ihrer Vergangenheit waren wir schlagartig los; die demokratisch gewählten Repräsentanten legten jetzt die politischen Rahmenbedingungen fest, die nur noch einen schmalen Rahmen für mitgestaltende Diskussionen ließen. Dafür hatten wir plötzlich andere Sorgen, persönliche, solche um die weitere soziale und wissenschaftliche Existenz. Ich will an dieser Stelle – eher nebenbei – darauf aufmerksam machen, dass dieser Transformationsprozess, die Eingliederung der Rostocker Germanistik in das Hochschulsystem der neuen Bundesrepublik, ja auch – aus Gründen, die in der Sache liegen – als der politische Prozess der Entpolitisierung einer Wissenschaftsdisziplin angesehen werden kann, ein Paradox, das sich darin markierte, dass aus einer Gesellschaftswissenschaft, die marxistisch-leninistisch formatiert worden war, nicht eine anders formatierte Gesellschaftswissenschaft wurde, sondern eine ,Geisteswissenschaft‘, was ja nicht nur ein terminologisches Problem ist. Aber dies ist ein weites Feld … Ich gruppiere meine Erinnerungen an diesen Einpassungsprozess um zwei Zahlen: 1989/90 hatte das Germanistische Institut in Rostock insgesamt knapp 40 Mitarbeiter, bei etwas mehr als 400 Studenten eine wahrhaft luxuriöse Stellenausstattung. Im Oktober 1992 waren davon noch elf übrig geblieben, allerdings bei einem regierungsamtlich zugestandenen neuen Stellenrahmen von 15 oder 16 Stellen. Wo, so könnte man entgegnen, gibt es da einen Elitenwechsel, es war ein Aderlass gewiss, aber nach wie vor stellte doch die alte Elite die überwiegende Mehrheit. Man hätte damit sicherlich nicht Unrecht, aber Recht hätte man auch nicht. Diese Verwirrung macht darauf aufmerksam, dass der notwendige Elitenwechsel nicht als bloßes Auswechseln geschah, sondern in differenzierteren Formen. Der Elitenwechsel geschah zunächst und am nachdrücklichsten durch eine massive Reduktion der alten akademischen Elite. Diese Reduktion kam dadurch zustande, dass die von der Ministerialbürokratie – die damals konservativ war, daran muss erinnert werden – ausgewählten und eingesetzten Strukturkommissionen, deren fachwissenschaftliche Mitglieder ausschließlich aus Kollegen aus den alten Bundesländern bestanden, ihre Empfehlungen für die Stellenausstattung und Fächergliederung aus der Wirklichkeit ihres eigenen Hochschulsystems abzogen, eines Hochschulsystems, das schon damals längst unter Reformstau und Überlast stöhnte. Hier wurde möglicherweise eine historische Chance vergeben, die Chance der gemeinsamen Erneuerung beider Teile, die sich da auf diese Weise ,vereinigten‘, eine Chance, deren Überprüfung ja eigentlich auch das ehemalige Grundgesetz der Bundesrepublik vorsah. Dieses Problem artikulierte sich – allerdings folgenlos – an einer überraschenden Stelle. Es war wohl im Frühjahr 1991, als endlich auch die Studierenden merkten, dass sie durch die Transformation die Mehrzahl ihrer Professoren zu verlieren drohten. Sie streikten, universitätsweit, selbst die Mediziner nahmen teil; eines Morgens war

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der Eingang zum Hauptgebäude mit Kette und Schloss zugesperrt. Neben den Forderungen nach Erhalt der Professorenstellen artikulierte eine Minderheit die überraschende, weitsichtige Forderung nach einer grundsätzlichen Reform des gesamten Hochschulwesens der neuen Bundesrepublik. Sie blieb in den Zwängen des Pragmatismus – wie gesagt – folgenlos, so wie auch die anderen Forderungen. Die zweite Form, in der sich der Elitenwechsel vollzog, die eine Konsequenz der eben angedeuteten Reduktion war, will ich als Verschiebung bezeichnen: Verschiebungen in der Struktur des akademischen Personals, vollzogen als der Übergang vom pyramidalen Modell der DDR zum keineswegs hierarchiefreien Ebenenmodell der Bundesrepublik. Von den 40 Mitarbeitern damals waren acht sog. Hochschullehrer, also das, was den C3- und C4-Professuren entsprach; der Rest, also gut drei Viertel, gehörte zum akademischen Mittelbau. Der ab Oktober 1992 gültige Stellenplan dagegen sah sechs Professorenstellen vor, der Rest mit zehn Stellen gehörte dem akademischen Mittelbau. Das waren noch immer fast zwei Drittel und entsprach noch längst nicht dem annähernden 1:1-Verhältnis, das man aus manchen Universitäten der alten Bundesländer kannte. Es zeigte aber, dass sich die Verschiebung innerhalb der Reduktion vollzog. Die Hauptmasse des personellen Aderlasses hatte der akademische Mittelbau zu tragen – oder – wie man diese Gruppe in der DDR nannte – der wissenschaftliche Nachwuchs. Dieser akademische Nachwuchs wurde gleichsam aus der akademischen Elite ausgestoßen, nicht nur aus wissenschaftlichen oder Stasi-Gründen, sondern eben auch aus Kontingentsgründen, und es waren begabte Leute darunter, die keineswegs sozialistische Duckmäuser gewesen waren. Man kann dies auch als eine Verschleuderung intellektuellen Potentials ansehen. Und von den vier Leuten aus der Literaturwissenschaft, die in die neue Struktur übernommen wurden, haben die drei, die auf Zeitstellen gelangten, den Sprung in die neue Elite nicht schaffen können – und nicht immer nur aus wissenschaftlichen Gründen. Das hat auch dazu geführt, dass die spätere Reproduktion der künftigen Professorenschaft im Wesentlichen ohne den ostdeutschen wissenschaftlichen Nachwuchs erfolgte. Schließlich vollzog sich der Elitenwechsel dann auch noch, dies die dritte Form, als Auswechslung, allerdings beschränkt auf die Schaltstellen der akademischen Elite, das professorale Personal. Von den acht Professoren und Hochschuldozenten aus DDR-Zeiten fand sich im Oktober nur einer als Professor im neuen Institut wieder. Zugleich, auch das gab es, war eine habilitierte Oberassistentin zum neuen C3-Professor berufen worden, einen dritten gab es zwar noch als Person, zunächst aber nicht als professorale. Der Rest, immerhin noch fünf Professoren, also fast zwei Drittel, musste, um es nüchtern auszudrücken, den Dienst quittieren, oder – um es deutlicher zu

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sagen – in die Arbeitslosigkeit gehen, verschleiert durch damals neu eingeführte Vorruhestandsregelungen. Solche zwar differenzierten, aber dennoch drastischen Selektionen verlangten Bewertungen nach kontrollierbaren Kriterien. Sie erfolgten im ebenfalls gesetzlich geregelten Evaluationsprozess, der die erste Stufe der Transformation bildete. Dieser vollzog sich auf zwei Hierarchieebenen, für die Professoren und Hochschuldozenten unter Aufsicht und Leitung des Kultusministeriums, für die wissenschaftlichen Mitarbeiter in der Verantwortung der Hochschulen, speziell der neu gebildeten Fakultäten. Zunächst gab es für alle Angehörigen der Universität eine deutlich politische Überprüfung, die in Mecklenburg-Vorpommern – etwas makaber – den Namen ,Ehrenverfahren‘ trug. Auf der Grundlage eines beantworteten Fragebogens und einer persönlichen Erklärung zur evt. Stasi-Mitarbeit entschieden universitäre Kommissionen über das persönliche politische Verhalten zu DDR-Zeiten. Diese Kommissionen setzten sich aus sog. unbelasteten Universitätsangehörigen zusammen; sie sollten nicht Mitglied der SED gewesen sein und möglichst Vertreter der dissidenten DDR-Opposition, die aber an der Universität so zahlreich nicht und meist bei den Theologen konzentriert war. Das politische Verhalten wurde mit Noten bewertet, von 1 bis 8, vom geringen bis zum krassen politischen Fehlverhalten, kombiniert mit entsprechenden Sanktionen, die von der Untersagung der Ausübung von Gremienarbeit und Leitungsfunktionen bis zur fristlosen Entlassung reichten. Am Germanistischen Institut gab es jeden dieser Fälle. Aber ich bin mir sicher, dass dennoch in diesem Verfahren – in einer Atmosphäre, in der auch immer noch tiefgreifende Verletzungen, ja manchmal auch Hass regierten – im Wesentlichen zutreffende Bewertungen entstanden sind, mit Ausnahmen natürlich, auch deshalb, weil die gesetzlich vorgeschriebene Regelanfrage an die Gauckbehörde nach der Stasi-Mitarbeit jedes einzelnen Universitätsmitarbeiters erst in der Folgezeit verwirklicht werden konnte. Die zweite Stufe dieser Evaluation bildete die Überprüfung der wissenschaftlichen Qualifikation des wissenschaftlichen Personals, wie gesagt, getrennt nach Statusgruppen. Voraussetzung für die Bewerbung um diese Überprüfung war natürlich das bestandene ,Ehrenverfahren‘. Für die Professoren und Hochschullehrer wurden – gegliedert nach zusammengehörenden Wissenschaftsdisziplinen – zentrale ,Überleitungskommissionen‘ gebildet, die – wie man damals sagte – die ,Professorabilität‘ gemäß Hochschulrahmengesetz (HRG) der Bundesrepublik feststellen sollten, die dann durch einen Überleitungsbescheid des Ministeriums ausgesprochen wurde. Gab es den nicht, erfolgte im Regelfall die fristlose Entlassung. Diese Kommissionen wurden vom Ministerium berufen, allerdings konnten die betroffenen Institute Vorschläge unterbreiten, die auch nicht unberücksichtigt blieben, sie bestanden überwiegend aus Fachvertretern

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westlicher Universitäten sowie Vertretern der betroffenen Institute. Bewertet wurde auf der Grundlage eingereichter Publikationen – unter Hinzuziehung von nicht zur Kommission gehörenden Gutachtern, die natürlich auch aus den alten Bundesländern waren. Von den vier Professoren und Hochschuldozenten der Rostocker Germanistik, die sich diesem Überleitungsverfahren überhaupt gestellt haben, ist nur einem die gewünschte ,Professorabilität‘ bescheinigt worden. Dieser Teil der Transformation war sicherlich der kritischste. Man merkt das besonders am nahezu alleinigen Bewertungsgegenstand der Publikationen, dessen Wahl ja voraussetzt, dass der Publikationsbetrieb der DDR unter keinen anderen als nur wissenschaftlichen Voraussetzungen funktionierte. Dies war, was natürlich schon damals niemanden gewundert hätte, selbstverständlich nicht der Fall, ganz sicher nicht bei solchen ideologieinfizierten Gesellschaftswissenschaften wie der germanistischen Literaturwissenschaft. Entscheidungen über Publikationen waren in der Regel Entscheidungen staatlicher oder zumindest parteigeführter Organe und erfolgten auch nach politischen und ideologischen Kriterien, so dass es hätte passieren können, dass jemand in der DDR eben gerade deshalb nur geringe Publikationsmöglichkeiten hatte, weil seine wissenschaftlichen Ergebnisse nicht systemkonform waren, nun aber dieses schmale Päckel der Bewertungskommission vorlegen musste, die vielleicht nicht immer die Gründe für seine Schmalheit erkennen konnte. Darin drückt sich mir die grundsätzliche Schwäche dieses Überprüfungsverfahrens aus, nämlich der Umstand, dass hier Leistungen von Wissenschaftlern unter den Bedingungen und nach den Kriterien eines Wissenschaftsbetriebes bewertet wurden, unter denen sie nicht entstanden waren und deren Kenntnis bei den Bewertern vielleicht auch nicht hinreichend vorausgesetzt werden konnte. Wer von den westlichen Kollegen kannte schon die notwendigen Schliche und Umwege der Legitimationsrituale und heimlichen Subversionen aus der DDRLiteraturwissenschaft, wer kannte und verstand ihre ,Sklavensprache‘? Auf ähnliche Weise vollzog sich die Ermittlung der wissenschaftlichen Qualifikation des Mittelbaus, allerdings, weil sie in der Verantwortung der Fakultäten lag und unter Mitwirkung der jeweiligen Institutssprecher stattfand, in größerer Kenntnis der Besonderheiten des Wissenschaftsbetriebes der DDR. Ich will hier gern erwähnen, dass wir – ich sage jetzt wieder wir – bereits in der Phase der angestrebten Erneuerung, also schon 1990, eine solche Evaluation des Mittelbaus am Institut – natürlich basisdemokratisch – vorgenommen hatten. Nicht als vorauseilenden Gehorsam, sondern als nur ersten Schritt der Bewältigung unserer wissenschaftlichen Vergangenheit. (Um uns auch schon an die Professores heranzutrauen, fehlte es noch an Mut und Kraft.) Aber auch um in einem institutsinternen Ranking dem wissenschaftlichen Nachwuchs eine Orientierung für seine Chancen

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in den erwartbaren personellen Veränderungen zu geben. Viele haben diese Chance genutzt, nicht abgewartet und nach ,Überlebensmöglichkeiten‘ in neuen, anderen als akademischen Arbeitsbereichen gesucht. Wer den ministeriellen Überleitungsbescheid erhalten hatte, der konnte sich, im dritten Schritt der Transformation, nun um die Übernahme auf eine der durch die neue Stellenstruktur geschaffenen Professorenstellen bewerben. Diese Stellen waren nur und nur landesweit ausgeschrieben. Über ihre Besetzung entschieden ebenfalls vom Ministerium eingesetzte sog. Übernahmekommissionen, die ähnlich zusammengesetzt waren und funktionierten wie die Überleitungskommissionen. Mit der Ausfolgung der nach ihren Empfehlungen vorgenommenen Übernahmebescheide durch das Ministerium bis zum 01. Oktober 1992 waren Evaluation und Transformation abgeschlossen – und überstanden; aber nicht jeder hatte es überlebt. Dies der Erinnerungsumriss eines Rostocker Literaturwissenschaftlers, der durch weitere Ausmalung sicherlich nicht genauer und zutreffender werden würde, obwohl ich viele Leerstellen lassen musste – er mag bestenfalls zur Diskussion an- oder aufreizen. Ich erlaube mir zum Abschluss eine vielleicht unangemessene ganz persönliche Bemerkung: Wenn man so vom Wirbel der Geschichte erfasst wird, wenn die kognitiven und emotionalen Grundstrukturen der eigenen Personalität so gründlich erschüttert werden, weil man sich so geirrt hat, wenn in dem Moment, in dem man sich aus solcher Erschütterung mit neuen Gedanken und Gefühlen zu erheben versucht, wenn man dann nicht genau weiß, ob man noch alte Fehler korrigiert oder schon die nächste Anpassung betreibt, dann ist das ziemlich schmerzlich und erzeugt jene Trauer um einen unbekannten Verlust, die Freud als Melancholie bezeichnete. Aber wenn man es überlebt hat, und man konnte es überleben, dann stellt es sich auch als außerordentlich irritierend heraus – es kann geradezu erfrischend, auf jeden Fall sehr belebend sein, sich auf so gründliche Weise in Frage gestellt und durchlüftet zu sehen.

Jürgen Scharnhorst

Paradigmenwechsel in der germanistischen Sprachwissenschaft Erfahrungen in der Berliner „Akademie der Wissenschaften“ (1954–1991)

Das „Institut für deutsche Sprache und Literatur“ der Berliner „Akademie der Wissenschaften“, in das ich im September 1954 – von Rostock kommend – eintrat, war die Erfüllung eines alten Traums der Germanisten. Schon Jacob Grimm1 hatte 1847 daran erinnert, dass die Akademie dank Leibniz „ausdrücklich für deutsche Sprache mit begründet ward“ und sie diese erforschen und pflegen solle. Leider vergeblich. Denn innerhalb der Akademie gab es starke Widerstände, sich mit der zeitgenössischen deutschen Sprache und Literatur (etwa nach dem Vorbild der „Académie Française“ zu beschäftigen. Zudem hatte Preußen andere Prioritäten: Es wollte Kriege führen (1864 gegen Dänemark, 1866 gegen Österreich, 1870/71 gegen Frankreich). Selbst nach der sogenannten Reichseinigung dauerte es nach 1871 Jahrzehnte, ehe für germanistische Forschungen größere finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt wurden. An ein Institut im Rahmen der „Preußischen Akademie der Wissenschaften“ war auch damals nicht zu denken, man war froh, dass man eine „Deutsche Kommission“ hatte, die koordinierend und forschungsfördernd wirken konnte, wobei nach und nach wissenschaftliche Hilfsarbeiter fest angestellt werden konnten. Erst nach zwei Weltkriegen, auf den Trümmern des Deutschen Reiches und damit Preußens, konnte 1946 mit Unterstützung der Sowjetischen Militäradministration die „Deutsche Akademie der Wissenschaften“ zu Berlin gegründet werden. Und nur sechs Jahre später gelang es, das ersehnte Forschungsinstitut ins Leben zu rufen. Sicher spielte dabei die Autorität 1

Jacob Grimm: Über das Pedantische in der deutschen Sprache. Rede in der Akademie, erstmals gehalten am 6. Mai 1847, in: Grimm, Reden, S. 41–63, hier insbesondere S. 60– 63. – Vgl. dazu die Bemerkungen der Herausgeber S. 325–328 sowie Harnack, Geschichte, S. 989–1001.

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Jürgen Scharnhorst

von Akademiemitglied Theodor Frings2 – Direktor des „Germanistischen Instituts“ der Universität Leipzig und Präsident der „Sächsischen Akademie der Wissenschaften“ – eine Rolle, aber ohne die kulturpolitische Initiative von Akademiemitglied Wolfgang Steinitz3 – Vizepräsident der Berliner Akademie – hätte sich die Regierung der DDR wohl kaum zu einer solchen Gründung entschlossen, schließlich waren dafür nicht nur hochqualifizierte Mitarbeiter zu gewinnen, sondern auch erhebliche materielle Mittel zur Verfügung zu stellen. Wie gesagt, trat ich im September 1954 in das Institut ein und wurde Mitarbeiter am traditionsreichen „Deutschen Wörterbuch“ der Brüder Grimm (DWB). Meinen Institutsdirektor, der gleichzeitig mein Abteilungsleiter war, lernte ich erst nach einiger Zeit kennen, da Theodor Frings sich meist in Leipzig aufhielt und nur zu den Sitzungen der Akademie nach Berlin kam. Er wohnte dann in einem Gästezimmer des Akademiegebäudes. Eines Tages – ich saß über dem Entwurf eines Wörterbuchartikels aus dem Buchstaben Z – öffnete sich die Tür und ein hochgewachsener, weißhaariger Herr trat ein. Er gab mir die Hand und stellte sich vor: „Frings“. Ich hatte mich erhoben und sagte meinerseits „Scharnhorst“. Wie sich im nun folgenden Gespräch herausstellte, wusste er mich gleich richtig als Schüler von Hermann Teuchert einzuordnen. Teuchert in Rostock war der einzige der ‚freien Mitarbeiter‘ am „Grimmschen Wörterbuch“. Er hatte es bereits Anfang der zwanziger Jahre übernommen, den ersten der beiden Z-Bände fertigzustellen, und nun fehlten nur noch die beiden letzten Lieferungen dieses Bandes. Da Teuchert damals bereits auf die 80 zuging, hatte Frings in Absprache mit Prof. Bernhard Beckmann, dem Leiter der Berliner Arbeitsstelle des DWB, Teuchert einige von dessen ehemaligen Schülern – darunter auch mich – zur Unterstützung zugeordnet. Frings verabschiedete sich von mir, indem er seinen Willen bekräftigte, das Wörterbuch bis zum Jahre 1960 abzuschließen – so hatte er es bei der Institutsgründung der Öffentlichkeit versprochen. Und so wurde es auch gehalten: Im November 1960 war der letzte der insgesamt 32 Bände des „Deutschen Wörterbuchs“ beendet. Fünf Generationen von Germanisten hatten an diesem großen Gemeinschaftswerk mitgearbeitet.4 Ich selber hatte zuletzt geholfen, die Lücke, die noch im Buchstaben W klaffte, zu schließen (aus meiner Feder stammt z.B. ein kulturgeschichtlich so interessanter Artikel wie „Westen“). 2

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Einen guten Überblick über die dem Institut zugedachten Aufgaben gibt die Rede, die Theodor Frings 1952 bei der Eröffnung hielt (Frings, Aufgaben). Zur Geschichte des Instituts vgl. Bentzinger, Institut, und Schmidt, Forschung. Zur Bedeutung von Wolfgang Steinitz als Wissenschaftspolitiker und -organisator vgl. Nötzoldt, Tradition. Vgl. Teuchert, Vorwort; Scharnhorst, Das Deutsche Wörterbuch; Dückert, Das Grimmsche Wörterbuch; Haß-Zumkehr, Wörterbücher, S. 129–142.

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Nachdem ich meinen Anteil am „Grimmschen Wörterbuch“ fertiggestellt hatte, wechselte ich zum „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ (WDG) über, das auf Anregung von Wolfgang Steinitz5 1952 in den Plan des Instituts aufgenommen worden war und nun – gemeinsam mit dem Projekt einer Grammatik und dem Vorhaben „Marx-Engels-Wörterbuch“ die „Abteilung deutsche Sprache der Gegenwart“ bildete. Das war für mich der erste Paradigmenwechsel. Bisher hatte ich den deutschen Wortschatz unter historischen Gesichtspunkten analysiert, vom Althochdeutschen über das Mittelhochdeutsche und Frühneuhochdeutsche bis zur Sprache des 18., 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bei jedem behandelten Stichwort zu vergleichen waren die Parallelen in den anderen germanischen Sprachen, bei Grundwörtern auch die Urverwandten in den indogermanischen Sprachen. Dabei war mir meine Ausbildung während des Studiums in Rostock zugute gekommen: Bei Hans Detlef Jensen, Professor für allgemeine und vergleichende Sprachwissenschaft, und bei Hermann Teuchert6 hatte ich solide Kenntnisse in der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft erworben. Außerdem hatte ich während der Jahre am „Grimm“ in der Freizeit (bzw. während des mir gewährten unbezahlten Urlaubs) am Beispiel des Mittelniederdeutschen die Prinzipien der historisch-vergleichenden Methode angewandt und dabei vor allem Laut-Buchstaben-Beziehungen sowie den Lautwandel untersucht (die daraus entstandene Dissertation hatte ich im März 1960 vor der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock verteidigt).7 Nun hieß es also für mich, die Optik verändern: War am „Grimm“ die Diachronie der entscheidende Gesichtspunkt, so am WDG die Synchronie. Nicht mehr das Aufkommen der verschiedenen Bedeutungen eines Lexems stand im Mittelpunkt, sondern die Frage, welche Bedeutungen hat das Wort, die Wortverbindung heute und in welchen semantischen Beziehungen stehen diese Bedeutungen zueinander. Liegt Homonymie oder Polysemie vor? Ist von einer usualisierten Metapher auszugehen oder von einer Metonymie? Ich habe diese Fragen seinerzeit am Beispiel des Wortes Fuchs 5 6

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Vgl. Steinitz, Aufgaben. Zu Hans Detlef Jensen (1884–1973) vgl. Strodel, Kürschners deutscher Gelehrten-Kalender, und Zwahr (Red.): Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 14, S. 12. Jensens Hauptwerk ist das Handbuch „Die Schrift in Vergangenheit und Gegenwart“ (3. Aufl., Berlin 1969). Zu seinen Werken gehören u.a. eine dänische, eine finnische, eine neupersische, eine altarmenische, eine kanaresische Grammatik. Eine Würdigung dieses vielseitigen Sprachwissenschaftlers und hervorragenden Hochschullehrers liegt jetzt vor in: Scharnhorst, Hans Jensen (1884– 1973). – Zu Hermann Teuchert (1880–1972) vgl. die Würdigung durch Schmitt, Teuchert, sowie durch Braun, Teuchert. Scharnhorst, Untersuchungen. Gegenstand der Untersuchung sind die Schriften des Rostocker Predigers Nicolaus Gryse (1543–1614), die letzten umfangreichen Denkmäler der mittelniederdeutschen Literatur Mecklenburgs.

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erörtert.8 Ganz neu war am WDG der Systemcharakter des Wortschatzes zu untersuchen. Das bezog sich einmal auf die Semantik: Welche Synonyme, welche Antonyme existieren für die verschiedenen Sememe eines Lexems? Das bezog sich zum anderen auf die Wortbildung: Welche Wortschatzelemente sind produktiv und können im Wörterbuch in sog. Nestern dargestellt werden? Das bezog sich aber auch auf die syntaktischen Beziehungen: Mit welchen Kontextpartnern geht das betreffende Wort mehr oder weniger feste Verbindungen ein? Den Begriff Kollokationen kannten wir damals noch nicht. Weit vorausgedacht für die Erfassung des Systemcharakters war die Anwendung moderner Technik. Das war in den sechziger Jahren die Hollerith-Maschine. Die für das Wörterbuch wesentlichen Kategorien – und das waren etliche – wurden in eine Systematik gebracht, nach der jeder einzelne Wörterbuchartikel analysiert werden musste. Auf diese Weise gelang es dank der Weitsicht der beiden Herausgeber – Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz – und dank des Enthusiasmus der Mitarbeiter für das WDG eine Einheitlichkeit zu erreichen, die alles bisher in der deutschsprachigen Lexikographie da Gewesene übertraf.9 Während ich am WDG arbeitete, bahnten sich in der sprachwissenschaftlichen Forschung der Akademie neue Entwicklungen an. Die jungen Mitarbeiter, die für das Grammatikprojekt eingestellt worden waren, rezipierten den in der deutschen Germanistik bis dahin weitgehend unbekannten Strukturalismus, wodurch sie das Misstrauen von Frings weckten. Nur dank des diplomatischen Geschicks von Steinitz war es möglich, sie an der Akademie zu halten. Die Junggrammatiker, wie sie im Kollegenkreis auch genannt wurden, bildeten nun außerhalb des „Instituts für deutsche Sprache und Literatur“ die „Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik“. Als ihr Berater wirkte Alexander V. Isačenko, den Steinitz als Gastprofessor aus der Tschechoslowakei an die Akademie nach Berlin geholt hatte. Als Schwiegersohn Trubetzkojs war er ein vorzüglicher Kenner der verschiedenen Richtungen des internationalen Strukturalismus, wobei er selber den Prager Strukturalismus mit seiner funktional-strukturellen Betrachtungsweise bevorzugte. Isačenko hielt im Plenarsaal der Akademie eine Vorlesungsreihe, die durch Form und Inhalt so überzeugend wirkte, dass ich beschloss, mich intensiver mit den Prager Forschungen zu beschäftigen, vor allem auch mit neueren Arbeiten, wie sie in der Reihe „Travaux linguistiques de Prague“10 seit 1964 erschienen. 8 9

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Scharnhorst, Struktur. Vgl. Klappenbach/Steinitz (Hg.), Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, und Klappenbachs Beiträge zur Wörterbucharbeit in: Klappenbach, Studien; s.a. Tellenbach/Blumrich, Anwendung. Die „Travaux linguistiques de Prague“ (TLP) erschienen in den Jahren 1964–1971 in vier Bänden. Sie knüpften an die „Travaux du Cercle lingustique de Prague“ (TCLP) an, die in

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Aber noch von einer anderen Seite her kam ich auf die Prager Schule. Nachdem ich mich in die mit der Erforschung des Wortschatzes der deutschen Gegenwartssprache verbundenen Probleme am WDG eingearbeitet hatte, interessierte ich mich besonders für die stilistischen Bewertungen. Mein Debüt in der Stilistik war ein Vortrag vor der „Deutschen Kommission“ über „Stilfärbung und Bedeutung. Die Darstellung der Stilfärbung ‚abwertend‘ (pejorativ) im Wörterbuch“.11 Während meiner ersten Reise in die Sowjetunion im Herbst 1961 hatte ich Gelegenheit, Frau Prof. Elise Riesel vom Fremdspracheninstitut in Moskau persönlich kennen zu lernen – ich hatte ihren „Abriß der deutschen Stilistik“ mit Gewinn gelesen – und hatte nun die Möglichkeit, mit ihr Stilfragen zu diskutieren.12 Dabei stellte ich fest, dass die von ihr vertretene Funktionalstilistik ähnliche theoretische Grundlagen hat, wie sie von der Prager Schule vertreten wurden. Noch von einer dritten Seite bahnten sich für mich neue Entwicklungen an: Das „Bibliographische Institut“ in Leipzig plante als Handbuch für Sprachinteressierte eine „Kleine Enzyklopädie Deutsche Sprache“. Als einer der vier Herausgeber trat Wolfgang Fleischer an mich heran und fragte mich, ob ich bereit sei, innerhalb des Kapitels „Der deutsche Wortschatz“ den Abschnitt „Wörterbücher (Typen und Methoden)“ zu übernehmen. Noch nirgends in der germanistischen Literatur gab es in den sechziger Jahren dazu eine zusammenfassende Darstellung. Ich sagte zu und hatte nun theoretisch wie praktisch Neuland zu erschließen. Theoretisch, indem der Zusammenhang zwischen Lexikologie – ebenfalls ein damals in der deutschen Germanistik wenig erschlossenes Gebiet – und Lexikographie hergestellt werden musste, um daraus Typen von Wörterbüchern abzuleiten. Was die Methoden der Lexikographie anging, so war bei der beschränkten Seitenzahl ohnehin nur ein Beispiel möglich (ich wählte dazu das WDG). Praktisch, indem in der gebotenen Kürze ein allgemein verständlicher, gut lesbarer Text entstehen sollte. Als die „Kleine Enzyklopädie“ dann nach komplizierter redaktioneller Arbeit 1969/1970 in zwei Bänden13 erschien, war bereits ein erneuter Paradigmenwechsel an der Tagesordnung. Aber bevor es dazu kam, hatte ich eine Initiative ergriffen, die über die Germanistik und auch über die Akademie hinausging: Ich rief einen „Arbeitskreis für Lexikographie“ ins Leben, in dem Vorträge zu Grundsatzfragen der Semantik und Lexikologie ebenso wie zu aktuellen lexikographischen

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den Jahren 1929–1939 in acht Bänden Arbeiten aus der ‚klassischen Zeit‘ des „Prager Linguistenkreises“ veröffentlicht hatten. Scharnhorst, Stilfärbung. Vgl. auch Scharnhorst, Sprache. Vgl. Riesel, Abriss, und Riesel/Schendels, Stilistik. Zur Würdigung der 1934 aus Österreich in die Sowjetunion emigrierten Wissenschaftlerin vgl. meinen (anonym erschienenen) Nachruf in der Zeitschrift für Germanistik 11,1 (1990), S.  111, und den Beitrag von Natalja Troshina in diesem Band. Zur Funktionalstilistik vgl. Scharnhorst, Wesen. Scharnhorst, Wörterbücher.

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Unternehmungen, aber auch zu Fragen der Nutzung moderner Technik gehalten wurden. Im Laufe der Jahre 1964–1969 sprachen zunächst Manfred Bierwisch über „Aufgaben der Bedeutungsanalyse“ und Wolfgang Motsch über „Formen der Bedeutungsanalyse“, wobei sie vor allem die Stellung der Semantik im Rahmen der generativen Grammatik skizzierten. Bierwisch konkretisierte seine Vorstellungen durch das Beispiel der semantischen Analyse bei Raumadjektiven. Danach erörterte Gerhard Ising „Möglichkeiten und Grenzen der traditionellen Lexikographie“, wobei es insbesondere um das Verhältnis von Synchronie und Diachronie sowie die Analyse von Einzelwörtern im Gegensatz zur Analyse des Wortschatzes als System ging. Einen weiteren Grundsatzvortrag hielt Wilhelm Schmidt (Potsdam) „Zum Problem der Bedeutungsstruktur“, wobei sein vor kurzem erschienenes Buch „Lexikalische und aktuelle Bedeutung“ mit zur Diskussion stand. In einer weiteren Reihe von Vorträgen wurden laufende Wörterbuchunternehmen der Akademie mit ihren speziellen Problemen vorgestellt: Joachim Höppner sprach über das Marx-Engels-Wörterbuch, Josef Mattausch über das „Goethe-Wörterbuch als Autorenwörterbuch“, der Slawist Wolfgang Smolik über das „Deutsch-russische Wörterbuch“, der Anglist Manfred Schentke über die moderne deutsch-englische Lexikographie und ich selber behandelte das Verhältnis von „Stilistik und Lexikographie“ anhand der Stilschichten des WDG. Ein Lexikographen und Editoren gemeinsam interessierender Vortrag von Franz Schmidt (Weimar) war einer „stilstatistischen Methode der Textuntersuchung unter editorischem und sprachwissenschaftlichem Gesichtspunkt“ gewidmet. Ein starkes Informationsbedürfnis befriedigten Themen zu „Problemen maschineller Wörterbucharbeiten“, über die Erich Mater und Jitka Štindlová (Prag) referierten, während Elke Tellenbach vom internationalen „Kolloquium über die Mechanisation und Automation von linguistischen Untersuchungen, besonders im Hinblick auf Lexikologie und Lexikographie“ berichtete, das im Juni 1966 in Prag Experten aus Ost und West zusammengeführt hatte. In diesen Zusammenhang gehört auch der instruktive Vortrag von Erhard Agricola über „Entwicklungsstand und Problematik der automatischen Sprachübersetzung“. Den letzten Vortrag im Rahmen des „Arbeitskreises für Lexikographie“ hielt Anfang 1969 der Slawist Klaus Müller. Er berichtete über Vorträge des Internationalen Slawistenkongresses, der im Sommer 1968 in Prag stattgefunden hatte.14 Geplant waren Vorträge zu weiteren Wörterbuchunternehmen (z.B. zur Neubearbeitung des „Deutschen Wörterbuchs“ der Brüder Grimm) sowie zu Fragen der Ono14

An den Veranstaltungen des „Arbeitskreises für Lexikographie“ beteiligten sich zahlreiche junge, aber auch erfahrene ältere Wissenschaftler, so die Akademiemitglieder Hans Holm Bielfeldt, Werner Hartke, Martin Lehnert, Werner Bahner, die Professoren Alexander V. Isačenko und Georg F. Meier, nicht zu vergessen eine so hervorragende Lexikographin wie Ruth Klappenbach.

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masiologie, für die Romanisten als Referenten vorgesehen waren. Dazu kam es aber nicht mehr. Die Akademiereform setzte andere Prioritäten. Ziel des Arbeitskreises war es, das Nachdenken über Wörterbücher anzuregen, um so Vorlauf für spätere theoretische und methodische Arbeiten zu schaffen. Ich selber veröffentlichte 1969 den Aufsatz „Zur semantischen Struktur des Wortschatzes der deutschen Gegenwartssprache (Einige ihrer Probleme. Thesen zu einer Theorie)“.15 Aber das war dann eine Art Abgesang für den „Arbeitskreis für Lexikographie“. Für den nun folgenden Paradigmenwechsel spielte der Arbeitskreis zunächst keine Rolle, höchstens indirekt als ein Beispiel interdisziplinären Aufeinanderzugehens. Dass die Berliner Akademie für die Entwicklung der Metalexikographie gute Voraussetzungen hatte, wurde erst ein Jahrzehnt später erkannt.16 An dieser Stelle ist ein Exkurs über den Begriff des Paradigmas erforderlich. Bekanntlich wurde Paradigma in seiner allgemeinwissenschaftlichen Bedeutung von dem US-Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn in seinem Buch „The Stucture of Scientific Revolutions“17 eingeführt. Kuhn geht von wissenschaftlichen Gemeinschaften aus: Eine wissenschaftliche Gemeinschaft besteht [...] aus den Fachleuten eines wissenschaftlichen Spezialgebiets. In einem auf den meisten anderen Gebieten nicht vorhandenen Ausmaß sind sie einer gleichartigen Ausbildung und beruflichen Initiation unterworfen gewesen. Dabei haben sie dieselbe Fachliteratur gelesen und vielfach dasselbe daraus gelernt. Im allgemeinen bezeichnen die Grenzen dieser Standardliteratur die Grenzen eines wissenschaftlichen Gegenstandsgebietes, und jede Gemeinschaft hat gewöhnlich ihr eigenes Gegenstandsgebiet. [...] Die Mitglieder einer wissenschaftlichen Gemeinschaft [stellen] für sich und andere diejenigen dar, die als einzige für die Verfolgung einer Reihe von gemeinsamen Zielen einschließlich der Ausbildung ihrer Nachfolger verantwortlich sind. Innerhalb solcher Gruppen gibt es eine relativ starke Kommunikation, und die fachlichen Urteile sind relativ einheitlich. Da die Aufmerksamkeit verschiedener wissenschaftlicher Gemeinschaften [...] auf verschiedene Inhalte konzentriert ist, ist die Kommunikation zwischen den Gruppen manchmal mühsam, führt oft zu Mißverständnissen und kann, wenn sie weitergetrieben wird, bedeutende und vorher unvermutete Meinungsverschiedenheiten hervorrufen.18 15 16

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Scharnhorst, Struktur. Im Jahre 1980 wurde im „Zentralinstitut für Sprachwissenschaft“ ein Bereich gegründet, in dem Mitarbeiter zusammengefasst wurden, die sich anhand des Deutschen und anderer Sprachen (des Englischen, Französischen, Chinesischen) Forschungen zur Semantik, Lexikologie und (Meta-)Lexikographie widmeten. Leiter dieses Bereichs waren alternierend Dieter Viehweger und Dieter Herberg. Die englische Originalfassung erschien 1962, die erste deutsche Übersetzung 1967. In zweiter, revidierter und um das Postskriptum von 1969 ergänzter Auflage kam das Buch 1976 wiederum im Suhrkamp-Verlag heraus. Den Gang seiner Forschungen schildert der Verfasser im Vorwort zu Kuhn, Struktur. Kuhn, Struktur, S. 188–189.

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Von dem Begriff der wissenschaftlichen Gemeinschaft geht Kuhn dann zum Begriff Paradigma über: „Paradigmata sind etwas, das den Mitgliedern solcher Gruppen gemeinsam ist.“19 Dieses Etwas ist nun ein disziplinäres System, das aus Begriffen im Rahmen von Theorien und Modellen besteht und das Bekenntnis zu bestimmten Werten einschließt. Ganz wichtig sind Musterbeispiele, also „die konkreten Problemlösungen, denen die Studenten von Anfang ihrer wissenschaftlichen Ausbildung an begegnen, ob in Laboratorien, in Prüfungen oder am Ende von Kapiteln wissenschaftlicher Lehrbücher.“20 Kuhn behandelt zwar in allererster Linie die Naturwissenschaften, stützt sich aber auch auf andere Quellen, wie er am Ende seines Buches deutlich macht: In dem Maße, wie das Buch die wissenschaftliche Entwicklung als eine Folge traditionsgebundener Perioden darstellt, zwischen denen nicht-kumulative Umbrüche liegen, sind seine Thesen zweifellos weithin anwendbar. Kein Wunder, denn sie sind aus anderen Bereichen zusammengetragen. Die Geschichtsschreibung der Literatur, Musik, bildenden Kunst, Politik und vieler anderer menschlicher Tätigkeiten beschreibt ihren Gegenstand seit langem auf diese Weise. Periodisierung durch revolutionäre Umbrüche von Stil, Geschmack und institutioneller Struktur gehören zu ihren Standardwerkzeugen. Wenn ich hinsichtlich solcher Vorstellungen originell war, dann hauptsächlich durch ihre Anwendung auf die Naturwissenschaften, auf Gebiete also, von denen man allgemein dachte, sie entwickelten sich anders. Es ist denkbar, dass der Begriff des Paradigmas als eines konkreten Ergebnisses, eines Musterbeispiels, ein zweiter Beitrag ist. Ich vermute beispielsweise, dass einige der bekannten Schwierigkeiten des Stilbegriffs in der Kunst sich lösen, wenn man erkennt, dass Bilder mit anderen Bildern als Vorbild und nicht gemäß davon abstrahierten Stilprinzipien gemalt werden.21

Kuhns Begriff Paradigmenwechsel ist heute in den allgemeinen wissenschaftlichen Wortschatz eingegangen. Im „Duden-Universalwörterbuch“22 wird er mit „Wechsel von einer wissenschaftlichen Grundauffassung zu einer anderen“ umschrieben. So weit der Exkurs. Der Paradigmenwechsel, der sich etwa ab 1968/70 in der germanistischen Sprachwissenschaft vollzog, erfasste nicht allein diese Disziplin, sondern fast alle Gesellschaftswissenschaften in der DDR. Den organisatorischen Rahmen bildeten die sogenannte Dritte Hochschulreform23 und die Akademiereform. Im Jahre 1968 hatten innerhalb der Arbeitsgemeinschaft der gesellschaftswissenschaftlichen Institute und Einrichtungen der Akademie 19 20 21 22 23

Ebd., S. 189–190. Ebd., S. 198. Ebd., S. 219–220. Osterwinter/Auberle (Red.): Universalwörterbuch. Zur ‚Dritten Hochschulreform‘ vgl. auch den Beitrag von Matthias Glasow in diesem Band.

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folgende organisatorische Einheiten bestanden: Das „Institut für deutsche Sprache und Literatur“, das „Institut für Slawistik“, das „Institut für romanische Sprachen und Kultur“, das „Institut für Orientforschung“, das „Institut für griechisch-römische Altertumskunde“, die „Arbeitsstelle strukturelle Grammatik“, die „Arbeitsstelle für mathematische und angewandte Linguistik und automatische Übersetzung“, die „Arbeitsgruppe Sprachpathologie“, die „Arbeitsstelle für Anglistik“ und die „Arbeitsstelle für maschinelle Verarbeitung natürlicher Sprache“.24 Das waren zehn organisatorisch selbständige Institute oder Einrichtungen, in denen ausschließlich oder zu einem erheblichen Teil zur Sprache geforscht wurde. Aus diesen wurden nun die Mitarbeiter, soweit sie sprachwissenschaftliche Themen bearbeiteten, im neugegründeten „Zentralinstitut für Sprachwissenschaft“ (ZISW) zusammengefasst. Nicht einbezogen wurde lediglich das „Mittellateinische Wörterbuch“. Zum Direktor des ZISW wurde der Germanist Werner Neumann berufen, der im Vorfeld der Akademiereform konzeptionell tätig gewesen war.25 Gemäß den Forderungen der SED hatte er mit Hilfe anderer Wissenschaftler Vorstellungen entwickelt, wie sich eine Sprachtheorie herausbilden könne, die den Prinzipien des dialektischen und historischen Materialismus entspreche. Damit sollten verallgemeinerte Ergebnisse der Sprachwissenschaft einerseits Eingang in die marxistische Philosophie und in andere Wissenschaften finden, andererseits sollte der inhaltliche Zusammenhang zwischen den oft hoch spezialisierten Forschungen der verschiedenen sprachwissenschaftlichen und philologischen Richtungen (nicht nur auf germanistischem Gebiet) wieder hergestellt werden. Ziel war es, mittelfristig zu einem Wechselspiel zwischen Theorie und (sozialistischer) Praxis zu kommen. Aus Zeitgründen kann ich auf Einzelheiten des Zeitraums 1969 bis 1991 hier nicht eingehen. Aufgabe künftiger Wissenschaftshistoriker wird es sein, die am ZISW in gut zwei Jahrzehnten erbrachten Leistungen zu bewerten. Dabei sollten sie neben zahlreichen, von der internationalen Forschung äußerst positiv beurteilten Publikationen – ich denke dabei z.B. an die Veröffentlichungen der Wörterbücher, Grammatiken und zur Orthographie und Sprachkultur26 – nicht die vom ZISW ausgerichteten Tagungen vergessen. 24

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Akademie der Wissenschaften (Hg.): Jahrbuch 1968, S. 459–501, 569–576 (Scharnhorst). Nicht genannt in meinem Text ist das „Institut für sorbische Volksforschung“ in Bautzen (vgl. dazu Akademie der Wissenschaften [Hg.]: Jahrbuch 1968, S. 563–568), das auch zur Akademie gehörte, bei der Akademiereform jedoch selbständig blieb. Neumann, Rolle; Neumann, Probleme. Man vergleiche auch die Vorstellungen von Bahner (Bahner, Probleme; Bahner Sprache) sowie den Artikel von Feudel (Feudel, Zusammenarbeit). Zu den allgemeinen Zielen der Akademiereform vgl. Scheler, Akademie, und innerhalb dieser zu den Zielen der Gesellschaftswissenschaften vgl. Stern, Schwerpunkte. Vgl. dazu die Beiträge von Herberg/Ludwig, Motsch/Suchsland und Nerius in diesem

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Dazu gehört nicht zuletzt der XIV. Internationale Linguistenkongress, der Weltkongress der Sprachwissenschaftler, der 1987 im Palast der Republik erfolgreich stattfand.27 Es ist fraglich, ob man bei dem, was sich in den Jahren 1989 bis 1991 in der Wissenschaft der DDR und ganz besonders in der „Akademie der Wissenschaften“ abspielte, von einem Paradigmenwechsel sprechen soll. Auf administrativem Wege, ohne die Ergebnisse der Evaluation abzuwarten, wurden alle Akademieinstitute ‚abgewickelt‘. (Als Präzedenzfall fällt mir nur die Auflösung der Neuplatonischen Akademie in Athen durch den byzantinischen Kaiser Justinian im Jahre 529 ein.28) Auch das ZISW, das vier Jahre vorher noch einen Weltkongress ausgerichtet hatte, wurde aufgelöst, die Mitarbeiter (219 Beschäftigte, davon 173 Wissenschaftler29) in alle Winde zerstreut. Dabei hätte ein Institut wie dieses, in dem Spezialisten nicht nur für das Deutsche, sondern für fast alle Sprachen Europas (sowie einige außereuropäische Sprachen wie das Chinesische) vereint waren, im zusammenwachsenden Europa eine wichtige Rolle spielen können. Nirgends in Mittel- und Westeuropa gab es 1990/91 eine Einrichtung, die bessere Voraussetzungen gehabt hätte, um die insbesondere im Rahmen der EU sich verstärkenden Sprachprobleme zu bearbeiten und dafür die wissenschaftlichen Mittel bereitzustellen (z.B. große ein- und zweisprachige Wörterbücher, Grammatiken, Handbücher zur Sprachkultur). Das ist nur ein Beispiel für die Möglichkeiten, die ein reorganisiertes Akademieinstitut für Sprachwissenschaft und europäische Sprachkultur geboten hätte!30

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Band. Zur Sprachkultur vgl. Scharnhorst/Ising (Hg.), Grundlagen, sowie – inhaltlich eng damit verbunden – meine Arbeiten zum Begriff der Sprachsituation (Scharnhorst, Status) und der Funktionalstilistik (Scharnhorst, Wesen). Auch die Forschungen zur Orthographie (Nerius/Scharnhorst, Probleme) gehören in den weiteren Rahmen der Sprachkultur. Vgl. Ising, Sprachkultur; Techtmeier u.a., Thesen; Schnerrer, Geschichte. Bahner/Schildt/Viehweger (Hg.), Proceedings. Vgl. Szlezák, Akademie, und Blumenthal, 529 and its sequel. Scheler, Akademie, S. 442. Das Jahrbuch des Jahres 1990/91 der „Akademie der Wissenschaften der DDR“ macht folgende Angaben: „Mitarbeiter im Juni 1990: 218/163 zum Zeitpunkt der Evaluierung: 220/175 am 30. November 1991: 173“ (Akademie der Wissenschaften [Hg.]: Jahrbuch 1990/91, S. 146). Die Möglichkeiten, die ein solches Institut geboten hätte, hat der im September 1991 von Mitarbeitern des „Zentralinstituts für Sprachwissenschaft“ in Berlin gegründete „Verein zur Förderung sprachwissenschaftlicher Studien e.V.“ u.a. durch vier internationale Tagungen in den Jahren 1993 bis 2005 gezeigt (vgl. Scharnhorst, Sprachsituation; Sprachkultur und Sprachgeschichte; Sprachkultur und Lexikographie; Blanke/Scharnhorst, Sprachenpolitik).

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Paradigmenwechsel in der germanistischen Sprachwissenschaft

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Scharnhorst, Jürgen:  (Hg.): Sprachkultur und Lexikographie. Von der Forschung zur Nutzung von Wörterbüchern, Frankfurt/Main 2004 (= Sprache – System und Tätigkeit 50). Scharnhorst, Jürgen / Ising, Erika: Grundlagen der Sprachkultur: Beiträge der Prager Linguistik zur Sprachtheorie und Sprachpflege, 2 Teile, Berlin 1976–1982 (= Reihe Sprache und Gesellschaft 8,1 und 8,2). Scheler, Werner: Von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin zur Akademie der Wissenschaften der DDR. Abriss der Genese und Transformation der Akademie, Berlin 2000. Schmidt, Hartmut: Sprachhistorische Forschung an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Ein Rückblick, in: Internationales Jahrbuch für Germanistik 24,2 (1992), S. 8–31. Schmitt, Ludwig Erich: Hermann Teuchert (3. März 1880 bis 13. Januar 1972), in: Teuchert, Hermann: Die Sprachreste der niederländischen Siedlungen des 12. Jahrhunderts, 2. Aufl., Köln / Wien 1972 (= Mitteldeutsche Forschungen 70), S. XI-XX. Schnerrer, Rosemarie: Zur Geschichte der Sprachkultur in der ehemaligen DDR, in: Bickes, Hans / Trabold, Annette (Hg.): Förderung der sprachlichen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland. Positionsbestimmung und Bestandsaufnahme, Stuttgart 1994 (= Materialien und Berichte der Robert-Bosch-Stiftung: Förderungsgebiet Kunst und Kultur 40), S. 12–62. Steinitz, Wolfgang: Über die Aufgaben der Abteilung „Deutsche Sprache der Gegenwart“, in: Institut für deutsche Sprache und Literatur (Hg.): Vorträge gehalten auf der Eröffnungstagung, Berlin 1954, S. 65–96. Stern, Leo: Schwerpunkte der gesellschaftswissenschaftlichen Forschungen bis 1970, in: Spektrum. Mitteilungsblatt für die Mitarbeiter der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 12 (1966), S. 302–308. Strodel, Hans u.a. (Hg.): Kürschners deutscher Gelehrten-Kalender. Biobibliographisches Verzeichnis deutschsprachiger Wissenschaftler der Gegenwart, begründet von Joseph Kürschner, Bd. 7, Berlin u.a. 1950. Szlezák, Thomas A.: Akademie, in: Landfester, Manfred / Cancik, Hubert Schneider, Helmuth (Hg.): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 1: Altertum, Stuttgart / Weimar 1996, S. 382–386. Techtmeier, Bärbel u.a.: Thesen zur Sprachkultur, in: Zeitschrift für Germanistik 5,4 (1984), S. 389–400. Tellenbach, Elke / Blumrich, Margot: Die Anwendung von Lochkarten im Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, in: Mater, Erich / Štindlová, Jitka: Les machines dans la linguistique. Colloque interna-

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Jürgen Scharnhorst

tional sur la mécanisation et l’automation des recherches lingustiques, Prag 1968, S. 227–233. Teuchert, Hermann: Vorwort, in: Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 15, Leipzig 1956. Vachek, Josef (Red.): L’école de Prague d’aujourd’hui, Prag 1964 (= Travaux linguistiques de Prague 1). Wittich, Dieter: Aufwiegelung mit Paradigma, in: Neues Deutschland 16./17.03.2002, S. 21. Zwahr, Annette (Red.): Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden, Bd. 14: Jen – Kinc, 21., völlig neu bearb. Aufl., Leipzig 2006.

Heinz Vater

Flucht nach dem Mauerbau 1. Vorgeschichte Unmittelbar nach meinem Staatsexamen im Sommer 1955 an der Humboldt-Universität in Ostberlin, wo ich seit 1951 Germanistik studiert hatte, holte mich der Direktor der Abteilung „Deutsche Sprache der Gegenwart“ am „Institut für deutsche Sprache“ der „Deutschen Akademie der Wissenschaften“ in Ostberlin, Prof. Dr. Wolfgang Steinitz, zusammen mit meinem Kommilitonen Wolfdietrich Hartung, als Assistent an die Akademie. Prof. Steinitz wählte uns auf Grund unserer Leistungen im sprachwissenschaftlichen Bereich des Examens aus, weil er die Gründung der „Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik“ (ASG) plante, für die er Mitarbeiter brauchte.1 Bis zur Genehmigung der Neugründung durch die Akademie-Leitung im Sommer 1956 arbeiteten wir zunächst beim „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“, dann in der ASG. Bald danach kamen Manfred Bierwisch (heute ein prominenter Professor für Sprachwissenschaft), Karl-Erich Heidolph, Wolfgang Motsch, Renate Steinitz und (nach meinem Weggang) Ewald Lang und Wolfgang Ullrich Wurzel dazu. Wir hatten die Aufgabe, uns in den linguistischen Strukturalismus einzuarbeiten, der für die Nazis als ‚undeutsche‘ Wissenschaftsrichtung galt und infolge der Vertreibung deutscher Strukturalisten in Deutschland nahezu unbekannt war.2 Die in 1

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Bierwisch, Grammatikforschung, S. 172–173, schildert Steinitz’ Verdienste: „Wolfgang Steinitz, obwohl Finno-Ugrist, hat für die Slawistik und Germanistik in der DDR mehr bewirkt als die meisten seiner in Fachtraditionen befangenen Kollegen. Weltoffen und neugierig auf Innovationen […] hat er seinen anfangs bedeutenden Einfluß genutzt, […] vor allem um Neues in der Sprachwissenschaft zu ermöglichen.“ Vgl. die Schilderungen bei Maas, Verfolgung, Bd. 1, S. 241–242, wo er Cassirer, Structualism, würdigt, der den Strukturalismus als Neuansatz zur methodologischen Fundierung der Geisteswissenschaften beschreibt, und bei Garvin, Treatment of Meaning, den Versuch hervorhebt, „europäische Analyse-Traditionen mit distributionalistischen Verfahren der USLinguisten zu vermitteln“ (Maas, Verfolgung, Bd. 2, S. 35); zu Lenneberg, Biological Foundations, sagt Maas, ebd., S. 239: „Nicht zuletzt durch den engen Kontakt zu N. Chomsky

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der deutschen Sprachwissenschaft dadurch entstandene Leere wurde ausgefüllt durch die ‚inhaltbezogene Grammatik‘ Weisgerbers, die trotz ihrer Humboldtschen Wurzeln viele fantastisch-spekulative und zudem völkische Züge trug.3 Der Besuch des prominenten Strukturalisten Roman Jakobson in Ostberlin, der 1957 einer Einladung von Steinitz zu Vorträgen an der Akademie folgte, bedeutete eine entscheidende Wende. Meine Kollegen und ich hatten uns durch intensive Lektüre von Jakobsons Werken gut vorbereitet, besuchten seine Vorträge und waren imstande, mit ihm interessante Diskussionen zu führen, in denen wir viel von ihm lernten und die auch ihm offenbar Vergnügen bereiteten. Schon bald nach Jakobsons Besuch stieß Manfred Bierwisch auf das die Generative Grammatik (GG) inaugurierende Werk „Syntactic Structures“4 und bat uns eindringlich, das Buch zu lesen. Wir waren nach der Lektüre begeistert und ahnten, dass hier eine sehr neue Auffassung der Linguistik ihren Anfang nahm. In intensiven täglichen Diskussionen setzten wir uns mit Prinzipien und Methoden der Generativen Grammatik auseinander und begannen, sie auf unsere Arbeitsbereiche anzuwenden. 1962 startete an der „Deutschen Akademie der Wissenschaften“ die Reihe „Studia Grammatica“ (SG), die für lange Zeit in der Anwendung der GG aufs Deutsche richtungweisend für die deutsche Sprachwissenschaft war.5 Die SG-Bände6 vermittelten neue Erkenntnisse zu zentralen Bereichen der deutschen Grammatik und machten sich um den weiteren Ausbau der Grammatiktheorie verdient. Eine wichtige Rolle spielten auch die (ebenfalls im Akademie-Verlag in Ostberlin erschienenen) „Grundzüge der deutschen

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erarbeitete er sich eine Schlüsselposition in der Weiterentwicklung der Generativen Grammatik, bei der Chomsky seine biologistische Wende in den 60er Jahren vollzog. L. unterfütterte diese von Chomsky eher spekulativ vollzogene Wende mit den notwendigen naturwissenschaftlichen Grundlagen.“ So behauptet Weisgerber z. B. 1957/58 in seinem Aufsatz „Der Mensch im Akkusativ“, der Dativ sei der Kasus der Personen, der Akkusativ der Kasus der Sachen. Er verdammt den Gebrauch von be-Verben, da in jemanden beliefern (im Gegensatz zu jemandem etwas liefern) der Mensch nur als Nummer auf einer Liste figuriere. Er übersieht völlig die vielen Verben mit persönlichem Akkusativ wie jmdn. lieben, achten, verehren, bewundern, die keineswegs negativ konnotiert sind. Zur inhaltbezogenen Sprachauffassung Weisgerbers vgl. auch den Beitrag von Wolfgang Sucharowski in diesem Band. Chomsky, Structures. Zu Bierwischs Anregung vgl. den Beitrag von Wolfgang Motsch und Peter Suchsland in diesem Band. Vgl. die von der ASG vertretenen „Thesen über die theoretischen Grundlagen einer wissenschaftlichen Grammatik“ im 1962 erschienenen ersten Band der SG. Zur Entwicklung von struktureller und generativer Grammatik vgl. Bierwisch, Strukturalismus, und Vater, Strukturalismus, sowie Vater, Strukturalismus und Generative Grammatik; zur Geschichte der ASG vgl. Clément, Grammatik; Bierwisch, Beobachtungen; Bierwisch, Grammatikforschung; zu Steinitz auch Lang, Kohärenz. Vgl. Bierwisch, Grammatik; Hartung, Sätze; Motsch, Syntax; Steinitz, Adverbialsyntax; Wurzel, Lautstudien; Lang, Semantik.

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Grammatik“ von Heidolph u. a. (1981), in denen die GG erstmals auf die Grammatik des Deutschen angewandt wurde. Die Generative Grammatik hielt ihren Einzug in die deutsche Sprachwissenschaft paradoxerweise in der DDR, die sich sehr gegenüber allen aus dem Westen kommenden Bestrebungen abschottete. Bierwisch hebt hervor, dass Steinitz „Freiräume für Unerprobtes geschaffen und geschützt“7 hat, die den jungen Mitarbeitern die intensive Erprobung der strukturellen und generativen Linguistik ermöglichten. Leider konnten die ASG-Mitarbeiter sich nach dem Tod von Steinitz (1967) nicht mehr dauerhaft vor den Angriffen der Parteibürokratie verteidigen, der diese „amerikanische Richtung“ äußerst verdächtig war. 1973 wurde die Arbeitsstelle geschlossen, die Mitarbeiter wurden verschiedenen anderen Akademieprojekten zugewiesen. Erst später verbreitete sich die GG als wichtigste theoretische Richtung der modernen Linguistik auch in Westdeutschland, woran ich auch (durch die Organisation des „1. Linguistischen Kolloquiums für generative Grammatik“ in Hamburg-Harburg 1966) Anteil hatte. Ich war nach langer ‚Bearbeitung‘ durch Studienkollegen in die Sozialistische Einheitspartei (SED) eingetreten, merkte aber bald, dass ich in dieser Partei ‚nicht zu Hause war‘, dass ich aber auch keine Möglichkeit hatte, Vorbehalte und Kritik zu äußern. Die ‚Parteidisziplin‘ verpflichtete die Mitglieder dazu, sich mit allen Parteibeschlüssen konform zu fühlen. Als ich trotzdem einige Male kritisch meine Meinung äußerte, musste ich erfahren, dass alles notiert und mir noch Jahre später vorgehalten wurde. So wurde ich 1960 scharf gerügt dafür, dass ich im Jahr 1958 die Wirtschaftspolitik Titos (z. B. die Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien) gelobt hatte; Tito war in Moskau in Ungnade gefallen; er war dort das, was in der christlichen Religion der Teufel ist. Ihn zu loben war beinahe so gefährlich, wie es das am Ende der dreißiger Jahre war, Trotzki zu loben. Ganz besonders vorgehalten wurde mir, dass ich einem Kollegen gegenüber (der mich hinterher angezeigt hatte) von Stalins Verbrechen gesprochen hatte; im offiziellen Sprachgebrauch (nach dem 20. Parteitag 1956) hieß das „Stalins Fehler“. Mehrmals wurde ich von einer achtköpfigen Parteikommission verhört, was bei mir schlaflose Nächte verursachte. Obwohl ich die Arbeitsatmosphäre an der ASG als anregend und angenehm empfand und mich mit allen Kollegen gut verstand, war andererseits die politische Situation in der DDR für mich unerträglich geworden, zumal ich auch in die „Betriebskampfgruppe“ der Akademie, eine paramilitärische Einrichtung (total ‚freiwillig‘!) eintreten und wöchentlich an den mit starkem Drill verbundenen Übungen teilnehmen musste.

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Bierwisch, Grammatikforschung, S. 172–173.

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2. Flucht Ich beschloss zu fliehen, wollte aber erst das Ende meiner Promotion abwarten. Meine Dissertation, die ich im Frühjahr 1961 an der HumboldtUniversität eingereicht hatte, war von den Gutachtern (Prof. Dr. Wolfgang Steinitz und Prof. Dr. Alexander V. Isačenko) mit summa cum laude beurteilt worden. Mein Rigorosum hatte ich schon (mit sehr gut) bestanden; nur die öffentliche Verteidigung stand noch aus; sie war auf den 6. Oktober 1961 festgesetzt worden. Da kam die Absperrung der Grenze zum Westen am 13. 8. 1961 dazwischen. Zunächst wurden in allen Grenzstraßen Stacheldrahtzäune errichtet, die nach einigen Tagen durch Mauern ersetzt wurden. Eine Mauer mitten durch Berlin hatte man sich bis dahin nicht vorstellen können! Man kannte nur die große chinesische Mauer, die im Mittelalter an der Nordgrenze des chinesischen Kaiserreichs als Schutz gegen die Mongolen errichtet worden war. In Ostberlin herrschte nach dem 13. August 1961 allgemeine Depression: Alle weinten und klagten; viele bedauerten, dass sie nicht eher geflohen waren. Zum Arbeiten hatte kaum einer Lust. Ich benutzte die einzige Möglichkeit zur Flucht, als ich am Sonntag, 24. 9. 1961, zu einem Einsatz der Betriebskampfgruppe in der Bernauer Straße an die Berliner Sektorengrenze kommandiert wurde. Wir mussten Bewohner der Grenzhäuser ausquartieren, die später niedergerissen wurden, um freies Schussfeld zur Verfolgung von Flüchtlingen zu schaffen. Die Bewohner der Grenzhäuser waren nicht vorgewarnt worden. Wir mussten sie begrüßen mit dem Spruch „Guten Tag, im Interesse Ihrer Sicherheit müssen Sie Ihre Wohnung verlassen; wir helfen Ihnen beim Umzug.“8 In der Bernauer Straße bildete die Häuserzeile auf der Ostseite die Grenze; die gegenüberliegende Häuserfront und der Fahrdamm gehörten zu Westberlin. Ich wurde einer Wohnung im 1. Stock zugeteilt. Als einer der Wachleute, die (mit einer Pistole bewaffnet) an jedem Fenster und am Balkon Stellung bezogen hatten, seinen Posten verließ, um die Toilette aufzusuchen, nutzte ich die Gelegenheit, um die Balkontür aufzureißen. Ich zögerte kurz: Wäre ich nicht vorher schon öfter im Schwimmbad vom 5-Meter-Brett ins Wasser gesprungen, hätte ich wohl nicht zu springen gewagt. Immerhin war es ein Unterschied, ob man aus fünf Meter Höhe ins Wasser oder aus sechs Meter Höhe aufs Straßenpflaster springt. Dann sprang ich von der Balkonbrüstung. Ich rannte trotz meiner Verletzungen noch über die Straße; ein alter Mann öffnete mir die gegenüberliegende Haustür und ich warf mich im Hausflur auf die Treppenstufen und spuckte zwei ausgebrochene Zähne aus. Als Angehöriger der Kampfgruppe konnte ich mich den draußen in einer Nebenstraße um ihren Wagen postierten Feuerwehrleuten gegenüber nicht bemerkbar machen, um das Sprungtuch anzufordern. Das konnten 8

Die Evakuierten wurden größtenteils zunächst in Heimen und Turnhallen untergebracht.

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nur Bewohner der Häuser in der Bernauer Straße, die teilweise noch kurz vor unserem Eintreffen ins Sprungtuch gesprungen waren.9 Die Feuerwehrleute luden mich auf eine Bahre und brachten mich ins „Rudolf-VirchowKrankenhaus“. Ein Feuerwehrmann sagte mir noch: „Oben schauen Ihre Kollegen aus dem Fenster auf uns“; ich hatte aber keine Lust, ihren Blicken zu begegnen. Später erfuhr ich, dass sie meinetwegen schwer gerügt wurden. Im Virchow-Krankenhaus stellte ein Arzt fest, dass ich einen Fersenbeinbruch, Prellungen und Verletzungen am Kinn erlitten hatte. Die Kinnverletzungen rührten daher, dass ich nach dem Aufprall auf der Straße zusammengesackt war und nicht – wie ich glaubte – stehend aufgekommen war (was bei einem Sprung aus sechs Metern Höhe gar nicht möglich ist). Ich wurde, da ich keiner westdeutschen Krankenversicherung angehörte, der niedrigsten Patientenstufe zugeordnet und kam für einige Wochen in einen großen Raum zusammen mit zehn anderen Männern. Die Nächte waren dort immer unruhig, weil einige Mitpatienten stark schnarchten, andere mehrmals auf die Toilette gingen oder mitten in der Nacht mit Butterbrotpapier raschelnd oder mit Konservenbüchsen klappernd zu essen anfingen. Nach einigen Tagen besuchte mich mein Kollege Mittring, der zu den wenigen Mitarbeitern der Akademie gehörte, die weiterhin in Westberlin wohnten (später wurde allen, die nicht nach Ostberlin ziehen wollten, gekündigt). Herr Mittring – als gläubiger Christ ein Gegner des SED-Regimes – fragte mich, was er für mich tun könne. Ich bat ihn, mir meine Doktorarbeit zu bringen, die ich bei guten Freunden in Ostberlin sichergestellt hatte. Er holte die Arbeit, nahm das Deckblatt heraus, um Grenzposten gegenüber sagen zu können, dass es sich um seine eigene Arbeit handle, an der er zu Hause weiterarbeiten müsse, und brachte sie mir. Ich konnte sie später an der Universität Hamburg neu einreichen. Herrn Mittring verdanke ich es, dass ich die ganze Doktorarbeit nicht nochmals schreiben musste. Der Hamburger Germanist Prof. Werner Simon, den ich schon von der Humboldt-Universität her kannte, begutachtete meine Dissertation als Zweitgutachter und vermittelte mir Prof. Hans Hartmann, Direktor des „Instituts für Allgemeine und Vergleichende Sprachwissenschaft“, als Erstgutachter. Beide Gutachter bewerteten die Arbeit mit summa cum laude. Das Rigorosum musste ich 1962, wie an der „Philosophischen Fakultät“ der Hamburger Universität üblich, in drei Fächern ablegen, und zwar (durch Entgegenkommen der Fakultät auf Grund der durch die Flucht bedingten besonderen Umstände): in „Allgemeiner Sprachwissenschaft“, „Germanistik“ und „Philosophie“ (wo ich meine Berliner Logik- und Marxismus-Studien – mit kritischer Beleuchtung – einbringen konnte). 9

Ein besonders dramatischer Fall, wo eine alte Dame – wenige Häuser entfernt – springen wollte, sich aber nicht traute, bis ein junger Mann hochkletterte, ihre Beine ergriff und sich mit ihr ins Sprungtuch fallen ließ, wurde vom Westen aus fotografiert. Das Bild erschien in allen Westberliner Tageszeitungen.

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3. Nachgeschichte Meine frühere Ostberliner Kollegin Ruth Römer – sie wurde später u. a. durch ihr Buch über die Werbesprache eine bekannte Germanistik-Professorin – hatte nach ihrer Flucht eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Geschäftsstelle der „Gesellschaft für deutsche Sprache“ in Lüneburg bekommen.10 Frau Römer hatte ihrem Chef Dr. Oskar Buchmann erzählt: „Denken Sie sich: Ein Freund von mir und meinem Mann ist aus Ostberlin geflüchtet; er ist in der Bernauer Straße in Berlin aus einem Fenster in einem Grenzhaus gesprungen und hat sich schwer verletzt“, worauf Buchmann sagte: „Das ist ja wunderbar; den Mann kann ich brauchen.“ Frau Römer antwortete ihm: „Sie Barbar!“ Aber er bot mir tatsächlich eine Stelle im von ihm beantragten Forschungsprojekt „Aktueller deutscher Wortschatz“ bei der Gesellschaft an.11 Ich hatte zunächst Bedenken, da ich wusste, dass die „Gesellschaft für deutsche Sprache“ der Nachfolgeverein des „Allgemeinen Deutschen Sprachverbands“ war, der seit eh und je völkisch-nationalistisch orientiert war und nach der Machtübernahme der Nazis sofort mit ihnen kooperierte. Dr. Buchmann flog dann extra nach Berlin, besuchte mich im Krankenhaus und legte mir ausführlich dar, dass der Verein sich grundlegend geändert hatte und dass in der Geschäftsstelle der „Gesellschaft der deutschen Sprache“ in Lüneburg und der Redaktion der von ihr herausgegebenen Zeitschrift „Muttersprache“ ein demokratischer Geist waltete. Außerdem wäre ich als Mitarbeiter am Forschungsprojekt weitgehend von der Gesellschaft unabhängig, müsste allerdings Sprachauskünfte geben. Ich ließ mich überzeugen und sagte zu. Gegen die Erteilung von Sprachauskünften und die Beantwortung entsprechender Anfragen hatte ich nichts. Später stellte sich heraus, dass das sogar eine interessante, teilweise amüsante Angelegenheit war. Oft kriegte man merkwürdige, ziemlich verrückte Fragen und Mitteilungen. So teilte uns ein Schreiber mit, dass er herausbekommen habe, dass Satan sich in unserer Welt tummle: Der Vorname des damaligen sowjetischen Außenministers Mikojan war Anastas, was sich dem Schreiber als eine Umstellung von Satanas darstellte. Im November 1963 verunglückte Dr. Buchmann tödlich und ich musste die Leitung des Forschungsprojekts übernehmen. Im Mai 1964 bekam ich eine Assistentenstelle bei Prof. Hans Hartmann am „Institut für Allgemeine und Vergleichende Sprachwissenschaft“ an der Hamburger Universität. Da ich gleichzeitig das Lüneburger Forschungsprojekt zu Ende führen 10 11

Heute hat die „Gesellschaft für deutsche Sprache“ ihren Sitz in Wiesbaden. Von der „Deutschen Forschungsgemeinschaft“ (DFG) unterstützte Forschungsprojekte werden nicht an Privatpersonen, sondern an Institutionen vergeben. Die Ergebnisse des Projekts „Aktueller deutscher Wortschatz“ wurden später veröffentlicht (vgl. Harlass/Vater, Wortschatz.)

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musste, pendelte ich bis zum Spätsommer 1965 zwischen Lüneburg und Hamburg. Im Sommer 1969 wurde ich an der Universität Hamburg mit einer Habilschrift über „Dänische Subjekt- und Objektsätze“ habilitiert. Zwei Jahre vor Abschluss meines Habilverfahrens sicherte mir die Indiana University in Bloomington, Indiana/USA eine Stelle als Associate Professor für germanistische Linguistik zu, die ich gleich nach Abschluss meiner Habilitation im Herbst 1969 antreten konnte. Ich blieb bis 1972 in den USA und nahm dann einen Ruf an die Universität zu Köln als C4-Professor für Sprachwissenschaft des Deutschen an; bis zu meiner Emeritierung im Herbst 1997 hatte ich diese Professur inne. So war ich 1961, sechs Wochen nach dem Mauerbau, im wahrsten Sinne des Wortes in eine andere Welt gesprungen, die mir neue Perspektiven bot, vor allem aber ein Leben in Freiheit, ohne dauernde Überwachung und Kontrolle.

Literaturverzeichnis Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik: Thesen über die theoretischen Grundlagen einer wissenschaftlichen Grammatik, in: Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik (Hg.): Studia Grammatica, Berlin 1962 (= Studia Grammatica 1), S. 9–30. Bierwisch, Manfred: Grammatik des deutschen Verbs, Berlin 1963 (= Studia Grammatica 2). Bierwisch, Manfred: Strukturalismus. Geschichte, Probleme und Methoden, in: Enzensberger, Hans-Magnus (Hg.): Kursbuch 5, Hamburg 1966, S. 77–153. Bierwisch, Manfred: Beobachtungen zur Situation der Linguistik in der DDR, in: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung 43/44 (1990), S. 533–549. Bierwisch, Manfred: Grammatikforschung in der DDR. Auch ein Rückblick. Linguistische Berichte 139 (1992), S. 169–181. Cassirer, Ernst Alfred: Structuralism in modern linguistics, in: Word 1 (1945), S. 99–120. Chomsky, Noam: Syntactic Structures, Den Haag 1957. Chomsky, Noam: Aspects of the Theory of Syntax, Cambridge/Massachusetts 1965 (= Special technical report. Research Laboratory of Electronics of the Massachusetts Institute of Technology 11).

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Chomsky, Noam: Aspekte der Syntax-Theorie, aus dem Amerikanischen übers. und hg. v. einem Kollektiv unter der Leitung von Ewald Lang, Frankfurt/Main 1969 (= Theorie 2 [ab 1973: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 42]). Chomsky, Noam: Aspekte der Syntax-Theorie, aus dem Amerikanischen übers. und hg. v. einem Kollektiv unter der Leitung von Ewald Lang, Berlin 1970 (= Sammlung Akademie-Verlag. Sprache 11). Clément, Danièle: Strukturelle Grammatik, München 1972 (= Linguistik und Didaktik, Beiheft 1). Garvin, Paul: A Descriptive Technique for the Treatment of Meaning, in: Language 34 (1958), S. 1–32. Harlass, Gertrude / Vater, Heinz: Zum aktuellen deutschen Wortschatz, Tübingen 1974 (= Forschungsberichte des IdS 21). Hartung, Wolfdietrich: Die zusammengesezten Sätze des Deutschen, Berlin 1964. (= Studia Grammatica 4) Heidolph, Karl Erich / Flämig, Walter / Motsch, Wolfgang (Hg.): Grundzüge einer deutschen Grammatik, Berlin 1981. Lang, Ewald: Semantik der koordinativen Verknüpfung, Berlin 1977 (= Studia Grammatica 14). Lang, Ewald: Biographische Kohärenz in der Wechselwirkung von Philologie und (R-)Emigration, in: Steinitz, Klaus / Kaschuba, Wolfgang (Hg.): Wolfgang Steinitz – Ich hatte unwahrscheinliches Glück. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, Berlin 2006, S. 63–91. Lenneberg, Eric H.: Biological Foundations of Language, New York 1967. Maas, Utz: Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933–1945. Bd. 1–2, Osnabrück 1996/2004. Motsch, Wolfgang: Syntax des deutschen Adjektivs, Berlin 1964 (= Studia Grammatica 3). Steinitz, Klaus / Kaschuba, Wolfgang (Hg.): Wolfgang Steinitz – Ich hatte unwahrscheinliches Glück. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, Berlin 2006. Steinitz, Renate: Adverbialsyntax, Berlin 1969 (= Studia Grammatica 10). Vater, Heinz: Strukturalismus und Transformationsgrammatik. Überblick und Anwendung aufs Deutsche, Trier 1982 [erweiterte Fassung von Trier 1975]. Vater, Heinz: Strukturalismus und Generative Grammatik in Deutschland, in: Müller, Hans-Harald / Lepper, Marcel / Gardt, Andreas (Hg.): Strukturalismus in Deutschland. Literatur- und Sprachwissenschaft

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1910–1975, Göttingen 2010 (= Marburger Schriften. N.F. 5), S. 125– 160. Weisgerber, Leo: Der Mensch im Akkusativ, in: Wirkendes Wort 8 (1957– 58), S. 193–205. Wurzel, Wolfgang Ullrich: Studien zur deutschen Lautstruktur, Berlin 1970 (= Studia Grammatica 8).

Rainer Rosenberg

‚Bürgerliche‘ Professoren – Remigranten – Nachwuchskader Typische Habitusformen in der DDR-Germanistik der fünfziger und sechziger Jahre

Beim Studium der Wissenschaftsgeschichte stoßen wir immer wieder auf das Faktum, dass die in sie involvierten Individuen in ihrer wissenschaftlichen Arbeit, wie in ihrem Sozialverhalten mehrheitlich den gleichen Handlungsmustern folgen. Pierre Bourdieu hat für dieses Phänomen, dessen Untersuchung er mehrere seiner Arbeiten widmete1, in Anlehnung an Erwin Panofsky2 den Begriff des Habitus wieder ins Spiel gebracht: Ein kollektiver Habitus als Resultat einer von den Individuen inkorporierten ähnlichen Sozialerfahrung, durch die sie die Fähigkeit zu einem Verhalten gemäß den Regeln und Anforderungen einer Gesellschaftsschicht, Institution oder Berufsgruppe erwerben – zu einem Verhalten, das ihnen in diesem Umfeld erfolgreich zu agieren ermöglicht. Mir erscheint dieses Konzept, die zu personalen Haltungen verfestigten Handlungsmuster und Verhaltensweisen auf die allgemeingesellschaftliche und berufsspezifische Sozialisation zurückzubeziehen, als ein praktikables heuristisches Dispositiv für die soziologische Erörterung des Phänomens. Allerdings birgt das Konzept auch eine reduktionistische Tendenz: Es lenkt das Hauptaugenmerk auf das Sozialverhalten der Wissenschaftler und auf die selbiges prägenden habituellen Eigenschaften und lässt offen, welche Bedeutung für die Habitus-Bildung Haltungen beizumessen ist, die sich aus der eigenen Entwicklungslogik einer Wissenschaftsdisziplin oder aus interdisziplinären und internationalen Wissenschaftstrends ableiten lassen. Überhaupt bedarf ein Habitus-Begriff von der Komplexität, die er in Bourdieus Modellierung immer noch besitzt, meines Erachtens einer stärkeren Strukturierung, wenn er einer über 1 2

Vgl. Bourdieu, Homo academicus; Bourdieu, Les règles. Vgl. Panofsky, Architecture.

‚Bürgerliche‘ Professoren – Remigranten – Nachwuchskader

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größere Zeiträume sich erstreckenden wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchung dienstbar gemacht werden soll. Zweifellos gehört zu der Sozialerfahrung, aus der Bourdieu die Stabilität von Habitusformen erklärt, auch der Anpassungsdruck in Bezug auf die Übernahme der im akademischen Umfeld eines Wissenschaftlers verwendeten Verfahren und in Bezug auf die Beachtung der geltenden Diskursregeln. Weder individuell noch kollektiv lässt sich jedoch ein bestimmtes Sozialverhalten grundsätzlich einem bestimmten Wissenschaftsparadigma bzw. Diskurs zuordnen. Paradigmen können wechseln, ohne dass das Sozialverhalten sich ändert. Deshalb halte ich es für angebracht, vorab darüber Auskunft zu geben, von welcher Seite menschlicher Lebenstätigkeit ich ausgehe, wenn ich eine für eine bestimmte Gruppe zu einer bestimmten Zeit typische Habitusform des homo academicus konstatiere. Dabei dürfte klar sein, dass ich, wenn ich von der Wissenschaftshaltung oder von dem wissenschaftlichen Habitus spreche, nicht einfach das Paradigma meine, nach dem gearbeitet wird. Auch die Wissenschaftshaltung ändert sich nicht mit jedem Paradigmenwechsel. Dieser Fall kann jedoch eintreten, wenn das neue Paradigma auf differenten axiomatischen Voraussetzungen fußt oder gar eine andere epistemische Einstellung impliziert. Unterschiedliche Wissenschaftshaltungen sehe ich z. B. dort, wo – wie das noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Regel war – die meisten Wissenschaftler jahrzehntelang bei dem Paradigma (sei es der Positivismus, sei es die Geistesgeschichte) blieben, unter dem sie angetreten waren, während wir etwa seit den achtziger Jahren desselben Jahrhunderts mit der Globalisierung der Wissenschaftstrends einen schnellen Paradigmenwechsel beobachten, dem auch ‚gestandene‘ Wissenschaftler nicht entgehen. Und eine Veränderung des wissenschaftlichen Habitus haben die einander abwechselnden postmodernen Paradigmen vor allem dadurch bewirkt, dass sie – einem verbreiteten Zeitbewusstsein entsprechend – ausnahmslos jenseits der ‚alten Gewissheiten‘ ansetzen: Indem sie die ‚großen Erzählungen‘ verabschieden, mit der Fragmentierung und Relativierung von Sinn, Identität, Wahrheit etc. alle Sinnkonstruktionen unterlaufen und/oder die gesamte tradierte Wissensordnung (die Fächergrenzen ebenso wie die Grenzen zwischen den verschiedenen Wissensformen) in Frage stellen. Schließlich – damit komme ich zu meinem eigentlichen Thema – stehen Habitusveränderungen auch zur Debatte, wenn wir die deutsche Germanistik im Zusammenhang mit den politischen und sozialen Entwicklungen nach 1945, der Übernahme der marxistischen bzw. neomarxistischen Paradigmen und den damit verbundenen Funktionsbestimmungen der Disziplin betrachten (Literaturwissenschaft als Instrument des Ideologietransfers in der DDR bzw. Literaturtheorie als Revolutionstheorie bei den ‚Achtundsechzigern‘ in der Bundesrepublik). Mir geht es hier um die DDR-Germanistik der fünfziger

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und sechziger Jahre. Genauer gesagt, um die Unterschiede im wissenschaftlichen Habitus und auch im Sozialverhalten ihres Personals. Und ich frage nach dem Verhältnis der verschiedenen Habitusformen zu den unterschiedlichen Bildungswegen und Lebenserfahrungen der Wissenschaftler.3 Da wären zunächst die ‚alten‘ Professoren. Nach 1945 war auch in Ostdeutschland die kurzfristige Wiederherstellung eines geregelten Universitätsbetriebs nur möglich durch den Rückgriff auf das vorhandene Lehrpersonal. In erster Linie sollten freilich politisch unbelastete Wissenschaftler herangezogen werden. Da das personelle Reservoir von aktiven Hochschullehrern, die den Eintritt in die NSDAP verweigert hatten, sich aber als zu klein erwies und die entstandene Lücke auch durch die Reaktivierung unbelasteter Emeriti4 und den Einsatz in die Sowjetische Besatzungszone übergesiedelter Remigranten nicht geschlossen werden konnte, mussten schließlich auch ehemalige Parteimitglieder zur Hochschullehre wieder zugelassen werden. So blieb ein bruchloser Übergang in die neuen Verhältnisse wie im Falle der Leipziger Ordinarien Theodor Frings und Hermann August Korff oder des Rostockers Hermann Teuchert zwar eher die Ausnahme5, es war schließlich aber auch im Osten eine Situation entstanden, in der Wissenschaftler, die bereits vor 1945 in der Hochschullehre tätig gewesen waren6, die germanistischen Institute der meisten Universitäten dominierten.7 Das SED-Re3 4

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Wichtige Aussagen zu diesem Thema finden sich bereits bei Boden, Universitätsgermanistik; Gärtner, Kontinuität; sowie Saadhoff, Germanistik. Unbelastet in dem oben genannten Sinn waren die Leipziger Germanisten Theodor Frings (geb. 1886) und Hermann August Korff (geb. 1882), der Rostocker Ordinarius Hermann Teuchert (geb. 1880) sowie Ferdinand Josef Schneider (geb. 1879), seit 1921 Professor für neuere deutsche Literaturgeschichte in Halle, der aber keinen Antrag auf Weiterbeschäftigung gestellt hatte. Frings, seit 1927 als ordentlicher Professor für Germanistik am Institut für Deutsche Sprache und Germanische Philologie an der Universität Leipzig tätig, wurde 1946 zum Direktor dieses Instituts berufen. Korff war seit 1925 ordentlicher Professor für Neuere deutsche Literatur an der Leipziger Universität und hielt dort Vorlesungen bis 1957. Teuchert, ab 1920 ordentlicher Professor für Niederdeutsche Sprache und Literatur (erstes Ordinariat mit dieser Denomination) mit Zuständigkeit auch für Niederländische Sprache und Literatur, ab 1934 übernahm er von Wolfgang Golther zusätzlich das Lehrgebiet Deutsche Sprache und altdeutsche Literatur, wurde 1954 emeritiert und war danach noch am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin tätig. Einen Sonderfall stellt der Hallenser Ordinarius Georg Baesecke (geb. 1876) dar: Er sollte als Mitglied der NSDAP seit 1933 von der deutschen Verwaltungsbehörde entlassen werden, konnte jedoch auf Drängen der sowjetischen Militäradministration seine Professur behalten und lehrte auch nach seiner 1948 erfolgten Emeritierung an der Hallenser Universität noch bis 1951. – Vgl. Boden, Universitätsgermanistik (s. Anm. 3), S. 123. Zu diesen gehörten neben den bereits genannten Wilhelm Wissmann, Leopold Magon und Hermann Kunisch in Berlin, Karl Bischoff in Halle, Carl Wesle in Jena, Bruno Markwardt, Fritz Tschirch und Hans-Friedrich Rosenfeld in Greifswald (Letzterer mit kurzem Intermezzo 1955–56 in Rostock), Martin Greiner in Leipzig und Heinz Stolte in Jena, ab 1949 in Berlin. Hinzu kamen noch einige wenige ‚bürgerliche‘ Germanisten, die ihre akademische Karriere

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gime, dem mit der Gründung des ostdeutschen Staates 1949 die Aufsicht über die Hochschulen übertragen worden war, nahm diesen Zustand hin, weil eine marxistisch-leninistisch geschulte neue Intelligenzschicht nicht von heute auf morgen herangebildet werden konnte, und weil es damals noch die auf die Einheit Deutschlands ausgerichtete Strategie verfolgte, der DDR den Anschein einer ‚antifaschistisch-demokratischen‘ Ordnung zu geben, in der auch die nationale Interessen vertretenden bürgerlichen Kräfte eine Perspektive hätten.8 Die SED räumte diesen Wissenschaftlern sogar Privilegien ein, nachdem bereits 1948/49 eine Reihe von ihnen die DDR in Richtung Bundesrepublik oder Berlin-West verlassen hatte.9 Besonders war ihr natürlich am Bleiben von Gelehrten wie Frings oder Korff gelegen, deren Reputation über die Grenzen ihres Machtbereichs hinausreichte. Frings, der sich – wie schon vor 1945 – der Staatsmacht gegenüber loyal verhielt, sich aber jede Einmischung der Politik in die Angelegenheiten seines Leipziger Universitätsinstituts verbat, wurde nichtsdestoweniger 1952 auch zum Direktor des „Instituts für deutsche Sprache und Literatur“ der Berliner „Akademie der Wissenschaften“ berufen und behauptete sich in diesem Amt bis 1964. An dem Akademie-Institut waren eine Reihe von Wörterbuch- und Editionsprojekten angesiedelt, an denen – zum Teil in leitender Stellung – auch westdeutsche Wissenschaftler mitarbeiteten. Die Aufnahme von Forschungen zu literarischen Strömungen oder Autoren, die in die ideologischen Auseinandersetzungen der Gegenwart hineinführen konnten, wie z. B. die Bildung einer Forschungsgruppe zur deutschen Literatur des Vormärz oder die Herausgabe der Schriften Georg Herweghs, lehnte er ab – sie konnten nur außerhalb seines Instituts betrieben werden.

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erst in der SBZ / DDR begonnen hatten wie Joachim Müller in Jena, Hildegard Emmel in Rostock und später in Greifswald und Johannes Erben in Berlin. Unter den Historikern scheint sich die Auffassung durchgesetzt zu haben, dass die Sowjetunion bis Mitte der fünfziger Jahre sich tatsächlich die Alternative einer Wiedervereinigung Deutschlands um den Preis seiner Neutralisierung offen halten wollte und die Politik der SED sich danach zu richten hatte. Vgl. u. a. Loth, Stalins ungeliebtes Kind; und Staritz, Geschichte. So wechselte Hermann Kunisch, seit der Wiedereröffnung der Berliner Universität 1945 dort Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte, 1948 an die im amerikanischen Sektor Berlins neu gegründete Freie Universität. Sein Nachfolger Heinz Stolte ging ein Jahr später nach Hamburg. Die in Westberlin ansässigen Wilhelm Wissmann und Werner Simon gaben 1953 bzw. 1955 ihre Lehrstühle an der Humboldt-Universität auf. – Boden, Universitätsgermanistik, S. 137, hat wohl recht mit ihrer Vermutung, dass dies nicht allein aus Protest gegen Einmischungen der Politik in den Universitätsbetrieb geschah, wie z. B. die staatlich verordnete Einführung zentraler Lehrpläne, in der eine Einschränkung der Freiheit der Lehre und eine ‚Verschulung‘ der Universität gesehen werden konnte; dabei könne auch eine Rolle gespielt haben, dass die diesen Wissenschaftlern „per Einzelvertrag zugestandenen Privilegien […] den lukrativeren Angeboten und besseren Arbeitsbedingungen (besonders der feste Platz in der internationalen scientific community) in der Bundesrepublik da, wo sie sich boten, nicht stand[halten konnten]“.

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Frings war allerdings auch, was den Respekt anbetraf, den ihm die politische Führung entgegenbrachte, eine Ausnahmeerscheinung. Die Grenzen des Freiraums, über den die anderen verfügten, waren von Anfang an zweifellos enger gezogen. Repräsentativ für das erste Jahrzehnt der Germanistik in der SBZ/DDR war Frings insofern, als es sich bei dem größeren Teil der wieder eingesetzten oder neu berufenen Professoren um Altgermanisten handelte, von denen das Regime wohl auch meinte, dass deren Gegenstände weniger Reibungsflächen mit der Politik böten. Es waren Männer der ‚alten Schule‘, die in der Regel nach außen hin bescheidener auftraten als Frings, in ihrem Machtbereich jedoch ebenso absolut herrschten wie dieser. Und sie waren vor allem an der Stärkung der älteren Abteilung interessiert, deren Vorrang sie schon vor 1945 von der Neugermanistik in Frage gestellt gesehen hatten. Sie haben aber sicher auch aus Gründen der Konfliktvermeidung wenig dafür getan, dass die deutsche Literaturgeschichte vom Vormärz bis zur Gegenwart in den Vorlesungen und Seminaren zu ihrem Recht kam. Anders als in der Bundesrepublik handelte es sich bei den Remigranten, die auf Hochschullehrstühle in der DDR berufen wurden, ausnahmslos um Intellektuelle, deren reguläre akademische Karriere erst hier begann. Albert Malte Wagner, der 1949 eine Professur für Kultursoziologie an der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Jena und gleichzeitig einen Lehrauftrag am dortigen Germanistischen Institut erhielt, war bis zu seiner Emigration 1934 Chefredakteur der „Nürnberger Zeitung“, danach u. a. Lehrer an der Freien Deutschen Hochschule in London gewesen. Alfred Kantorowicz, seit 1949 Professor mit Lehrauftrag für Neueste deutsche Literatur an der Humboldt-Universität in Berlin und ab 1955 Direktor des dortigen Germanistischen Instituts, hatte sich nach seiner Promotion zum Dr. jur. ebenfalls journalistisch betätigt, vor 1933 unter anderem als Kulturkorrespondent der „Vossischen Zeitung“, im US-amerikanischen Exil als Redakteur im CBS-Department für Auslandsnachrichten und nach seiner Rückkehr nach Deutschland zunächst als Herausgeber der Zeitschrift „Ost und West“. Hans Mayer, 1948 an der Universität Leipzig zuerst mit einer Professur für Geschichte der Nationalliteraturen betraut, seit 1950 ordentlicher Professor für Kultursoziologie und Literaturgeschichte, war ebenfalls ein promovierter Jurist, der seinen Lebensunterhalt nach der Emigration in die Schweiz hauptsächlich als Literatur- und Theaterkritiker und nach 1945 in Frankfurt am Main als Kulturredakteur der deutsch-amerikanischen Nachrichtenagentur DENA, dann als politischer Chefredakteur von Radio Frankfurt verdient hatte. Gerhard Scholz schließlich, der 1936 über Prag nach Schweden geflüchtet war, wo er als Dozent am Sozialwissenschaftlichen Institut der Universität Stockholm tätig gewesen sein soll, wurde in der SBZ/DDR 1946 Mitarbeiter der „Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung“ und 1950 als Direktor des „Goethe- und Schiller-Archivs“

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in Weimar eingesetzt. Er promovierte erst 1958 in Rostock zum Dr. phil. und war von 1959 bis 1968 Professor mit Lehrauftrag für Neuere deutsche und skandinavische Literatur an der Humboldt-Universität. Man kann von diesen Remigranten als von ‚Linksintellektuellen‘ sprechen10, die – von den restaurativen Tendenzen in den Westzonen abgestoßen – in der SBZ die konsequent antifaschistische Alternative für den Wiederaufbau Deutschlands sahen. Ihre literaturwissenschaftlichen Interessenschwerpunkte lagen eindeutig auf der deutschen Literatur von Lessing bis Heine (Wagner, Mayer, Scholz) und auf der Literatur des 20. Jahrhunderts (Kantorowicz, Mayer). Methodologisch war ihre Sicht auf diese Gegenstände generell mehr oder weniger sozialgeschichtlich bzw. literatursoziologisch fundiert – im Fall von Hans Mayer zudem von dem weltliterarischen Horizont bestimmt, unter dem er sie betrachtete. Es handelte sich also durchweg um Männer mit Persönlichkeitsprofilen, die wissenschaftlich wie politisch den normalen Habitus der etablierten Germanistik-Professoren scharf kontrastierten. Diese konnten ihren Einsatz in der Hochschullehre zwar nicht verhindern (dafür standen den staatlichen Stellen notfalls die neu geschaffenen gesellschaftswissenschaftlichen Fakultäten zur Verfügung), setzten aber alles daran, sie aus der Germanistik, wenn nicht überhaupt aus der Philosophischen Fakultät, herauszuhalten. Dabei wurde zumeist mit dem irregulären beruflichen Werdegang der Remigranten, aus dem auf mangelnde germanistische Fachkompetenz geschlossen werden konnte, argumentiert11 – ein Argument, das den korporativen Geist eines Berufsstandes offenbarte, der durch das Eindringen der ‚Außenseiter‘ sein Prestige gefährdet sah. Wieweit die staatlichen Stellen die Standesregeln damals noch respektierten, lässt sich daran ablesen, dass sie Wagners Drängen auf einen Lehrstuhl innerhalb der Philosophischen Fakultät nicht unterstützten12 und auch nichts dagegen unternahmen, dass an der Berliner Universität der von Hermann Kunisch verlassene Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte statt mit dem von ihnen favorisierten Kantorowicz mit Heinz Stolte und, nachdem auch dieser die DDR verlassen hatte, mit Leopold Magon besetzt wurde. 10

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Kantorowicz und Mayer hatten sich schon in der Weimarer Republik in der linken Opposition engagiert. Kantorowicz war 1931 KPD-Mitglied geworden, Mayer 1930 in die SPD ein- und ein Jahr später in die SAPD, dann in die KPD (Opposition) übergetreten, die er 1935 wieder verließ. Scholz war ebenfalls 1931 in die SAPD eingetreten. Boden, Universitätsgermanistik, S. 136, teilt mit, dass Hermann Kunisch sich schon 1948 in einem Zeitungsartikel darüber beklagt hatte, dass „seit einiger Zeit im Gebiet unserer engeren Wissenschaft […] wesentliche Aussagen über Dichtung und Sprache nicht nur von Fachleuten im engeren Sinne gemacht werden, sondern von Außenseitern“. Wagner (vgl. Boden, Universitätsgermanistik, S. 130), der die Philosophische Fakultät als „eine Ansammlung reaktionärer Kräfte“ attackierte, es sich gleichzeitig aber auch mit der Universitätsparteiorganisation der SED verdarb und zuletzt den Staatssicherheitsdienst für sein Anliegen zu gewinnen suchte, kehrte, nachdem auch dieser Versuch keinen Erfolg gebracht hatte, 1955 nach Großbritannien zurück.

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Die Spannungen, die zwischen den etablierten Germanisten und den Remigranten entstanden waren, wurden nun allerdings wesentlich dadurch verschärft, dass letztere von der Notwendigkeit einer Modernisierung des literaturwissenschaftlichen Universitätsstudiums, die die Struktur der germanistischen Institute tangierte, überzeugt waren und in dieser Richtung auch initiativ wurden. Geht man davon aus, dass eine starke Position in der Universitätshierarchie eine Voraussetzung dafür war, eigene Reformvorstellungen zu realisieren, dann verwundert es nicht, dass diese Initiativen oft auch mit dem Ziel des Machtgewinns verbunden waren. Mayer setzte z. B., nachdem sein Vorschlag, an der Philosophischen Fakultät der Leipziger Universität ein selbständiges „Institut für Weltliteratur und vergleichende Literaturgeschichte“ zu gründen13, auf ministerieller Ebene gescheitert war und das Ministerium stattdessen auf der Einrichtung einer von Mayer geleiteten „Abteilung für allgemeine Germanistik und vergleichende Literaturwissenschaft“ innerhalb des Frings-Instituts bestand, „alle Energien in die personelle, strukturelle und konzeptuelle Neuregelung des germanistischen Lehrbetriebs“.14 Diese glaubte er aber nur nach einer Emeritierung von Frings und Korff erreichen zu können, für die er sich unter Hinweis auf die geltenden Emeritierungsregeln daher auch einsetzte. Erfolg hatte Mayer aber erst 1956, nachdem Korff 1954 emeritiert worden war, und er (Mayer) auf dessen Lehrstuhl berufen wurde. Die Reorganisation der Leipziger Germanistik erfolgte jedoch nach Frings’ Vorstellungen und bestand in der Ausgliederung der Neueren deutschen Literaturgeschichte und der Vergleichenden Literaturwissenschaft aus seinem Institut und der Gründung eines eigenen „Instituts für deutsche Literaturgeschichte“, dessen Leitung Mayer übertragen wurde. Frings wurde zwar 1957 ebenfalls emeritiert, blieb aber kommissarischer Direktor seines nun allein der Altgermanistik verpflichteten Instituts noch bis zu seinem Tod 1968. Gescheitert sind Kantorowiczs und Mayers Universitätskarrieren in der DDR jedoch letztlich nicht an dem Widerstand der ‚bürgerlichen‘ Professoren, sondern an dem politischen System, für das sie sich nach ihrer Rückkehr aus der Emigration entschieden hatten. Als Intellektuelle, die ge13

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Frings hatte diesen Vorschlag unterstützt, weil er Mayer nicht im „Institut für Deutsche Sprache und Germanische Philologie“ haben wollte. Boden, Universitätsgermanistik, S. 131, die auf ein diesbezügliches Schreiben von Frings an den Dekan der Philosophischen Fakultät verweist, macht an dieser Stelle darauf aufmerksam, dass mit ähnlichen Argumenten Mayer 1950 auch in Berlin als Nachfolger von Heinz Stolte abgewehrt worden war. Sie zitiert ein Schriftstück aus der Personalakte Leopold Magon, in dem es heißt: „Die Fakultät würde damit einverstanden sein, dass Herr Professor Mayer hier einen Lehrstuhl für Literatursoziologie oder Kultursoziologie übernimmt. Sie würde aber nicht damit einverstanden sein, wenn er auf einen literaturgeschichtlichen Lehrstuhl berufen werden soll.“ Dieser könne „nur durch jemanden, der aus der Tradition der philologisch-historischen Schule kommt, besetzt werden“. Ebd.

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wohnt waren, ihre eigenen marxistischen Überzeugungen und nicht eine dem Denken verordnete ‚Parteilinie‘ zu vertreten, mussten sie mit den stalinistischen Dogmatikern in Konflikt geraten, sobald sie sich – wie es ihrer Amtsauffassung entsprach – in die Diskussion der aktuellen politischen und kulturpolitischen Fragen einmischten. Der Konflikt, der sich zunächst an der Beurteilung der Gegenwartsliteratur entzündet hatte, führte bei Kantorowicz schon nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstands zu dem Punkt, an dem er mit dem System brach: Er verweigerte seine Unterschrift unter eine von der Parteigruppe seines Instituts eingebrachte Zustimmungserklärung zur Invasion der sowjetischen Truppen in Ungarn und verließ Mitte 1957 die DDR. Gegen Mayer wurde nach einem 1956 von ihm verfassten Rundfunkvortrag („Zur Gegenwartslage unserer Literatur“), in dem er der parteioffiziell gefeierten sozialistisch-realistischen DDR-Literatur die künstlerische Opulenz der Literatur der Weimarer Republik gegenüberstellte15, eine Kampagne inszeniert, die nur das Ziel haben konnte, ihn zum Schweigen zu bringen. Die Partei, die in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre ihren Kurs gegenüber den alten Professoren verschärfte, weil sie in den eigenen Reihen Wissenschaftler heranwachsen sah, die sie in absehbarer Zeit ersetzen konnten, nahm Mayer in die Liste derer auf, mit denen jetzt eine offensive Auseinandersetzung begonnen werden sollte. Diese Auseinandersetzung richtete sich nun also nicht mehr nur gegen die ‚bürgerliche‘ Literaturwissenschaft, sondern auch gegen die sogenannten Revisionisten.16 Dessen ungeachtet hielt Mayer seine Stellung noch bis 1963, als er von einer Reise in die Bundesrepublik nicht nach Leipzig zurückkehrte. In der DDR geblieben ist nur Gerhard Scholz. Aber auch er erfüllte nicht die Erwartungen, die die politische Führung in ihn gesetzt hatte. Schon seine Konzeption für das Goethezeit-Museum war bei ihr – wegen angeblich ungenügender pädagogischer Aufbereitung des Ausstellungsmaterials – auf Kritik gestoßen.17 Der eigentliche Grund für die Ablehnung dieser Konzeption aber dürfte gewesen sein, dass sie nichts für ein nach sowjetischem Muster geformtes statuarisches Klassiker-Bild leistete, wie es die SED-Führung zum kulturpolitischen Gebrauch von der Wissenschaft erwartete18, und dass sie zugleich den Widerspruch der kulturkonservativen westdeutschen Vorstandsmitglieder der Goethe-Gesellschaft hervorrief, deren Spaltung Walter Ulbricht vermeiden wollte.19 Als Scholz schließlich auch organisatorisch sich für die Leitung eines Instituts von der Größe des 15 16 17 18 19

Hans Mayers Vortrag „Zur Gegenwartslage unserer Literatur“ wurde nicht gesendet, aber im „Sonntag“ vom 2. Dezember 1956, S. 4, abgedruckt. Vgl. Thalheim, Bemerkungen. Vgl. Krenzlin, Gerhard Scholz. Ebd., S. 211. Vgl. Ehrlich, Goethe-Gesellschaft.

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„Goethe- und Schiller-Archivs“ als ungeeignet erwies, schlug man ihm vor, unter einem neuen Direktor als Abteilungsleiter weiterzuarbeiten. Daraufhin kündigte er und lebte ohne feste Anstellung in der DDR, bis ihm Hans-Günther Thalheim, einer seiner Schüler und inzwischen zum Direktor des Germanistischen Instituts der Humboldt-Universität avanciert, 1959 dort den Lehrauftrag für Neuere deutsche und skandinavische Literatur verschaffte.20 Scholz’ Nachfolger in Weimar wurde Helmut Holtzhauer, ein gelernter Buchhändler, der seit 1930 im kommunistischen Jugendverband und seit 1933 in der KPD aktiv gewesen war und sieben Jahre in deutschen Gefängnissen verbracht hatte. Er erhielt die Berufung zum Direktor, später Generaldirektor der „Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur“, nachdem die Partei unter dem Eindruck des Arbeiteraufstands vom 17. Juni 1953 die „Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten“ aufgelöst hatte, als deren Vorsitzender Holtzhauer mit seinem dogmatischen Antimodernismus zum Schrecken der ostdeutschen Schriftsteller und Künstler geworden war.21 In seinem neuen Amt leistete er dank seiner organisatorischen Fähigkeiten jedoch eine produktive Aufbauarbeit.22 Gleichzeitig brachte Holtzhauer eben jenes statuarische Klassikerbild mit, das der Partei genehm war und dessen legitimatorische Funktion für ihr Regime er noch durch die Inanspruchnahme der deutschen Klassik als eine der Quellen des Marxismus überhöhte.23 Obgleich die Partei dieses Klassikerbild nie in Frage stellte, bekam Holtzhauer seit Ende der fünfziger Jahre zu spüren, dass sich ihr Interesse zunehmend auf die Förderung einer sozialistisch-realistischen Gegenwartsliteratur verlagerte, die das Volk für die nunmehr beschlossene ‚Schaffung der Grundlagen für den Aufbau des 20 21

Vgl. Krenzlin, Gerhard Scholz, S. 213f, (s. Anm. 17). Holtzhauer war 1945–1948 zunächst auf der kommunalen Ebene in seiner Heimatstadt Leipzig tätig gewesen (u. a. als Stadtrat für Volksbildung). Von 1948 bis 1951 war er Minister für Volksbildung im Land Sachsen. Den Vorsitz in der Staatlichen Kunstkommission hatte er seit deren Gründung 1951 als Mitglied des Ministerrates der DDR im Range eines Staatssekretärs inne. Die Auflösung dieser Kommission erfolgte im Zuge des von der SED nach dem 17. Juni verkündeten ‚Neuen Kurses‘, mit dem auch die Kunstschaffenden in der DDR besänftigt werden sollten, die über die rigiden Eingriffe der Kommission in ihre Arbeit verbittert waren. Vgl. auch den Beitrag zu den „Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur“ in Weimar von Jürgen Golz in diesem Band. 22 In Anerkennung seiner Verdienste um die „Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten“ erhielt Holtzhauer 1960 den Professorentitel. 23 Vgl. Holtzhauer, Goethe-Museum, S. 27: „Wenn von der klassischen deutschen Philosophie als einer der Quellen des Marxismus gesprochen wird, so ist die klassische Literatur, die aufs engste mit der Philosophie ihrer Zeit verschwistert ist, unbedingt einzubeziehen. Das Vermächtnis der literarischen Klassiker lebt in den Begründern des wissenschaftlichen Sozialismus nicht nur deshalb fort, weil Marx und Engels jene Werke liebten und ihr Weltbild durch deren Kenntnis bereicherten. Die Ideen und Probleme der klassischen Dichter gingen auch in die Theorie des Marxismus ein, wurden darin ‚aufgehoben‘.“

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Sozialismus in der DDR‘ begeistern sollte. Holtzhauer erhielt nicht mehr die Mittel, die er zur Verwirklichung seiner weiterreichenden Pläne benötigt hätte, und musste schließlich feststellen, dass er die Aufmerksamkeit für seine Vorhaben, die er von seiner Partei erwartet hatte, fast nur noch bei konservativen westdeutschen Goethe-Forschern fand, die seine Ablehnung der Moderne teilten und mit denen er sich überdies darauf einigen konnte, dass das klassische Erbe in beiden deutschen Staaten vernachlässigt werde.24 In Holtzhauer sehe ich einen beispielhaften Vertreter des kommunistischen Funktionärstyps, der die Aufgaben, die ihm seine Partei stellt, administrativ und mit dogmatischer Strenge erfüllt, aber den Kompromissen, die diese Partei an der Macht einzugehen sich gezwungen sieht, und den taktischen Manövern, die sie im Interesse ihres Machterhalts unternimmt, von einem bestimmten Punkt an nicht mehr folgen kann25. Vieles gemeinsam mit Holtzhauer hatte Wilhelm Girnus, der zwar ein abgeschlossenes Hochschulstudium vorweisen konnte, nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten aber gleichfalls wegen illegaler politischer Betätigung bis 1945 in Zuchthäusern und Konzentrationslagern gefangen gehalten worden war und in der SBZ/DDR wichtige Funktionen im Staatsund SED-Propaganda-Apparat innegehabt hatte, ehe er 1962 als Professor mit Lehrstuhl für allgemeine Literaturwissenschaft an die Berliner Humboldt-Universität kam und 1964 – ungeachtet des Protests aus dem Kreis der Akademiemitglieder – auch zum Chefredakteur der von der Akademie der Künste der DDR herausgegebenen Zeitschrift „Sinn und Form“ berufen wurde.26 Girnus stand damals im Ruf eines beinharten Dogmatikers, der in jeder Funktion, die ihm übertragen wurde, ebenso rigoros die Parteilinie durchzusetzen wie seine eigene Karriere zu befördern versuchte.27 Die 24 25

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Vgl. Cleve, Ideal, S. 354. Vgl. Cleve, Ideal: „Daß Kulturpolitik aber im Interesse der kulturellen Hegemonie der Partei zwischen unterschiedlichen Interessen und Kulturvorstellungen vermitteln und Ansprüche auf Unterhaltung ebenso wie künstlerische Freiräume und offenere wissenschaftliche Zugangsweisen zumindest in Grenzen akzeptieren mußte, war eine der Lehren von 1953 gewesen, die die Parteispitze gezogen und die Holtzhauer um seinen Einfluß auf der Leitungsebene der Kulturpolitik gebracht hatte.“ Girnus war 1945 zunächst in der Schulverwaltung eingesetzt worden, dann am Aufbau des Rundfunks in der SBZ beteiligt gewesen und von 1946 bis 1949 stellvertretender Intendant des Berliner Rundfunks. Von 1949 bis 1953 war er als Redakteur beim SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ und gleichzeitig als Lehrstuhlleiter für Theorie und Geschichte der Literatur und Kunst am „Institut für Gesellschaftswissenschaften“ beim ZK der SED tätig. 1953 an der Leipziger Universität zum Dr. phil. promoviert, bekleidete er 1957–1962 das Amt des Staatssekretärs für das Hochschulwesen der DDR. – Der Posten des Chefredakteurs von „Sinn und Form“ war neu zu besetzen, nachdem der parteilose Peter Huchel, unter dessen Regie die Zeitschrift höchste Anerkennung im gesamten deutschsprachigen Raum erlangt hatte, auf Drängen der Partei entlassen und sein Nachfolger Bodo Uhse kurz nach seiner Berufung gestorben war. Vgl. Parker, Sinn und Form, S. 88–89: „Nach jahrelanger Haft in den Konzentrationslagern

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SED-Führung versprach sich von ihm, dass er die Zeitschrift auf den von ihr nun, nach dem Mauerbau, eingeschlagenen Abgrenzungskurs bringen würde, welche Erwartung sich zunächst auch zu erfüllen schien. Tatsächlich hielt Girnus jedoch nicht nur an der viel gerühmten Weltoffenheit der Zeitschrift fest, indem er weiterhin Beiträge aus Ost und West veröffentlichte; er druckte in der Folgezeit auch immer mehr Arbeiten von DDR-Schriftstellern, die sich kritisch mit der Situation im eigenen Land auseinandersetzten. Ein beträchtlicher Teil der literarischen Texte, die die Schablonen des sozialistischen Pseudorealismus durchbrachen und regelmäßig den Unwillen der SED-Funktionäre erregten, erschien zuerst oder ausschließlich in „Sinn und Form“.28 Inwieweit es Girnus in dieser Publikationsstrategie wirklich um die Kunst ging oder welchen Anteil daran ein der ihm nachgesagten Eitelkeit zurechenbares Kalkül hatte, mit dem internationalen Ansehen der Zeitschrift auch sein persönliches Prestige zu erhöhen, ist schwer zu beurteilen. Jedenfalls scheint Girnus weit entfernt davon gewesen zu sein, der Sache seiner Partei schaden zu wollen. Er hat auch deren Anspruch auf die führende Rolle in Staat und Gesellschaft nie in Frage gestellt und – wie Hörer seiner Vorlesungen berichten – an der Humboldt-Universität die sozialistisch-realistische Kunstdoktrin weiterhin verteidigt. Selbst in einer flüchtigen Skizzierung des Personenkreises, der im Osten Deutschlands zuerst angetreten war, um die ‚bürgerlichen‘ Wissenschaftler zu ersetzen, sind die habituellen Divergenzen zwischen einem Girnus oder Holtzhauer auf der einen und den Westemigranten auf der anderen Seite nicht zu übersehen. Zwar hatten auch zwei der höchsten für die Kulturpolitik der DDR zuständigen Parteifunktionäre und erbittertsten Gegner von „Sinn und Form“, Kurt Hager und Alexander Abusch, diese Zeit im westlichen Ausland verbracht.29 Dennoch glaube ich, dass der Aufenthaltsort während der Zeit des Nationalsozialismus und die Festigkeit der Parteibindung von ausschlaggebender Bedeutung für die in diesem Personenkreis feststellbaren unterschiedlichen Habitusformen waren. Was das Verhältnis Sachsenhausen und Flossenbürg begegnete Girnus allen vom Parteidogma abweichenden politischen Formen sowie deren Verfechtern mit äußerster Feindseligkeit. In hochrangigen Funktionen als Journalist, Diplomat, Minister und Universitätsprofessor praktizierte, ja lebte er die marxistisch-leninistische Ideologie, in der er die Existenzgrundlage der antifaschistischen DDR sah.“ 28 Dazu gehören z. B. Heiner Müllers „Der Bau“ (1965, H. 1 und H. 2) und „Philoktet“ (1965, H. 5), Peter Hacks’ „Moritz Tassow“ (1965, H. 6), das Kapitel „Verwandlungen“ aus Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“ (1968, H. 2), Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“ (1972, H. 2) und Volker Brauns „Unvollendete Geschichte“ (1975, H. 5). 29 Hager, seit 1954 Mitglied des Zentralkomitees und seit 1955 des Politbüros der SED (mit der Zuständigkeit für Wissenschaft und Kultur), war in Frankreich und Großbritannien, Abusch, seit 1955 ZK-Mitglied, 1958–1961 Minister für Kultur, anschließend stellvertretender Ministerpräsident (zuständig für Kultur und Erziehung) der DDR, in Frankreich und Mexiko in der Emigration.

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dieser biographischen Merkmale zueinander anbetrifft, so steht außer Zweifel, dass die Parteibindung bei denen, die die Zeit des Nationalsozialismus in der Sowjetunion oder in deutschen Gefängnissen oder Konzentrationslagern verbracht hatten, in der Regel am festesten war. (Es gab nur wenige ‚Renegaten‘ mit sowjetischem Exil-Hintergrund.) Aus dieser Bindung entstand der Typus des kommunistischen Parteiideologen auf dem Katheder, der in dieser Generation durchaus noch über einen akademischen Bildungshintergrund und großbürgerliche Weltläufigkeit verfügen konnte, wie wir sie bei Wilhelm Girnus gefunden haben. Bei anderen, deren Parteibindung schon vor 1933 loser gewesen war oder sich während der Exilzeit gelockert hatte, prägte sich stattdessen häufiger jener andere Typus aus, bei dem die unmittelbare Konfrontation mit dem Stalinismus in der Partei zum Bruch mit ihr und zum Verlassen des Landes führte. Nachdem die alten ‚bürgerlichen‘ Professoren emeritiert worden waren oder infolge der gegen sie geführten Kampagnen die DDR verlassen hatten, war Joachim Müller Mitte der sechziger Jahre der einzige nichtmarxistische Lehrstuhlinhaber für die Neuere deutsche Literaturwissenschaft, der an einer ostdeutschen Universität noch amtierte.30 Im Zentrum von Müllers Interesse standen die deutsche Klassik, insbesondere Goethes „Faust“, sowie Stifter, Hebbel und Thomas Mann. Er las aber auch über Weltliteratur, veranstaltete – mitten in der heißen Phase der Formalismus-Diskussion – ein Seminar über Kafka und beschäftigte sich mit dem Expressionismus und mit Brecht. Mit Hans Mayer, zu dem er enge Beziehungen unterhielt, verständigte er sich über gemeinsame Einladungen westdeutscher Literaturwissenschaftler und Schriftsteller zu Gastvorträgen nach Jena und nach Leipzig.31 Methodologisch wurde er als Vertreter der werkimmanenten Interpretation wahrgenommen, und das blieb er auch, obwohl er durchaus in geistesgeschichtlichen Zusammenhängen dachte und auch die neuen literatursoziologischen und ideologiekritischen Ansätze aufmerksam verfolgte, ohne sie allerdings für seine eigene Arbeit fruchtbar machen zu können. In die Schusslinie der Kritik geriet Müller zuerst 1957, mit Beginn der Kampagne gegen die „Reaktivierung bürgerlicher Anschauungen in der Literaturwissenschaft“, für die die SED-Kulturpolitiker Hans Mayers Vortrag „Zur Gegenwartslage unserer Literatur“ zum Anlass genommen hatten. Müller hatte sich in zwei Zeitschriftenbeiträgen ausdrücklich hinter Mayers Einschätzungen gestellt.32 Die Folge war, dass Girnus, damals noch Staatssekretär für das Hochschulwesen, die Germanisten des ganzen Landes auffor30 31

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Zu Müller vgl. Boden, Lesen; Schmidt/Kaufmann, Studien und Dokumente. Nach Jena kamen u. a. Friedrich Beissner, Reinhard Buchwald, Heinz Otto Burger, Wilhelm Emrich, Günter Grass, Wolfgang Kayser, Fritz Martini, Emil Staiger, Erich Trunz und Benno von Wiese. Vgl. Müller, Zeitbewußtsein; Müller, Entwicklung.

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derte, sich mit Müller kritisch auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung ebbte ab, als die SED-Führung im Herbst 1958 angesichts der wieder zunehmenden Fluchtbewegung ihren Kurs gegenüber den Intellektuellen für kurze Zeit änderte, entbrannte jedoch von neuem nach dem Mauerbau, im Anschluss an Müllers 1962 erschienene Studie „Yvan Goll im deutschen Expressionismus“. Müller wurde nun vorgeworfen, er verteidige die Tradition der nichtrealistischen Literatur und vertrete einen ‚Gegenentwurf‘ zur marxistischen Konzeption der Hauptlinien der nationalliterarischen Entwicklung.33 Und im Ergebnis der mit ihm geführten Diskussionen befand die SED-Parteigruppe seines Instituts, dass er auf seinen bürgerlichen Positionen beharre und nur zu taktischen Zugeständnissen bereit sei.34 Viele, die ihn schätzten, waren überrascht, als bekannt wurde, dass Müller, der Friedrich Gundolf und Fritz Strich zu seinen Lehrern zählte, seine Hörer für Heine begeistern konnte, sie mit Kafkas Werk bekannt machte und der erste war, der sich in der DDR für Goll einsetzte, in den dreißiger Jahren Artikel in der „Zeitschrift für Deutschkunde“ veröffentlicht hatte, in denen er vom zerstörerischen Einfluss der Juden auf die deutsche Kultur sprach und für den Neuaufbau der deutschen Literaturwissenschaft vom ‚Rassegedanken‘ her plädierte.35 Müller hatte das, wie fast alle seine ähnlich belasteten westdeutschen Kollegen, verschwiegen und hätte wohl auch die Wissenschaftsadministratoren der DDR in arge Verlegenheit gebracht, wenn er, wie Gerhard Fricke in der Bundesrepublik36, von sich aus seine Verstrickung in das NS-System publik gemacht hätte. Ähnlich wie Fricke versucht er sie aus seinem Herkunftsmilieu und seinem sozialen Umfeld zu erklären, wohl wissend, dass ihn das nicht entschuldigt. Seine Versicherung, dass ihm „heute […] solche damals vertretenen Meinungen ganz unfaßlich“ seien37, kann man ihm glauben. Müller und Hildegard Emmel, die allerdings schon 1958 in die Bundesrepublik geflüchtet war, waren die letzten ‚bürgerlichen‘ Wissenschaftler, die in der DDR Professuren für Neuere deutsche Literatur erhalten hatten. Die nach ihnen kamen, verstanden sich fast alle als Marxisten und gingen zum größten Teil aus der ‚Kaderreserve‘ der SED hervor. Unter ihnen wa33 34 35

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Vgl. Schmidt/Kaufmann, Studien und Dokumente, S. 46. Ebd., S. 48. Vgl. u. a. Müller, Allgemeines; Müller, Literaturwissenschaft; Müller, Shakespeare. – Müller, damals Studienassessor an der Thomas-Schule in Leipzig, war 1937–1943 Redakteur der „Zeitschrift für Deutschkunde“ und ab 1939 Mitherausgeber (neben Gerhard Fricke und Max Vanselow). Gerhard Frickes Rede vor seinen Studierenden zu Beginn des Sommersemesters 1965 in Köln wurde erstmals veröffentlicht als Anhang zu Gudrun Schnabels Beitrag „Gerhard Fricke. Karriereverlauf eines Literaturwissenschaftlers nach 1945“, in: Boden/Rosenberg (Hg.), Deutsche Literaturwissenschaft, S. 85–95. Vgl. Müller, Briefwechsel mit Synes Ernst, S. 188.

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ren auch einige ältere Verfolgte des Naziregimes wie Hedwig Voegt, Edith Braemer oder Ursula Wertheim, die erst nach 1945 ein Universitätsstudium absolvieren konnten38, aber auch ehemalige Wehrmachtsangehörige wie Hans Jürgen Geerdts und sogar ein einstiger Mitarbeiter des Reichspropagandaministeriums.39 Die meisten gehörten jedoch zu der sogenannten HJ- oder Flakhelfer-Generation, d. h. zu den Jahrgängen 1926 bis 1929, für die allgemein gilt, dass sie, im Geiste des Nationalsozialismus erzogen, mit dem Zusammenbruch des Regimes jede Orientierung verloren hatten und neuen Halt suchten. Vor allem in der sowjetischen Besatzungszone fanden ihn viele im Marxismus, weil er, so wie er ihnen nahegebracht wurde, in seinem weltanschaulichen Gehalt zugleich die gewohnte Sicherheit im Glauben gab, bis hin zu dem Vertrauen in die allmächtige und allwissende Führerpersönlichkeit – nun Stalin statt Hitler. Fragt man sich heute, wie es möglich war, dass auch Schüler so souveräner marxistischer Denker wie Werner Krauss oder Hans Mayer damals den Marxismus als Religionsersatz aufnahmen, wird man zu bedenken haben, dass selbst solche Lehrer diesem Missverständnis Vorschub geleistet haben könnten, indem sie es vermieden, sich vom Stalin-Kult zu distanzieren. Der Schock, den die ostdeutschen Nachwuchswissenschaftler, von denen hier die Rede sein soll, mit der Offenlegung von Stalins Verbrechen auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 erlitten, hatte für die einen zur Folge, dass sie, wie es gewünscht war, ihr Glaubensbedürfnis von der Person Stalins auf die ‚kollektive Weisheit der Partei‘(-führung) übertrugen, war für die anderen aber wohl der erste Anstoß zum Selbstdenken. Diese Wissenschaftler, die Ende der vierziger/Anfang der fünfziger Jahre ihre akademische Laufbahn als Assistenten an ostdeutschen Universitäten 38

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Hedwig Voegt (1903–1988), vor 1933 für die kommunistische Presse tätig, danach in Zuchthaus- und KZ-Haft, studierte 1949–1952 in Jena und war 1959–1963 Professor für literarische Publizistik an der Universität Leipzig; Edith Braemer, geb. Abel (1909–1969) emigrierte 1939 über England nach Shanghai, nahm 1947, nach Deutschland zurückgekehrt, das Studium der Germanistik an der Berliner Universität auf und hatte nach einer Assistenzzeit bei Gerhard Scholz in Weimar, Promotion in Jena und Habilitation in Rostock 1957 zuerst eine Dozentur für Neuere deutsche Literatur und 1959–1964 eine Professur mit Lehrauftrag für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Rostock inne; 1964–1969 war sie Professor mit Lehrstuhl für Neuere und neueste deutsche Literatur in Leipzig; Ursula Wertheim (geb. 1919) studierte 1948–1953 in Berlin und Jena Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte und war nach Promotion und Habilitation 1965–1979 Professor für Neuere und neueste deutsche Literatur an der Jenaer Universität. Erich Kühne (1908–1983), nach einer Aspirantenzeit 1948–1951 an der Berliner Humboldtuniversität und einer Dozentur in Halle 1955–1973 Professor mit vollem Lehrauftrag für Neuere deutsche Sprache und Literatur in Rostock, war 1938–1939 Lektor in der „Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des nationalsozialistischen Schrifttums“ und 1938–1939 Referent in der Schrifttumsabteilung des Reichspropagandaministeriums in Berlin. Dass Kühne 1951 „wegen Fälschung eines Fragebogens“ aus der SED ausgeschlossen wurde (Wiederaufnahme 1961), spricht dafür, dass die Parteiführung von seiner NS-Vergangenheit frühzeitig Kenntnis erhalten hatte.

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begannen, verkörperten einen Typus des Hochschullehrers, den es bis dahin nicht gegeben hatte. Einige von ihnen entstammten Arbeiterfamilien, waren zum Universitätsstudium nach Absolvierung einer Arbeiter- und Bauern-Fakultät oder auch nur einer SED-Parteischule delegiert worden und hatten auch nach der knapp bemessenen Studienzeit noch damit zu tun, ihre Bildungslücken zu schließen. Aber auch für diejenigen, die noch vor Kriegsende zum Abitur gekommen waren, stellte sich jetzt vieles anders dar. Überdies war der Altersunterschied zwischen den Nachwuchskräften, in der Literaturwissenschaft fast ausnahmslos SED-Mitgliedern, und Studenten, die mit zeitbedingter Verspätung zum Studium kamen und oft ebenfalls schon der Partei angehörten, in den ersten Jahren nur gering. Dozenten und Studenten gehörten derselben SED-Grundorganisation an und duzten einander. Die auf diese Weise entstandene Kollegialität im Verhältnis zu ihren studentischen Parteigenossen ebenso wie die unter den neuen Verhältnissen durchaus ausstellbare proletarische Herkunft wirkten sich generell auf den Habitus dieser Wissenschaftler aus, der sich von dem der alten Professoren, auch der Marxisten unter ihnen, deutlich unterschied. Züge dieses wenig professoralen Habitus blieben den meisten auch erhalten, obwohl die hierarchische Struktur und der autoritäre Leitungsstil von Partei- und Staatsführung sich auch im akademischen Bereich durchsetzten, das Du in der Anrede Kollegialität schließlich nur noch vortäuschte, und es auch einige gab, die – nun auf den Lehrstühlen ihrer Lehrer sitzend – sich so verhielten, als ob sie die Selbstherrlichkeit der Lehrstuhlinhaber der alten Ordinarien-Universität wiedererlangt hätten. Wenngleich die meisten Wissenschaftler eine ähnliche ideologische Prägung aufwiesen, entstanden mit der Zeit auch in der DDR miteinander konkurrierende unterschiedliche Wissenschaftskonzeptionen, die unterschwellig zu ähnlichen Polarisierungen führen konnten wie im bürgerlichen Universitätsbetrieb. Der von daher bekannte Korpsgeist, der sich transdisziplinär unter den Mitgliedern der einzelnen studentischen Verbindungen, innerhalb der verschiedenen Disziplinen aber unter den Angehörigen der einzelnen ‚Schulen‘ herausbildete, lebte auch in der DDR wieder auf: zunächst in der gemeinsamen Frontstellung der SED-Mitglieder gegen die alten Professoren, dann, unter dem Dach der Partei, die von diesem Phänomen irritiert war, eben in der Form von Netzwerke bildenden ‚Schulen‘.40 Solche auf Macht- und Einflussgewinn ausgerichteten Netzwerke dienten, wie in der Wissenschaft allgemein, nicht nur dem materiellen Interesse der 40

Schulbildend in dem Sinn wirkte in der Literaturwissenschaft der DDR neben Gerhard Scholz auch der Romanist Werner Krauss. Auf diese Lehrer beriefen sich auch noch die Schüler ihrer Schüler. Obwohl schon die erste Schülergeneration vielfach andere Wege einschlug, blieb der Zusammenhalt jeder der beiden Gruppen bestehen, die sich, ungeachtet ihrer gemeinsamen sozialhistorischen Orientierung, scharf gegeneinander abgrenzten. – Vgl. Rosenberg, Paradigma.

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in sie Eingebundenen;41 vielmehr hatten auch die Angehörigen dieser ersten Generation der ostdeutschen Nachkriegsgermanistik schon bald die Erfahrung machen müssen, dass Professuren, Institutsdirektorate oder andere Leitungspositionen in der Universität, die Mitgliedschaft in wissenschaftlichen Beiräten oder Fachverbänden förderlich waren, wenn es darum ging, eine bestimmte Wissenschaftskonzeption oder eigene Vorstellungen von einer Reform der Wissenschaftsorganisation zur Geltung zu bringen. Um in der DDR solche Positionen zu erlangen, mussten die Wissenschaftler sich jedoch der politischen Führung gegenüber als vertrauenswürdig erweisen. Andererseits hatten sie zu befürchten, deren Vertrauen und damit ihre Position wieder zu verlieren, wenn ihre Aktivitäten den Verdacht eines Abweichens von der Parteilinie erweckten. Der wesentliche Unterschied zur Stellung eines Wissenschaftlers in der bürgerlichen Gesellschaft bestand nämlich darin, dass die Macht, die er in der DDR etwa mit der Besetzung eines Lehrstuhls erhielt, immer nur eine geliehene, von der Parteiführung an ihn delegierte Macht war, die ihm mit seiner Abberufung jederzeit wieder entzogen werden konnte. Unter diesen Umständen blieb es nicht aus, dass der Durchsetzungskampf unter den Wissenschaftlern auch mit den Mitteln der ideologischen Diffamierung geführt wurde, vorzugsweise indem man den Arbeiten des Noch-Lehrstuhlinhabers oder Mitbewerbers um diese Position ‚bürgerliche‘ oder ‚revisionistische‘ Tendenzen unterstellte. Und auch hier zeigte sich, dass die, die so handelten, meist Überzeugungstäter waren. Liest man, was einige dieser Germanisten Ende der fünfziger Jahre gegen Mayer oder Lukács vorzubringen hatten42, dann kann man schon den Eindruck gewinnen, dass sie nicht opportunistisch nur einen Parteiauftrag erfüllten, sondern wirklich glaubten, was sie schrieben. Was für uns heute umso schwerer zu begreifen ist, als sie doch die Grundpfeiler ihres Literaturund Kunstverständnisses – die Widerspiegelungs- und Realismus-Theorie – wesentlich Lukács verdankten, und sachlich den Angegriffenen eigentlich nur vorgeworfen werden konnte, dass diese in den bisherigen Leistungen der sozialistisch-realistischen Gegenwartsliteratur noch keine ‚sozialistische Klassik‘ zu erkennen vermochten. Um dieselbe Zeit werden – worauf Jens Saadhoff aufmerksam gemacht hat – allerdings auch erste Stimmen laut, die auf eine ‚fachspezifische Konturierung‘ der Germanistik dringen.43 Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre wird dann, auch von germanistischen Wortführern der Lukács41

42 43

Über die Funktion von Netzwerken im Wissenschaftssystem als einer Form der wechselseitigen Unterstützung – informationell, publizistisch (durch Rezensionen oder Namensnennungen bzw. Zitationen in eigenen Veröffentlichungen) und wissenschaftspolitisch (durch Gutachten oder Voten, z. B. bei der Stellenbesetzung) vgl. auch Klausnitzer, Schule. Vgl. Koch, Georg Lukács. Vgl. Saadhoff, Germanistik, S. 194–205. – Saadhoff zitiert u. a. Hans-Günther Thalheim, Günter Hartung, Heinz Stolpe und Claus Träger.

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und Mayer-Kritik, offen argumentiert, dass die Literaturwissenschaft ihren gesellschaftlichen Auftrag nur als Wissenschaft erfüllen könne, soll heißen, wenn sie Erkenntnisse erbringt, die sich nur in Anwendung ihrer spezifischen Mittel und Methoden erschließen und über den unmittelbaren politischen Nutzwert eines literarischen Textes hinaus reichen. Saadhoff hat sicher recht, wenn er in solchen Äußerungen den Versuch sieht, ein Minimum an Selbstbestimmung zu erlangen, und sie zugleich als Ausdruck wachsenden Selbstbewusstseins betrachtet: Die neuen Professoren wollten von ihren Kollegen Naturwissenschaftlern und von ihren westlichen counterparts als Wissenschaftler anerkannt und nicht mehr bloß als Propagandisten einer Parteidoktrin gesehen werden. Schließlich hatten auch einige ostdeutsche Germanisten dieser ersten Nachkriegsgeneration, ungeachtet der ihnen gemeinsamen marxistischen Grundorientierung, mit der Zeit ein eigenes wissenschaftliches Profil gewonnen und Arbeiten vorgelegt, die auch jenseits der DDR-Grenzen Beachtung fanden.44 In den siebziger und achtziger Jahren waren es fast nur noch die Mitarbeiter des direkt dem Zentralkomitee der SED unterstellten (und später in den Rang einer Akademie erhobenen) „Instituts für Gesellschaftswissenschaften“, die, weil sie den speziellen Auftrag hatten, den Anspruch der Parteiführung auf die Deutungshoheit im Feld der Wissenschaft durchzusetzen, die Parteilinie über alle von ihr geschlagenen Kurven hinweg unbeirrt verteidigten.45 Die meisten anderen waren, oft ungewollt, irgendwann in einen Konflikt mit ihrer Partei geraten und hatten daraus Schlüsse für ihr künftiges Verhalten gezogen. Ein typisches Beispiel liefert der Scholz-Schüler Hans Kaufmann46, der 1962 nach Jena geschickt wurde, um den Einfluss von Joachim Müller einzudämmen und die dortige Germanistik auf marxistisch-leninistischen Kurs zu bringen. Nachdem er eine Zeit lang sich bereits in diesem Sinne betätigt hatte, versammelte er eine Reihe von Jenaer 44

45

46

Dabei handelt es sich vor allem um Beiträge zur deutschen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts (Siegfried Streller, Ingeborg Spriewald, Walter Dietze), zur Aufklärungsforschung (Hedwig Voegt, Heinz Stolpe), zu Herder und dem ‚Sturm und Drang‘ (Heinz Stolpe, Edith Braemer, Claus Träger), zu Georg Forster und den deutschen Jakobinern (Claus Träger), zur Literatur des ‚Jungen Deutschland‘ (Walter Dietze), zu Heine (Hans Kaufmann), Brecht (Werner Mittenzwei) und zur proletarisch-revolutionären Literatur der Weimarer Republik. Als auch von den Parteimitgliedern an den Universitäten und der Wissenschafts-Akademie gefürchteter Ideologiewächter über die Literaturwissenschaft wirkte hier Hans Koch, Jahrgang 1927, seit 1977 Direktor des „Instituts für Kultur- und Kunstwissenschaften“ der „Akademie für Gesellschaftswissenschaften“, 1976–1981 Kandidat, danach Mitglied des ZK der SED, 1986 Selbstmord. Hans Kaufmann (1926–2000) hatte 1948–1952 an der Berliner Humboldt-Universität Germanistik und Geschichte studiert, 1956 promoviert und sich 1962 habilitiert. Bereits seit 1959 war er dort als Prof. mit Lehrauftrag tätig gewesen. Am „Zentralinstitut für Literaturgeschichte“ der „Akademie der Wissenschaften“, in das die literaturwissenschaftliche Abteilung des „Instituts für deutsche Sprache und Literatur“ 1969 überführt wurde, arbeitete Kaufmann dann bis zu seiner Emeritierung 1991.

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Germanisten, um Müllers – wie es damals hieß – unkritischer Sicht auf die bürgerliche Moderne eine marxistische Darstellung entgegenzusetzen. Das Resultat dieser Bemühungen, der Band „Krisen und Wandlungen der deutschen Literatur von Wedekind bis Feuchtwanger“ (1966), befriedigte einige Müller-Kritiker jedoch keineswegs, sondern wurde von ihnen – weil von Wissenschaftlern aus den eigenen Reihen erarbeitet – noch heftiger attackiert als Müllers Goll-Studie. Kaufmann zog sich daraufhin aus der Hochschullehre zurück und nahm eine Stelle an der „Akademie der Wissenschaften“ in Berlin an, wo er ab 1968 dieselbe Literaturperiode für die zehnbändige deutsche Literaturgeschichte47 bearbeitete. Die Auseinandersetzung mit Kaufmann ging allerdings schon nicht mehr von der Parteiführung aus, sondern war von Kollegen aus der eigenen Fakultät begonnen worden, die in dem Bemühen des Kaufmann-Kollektivs um Differenzierung einen Aufweichungsversuch zu erkennen meinten und sich damit auch der Zentrale als konsequente Verfechter des Parteistandpunkts empfahlen. Dort ließ man, wenn auch widerwillig, inzwischen sogar geschehen, dass der spätere Direktor des „Zentralinstituts für Literaturgeschichte“, Werner Mittenzwei, die Brechtsche Kunstkonzeption als gleichberechtigten Ansatz einer marxistischen Ästhetik neben die auf dem Widerspiegelungsaxiom basierende Realismus-Theorie stellte48 und ein Wissenschaftler-Kollektiv unter der Leitung des Krauss-Schülers Manfred Naumann an demselben Institut Grundzüge einer marxistischen Rezeptionsästhetik entwarf.49 Die Parteiführung konzentrierte ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf die DDR-Literatur, in der die sie verunsichernden kritischen Stimmen immer deutlicher vernehmbar wurden, und sie erwartete von der Literaturwissenschaft, dass sie in ihrem Sinne zu der aktuellen Literaturproduktion Stellung nahm. Einige Fachvertreter entsprachen dieser Erwartung auch. Andere verweigerten sich jedoch, nachdem eine von der Kulturabteilung des ZK beim Akademie-Institut bestellte Studie zur aktuellen Erzählliteratur der DDR zu heftigen Reaktionen des Auftraggebers geführt hatte50, und entwickelten diverse Ausweichstrategien: Man kehrte zur Aufklärungs- und Klassikforschung oder anderen Arbeitsfeldern zurück, denen die Parteiführung weniger Aufmerksamkeit schenkte, oder man verlegte sein Arbeitsgebiet eben auf Literaturtheorie und Ästhetik. Es bildete sich speziell bei den Angehörigen des Akademie-Instituts, die in der Regel nicht in die Hochschullehre eingebunden waren, eine Haltung heraus, die 47 48 49 50

Kaufmann u. a., Geschichte der deutschen Literatur 1917 bis 1945. Vgl. Mittenzwei, Brecht-Lukács-Debatte. Vgl. Naumann, Gesellschaft. Die literaturwissenschaftliche Expertise, die die Parteiführung als Entscheidungshilfe in Fragen der Kulturpolitik angefordert hatte, wurde mit Empörung über das Ergebnis, zu dem die Wissenschaftler gekommen waren und der Forderung nach deren Maßregelung an das Institut zurückverwiesen.

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dadurch gekennzeichnet war, dass der Wissenschaftler auf solide, internationalen Standards entsprechende spezialisierte Forschungsergebnisse setzte und, um seine Privilegien (erleichterter Zugang zu ‚westlicher‘ Forschungsliteratur, Reisen ins kapitalistische Ausland) nicht aufs Spiel zu setzen, alle erwartbaren Auseinandersetzungen mit der Partei zu vermeiden trachtete, d. h. die Beschäftigung mit der Gegenwartsliteratur in die Privatsphäre verschob. Dahinter stand die früher oder später gewonnene Erkenntnis, dass alle – an die aufklärerische Idee der Fürstenerziehung gemahnenden – Strategien reformorientierter Wissenschaftler, die Nähe der Parteioberen zu suchen, um auf sie im Sinne einer Neuausrichtung ihrer Wissenschafts- und Kulturpolitik einzuwirken, zum Scheitern verurteilt waren. Generell zeichnet sich an den späteren Arbeiten auch der Marxisten eine Veränderung ihres Wissenschaftsstils ab: Der Umgang mit dem Gegenstand wird zunehmend versachlicht, die Akzentuierung der ideologischen Prämissen zurückgenommen, und auf die übliche Polemik gegen die ‚bürgerliche‘ Wissenschaft wird weitgehend verzichtet. Nach 1989 haben Hans Kaufmann und Hans Richter in selbstkritischen Äußerungen zu ihrer Beteiligung an der Kampagne gegen Müller von dem Lernprozess gesprochen, der dieser Haltungsänderung zugrundelag.51 Die meisten dieser Wissenschaftler ließen in ihrem öffentlichen Auftreten allerdings kaum etwas von der Resignation erkennen, in die sie angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs des Landes, des Starrsinns der politischen Führung und der Demoralisierung der Gesellschaft verfallen waren. In die politische Opposition hat die Einsicht in das drohende Scheitern des staatssozialistischen Experiments keinen geführt, der in Amt und Würden war. Selbst dass ein Institutsdirektor (Mittenzwei) seine Position aufgab, um sich ganz der Forschung widmen zu können, war die Ausnahme. Die Regel war, dass man seine Position hielt, auch wenn das in erster Linie nicht der Privilegien, sondern der Arbeit wegen geschah, und nicht ausgeschlossen werden kann, dass auch noch in der falschen Loyalität versucht wurde, ein richtiges Leben zu führen. An der sozialistischen Utopie, der Idee von einem demokratischen Sozialismus hielt diese Wissenschaftler-Generation (und auch noch ein großer Teil der nächsten) fest bis zum Zusammenbruch der DDR und darüber hinaus. Für die große Mehrheit der Wissenschaftler dieser Generation war die akademische Karriere spätestens Anfang der neunziger Jahre zu Ende. Einige waren schon vorher gestorben, die anderen hatten, sofern sie nicht wegen ihrer Parteifunktionen oder Kontakten zum DDR-Staatssicherheitsdienst gleich nach der Wende beurlaubt worden waren, das Rentenalter erreicht und zogen sich, da auch ihre Fachkompetenz nicht mehr gefragt war, aus der Öffent-

51

Vgl. Interview mit Hans Kaufmann, in: Boden/Böck, Modernisierung; Richter, An der Seite Joachim Müllers, S. 205–208.

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lichkeit zurück. Tiefer gehende Selbstreflexionen ihrer DDR-Vergangenheit liegen bisher nur von Kaufmann und Mittenzwei vor.52

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Vgl. Kaufmann, Januskopf; Mittenzwei, Zwielicht.

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Cleve, Ingeborg: Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Klassik in Weimar in der Ära Holtzhauer (1954–1973), in: Ehrlich, Lothar / May, Gunther (Hg.): Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht, Köln / Weimar / Wien 2000, S. 343–358. Ehrlich, Lothar: Die Goethe-Gesellschaft im Spannungsfeld der Deutschland- und Kulturpolitik der SED, in: Ehrlich, Lothar / May, Gunther (Hg.): Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht, Köln / Weimar / Wien 2000. S. 252–281. Ehrlich, Lothar / May, Gunther (Hg.): Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht, Köln / Weimar / Wien 2000. Gärtner, Marcus: Kontinuität und Wandel in der neueren deutschen Literaturwissenschaft nach 1945, Bielefeld 1997. Holtzhauer, Helmut: Goethe-Museum. Werk, Leben und Zeit Goethes in Dokumenten, Berlin / Weimar 1969. Kaufmann, Hans u. a.: Geschichte der deutschen Literatur 1917 bis 1945, Berlin 1973 (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 10). Kaufmann, Hans: Der Januskopf des Utopischen. Texte, Gespräche, Erinnerungen. Herausgegeben von Ingrid Pergande-Kaufmann, Berlin 2002. Klausnitzer, Ralf: Wissenschaftliche Schule. Systematische Überlegungen und historische Recherchen zu einem nicht unproblematischen Begriff, in: Danneberg, Lutz / Höppner, Wolfgang / Klausnitzer, Ralf (Hg.): Stil. Schule. Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion, Frankfurt/Main u. a. 2005 (= Berliner Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 8), S. 31–65. Koch, Hans (Hg.): Georg Lukács und der Revisionismus. Eine Sammlung von Aufsätzen, Berlin 1960. Krenzlin, Leonore: Gerhard Scholz und sein Kreis. Bemerkungen zu einem unkonventionellen Entwurf von wirkender Literatur und Literaturwissenschaft, in: Ehrlich, Lothar / May, Gunther (Hg.): Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht, Köln / Weimar / Wien 2000, S. 195–217. Loth, Wilfried: Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, München 1996 (= dtv 4678). Mayer, Hans: Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen, Bd.1–2, Frankfurt/Main 1982–1988. Mittenzwei, Werner: Die Brecht-Lukács-Debatte, in: Sinn und Form 19 (1967), S. 235–269.

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Kersten Krüger

Die Zweite Hochschulreform in der Rostocker Germanistik Zur Durchsetzung sozialistischer Universitätspolitik am Beispiel der Auseinandersetzungen um Hildegard Emmel und Walter Epping

In der Universitätsgeschichte der DDR unterscheiden wir drei Hochschulreformen.1 Die Erste Hochschulreform2 nach 1946 bedeutete im Selbstverständnis des DDR-Marxismus die antifaschistisch-demokratische Neugestaltung oder auch Umwälzung, die später als der erste revolutionäre Prozess in der gesetzmäßigen Abfolge der Gesellschaftsformationen vom Kapitalismus/Faschismus zum Sozialismus/Kommunismus begriffen oder dargestellt wurde. Die Zweite Hochschulreform, auf die ich näher eingehen werde, diente der Effektivierung des Universitätsbetriebes und der Ausbildung. Die Dritte Hochschulreform schließlich, über die Matthias Glasow in diesem Band berichtet, diente der Einbeziehung der Universitäten und Hochschulen in das gesellschaftliche, und vor allem in das ökonomische Umfeld, das heißt der Zweckbindung von Forschung an die Bedürfnisse der Betriebe der Region. Forschung und Lehre traten weitgehend auseinander. Die Zweite Hochschulreform vollzog sich auf den sich überschneidenden Entscheidungsebenen Staat, Partei und Universität. Das deutet nicht nur eine Reihenfolge an, sondern auch eine Hierarchie, denn letztlich war die Universität Objekt der Entscheidungen, die auf höherer Ebene getroffen wurden. Die Zweite Hochschulreform, 1951 eingeführt zum Winteroder Herbstsemester, stand im Zusammenhang mit dem ‚Fünfjahrplan‘ der DDR, der die Wirtschaft in ihrer Effektivität steigern sollte. Zugleich sollte die Zweite Hochschulreform die Universitäten in ihrer Ausbildungs1 2

Allgemein siehe: Geschichte der Universität Rostock:  1419–1969; Rektor der Universität Rostock, Mögen viele Lehrmeinungen um die eine Wahrheit ringen; Handschuck, Weg. Herzig/Trost, Universität Rostock.

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Kersten Krüger

kapazität besser nutzen und die Berufsausbildung der Studierenden verbessern. Die Zweite Hochschulreform umfasste folgende Elemente: Erstens wurde allgemein das Einfachstudium eingeführt. Zweitens gab es statt der Semester künftig das Zehn-Monate-Studienjahr, das allerdings nicht nur der Ausbildung in Vorlesungen, Übungen, Seminaren diente, sondern auch mit Berufspraktika verbunden war. Entscheidend war drittens, dass für alle Universitäten und Hochschulen der DDR verpflichtende, obligatorische, einheitliche Studienpläne zu entwerfen waren. Diese wurden dann – viertens – zusammen mit dem obligatorischen gesellschaftswissenschaftlichem Grundstudium für alle Studierenden eingeführt. Dieses umfasste zum einen den Marxismus-Leninismus einschließlich der marxistischen Politischen Ökonomie, zum anderen eine sprachliche Qualifikation in Deutsch und Russisch, schließlich die Körpererziehung im Hinblick auf die Verteidigungsfähigkeit der DDR. Fünftens wurden organisatorisch die obligatorischen staatlichen Seminargruppen unter Leitung der FDJ eingeführt, die vorher freiwillig gewesen waren. Sechstens hatten alle Studierenden fortan ein sechswöchiges Berufspraktikum abzuleisten. Siebtens fand die Zentralisierung aller Zwischenprüfungen und Prüfungen beim jeweiligen Prorektor für Studienangelegenheiten der Universität statt. Als achter Punkt schließlich – und das verdient besondere Beachtung – wurden flächendeckend Stipendien für alle Studierenden eingeführt, unabhängig vom Einkommen der Eltern und verbunden mit Leistungszulagen für die besonders leistungsfähigen Studierenden. Die Zweite Hochschulreform brachte auch eine Standardisierung der Veranstaltungen mit sich. Die Vorlesung galt nun als eine Veranstaltung der Wissensvermittlung. Die Hochschullehrer waren gehalten, sie schriftlich auszuarbeiten und bei Kontrollbesuchen jederzeit darüber Rechenschaft abzulegen. Das Seminar – eine Neufassung – galt zunächst der Vertiefung des Wissens der in den Vorlesungen behandelten Materien. Nach einiger Zeit ging man nach sowjetischem Modell dazu über, die Seminare auch für Referate und Diskussionen zu öffnen, verabschiedete sich also von dem – wie es polemisch der Staatssekretär für Hochschulwesen nannte – Wiederkäuen.3 Hinzu kamen Spezialseminare, wissenschaftliche Seminare, wie wir sie heute kennen, in relativ freier Themenwahl. In wenig gebundener Form fanden Übungen, Praktika und Kurse statt. Neu eingeführt wurde die Konsultation als individuelle Beratung und Anleitung der Studierenden. Diese unterschied sich von den allgemeinen Konsultationen, öffentlichen Vorstellungen des Faches oder der Verbindung des Faches zu den Produktionsbetrieben der Region. Ergänzend wurde das verpflichtende Selbststu-

3

Müller, „... stürmt die Festung Wissenschaft!“, S. 272: Anweisung Nr. 17 des Staatssekretärs Hager.

Die Zweite Hochschulreform in der Rostocker Germanistik

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dium gefordert, das jedoch innerhalb der Seminargruppen überprüft und nachvollzogen werden sollte. Die Auswirkungen der Zweiten Hochschulreform auf das Lehrangebot der Germanistik in Rostock waren einschneidend. Die Standardisierung der Lehrinhalte stieß auf Widerstand, und zwar nicht erst 1951, sondern bereits vier Jahre früher, als die Zentralverwaltung in Berlin versuchte, einheitliche Lehrpläne einzuführen. Damals, am 13. Januar 1947, schrieb Dekan Hartke4 an seine Kollegen, die Professoren Teuchert5, Huscher6, Kleinknecht7 und Schneeweis8 – Vertreter verschiedener Fächer in Rostock: Auf Grund der beifolgenden Verfügung bitte ich, einen Bericht darüber zu erstatten, ob überhaupt eine Möglichkeit besteht, der Aufforderung der Zentralverwaltung zu genügen. Dass an sämtlichen 6 Universitäten der Sowjetischen Zone ein Einheitsstudienplan [gesperrt] (!) durchgeführt wird, ist eine bare Unmöglichkeit. Ich halte jetzt den Zeitpunkt für gekommen, dass die Vertreter der betroffenen Fächer nunmehr grundsätzlich zu der geplanten, universitätsfremden Verschulung Stellung nehmen unter genauer Darlegung der tatsächlichen Verhältnisse. Die Schwierigkeiten, den akademischen Unterricht überhaupt einigermaßen durchzuführen, sind ja dermaßen groß, dass es – abgesehen von den grundsätzlichen Bedenken – vollkommen ausgeschlossen ist, das von der Zentralverwaltung vorgesehene starre Schema durchzuführen. Im Übrigen handelt es sich ja nicht um ein System von Schulklassen, die der Schüler planmäßig zu durchlaufen und bei dem für jede einzelne Schulklasse besondere Lehrkräfte zur Verfügung stehen.9

Die bereits 1947 belegten Pläne zur Vereinheitlichung der Studiengänge konnten noch nicht realisiert werden. Aber mit dem Aufbau des zentral geleiteten Bildungssystems in der DDR, in dem für die Universitäten das Staatssekretariat für Hochschulwesen an der Spitze stand, gelang es 1951 im Rahmen der Zweiten Hochschulreform, verbunden mit der Einführung des Zehn-Monate-Studiums anstelle der bisherigen Semestereinteilung. Wiederum erhob Dekan Hartke Einspruch und verband diesen mit eigentlich unerfüllbaren Forderungen, im Einzelnen:10

4 5 6 7 8 9

10

Catalogus Professorum Rostochiensium (Prof. Dr. Werner Hartke). Catalogus Professorum Rostochiensium (Prof. Dr. Hermann Teuchert). Catalogus Professorum Rostochiensium (Prof. Dr. Herbert Huscher). Catalogus Professorum Rostochiensium (Prof. Dr. Hermann Kleinknecht). Catalogus Professorum Rostochiensium (Prof. Dr. Edmund Schneeweis). Rundschreiben des Dekans Hartke 1947, in: Universitätsarchiv Rostock [künftig UAR] (2.1.2.260), Lehrbetrieb, Bd. 1 1947–1956. Wenn die Archivakte keine Seiten- oder Blattzählung enthält, entfällt eine entsprechende Angabe. Die Transkription der Quellentexte geschieht buchstabengetreu. Schreiben des Dekans Hartke vom 16. Juni 1951 an den Rektor betr. Besuch der Referenten des Staatssekretariats, in: UAR (2.1.2,1.1), Fakultätsleitung, Bd. 1 1945–1960.

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Kersten Krüger

1.) eine Vermehrung der Assistentenstellen um etwa das dreifache, an gewissen Schwerpunkten um das 5-fache, 2.) die Verbesserung der räumlichen Bedingungen wird angemahnt. Ohne Klärung dieser Fragen dürfte eine Einbeziehung der Universität in den Anlauf des 10-Monate-Studiums nicht in Frage kommen.

Aber es kam in Frage. Das Lehrpersonal wurde verstärkt – wenn auch nicht im geforderten Maß –, das Lehrangebot standardisiert.11 Das lässt sich dem Stundenplan des Frühjahrssemesters 1953 entnehmen (siehe Tabelle 1).12 Tabelle 1 Stundenplan Germanistik Frühjahrssemester 1953, in: UAR (2.1.2, 260); Abkürzungen wie im Original Zeit

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

I Einf. Sprachwiss. Jensen III+IV Klass. mhd. Lit. Teuchert

I Lit. 1770–89 (Ü) Epp. II Englisch Viet.

8–9

II AHD Dahl

II Englisch Viet.

II Sprechk. Sielaff

9–10

I +II Märchen Sielaff III+IV Klass. mhd. Lit Teuchert

I MHD Gr. Dahl II Gotisch Jensen III+IV Klass. mhd. Lit. Teuchert

I+II Spez. Sem. Stilk. Epping

I Lit 1770–89 Epp. II Satzlehre Düwel III Frühd. Lit. Dahl

I+II Spez. Sem. Stilk. Epping III Engl. Viet.

I Einführg. Spr. W. Jensen II Mundar10–11 tenk. Dahl III Dt. Spr. d. neuer. Zeit Düwel

11

12

Sonnabend

I Lit. 1770–89 (Ü) Epp. III Klass. mhd. Lit. Teuch.

I Lit. 1770–89 Epp. II Satzlehre Düwel III Methodik Sielaff Englisch Viet.

I Lit. 1770–89 Epp. III+IV Lit. II Satzlehre 1917–45 Düwel Emmel III Frühd. Lit. Dahl

In acht Sitzungen der Philosophischen Fakultät wurde von 1950 bis 1952 zum Teil heftig und kontrovers über das Zehn-Monate-Studium diskutiert: am 16. Dezember 1950, 20. Februar 1951, 31. März 1951, 2. Juni 1951, 30. Juni 1951, 8. Dezember 1951, 30. April 1952 und 9. Mai 1952. Der Dekan gab die verbindlichen Termine am 2. Juni 1951 bekannt. Vgl. Protokolle der Fakultätssitzungen, in: UAR (2.1.2, 1.1), Fakultätsleitung, Bd. 1 1945–1960. Auch die Universitätsparteileitung der SED befasste sich ausführlich mit der Zweiten Hochschulreform, freilich mit dem Ziel einer Umgestaltung der Universität in ihrem Sinne: Rechenschaftsbericht über die Parteiarbeit 1951/Entschließung der SED Abteilungsgruppe Philosophische Fakultät vom 16. 2. 1951/Rechenschaftsbericht vom 10. 10. 1951/Entschließung vom Herbst 1951, in: UAR (5.1, 373), Wahlversammlungen der SED-Grundorganisation der Philosophischen Fakultät 1951–1962. Stundenplan der Germanistik im Frühjahrssemester 1953, in: UAR (2.1.2, 260); Abkürzungen wie im Original.

Die Zweite Hochschulreform in der Rostocker Germanistik

II Sprechkunde Siel. III Spr. d. neu. Zeit Düwel

III+IV Lit 11–12 1917–1945 Emmel

I Sprechkunde Sielaff II Lit. 1815– 30 Epp.

12–13

II AHD Gr. I+II Märchen Dahl III Lit. III Spr. d. 1917–45 neu. Zt. Emmel Düwel

II Lit 1815–30 I Sprechkunde Epping III Spr. d. neu. Siel. Zeit Düwel

95

III+IV Lit. 1917–45 Emmel

III+IV Lit. 1917–45 Emmel

14–15

15–16

Altnordisch Teuchert

IV Englisch Viet.

16–17

Altnordisch Teuchert

IV Englisch Viet. IV Gesch. d. dt. Spr. Teuchert

17–18

18–19

Spez. Sem. Interpet.

19–20

Rilke-Texte Emmel

Inhaltlich wirkt dieser Stundenplan durchaus traditionell in seinen Abteilungen der Sprachwissenschaft und der Literaturwissenschaft. Zusätzlich war Englisch obligatorisch. Die Abteilungen lassen sich nach Semesterwochenstunden (SWS) auszählen und zeigen das Muster der standardisierten Lehre. In der Sprachwissenschaft fanden Altnordisch, Gotisch, Althochdeutsch statt, dann Mittelhochdeutsche Grammatik, Geschichte der Deutschen Sprache, Einführung in die Sprachwissenschaft, Mundartenkunde, Satzlehre, Sprechkunde, Stilkunde und schließlich Sprache der Neueren Zeit. In dieser Abteilung Sprachwissenschaft summiert sich das Lehrangebot auf 25 SWS, ohne Unterscheidung nach den mit römischen Ziffern gekennzeichneten Studienjahren. In der Literaturwissenschaft wurden Märchen, Klassische Mittelhochdeutsche Literatur, Frühe Deutsche Literatur, Literatur von 1770 bis 1789, Literatur von 1815 bis 1830, Literatur von 1917 bis 1945 angeboten, zusätzlich ein Spezialseminar zu Rilke mit insgesamt 22 SWS (siehe Tabelle 2).

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Kersten Krüger

Tabelle 2 Lehre in Germanistik: Frühjahrssemester 1953 Sprachwissenschaft

SWS

Literaturwissenschaft

SWS

Altnordisch

2

Märchen

2

Gotisch

1

Klassische Mittelhochdeutsche Lit.

4

Althochdeutsch

2

Frühdeutsche Literatur

2

Altnordisch

2

Literatur 1770–1789

5

Mittelhochdeutsche Grammatik

1

Literatur 1815–1830

2

Geschichte der deutschen Sprache

1

Literatur 1917–1945

5

Einführung in die Sprachwissenschaft

2

Spezial-Seminar Rilke

2

Mundartenkunde

2

Satzlehre

2

Sprechkunde

4

Stilkunde

2

Summe Literaturwissenschaft

22

Sprache der neueren Zeit

4

Summe Sprachwissenschaft

25

Methodik Englisch

1 6

Die Sprachwissenschaft hatte somit ein leichtes Übergewicht. Dieses Lehrangebot entsprach der Leistungsfähigkeit eines mittelmäßig ausgestatteten Instituts. Es passte in die verbindlichen Studienpläne, etwa in der Literatur, die hier in festgelegten Epochen mit Jahreszahlen abgebildet ist. Das war in der gesamten DDR so vorgeschrieben. Der Stundenplan weist einige Lücken auf, die in den nächsten Semestern geschlossen wurden, in der Literaturgeschichte waren es die Abschnitte von 1789 bis 1815, von 1830 bis 1849 und weiter von 1849 bis 1917. Außer den im standardisierten Stundenplan vorgeschriebenen Fachveranstaltungen mussten weitere außerhalb des Faches besucht werden. Das

Die Zweite Hochschulreform in der Rostocker Germanistik

97

waren vor allem die Abteilungen des Marxismus-Leninismus, also der Dialektische und Historische Materialismus, die Politische Ökonomie und der Wissenschaftliche Sozialismus mit insgesamt 6 SWS. Zusätzlich fanden pädagogische Vorlesungen statt und Übungen der Körpererziehung. Hinzu kam der Sprachunterricht in Englisch und Russisch. Schon auf der Ebene formaler Betrachtung der Ausbildung zeigt sich eine hohe Stundenbelastung der Studierenden. Aber auch die Lehrenden der Germanistik fanden sich stark überlastet und führten darüber einige Jahre später heftige Beschwerden. Nachdem die Zweite Hochschulreform angelaufen und inzwischen auch eingelaufen war, wurde am 16. April 1955 auf einer Sitzung des Wissenschaftlichen Beirates Germanistik im Staatssekretariat für Hochschulwesen als Punkt 2 der Tagesordnung die Überlastung ausführlich behandelt:13 [Seite] 4 Punkt 2 der Tagesordnung: Überlastung der Professoren, Dozenten und Assistenten; Gefährdung der Forschungsarbeit Prof. Müller: Die Überforderung der Lehrkräfte durch den Studienplan ist eine Folge ihrer wissenschaftlichen Gewissenhaftigkeit. Die Erfüllung des Planes läßt keine Möglichkeiten mehr zur Forschung. Studienurlaub zu diesem Zweck ist abzulehnen; auf die Wechselwirkung von Forschung und Lehre kann nicht verzichtet werden. Das Problem wurde akut durch die Forderung der 10-stündigen Vorlesungstätigkeit. Acht Stunden sind die alleräußerste Grenze. Wenn wir keine Zeit zu Forschungen haben, geraten wir in Rückstand gegenüber unseren westdeutschen und schweizer Kollegen. Es handelt sich dabei einfach um die Frage der wissenschaftlichen Ebenbürtigkeit der Germanistik der DDR. Wir müssen die Möglichkeit haben, ein angreifbares Buch der westdeutschen Germanistik nicht nur zu kritisieren, sondern ein anderes Buch dagegen zu schreiben. Heute hört aber 13

Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats für das Fach Germanistik am Sonnabend, 16.4.55 von 10.30 Uhr an im Sitzungssaal 1 des Staatssekretariats für Hochschulwesen, in: UAR (2.1.2, 260), Lehrbetrieb, Bd. 1 1947–1956. Anwesend waren Herr Prof. Dr. Bischoff, Herr Prof. Dr. Hadermann, Herr Prof. Dr. Kantorowicz, Herr Prof. Dr. Magon, Herr Prof. Dr. Müller, Herr Prof. Dr. Tschirch, Herr Dr. Kirsch, Herr Flämig, Herr Dr. Wohlgemuth (bis 14.15 Uhr), Herr Kortum, Fräulein Hofmann als Vertreter des Staatssekretariats, Frau Schob (zwischen 11.40 und 13.10 Uhr) als Vertreterin des Volksbildungsministeriums, Herr Oberreuter als Protokollführer. Folgende Teilnehmer sind in König (Hg.), Internationales Germanistenlexikon nachgewiesen: Karl Bischoff (1905–1983), Professor in Halle 1948–1958 (S.  193–194); Alfred Kantorowicz (1899–1979), 1949–1957 Professor an der Humboldt-Universität Berlin (S. 885–887); Leopold Carl Bernhard Magon (1887–1968), 1946–1955 Professor an der Humboldt-Universität Berlin (S. 1142–1144); Fritz Tschirch (1901–1971), Professor 1948– 1956 in Greifwald, 1956–1958 in Jena. Alle diese Professoren haben ihre Tätigkeit durch die Flucht in den Westen beendet. Hermann Gotthold Joachim Müller (1906–1986) blieb 1951–1971 Professor in Jena (S.  1286–1288). Zu Ernst Hadermann siehe: Höhle, Ernst Hadermann 1896–1968. Der Vertreter des Staatssekretariats veröffentlichte nach dieser Besprechung einen programmatischen Aufsatz zur Zweiten Hochschulreform in Rostock: Wohlgemut, Tradition und Wirklichkeit der Studienreform, S.  113–124 (Verfasser: Dr. Franz Wohlgemut, Hauptabteilungsleiter im Staatssekretariat für Hochschulwesen Berlin. Eingegangen 18.10.1955).

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Kersten Krüger

mit der Habilitation die Produktion auf. Von einem Ordinarius dürften höchstens 2 Vorlesungen und ein Seminar verlangt werden; die Zwischenprüfungen müßten von Assistenten durchgeführt werden. Prof. Kantorowicz: Das Zehn-Monate-Studienjahr hat sich zu einem vollen ZwölfMonate-Studienjahr ausgewachsen. In diesem Jahr sind in Berlin 80 Staatsexamina zu je etwa eineinhalb Stunden abzunehmen, [Seite] 5 im nächsten Jahre werden es etwa 120 sein. Das bedeutet durchschnittlich 150 Stunden Prüfungen pro Jahr für jeden der drei Ordinarien. Dazu kommen für jeden 30–40 Staatsexamensarbeiten, die durchzusehen und zu zensieren sind, außerdem die Klausuren. In die fünfwöchigen Ferien gehe ich mit fünf Dissertationen und einer Habilitationsschrift, deren Prüfung weit in das neue Studienjahr hineinreichen wird. Ich habe im III. und IV. Studienjahr eine Vorlesung von je zwei Stunden. Dazu stehen je zwei Stunden Übungen im Plan, aus denen aber durch die notwendigen Gruppenteilungen zu je 25–30 Studierenden 8 Stunden Übungen werden. Dann kommt die Arbeit mit den Assistenten und Aspiranten sowie die gesellschaftlichen Verpflichtungen. Nicht einmal die Möglichkeit zur Erweiterung und Überarbeitung der Vorlesung bleibt übrig, zu schweigen von der Ausarbeitung einer neuen. Das macht sich auch in der Kritik der Studenten bemerkbar. Außerdem kommen oft überraschende Anweisungen, wie in diesem Jahr die Verlängerung der Vorlesungszeit für das IV. Studienjahr. Die Belastung der Institutsdirektoren und Fachrichtungsleiter durch Verwaltungsaufgaben ist noch weit höher. Prof. Magon: Darüber hinaus wird Raubbau getrieben am Nachwuchs. Um den Studienplan einzuhalten, mußte in Berlin jeder Assistent mit einem Lehrauftrag betraut werden. Dafür ist diesen Assistenten die Möglichkeit genommen worden, sich durch eigene Arbeiten entsprechend zu qualifizieren. Auch das ist bei der Erörterung des Studienplanes zu berücksichtigen. Von kompetenter medizinischer Seite wird als zulässige Höchstleistung die Zahl von 6 Wochenstunden Vorlesungstätigkeit angegeben. – Die Abschlußprüfungen müssen grundsätzlich von Ordinarien abgenommen werden, wenn das Niveau dabei gewahrt bleiben soll. Dr. Wohlgemuth [Vertreter des Staatssekretariats]: Die gleichen Klagen kommen auch von anderen Fächern. In der gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Lage sowie durch die Folgen der Kriegsjahre müssen aber erhöhte Forderungen an alle gestellt werden. Die Forderung nach 10-stündiger Vorlesungstätigkeit besteht; sie steht im Zusammenhang mit dem Vergütungssystem und ist nicht herabzusetzen. Vielleicht können später Erleichterungen durch geringere Studentenzahlen eintreten.

Das war der Stand der Diskussion vom Frühjahr 1955, an der übrigens ein Vertreter Rostocks nicht teilgenommen hatte. Die Erhöhung des Lehrdeputats der Professoren auf 10 Stunden blieb aus. Der Protest hatte an dieser Stelle wohl genützt. In der Frage der verbindlichen Stundenpläne blieb das Staatssekretariat allerdings fest, wie sich auf einer Folgebesprechung zeigte,

Die Zweite Hochschulreform in der Rostocker Germanistik

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an der für Rostock Hermann Teuchert14 teilnahm und darüber am 6. Juli 1955 wie folgt berichtete: An den Herrn Fachrichtungsleiter für Germanistik Die letzte Sitzung des wissenschaftlichen Beirats hat sich, wie vorhergegangene, eingehend mit Wünschen des Staatssekretariats und Forderungen des wissenschaftlichen Beirats beschäftigt, welche sich auf eine elastischere Handhabung des Studienplanes, auf Verbesserung der Seminararbeit und Verringerung der Pflichtstunden, besonders der Übungen beziehen. Es wurden in Übereinstimmung mit dem Staatssekretariat eine Anzahl Beschlüsse gefasst, aus denen ich nach dem Gedächtnis die wichtigsten herausgreife. Eine Verfügung des Staatssekretariats ist vor Beginn des neuen Studienjahrs zu erwarten. 1. Der Studienplan ist grundsätzlich verbindlich. Sollten aus personellen Gründen Abänderungen nötig sein, so darf sie der Fachrichtungsleiter vornehmen, jedoch ist es ihm untersagt, den Plan zu ändern. 2. Die Seminare bekommen einen völlig anderen Sinn. Das ergibt sich daraus, dass das Seminar 2a im Sinne der Anweisung Nr. 17 des Staatssekretariats verändert wird. Es sollen ausgewählte Themen des vorgelegten Stoffes behandelt werden und damit dem Verständnis der gesamten Vorlesung gedient werden. Eine 2. Gattung von Seminaren begleitet die Vorlesungen und führt die Studierenden in eine wissenschaftliche Betrachtung des Vorlesungsstoffes ein. Die 3. Art der Seminare sind wahlweise Spezialseminare. Von dieser Art muss jeder Studierende während des Studiums ein sprachliches und ein literaturgeschichtliches Seminar besuchen. Jeder Student soll während des Studiums eine schriftliche Seminararbeit liefern. Diese wird zur Beurteilung des Studierenden in der Zwischenprüfung herangezogen. Ein gutes Ergebnis kann von der Zwischenprüfung befreien. 3. Die Zahl der Zwischenprüfungen wird voraussichtlich auf je eine germanistische beschränkt werden. 4. Die Anforderungen im Staatsexamen werden wesentlich schärfer. Sämtliche Gattungen von Germanisten haben 3 Klausuren anzufertigen. In diese Zahl zählt bei Studienplan 70 A die pädagogische Klausur. Die beiden germanistischen sind zu liefern für althochdeutsch, mittelhochdeutsch (gotisch, altnordisch) und aus dem Gebiet der neueren Literaturgeschichte und eine Klausur über neueste deutsche Literaturgeschichte oder eine Nationalliteratur. Jedes Staatsexamen wird um 15 Minuten verlängert. Diese werden zum Nachweis für das Verständnis einer neueren Sprache verwendet, ohne dass diese Leistung besonders im Zeugnis erwähnt wird. Zu den neueren Sprachen rechnen ausser Englisch und Französisch alle Sprachen, die unterrichtet werden, also Niederländisch und Schwedisch. Um den allgemeinen Klagen über die mangelhafte Beherrschung der deutschen Sprache zu begegnen, soll schon bei der Aufnahme die Kenntnis und das Verständnis des Anwärters geprüft werden und zu diesem Zwecke in jedem Falle der deutsche Aufsatz der Abschlußprüfung eingereicht werden. Ausserdem wird 14

Prof. Dr. Hermann Teuchert, wie Anm. 5.

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von allen Seiten gefordert, dass die Vorlesung und Übung ‚deutsche Sprache der neueren Zeit‘ gründlich umgestaltet und modernisiert wird. Ein Plan kann noch nicht vorgelegt werden. Eine Sonderkommission, an der noch das Ministerium für Volksbildung und die Akademie der Wissenschaften beteiligt werden, soll einen Entwurf vorlegen. Zum Schluss sei noch erwähnt, dass die Zahl der Unterrichtsstunden spürbar verkürzt wird. Beachtenswert ist wohl, dass die Vorlesung „klassische mittelhochdeutsche Literatur“ jetzt ein 2-stündiges Seminar erhält, ausserdem wird eine 2-stündige mittelhochdeutsche Interpretationsvorlesung gehalten. Von allen diesen Änderungen werden zu Beginn des neuen Studienjahres bestimmt nur die, welche das Abschlußexamen betreffen, vom Staatssekretariat verfügt werden.

Der Plan für die Ausbildung blieb verbindlich, nur minimale Änderungen waren zulässig. Die Festlegungen betrafen scheinbar nur formale Dinge wie Anzahl und Umfang der Lehrveranstaltungen, gemeint jedoch waren auch die Inhalte in Richtung auf eine Durchsetzung des Marxismus-Leninismus als allein gültiger Erkenntnistheorie. Das geschah auf anderen Ebenen, zum einen durch die Berufungspolitik des Staatssekretariats, zum anderen vor Ort in den Universitäts-Parteileitungen der SED. Diese bildeten eine Art Neben-Hochschulleitung mit Unterabteilungen in den Fakultäten und in den einzelnen Fächern. Sie alle suchten und hatten einerseits direkten Zugang zum Staatssekretariat wie zum Zentralkomitee der SED, um ihre inhaltlichen Ziele zu verfolgen und durchzusetzen. Aus der Sicht der zentralen Instanzen in Berlin galten sie andererseits als Instrumente zur Verwirklichung der zentral gefassten Beschlüsse zur Hochschulpolitik. In ihrem Rechenschaftsbericht vom 10. Oktober 1951 – die Zweite Hochschulreform wurde gerade durchgeführt – legte die Grundorganisation, die SED-Abteilungsgruppe der Philosophischen Fakultät diese Grundsätze dar, die dem Demokratischen Zentralismus entsprachen:15 Die Hochschulpolitik in der DDR wird vom Staatssekretariat für Hochschulangelegenheiten erledigt. Wir dürfen davon überzeugt sein, dass sämtliche Gesetze, Verordnungen und Verfügungen des Staatssekretariats vorher im Zentralkomitee unserer Partei besprochen und gut geheissen worden sind. Es kann nicht die Aufgabe einer Parteiorganisation an einer Universität sein, eine eigene Hochschulpolitik zu betreiben. Die großen ideologischen Richtlinien in dieser Arbeit werden vom Zentralkomitee unserer Partei festgelegt. Die Durchführung ist dem Staatssekretariat übertragen worden, dessen Genossen laufend vom Zentralkomitee kontrolliert werden. Das Staatssekretariat bedient sich zur Durchführung seiner Aufgaben der ihm untergeordneten Verwaltungsorgane, d. h. in unserem Fall der Universitätsleitung, das ist der Rektor und die Prorektoren und die Verwaltung der Universität. Der Rektor wi[e]derum stützt sich auf die Dekanate. 15

Handschriftlicher Rechenschaftsbericht vom 10. Oktober 1951, in: UAR (5.1, 373), Wahlversammlungen der SED-Grundorganisation der Philosophischen Fakultät 1951–1962, Blatt 12.

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Die inhaltlichen Ziele hatte die Abteilungsgruppe bereits in einer Entschließung vom 16. Februar 1950 benannt:16 Der Fünfjahrplan stellt hohe Anforderungen auch an unsere Universität. ... Die Abteilungsgruppe der Philosophischen Fakultät stellt selbstkritisch fest, dass sie bisher noch nicht alles getan hat, um die Arbeit in dieser Richtung zu forcieren. Um die gestellten Aufgaben bewältigen zu können, sind zunächst vor allem vordringlich 1. Eine qualitative Verbesserung des Studiums jedes Studenten, 2. Eine Verbreiterung des ideologischen Kampfes um die Theorie des MarxismusLeninismus in jeder Fachrichtung durchzuführen. Dazu stellt sich die Abteilungsgruppe für das kommende Semester bis zur Einführung des Zehn-Monate-Studienjahres folgende Aufgaben: [...] 2) Die Arbeit der Studiengruppen muss wesentlich gefördert werden; es muss erreicht werden, dass die Studiengruppen in den Vorlesungs- und Stundenplan eingebaut werden. Verantwortlich dafür: Gen. Hartke und die anderen Gen. Dozenten. Die Gen. Funktionäre der FDJ müssen dafür sorgen, dass die Zeit der Studiengruppen in jeder Fachrichtung mindestens 4 Wochenstunden beträgt, wovon 2 Stunden auf das Gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium entfallen. Diesem Grundstudium kommt im Hinblick auf den ideologischen Kampf an unserer Fakultät erhöhte Bedeutung zu.

Konkretere Aussagen finden sich im erwähnten Rechenschaftsbericht vom Herbst 1951.17 Es ging um die Durchsetzung des Marxismus-Leninismus als der einzigen und als der einzig wahren wissenschaftlichen Methode: Gleichzeitig hiermit muss der ideologische Kampf gegen reaktionäre Auffassungen in der wissenschaftlichen Arbeit geführt und vertieft werden. Dies darf aber nicht so geschehen, dass bei jedem falschen Zungenschlag der Betreffende gleich als Reaktionär und Feind der demokratischen Ordnung bezeichnet wird. Wissenschaftlicher Fortschritt kann sich, wie Gen. Stalin sagt, nur im freien Streit der Meinungen entfalten. Und nicht alles, was dem einen oder anderen Genossen momentan aufstößt, ist schon deshalb reaktionär. Selbstverständlich ist diese wissenschaftliche Meinungsfreiheit kein Freibrief für solche, die unter diesem Deckmantel faschistische, militaristische und ähnliche Ideen verbreiten wollen. [...] Es muss weiterhin die Aufgabe der Parteiorganisation sein, diese Genossen Professoren zu unterstützen, damit das marxistisch-leninistische Gedankengut auch in den einzelnen Fachdisziplinen an unserer Fakultät zum Durchbruch kommt. Bei dem Kampf um die Durchsetzung des Marxismus-Leninismus an der Universität 16

17

Entschließung der SED Abteilungsgruppe Philosophische Fakultät vom 16. 2. 1951, in: UAR (5.1, 373), Wahlversammlungen der SED-Grundorganisation der Philosophischen Fakultät 1951–1962. Handschriftlicher Rechenschaftsbericht vom 10. Oktober 1951, in: UAR (5.1, 373), Wahlversammlungen der SED-Grundorganisation der Philosophischen Fakultät 1951–1962, Blatt 13.

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dürfen wir nicht in den Fehler verfallen, die Kenntnisse, die uns von den bürgerlichen Professoren und Dozenten auf ihren Fachgebieten vermittelt werden, gering einzuschätzen. [...] Es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass die SED keine Geheimorganisation ist, in der Granaten gedreht werden, die zum Abschießen bürgerlicher Professoren bestimmt sind. Wenn wir den bürgerlichen Professoren klar machen – dies kann nur in der täglichen Praxis geschehen –, dass wir es als unsere Aufgabe betrachten, ihnen zu helfen, werden wir unser Verhältnis zu ihnen noch weitaus enger und herzlicher gestalten können. Diese Aufgabe erfordert keinerlei Prinzipienlosigkeit. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass hierbei der Grundsatz der Parteilichkeit und der Stellungnahme für den Fortschritt miteingeschlossen ist. Es gilt für uns, uns den materialistischen Kern der Vorlesungen der bürgerlichen Professoren kritisch anzueignen.

Deutlich wird hier der dialektische Sprung von der Freiheit des Meinungsstreits zur Intoleranz gegenüber nicht-marxistischen Positionen, die sich jederzeit als reaktionär oder faschistisch-militaristisch brandmarken ließen. Das galt auch für das Fach Germanistik, das im Rechenschaftsbericht ebenfalls behandelt wird:18 An verschiedenen Instituten unserer Fakultät ist z. Zt. ein erbitterter ideologischer Kampf um die Durchsetzung einer fortschrittlichen Wissenschaft im Gange. Wir möchten hier besonders an die Lage bei den Germanisten erinnern. Es ist ein Unding, dass in dieser Situation einzelne Genossen abseits stehen und bei der Boykottierung aktiver Genossen stillschweigend zusehen. [...] Wir vermissen auch in den Seminaren besonders bei den Germanisten eine marxistische Entschiedenheit der Genossen, sei es in ihren Referaten, sei es in ihren Diskussionen.

Dieser ideologische Kampf war durchaus beabsichtigt und brach aus. Er lässt sich exemplarisch an zwei Lehrenden der Literaturwissenschaft am Germanistischen Institut verfolgen, Hildegard Emmel19 und Walter Epping.20

18 19 20

Ebd., Blatt 16. Catalogus Professorum Rostochiensium (Prof. Dr. Hildegard Emmel). Catalogus Professorum Rostochiensium (Prof. Walter Epping).

Die Zweite Hochschulreform in der Rostocker Germanistik

Hildegard Emmel Personalakte Hildegard Emmel, in: Universitätsarchiv Rostock (1.12).

Walter Epping Personalakte Walter Epping, Teil I, in: Universitätsarchiv Rostock (1.12).

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Beide wurden 1951 im Zuge der Zweiten Hochschulreform und dem damit verbundenen Ausbau der Lehrkapazität nach Rostock berufen. Walter Epping, nicht promoviert, war Mitglied der SED, hatte sich als Direktor der Arbeiter- und Bauernfakultät an der TU Dresden bewährt und war als „Verdienter Lehrer des Volkes“ ausgezeichnet worden. In Rostock wurde er mit der Wahrnehmung der Professur mit Lehrstuhl für Neuere und Neueste Deutsche Literaturgeschichte beauftragt. Hildegard Emmel, promoviert und 1951 in Rostock habilitiert, erhielt eine Wahrnehmungsdozentur für Deutsche Literaturgeschichte, später eine Dozentur auf Dauer. Vorher war sie Mitarbeiterin am „Goethe-Wörterbuch der Akademie der Wissenschaften“ in Berlin; sie galt als bürgerlich, aber noch tolerabel. In der Stellungnahme des Staatssekretariats für Hochschulwesen vom 15. September heißt es:21 Die Habilitationsschrift von Dr. Emmel über ‚Mörickes Pengrinadichtung [sic; korrekt: Mörikes Peregrinadichtung] und ihre Beziehung zum Noltenroman‘22 wurde von uns aufmerksam studiert. Diese Arbeit zeichnet sich zweifellos aus durch Fleiß, Gründlichkeit und beweist grosses Einfühlungsvermögen in Dichtung. Ihrer weltanschaulichen Haltung nach aber ist diese Arbeit ausgesprochen idealistisch und lässt ein wirkliches Verständnis für die gesellschaftlichen Wurzeln und die gesellschaftliche Bedeutung der Literatur noch vermissen. In einer längeren persönlichen Unterredung zeigte sich Dr. Emmel zwar aufgeschlossen für eine gesellschaftswissenschaftliche Deutung der Literatur, empfand und durchschaute jedoch die Unwissenschaftlichkeit der bürgerlich-idealistischen Betrachtungsweise noch nicht genügend. Aus diesem Grund sollte die Berufung von Dr. Emmel nach Rostock von uns aus erst dann erfolgen, wenn für sie am dortigen Germanistischen Institut die Möglichkeit gegeben sei, sich durch die Diskussion mit einem marxistischen Germanisten, wissenschaftlich weiterzuentwickeln. Dies ist jetzt durch die Berufung von Herrn Epping, dem bisherigen Direktor der Arbeiter- und Bauernfakultät Dresden, nach Rostock der Fall. Im Hinblick auf die Bereitschaft von Dr. Emmel, an einer fortschrittlichen Entwicklung unserer Universitäten mitzuarbeiten, sollte man sie mit der Wahrnehmung einer Dozentur für Deutsche Literaturgeschichte betrauen. Erst nach Ablauf eines Studienjahres, wenn sie sich auch politisch und wissenschaftlich bewährt hat, soll sie zur wirklichen Dozentin ernannt werden. Wir bitten die Personalabteilung um Zustimmung. Flint.

Der Auftrag zur Wahrnehmung einer Dozentur für Deutsche Literaturgeschichte datiert vom 5. November 1951, die Ernennung zur Dozentin für Deutsche Literaturgeschichte folgte auf Intervention des Dekans Brum-

21

22

Fachliche Stellungnahme des Staatssekretariats für Hochschulwesen vom 15. September 1951, in: Archiv der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR [künftig Archiv der BStU] (MfS Allg. S. 1484/67), Blatt 000055–000056. Dort weitere, von der Staatssicherheit gesammelte Personalakten zu Hildegard Emmel. Emmel, Mörikes Peregrinadichtung.

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mer23 am 30. April 1952.24 Ihre Lehrtätigkeit war umstritten, aber gewiss nicht erfolglos, sondern fand Anklang. Allerdings lehnte sie den Marxismus-Leninismus als Grundlage der Literaturwissenschaft ab. Darüber beriet die SED-Abteilungsgruppe der Philosophischen Fakultät am 25. Oktober 1952; im Protokoll heißt es dazu:25 Popularität Dr. Schröders26 und Dr. Emmels besteht einmal durch außerordentlich geschickte und die Studenten blendende Vortragsweise. Vorlesungen von Frl. Dr. Emmel inhaltlich sehr schwach fundiert. [...] Gegensätze: Gen. Ebbing [korrekt: Epping] und Sielaff27 Literaturbetrachtung auf marxistischer Grundlage. Schröder: Ausgehen vom menschlichen Individuum der Persönlichkeit des Künstlers und seiner seelischen Struktur. Letzten Endes wird der Mensch in seinem Streben von anderen Mächten geleitet. Argumente der Bürgerlichen: 1) Letzte Erkenntnis unmöglich, ist uns verschlossen. 2) Der Marxismus mißachtet das Individuum und erklärt alle Erscheinungen in der menschlichen Gesellschaft mechanisch-materialistisch!! Dr. Düwel28 will Anschluss an die Genossen Sielaff und Epping halten und verbrämt zu diesem Zweck seine Vorlesungen mit einigen marxistisch-klingenden Phrasen. Besonders gefährlich, da ungeschulte Studenten leicht darauf hereinfallen können.

Im Januar 1953 führte die SED-Abteilungsgruppe schriftlich Beschwerde und verlangte die Abberufung Hildegard Emmels. Sie wandte sich direkt – und damit indirekt gegen die Universität und das Staatssekretariat – an Kurt Hager im Zentralkomitee der SED in einem ausführlichen Schreiben, das Walter Epping ergänzend kommentierte.29 Im Schreiben der SED-Abteilungsgruppe steht: 23 24 25

26 27 28 29

Catalogus Professorum Rostochiensium (Prof. Dr. Rudolf Brummer). Ebd. SED-Betriebsgruppe Universität, Abteilungsgruppe phil. Fak. (g)/Protokoll über die Leitungssitzung vom 25. 10. 1951, in: UAR (5.1, 376), Parteileitungssitzungen der Philosophischen Fakultät 1951–1963. Catalogus Professorum Rostochiensium (Prof. Dr. Walter Schröder). Catalogus Professorum Rostochiensium (Prof. Dr. Erich Sielaff). Prof. Dr. Hans Düwel wird später Mitglied der SED und auch nicht mehr als „gefährlich“ verdächtigt; vgl. Catalogus Professorum Rostochiensium (Prof. Dr. Hans Düwel). Schreiben der SED-Partei-Organisation, Universität Rostock, Abt.-Gruppe der phil. Fakultät, an das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Abt. Hochschule und Universitäten, z. H. des Gen. Prof. Kurt Hager vom 14. Januar 1953/Stellungnahme Walter Eppings vom 17. Januar 1953, in: UAR (1.12), Personalakte Hildegard Emmel, Blatt 20–21 und 22–23. Kurt Hager (1912–1988) war 1952–1955 Abteilungsleiter Wissenschaft im Zentralkomitee der SED, 1955–1989 Sekretär des Zentralkomitees. Vgl. Herbst/ Ranke/Winkler, DDR, S. 124–125.

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Werter Genosse! Nach reiflicher Überlegung wenden wir uns an Sie in einer Angelegenheit, die gegen Ende des 1. Abschnitts des laufenden Studienjahres Anlass zu einigen heftigen Diskussionen in der Fachschaft Germanistik gegeben hat und die unserem Erachten nach einer schnellen Klärung bedarf. Mit Beginn des Zehnmonatestudiums verstärkte sich auch an unserer Universität die ideologische Auseinandersetzung. Vor allem aber wurde die philosophische Fakultät und ganz besonders die Fachschaft Germanistik zu einem bis dahin nie gekannten Brennpunkt des ideologischen Kampfes. Den Genossen der Philosophischen Fakultät fiel eine besonders schwierige Aufgabe zu, da der weitaus grösste Teil der Studenten unter bürgerlichem Einfluss stand. [...] Im Herbst 1951, als wir mit vermehrtem Eifer das Zehnmonatestudium begannen, traf auch Fräulein Dr. Emmel in Rostock ein, um in der germanistischen Fachschaft ihre Lehrtätigkeit aufzunehmen. Soweit uns bekannt ist, kam sie aus Hamburg, wo ihre Habilitation nicht angenommen worden war. Heute, nach alledem, was vorgefallen ist, mutet es uns mehr als seltsam an, wie man sie so unbesehen mit einer Dozentur betrauen konnte. [...] Im Folgenden soll nun kurz auf die Auseinandersetzung vom 19. Dez. v. J. eingegangen werden, die in dieser betrüblichen Entwicklung der Dinge gewissermassen den Höhepunkt bildet. [...] Während der Behandlung der ‚Buddenbrocks‘ [sic] erklärte sie im weiteren Verlauf dieser Stunde, dass sie es ablehne, mit uns über irgendeine marxistische Interpretation zu ‚streiten‘. Als ein Jugendfreund in einem richtigen Zusammenhang von der ‚objektiven Gesetzmässigkeit‘ zu sprechen wagte, rief sie, das sei gänzlich falsch. Und schliesslich verstieg sie sich zu der unerhörten Behauptung, dass der Marxismus – den sie schon seit ihrem Abitur kenne (!) – in der Literaturwissenschaft abzulehnen sei und höchstens auf dem Gebiete der Gesellschaftswissenschaft Anwendung finden könne. Aber sie wisse ja, dass dieser Gegensatz kein persönlicher, sondern leider ein grosser weltanschaulicher sei. Während der ganzen Zeit ihres Wirkens hat Frl. Dr. Emmel in ihren Vorlesungen und Seminaren versucht, die Theorie der marxistischen Literaturwissenschaft sowie marxistische Anschauungen der Studenten überhaupt zu unterdrücken. In der letzten Auseinandersetzung mit ihr brachte sie klar zum Ausdruck, dass sie auch in Zukunft nicht gewillt sei, ihre intolerante Haltung aufzugeben. Wir haben dem nichts mehr hinzuzufügen und glauben, dass die Abberufung Frl. Dr. Emmels unerlässlich ist, zumal es sich in ihrem Fall nicht um eine Wissenschaftlerin handelt, an der wir eine qualifizierte Kraft verlieren würden, denn ein grosser Teil der Studenten mokiert sich über ihre mangelhafte fachliche Leistung.

Walter Epping fügte drei Tage später seinen Kommentar hinzu: Zum Bericht der Genossen Studenten bemerke ich als komm. Direktor der Abt. Neuere Literatur des Germanistischen Instituts: Dr. Emmel hat sich 1951 in Rostock habilitiert. Der damalige Referent im Staatssekretariat, Gen. Thalheim, hat sie auf ihre dringende Bitte in Rostock belassen, nachdem 1) ich mit der Wahrnehmung des Lehrstuhls beauftragt war,

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2) er sie energisch aufgefordert hatte, die Anwesenheit eines marxistischen Partners wahrzunehmen, 3) nur mit der Wahrnehmung der Dozentur. [...] Dr. Emmel ist sehr ehrgeizig und arrogant. Die qualitativen Mängel ihrer Vorlesung können nur in mangelhafter Vorbereitung ihre Erklärung finden. Ihre idealistische Einstellung hat sich zu bewusst antimarxistischer gesteigert. Ihre im Bericht wiedergegebenen Aussprüche beweisen mir, daß die Tatsache des Widerstands der Studenten gegen ihre Vorlesungen ihre Eitelkeit kränkt, und, da der Widerstand von Marxisten ausgeht, diese verletzte Eitelkeit sich in verschärften Antimarxismus umsetzt. Zur Zeit schädigt sie uns, 1. weil die Studenten – nach ihrer Angabe – nichts bei ihr lernen, was, wie oben gesagt, im vorigen Studienjahr noch anders war, 2. weil einige reaktionäre Elemente bei ihr eine Dissertation machen können, 3. weil eine nicht große Gruppe der Studenten des 2. Studienjahres noch immer unter ihrem Einfluß steht.

Reaktionen aus Berlin sind nicht überliefert. Da Hildegard Emmel nicht abberufen wurde, blieb der Streit innerhalb der Universität Rostock. Hier kam er in einer Sondersitzung der Philosophischen Fakultät am 5. Juni 1953 zu einem Höhepunkt. Hildegard Emmel wie Walter Epping legten ihre gegensätzlichen Standpunkte dar, hinzu kam eine Grundsatzerklärung des Parteisekretärs Bonnen.30 Auszüge aus dem Sitzungsprotokoll seien hier wiedergegeben:31 Frl. Dr. Emmel führte aus, dass sie nach 4-tägiger Überlegung zu grundsätzlicher Klarheit gelangt sei und ihre Stellungnahme schriftlich niedergelegt habe. Sie verlas darauf ihre Stellungnahme. Zunächst gab sie eine Analyse ihrer persönlichen und sachlichen Schwierigkeiten, wie sie sich aus dem dienstlichen und fachlichen Verhältnis zwischen ihr und Herrn Epping ergaben. Sie illustrierte diese Ausführungen durch Beispiele aus dem Lehrbetrieb. Die wesentlichen Schwierigkeiten sah sie darin, dass Herr Epping ohne Absolvierung der Promotion und Habilitation komm. Direktor der Abt, f. neuere deutsche Literaturgeschichte ist und für die wesentliche Fachausbildung des ersten und zweiten Studienjahres die Verantwortung trägt, während sie als promovierte und habilitierte Fachkraft in einer nicht gleichwertigen Stellung die folgenden Studienjahre betreut. Dadurch ergeben sich ausser den persönlichen Schwierigkeiten durch die im wesentlichen marxistische Literaturbetrachtung von Herrn Epping heftige Divergenzen, in die die Studierenden selbst über Gebühr hineingezogen werden. Sie hält sich durch die Verhaltensweisen von Herrn Epping sowohl ihr und auch ihren Studenten gegenüber beunruhigt und in ihrer Lehrfreiheit bedroht. 30 31

Zu Bonnen siehe: UAR (1.12), Personalakte Wilhelm Bonnen. Er ist geborenam 4.April 1925 und verstorben am 15. Juli 1988. Er war später Parteisekretär der Universität Halle. Protokoll der Sitzung der Philosophischen Fakultät am 5. Juni 1953, in: UAR (2.1.2, 4.1), Protokolle der Fakultätssitzungen 1945–1953.

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Frl. Dr. Emmel folgerte aus ihren bisherigen Konflikten mit Herrn Epping und mit Herrn Sielaff, dass ihr ein ‚bürgerliches Dogma‘ zum Vorwurf gemacht wird und sie aus ihrer Stellung vertrieben werden soll. Sie betrachtet sich als fachlich unverstanden und bezeichnet das ihr Widerfahrene als über jedes erträgliche Mass hinausgehend. Aus diesen Gründen hält sie die bisherige Lösung in der Abt. f. neuere deutsche Literaturgeschichte für eine weitere fachliche Arbeit für untragbar. Im Anschluss an die Ausführungen von Frl. Dr. Emmel erteilte Spect. Herrn Epping das Wort. Herr Epping gab darauf seine schriftlich niedergelegte Stellungnahme der Fak. zur Kenntnis. Er versuchte zunächst die Grundursachen der Gegensätze klarzulegen, bezeichnete die Kritik und Diskussion, denen Frl. Dr. Emmel immer wieder ausgewichen ist, als Hebel des Fortschrittes und forderte eine offene Fachdiskussion. Weiterhin führte er aus, dass die jugendliche Kritik immer radikal ist: Die von Frl. Dr. Emmel angeführten Berichte über ihre Lehrveranstaltungen an das ZK der SED sind deshalb erfolgt, weil sie sich auf keine Diskussion einliess. Ausserdem wies Herr Epping darauf hin, dass im Lehrbetrieb eine Planmässigkeit im Sinne der Studienordnung notwendig ist, Herr Epping bezeichnete Frl. Dr. Emmel als unbeherrscht und ohne jede Selbstkritik, Eigenheiten, die immer wieder zu den Konflikten mit den Studierenden geführt haben. Da die Erregung unter den Studenten sehr gross ist, wird eine Änderung unbedingt erforderlich sein. Schliesslich wies Herr Epping darauf hin, dass er trotz mehrfacher Versuche keine persönliche Verbindung zu Frl. Dr. Emmel erhalten hat. In der nun folgenden Diskussion bezeichnete Spect. seine bisherigen Versöhnungsversuche als gescheitert. Herr Prof. Hartke wies darauf hin, dass mit etwas Humor vieles leichter gewesen wäre. [...] Im weiteren Verlauf führte Herr Bonnen folgendes aus: Das ZK der SED ist die oberste Instanz der DDR. Es hat die Leitung der Arbeiterklasse übernommen. Niemand an der Universität wird eingestellt, der nicht von der SED überprüft wird. Die SED vertritt eine taktvolle und kameradschaftliche Einstellung zur alten Intelligenz. Die ideologische Haltung wird grundsätzlich nicht zum Vorwurf gemacht, allerdings wird loyales Verhalten des Wissenschaftlers gegenüber dem Marxismus gefordert. Diese Prinzipien müssen auch im Verhältnis von Frl. Dr. Emmel und Herrn Epping beachtet werden. Im Rahmen der bestehenden Übergangsschwierigkeiten ist ein taktvolles Verhalten von Marxisten und Nichtmarxisten notwendig. Aus diesem Grund auch der Wunsch, der SED, bei den Diskussionen über die Schwierigkeiten in der Fachrichtung Germanistik vertreten zu sein. Im Folgenden betonte Frl. Dr. Emmel ihre Loyalität gegenüber dem Marxismus und betonte ihr ernstes Interesse an den marxistischen Leistungen. Prof. Hartke forderte eine allseitige und dialektische Ansicht der vorliegenden Schwierigkeiten und bezeichnete die Einstellung von Frl. Dr. Emmel als zu dogmatisch. Herr Epping wies darauf hin, dass er im Bewusstsein seiner schiefen Lage als Hochschullehrer die ihm angetragene Stellung 3mal abgelehnt hat. Er sieht sein Bestreben in der Erarbeitung einer ernsthaften marxistischen Literaturwissenschaft. Herr Prof Teuchert verlangte eine Überprüfung der wissenschaftlichen Qualitäten von Herrn Epping.

Der Konflikt blieb unentschieden. Hildegard Emmel blieb im Amt, ja, sie betrachtete sich, wie sie in ihren Lebenserinnerungen schreibt, als Siege-

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rin.32 In der SED-Gruppe machten sich Resignation und Uneinigkeit breit. Hinzu kamen der ‚Neue Kurs‘ und die Ereignisse des 17. Juni 1953, die zu einigen Lockerungen im Kampf um die Wissenschaft führten. Die Leitung der SED-Grundorganisation der Philosophischen Fakultät kam am 19. September 1953 zu einer kritischen Einschätzung der Lage am Germanistischen Institut, in der es heißt:33 Für unsere Arbeit ergeben sich daraus einige wichtige Folgerungen, die am klarsten werden, wenn wir uns die Situation in den einzelnen Fachrichtungen bewusst machen. In der Germanistik hat Prof. Teuchert das Heft fest in der Hand. Genosse Epping hat ihm gegenüber einen schweren Stand, er musste sogar für die Durchführung seiner Übungen (Geschichte der Deutschen Literatur) einen uns nicht genehmen Assistenten akzeptieren. Das bedeutet, dass außer dem Genossen Epping noch kein Genosse in den Germanistischen Instituten arbeitet, und Prof. Teuchert tut alles, um – von der Personalfrage her gesehen – für uns die Arbeit zu erschweren. [...] Allerdings ist bis zu einem gewissen Grade diese Entwicklung auf die mangelnde Unterstützung durch das Staatssekretariat zurückzuführen, dem wir oft genug entsprechende Vorschläge unterbreitet haben.

Walter Epping übte gar vorsichtig Selbstkritik, als er in der Wahlversammlung der SED-Grundorganisation am 23. November 1953 zugab:34 Kritik trifft bei mir auf offene Tore. Bin in meiner Haltung gehemmt. War bisher stets in angesehener Stellung und wurde anerkannt. Hier an der Univ. ist das Gegenteil der Fall. Dadurch bin ich gehemmt. Ich gebrauche die Hilfe der Genossen Studenten. Sie sollen mir offen meine Fehler sagen.

Rückschauend legte zwei Jahre später Julius Halpern im Auftrag der Partei seine Sicht der Probleme am Germanistischen Institut dar und kritisierte dabei Walter Epping:35 Gen. Epping hat es versäumt, nach dem Scheitern seiner Versuche, den MarxismusLeninismus im Institut im Meinungsstreit durchzusetzen, die so geschaffene Situation selbstkritisch zu beurteilen; er hat vielmehr dieses Versagen der Haltung des ZK in dieser Frage zuzuschieben versucht. Eine ähnliche Haltung haben natürlich dann auch seine Schüler eingenommen und da diese wichtige leitende Funktionen 32 33

34 35

Emmel, Die Freiheit, S. 116–119. Einschätzung der Lage an der Philosophischen Fakultät und an ihren einzelnen Instituten, unterzeichnet von Werner Jahn, in: UAR (5.1, 375), Informationsberichte und Arbeitspläne der SED-Grundorganisation der Philosophischen Fakultät 1951–1963, S. 84. – Dr. Werner Jahn beging 1958 ‚Republikflucht‘ ; vgl. UAR (1.12), Personalakte Werner Jahn. Protokoll der Wahlversammlung am 23. 11. 1953, in: UAR (5.1, 373), Wahlversammlungen der SED-Grundorganisation der Philosophischen Fakultät 1951–1962, S. 4. Darlegung meiner Meinungen über die Ursachen der am Germanistischen Institut gegenwärtig bestehenden Schwierigkeiten und Konflikte, Rostock, den 6. Mai 1956, gez Dr. Julius Halpern, in: UAR (5.1, 398), Einzelne Parteigruppen der Sprach- und Literaturwissenschaften 1952–1969. Kritik an Walter Epping findet sich auch in: Beschluss der Parteigruppe Dozenten des Germanistischen Instituts über die Lage in der Parteigruppe und die Aufgaben zur Verbesserung der Parteiarbeit vom 21. Dezember 1956, ebd.

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in der Parteileitung einnahmen und noch einnehmen, so hat diese falsche Beurteilung der Lage Entmutigung und daraus entstehende Untätigkeit zur Folge gehabt.

Mängel an der wissenschaftlichen Qualifikation Walter Eppings hatte Hermann Teuchert als Fachrichtungsleiter bereits im Mai 1954 gegenüber dem Dekan der Philosophischen Fakultät moniert. Aber das blieb ohne Folgen. In aller Deutlichkeit äußerte sich Teuchert:36 Im Verfolg des eben berührten Falls bin ich genötigt, einen höchst bedenklichen Umstand zur Kenntnis zu bringen, daß nämlich die vier Studierenden des 2. Studienjahres, welche sich zur Zwischenprüfung über die angeführte Vorlesung [von Walter Epping] gemeldet haben, SED-Kandidaten sind, während alle übrige Studierende dieses Jahrgangs die Vorlesung der Dozentin Dr. Emmel über Geschichte der deutschen Literatur von 1789–1806 bevorzugen. Dieser Vorgang läßt darauf schließen, daß sich die vier Studierenden durch andere als pädagogische und wissenschaftliche Rücksichten zu ihrem Entschluß haben bestimmen lassen. Ein zweiter Fall weist in dieselbe Richtung. Meine Anordnung, daß Herr Epping den Zwischenprüfungen, welche Frl. Dr. Emmel abnimmt, beisitzen solle, hat bei den betroffenen Studierenden starke Unruhe ausgelöst und zur Bitte geführt, ohne Beisein des Herrn Epping geprüft zu werden. Es handelt sich um Studierende, welche im Jahre vorher den Unterricht des Herrn Epping genossen haben. Sie erklären, Nachteile fürchten zu müssen, wenn Herr Epping sehe, daß sie die Lehrmethoden des Frl. Dr. Emmel anwendeten. Die beiden Fälle bezeugen, daß sich die Unterrichts- und Vorlesungstätigkeit des Herrn Epping auf unsachliche Mittel stützen muß, wenn sie nach außen hin einen Anschein von Erfolg aufweisen soll. In diesen Zusammenhang gehören Äußerungen an die Studierenden im Unterricht und noch mehr außerhalb desselben, welche das Maß erlaubter wissenschaftlicher Kritik überschreiten und Mißstimmung gegen Frl. Dr. Emmel wecken, ja sogar das übliche Verfahren der Fakultät in Promotionsangelegenheiten zu stören geeignet sind. Nicht nur wird durch solche Einwirkungen Zwist unter den Studierenden erzeugt und die ruhige Arbeit in der Fachrichtung gehemmt, sondern andererseits ist auch der Urheber dieser außerwissenschaftlichen Betriebsamkeit an der Ausnützung der Zeit für seine eigene wissenschaftliche Fortbildung gehindert. Die vielen erheblichen Lücken seines Wissens durch fleißiges Studium auszufüllen und die Vorlesungen sorgfältig vorzubereiten hätte Herr Epping doch allen Grund. Zu diesen Mängeln im Unterricht und in der Erziehung kommt nun der bedeutsame Umstand, daß noch immer der Nachweis wissenschaftlicher Leistung und Forschung aussteht. Es ist auch nicht ein einziges Thema bekannt, mit dem sich Herr Epping eingehender befaßte oder das er gar zu untersuchen willens wäre. So fasse ich zusammen: Der Fachrichtung Germanistik ist mit Herrn Epping keine repräsentative Persönlichkeit geschenkt worden, vielmehr ist offenbar, daß er überhaupt nicht das Niveau eines wissenschaftlichen Lehrers und Forschers besitzt. Seine Vorzüge mögen sich in andern Verhältnissen verwerten lassen, an der Universität kommen sie nicht zur Geltung. 36

Schreiben des Fachrichtungsleiters Germanistik, Prof. H. Teuchert, an den Dekan über Walter Epping vom 10. Mai 1954, ebd. Bezeichnenderweise befindet sich die Durchschrift dieses Briefes in den Parteiakten.

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Unter diesen Umständen mochte sich Hildegard Emmel siegreich fühlen. Der Dekan der Philosophischen Fakultät, Werner Hartke – selbst SEDMitglied –, schlug am 15. November 1954 dem Staatssekretariat für Hochschulwesen vor, anstelle des vorgesehenen Erich Kühne37 nunmehr Hildegard Emmel zum Professor mit vollem Lehrauftrag zu berufen. Dabei mögen auch Differenzen innerhalb der SED-Arbeitsgruppe eine Rolle gespielt haben38, aber Dekan Hartke begründete seinen Vorschlag mit hohem Lob:39 Frau Dr. Emmel ist eine gute Lehrerin. Ihre Vorlesungen zeichnen sich durch klaren Aufbau, reichen Inhalt und fesselnden Vortrag aus. In den Übungen versteht sie es die Aufmerksamkeit auf die wesentlichen Züge hinzulenken, durch geschickte Fragen die Mitarbeit anzuregen und die Freude an dem Wachsen der eigenen Fähigkeit zu wecken. Unterstützt wird dieser Lehrerfolg durch menschliches Verständnis für ihre Schüler.

Protest erhob zwei Mal die Kaderabteilung der Universität in Schreiben an das Staatssekretariat, am 23. November und am 6. Dezember. Die Begründung in letzterem lautet: Die Kaderabteilung der Universität Rostock ist der Meinung, dass Frau Dr. Emmel nicht die Voraussetzungen hat, um zum Prof. m[it] v[ollem] Lehrauftrag berufen zu werden. Die Studenten, die unter ihrem Einfluß stehen, arbeiten mit den fortschrittlichen Studenten nicht zusammen. Ihre Mitarbeit in der Fakultät ist nicht gut. Sie steht meistens bei irgendwelchen Problemen innerhalb der Fakultät in Opposition. [...] Ihre ganze Haltung ist zumindest undurchsichtig. Die Literaturwissenschaft bringt sie in ihren Vorlesungen einseitig mit der imperialistischen Ideologie. Sie ist Rainer Maria Rilke-Anhängerin. Um fortschrittliche Schriftsteller zu behandeln, hat sie keine Zeit, sie erwähnt höchstens Lukatsch [sic].40 (Krebs) Leiter der Kaderabteilung

Immerhin führte der Einspruch zu einer Verzögerung der Berufung um ein Jahr. Schließlich legte der Abteilungsleiter für die Philosophischen und Theologischen Fakultäten Kortum in einem Schreiben an den Staatssekretär, Gerhard Harig41, am 21. Dezember 1955 dar42: 37 38 39

40 41 42

Catalogus Professorum Rostochiensium (Prof. Dr. Erich Ludwig Kühne). Akten dazu in UAR (5.1, 398), Einzelne Parteigruppen der Sprach- und Literaturwissenschaften 1952–1969. Schreiben von Dekan Prof. Dr. Hartke an das Staatssekretariat für Hochschulwesen, Vorschlag alternativ für Dr. Kühne Frau Dr. Hildegard Emmel zum Professor mit vollem Lehrauftrag zu ernennen, in: Archiv der BStU (MfS Allg. S. 1484/67), Blatt 000085–000086. Georg Lukács 1885–1971. Gerhard Harig (SED), 1951–1957 Staatssekretär für Hochschulwesen. Herbst/Ranke/ Winkler, DDR, S. 675. Schreiben von Abteilungsleiter Kortum, Staatssekretariat für Hochschulwesen, Abt. Phil.

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Obwohl Frau Dr. Emmel nicht auf dem Boden des dialektischen und historischen Materialismus steht, liegt infolge ihrer wissenschaftlichen Publikationen und ihres pädagogischen Könnens kein Grund vor, den nunmehr vor einem Jahr von der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock gestellten Antrag abzulehnen.

Die Ernennung geschah zum 1. Januar 1955.43 Im Jahr darauf wurde Hildegard Emmel sogar als Professor mit Lehrauftrag für Deutsche Philologie, insbesondere Neuere Deutsche Literaturgeschichte an die Universität Greifswald berufen. Das Staatssekretariat für Hochschulwesen44 hielt Neuberufungen in Greifswald für erforderlich, um: die am Institut für Deutsche Philologie bestehenden unerträglichen Verhältnisse, die aus dem Gegensatz zwischen Prof. Dr. Tschirch und Prof. Dr. Markwardt entstanden sind, zu beseitigen. Durch diese Berufungen und durch die Berufung von Dr. Geerdts zum Dozenten für Neuere und Neueste Literaturgeschichte sowie durch personelle Veränderungen auch unter den Assistenten soll zugleich eine Verbesserung der politisch-erzieherischen Situation erreicht werden.

Die Berufung folgte am 28. August 1956. Doch sollte sich das Blatt bald wieder wenden. Auf der Grundlage ihrer Arbeiten am „Goethe-Wörterbuch“ schrieb Hildegard Emmel ein Buch über Goethes Weltbild.45 Darin kam sie zum Ergebnis, dass in Goethes Dichtung der Begriff „Welt“ häufig negativ konnotiert ist, mithin von einfachem Optimismus weit entfernt. Dieses durch empirische Forschung erreichte Resultat passte nicht in das marxistische Goethe-Bild eines fortschrittlichen bürgerlichen Künstlers, der in unbeschränktem Optimismus auf der richtigen Seite des Klassenkampfes stand. In Greifswald wurde geradezu eine Protestlawine losgetreten, die am 9. Mai 1958 zu einer an Schauprozesse erinnernde Veranstaltung im Kulturbund46 führte und am 14. Mai 1958 im Beschluss der Philosophischen Fakultät gipfelte, die Abberufung Hildegard Emmels zu fordern. Dekan Liewehr teilte drei Tage später dem Staatssekretariat mit:47

43 44

45 46 47

Theol. Fak., an den Herrn Staatssekretär, Prof. Dr. Harig, vom 21. Dezember 1955, in: Archiv der BStU (MfS Allg. S. 1484/67), Blatt 000089. Ebd., Blatt 000056 und UAR (1.12), Personalakte Hildegard Emmel, Blatt 50. Staatssekretariat für Hochschulwesen, Abt. Phil. Theol. Fak., Abt. Philosophische und Theologische Fakultäten, Sachbearbeiter Grunert, Ruth Müller, Berufungsvorschlag vom 31. Juli 1956 (Durchschlag), in: Archiv der BStU (MfS Allg. S. 1484/67), Blatt 000096–000097. Emmel, Weltklage. Ausführliche Schilderung in: Emmel, Die Freiheit, S. 132–136, 138–139. Schreiben des Dekans der Philosophischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität an das Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen über Seine Magnifizenz den Rektor (Original), in: Archiv der BStU (MfS Allg. S.  1484/67), Blatt 000105. Am gleichen Tag erschien in der Ostsee-Zeitung ein Artikel gegen Hildegard Emmel unter der Überschrift „Gegen Verfälschung des Goethe-Bildes. Literaturbetrachtung nur vom Standpunkt der Arbeiterklasse möglich“ (Emmel, Die Freiheit, S. 133).

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Der Rat der Philosophischen Fakultät hat in seiner ausserordentlichen Sitzung vom 14. 5. 1958 nach ausführlicher Debatte mit 16 Stimmen bei 1 Gegenstimme (Frau Prof. Emmel) beschlossen, dem Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen folgende Empfehlung bzg. Frau Prof. Emmel zu unterbreiten. ‚Frau Prof. Emmel verfügt nicht über die notwendige wissenschaftliche und politische Qualifikation, um Deutschlehrer für die sozialistische Praxis ausbilden zu können. Sie hat in den ständig mit ihr geführten Diskussionen die Ratschläge und die Hilfe der Partei der Arbeiterklasse abgelehnt und sich in ihrem Auftreten an der Philosophischen Fakultät und im Kulturbund würdelos und unmoralisch verhalten. Daher schlägt der Rat der Philosophischen Fakultät dem Staatssekretariat vor, Frau Prof. Emmel von der Lehrtätigkeit zu entbinden.‘

So geschah es. Sie verlor die Professur, behielt aber noch die Bezüge. Ihre Verhandlungen mit dem Staatssekretariat über eine angemessene Beschäftigung anderswo führten zu keinem für sie akzeptablen Ergebnis. Zwar räumte der Stellvertreter des Staatssekretärs Harder in seinem Schreiben an Kurt Hager vom 17. März 1960 ein:48 „Es war nicht richtig, in den Beschluss des Rates der Fakultät von 1957 solche Formulierungen wie ‚würdelos und unmoralisch‘ aufzunehmen.“ Eine Rücknahme sei aber nicht möglich. Den Vorschlag, eine Professur in Weimar an der dortigen „Forschungs- und Gedenkstätte der Klassischen Deutschen Literatur“ zu übernehmen, fand Hildegard Emmel, wie sie in ihrem Abschiedsbrief an ihre Haushälterin in Greifswald ausdrückte „unannehmbar und die mir dort angebotene Arbeit nicht zumutbar“. Sie fuhr fort:49 Weil ich überzeugt war, es käme keine Einigung zwischen der Regierung und mir mehr zustande, beantragte ich im Januar 1960 die legale Ausreise nach Westdeutschland. Als Antwort auf meinen Antrag wiederholte die Regierung nur immer wieder das Weimar-Angebot, das im Grunde eine Falle war. Ich wäre in Weimar in noch viel schlimmere Konflikte gekommen als in Greifswald. Direktor Holtzhauer50, der Leiter des Instituts in Weimar, in dem ich Handschriften inventarisieren sollte, hat im Februar 1958 den Kampf gegen mich eröffnet. Es besteht kein Zweifel, daß ich nur nach Weimar sollte, damit er mich zur Strecke bringen konnte.

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Stellv. des Staatssekretärs Harder an Kurt Hager, ZK der SED: Bericht über ein weiteres Gespräch mit Hildegard Emmel in ihrer Wohnung in Greifswald am 15. März 1960 mit dem Germanistik-Referenten, Genosse Dr. Wagner, in: Archiv der BStU (MfS Allg. S. 1484/67), Blatt 000142. Abschrift des Briefes von Hildegard Emmel an ihre Haushälterin vom 6. Juni 1960, ebd., Blatt 000146–000147. Mit dem Vermerk: „Abschrift an Gen. Hager und Hörnig gesandt.“ – Johannes Hörnig, 1955–1989 Abteilungsleiter Wissenschaften im Zentralkomitee der SED. Herbst/Ranke/Winkler, So funktionierte die DDR, S. 145. Helmut Holtzhauer:  1912–1973. Zu Holtzhauer vgl. auch den Beitrag von Jochen Golz. Vgl. Holtzhauer, Vorwort. Siehe auch: Emmel, Die Freiheit, S. 128: Helmut Holtzhauer eröffnete die Pressekampagne gegen Hildegard Emmel mit einem Artikel im Neuen Deutschland am 19. Februar 1958.

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Da ihr Antrag auf legale Ausreise nicht genehmigt wurde, befürchtete sie die Verhaftung wegen Gefahr der Republikflucht und verließ Anfang Juni 1960 die DDR ohne Genehmigung.51 In Rostock mochte ihr Widersacher, Walter Epping, triumphieren. Er erhielt am 12. Januar 1960 mit Wirkung vom 1. September 1959 an den Titel eines Professors durch das Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen verliehen.52 Für bürgerliche, nichtmarxistische Literaturwissenschaft gab es keinen Raum mehr. Die Zweite Hochschulreform war nicht nur formal, sondern nun auch inhaltlich – gemessen an den beiden Kontrahenten – durchgeführt. Das entsprach durchaus den Forderungen des am 9. Juli 1958 vom Zentralkomitee der SED übersandten Grundsatzpapier über die „Rolle und Aufgaben der Germanistik beim Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik“, in dem es unter Punkt V. heißt:53 Die großen Aufgaben im Kampf um die sozialistische Umgestaltung der Germanistik erfordern von den Parteiorganisationen an den germanistischen Ausbildungs- und Forschungsstätten eine entschiedene Änderung ihrer Arbeitsweise. Die zentrale Aufgabe aller Genossen ist die feste Aneignung des Marxismus-Leninismus und seine ständige Anwendung in der Praxis des politischen Kampfes und der wissenschaftlichen Arbeit. Deshalb muss in den Parteigruppen eine Atmosphäre des Studiums des dialektischen und historischen Materialismus geschaffen werden. Die Parteiorganisationen müssen hartnäckig und geduldig für die Durchsetzung des Marxismus-Leninismus in der Germanistik kämpfen und alle Erscheinungen des Revisionismus energisch zurückweisen. Sie müssen gemeinsam mit den FDJ-Grundeinheiten und Gewerkschaftsorganisationen die Erziehung sozialistischer Germanisten fördern, systematisch und geduldig um die feste Gewinnung der parteilosen Intelligenz für den sozialistischen Aufbau und für die Mitarbeit bei der sozialistischen Umgestaltung der Germanistik ringen. 51

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Ein kritisches Resümee der Angelegenheit zog in einer Aktennotiz Dr. Frank Wagner, im Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen der Hauptreferent im Sektor Philosophische Fakultät für Germanistik, am 3. Juli 1960: „Die Angelegenheit Emmel ist zu einer politischen Affäre geworden, die für uns von Schaden ist.“ Siehe: Archiv der BStU (MfS Allg. S. 1484/67), Blatt 000148. Nach eigener Angabe umfasste sein Schriftenverzeichnis um 1970 zwei Aufsätze und drei Buchbesprechungen. Fragebogen u. a. zu Veröffentlichungen, in: UAR (1.12), Personalakte Walter Epping, Teil II, Blatt 21, 28, 41. – Epping, Stifters Revolutionserlebnis, S. 246–260; Epping, Adalbert Stifters „Witiko“ und das Legitimitätsprinzip, S. 199–204. Das Urteil im erstgenannten Beitrag (S. 255) lautet: Stifter „folgt der Regierung getreulich in die Restauration und Reaktion.“ Schreiben der SED, Zentralkomitee an die Parteiorganisation der SED der Universität Rostock vom 9. Juli 1958, in: UAR (5.1, 398). Das Schreiben ist eine Bitte um Stellungnahme über die „Rolle und Aufgaben der Germanistik beim Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik“.

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Die Zweite Hochschulreform, so unser Resümee, war der Versuch, die Effektivität der Hochschulen zu steigern und durch verlängerte Studienzeiten eine intensivere Ausbildung der Studierenden zu erlangen. Das ist die formale Ebene. Inhaltlich galt es, insbesondere die geisteswissenschaftlichen Fächer in den Rahmen des Marxismus-Leninismus einzuspannen, und nach und nach die bürgerliche Wissenschaft zu verdrängen mit den Mitteln, die zur Verfügung standen. Die Dritte Hochschulreform schließlich sollte die Universitäten in die ökonomischen Bedürfnisse der Gesellschaft einbinden, aber das ist ein anderes Thema.

Literaturverzeichnis 1. Quellen Archivalien der BStU (BStU = Bundesbeauftragte für Stasi-Unterlagen; UAR = Universitätsarchiv Rostock; wenn die Archivakte keine Seiten- oder Blattzählung enthält, entfällt eine entsprechende Angabe) Archivakten der BStU, Zweigstelle Rostock Abschrift des Briefes von Hildegard Emmel an ihre Haushälterin vom 6. Juni 1960, in: Archiv der BStU (MfS Allg. S. 1484/67), Blatt 000146– 000147. Fachliche Stellungnahme des Staatssekretariats für Hochschulwesen vom 15. September 1951, in: Archiv der BStU (MfS Allg. S. 1484/67), Blatt 000055–000056. Resümee von Dr. Frank Wagner, im Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen der Hauptreferent im Sektor Philosophische Fakultät für Germanistik, am 3. Juli 1960, in: Archiv der BStU (MfS Allg. S. 1484/67), Blatt 000148. Schreiben von Abteilungsleiter Kortum, Staatssekretariat für Hochschulwesen, Abt. Phil. Theol. Fak., an den Herrn Staatssekretär, Prof. Dr. Harig, vom 21. Dezember 1955, in: Archiv der BStU (MfS Allg. S. 1484/67), Blatt 000089. Schreiben des Dekans der Philosophischen Fakultät der Ernst-MoritzArndt-Universität an das Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen über Seine Magnifizenz den Rektor (Original), in: Archiv der BStU (MfS Allg. S. 1484/67), Blatt 000105.

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Kersten Krüger

Schreiben von Dekan Prof. Dr. Hartke an das Staatssekretariat für Hochschulwesen, Vorschlag alternativ für Dr. Kühne Frau Dr. Hildegard Emmel zum Professor mit vollem Lehrauftrag zu ernennen, in: Archiv der BStU (MfS Allg. S. 1484/67), Blatt 000085–000086. Staatssekretariat für Hochschulwesen, Abt. Phil. Theol. Fak., Abt. Philosophische und Theologische Fakultäten, Sachbearbeiter Grunert, Ruth Müller, Berufungsvorschlag vom 31. Juli 1956 (Durchschlag), in: Archiv der BStU (MfS Allg. S. 1484/67), Blatt 000096–000097. Stellv. des Staatssekretärs Harder an Kurt Hager, ZK der SED: Bericht über ein weiteres Gespräch mit Hildegard Emmel in ihrer Wohnung in Greifswald am 15. März 1960 mit dem Germanistik-Referenten, Genosse Dr. Wagner, in: Archiv der BStU (MfS Allg. S. 1484/67), Blatt 000142.

Archivalien des UAR Beschluss der Parteigruppe Dozenten des Germanistischen Instituts über die Lage in der Parteigruppe und die Aufgaben zur Verbesserung der Parteiarbeit vom 21. Dezember 1956, in: UAR (5.1, 398), Einzelne Parteigruppen der Sprach- und Literaturwissenschaften 1952–1969. Darlegung meiner Meinungen über die Ursachen der am Germanistischen Institut gegenwärtig bestehenden Schwierigkeiten und Konflikte, Rostock, den 6. Mai 1956, gez Dr. Julius Halpern, in: UAR (5.1, 398), Einzelne Parteigruppen der Sprach- und Literaturwissenschaften 1952– 1969. Einschätzung der Lage an der Philosophischen Fakultät und an ihren einzelnen Instituten, unterzeichnet von Werner Jahn, in: UAR (5.1, 375), Informationsberichte und Arbeitspläne der SED-Grundorganisation der Philosophischen Fakultät 1951–1963, S. 84. Entschließung der SED Abteilungsgruppe Philosophische Fakultät vom 16. 2. 1951, in: UAR (5.1, 373), Wahlversammlungen der SED-Grundorganisation der Philosophischen Fakultät 1951–1962. Handschriftlicher Rechenschaftsbericht vom 10. Oktober 1951, in: UAR (5.1, 373), Wahlversammlungen der SED-Grundorganisation der Philosophischen Fakultät 1951–1962, Blatt 12. Protokolle der Fakultätssitzungen, in: UAR (2.1.2, 1.1), Fakultätsleitung, Bd. 1 1945–1960.

Die Zweite Hochschulreform in der Rostocker Germanistik

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Protokoll der Sitzung der Philosophischen Fakultät am 5. Juni 1953, in: UAR (2.1.2, 4.1), Protokolle der Fakultätssitzungen 1945–1953. Protokoll der Wahlversammlung am 23. 11. 1953, in: UAR (5.1, 373), Wahlversammlungen der SED-Grundorganisation der Philosophischen Fakultät 1951–1962, S. 4. Rechenschaftsbericht über die Parteiarbeit 1951 / Entschließung der SED Abteilungsgruppe Philosophische Fakultät vom 16. 2. 1951 / Rechenschaftsbericht vom 10. 10. 1951 / Entschließung vom Herbst 1951, in: UAR (5.1, 373), Wahlversammlungen der SED-Grundorganisation der Philosophischen Fakultät 1951–1962. Rundschreiben des Dekans Hartke 1947, in: UAR (2.1.2.260), Lehrbetrieb, Bd. 1 1947–1956. Schreiben des Dekans Hartke vom 16. Juni 1951 an den Rektor betr. Besuch der Referenten des Staatssekretariats, in: UAR (2.1.2,1.1), Fakultätsleitung, Bd. 1 1945–1960. Schreiben des Fachrichtungsleiters Germanistik, Prof. H. Teuchert, an den Dekan über Walter Epping vom 10. Mai 1954, in: UAR (5.1, 398), Einzelne Parteigruppen der Sprach- und Literaturwissenschaften 1952– 1969. Schreiben der SED-Partei-Organisation, Universität Rostock, Abt.-Gruppe der phil. Fakultät, an das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Abt. Hochschule und Universitäten, z. H. des Gen. Prof. Kurt Hager vom 14. Januar 1953 / Stellungnahme Walter Eppings vom 17. Januar 1953, in: UAR (1.12), Personalakte Hildegard Emmel, Blatt 20–21 und 22–23. Schreiben der SED, Zentralkomitee an die Parteiorganisation der SED der Universität Rostock vom 9. Juli 1958, in: UAR (5.1, 398). SED-Betriebsgruppe Universität, Abteilungsgruppe phil. Fak. (g) / Protokoll über die Leitungssitzung vom 25. 10. 1951, in: UAR (5.1, 376), Parteileitungssitzungen der Philosophischen Fakultät 1951–1963. Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats für das Fach Germanistik am Sonnabend, 16.4.55 von 10.30 Uhr an im Sitzungssaal 1 des Staatssekretariats für Hochschulwesen, in: UAR (2.1.2, 260), Lehrbetrieb, Bd. 1 1947–1956. Stundenplan der Germanistik im Frühjahrssemester 1953, in: UAR (2.1.2, 260). UAR (1.12), Personalakte Wilhelm Bonnen. UAR (1.12), Personalakte Walter Epping, Teil II. UAR (1.12), Personalakte Hildegard Emmel.

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UAR (1.12), Personalakte Werner Jahn. Wohlgemut, Franz: Tradition und Wirklichkeit der Studienreform, in: Müller, Fritz: Tradition und neue Wirklichkeit der Universität. Festschrift für Professor Dr. jur. Dr. phil. h.c. Erich Schlesinger zu seinem 75. Geburtstage, Rostock 1955/56 (= Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock 1955/56, Sonderheft 5), S. 113–124.

Forschung Emmel, Hildegard: Mörikes Peregrinadichtung und ihre Beziehung zum Noltenroman, Weimar 1952. Emmel, Hildegard: Weltklage und Bild der Welt in der Dichtung Goethes, 2. Aufl., Bern 1979. Emmel, Hildegard: Die Freiheit hat noch nicht begonnen. Zeitgeschichtliche Erfahrungen seit 1933. Bilder eines Lebens in Frankfurt/Main, Rostock und Greifswald, Holland, Norwegen, USA, Ankara, Jerusalem und anderswo, Rostock 1991. Epping, Walter: Stifters Revolutionserlebnis, in: Weimarer Beiträge. Studien und Mitteilungen zur Theorie und Geschichte der deutschen Literatur, Heft 3 (1955), S. 246–260. Epping, Walter: Adalbert Stifters „Witiko“ und das Legitimitätsprinzip, in: Müller, Fritz: Tradition und neue Wirklichkeit der Universität. Festschrift für Professor Dr. jur. Dr. phil. h.c. Erich Schlesinger zu seinem 75. Geburtstage, Rostock 1955/56 (= Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock 1955/56, Sonderheft 5), S. 199–204. Holtzhauer, Helmut: Vorwort, in: Die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur in Weimar, 3. Aufl., Weimar [ca. 1973], S. 3–6.

2. Forschungsliteratur Catalogus Professorum Rostochiensium: http://cpr.uni-rostock.de/ (10.08.2009). Geschichte der Universität Rostock 1419–1969. Festschrift zur Fünfhundertfünfzig-Jahr-Feier der Universität, Bd. 2: Die Universität von 1945–1969, Berlin 1969.

Die Zweite Hochschulreform in der Rostocker Germanistik

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Handschuck, Martin: Auf dem Weg zur sozialistischen Hochschule. Die Universität Rostock in den Jahren 1945 bis 1955, Bremen 2003 (= Quellen und Studien aus den Landesarchiven Mecklenburg-Vorpommerns 6). Herbst, Andreas / Ranke, Winfried / Winkler, Jürgen: So funktionierte die DDR. Bd. 2. Lexikon der Organisationen und Institutionen, Reinbek 1994 (= Rororo Handbuch). Herzig, Jobst / Trost, Catharina: Die Universität Rostock 1945–1946. Entnazifizierung und Wiedereröffnung, Rostock 2008 (= Rostocker Studien zur Universitätsgeschichte 6). Höhle, Thomas: Ernst Hadermann 1896–1968. Rede auf der akademischen Trauerfeier der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg am 26. März, Halle/Wittenberg 1969 (= Hallesche Universitätsreden N.F. 37). König, Christoph (Hg.): Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Bd. 1–3. Berlin / New York 2003. Müller, Egon / Müller, Marianne: „... stürmt die Festung Wissenschaft!“ Die Sowjetisierung der mitteldeutschen Universitäten seit 1945, Berlin 1953. Rektor der Universität Rostock (Hg.): Mögen viele Lehrmeinungen um die eine Wahrheit ringen. 575 Jahre Universität Rostock, Rostock 1994.

Arnd Beise

Kunst und Wissenschaft im Dialog: die Universität im Theater Peter Weiss, Manfred Haiduk und das Volkstheater unter Hanns Anselm Perten

Vor etwas über vierzig Jahren, am 3. April 1968, erschien in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ein Artikel Günther Rühles (* 1924) über die ostdeutsche Erstaufführung von Peter Weiss’ „Viet Nam Diskurs“. Rühle nannte darin Weiss nun „endgültig“ den „Hausautor“ des Rostocker Volkstheaters: „Er ist dem Volkstheater, was Max Frisch für das Zürcher Schauspielhaus ist“.1 Das war etwas übertrieben; immerhin fand keine Uraufführung eines Weiss-Stücks in Rostock statt, sieht man einmal von der „Ermittlung“ ab, die am 19.  Oktober 1965 an vierzehn west- und ostdeutschen Theatern gleichzeitig Uraufführung hatte. Aber der „Viet Nam Diskurs“ war bereits die sechste Rostocker Erstaufführung eines Weiss-Dramas in der DDR, und es sollten bis Mitte der achtziger Jahre noch weitere vier Stücke folgen. In Rostock war Peter Weiss immer präsent, selbst wenn es keine neuen Stücke aufzuführen gab. Auch zum 60., 65. und 70.  Geburtstag des Schriftstellers (1976, 1981, 1986) veranstaltete das Volkstheater Peter Weiss-Abende oder -Matineen. Die enge Verbundenheit von Peter Weiss (1916–1982) mit dem Rostocker Volkstheater datierte aus dem Jahr 1965 und dauerte ein gutes Jahr1

Rühle, Günther: Rezension in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ 3. April 1968 über die ostdeutsche Erstaufführung von Peter Weiss’ „Viet Nam Diskurs“, in: Peter-Weiss-Archiv/ Stiftung Archiv der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg (= PWA) (Sammlung Haiduk), Mappe 47. Peter Weiss selbst soll im Januar 1976 in einem Interview des schwedischen Fernsehens geäußert haben: „Das Volkstheater Rostock ist das Weiss-Theater, so wie das Berliner Ensemble seit Jahrzehnten als das Brecht-Theater gilt.“ Vgl. Haiduk, Peter Weiss und das Volkstheater Rostock, S. 18; sowie die Äußerungen von Helga Thieme in: Redieck/ Schade, Theater!, S. 142.

Kunst und Wissenschaft im Dialog: die Universität im Theater

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zehnt. Sie war das Verdienst im Wesentlichen zweier Rostocker, die Weiss das Gefühl gaben, hier künstlerisch quasi zu Hause zu sein: nämlich des Theatermannes Hanns Anselm Perten (1917–1985) und des Wissenschaftlers Manfred Haiduk (* 1929).

1. Bleiben wir zunächst im Theater: Hanns Anselm Perten war ein „Freund der Autoren beider deutscher Staaten“, wie es Rolf Hochhuth (* 1931), der wie Peter Weiss zu den Lieblingen Pertens gehörte, 1985 ausdrückte. Und nicht nur das: Auch Autoren wie der US-Amerikaner Tennessee Williams (1911–1983), verschiedene lateinamerikanische Autoren oder die Schweizer Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) und Max Frisch (1911–1991) wurden Dank Perten in der DDR gespielt. Perten war literarisch außergewöhnlich gebildet. Hochhuth meinte, er hätte noch nie einen „Intendanten getroffen, […] der annähernd über Pertens Belesenheit verfügt hätte“ und derart „souverän die dramatische Weltliteratur im Kontext der Literatur überhaupt, ja der Kultur auch ferner Völker einschätzen“ konnte. Und Perten war nach Hochhuths Einschätzung nach dem Tod Bertolt Brechts (1898–1956) der „stilbildende Anreger für Theater-Autoren“, und nach dem Tod Erwin Piscators (1893–1966) „der Repräsentant des politischen Theaters“ im deutschen Sprachraum „überhaupt“. Und außerdem war Perten gewissermaßen ein theatralisches Pendant zu Weiss’ Verleger Siegfried Unseld (1924–2002), der einmal sagte, er würde keine Bücher, sondern Autoren verlegen. Auch Perten „nahm sich nicht nur einzelner Stücke an, sondern der ganzen Arbeit eines Autors“, wie Hochhuth rühmend festhielt; und er war wie Unseld auch risikofreudig, wenn er den Eindruck hatte, dass sich die Sache „qualitativ“ lohnen würde. „Perten hätte es für unter der Würde des Volkstheaters gehalten: vorsichtig abzuwarten, ob ein Stück […] ein ‚Erfolg‘ wird – und sich erst dann zu entscheiden, ob er es in den Spielplan aufnehmen solle. Er ging voran“.2 Perten war 1952 als Nachfolger Heinrich Allmeroths (1900–1961) 35-jährig Generalintendant des Volkstheaters geworden.3 In relativ kurzer Zeit brachte er es soweit, dass die Rostocker Bühnen (in den besten Jahren hatte man sieben Spielstätten zur Verfügung) in der DDR als „uraufführungsgeil[es]“ ‚Exquisit‘-Theater galten, also als Spezialbühne, die man auch schon einmal als „Lizenzbühne für Westdramatik“ verunglimpf2 3

Hochhuth, Hanns Anselm Perten. Zu Pertens Biografie vgl. Pietschmann, Hanns Anselm Perten.

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te.4 Daher war es kein Wunder, dass sich Perten, der wegen seines schwierigen, weil autoritären Charakters5, seiner beeindruckenden Statur, seiner ungeheuren Bildung und seiner Biographie – er war als Jungkommunist von den Nazis bald nach der ‚Machtergreifung‘ ins KZ gebracht worden und überlebte nur durch schwere Verwundung den Krieg; er galt „als disziplinierter Kommunist“, der „den Anweisungen der Partei bedingungslos Folge leistete“6 – kaum angreifbar schien, obwohl er permanenten WestKontakt hielt, für das beste Stück der westdeutschen Theatersaison 1964/65 interessierte, übrigens noch bevor die Westberliner Uraufführung von Peter Weiss’ „Marat/Sade“ von „Theater heute“ zur Aufführung des Jahres gewählt wurde. Perten war nicht so dumm, die Aufführung eines Stücks, das dem Berliner Ensemble angeboten worden war, aber von Elisabeth Hauptmann (1897–1973) angeblich als konterrevolutionäres Machwerk bezeichnet und von Helene Weigel (1900–1971) abgelehnt wurde7, einfach so auf den Spielplan in Rostock zu nehmen, obwohl er sofort sah, dass es sich um eines der Hauptwerke der deutschsprachigen Nachkriegsdramatik handelte. Um das Stück spielen zu können, versicherte er sich unzweifelhafter Bundesgenossen, nämlich des wissenschaftlichen Beistands der Universität vor Ort. Er fragte auf Vorschlag Herbert Lucks, des Sekretärs für kulturelle Angelegenheiten des Bezirks Rostock8, den 35-jährigen Literaturgeschichtsdozenten Manfred Haiduk, ob man „Marat/Sade“ auch in der DDR inszenieren könnte. Haiduk antwortete: Man könne es nicht nur, man müsse es sogar.9 Das war, was Perten hören wollte! Um aber sicher zu gehen, fragte er Haiduk, ob er sich an der konzeptionellen Vorbereitung beteiligen würde. Natürlich war Haiduk dazu bereit, schlug aber aus Sorge vor der Arbeitsbelastung vor, den Kollegen Hans-Joachim Bernhard (* 1929) mit ins Boot zu nehmen. Ein gutes halbes Jahr, nicht nur, was die konzeptionelle Vorbereitung angeht, sondern bis zu den letzten Proben im März 1965, begleiteten Haiduk und Bernhard die Inszenierung wissenschaftlich. Die „gute Zusammenarbeit“ mit den beiden Universitätsleuten schätzte Perten so hoch ein, dass zumindest Haiduk auch bei allen weiteren Inszenierungen von Peter 4 5 6 7

8

9

Klunker, Zeitstücke, S. 241–242. Vgl. Weiss, Die Notizbücher. Kritische Gesamtausgabe (künftig zitiert mit Sigle NBKA), S. 4815: „Seine oft als autoritär kritisierte Führung“. NBKA, S. 4816. Weiss, Peter: Notizbücher 1960–1971, (künftig zitiert mit Sigle NB 1), S. 354; Weiss, Peter: Notizbücher 1971–1980, (künftig zitiert mit Sigle NB 2), S. 576; NBKA, S. 10653, 11165 und 11432. Luck und Haiduk kannten sich aus der gemeinsamen Arbeit Anfang der sechziger Jahre, als sie an der Rostocker Universität gleichzeitig Prorektoren waren, der eine zuständig für den wissenschaftlichen Nachwuchs, der andere für Studienangelegenheiten. Mündlich, Manfred Haiduk im Gespräch mit Arnd Beise, 24. März 2008.

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Weiss-Stücken in Rostock als wissenschaftlicher Berater oder Mitarbeiter tätig war: also ebenfalls noch 1965 bei der „Ermittlung“, 1967 beim „Lusitanischen Popanz“, 1968 beim „Viet Nam Diskurs“, 1973 beim „Hölderlin“, 1976 beim „Mockinpott“ und 1978 bei der Kafka-Dramatisierung „Der Prozeß“.

2. Was aber hieß „wissenschaftliche Mitarbeit“ im Rostocker Theater? Außerhalb des Theaters haben das auch damals die Wenigsten gewusst, so dass Bernhard und Haiduk gelegentlich als „Dramaturgen“ bezeichnet wurden, was sie nach eigener Aussage „natürlich nicht waren“.10 Heute befragt, wie denn die wissenschaftliche Mitarbeit konkret aussah, können die noch lebenden Beteiligten kaum brauchbare Angaben machen. „Natürlich lassen sich allgemeine Auskünfte geben“, so Haiduk, die aber „nicht sehr aussagekräftig wären“11. Also muss man in den Dokumenten von damals nach Spuren suchen, die vielleicht eine konkretere Antwort ermöglichen. Eine Spur findet sich in einem Artikel des „Lübecker Morgens“ vom 25. Januar 1966 (Nr. 20, S. 5), in dem über eine Pressekonferenz anlässlich des Rostocker Gastspiels in der westdeutschen Hansestadt berichtet wurde; Haiduk und Bernhard hätten dabei „betont, daß ihre Mitarbeit am Konzept der Aufführung dazu beitragen solle, das ‚Mißtrauen zwischen Wissenschaft und Theater abzubauen‘“12. Das Misstrauen zwischen Kunst und Wissenschaft ist zunächst einmal ein hergebrachter Topos. Dichter verachten Kritiker und Literaturwissenschaftler oft als ‚After-Schreiber‘, wie man im 18. Jahrhundert sagte; und die Akademiker sind regelmäßig von der Gefühlsschwafelei der Künstler genervt. Also betrieb und betreibt man sein Geschäft am liebsten ohne Einmischung der jeweils anderen Seite. Im Sozialismus aber sollte das nicht so sein. Der Marxismus galt ja nicht als Weltanschauung, sondern als eine wissenschaftliche Methode zur Untersuchung von Geschichte und Gesellschaft. Und nicht nur die sozialistischen Künstler des 20. Jahrhunderts waren der Ansicht, in einem „wissenschaftlichen Zeitalter“ angekommen zu sein, wie das Schlagwort bei Brecht hieß.13 10 11

12 13

Haiduk, Arbeitshypothese Optimismus, S. 44. Haiduk, Manfred: Peter Weiss: Der Prozeß – Bemerkungen Manfred Haiduks zur Rostocker Inszenierung Hanns Anselm Pertens während des Probenstadiums und zur Zusammenarbeit mit Perten, in: PWA (Sammlung Haiduk), Mappe 39. Artikel des „Lübecker Morgens“ vom 25. Januar 1966, Nr. 20, S. 5, in: PWA (Sammlung Haiduk), Mappe 46. Brecht, Schriften zum Theater 2, S. 662 und passim.

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Das heißt, die Kunst sollte nicht nur aus dem Bauch kommen und gefallen, sondern auch wissenschaftlichen Standards genügen, also Erkenntnisarbeit leisten, dem Menschen nämlich die „Gesetzlichkeiten, die sein Leben beherrschen“, durchschaubar machen.14 Brecht forderte bekanntlich, dass es nicht um ‚prodesse et delectare‘ gehe, wie in Anlehnung an Horaz häufig formuliert wurde, sondern um das Vergnügen durch Erkenntnis. Genau das war auch das Programm von Perten und Haiduk. Letzterer äußerte in einem Interview, das er anlässlich der „Popanz“-Inszenierung der „Ostsee-Zeitung“ im Dezember 1967 gab: Obgleich es sich hier um ein sehr ernstes Thema handelt, empfindet der Zuschauer Vergnügen und Genuß, den Genuß am Erkennen. Mit vielfältigen künstlerischen Mitteln wird im Popanz demonstriert, daß der Imperialismus zwar äußerst gefährlich, aber auch absurd und lächerlich und überwindbar, weil historisch überholt, ist.15

Haiduks Satz ist selbst vergnüglich für alle, die erkennen, wie hier Brechts Kunsttheorie mit Karl Marx’ (1818–1883) Vorrede zum „18.  Brumaire des Louis Bonaparte“ kurzgeschlossen wird. Gegen dieses Programm einer Kunst, die wissenschaftlich fundiert ist, konnte in der DDR niemand etwas haben; im Gegenteil! Aber galt das auch für die Praxis?

3. Haiduk berichtete einmal davon, dass die Zusammenarbeit mit dem Theater ihm und Hans-Joachim Bernhard „bei der Universitätsleitung nicht gerade einen guten Ruf eingebracht“ hätte, obwohl sie ihre „Lehr- und Forschungsverpflichtungen keineswegs vernachlässigt[en]“. Trotzdem konfrontierte man sie vorwurfsvoll mit der Aussage: „Ihr seid Angehörige der Universität und arbeitet dauernd fürs Theater!“.16 Offenbar wurden die theaterinteressierten Wissenschaftler in ihrer eigenen Institution am meisten mit dem Misstrauen zwischen Kunst und Wissenschaft konfrontiert. Von den Theaterleuten seien sie nämlich, so sagen sie heute, vorbehaltlos und quasi als Ensemblemitglieder akzeptiert worden.17 14 15 16 17

Brecht, Schriften zum Theater 1, S. 295. Haiduk, Manfred: Interview anlässlich der „Popanz“-Inszenierung in der „Ostsee-Zeitung“ im Dezember 1967, in: PWA (Sammlung Haiduk), Mappe 48. Haiduk, Arbeitshypothese Optimismus, S. 45. Ebd., S. 43; Haiduk, Manfred: Peter Weiss: Der Prozeß – Bemerkungen Manfred Haiduks zur Rostocker Inszenierung Hanns Anselm Pertens während des Probenstadiums und zur Zusammenarbeit mit Perten, in: PWA (Sammlung Haiduk), Mappe 39.

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Ganz anders als die Universitätsleitung sah übrigens die Kultusbürokratie der DDR – genauer gesagt: das damalige „Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen“ – diese Kooperation zwischen Universität und Theater. Obwohl es „beim Zustandekommen der Zusammenarbeit mit Perten überhaupt keine Rolle gespielt hatte“, wie Haiduk einmal schrieb,18 wusste das Staatssekretariat dieses Beispiel interinstitutioneller Zusammenarbeit wohl zu nutzen. Man war dort nämlich schon 1965 mit der Vorbereitung der sogenannten ‚Dritten Hochschulreform‘ beschäftigt, die zwischen 1967 und 1969 schrittweise verabschiedet wurde und bis 1990 im Grundsatz gültig blieb. Das wussten Haiduk und Perten aber damals noch nicht. Jedenfalls setzte man in der Zeitschrift „Weimarer Beiträge“, wo Anfang 1966 eine grundlegende – und bis heute übrigens außerordentlich lesenswerte – Analyse des „Marat“-Stücks aus der Feder Manfred Haiduks erschien,19 eine von Eva Nake (* 1917) formulierte Vorbemerkung durch, in der die „enge wissenschaftlich-künstlerische Zusammenarbeit zwischen dem Volkstheater Rostock und Vertretern des Lehrkörpers aus dem Germanistischen Institut der Universität Rostock“ in höchsten Tönen gelobt wird. Zwar hätte es schon früher Ansätze „wissenschaftlicher Einflußnahme auf die Praxis“ gegeben, aber erst dieses „erwähnte Zusammenwirken war ein praktisches Beispiel für sozialistische Gemeinschaftsarbeit auf dem Gebiet der Kultur von größerer gesellschaftlicher Wirksamkeit.“ Aus dieser gleichberechtigten Gemeinschaftsarbeit, die von Seiten der Germanistik als Beispiel wissenschaftlicher Leitungstätigkeit im Bereich der Theaterarbeit hervorgehoben zu werden verdient, wurde inzwischen eine kontinuierliche Zusammenarbeit, die in weiteren geplanten Vorhaben fortgesetzt werden soll.20

Zwar ist von der Gleichberechtigung der Partner die Rede21, doch hört man deutlich heraus, dass man staatlicherseits der Wissenschaft eine Leitungsfunktion zubilligte, die man auch als Aufpasserfunktion über die permanent im Ruch der Unzuverlässigkeit stehenden Theaterleute interpretieren

18 19 20 21

Brief an Arnd Beise, 11. Januar 2006. Haiduk, Weiss’ „Marat.“ Nake, Vorbemerkung, S. 81. Und das Funktionieren der Zusammenarbeit setzte diese Gleichberechtigung voraus, besser gesagt: die gegenseitige Unabhängigkeit; Haiduk: „Perten war als schwieriger ‚Charakter‘ bekannt, um nicht zu sagen verschrien. So wunderte sich mancher über unsere gute Zusammenarbeit mit ihm. […] Das Geheimnis dieser Zusammenarbeit bestand darin, daß wir grundsätzlich gleichberechtigte Partner waren, unabhängig voneinander, und das gleiche Ziel verfolgten. Ich hatte meinen Beruf an der Universität, die beratende Tätigkeit konnte jederzeit beendet werden. Es bestand kein Abhängigkeitsverhältnis.“ Haiduk, Manfred: Peter Weiss: Der Prozeß – Bemerkungen Manfred Haiduks zur Rostocker Inszenierung Hanns Anselm Pertens während des Probenstadiums und zur Zusammenarbeit mit Perten, in: PWA (Sammlung Haiduk), Mappe 39.

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könnte.22 Verkauft wurde dies aber umgekehrt als Verstärkung der „Verbindung von Theorie und Praxis“, die am 25. Februar 1965 in dem „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem“ verankert worden war.23 In den „Prinzipien zur weiteren Entwicklung der Lehre und Forschung an den Hochschulen der Deutschen Demokratischen Republik“, die im März 1966 vom Staatssekretariat ausgegeben und 1967 vom VII.  Parteitag der SED bestätigt wurden24, ist davon die Rede, dass sich die Forschung stärker an den Bedürfnissen der Volkswirtschaft zu orientieren habe, dass die Ausbildung zu straffen sei und dass die gesamte Struktur der Universität dem Ziel des Aufbaus einer „sozialistischen Menschengemeinschaft“, so das von Walter Ulbricht erfundene Schlagwort25, angepasst werden sollte. Dazu gehörte auch die „enge Verflechtung“26 der Universität mit Institutionen außerhalb, die sich zum Beispiel in der Schaffung eines „Gesellschaftlichen Rates“ als Gremium zur Beratung der Hochschulleitung, in dem Vertreter der „Staatsmacht“, Wirtschaft, Kultur usw. saßen, ausdrückte. Die Autonomie der Wissenschaft wurde durch diese Reform zurückgedrängt27 zu Gunsten einer vollständigen ‚Durchdringung‘ der „gesamte[n] Ausbildung“ 22

23

24

25 26 27

Es ist daran zu erinnern, dass die Theater in der DDR einer der wenigen Bereiche waren, wo sich eine Öffentlichkeit jenseits staatlicher „Kontrolle“ konstituieren konnte, weshalb diese Institution anders als in Westdeutschland eine „so große Wirkung“ und „Bedeutung für die Gesellschaft“ hatte, meinte jedenfalls Müller, Rotwelsch, S. 68. Weber, DDR, S.  278: „§ 4 (1) Im sozialistischen Bildungssystem gilt der Grundsatz der Verbindung von Bildung und Erziehung mit dem Leben, der Verbindung von Theorie und Praxis, der Verbindung von Lernen und Studium mit produktiver Tätigkeit.“ In Waterkamps „Handbuch zum Bildungswesen der DDR“ heißt es dazu lapidar: „Das Streben nach deutlicherer Praxisorientierung im Studium wurde jedoch in den Hochschulen nicht einmütig geteilt“ (S. 344). Im Folgenden die Paraphrase eines Schreibens der Außenstelle Berlin an das Auswärtige Amt in Bonn vom 8. März 1967 (Archiv-Signatur des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts: Berl. II A 1 – 81.60 Br. Nr. 200; zitiert bei Schoenemann/Seifert, Schritt, S. 14), das unverändert an die Ständige Kultusministerkonferenz der BRD weitergeleitet wurde: Man war in Sorge, dass die DDR sich „ein modernen Verhältnissen angepaßtes, einheitliches Hochschulsystem“ schaffen würde, das – „weil weitgehend von sachlichen Gesichtspunkten“ statt von „weltanschauliche[n] Forderungen“ ausgehend – die Ordinarienuniversität des Westens an Leistungskraft überflügeln könnte. Dass es sich bei der Dritten Hochschulreform um ein weitgehend ideologiefreies, an „sachgemäßen“ Reformen orientiertes Projekt handelte, war eine Fehleinschätzung westlicher Beobachter, die von den Wissenschaftlern im Osten kaum bestätigt worden wäre. Vgl. Weber, DDR, S. 306 (Nr. 173: aus der Rede „Unser guter Weg zur Sozialistischen Menschengemeinschaft“ vom 22. März 1969). Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Teil I, Nr. 3, 21. April 1969, S. 6. Vgl. Meyer, Hochschulpolitik, S. 374–381 und 408: „Die III. Hochschulreform des Jahres 1968 diente […] dem radikalen Bruch mit der bisherigen Universitätstradition. […] Es war eines der Ziele der III. Hochschulreform, die Eigenständigkeit“ der Hochschulen und der Wissenschaft überhaupt „drastisch zu reduzieren […] und diese Konsequenz hat sie generell gehabt.“ Zur Dritten Hochschulreform vgl. auch den Beitrag von Matthias Glasow im vorliegenden Band.

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und des „gesellschaftliche[n] Leben[s] an den Hochschulen“ durch „die sozialistische Ideologie“ („Wissenschaft als […] Waffe im Klassenkampf“), wie es in einem Beschluss des Staatsrates der DDR über die „Weiterführung der 3. Hochschulreform und die Entwicklung des Hochschulwesens bis 1975“ vom 3. April 1969 hieß.28

4. Dass die Zusammenarbeit zwischen Universität und Theater zu einem Vorzeigeprojekt der sozialistischen Hochschulreform werden könnte, hatten sich Perten und Haiduk, der diese Reform damals für „zutiefst schädlich“29 weil wissenschaftsfremd hielt30, ja wegen ihr sogar die Universität verließ und für fünf Jahre zum Fernsehfunk ging, sicher so nicht vorgestellt. Ihre Vorstellung von wissenschaftlicher Mitarbeit im Theater betraf nämlich einen ganz anderen Bereich: nämlich den der theatralisch-literaturwissenschaftlichen Hermeneutik. Im Fall des „Marat/Sade“ hatten Bernhard und Haiduk das Stück in allen seinen Fassungen gründlich analysiert und zusammen mit Perten eine Spiel-Fassung hergestellt31, welche die bis dahin noch kaum wahrgenommene „politische Spitze“ des Dramas „freilegte und stärkte“32. Johannes Jacobi, damals Theaterkritiker der „ZEIT“, der das Stück nach der Westberliner Uraufführung einen „geistig verbrämten Zirkus“ nannte, bekannte, nachdem er die Rostocker Inszenierung gesehen hatte, nun erst sei ihm das Stück klar geworden.33 Auch Peter Weiss selbst war bekanntlich sehr beeindruckt von der Rostocker Inszenierung, in der 28 29 30

31

32 33

Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Teil I, Nr. 3, 21. April 1969, S. 9. – Eine affirmative Darstellung der Reform gibt Heidorn, III. Hochschulreform. Haiduk, Arbeitshypothese Optimismus, S. 54. Der Partei entging die Unzufriedenheit vieler Wissenschaftler mit der Hochschulreform nicht; so hielt die SED-Bezirksleitung Gera Mitte 1968 in einem Bericht fest: „Bei weitem noch nicht alle Universitätsangehörigen sind von der tiefgreifenden politischen Bedeutung der Hochschulreform in der gegenwärtigen Klassenauseinandersetzung überzeugt“; die SEDParteileitung der Universität Jena zeigte sich in einem Papier vom 10. Oktober 1968 genervt von „fehlerhaften Auffassungen und inaktivem Verhalten“ zahlreicher Professoren (zitiert bei Gottwald, Hochschulreform, S. 166–167.). Vgl. Bernhard, „Marat“, S. 175: „Der Vergleich der verschiedenen Fassungen war Voraussetzung für die Arbeit an der Inszenierung.“ Diese präsentierte eine Zwischenstufe zwischen verschiedenen Varianten der dritten und der erst auf Grund der Rostocker Erfahrungen entstandenen, diese Inszenierung aber nicht abbildenden vierten Fassung. Zu den Fassungen vgl. Beise/Breuer, Fassungen? Haiduk, Arbeitshypothese Optimismus, S. 46. Zitiert bei Bernhard: „Marat“, S. 182.

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das Stück für ihn selbst zu einem „Lehrstück“ geworden sei34, und die für seine politische Entpuppung Mitte der sechziger Jahre eine „Geburtshelferfunktion“ hatte.35 Besonders beeindruckt war Weiss allerdings von der literaturwissenschaftlichen Analyse Haiduks, die der Inszenierung zu Grunde lag. Er hätte bisher noch nichts gelesen, „was auch nur annähernd“ an die „klugen Erörterungen“ Haiduks heranreiche, schrieb er diesem, nachdem er die Studie in den „Weimarer Beiträgen“ gelesen hatte.36 Vor allem die historische Fundierung der Analyse und der Bezug auf die politischen Prozesse der Gegenwart begeisterte Weiss.37 Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, die bis zum Tod des Schriftstellers hielt. Die „Klarheit“, die Pertens Inszenierungen laut Weiss grundsätzlich auszeichnete38, entstand eben durch die wissenschaftliche Begleitung der konzeptionellen Arbeit am Stück. Anlässlich der „Hölderlin“-Inszenierung sprach Perten gegenüber der „Norddeutschen Zeitung“ (Nr.  78, 1.  April 1973, S. 6) davon, dass man unterstützt von Haiduk und Bernhard „eingehende Studien der historischen Hintergründe“ angestellt habe. Stärker als im Westen hätte man „das Geschehen […] an den Geschichtsprozeß“ gebunden, meinte der wissenschaftliche Mitarbeiter Hans-Joachim Bernhard.39 Die Auseinandersetzung mit dem Text war also nie bloß eine Sache des artistischen Gefühls oder der Meditation eines genialen Regisseurs, sondern im besten Sinne Kollektivarbeit, wie sie – wenn es gut geht – auch ein universitäres Seminar leisten kann. Oberster Grundsatz dieser Arbeit am Stück, und das meinte für die Beteiligten damals vor allem der Terminus ‚wissenschaftlich‘, war die unbedingte Treue zum Text. Perten betonte in einem Gespräch mit der „Ostsee-Zeitung“ (18. Dezember 1967, S.  8) am Tag vor der Premiere des „Lusitanischen Popanz“: „Wir spielen 34 35 36 37

38 39

NB 1, S. 354. Haiduk, Arbeitshypothese Optimismus, S. 46. Weiss, Briefe an Manfred Haiduk, S. 7; Brief vom 14. Juli 1966. Vgl. die erst 1981 formulierte, aber in den gedruckten „Notizbüchern“ als von 1965 stammend ausgegebene Bemerkung: „Haiduk: Ausdeuter mit Blick für die innere Kontinuität. Sehr stark der Eindruck, wie marxistische Sehweise die Herkunft aller Themen u Entwicklungsgänge erkennt – und sie einzuordnen versteht in die Gegenwart“ (NB 1, S. 354). Gerlach/Richter, Peter Weiss im Gespräch, (künftig zitiert mit Sigle PWG), S. 206. Zitiert von Ernst Schumacher in der „Berliner Zeitung“, Nr. 178, 30. Juni 1973, S. 6. Weiss’ Stück war allerdings ursprünglich durchaus nicht als ‚Geschichtsdrama‘ konzipiert, sondern als ‚Selbstverständigungstext‘ im historischen Gewand: „Mein Stück ist zu verstehen als ein persönlicher Kommentar zu Hölderlins Gedichten […]. Nach dem Schreiben des Stücks werde ich untersuchen, in welcher Hinsicht ich Hölderlin verstanden, oder mißverstanden habe. […] Wie beim Lesen seiner Niederschriften, so hole ich mir auch beim Schreiben dieses Stücks Hölderlin in meine Gegenwart, und benutze das, was er in mir angeregt dazu, eine Gestalt entstehen zu lassen, die eine Problematik ausdrückt, die für mich aktuell ist. Es ist weder ein dokumentarisches, noch ein historisches Stück. Es ist ein Stück aus dem Gegenwärtigen, verfremdet nur durch die Hineinversetzung in eine vergangene Epoche“ (Weiss, Werke, Bd. 2, S. 506–507).

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das Stück selbstverständlich ungestrichen und ohne Änderung irgendeines Wortes. Autorengetreu, werkgetreu – das ist das Prinzip der Arbeit.“40 Das musste dem Autor natürlich gefallen. Die Polemik gegen das Regietheater gehört bei vielen Dramatikern zum Habitus. Friedrich Dürrenmatt zum Beispiel klagte schon in den fünfziger Jahren darüber, dass der Regisseur so „wichtig“, ja „beherrschend geworden“ sei „wie noch nie“ und dass die Stücke unbekümmert um jede „Werktreue“ „allzu oft“ nicht „interpretiert“, sondern „exekutiert“ würden, so dass am Ende „der fallende Vorhang […] einen verstümmelten Leichnam“ decke.41 Peter Weiss hatte sogar eine sehr stark entwickelte Aversion gegen das Regietheater, das er als Auswuchs eines sensationsgeilen „Kommerzialismus“ ansah, der den Theatern keine Zeit mehr lasse, „den Text wissenschaftlich zu analysieren“, bevor er inszeniert würde.42 Das Prinzip der Autoren- und Werktreue, das in der Wissenschaft üblich ist, war in Rostock also auch für die Theaterarbeit verbindlich, was

40

41 42

Im Fall von „Marat/Sade“ galt das noch nicht. Hier wurden „große Komplexe des Dramas einfach“ gestrichen, weil sie zu viel „konterrevolutionäre Thesen“ enthielten (PWG, S. 69) – und zuviel Sex und Witz, muss man hinzufügen. Karlheinz Braun sprach von der „vollständigen Enterotisierung des Stückes“ (Unseld/Weiss, Der Briefwechsel. S.  541; künftig zitiert mit Sigle UWB), Weiss davon, „dass die Aufführung humorlos“ sei (UWB, S. 544). Die Streichungen betrafen vor allem Repliken Sades, aber auch Hinweise auf die Krankheit Marats, ‚falsche Gewalt‘ und Zweifel am Volk (vgl. Redeker-Thurm, Peter Weiss, S. 58: „Alle Passagen, die das Interesse der vier Sänger, als der Repräsentanten des Volks im Stück, auf primitive materielle Forderungen reduzieren und damit ein echtes revolutionäres Bewußtsein dieser Figuren unglaubwürdig machen, sind aus der letzten Fassung beseitigt“). Es fehlten z. B. die Gewaltschilderungen S. 41,25–42,31; Sades Preis des Individualismus S. 55,25–35; seine Klage über die „mechanische Vergeltung“ der Revolution S.  62,4–39; seine ‚nihilistischen‘ Äußerungen S.  72,15–73,12; Marats Polemik gegen Robespierre S.  88,35–89,4; Sades Anklage revolutionärer Unterdrückung S. 95,22–31 samt den Selbstzweifeln Marats S.  96,1–8; Cordays Beschreibung revolutionärer Exzesse S.  99,25–100,28; Sades Träume von „Körperöffnungen“ S. 104,31–105,1; die Polemik des Ausrufers gegen die „Gegenwart“ S. 111,17–21; der Patientenaufstand am Schluss ab S. 115,31 (alle Seiten- und Zeilen-Angaben nach Weiss, Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats […]. Die Einrichtung der Rostocker Inszenierung ist dokumentiert auf zwei Langspielplatten, die 1966 als Litera Nr. 8  60  100–101 beim ‚VEB Deutsche Schallplatten‘ in Berlin erschienen und von der ‚Deutschen Grammophon‘ in Hamburg übernommen wurden. Die Schallplatte dokumentiert nicht eine weitere Rostocker Veränderung, die in die Aufnahme zu übernehmen Weiss untersagt hatte (UWB, S. 544 u. S. 548): dass nämlich Marat „mit schaudernder Entrüstung den Bericht von der Hinrichtung Damiens“ vortrug, nur kurz unterbrochen von Sade „mit der Bemerkung“ über Casanovas Tun „oben hinter dem Fenster“ (Wendt, Peter Weiss, S. 422). Der damalige Leiter des Suhrkamp-Theaterverlags, Karlheinz Braun, urteilte nach einem Besuch der Rostocker Inszenierung während einer Tournee des Volkstheaters durch die BRD, sie sei zwar „gut gearbeitet, besonders auch musikalisch“, und habe „viele schöne Stellen“, trotzdem könne er Weiss’ „kolportierte Begeisterung nicht verstehen“, denn „[a]lles in allem“ sei es „eine reichlich plumpe, sehr direkte und völlig undialektische Inszenierung“, und das habe „theatralisch (und ideologisch) wenig Sinn“ (UWB, S. 541–542). Dürrenmatt, Theater, S. 40–41. NB 2, S. 530; zuerst in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 8. Oktober 1976.

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in der Tat eine Seltenheit ist. Gewöhnlich müssen sich die Stücke auf der Bühne gefallen lassen, was man mit ihnen machen will. Die wissenschaftliche Treue zu Autor und Text verteidigte der Universitätsmann übrigens vehement, wenn der Theatermann einmal eigene Wege gehen wollte. So wollte Perten 1978 mit seiner Inszenierung des Weissschen Kafka-Stücks „Der Prozeß“ zeigen, wie „die faschistische Diktatur den bürgerlichen Demokratien sozusagen in den Knochen“ stecke, wie er in Anlehnung an Brecht sagte („Ostsee-Zeitung“, Nr. 116, 19. Mai 1978, S. 6), und wich in der sogenannten „Prüglerszene“43 von den Vorgaben des Autors ab. Haiduk lehnte dies in einem der wenigen erhaltenen Schriftzeugnisse zur gemeinsamen Theaterarbeit ab, und zwar mit Hinweis auf die Stockholmer Inszenierung, wo man sich an „Weiss’ Vorgabe“ gehalten hätte. Überdies schien ihm die „Prozeß“-Inszenierung zu trocken zu geraten. Wenn es schon einmal was zu lachen gäbe, dann solle man „die Gelegenheit auch voll nutzen“, meinte er mit einer Spitze gegen die damalige Dramaturgin.44 Die Zusammenarbeit lief also nicht immer völlig reibungslos.45 Aber insgesamt verlief die Verbindung zwischen Theater und germanistischem Seminar zur Zufriedenheit aller Beteiligten. Es gab im Rostocker Volkstheater einen im Westen weitgehend unbekannten Freiraum, der es erlaubte, sich „gründlich“ auf ein Stück einzulassen.46 Und es gab den Willen, dies im Sinne des Autors zu tun. So legte man die Strichfassung des übermäßig langen „Viet Nam Diskurses“, welche die Wissenschaftler Bernhard und Haiduk, der Dramaturg Hans-Joachim Theil und der Regisseur Hanns Anselm Perten gemeinsam erarbeitet hatten, dem Autor vor und diskutierte sie mit ihm. Bei der Gelegenheit konnte man Weiss auch noch einen zusätzlichen „Vers“ abringen, „der vom Siegesbewußtsein des vietnamesi43 44

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Weiss, Der Prozeß, in: Werke, Bd. 6, S. 295–298 (Nr. 7: „In der Bank“). Haiduk, Manfred: Peter Weiss: Der Prozeß – Bemerkungen Manfred Haiduks zur Rostocker Inszenierung Hanns Anselm Pertens während des Probenstadiums und zur Zusammenarbeit mit Perten, in: PWA (Sammlung Haiduk), Mappe 39. Während der Arbeit am „Hölderlin“ waren die „Spannungen“ so stark geworden, dass sich Haiduk „weitgehend aus der Probenarbeit zurückzog“ (ebd.) und das Feld seinem Kollegen Bernhard überließ. Welcher Art die Spannungen genau waren, geht aus den Dokumenten nicht hervor. Manfred Haiduk erinnert Gesundheitsprobleme, sein Missfallen über eine zu ‚weihevolle‘ Klassiker-Rezeption und seine Verärgerung über die Vehemenz, mit der man Weiss zu Leibe rückte und immer neue Änderungen verlangte (Gespräch mit Arnd Beise, 25. März 2008). Am 17. September 1971 sprach Weiss in einem Interview davon, wie er sich eine erfolgreiche Theaterarbeit vorstellte: Man solle „versuchen, das Stück zu spielen, so wie es geschrieben ist, sich viel Zeit nehmen, sehr gründlich und wissenschaftlich arbeiten und im Ensemble die notwendige politische Auffassung herstellen“ (PWG, S.  187). Um den Jahreswechsel 1977/78 notierte sich Weiss, dass es nur in der DDR noch eine „Theatertradition“ gebe, die anders als im Westen eine „enge Zusammenarbeit zw. Autor u. Regisseur“ kenne, und wo die „schöpferische Arbeit des Regisseurs“ darin bestehe, „Kunst u. Wissenschaft zu verbinden“, wie er „es bei Perten erlebte“ (NBKA, S. 8751–8752; vgl. NB 2, S. 638–639).

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schen Volkes spricht“, und den Weiss nach der Rostocker Premiere sogar als „entscheidend […] für die Aussage des Stückes“ bezeichnete. Die „ruhige Arbeitsatmosphäre in Rostock“ habe es ihm ermöglicht, „diese Ergänzung“ zu finden, über die „er sehr froh“ sei, so der für die wissenschaftliche Theaterarbeit so dankbare Autor zur „Ostsee-Zeitung“ (10. April 1968, S. 4).47 Und die Rostocker konnten sich in dem Gefühl sonnen, an dem Stück eines großen Autors mitgeschrieben zu haben.

5. Die Zusammenarbeit von Theater und Universität wirkte natürlich auch in diese zurück. „Es ist ja wohl ein kleiner Unterschied,“ meinte Haiduk einmal, „ob man nur rein theoretisch über Dramen spricht oder eben auch weiß, wie sie auf der Bühne umgesetzt werden, welcher Unterschied zwischen Stück und Inszenierung besteht“.48 Dieses Wissen des Dozenten kommt natürlich auch den Studierenden im Seminar zugute. Darüber hinaus ermöglicht die Liaison aber auch, die Studierenden direkt mit dem Schriftsteller im Theater zusammen zu bringen. Haiduk organisierte nach der Generalprobe des „Marat/Sade“ eine Diskussionsveranstaltung im Theater, die zu den „unvergeßliche[n] Begegnung[en]“ zählte, die Peter Weiss in einem offenen Brief an das von ihm stark idealisierte Rostocker Theaterpublikum erinnerte („Ostsee-Zeitung“, 8. November 1966, S. 4). Auch die Studierenden vergaßen die Begegnung nicht. Einer von ihnen, Wolfgang Trampe (*  1939), von 1962 bis 1967 Germanistik-Student in Rostock, seit 1977 freier Autor und Film-Publizist in Berlin, beschrieb die Szene in seinem Roman „Veränderung der höheren Semester“, der 1982 im Aufbau-Verlag erschien: Prof. Puchen [so heißt Perten in dem Roman] hatte das Welttheater in die Mauern des Städtchens gebracht. Es gab dem Städtchen Selbstvertrauen. Die Hauptstadt war fern, in der glänzende Ensembles alte Stücke spielten. Prof. Puchen formte eine neue Theaterlandschaft. Wie ein Betriebsleiter, der das Risiko zu kalkulieren weiß, war er an der Grenze entlanggezogen, die die kulturpolitische Linie ihm wies. Er hatte das eine oder andere Schrittchen darüber hinaus getan und dafür ‚Prügel‘ eingesteckt. Aber das Eis war gebrochen. Der berühmte Dramatiker W. saß neben ihm, er schien die Autorität Prof. Puchens ins Unermeßliche zu heben. Leise gab W. auf unsere Fragen Antwort, leise und überlegt, unsere Aufmerksamkeit freute 47

48

Hierbei handelt es sich um die Worte des dritten Chors: „Den Stürmen/die er [= der „mächtige Feind“, also die USA] entlädt/sind wir gewachsen/Wir überdauern/auch ihn/Die Zeit ist für uns/Wir stehn nicht/allein“ (Weiss, Werke, Bd. 5, S. 456–457). Die Passage fehlt noch in der Erstausgabe des Stücks (vgl. Weiss, Diskurs, S. 201). Haiduk, Arbeitshypothese Optimismus, S. 45.

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ihn. Er war einen weiten Weg gegangen. Hatte Deutschland verlassen müssen, war in der Emigration lange verstummt. Aber in all der Zeit hatte er gearbeitet und die Welt mit seinen Stücken überrascht. Er legte die Wunden bloß in einer explosiven Sprache. Wir hatten uns den berühmten Mann anders vorgestellt. Er führte mit uns ein Gespräch, seine leise Stimme schien mit seinen Stücken in keiner Verbindung zu stehen.49

Und über was sprachen die Studierenden genau mit dem Autor? Das wissen allenfalls noch die, die dabei waren, und auch von denen werden die meisten das meiste vergessen haben, wie es bei ephemeren Ereignissen üblich ist. Auch Trampe erinnerte sich in dem Romanauszug im Wesentlichen an die Gefühle, die diese Begegnung auslöste, nicht aber an bestimmte Sätze. In der Zeitung der SED-Parteigruppe „die neue universität“ (Nr. 5, Rostock 1965, S. [4]) findet man folgende Notiz: Neben Fragen, die sich auf die Regie, das Bühnenbild, die Leistung einzelner Schauspieler bezogen, nahmen die Studenten die Gelegenheit wahr, den in Schweden lebenden deutschen Schriftsteller nach dem geschichtlichen Hintergrund und der beabsichtigten Aussage seines Dramas zu fragen. Peter Weiss gab ausführlich Auskunft. […] Die Studenten hoffen, diese direkte Konfrontierung mit der Kunsttheorie und der Kunstpraxis in der Zukunft öfter wahrnehmen zu können.

In der schwedischen Tageszeitung „Stockholms Tidningen“ berichtete Göran  O.  Eriksson über dieses Gespräch, das Weltbild der Studierenden sei zwar „grob vereinfacht“ zu nennen, doch ihre Aufrichtigkeit sei unbedingt „anzuerkennen“ (zitiert ebd.). Genauer bekommen wir es nicht. Einem Artikel von Hans-Joachim Bernhard ist immerhin zu entnehmen, dass eine kluge, namentlich aber nicht genannte Studentin damals die ‚Unterlegenheit‘ Marats, die sich aus seiner Fixierung in der Wanne ergebe, nur scheinbar nannte, da „de Sade zwar eine relative Bewegungsfreiheit, Marat aber einen Standpunkt habe“.50 Das hatte Weiss bestimmt beeindruckt, weil er zu der Zeit gerade dabei war, den von ihm selbst nicht gemochten „dritten Standpunkt“51 zwischen Individualismus und Sozialismus aufzugeben und auf die „politische Konzeption“ des „revolutionärsten Theaters der Gegenwart“, wie Weiss 1968 schwärmte52, einzuschwenken. Interessant in diesem Zusammenhang ist übrigens, dass die Berliner Doktorandin Brigitte Thurm sich 1965 für ihren Hinweis im „Sonntag“, der Wochenzeitung des Kulturbunds der DDR, dass der politische und philosophische Richtungsstreit in Weiss’ „Marat“-Stück anders als in der 49 50 51 52

Trampe, Veränderung, S. 131–132. Vgl. Bernhard, „Marat“, S. 179. PWG, S. 57, vgl. Weiss, Verfolgung, S. 120. Die „politische Konzeption“ der „Rostocker Theaterarbeit“ lobte Weiss im Gespräch mit der „Ostsee-Zeitung“ (Nr. 33, 7. Februar 1968, S. 4); „eines der revolutionärsten Theater“ nannte Weiss das Volkstheater in einem Brief vom 1. April 1968 (zitiert nach: Diskurs, S. [3]).

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„Rostocker Inszenierung“ eigentlich „unentschieden“ bleibe53, einen herben Rüffel der damals noch in Rostock lehrenden Germanistik-Professorin Edith Braemer (1903–1969) einhandelte, die gegen den „objektivistischen Charakter“ von Thurms „Bemerkungen“ vom Leder zog. Das Großartige an „der Aufführung des Rostocker Volkstheaters“ sei gerade, dass es hier gelungen sei, „das allerdings seinem Text nach labile Stück über sich selbst hinwegzuführen, indem seine potentiell kritisch-realistischen Möglichkeiten durch eine sozialistisch-realistische Regieführung verwirklicht werden. […] Wenn es nun einem Regisseur und seinen Schauspielern gelingt, […] ein Werk des neuen kritischen Realismus geradezu mit schaffen zu helfen und damit Autor und Stück zum Sprung über ihren eigenen Schatten zu verhelfen, so verdient das wohl die Bezeichnung ‚aufsehenerregend‘. […] Die Darlegungen von Brigitte Thurm nehmen nun geradezu die Ergebnisse der Rostocker Aufführung zurück, um sich auf dem Boden des Objektivismus zu stellen, der von Peter Weiss bereits verlassen wurde, wie seine direkte positive Stellungnahme zu der Rostocker Aufführung beweist.“ Mit anderen Worten: Während das Rostocker Team von Autoren- und Werktreue sprach, lobte die als ziemlich dogmatisch geltende Germanistin gerade den jeden „Objektivismus“ hinter sich lassenden „parteilichen Charakter“ der Rostocker Regieführung, welcher die weltanschaulichen Mängel des Stücks vergessen ließe.54 Auch in diesem Sinne lässt sich das gemeinsame Projekt von Theater und Universität gegen die Absichten seiner Protagonisten als kompatibel 53

54

Thurm, Gegenspieler, S. [1]: „Der Streit bleibt unentschieden. Die Revolution hat ihre Tücken, die Konterrevolution ihre Misere. […] Aus dem Text der vom Suhrkamp-Verlag publizierten Fassung läßt sich jedenfalls kein eindeutiges Pro für Marat herauslesen. […] Die Rostocker Inszenierung spielte das Anliegen des Revolutionärs Marat in den Vordergrund.“ – Thurm promovierte an der Humboldt-Universität mit der Arbeit „Peter Weiss – Dramatiker des Übergangs. Untersuchungen zur Schaffensperiode von 1963 bis 1967“ (Phil. Diss. Humboldt-Universität Berlin 1969); Haiduk hatte die Arbeit zwar nicht betreut, aber die Promovendin verschiedentlich beraten. Vgl. Redeker-Thurm, Brigitte: Thesen der Dissertation, in: PWA (Sammlung Haiduk), Mappe 65. Braemer, Position Rostock, S.  7. Insbesondere bemängelte Braemer, dass Thurms „Argumentation“ dem Klassenfeind nütze: „Es handelt sich nicht etwa darum, die Rostocker Aufführung zu ‚loben‘, sondern darum, die von ihr errungene Position als Ausgangsbasis zu nehmen, um auch den operativen Aufgaben der Literaturkritik gerecht zu werden. Diesen Aufgaben wird sie nicht gerecht, wenn den westdeutschen Lesern jetzt durch die Darlegungen im ‚Sonntag‘ eigentlich gesagt wird, daß die Konzeption der westlichen Theater dem Stück entsprechen und nicht die Konzeption des Rostocker Volkstheaters. Das wird in den Bemerkungen nicht ausgesprochen, ergibt sich jedoch als eine Konsequenz, die notwendig gezogen werden müßte.“ – Braemer hielt von dem Stück ursprünglich nicht viel, ließ sich aber durch die Rostocker Inszenierung von dessen Brauchbarkeit überzeugen, erinnert sich Haiduk heute (Gespräch mit Arnd Beise, 25. März 2008). – Das Zentralinstitut für Sprachwissenschaft in der Akademie der Wissenschaften der DDR definierte: „Objektivismus, […] methodologische und ideologische Denkhaltung, wonach jede Parteilichkeit der Wissenschaftlichkeit widerspricht: Der O. ist eine Methode des ideologischen Klassenkampfes der Bourgeoisie“ (Klappenbach/Steinitz, Wörterbuch Gegenwartssprache, Bd. 4, S. 2686).

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zu der verhassten Dritten Hochschulreform begreifen. Denn bei dieser Reform ging es erklärtermaßen darum, ‚objektivistische‘ Tendenzen aus Lehre und Forschung zu verbannen.55 Einen solchen Zusammenhang hätten Perten oder Haiduk seinerzeit bestimmt abgestritten. Das, was im Rückblick deutlich wird, wurde von den Beteiligten in der damaligen Situation wohl nicht wahrgenommen. Daran sieht man einmal mehr, wie kompliziert die Wirklichkeit sein kann. Mitunter hängen dann doch Sachen zusammen, die eigentlich nicht zusammen gehören bzw. intentional nicht zusammen gehören sollten. Das war vor gut vierzig Jahren nicht anders als heute.

Literaturverzeichnis 1. Quellen Archivalien Sammlung Haiduk zum Peter-Weiss-Archiv (PWA) im Literaturarchiv der Stiftung Archiv der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg (vgl. http:// www.adk.findbuch.net): Artikel des „Lübecker Morgens“ vom 25.  Januar 1966, Nr.  20, S.  5, in: PWA (Sammlung Haiduk), Mappe 46. Haiduk, Manfred: Peter Weiss: Der Prozeß – Bemerkungen Manfred Haiduks zur Rostocker Inszenierung Hanns Anselm Pertens während des Probenstadiums und zur Zusammenarbeit mit Perten, in: PWA (Sammlung Haiduk), Mappe 39. Haiduk, Manfred: Interview anlässlich der „Popanz“-Inszenierung in der „Ostsee-Zeitung“ im Dezember 1967, in: PWA (Sammlung Haiduk), Mappe 48. Rühle, Günther: Rezension in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ 3.  April 1968 über die ostdeutsche Erstaufführung von Peter Weiss’ „Viet Nam Diskurs“, in: PWA (Sammlung Haiduk), Mappe 47. Redeker-Thurm, Brigitte: Thesen der Dissertation, in: PWA (Sammlung Haiduk), Mappe 65.

55

Vgl. Schoenemann/Seifert, Schritt, S. 13.

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Peter Weiss NB  1 = Weiss, Peter: Notizbücher 1960–1971, Frankfurt/Main 1982 (= Edition Suhrkamp, N.F. 135). NB  2 = Weiss, Peter: Notizbücher 1971–1980, Frankfurt/Main 1981 (= Edition Suhrkamp, N.F. 67). NBKA = Weiss, Peter: Die Notizbücher. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Schutte, Jürgen, Berlin 2006. PWG = Gerlach, Rainer / Richter, Matthias (Hg.): Peter Weiss im Gespräch, Frankfurt/Main 1986 (= Edition Suhrkamp, N.F. 303). UWB = Unseld, Siegfried / Weiss, Peter: Der Briefwechsel. Hg. v. Gerlach, Rainer, Frankfurt/Main 2007. Weiss, Peter: Diskurs über die Vorgeschichte und den Verlauf des lang andauernden Befreiungskrieges in Viet Nam als Beispiel für die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker sowie über die Versuche der Vereinigten Staaten von Amerika, die Grundlagen der Revolution zu vernichten, Frankfurt/Main 1968. Weiss, Peter: Werke in sechs Bänden. Hg. v. Suhrkamp-Verlag in Zusammenarbeit mit Palmstierna-Weiss, Gunilla, Frankfurt/Main 1991. Weiss, Peter: Briefe an Manfred Haiduk 1966–1982, in: Peter Weiss Jahrbuch 3 (1994), S. 7–41. Weiss, Peter: Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade. Drama in zwei Akten. Hg.  v. Beise, Arnd, Frankfurt/Main 2004 (= Suhrkamp-BasisBibliothek 49).

Andere Quellen Braemer, Edith: Position Rostock als Ausgangsbasis. Zu „An den Gegenspieler im Publikum“ Nr.  25/65, in: Sonntag, Nr.  27 (4.  Juli 1965), S. 7. Brecht, Bertolt: Schriften zum Theater 1–2, Frankfurt/Main 1990 (= Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke in zwanzig Bänden 15–16). Diskurs. Texte zur Theaterarbeit. H. 10: Der Autor Peter Weiss und seine Bekenntnisse. Aus Anlaß des 60. Geburtstags des Schriftstellers, Rostock 1976.

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Dürrenmatt, Friedrich: Theater, Zürich 1985 (= Dürrenmatt, Friedrich: Werkausgabe in dreißig Bänden 24). Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Teil I, Nr. 3, 21. April 1969. Haiduk, Manfred: Arbeitshypothese Optimismus. Gespräch mit Rainer Koch und Martin Rector, in: Peter Weiss Jahrbuch 3 (1994), S. 42–75. Hochhuth, Rolf: Für Hanns Anselm Perten, in: Sinn und Form 38, Heft 4 (1986), S. 876–878. Klappenbach, Ruth / Steinitz, Wolfgang (Hg.): Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Bd. 1–6, Berlin 1964–1977. Müller, Heiner: Rotwelsch, Berlin 1982 (= Internationaler Merve-Diskurs 104). Nake, Eva: Vorbemerkung zu dem Beitrag von Haiduk, Manfred: P. Weiss’ Drama „Die Verfolgung und Ermordung Jean-Paul Marats…“, in: Weimarer Beiträge 12 (1966), S. 81. Thurm, Brigitte: An den Gegenspieler im Publikum. Zu dem neuen Stück von Peter Weiss, in: Sonntag. Wochenzeitung für Kulturpolitik, Kunst und Wissenschaft, Nr. 25 (20. Juni 1965), S. [1], 10–12. Trampe, Wolfgang: Veränderung der höheren Semester, Berlin 1982. Weber, Hermann (Hg.): DDR. Dokumente zur Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik 1945–1985, München 1986 (= dtv 2953).

2. Forschungsliteratur Beise, Arnd / Breuer, Ingo: Vier, fünf oder mindestens zehn Fassungen? Entstehungsphasen des „Marat/Sade“ von Peter Weiss, in: Peter Weiss Jahrbuch 1 (1992), S. 86–115. Bernhard, Hans-Joachim: „Marat“ auf der Bühne, in: Neue Deutsche Literatur 13, 9 (1965), S. 169–182. Gottwald, Herbert: Die Hochschulreform unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung an der Universität Jena, in: Strobel, Karl / Schmirber, Gisela (Hg.): Drei Jahrzehnte Umbruch der deutschen Universitäten. Die Folgen von Revolte und Reform 1968–1974, Vierow bei Greifswald 1996 (= Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen 7). Haiduk, Manfred: P. Weiss’ Drama „Die Verfolgung und Ermordung JeanPaul Marats…“, in: Weimarer Beiträge 12 (1966), S. 81–104, 186–209.

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Haiduk, Manfred: Peter Weiss und das Volkstheater Rostock, in: Das Profil. Volkstheater Rostock. Spielplan. Vorschau für die Jahre 1977/78/79 bzw. 1979/80/81, Rostock 1977 bzw. 1979. Heidorn, Günter: Die III. Hochschulreform – Versuch einer Verbesserung der Leitung und Planung im Hochschulwesen der DDR, in: Zur Geschichte wissenschaftlicher Arbeit im Norden der DDR 1945 bis 1990, in: Guntan, Martin / Herms, Michael / Pade, Werner (Hg.): [Reader zum] 100. Rostocker wissenschaftshistorischem Kolloquium [am] 23. und 24. Februar 2007, Rostock 2007, S. 120–123. Klunker, Heinz: Zeitstücke und Zeitgenossen. Gegenwartstheater in der DDR, überarb. und erw. Fassung, München 1975 (= dtv 1070). Meyer, Hans-Joachim: Hochschulpolitik in der DDR, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Bd. III,1, Baden-Baden / Frankfurt/Main 1995, S. 374–381, 408. Pietschmann, Michael: Hanns Anselm Perten. Leben und Wirken eines Theatermannes im Spiegel der DDR-Kulturgeschichte, Diss., Rostock 2003. Redeker-Thurm, Brigitte: Peter Weiss – Dramatiker des Übergangs. Untersuchungen zur Schaffensperiode von 1963 bis 1967, Diss. Berlin 1969. Redieck, Mathias / Schade, Achim (Hg.): Theater! Aus der Geschichte der Rostocker Bühnen, Rostock 1995. Schoenemann, Julius / Seifert, Angelika: Der große Schritt. Die Dritte Hochschulreform in der DDR und ihre Folgen, dargestellt an einem Beispiel aus der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock 1969– 1972, 2. Aufl., Rostock / Dannenberg 1998. Waterkamps, Dietmar: Handbuch zum Bildungswesen der DDR, Berlin 1987. Wendt, Ernst: Peter Weiss zwischen den Ideologien, in: Akzente 12, 5 (1965), S. 415–425.

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Anhang

Manfred Haiduk, Peter Weiss, Hanns Anselm Perten, Hans-Joachim Bernhard bei dem Pressegespräch vor der Premiere von „Marat/Sade“ 1965. Foto von Hildegard Levermann-Westerholz (Privatbesitz)

Manfred Haiduk, Peter Weiss, Hanns Anselm Perten 1965 bei dem Pressegespräch zur Premiere von „Marat/Sade“. Foto von Hildegard Levermann-Westerholz (Privatbesitz)

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Manfred Haiduk, Peter Weiss und Hanns Anselm Perten bei der Ankunft von Weiss in Rostock im März 1968 zur Vorbereitung von Viet Nam Diskurs. Fotograf unbekannt (Privatbesitz)

Forschungsfelder

Reinhard Hahn

„In der Deutschen Demokratischen Republik hat das Mittelalter endgültig ausgespielt“ Die Jenaer Altgermanistik zwischen Beharrung und sozialistischer Umgestaltung1

Mit der Altgermanistik in Jena wende ich mich Personen und Prozessen an einer der kleineren Universitäten zu und einem Teilgebiet unseres Fachs, das in diesem Band unter Literaturwissenschaft eingeordnet ist, vor einem halben Jahrhundert jedoch wohl eher der Sprachwissenschaft zugerechnet worden wäre. Was heute „germanistische Mediävistik“ genannt wird und früher kurz „Altgermanistik“ hieß, war verkürzt formuliert eine Verbindung von Sprachgeschichte und mittelalterlicher Literaturgeschichte.2 Diese Teildisziplin wurde in der DDR seit den fünfziger Jahren mehr und mehr zurückgedrängt, so dass sie späterhin mancherorts im Grunde nicht mehr existierte. Regelmäßige germanistische Lehrveranstaltungen setzen in Jena ein mit Heinrich Rückert, Rochus von Liliencron und Franz Xaver Wegele.3 Die Gründung des Deutschen Seminars 1881 verdankte sich der Autorität des Zarncke-Schülers Sievers, der einundzwanzigjährig als a.o. Professor für germanische und romanische Philologie berufen worden war und 1880 eine hochdotierte Professur in Harvard ausschlug, um zunächst in Tübingen, dann in Halle und seit 1892 als Nachfolger Zarnckes in Leipzig zu wirken.4 Die Jenaer Institutsgründung zählte zu den letzten im Reich; Bonn und Halle, Heidelberg und Leipzig, Marburg und Tübingen, Rostock und Greifswald (um nur einige Universitäten zu nennen) waren längst vorangegangen. 1 2 3

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Zu dem Zitat aus Girnus, Perspektiven, S. 4, siehe unten (Anm. 27). Ablesbar gelegentlich noch an Institutsnamen wie „Institut für deutsche Sprache und mittelalterliche Literatur der Justus Liebig-Universität Gießen“. In Jena erwuchs die neue Disziplin im Wesentlichen aus der thüringischen Landesgeschichte. Zur älteren Fachgeschichte vgl. Germann, Geschichte, und den Sammelband Hahn/Pöthe (Hg.), Studien. Vgl. Germann, Gründung.

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Der Name der Hochschule „Großherzoglich- und Herzoglich-Sächsische Gesamtuniversität“ verweist auf die Thüringer Kleinstaaterei und die mit dieser verbundenen finanziellen Dauermisere; die „überknappen Jenaer Professorengehälter“ waren sprichwörtlich, so dass bedeutende Gelehrte wie Sievers selten waren.5 Als dieser Jena 1883 verließ, zählte die Seminarbibliothek 212 Titel. Seit 1912 gab es kontinuierlich eine Ältere und eine Neuere Abteilung, und bei der Musterung der weiteren Institutsgeschichte stößt man mehrfach auf die Namen Gelehrter, die später andernorts von sich reden machten, etwa Hans Naumann, Friedrich Beißner und Hennig Brinkmann. Der Germanist, Mittellateiner und Grammatiker Brinkmann, dessen fachlicher Rang außer Frage steht, trat in seiner Jenaer Zeit in die NSDAP und in die SA ein und publizierte seit 1934 Schriften, deren Nähe zu den neuen Machthabern unübersehbar ist und die in den Bibliographien des späteren Mitherausgebers der Zeitschrift „Wirkendes Wort“ fehlen.6 Nach dem Krieg begann er eine zweite Karriere in Münster, die ihn bis zum Institutsdirektor an der Westfälischen Wilhelms-Universität aufsteigen ließ.7 Es geht mir nicht um wohlfeile moralische Kritik am Verhalten eines Wissenschaftlers in jener Zeit, vielmehr möchte ich andeuten, dass Licht und Schatten sich nicht immer ganz so eindeutig verteilen wie in manchen neueren Darstellungen. Die ehemaligen Parteimitglieder, auf die man nicht verzichten konnte oder wollte, gab es in beiden deutschen Staaten. Damit bin ich zeitlich bei meinem Thema angelangt: der Jenaer Altgermanistik vom Ende des II. Weltkriegs bis zum absehbaren Ende der deutschen Teilung. Meine Skizze gründet sich auf die Akten des Jenaer Universitätsarchivs und auf die neuere fachgeschichtliche Literatur; manches wertvolle Detail war und ist auch noch von Zeitzeugen zu erfahren.8 In einem ersten Schritt werde ich prosopographisch vorgehen und die wichtigsten Fachvertreter vorstellen. Anschließend möchte ich umrisshaft ein Stimmungsbild der Jenaer Germanistik in der langen Periode vom Mauerbau bis zum Ende der DDR skizzieren, weil ich meine, dass Entwicklungen, Umbrüche und Abbrüche im Fach erst verständlich werden, wenn man sie auf dem Hintergrund des akademischen Alltags beurteilt. Abschließend werde ich mich der 5 6

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Litzmann, Deutschland. Mit der Schrift: Die deutsche Berufung des Nationalsozialismus. Deutsche Spannungen – Deutsche Not – Deutsche Umkehr, Jena 1934, bewegte Brinkmann sich, so Pilger, Germanistik, „während des Dritten Reichs innerhalb der Politisierungsskala sämtlicher Germanisten-Publikationen am äußersten oberen Rand“. 1947 erlangte Brinkmann ein Entlastungszeugnis des Kreises Lippstadt, 1963–1969 war er o. Prof. für Mittellateinische Philologie und Direktor des „Seminars für Mittellateinische Philologie“ an der Universität Münster. Vgl. Rüter, Brinkmann. Ich denke an Gespräche mit Elisabeth Ulbricht und Heinrich Götz in Leipzig, die mit Frings zusammengearbeitet hatten, und mit Helmut Brandt und Heinz Endermann in Jena, die sich an Lehrer und Kollegen wie Becker und Tschirch erinnerten.

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Frage zuwenden, inwieweit die je besondere Leistungsfähigkeit des Fachs an den einzelnen Universitäten sich aus der Persönlichkeit ihrer Vertreter, oder aber auch aus strukturellen Gegebenheiten erklären lässt. Nach dem Abzug der amerikanischen Truppen im Juni 1945 rückte die Rote Armee nach, und wenige Tage später kam es zur Gründung der „Sowjetischen Militäradministration Thüringen“. Als die durch Bomben stark in Mitleidenschaft gezogene Universität Jena im Oktober des Jahres unter der Besatzungsmacht wiedereröffnet wurde, galt es elementare Voraussetzungen für die Wiederaufnahme von Lehre und Forschung zu schaffen. Besonders drängend war die Personalnot, verursacht durch die Entnazifizierungsmaßnahmen, durch Deportationen zunächst durch die amerikanische, dann die sowjetische Besatzungsmacht, durch Kriegsgefangenschaft und Westflucht.9 Für das bescheiden ausgestattete Fach Deutsch ergaben sich – auch wenn die Zahl der Studierenden sich anfangs auf moderate 27 belief – massive Probleme.10 Während Leipzig mit Frings und Korff über angesehene Gelehrte der älteren Generation verfügte, die ihr Amt weiterhin ausüben konnten, und in Halle Baesecke rasch entnazifiziert und wieder eingesetzt wurde, litt Jena ähnlich Greifswald und Rostock unter einem erheblichen Personalmangel, der noch längere Zeit fortbestand. Die Lehre am Deutschen Seminar wurde von Carl Wesle getragen; zudem war der Dozent Heinz Stolte tätig.11 Wesle, in Jena mit Unterbrechungen seit 1922 tätig, hat eine breite, in traditioneller Weise auf das Gesamtgebiet des Fachs zielende Lehrtätigkeit entfaltet, die vom Gotischen und Altnordischen über Goethezeit und Romantik bis zu Mörike, Fontane und Hesse reichte. Sein Œuvre ist jedoch unverkennbar ein altgermanistisches. 1912 war er mit einer Arbeit über einen althochdeutschen Glossencodex promoviert worden, die Habilitation von 1920 war der frühmittelhochdeutschen Epik gewidmet. In die erste Jenaer Periode fallen die „Frühmittelhochdeutschen Reimstudien“, seine einzige Monographie; und demselben Dezennium gehören zwei Editionen an, die sich bis heute behauptet haben: Priester Wernhers „Maria“ und „Das Rolandslied des Pfaffen Konrad“. Einige Aufsätze galten dem „Nibelungenlied“, der Heldensage und Wolframs „Parzival“. Den Schwerpunkt seiner Forschungen bildeten das 12. Jahrhundert und die höfische Klassik, und ihr methodologischer Horizont lässt sich mit dem Epitheton „historisch-philologisch“ andeuten. Erwähnt sei noch 9 10

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Diese Maßnahmen führten zwischen 1944 und 1947 zu einer Reduzierung der Professorenschaft um ein Drittel. Vgl. Universitätsarchiv Jena [im Folgenden UAJ] (Bestand BB, Nr. 084). In einem Schreiben des Verwaltungsdirektors der Universität an die Sozialversicherungsanstalt Thüringen vom 11.1.1950 heißt es dann, Wesle habe ca. 500 Studenten betreut; vgl. UAJ (Bestand D, Nr. 3198), Personalakte Carl Wesle, Bl. 30. Vgl. ‚Wesle, Carl‘, in: UAJ (Bestand D, Nr. 3198), Personalakte Carl Wesle; Haustein, Wesle; Stolte-Batta, Literaturwissenschaftler Heinz Stolte.

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Wesles Mitarbeit am „Deutschen Wörterbuch“, und endlich arbeitete er auch auf volkskundlichem Gebiet.12 Wie die genannten Namen verdeutlichen, stand auch an den Universitäten in der sowjetisch besetzten Zone der Neubeginn im Zeichen der Tradition, konnte man auch hier nicht ganz auf jene verzichten, die als politisch belastet galten. In Jena wurde das Fach von demselben Ordinarius vertreten wie vor dem Krieg, die politische Zäsur 1945 findet keine Entsprechung in der innerfachlichen Entwicklung.13 Die zentrale Frage jener Jahre war indes nicht die nach den politischen Auffassungen Wesles, sondern die, wie sich der Lehrbetrieb aufrechterhalten lasse. Wesle war schwer krank, und Stolte ging 1949 an die Humboldt-Universität und im Jahr darauf in den Westen, so dass die Lehre allein von Assistenten, Lektoren und Hilfsassistenten aufrechterhalten wurde. Nach Wesles Tod 1950 gab es keinen festangestellten Hochschullehrer mehr, geschweige denn prägende Persönlichkeiten, die durch wissenschaftliche Leistung zu überzeugen gewusst hätten. Gastvorlesungen, etwa von Hans Friedrich Rosenfeld, die der Dekan Griewank vorschlug, und einige andere Personalvorschläge scheiterten am Thüringer Volksbildungsministerium. Die Folgezeit war durch Provisorien und Experimente geprägt. Zunächst übertrug man die Institutsleitung dem aus England zurückgekehrten Albert Malte Wagner.14 Er erhielt an der neugegründeten „Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät“ eine Professur für Kultursoziologie mit Lehramt für Germanistik; doch da er nach einem Lehrstuhl an der Philosophischen Fakultät strebte, blieben Konflikte nicht aus. Eine Vorlesung über „Die Geschichte der Sowjetunion“ musste er im Sommersemester 1951 auf Anweisung des Staatssekretariats einstellen. Wagner scheiterte, um es kurz zu machen, an den Jenaer Verhältnissen. In zahlreichen Briefen bis hin zum Präsidenten der DDR Pieck erhob er Forderungen wie die, ihm ein eigenes Institut an der Berliner Akademie zu übertragen; dann wandte er sich an die 12

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Wesle war für ein halbes Jahrhundert der letzte Vertreter dieses Fachs in Jena. In den 50er Jahren bemühte sich Henrik Becker vergeblich um dessen Neuaufbau unter dem Dach des „Germanistischen Instituts“. Wesle stand dem „Deutschen Seminar“ vor, fungierte mehrfach als Dekan und führte als solcher 1946 die Ehrenpromotion von Ricarda Huch durch, galt jedoch wegen zweifachen NSDAP-Aufnahmeantrags als politisch belastet. Vom Rektor Zucker, der ihm 1946 bescheinigte, sich „der Partei ferngehalten“ zu haben, bis in die Universitätsgeschichtsschreibung der DDR hat man jedoch stets seine Integrität betont. Vgl. Schmidt, Alma mater Jenensis, S. 290. Peter Wapnewski widmete seine Neubearbeitung von Wesles „Rolandslied“-Ausgabe „dem Andenken eines Menschen und Philologen, auf dessen Wesen der altmodische Tugendbegriff der Redlichkeit sehr wohl zutrifft.“ Wesle, Rolandslied, S. XIII. Zu Wesles Verhalten in der Zeit der NS-Diktatur vgl. Pöthe, Kulturideal und Nationalsozialismus; Jeskow, Entnazifizierung. Vgl. ‚Wagner, Albert Malte‘, in: UAJ (Bestand D, Nr. 2177), Personalakte Albert Malte Wagner; Pleßke, Wagner; Jessen, Elite und Diktatur, S. 325. Zur Situation des gesamten Fachs vgl. Pöthe/Hahn, Germanistik.

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Jenaer Behörde der Staatssicherheit um Unterstützung, die ihm nach Berlin zu gehen empfahl; 1955 kehrte er frustriert nach England zurück. In der Geschichte der Jenaer Germanistik bildete auch das Jahr 1949 keine Zäsur. Eine solche ist erst 1951/52 auszumachen, als die Bemühungen der sogenannten Zweiten Hochschulreform15, die Universitäten in sozialistische Hochschulen umzugestalten, erste Ergebnisse zeitigten: die Bildung von Studiengruppen nach sowjetischem Vorbild, die Einführung des zehnmonatigen Studienjahrs, von Studienplänen mit obligatorischem Russischunterricht, die Einsetzung von Fachrichtungsleitern, der Erlass einer Assistentenordnung. Nun erschien das Personal- und Vorlesungsverzeichnis erstmals unter der Überschrift „Deutsche Demokratische Republik. Staatssekretariat für das Hochschulwesen“. Erst jetzt wurde die politische und fachliche Profilierung des Instituts eingeleitet mit der Berufung des Sprachwissenschaftlers Henrik Becker und des Neugermanisten Joachim Müller. Während die Berufung Müllers für die Neuere Literaturgeschichte einen Neuanfang bedeutete, dem eine fruchtbare, wenn auch an Kontroversen nicht arme Phase folgte,16 verlief die Entwicklung in der Älteren Germanistik weniger kontinuierlich. Trotz der Berufung Beckers und der Einstellung des Assistenten Mettke war bis in die zweite Hälfte der fünfziger Jahre durchaus unentschieden, in welche Richtung das Fach sich entwickeln und wer sein führender Vertreter sein sollte. Vereinfachend ließe sich sagen: zunächst war es Becker, für kurze Zeit dann Tschirch und endlich für viele Jahre Mettke. Obwohl Becker, Sohn des bekannten Romanisten Philipp August Becker, nicht wenig publizierte, ist er nahezu fast vergessen; allenfalls in Arbeiten zum Prager Linguistenzirkel stößt man noch auf seinen Namen.17 Für seine Berufung dürfte nicht zuletzt seine politische Haltung gesprochen haben: Becker konnte auf eine ins Jahr 1925 zurückgehende SPD-Mitgliedschaft verweisen.18 Nach Gründung der SED musste er sich jedoch die Frage gefallen lassen, warum er nicht in die KPD eingetreten sei. Immerhin lag sein Fall anders als der des aus dem Schuldienst geholten Joachim Müller, der NSDAP-Mitglied gewesen war und dem zum Zeitpunkt der Berufung noch die Habilitation fehlte.19 Nach wie vor mangelte es also an Persön15 16 17 18 19

Vgl. den Beitrag von Kersten Krüger in diesem Band. Vgl. Schmidt, Kontroversen, und Boden, Joachim Müller. Zu den Kontroversen um Joachim Müller siehe auch den Beitrag von Rainer Rosenberg in diesem Band. Vgl. ‚Becker, Henrik‘, in: UAJ (Bestand D, Nr. 38), Personalakte Henrik Becker; Ehlers, Henrik Becker; Ehlers, Becker. Becker trat 1946 in die SED ein, verließ sie jedoch im Jahr des Ungarnaufstands wieder. Wer Müller zur Berufung vorschlug und diese bei den maßgeblichen Instanzen durchsetzte, ist m. W. noch nicht untersucht. Während Wesle seine NSDAP-Mitgliedschaft nach 1945 bestritt, spielte Müller sie später herunter. Einige andere verschwiegen sie. Zu diesem Thema vgl. Hahn, Gerhard Scholz und sein Kreis.

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lichkeiten, die sich als Vertreter einer sozialistischen Universität empfahlen. Obwohl Becker seinen Bruch mit dem Bürgertum, seine Verbundenheit mit der Arbeiterbewegung und seine Verwurzelung im Marxismus betonte, scheint auch er die NS-Zeit nicht völlig kompromisslos durchlebt zu haben. Jedenfalls sah der Verlag seiner „Sprachgeschichte“ (1944) sich veranlasst, alle Stellen, an denen vom Dritten Reich und seinem Führer die Rede war, neu zu formulieren oder zu überkleben. Becker wirkte von 1953 bis 1968 als Professor für Germanistik in Jena, aber nur wenige Jahre am „Germanistischen Institut“. Anfänglich scheint Einvernehmen zwischen allen Beteiligten geherrscht zu haben, die Institutsleitung übte Becker mit Müller gemeinsam, die Fachrichtungsleitung allein aus. Doch schon 1953 trat er von diesen Ämtern zurück, und in der Folge kam es zu wachsenden Spannungen, für die man im Einvernehmen mit dem „Staatssekretariat für das Hochschulwesen“ folgendes Arrangement fand: Becker überließ die Lehre auf dem Gebiet der Sprachgeschichte und älteren Literatur dem 1956 aus Greifswald berufenen Fritz Tschirch und erhielt dafür ein eigenes „Institut für Sprachpflege und Wortforschung“ außerhalb des „Germanistischen Instituts“. Er stand diesem Institut bis zu seinem Ausscheiden aus dem Amt im Jahr 1968 vor, in dem die inzwischen in ein Sprachwissenschaftliches und in ein Literaturwissenschaftliches Institut aufgeteilte Germanistik im Zuge der sogenannten Dritten Hochschulreform20 in den Sektionen Literatur- und Kunstwissenschaft und Sprachwissenschaft aufging. Mit Beckers breit gefächerten Interessen hängt zusammen, dass er auf sprach- und literaturwissenschaftlichem Gebiet arbeitete. In der Lehre behandelte er das Altnordische, aber auch die Ausdrucksmittel Schillers, die Sprache der neueren Zeit und Wortbildung sowie die Geschichte der deutschen Literatur im 14. und 15. Jahrhundert. Dabei trug er keine Scheu, starke Formulierungen zu gebrauchen. So kann man in einem autobiographischen Text lesen: „[E]rlernte alle deutschen Nachbarsprachen und die gute Hälfte der etwa 90 europäischen Sprachen, sodaß ich erster Kenner des deutschen Sprachraums und des europäischen Sprachraums bin“.21 Schwerer wog eine Neigung zu unorthodoxen wissenschaftlichen Auffassungen, gepaart mit der Gewissheit, Probleme lösen zu können, mit denen bereits Generationen gerungen hatten. So edierte er mehrere Heldenepen, darunter das „Nibelungenlied“, wobei er dessen Dichter im Meister Konrad der „Klage“ gefunden zu haben meinte.22 Bei dieser, „Warnlieder“ betitelten, Edition ging es Becker um eine prinzipielle Neubewertung der Gattung, er 20 21 22

Vgl. den Beitrag von Matthias Glasow in diesem Band. [Autobiographischer Text (undatiert)], in: UAJ (Bestand D, Nr. 38), Personalakte Henrik Becker. Beckers Neubewertung des „Nibelungenlieds“ wurde in gewisser Weise aufgenommen durch Bräuer, Literatursoziologie.

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verstand die Texte als „Warnruf derer, die mit Sorge die Entwicklung der Klassengesellschaft und ihre Widersprüche sahen“. Auch in seiner Literaturgeschichte unterlief er tradierte Positionen, etwa, wenn er den Schluss des nebenbei zum „Hadubrandlied“ erklärten „Hildebrandslieds“ erzählte, ohne zu erwähnen, dass dieser gar nicht überliefert ist und er sich hierfür auf das „Jüngere Hildebrandslied“ stützte.23 Becker war ein ungewöhnlicher Wissenschaftler, ein produktiver Germanist und polyglotter Linguist, dem die Einheit von Sprach- und Literaturwissenschaft eine Selbstverständlichkeit war und der als Philologe, Übersetzer und Lexikograph, als Sprachwissenschaftler, Grammatiker und Sprachlehrer wirkte. Seiner Ausbildung nach repräsentiert er – noch bei Sievers und Streitberg in Leipzig ausgebildet und 1923 bei Friedrich Neumann mit einem heldenepischen Thema promoviert – ältere Traditionen. Doch hielt er 1926 in Prag in jenem Kreis einen Vortrag, aus dem wenig später die ‚Prager Strukturalistenschule‘ erwuchs. Nach dem Krieg waren seine Arbeitsschwerpunkte die Grammatik, deren didaktische Vermittlung und die Stilistik. Sein auf einen neuen Aufbau der Gesamtgrammatik zielendes großes Projekt einer „Sprachkunde“ blieb Fragment, es hat ihn ein halbes Jahrhundert beschäftigt; noch 1981 plante er ein „Weltbild von der Sprache“. Auch seine Wörterbuchprojekte – darunter ein Schiller-Wörterbuch – konnte er nur partiell verwirklichen. Der Wechsel Tschirchs nach Jena 1956 fiel zusammen mit einer allgemeinen Verschärfung des politischen Klimas.24 Um die Umwandlung der Universitäten in sozialistische Hochschulen zu forcieren, erließ die SEDFührung 1957 eine Assistentenordnung, die auf die Entfernung politisch missliebiger Personen zielte, zu deren unbeabsichtigten Wirkungen jedoch eine dramatische Zunahme der ‚Republikfluchten‘ unter dem Hochschulpersonal gehörte. Ende 1958 sah die SED sich zu einer Revision ihres Kurses gezwungen. Doch bereits am 5. Mai dieses Jahres hatte der Rektor dem Staatssekretariat mitgeteilt: „Es ist anzunehmen, dass Herr Professor Dr. Fritz Tschirch das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik illegal verlassen hat und republikflüchtig ist.“25 Die Pointe: Rektor Hämel tat es Tschirch nach, kurz vor dem Universitätsjubiläum von 1958, worauf die vox populi formulierte: „Sei kein Dämel, mach’s wie Hämel!“ 23 24

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Becker, Bausteine, S. 23–24. Tschirchs Versetzung nach Jena erfolgte lt. einer Aktennotiz der Jenaer Behörde der Staatssicherheit, weil „sich an der Universität Greifswald in der Fachrichtung Germanistik eine reaktionäre Gruppe von Wissenschaftlern zusammengefunden hatte“. Zit. nach Boeters, Tschirch, S. 1912. Vgl. den Beitrag von Kersten Krüger in diesem Band zur Agitation gegen Hildegard Emmel (Rostock und Greifswald). Bei Tschirchs Wechsel nach Jena mögen auch persönliche Gründe eine Rolle gespielt haben. UAJ (Bestand D, Nr. 2718), Personalakte Fritz Tschirch. Das Blatt im Format DIN A5 ist zwischen den Blättern 86 und 84 (diese Reihenfolge!) eingeheftet.

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Tschirchs Biographie zeigt Parallelen zu der Müllers. Wie dieser wurde er nach dem Krieg aus dem Schuldienst an die Universität berufen. Mit Müller verband ihn auch das Herkommen aus einer renommierten Schule: 1929 war er bei Julius Petersen mit einem neugermanistischen Thema promoviert worden. Schon Anfang 1958 bat Tschirch den Rektor, seinen Austritt aus dem Amt zum Jahresende vorzubereiten. Als Hauptgrund nannte er die Relegierung seines Sohns von der Universität Halle; der Vorgang zeige ihm nach seinem „erzwungenen Fortgang aus Greifswald“ abermals, dass er nicht mehr das Vertrauen des Staatssekretariats besitze. Im Mittelpunkt seiner Lehrtätigkeit stand die Sprachgeschichte vom Mittelalter bis in die neuere Zeit; in diesen Kontext gehören auch Veranstaltungen zur Mundartenkunde, zum Mittelhochdeutschen und zum Märchen. In Hauptseminaren behandelte er den „Ackermann“ und den „Helmbrecht“, dem er später eine Ausgabe widmete. Seine wichtigen Arbeiten wie die Sprachgeschichte fallen überwiegend in die Folgezeit; in Jena scheint er nicht zu produktivem Schaffen gekommen zu sein. Vorgesetzte, Kollegen und Schüler haben Tschirch stets als einen vorzüglichen Pädagogen gerühmt, aber auch sein solides Fachwissen anerkannt, wie seine Hingabe an die philologische Arbeit, etwa die langjährige Mitarbeit am „Deutschen Wörterbuch“, aus der über 450 Artikel erwuchsen. Dass sein episodisches Wirken in Jena vornehmlich durch die politische Situation bedingt war, dürfte nicht zweifelhaft sein. Die Bemühungen, die sozialistische Umgestaltung der Universitäten zu forcieren, verbinden sich besonders mit dem Namen des Staatssekretärs Wilhelm Girnus, eines alten Funktionärs der KPD. Zu den Maßnahmen, die er ins Auge fasste, gehörte die „vollständige Ausschaltung des bürgerlichen Einflusses“ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Namentlich in den Geisteswissenschaften müsse „der größte Teil der bürgerlichen Lehrkräfte früher oder später doch entfernt werden“. Was das für die Altgermanistik bedeutete, war einer Rede zu entnehmen, die Girnus 1957 auf der Rektorenkonferenz hielt. Es erscheine „zweckmäßig zu überprüfen, ob in der Ausbildung unseres germanistischen Nachwuchses die Beschäftigung mit dem Althochdeutschen, Gotischen und Mittelhochdeutschen im Vergleich zur lebenden Sprache der Gegenwart nicht einen unverhältnismäßig breiten Raum einnimmt. Bei aller Ehrfurcht vor unserer nationalen Vergangenheit müssen wir uns davor hüten, einem sterilen Historismus zu verfallen.“26 26

Girnus, Idee, S. 24. Der zitierten Stelle, die auch im „Neuen Deutschland“ vom 16.6.1957 abgedruckt wurde, geht eine Attacke gegen den „Jenenser Ordinarius Prof. Dr. Müller mit sehr persönlichen Meinungen über die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts“ voran. Die Reihenfolge der von Girnus genannten Sprachstufen könnte Zweifel an seiner fachlichen Kompetenz aufkommen lassen, doch hatte er ein reguläres Studium der Germanistik und Romanistik in Breslau, Königsberg und Paris absolviert und 1928 in Berlin mit dem Staatsexamen für das höhere Lehramt abgeschlossen. Von 1962 bis 1971 bekleidete er eine literaturwissenschaftliche Professur an der Berliner Humboldt-Universität.

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In einer weiteren, im „Neuen Deutschland“ publizierten Rede, der das diesem Beitrag vorangestellte Zitat entstammt, steigerte Girnus diesen Gedanken mit der Feststellung, die „religiös-klerikale Gedanken- und Gefühlswelt des Mittelalters“ gehöre nun „ins Museum wie Kettenpanzer und Lanze“.27 Dass dies mehr war als eine zugespitzte Formulierung, zeigt der Umstand, dass sie fast wörtlich auch im Protokoll jener Sitzung der Greifswalder Philosophischen Fakultät wiederkehrt, die der Abrechnung mit den verhassten bürgerlichen Professoren wie dem Altgermanisten Rosenfeld diente.28 Tschirchs Nachfolge trat Heinz Mettke an.29 Seit 1965 „Professor mit Lehrstuhl für Deutsche Sprache und ältere Literatur“, prägte er die Jenaer Altgermanistik bis zu seinem Ausscheiden aus dem Amt 1989. Während sich für Tschirchs Jenaer Zeit kaum Arbeitsschwerpunkte benennen lassen und die Beckers denkbar breit gefächert von einer ‚Rückredaktion‘ der homerischen Epen über eine Neufassung des Neuen Testaments bis zum Plan einer Walther-Ausgabe reichen, lassen Mettkes Arbeitsgebiete sich klar er27

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Girnus, Perspektiven, S. 4. Der Passus, überschrieben „Das Mittelalter hat ausgespielt“, lautet vollständig: „Der Wissenschaftliche Beirat für Germanistik wird im Zusammenhang mit der Aufstellung eines Perspektivplans auch die Studienpläne daraufhin überprüfen müssen, ob die bestehende Proportion des Studiums zwischen mittelalterlicher und neuerer Literatur unseren heutigen Bedürfnissen noch entspricht. In Deutschland herrscht seit den Tagen der Romantik eine Überbetonung des Mittelalters im Studium der Philosophie, der Geschichte, der Kunstgeschichte und der Literatur. Wir schätzen Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach außerordentlich, aber man kann nicht übersehen, daß ihre Sprache nicht mehr die unsrige ist; die religiös-klerikale Gedanken- und Gefühlswelt des Mittelalters vollends gehören [!] ins Museum wie Kettenpanzer und Lanze. Die Neuzeit beginnt in Kunst und Literatur dort, wo die Emanzipation des Menschen aus den Fesseln religiöser Vorstellungen einsetzt. In der Deutschen Demokratischen Republik hat das Mittelalter endgültig ausgespielt, und die Weltanschauung unseres Jahrhunderts ist der dialektische Materialismus. Eine Germanistik, die sich nicht auf dieser Grundlage konstituiert, hat keine Zukunft. Fähigkeit und Bereitschaft, diesen Entwicklungsprozess der Wissenschaft nach Kräften zu fördern, gehören fortan zum Merkmal des seriösen Fachwissenschaftlers.“ Vgl. dazu auch den Beitrag von Rudolf Bentzinger in diesem Band. Hier erklärte ein Parteisekretär: „Auch gehört unserer Meinung nach die rel.-klerikale Gefühlswelt des Mittelalters (und damit auch die Sprache, die Herr R[osenfeld] spricht) ins Museum.“ Protokoll über die Fakultätssitzung der Philosophischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald am 12. 3. 1958. In: Boden/Rosenberg, Literaturwissenschaft, S. 151. Vgl. ‚Mettke, Heinz‘, in: UAJ (Bestand D, Nr. 3174), Personalakte Heinz Mettke; Weigelt, Mettke; Manger, Germanistik in Jena. Ein Nachruf von Rudolf Bentzinger auf Heinz Mettke erscheint in Jg. 15 des „Mitteldeutschen Jahrbuchs“. Mettke (1924–2007) gehörte nicht mehr zu der älteren Generation, deren Ablösung erklärtes Ziel der Hochschulpolitiker wie Girnus und Hager war, aber auch nicht zu der ersten Generation marxistisch ausgebildeter Germanisten wie Walter Dietze, Hans Kaufmann und Claus Träger, die ihre Hinwendung zum Marxismus mit dem Erlebnis der sowjetischen Kriegsgefangenschaft oder dem Vorbild eines Lehrers wie Gerhard Scholz erklärten. Obwohl Mettke von 1946 bis 1989 der SED angehörte, war der Marxismus nichts, worüber er sich geäußert hätte. Es ging ihm stets und ausschließlich um die Sache, die Geschichte der deutschen Sprache.

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kennen. Seinem Lehrer Baesecke verpflichtet, sah er den Fixpunkt seiner Arbeit stets im Althochdeutschen, ablesbar besonders an vielen von ihm vergebenen Dissertationen. Einen althochdeutschen Teil enthalten auch seine „Altdeutschen Texte“ (1970), erwähnt sei auch die zweisprachige Anthologie „Älteste deutsche Dichtung und Prosa“ (1976), die drei Auflagen erlebte. Seit Beginn der sechziger Jahre tritt ein neuer Schwerpunkt hervor, präludiert durch die Habilschrift über Cunrad Merbot von Weida (1955): die Erforschung der thüringisch-obersächsischen Sprachdenkmäler bis um 1500. In diesem Rahmen entstand eine eindrucksvolle Zahl von Dissertationen. Vermutlich hätten diese Arbeiten größere Resonanz in der Fachwelt gefunden, wenn sie nicht – wie in der DDR üblich – vielfach nur maschinenschriftlich zugänglich gewesen wären.30 Seit dem Ende der fünfziger Jahre trat Mettke auch als Herausgeber hervor, zunächst mit Bearbeitungen vorliegender Ausgaben der „Altdeutschen Textbibliothek“, später mit neue Wege einschlagenden Editionen. In diesem Zusammenhang sei auch seine „Mittelhochdeutsche Grammatik“ (1964) genannt, die bald zu einem Standardwerk wurde. Es handelte sich um ein Desiderat; denn seit dem Weggang des Niemeyer Verlags von Halle nach Tübingen waren die bewährten Grammatiken, aber auch Editionsreihen wie die „Altdeutsche Textbibliothek“ und die „Neudrucke deutscher Literaturwerke“ nicht mehr verfügbar – wenn auch nicht von heute auf morgen, da der VEB Max Niemeyer Verlag Halle manche Titel bis in die späten sechziger Jahre nachdruckte. Galt Mettkes eigentliches Interesse der Sprachgeschichte, widmete er sich in Lehre und Forschung auch der Literatur des Mittelalters.31 Ein von seinem Mitarbeiter Wolfgang Schütz verfasster Rückblick nennt als einen weiteren Schwerpunkt der Älteren Abteilung die didaktische und sozialkritische Literatur des späteren Mittelalters.32 Hier wären Mettkes Stricker-Edition, eine von Schütz besorgte „Helmbrecht“Ausgabe und dessen Dissertation über den „Seifried Helbling“ einzuordnen. Dieser Schwerpunkt entsprach vermutlich am ehesten der regelmäßig wiederholten Aufforderung, besonders die sozialkritischen und -revolutionären Traditionen in der Literaturgeschichte herauszuarbeiten; doch war von ihm in späteren Jahren nicht mehr die Rede. Natürlich war auch die Jenaer Ältere Abteilung keine Insel der Seligen. Auf Dauer ließ sich das Althochdeutsche hier so wenig wie andernorts als zentrales Arbeitsfeld durch die Zeiten retten. Unübersehbar sind kleinere terminologische Retuschen in Veröffentlichungen; akzentuiert wird das Alt30 31

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Es ist bezeichnend, dass der von Mettke schon 1955 behandelte Cunrad Merbot von Weida erst 2004 im Nachtragsband 11 des neuen Verfasserlexikons erscheint. Zur Entlastung der Anmerkungen sei verwiesen auf die bibliographischen Angaben in dem Anm. 13 genannten Beitrag von Pöthe/Hahn, vgl. ferner: Bibliographie Heinz Mettke, in: Endermann, Deutsche Sprache, S. 6–9. Vgl. Schütz, Stätten germanistischer Forschung.

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hochdeutsche, das nunmehr ‚Sprache des Frühfeudalismus‘ heißt, als ein Abschnitt „unserer“ deutschen Nationalsprache, ein Verfahren, das den Vorteil bot, sich auf einflussreiche sowjetische Arbeiten wie die von Guchmann berufen zu können.33 Unbestreitbar aber gebührt Mettke das Verdienst, durch seine fachliche Autorität wie durch seine unbeirrbare Überzeugung von der Solidität der bei Baesecke gelernten philologischen Methode das Fach mit seinen Traditionen in Jena erhalten zu haben. Soweit der personengeschichtliche Abriss. Er lässt zwei Phasen in der Geschichte der Jenaer Altgermanistik erkennen, eine erste bis Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre reichende und eine zweite, die mit der DDR ihr Ende fand. Die erste Phase unterteilt sich wiederum in zwei Abschnitte. Der erste, 1950 endende Abschnitt steht im Zeichen der Kontinuität (Wesle), der zweite, bis zum Ende der 50er Jahre dauernde Abschnitt ist geprägt durch Provisorien und Experimente (Wagner) wie auch durch Konflikte und personelle Fluktuation, besonders seit Tschirchs Wechsel nach Jena. Die zweite, drei Jahrzehnte währende Phase (Mettke) lässt verschiedene Tendenzen erkennen. Neben herkömmlichen Arbeiten zum Althochdeutschen bedeutete die Erforschung des thüringisch-obersächsischen Sprachraums ein Novum, ebenso die freilich weniger deutlich ausgeprägte Hinwendung zu didaktischen und sozialkritischen Texten und zu Problemen, die einige Jahre später in der westdeutschen Germanistik aus anderen Gründen unter dem Losungswort der Sozialgeschichte an Bedeutung gewinnen sollten. Feststellungen wie die, Mettke habe die Nachfolge Tschirchs angetreten, suggerieren nun eine Normalität des akademischen Lehr- und Forschungsbetriebs, die tatsächlich immer weniger gegeben war und spätestens 1961 nicht mehr bestand. Natürlich waren die Verhältnisse keine konstanten, vielmehr könnte man die gesamte DDR-Geschichte als eine Abfolge von Krisen- und Stabilisierungsphasen beschreiben. Doch lassen sich für die Zeit vom Ende der fünfziger bis zum Ende der achtziger Jahre auch übergreifende Merkmale benennen. Seit den sechziger Jahren war das akademische Leben einer allumfassenden Ideologisierung unterworfen, die – so lästig sie sein mochte – von einem gewissen Zeitpunkt an als Normalität wahrgenommen wurde, da man ihr vom ersten Studientag an ausgesetzt war.34 Für das Jahr 1966 vermerken die Jenaer Akten eine Solidaritätsspendenaktion für das Volk von Nordvietnam, im Jahr darauf wurde aus Anlass des 50. Jahrestags 33

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Vgl. Mettkes Artikel 4.2.1. in Fleischer u. a. (Hg.), Kleine Enzyklopädie Deutsche Sprache, S. 563–606, von 1983: „Ausbildung der feudalen Gesellschaftsordnung“. Die Terminologie dieses Beitrags ist wesentlich anders als die des von Joachim Schildt verfassten Abschnitts 4.2.2. Der erste Studientag stellt noch eine Untertreibung dar; denn die Universitäten warben darum, dass die Studienanfänger vor Semesterbeginn einen mehrwöchigen Arbeitseinsatz absolvieren sollten, der euphemistisch „Studentensommer“ genannt wurde.

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der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution ein Kolloquium über Probleme der allgemeinen und der germanistischen Sprachwissenschaft in der Sowjetunion durchgeführt und wieder ein Jahr später waren die Institute gehalten, anlässlich des Karl-Marx-Jahres einschlägige Tagungen und Kolloquien durchzuführen. Erst die Retrospektive offenbart das ganze Ausmaß jener Ideologisierung. Wer versteht heute noch sofort das Anliegen einer 1966 durchgeführten Tagung über „Die Wechselwirkung von technischer und kultureller Revolution beim umfassenden Aufbau des Sozialismus in der DDR“? Es entstand eine eigene Terminologie von A wie Auslandskader bis Z wie zentraler Forschungsplan der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften der DDR, ein eigenes Abkürzungssystem von ABF bis ZIL, ein Katalog von Schlüsselwörtern wie Entwicklung, z. B. des Meinungsstreits, Erhöhung, z. B. des theoretischen Niveaus der Arbeit, Intensivierung, z. B. des Erfahrungsaustauschs, konzeptionell, z. B. konzeptionelle Weiterentwicklung der Germanistik, Konzentration, z. B. der Forschungspotentiale, Orientierung, z. B. am zentralen Forschungsplan, Verbesserung, z. B. der Kollektivarbeit, Zusammenarbeit, z. B. mit der Leiteinrichtung.35 Nicht zu trennen von der ideologischen Indoktrination war die Reglementierung durch die Instanzen, die die universitäre Selbstverwaltung abgelöst hatten und bei denen die Unterscheidung von „staatlich“ und „parteipolitisch“ ins Leere liefe. Der Sektionsdirektor – hauptberuflich vielleicht „Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte“ oder für „Didaktik des Russischunterrichts“ – hatte dem Informationsbeauftragen des Rektors monatlich zu berichten nach dem Schema 1. aktuelle politische und allgemeine Probleme, 2. Aktivitäten, 3. besondere Vorkommnisse – am Anfang und am Ende interessierte also die Politik, nicht die fachliche Arbeit. Jene Berichte sagen nur vermittelt etwas über die Jenaer Germanistik, umso mehr aber über die andauernde Misere namens DDR. Gut verpackt zwischen beruhigenden Erklärungen, die politische Situation sei „stabil“, melden sie in homöopathischen Dosen Unzufriedenheit nach oben: Beklagt wird die schlechte Versorgung mit Gemüse, das Fehlen von Heizspiralen für Warmwassergeräte, der Wegfall von Koks als Heizmaterial in Privathaushalten. Belegen solche Meldungen nur die systemimmanenten Probleme der DDR, so bezeugen Mitteilungen wie die, Kollegin X habe die Bezirksparteischule erfolgreich abgeschlossen und die DSF-Gruppe Y habe sich den sowjetischen Film Z angesehen, dass der Sinn für die Unterscheidung von universitären und außeruniversitären Belangen einen Tiefstand erreicht hatte. 35

Man könnte einwenden, dass Sektion nicht befremdlicher klinge als Department, Leiteinrichtung nicht abstrakter als Steuergruppe und ein Perspektivplan einer Zielvereinbarung nicht ganz unähnlich sei. Doch dass jene Sprachregelung schon damals als lächerlich und peinlich empfunden wurde, verraten ironisch-zynische Wendungen wie die von der „Rolle der Bedeutung“ und der „Geschichte des Elefanten vor, während und nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“.

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Doch hier sollte man nicht vorschnell urteilen; denn diese Unterscheidung bestand nur noch partiell. So war, wer an der Universität arbeiten wollte, aber keine Wohnung besaß, vom Wohlwollen seines Arbeitgebers abhängig. Am 11. Mai 1965 richtete der Abteilungsleiter Mettke ein zweiseitiges Schreiben an den Rektor Drefahl mit der dringenden Bitte, dem Leiter der „Abteilung Sprechwissenschaft“ ein Zimmer in Jena zur Verfügung zu stellen – 20 Jahre nach Kriegsende.36 Kaum nötig zu sagen, dass in der Stadt des VEB Carl Zeiß der Sprachwissenschaft keine Priorität zukam. Eine fast schon tragikomisch anmutende Notiz sei im Wortlaut zitiert: „Dr. Barschel nahm am 24.5.1983 in Gera an einem Erfahrungsaustausch mit Vertretern des Nationalrates der Nationalen Front und des Bezirkssekretariats über die Erfassung von Sekundärrohstoffen teil.“37 Ein promovierter Indogermanist konnte zu einer Beratung über die Wertstofferfassung in die Bezirkshauptstadt abgeordnet werden, ohne dass jemand daran Anstoß genommen hätte; im Gegenteil, die Reise wurde noch auf der Habenseite der „Sektion Sprachwissenschaft“ gebucht. Eine eingespielte Hierarchie verlangte, in den anzufertigenden Berichten an erster Stelle die je letzten Beschlüsse der Partei und die neuesten Ergebnisse der Sowjetwissenschaft zu würdigen, bedeutete doch „von der Sowjetunion lernen [...]“. Fast jeder Bericht beginnt daher mit der Feststellung, dass die Kollegen besonders intensiv die letzte Tagung des ZK der SED auswerteten, und regelmäßig wird betont, die letzten Maßnahmen der USA und der Bundesrepublik seien einhellig abgelehnt worden, während die jüngsten Beschlüsse der DDR-Regierung mit Genugtuung aufgenommen worden seien.38 Noch leichter ließ sich die dankbare Nutzung der „Sowjetwissenschaft“ behaupten, da der nähere Nachweis nicht gefordert war. Schon der Singular lässt ahnen, dass es gar nicht um eine bestimmte Wissenschaft oder um die Forschung an einem bestimmten Institut ging; es genügte das Bekenntnis, dass man sich von den Erkenntnissen der Sowjetwissenschaft leiten lasse, und vorteilhaft war der Zusatz, dass man sich über deren Fortschritte in der sowjetischen Presse informiere. Zur Bilanz jener Phase vom Ende der fünfziger bis zum Ende der achtziger Jahre gehört indes auch, dass alle Bemühungen, die Grenze undurchlässig zu machen und die DDR-Germanistik am sowjetischen Vorbild auszurichten, nur bis zu einem gewissen Grad erfolgreich waren. Der Hallenser Altgermanist Lemmer publizierte seine Artikel und Bücher – darunter Standardwerke wie seine „Narrenschiff“-Ausgabe – unbekümmert in 36 37 38

Vgl. UAJ (Bestand S II, Nr. 34). UAJ (Bestand S/I, Abt. XIII. 27), Sektion Sprachwissenschaft, Monatliche Informationsberichte an den Rektor 1978–1983. Eine Konferenz über „Struktur und gesellschaftliche Wirksamkeit der Sprache“ gab man 1972 als eine Zwischenbilanz des Forschungsstands nach dem VIII. Parteitag der SED aus.

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der Bundesrepublik und in Österreich; in Weimar sprach Hans Schwerte über „Faust und das Faustische“, als noch niemand von einem Fall Schwerte wusste; und Heinz Rupp erklärte 1978 bei einem Besuch in Leipzig schmunzelnd, er werde im Mittelalter-Band der DDR-Literaturgeschichte öfter zitiert als Karl Marx. Auch die von der Hochschulpolitik angestrebte Vereinheitlichung der Institute war nur teilweise erfolgreich. So kam es in Jena zu der bereits erwähnten Aufteilung des Fachs auf zwei Institute, die die Sektionsbildung und die Neustrukturierung der Philosophischen Fakultät nach 1990 überdauerte. Wenn etwas ausführlicher aus den Jenaer Akten zitiert wurde, dann deshalb, um deutlich zu machen, dass das, was geleistet wurde, trotzdem geleistet wurde. Der Weggang vieler Fachvertreter der älteren und jüngeren Generation wie Bischoff, Boeters, Markschies, Masser, Rosenfeld, Schirmer, Schmidt-Wiegand, Schmitt, Schröbler, W. J. Schröder, W. Schröder, Tschirch in den fünfziger Jahren hatte das Fach in einer Weise geschwächt, die man fast irreparabel nennen möchte. Nach dem Mauerbau fiel es zudem leicht, bestehende Kontakte nach Westdeutschland – die Mitgliedschaft im Niederdeutschen Sprachverein oder die Teilnahme an einer IVG-Tagung – zu unterdrücken. Das Problem wurde bekanntlich in der Weise gelöst, dass fortan ein halbes Dutzend sorgfältig ausgewählter Germanisten die DDR im Ausland „repräsentierte“. Mettke gehörte nicht zu ihnen; als er ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerbau wieder eine Einladung in die Bundesrepublik annehmen durfte, hatte er die 60 überschritten. Die bis in die sechziger Jahre noch leidlich funktionierende Versorgung mit westlicher Literatur kam mehr und mehr zum Erliegen. In Jena füllte der mediävistische Buchbestand vier Regale, und in Leipzig wurden beim Bezug des Hochhauses am nunmehrigen Karl-Marx-Platz die Institutsbibliotheken eines Theodor Frings und Werner Krauss auseinandergerissen. Eine Ausnahme machten nur die Zeitschriften, die in den Universitätsbibliotheken im Wesentlichen komplett verfügbar waren. Bereits erwähnt wurden die Lücken, die der Weggang von Verlagen wie Niemeyer und Hirzel riss. Es ist wohl mehr als ein Zufall, dass in der DDR keine wissenschaftliche Ausgabe des „Nibelungenlieds“ entstand. Man druckte die Sievers’sche Ausgabe (1921) nach und als Lizenzausgabe die metrische Übersetzung de Boors (1959), und verbreitet war die Prosaübersetzung durch Bierwisch (1961), von der zu vernehmen war, dass sie ihr ‚finish‘ Uwe Johnson verdanke,39 eine Übersetzung schuf auch Günter Kramer (1982). In welchem Maß das Gefühl für philologische Standards abhanden gekommen war, zeigt der Umstand, dass in späteren Jahren mancherorts die im Kinderbuchverlag Berlin erschienene

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Die Übersetzung war eine Gemeinschaftsarbeit, die aber nicht unter dem Namen Uwe Johnsons erscheinen durfte. Vgl. Bierwisch, Nibelungenlied. Geschichte einer Übsersetzung.

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Nacherzählung des Epos durch Franz Fühmann im akademischen Unterricht benutzt wurde.40 Nimmt man die Altgermanistik der DDR insgesamt in den Blick, ergibt sich keine einheitliche Bilanz. Universitäten wie Greifswald, Jena und Rostock wird man einen mehr oder minder regen Lehr- und Forschungsbetrieb nicht absprechen können. Zu konstatieren sind beachtliche Leistungen, Bücher wie Mettkes „Mittelhochdeutsche Grammatik“, Editionen wie Lemmers „Helmbrecht“- und „Narrenschiff“-Ausgabe, Übersetzungen wie Spiewoks „Parzival“ und Lemmers „Deutschsprachige Erzähler des Mittelalters“, aber auch die von Hans Joachim Gernentz seit den sechziger Jahren vorgelegten Anthologien, die einem breiteren Publikum in einer zunehmend verödenden Verlagslandschaft Texte und Auszüge von der althochdeutschen „Benediktinerregel“ bis ins 16. Jahrhundert erschlossen. Insgesamt lagen die Stärken wohl eher auf sprach- als auf literarhistorischem Gebiet; zumindest für die Lehre wird man das sagen dürfen. In Leipzig gab es neben sprachgeschichtlichen Vorlesungen Seminare zum Althochdeutschen, Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen, während die Literatur desselben Zeitraums in einer Überblicksvorlesung und einem Seminar in nur einem Semester abgehandelt wurde. Das Althochdeutsche wurde nicht nur in Jena durch die Zeitläufte gerettet, auch in Leipzig gab es entsprechende Veranstaltungen, was auch mit dem „Althochdeutschen Wörterbuch“ und seinen Mitarbeitern zu tun hatte. Unübersehbar sind auch manche Defizite, angefangen beim Fehlen eines eigenen Periodikums. Bis 1980 waren die „Weimarer Beiträge“ die einzige germanistisch-literaturwissenschaftliche Fachzeitschrift der DDR.41 Enthielten die ersten Jahrgänge noch mediävistische Aufsätze und Rezensionen von Gernentz, Spiewok und einigen anderen, traten in der Folge andere Themen immer stärker in den Vordergrund, wobei das Spektrum von der sowjetischen Dorfgeschichte bis zur populären Musik in der sozialistischen Kultur reichte.42 Dass diese Entwicklung nicht unbemerkt blieb, zeigt die 40

In den achtziger Jahren regte Wolfgang Spiewok auf einer Tagung des „Arbeitskreises Deutsche Literatur des Mittelalters“ an, eine Reihe von Textausgaben für den akademischen Unterricht ins Leben zu rufen, wogegen Heinz Mettke einwandte, dass seine „Altdeutschen Texte“ doch „alles“ enthielten, u. a. Auszüge aus dem „Nibelungenlied“. Mettkes Lesebuch scheint jedoch nicht an allen Universitäten die Rolle gespielt zu haben, die sein Herausgeber ihm wohl wünschte. 41 Vgl. Schandera, „Weimarer Beiträge“. Mediävistische Beiträge erschienen zunächst auch in dem Akademieperiodikum „Forschungen und Fortschritte“ sowie in der „Deutsche Literaturzeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft“. 42 Deutlich wird der Wandel beim exemplarischen Vergleich zweier Jahrgänge, für den ich die Jahre 1965 und 1985 auswähle. Jg. 11 (1965) der „Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft“ enthält neben dem Aufsatz von Spiewok, Wolfgang: Freidank, Heft 2, S. 212–242, Rezensionen und Annotationen von Gernentz über: Bumke, Joachim: Studien zum Ritterbegriff im 12. und 13. Jahrhundert, Heft 4, S. 641–642; Erb, Ewald: Geschichte der deutschen Literatur von

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folgende Kritik in einer Positionsbestimmung der „DDR-Literaturwissenschaft in den siebziger Jahren“, verfasst von Wolfgang Thierse und Dieter Kliche in der Mitte der achtziger Jahre: Als Desiderat literaturgeschichtlicher Forschung muss hier ausdrücklich auch auf die Literatur des Hochmittelalters verwiesen werden, die in den siebziger Jahren zum Bezugspunkt breiter Rezeption und Adaption geworden ist, deren wissenschaftliche Erschließung in der Publizistik aber bisher unproportional vernachlässigt wurde.43

Die Situation verbesserte sich 1980 mit der Gründung der „Zeitschrift für Germanistik“, und seit 1985 besaß Spiewok mit den „Greifswalder Mittelalter-Studien“ ein eigenes Publikationsorgan; beide Organe kamen ohne die ideologischen Scheuklappen der „Weimarer Beiträge“ aus.44 Wenn die traditionsreichen Hallenser „Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur“, sich 1980 von ihrem Namen trennten, bedeutete dies nur eine späte Anerkennung der Realität. Auch bestimmte Forschungsthemen spielten eine eher geringe Rolle, so die Artusepik. Aus dem Absolutheitsanspruch der marxistischen Theorie erklärt sich zu einem Gutteil, dass es eine Methodendiskussion wenigstens in der Mediävistik allenfalls in sehr eingeschränktem Umfang gab.45 Aufschlussreich ist auch die Geschichte der großen zwölfbändigen Literaturgeschichte, deren Entstehen sich über mehrere Jahrzehnte erstreckte und von der man sich die umfassend-abschließende Deutung des Materials auf marxistischer Grundlage erhoffte. Der Hochmittelalterband erschien erst 1990 als ostdeutsch-westdeutsch-österreichisches

43 44 45

den Anfängen bis 1160, Heft 4, S. 604–616, von Spiewok über Langosch, Karl: Die deutsche Literatur des lateinischen Mittelalters in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Heft 5, S. 803–804; Haas, Alois Maria: Parzivals tumpheit bei Wolfram von Eschenbach, Heft 4, S. 639–640; Combridge, Rosemary Norah: Das Recht im „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg, Heft 4, S. 640–641. Jg. 31 (1985) der inzwischen in zwölfmal jährlich erscheinenden „Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie“ enthält nur noch einen mediävistischen Beitrag mit der Rezension von Sievert, Heike, über: Bergner, Heinz (Hg.): Lyrik des Mittelalters, Heft 12, S. 2102–2105. Daneben finden sich Beiträge wie Lasarew, Lasar: Interview mit Daniil Granin, Heft 5, S. 755–777; Schnelle, Christel: Die spanischen Schriftsteller im Kampf für die Verteidigung der Kultur, Heft 6, S. 923–931; Müller, Christopher: Die US-amerikanische Aggression in Indochina im amerikanischen Roman von heute, Heft 3, S. 487–506; Makarinus, Marianne: „Populäre Musik in der sozialistischen Kultur“ Heft 3, S. 329–333. Auf das veränderte Profil der Zeitschrift deuten auch Rezensionen wie Hertrampf, Johannes, über: Gorbunow, Wladimir: Der Beitrag Lenins zur marxistischen Kulturtheorie, Heft 9, S. 1565–1569. Kliche/Thierse, DDR-Literaturwissenschaft, S. 278. Der Herausgeber der „Zeitschrift für Germanistik“ Claus Träger (Leipzig) zeigte sich stets offen für die Aufnahme mediävistischer Beiträge. Zieht man zeitbedingte Floskeln und Klischees ab, dürfte bei keinem der führenden DDRMediävisten sonderlich viel an marxistischer Substanz übrigbleiben.

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Gemeinschaftswerk, also ein Vierteljahrhundert nach Erbs Frühmittelalterband, während der Spätmittelalterband nicht zum Abschluss gelangt ist. Es waren, so scheint mir, vornehmlich die kleineren Universitäten wie Greifswald, Rostock und Jena, an denen das Fach am ehesten ungestört fortbestehen konnte, und es ist zu fragen, warum dies so war. Meine These lautet, dass die unbestreitbaren Leistungen eines Hans Joachim Gernentz und Heinz Mettke zumindest vermittelt auch mit dem Verhältnis von Zentrum und Peripherie zu tun haben.46 Wer einmal eines schönen Sommertags das „Germanistische Institut“ in Greifswald aufgesucht hat, dem wird sich dieses beschauliche Bild unvergesslich eingeprägt haben. Jena mit seinem Universitätshochhaus war nur scheinbar großstädtischer; hier konnte sich ein Name wie „Abteilung für germanische und deutsche Philologie“ halten, der an der Leipziger Karl-Marx-Universität, der Kaderschmiede der DDR, undenkbar gewesen wäre47, aber nicht nur der Name, auch die Ältere Abteilung selbst, was in Leipzig nicht der Fall war. Man wird kaum übertreiben, wenn man behauptet, dass das Fach seit dem von Jessen für die Gesamtheit der DDR-Universitäten beschriebenen personellen Aderlass der späten fünfziger Jahre marginalisiert war und das Tun der wenigen im Lande Verbliebenen die Parteiführung nicht sonderlich interessierte.48 Für sie zählte, inwieweit die Äußerungen eines Hans Mayer und Joachim Müller aus marxistischer Sicht tolerabel waren, während niemanden kümmerte, dass das Veldekebuch der an der Karl-Marx Universität Leipzig tätigen Gabriele Schieb in Stuttgart erschien. Was ich meine, hat Kurt Hager, der mächtigste Mann der DDR in kultur- und wissenschaftspolitischen Fragen, in unübertrefflicher Klarheit ausgesprochen: Eigentlich ist die Lage unnormal, dass Germanistische Institute in den Händen bürgerlicher Wissenschaftler liegen. Wenn es Philologen wären, wäre nichts dagegen einzuwenden, da es sich aber um Literaturwissenschaftler handelt, hat es ideologische Auswirkungen.49

Schöner ließ sich die Bedeutungslosigkeit eines den althochdeutschen Glossen oder der thüringischen Sprachgeschichte des Spätmittelalters gewidmeten Daseins kaum beschreiben. Zum Thema Zentrum und Peripherie gehört zweifellos auch die seit den siebziger Jahren immer deutlicher erkennbar werdende Hierarchie nach 46

47 48 49

Was die Rostocker Altgermanistik anlangt, ist neben Gernentz auch der später nach Greifswald gewechselte Karl-Heinz Ihlenburg zu nennen, dessen Habilitationsschrift über das „Nibelungenlied“ zu den wenigen mediävistischen Monographien gehört, die in der DDR als Buch erschienen. Der Tradition verpflichtet war auch die Denomination von Mettkes Stelle: „Deutsche Sprache und ältere deutsche Literatur“. Vgl. Jessen, Elite. Zit. nach Boden, Lesen, S. 210.

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sowjetischem Vorbild, wonach an der Spitze die neugegründeten „Zentralinstitute“ der Berliner Akademie standen, gefolgt von den Universitäten und – wiederum mit einigem Abstand – den Pädagogischen Hochschulen, eine Hierarchie, die sich auch in der personellen, finanziellen und sachlichen Ausstattung äußerte.50 Am „Zentralinstitut für Literaturgeschichte“ hat es, soweit mir bekannt, eine Mittelaltergermanistik nicht gegeben, die hier entstandenen Arbeiten setzen erst in der Frühen Neuzeit ein.51 Wenn ich meine, dass das Fach umso besser bestehen konnte, je größer die Distanz zur „Zentrale“ war, soll das nicht heißen, dass von den bedeutenden wissenschaftlichen Traditionen der Berliner und der Leipziger Schule nichts geblieben wäre. Es geht mir gar nicht um die Bewertung oder Quantifizierung von Publikationen, sondern nur darum, dass die Transformation der Universitäten in sozialistische Hochschulen in Berlin und Leipzig besonders forciert betrieben wurde, aus Gründen, die hinreichend bekannt sind. Besaß die Leipziger Germanistik mit Frings bis in die sechziger Jahre einen herausragenden Gelehrten, präsentierte das Institut sich ein Jahrzehnt später stark verändert. An Gabriele Schieb erinnerte nur noch eine Mappe im Lesesaal der Universitätsbibliothek, da sie in Berlin arbeitete.52 Heinrich Götz, bekannt durch seine „Leitwörter des Minnesangs“, war am „Althochdeutschen Wörterbuch“ beschäftigt; Helmut Protze, der die Paulsche Waltherausgabe neu bearbeitete, am „Siebenbürgischen Wörterbuch“; der mit einer gelehrten Arbeit über die ständedidaktische Literatur des späteren Mittelalters hervorgetretene Wolfgang Heinemann war nunmehr Textlinguist – die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Es fehlte also nicht an qualifiziertem Personal, doch war es durch andere Strukturen völlig umorganisiert, um nicht zu sagen verstreut oder richtiger: an den Rand gedrängt.53 Eine im Rückblick fast erstaunlich zu nennende Neubelebung des Fachs vollzog sich in den achtziger Jahren. Sie verdankte sich im Wesentlichen der Initiative des Greifswalder Linguisten und Mediävisten Wolfgang Spiewok. Ich denke an den Arbeitskreis „Deutsche Literatur des Mittelalters“ und dessen jährliche Zusammenkünfte, an wissenschaftliche Tagungen, die Spiewok organisierte, zumal an die große Spätmittelalter-Konferenz mit 50 51

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Dass mit dieser hochschulpolitisch gewollten Hierarchie nichts über die Qualität der Beschäftigten der einen oder anderen Einrichtung gesagt ist, muss kaum betont werden. Zum „Zentralinstitut für Sprachwissenschaft“ und zur Arbeitsstelle „Deutsche Texte des Mittelalters“ vgl. Bentzinger, Institut; Bentzinger, Texte des Mittelalters, sowie den Beitrag von Rudolf Bentzinger in diesem Band. Als Lesesaal diente der ehemalige Musikalienlesesaal, da die Mittel für die Beseitigung der Kriegsschäden fehlten. Die Wiederherstellung der prachtvollen Leipziger Universitätsbibliothek wurde erst nach Wiederherstellung der deutschen Einheit möglich. In dieser Situation war es fast folgerichtig, dass die Vorlesung zur Älteren deutschen Literatur von einem Neugermanisten gehalten wurde.

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internationaler Beteiligung 1985 in Greifswald, an Vorträge westdeutscher Kollegen bei Treffen in Ahrenshoop, an die Doktoranden, die er betreute und für verschiedene Projekte heranzog. Die von Spiewok 1980 in Greifswald veranstaltete Tagung zu Walther von der Vogelweide war wohl die erste mediävistische Tagung in der DDR überhaupt, oder doch die erste seit vielen Jahren wieder und als Argumentationshilfe nützlich für jene, die an ihrer Hochschule für ihr Fach nur wenig Verständnis fanden. Wenn die Tagungsergebnisse sich insgesamt bescheiden ausnahmen, kann das nach allem Bisherigen kaum überraschen. Ein Verdienst Spiewoks sehe ich darin, dass er interessierten jüngeren Wissenschaftlern in wenn auch bescheidenem Rahmen Diskussions- und Publikationsmöglichkeiten bot, die es an kaum einer Hochschule gab. Die für die Verhältnisse in der DDR sehr ungewöhnlichen Kontakte, die Spiewok damals knüpfte, illustriert auch der Beiträgerkreis der Festschrift, die ihm 1989 gewidmet wurde.54 Mit diesem Datum möchte ich enden, wohl wissend, dass Spiewoks Wirken mit den vorangehenden Stichworten nur unvollständig erfasst ist. Es angemessen zu bewerten, bleibt eine künftige Aufgabe.

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Vgl. Buschinger, Sammlung. Spiewok war ein Schüler Karl Bischoffs, der in Halle in der Nachfolge Baeseckes bis zu seinem Weggang in die Bundesrepublik 1958 lehrte. Postum erschien: Spiewok, Wolfgang Spiewok.

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Schreiben an Rektor Drefahl vom 11. Mai 1965, in: UAJ (Bestand S II, Nr. 34). Schreiben des Rektors an das Staatssekretariat, in: UAJ (Bestand D, Nr. 2718), Personalakte Fritz Tschirch. ‚Wagner, Albert Malte‘, in: UAJ (Bestand D, Nr. 2177), Personalakte Albert Malte Wagner. ‚Wesle, Carl‘, in: UAJ (Bestand D, Nr. 3198), Personalakte Carl Wesle.

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Jenaer Altgermanistik zwischen Beharrung und sozialistischer Umgestaltung

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Rudolf Bentzinger

Zur germanistisch-mediävistischen Editionstätigkeit in der DDR 1. „Bewundert wenig und viel gescholten“1 – so unterscheidet sich das Los der DDR-Mediävistik von dem der Goetheschen Helena. Dabei hätte sie größere Beachtung verdient, nicht nur wegen der zahlreichen hervorgebrachten Publikationen – auch Editionen –, sondern auch wegen ihrer Geschichte, die typisch für wesentliche Kapitel der Nachkriegsgermanistik ist. Das erste reicht bis 1958 und ist gekennzeichnet durch Traditionen, die über den Nationalsozialismus hinweggerettet worden waren. Die drei Editionsreihen, die 1876 von Wilhelm Braune erstmals herausgegebenen „Neudrucke deutscher Literaturwerke“, die seit 1882 publizierte „Altdeutsche Textbibliothek“ (ATB) und die seit 1904 erschienenen „Deutschen Texte des Mittelalters“ (DTM), wurden fortgeführt. Als Beispiele seien für die „Neudrucke“ die vom damaligen Herausgeber Ludwig Erich Schmitt publizierte Flugschriftenanthologie unter dem Titel „Aus dem sozialen und politischen Kampf“, für die ATB die Bände 1–4 („Die gedichte [sic] Walthers von der Vogelweide“ 1945, 1950; „Hartmann von Aue: Gregorius“, 1948; „Hartmann von Aue: Der arme Heinrich“; „Heliand und Genesis“, 1948); 7 („Fuchs Reinhart“, 1952), 11 („Meier Helmbrecht“, 1951), 40 („Notkers des Deutschen Werke 3“, 1952) und vor allem 12–16 („Wolframs Parzival I–XVI“ und „Willehalm I–IX“, 1947–1950) und für die DTM die Bände 42–46 und 48–49 von 1948–1957 genannt („Lancelot I“, „Minneburg“, „Gedichte Heinrichs des Teichners I–III“, „Albrechts Jüngerer Titurel I“, „Ulrichs von Etzenbach Wilhelm von Wenden“). Auch die Namen der Editoren sprechen für Tradition: Die ATB-Bände 1–3 und 12–16 gab der in Jena wirkende Schüler Hermann Pauls Albert Leitzmann heraus, der „Fuchs Reinhart“ wurde von Georg Baesecke und Ingeborg Schröbler ediert, der 1

„Bewundert viel und viel gescholten“ heißt es in: Goethe, Faust. 2. Theil, V. 8488.

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Rudolf Bentzinger

dritte „Notker“-Band von Edward H. Sehrt und Taylor Starck. Für die DTM-Bände zeichneten Reinhold Kluge, Hans Pyritz, Heinrich Niewöhner, Werner Wolf und Hans-Friedrich Rosenfeld verantwortlich. Diese Traditionswahrung entsprach auch dem Lehrangebot an den Universitäten der sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR. Diese Arbeiten wurden 1958 jäh unterbrochen, teils sogar abgebrochen. Am 18. Januar erschien im Neuen Deutschland der programmatische Artikel des damaligen Staatssekretärs für das Hoch- und Fachschulwesen Wilhelm Girnus „Zur 3. Hochschulkonferenz der SED“ mit dem Thema „Perspektiven der Germanistik“, in dem vor allem der Mediävistik der Kampf angesagt wurde: In Deutschland herrscht seit den Tagen der Romantik eine Überbetonung des Mittelalters […]. Wir schätzen Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach außerordentlich, aber man kann nicht übersehen, daß ihre Sprache nicht mehr die unsrige ist; die religiös-klerikale Gedanken- und Gefühlswelt des Mittelalters vollends gehören ins Museum wie Kettenpanzer und Lanze […]. In der Deutschen Demokratischen Republik hat das Mittelalter endgültig ausgespielt, und die Weltanschauung unseres Jahrhunderts ist der dialektische Materialismus. Eine Germanistik, die sich nicht auf dieser Grundlage konstituiert, hat keine Zukunft.2

Die an den Universitäten nun einsetzenden Treibjagden gegen ‚bürgerliche Ideologen‘ hatten die Flucht zahlreicher Wissenschaftler zur Folge. Die Professoren Hans-Friedrich Rosenfeld (Greifswald), Werner Schröder und Karl Bischoff (Halle an der Saale) und Fritz Tschirch (Jena) gehören zu ihnen. Der Verlust an Doktorvätern hatte für noch laufende Promotions- und Habilitationsverfahren, ja auch Studienabschlüsse oder -fortgänge katastrophale Folgen. Hinzu kam, dass die Tolerierung ‚bürgerlicher‘ Meinungen nun beendet war und nicht völlig der Partei-Ideologie folgende Wissenschaftler verfolgt,3 zumindest benachteiligt wurden und eine bis in die achtziger Jahre dauernde restriktive Berufungspolitik einsetzte. Noch ein weiteres Hindernis kam hinzu: Nicht nur Wissenschaftler verließen die DDR, sondern auch Institutionen. Der Max Niemeyer Verlag hatte 1949/50 seinen Sitz von Halle nach Tübingen verlegt, und seine germanistischen Publikationen standen, als alle Restexemplare aufgebraucht waren, nicht mehr zur Verfügung.4 Eine – wenn auch keineswegs einver2 3

4

Zu den weiteren Auswirkungen vgl. Bentzinger, Wege, S. 10–11. Vgl. in diesem Band auch den Beitrag von Kersten Krüger zu den Auswirkungen der ‚Zweiten Hochschulreform‘ und zu der vergifteten Atmosphäre in Rostock und Greifswald, die zur Vertreibung von Hildegard Emmel führte. Eine kurze Geschichte des 1870 in Halle an der Saale gegründeten Max Niemeyer Verlages findet sich bei Widmann, Tübingen, S. 199–201. Danach begann Hermann Niemeyer (1883–1964), Sohn des Gründers Max Niemeyer, 1949 in Tübingen unter dem Namen Neomarius Verlag und 1950 unter dem neuen und teils alten Namen Max Niemeyer Verlag

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nehmlich hergestellte – Ausnahmeregelung betraf die von 1955 bis 1979 als Bände 77 bis 100 (Tübingen 101) unter dem selben Namen erscheinenden „Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur“ (PBB). Im Vorwort zum Band 77 der Hallenser „Beiträge“ beklagten die Herausgeber Theodor Frings und Elisabeth Karg-Gasterstädt (in ihrer Hand lag auf Wunsch von Eduard Sievers die Herausgabe seit 1932), nur durch Zufall vom nunmehrigen Doppel-Erscheinen erfahren zu haben, und betonten: „Unter unserer Leitung waren die ‚Beiträge‘ ein wesentliches Bindeglied zwischen dem Osten und dem Westen unseres getrennten Vaterlandes und darüber hinaus zwischen Deutschland und der ganzen Welt […] Diese Brücke darf nicht abgebrochen […] werden.“5 Bis zuletzt gelang es den Herausgebern der Hallenser „Beiträge“, die Zeitschrift fast völlig ideologiefrei zu halten und Autoren aus aller Welt – auch aus der Bundesrepublik – zu Wort kommen zu lassen. Die in der DDR empfindlich dezimierten Kräfte mussten wegen der Verlagerung des Niemeyer Verlages in die BRD also für die Schaffung von Hochschullehrbüchern und Textsammlungen gebündelt werden, obwohl diese eigentlich längst vorhanden waren. Schon 1955 hatte Fritz Tschirch seine Anthologie „Frühmittelalterliches Deutsch“ mit der Klage im Vorwort eröffnet: „Dieses Buch ist ein Kind unserer deutschen Not.“6 Nach dem Weggang des Autors konnten auch von diesem nur noch vorhandene Exemplare verwendet werden. Bald wurden neue Textsammlungen für den Hochschulunterricht in Angriff genommen: Die „Ostmitteldeutsche Chrestomathie“ von Johannes Erben, im Akademie-Verlag Berlin 1961 erschienen, demonstrierte die Gattungsvielfalt anhand handschriftengetreuer Wiedergaben von Texten des 13.–15. Jahrhunderts (wobei auch die entsprechenden Parallelen in Wiegendrucken beigegeben wurden) dieses Raumes mit jeweiligen Kurzkommentaren und einem als „Lesehilfe“ deklarierten kurzen Glossar. Ebenfalls die Gattungsvielfalt – aber diesmal aus dem gesamten deutschen Sprachraum – wird deutlich in Gerhard Kettmanns 1971 und 1985 in zweiter Auflage veröffentlichten Lesebuch „Frühneuhochdeutsche Texte“. Es stellt Handschriften, Wiegen- und Frühdrucke des 14. bis 16. Jahrhunderts, mit Kommentaren und einem Glossar versehen, buchstabengetreu zur Verfügung (zum Vergleich: Das „Frühneuhochdeutsche Lesebuch“ von Oskar Reichmann und Klaus-Peter Wegera erschien im Tübinger Max Niemeyer Verlag 1988). Den größten Zeitraum deckte das 1970 und 1987 eben-

5

6

Tübingen. 1953 wurde der Hallenser Verlag enteignet. Vgl. auch den Verlagskatalog des Niemeyer-Verlag der Jahre 1950–1970, S. 7 und S. 9. PBB (Halle) 77 (1955), o.S. – Für die Editionstätigkeit spielten die „Beiträge“ allerdings nur eine Rolle durch die Vorstellung von Handschriftenfunden und – dies gilt für die Tübinger „Beiträge“ – durch eine rege Rezensionstätigkeit. Ihre für die germanistische Mediävistik insgesamt große Bedeutung verdiente eine eigene Würdigung. Tschirch (Hg.), Deutsch, S. III.

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falls in Zweitauflage im Leipziger Bibliographischen Institut publizierte Lesebuch „Altdeutsche Texte“ von Heinz Mettke ab. Der erste Teil bringt althochdeutsche und altsächsische Texte mit Kommentaren nach Art der bekannten althochdeutschen Lesebücher, der zweite – naturgegeben umfangreichere – Teil druckt mittelhochdeutsche, frühneuhochdeutsche und mittelniederdeutsche Texte verschiedener Gattungen und Textsorten ab: Lyrik und Epik sind ebenso repräsentiert wie Rechts- und Fachtexte und geistliche Literatur. (In Klammern sei angemerkt, dass bei Lehrbüchern zur historischen Grammatik und zur Sprachgeschichte ebenso verfahren werden musste: Paul, Braune und Bach waren nur noch in Einzelexemplaren in den Universitätsbibliotheken vorhanden,7 deshalb wurde nach dem kurzen Zwischenspiel einer vom Heidelberger Universitätsverlag Carl Winter genehmigten Lizenzausgabe der „Historischen Laut- und Formenlehre des Mittelhochdeutschen“ von Gerhard Eis 1958 die Reihe der im Leipziger Bibliographischen Institut erschienenen Hochschullehrbücher 1964 mit der „Mittelhochdeutschen Grammatik“ von Heinz Mettke eröffnet, die bisher zehn Auflagen erlebt hat, und 1969 erschien im Berliner Verlag Volk und Wissen die „Geschichte der deutschen Sprache“ von Wilhelm Schmidt u. a., die es ebenfalls auf zehn Auflagen gebracht hat, davon fünf bis 1984 in diesem Verlag und fünf 1993–2007 im S. Hirzel Verlag Stuttgart. Außerdem kam 2000 eine japanische Ausgabe in Tokio heraus.) Aus der „deutschen Not“ haben die DDR-Wissenschaftler also eine Tugend gemacht, denn all diese Publikationen haben zahlreichen Lehrveranstaltungen innerhalb und außerhalb der DDR, also auch in der alten Bundesrepublik, gute Dienste geleistet und leisten sie teils heute noch. Die „religiös-klerikale Gedanken- und Gefühlswelt des Mittelalters“ ist also nicht „Kettenpanzer und Lanze“ im Museum beigesellt worden. Sie erfuhr vielmehr auch in der DDR – nach Maßgabe der Kräfte – die ihr gebührende Pflege.

7

Die „Mittelhochdeutsche Grammatik“ von Hermann Paul erschien von 1881 bis 1950 in 15 Auflagen im Hallenser Niemeyer-Verlag, ab der 16. Auflage (1953) im Max Niemeyer Verlag Tübingen, wobei 1953 diese Auflage auch noch in Halle ausgeliefert wurde. Die „Althochdeutsche Grammatik“ von Wilhelm Braune kam von 1886 bis 1950 in sieben Auflagen im Hallenser Niemeyer-Verlag heraus, und die achte 1953 in Tübingen und 1955 in Halle, ab der 9. Auflage 1959 erschien sie im Max Niemeyer Verlag Tübingen. Wilhelm Braunes „Althochdeutsches Lesebuch“ wurde von 1875 bis 1949 in 11 Auflagen im Halleschen Niemeyer-Verlag, ab der 12. Auflage (1952) im Max Niemeyer Verlag Tübingen publiziert. Adolf Bachs „Geschichte der deutschen Sprache“ erschien von 1938 bis 1970 in neun Auflagen in Heidelberg. Einen Überblick über die Gesamtentwicklung der historischen germanistischen Sprachwissenschaft gibt Große, Sprachgeschichtsforschung; zur Situation an der Berliner Akademie vgl. Schmidt, Forschung.

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2. Von 1959 bis 1968, also der zweiten Periode der DDR-Mediävistik, erschienen 15 DTM-Bände, von denen besonders genannt seien die ersten drei Teilbände der niederdeutschen Bibelfrühdrucke des in Rostock ausgebildeten Gerhard Ising, die drei Teilbände „Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln“ des damals Bonner, seit 1965 Göttinger Germanisten Karl Stackmann, zwei Teilbände von Albrechts „Jüngerem Titurel“ des in Finnland lebenden Editors Werner Wolf, zwei Bände von Henrics van Veldekes „Eneide“ durch die Leipziger Wissenschaftler Gabriele Schieb und Theodor Frings, aber auch die Editionen der zwei Psalter des 14. Jahrhunderts durch Hans Eggers aus Hamburg und Ulrich Füetrers Gralsepen-Bearbeitung durch Kurt Nyholm aus Åbo in Finnland. Die Grenzen waren also noch nicht hermetisch verschlossen, und das auch in diesen Jahren deutliche Reputationsbedürfnis der DDR kam dem Wunsch der Wissenschaftler in West und Ost, die Kontakte nicht abreißen zu lassen, entgegen. Außerdem war das hohe Ansehen der DTM für westdeutsche und ausländische Editoren ein Anreiz, hier zu pblizieren. Aus der Hallenser ATB sind die Studienausgaben von Heinz Mettke „Fabeln und Mären von dem Stricker“ (1959) und „Der arme Heinrich“ (1966) zu erwähnen, ebenso der „Reinke de Vos“ nach der Prien/ Leitzmannschen Ausgabe und Hartmanns „Erec“ von Willi Steinberg aus Halle (beide 1960). Sie enthalten gemäß der ATB-Tradition eine unterschiedlich ausführliche Einleitung, einen Lesartenapparat, manchmal auch Kommentare und ein Glossar. Bemerkenswert ist, dass Heinz Mettke seiner Stricker-Ausgabe den Abdruck der Wiener Haupthandschrift (ÖNB 2705) zugrunde legte – entsprechend der DTM-Edition (Band IV, 1904) seines Amtsvorgängers Albert Leitzmann –, also entgegen sonstigen ATB-Gepflogenheiten das DTM-typische Leithandschriften-Prinzip befolgte. Außerhalb dieser beiden Traditionsreihen erschienen im Hallenser Niemeyer-Verlag 1961 Martin Luthers Fabeln, herausgegeben von Willi Steinberg, 1963 die Gesamtausgabe der Lieder und Sprüche Walters von der Vogelweide von Helmut Protze, 1968 in der neuen Reihe „Altdeutsche Texte für den akademischen Unterricht“ „Salman und Morolf“ (ohne Herausgebernennung) und „König Rother“, herausgegeben von Ingeborg Köppe-Benath, außerdem der „Sendbrief vom Dolmetschen“ mit anderen Luther-Schriften („Summarien über die Psalmen“, „An die Ratsherren aller Städte…“, Bibelauszüge), herausgegeben von Erwin Arndt. 1968 veröffentlichte der Berliner Akademie-Verlag Werner Lenks Anthologie „Die Reformation im zeitgenössischen Dialog“. Es ist also deutlich, dass die Editionstätigkeit größtenteils Bedürfnisse des akademischen Unterrichts befriedigen wollte.

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Im Hochschulwesen selbst gab es auch manchen Aufbruch: Da – schon durch den Mauerbau 1961 – Kontakte zu den Fachkollegen außerhalb der DDR radikal erschwert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht worden waren, beschlossen die Hochschullehrer, wenigstens im DDR-Kreise miteinander zu diskutieren und an solchen Foren auch den wissenschaftlichen Nachwuchs teilnehmen zu lassen. So wurden die germanistischen Jahrestagungen ins Leben gerufen, deren erste 1964 sich an der Berliner Humboldt-Universität Fragen der deutschen Gegenwartsgrammatik zuwandte, während die folgenden 1965 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena der Sprachgeschichte und 1966 in Kühlungsborn Fragen der deutschen Literatur des Mittelalters gewidmet waren. Eingeladen hatten zur letztgenannten Tagung die Universitäten Rostock und Greifswald, vertreten durch die Professoren Hans Joachim Gernentz und Wolfgang Spiewok. Wie auch bei den vorherigen Tagungen wurden die Referate in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der einladenden Universität veröffentlicht, diesmal in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald.8 Bemerkenswert ist schon die im Anhang von Wolfgang Spiewok und Winfried Zimdahl publizierte „Bibliographische Übersicht über Arbeiten zur mittelalterlichen deutschen Literatur, die seit 1960 an Universitäts- und Akademieinstituten der DDR entstanden oder im Entstehen begriffen sind“, die 77 abgeschlossene und 42 geplante bzw. im Druck befindliche Arbeiten verzeichnet.9 Die in diesem Heft abgedruckten Beiträge (u. a. äußerte sich Hans Joachim Gernentz zur gesellschaftlichen Stellung des Ritters in Wolframs „Parzival“) sind – zumindest aus wissenschaftshistorischem Interesse – auch heute noch lesenswert. Hier soll vor allem der Vortrag der damaligen DTMHerausgeberin Gabriele Schieb „Editionsprobleme altdeutscher Texte“ hervorgehoben werden, der – nur geringfügig ergänzt – ein Jahr später (1967) im 89. Band der Hallenser „Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur“ veröffentlicht wurde und im Zusammenhang mit dem öffentlichen Probevortrag der Verfasserin im Leipziger Habilitationsverfahren stand.10 Dieser Vortrag stellt eine der wenigen theoretischen Auseinandersetzungen mit Fragen germanistisch-mediävistischer Editionstechnik innerhalb der DDR dar11 und ist für die Geschichte der Editionswissenschaft generell von Wichtigkeit. Drei mögliche Ziele einer Edition werden genannt: erstens eine Handschrift „in ihrem Eigenwert […], eingebettet in ihre speziellen Entstehungsbedingungen, auch, bei Mehrfachüberlieferung, als Glied 8 9 10 11

Vgl. Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe XV,5/6 (1966). Vgl. Spiewok/Zimdahl, Bibliographische Übersicht. Vgl. Schieb, Editionsprobleme. Eine kurze Diskussion bringt Bentzinger, Texte des Mittelalters.

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in einer Überlieferungskette“ „zu Wort kommen zu lassen“, zweitens „den Archetypus der Überlieferung oder gar das Original des Verfassers, sofern die Existenz einer solchen eindeutigen Erstfassung anzunehmen ist“, zu präsentieren und drittens „verschiedene Redaktionen oder Entwicklungsphasen eines Textes kritisch vorzulegen, was bei gewissen Typen literarischer Überlieferung notwendig sein kann“ (z. B. bei der Vulgata), oder „die Entwicklungsstufe eines Textes, der der allgemeinste und weitreichendste Gebrauchswert zukommt“, zu bieten.12 Vom germanistischen Editor fordert Gabriele Schieb, dass die Überlieferungsgeschichte des Textes, die nur selten zu Lebzeiten des Autors begonnen hat, sich aber über mehrere Jahrhunderte und geographische Räume erstreckt hat, aufzuzeigen. Unter diesen Gesichtspunkten werden verschiedene Editionen, auch DTM-Ausgaben, beleuchtet. Die April-Tagung in Kühlungsborn 1966 sollte für die weitere Geschichte der DDR-Mediävistik noch in anderer Hinsicht bedeutsam werden: In einer gesonderten Beratung beschlossen die auf diesem Felde tätigen Hochschullehrer – die alle hauptamtlich in anderen Disziplinen (in der Sprachgeschichte oder in der Grammatik, Stilistik, Lexikologie der deutschen Sprache der Gegenwart) arbeiteten –, sich regelmäßig zu treffen, um in Arbeit (meist Hobbyarbeit) befindliche Projekte miteinander zu diskutieren und sich gegenseitig über mediävistische Neuentwicklungen zu informieren. Zunächst traf man sich halbjährlich, dann jährlich, erst in verschiedenen Orten, da die Organisation jedes Mal bei einer anderen Universität lag, seit 1979 regelmäßig an der Ostseeküste (im winterlichen Ahrenshoop). Jetzt lag sinnvollerweise die Organisation in den Händen der Universität Greifswald. So bildete sich der „Arbeitskreis deutsche Literatur des Mittelalters“ heraus, bestehend aus Hochschullehrern, wissenschaftlichen Mitarbeitern und Nachwuchskräften, an dessen Spitze Wolfgang Spiewok stand, Professor für deutsche Sprache an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald und dort 1963 habilitiert für das Fachgebiet „Deutsche Sprache und ältere deutsche Literatur“. Diese Vereinigung besaß keinerlei juristische Grundlagen, weder Statuten noch Anbindungen an irgendeine Institution (Kulturbund o. ä.) – ein in der DDR wohl einmaliges Phänomen.13 Dies sollte sich in den folgenden Jahrzehnten als segensreich erweisen, denn die Ende der sechziger Jahre durchgesetzte Dritte Hochschulreform und die ebenso folgenschwere Akademiereform (s.u.) hatten einen einschneidenden Rückgang der Pflege historischer Disziplinen sowohl in der Sprach- als auch in der älteren Literaturgeschichte zur Folge. An den meisten Einrichtungen – Universitäten wie an der Berliner „Akademie der Wis12 13

Vgl. Schieb, Editionsprobleme, S. 524. Zur Gründung und zu den Anliegen des Arbeitskreises vgl. Spiewok, Oberschlesien, S. 142– 143.

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senschaften“ – wurden 1969/70 die Sprach- und Literaturgeschichte unterschiedlichen Institutionen zugeordnet, und die Literaturgeschichte des Mittelalters wurde nirgends mehr hauptamtlich von einem Wissenschaftler selbstständig vertreten. Es bleibt das Verdienst der Sprachhistoriker, die Mediävistik und folglich auch die mediävistische Editionstätigkeit neben ihren eigentlichen umfangreichen Verpflichtungen fortgeführt zu haben. Im Hochschulwesen waren dies vor allem Heinz Mettke in Jena, Hans Joachim Gernentz in Rostock, Wolfgang Spiewok und Rolf Bräuer in Greifswald, Rainer Kößling in Leipzig und Manfred Lemmer in Halle. In der Berliner „Akademie der Wissenschaften“ wurde das seit 1952 bestehende „Institut für deutsche Sprache und Literatur“ 1969 aufgelöst, und dessen Abteilungen wurden eliminiert oder anderen Instituten eingegliedert, dem „Zentralinstitut für Sprachwissenschaft“ und dem „Zentralinstitut für Literaturwissenschaft“ (später „Zentralinstitut für Literaturgeschichte“).14 Die DTM sollten ebenso wie andere Traditionsunternehmungen laut „Konzeption zur Gestaltung der sozialistischen Wissenschaftsorganisation in der DAW bei der Weiterführung der Akademiereform“ von 1970 aus der Akademie ausgegliedert bzw. geschlossen werden. Es muss hier das Verdienst der Leitung des frisch gegründeten „Zentralinstituts für Sprachwissenschaft“ hervorgehoben werden, die – mündlich erteilte, deshalb nicht archivalisch nachweisbare – Weisung des Zentralkomitees der SED, die Traditionsunternehmen „Deutsches Wörterbuch“ (Grimm), „Goethe-Wörterbuch“ und „Deutsche Texte des Mittelalters“ zu schließen, nicht befolgt zu haben. Das große – und nicht ungefährliche – Engagement einzelner Wissenschaftler für den Erhalt dieser Unternehmen verdient noch heute Respekt. Gabriele Schieb gehört zu ihnen. Die DTM wurden von ihr bis zu ihrem Tode 1982 und anschließend vom Verfasser betreut. Beide waren voll in sprachhistorische Forschungsprojekte eingebunden und mit mehreren anderen Aufgaben (auch in der Lehre) betraut. Diese von den internationalen Spannungen jener Zeit diktierten Maßnahmen waren auch für die germanistische Mediävistik so einschneidend, dass wir mit den Jahren 1968–70 die dritte Periode beginnen lassen wollen, die bis zum Ende der DDR währte.

14

Zur Geschichte des Instituts für deutsche Sprache und Literatur vgl. Bentzinger, Institut. Dazu und zur Geschichte des Zentralinstituts für Literaturgeschichte vgl. Boden/Böck (Hg.), Modernisierung.

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3. Der „Arbeitskreis deutsche Literatur des Mittelalters“ wurde bis zu seinem Ende 1990 von den Kollegen des Hochschulwesens und der Berliner Akademie gemeinsam getragen. Sein Leiter Wolfgang Spiewok entfaltete mehrere Aktivitäten (Briefe an leitende Regierungs- und Parteistellen, Tagungseinladungen, Gespräche u. a. M.), um leitende DDR-Institutionen davon zu überzeugen, dass durch internationale Kontakte und verstärkte Forschungstätigkeit auf dem Felde der germanistischen Mediävistik auch das Ansehen der DDR inner- und außerhalb ihrer Grenzen gestärkt werden kann. Außerdem könnten Devisen mit mediävistischen Publikationen und Tagungen ‚erwirtschaftet‘ werden. Tagungen in Greifswald wurden durchgeführt, am 15./16. April 1980 anlässlich des angenommenen 750. Todestages „Walther von der Vogelweide 1170–1230“15 und vom 21. bis 24. Mai 1985 zum Thema „Deutsche Literatur des Spätmittelalters. Ergebnisse, Probleme und Perspektiven der Forschung“, wo von 29 Referenten, die in Greifswald ihre Beiträge veröffentlichten, zehn aus der Bundesrepublik Deutschland und Österreich, einer aus Tschechien, einer aus Ungarn, einer aus Finnland und eine Referentin aus Frankreich kamen.16 Hierzu muss gesagt werden, dass westdeutsche Wissenschaftler in größerer Zahl erstmals zwei Jahre zuvor, im März 1983, zur germanistischen Luther-Tagung in Eisenach von der „Akademie der Wissenschaften“ eingeladen werden durften. Aber auch jetzt waren – vor allem für die Greifswalder Organisatoren – noch etliche Schwierigkeiten zu überwinden. Diese Konferenz diente einem Zweck, der so allerdings nicht erreicht werden konnte: Die kleine Universität Greifswald war Ende der siebziger Jahre beauftragt worden, die noch ausstehenden Bände zwei und drei der im Berliner Verlag Volk und Wissen erscheinenden zwölf-bändigen „Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart“ zu erarbeiten. An beiden wurde gleichzeitig gearbeitet. Bekanntlich erschien der zweite Band („Mitte des 12. bis Mitte des 13. Jahrhunderts“) gerade noch 1990 „von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Rolf Bräuer“, der selbst zahlreiche Kapitel schrieb. Die anderen stammten von Hochschullehrern und Nachwuchskräften aus Greifswald (Wolfgang Spiewok, Christa Baufeld, Karin Cieslik, Ingmar ten Venne, Barbara Bartels), Rostock (Hans Joachim Gernentz, Ortwin Müller), Leipzig (Wolfgang Heinemann) und Berlin (Regine Krolop, Rudolf Bentzinger). Ulrich Müller (Salzburg) verfasste den Abschnitt „Mittelhochdeutsche Lyrik“. Der dritte Band (Mitte des 13. Jahrhunderts bis 1480) fiel den Vereinigungswirren zum Opfer. Mehr als 15 16

Die Beiträge sind publiziert in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald XXX,3/4 (1981). Die Referate sind abgedruckt in: Spiewok (Hg.), Literatur.

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2000 satzfertige Manuskriptseiten blieben ungedruckt, ein Torso erschien 1997, 1998, 1999 als dreibändige broschierte „Geschichte der deutschen Literatur des Spätmittelalters“ im Greifswalder Reineke-Verlag, wobei der erste Band die Autorenangabe „Wolfgang Spiewok unter Mitarbeit von Danielle Buschinger und Werner Hoffmann“ enthält, für die Bände zwei und drei nur Wolfgang Spiewok als Autor genannt wird. Das Scheitern des Gesamtbandes in einem profilierten Verlag hat nicht nur Wolfgang Spiewok beklagt.17 Die Universität Greifswald besaß als einzige in der DDR seit Anfang der achtziger Jahre einen Wissenschaftsbereich (entspricht einer heutigen Institutsabteilung) „Deutsche Literatur des Mittelalters“ und gab – ebenfalls als einzige DDR-Universität – innerhalb der „Wissenschaftlichen Beiträge“ der Universität eine Reihe „Deutsche Literatur des Mittelalters“ heraus, in der von 1984 bis 1990 sechs Bände erschienen. Von den darin abgedruckten Aufsätzen zur mediävistischen Editionstechnik sei der von Heinz Mettke im dritten Band genannt. Er diskutiert kenntnisreich die Möglichkeiten „diplomatischer Handschriftenabdruck“, Publikation nach DTM-Prinzipien (i/j-, u/v-Ausgleich usw.) und „Ausgabe auf Grund der recensio“, also auf Grund des Versuches der Archetypus-Herstellung.18 Seine unterschiedlichen Vorgehensweisen begründet der Verfasser an Hand seiner Ausgaben „Fabeln und Mären von dem Stricker“ und „Der arme Heinrich“. Die Editionen aus dem Arbeitskreis wandten sich zum großen Teil an die interessierte Öffentlichkeit. Hier sind vor allem die zweisprachigen schön illustrierten Ausgaben des Rostocker Germanisten Hans Joachim Gernentz mit eigenen Textbearbeitungen und Übersetzungen, die den Charakter von Nachdichtungen annahmen, zu nennen: Im Berliner Union Verlag erschienen 1964 „Religiöse Dichtung des Mittelalters“, 1973 „Epik des deutschen Hochmittelalters“ (Auszüge aus dem „Rolandslied“, Hartmanns „Gregorius“ und „Iwein“, „Moritz von Craon“ und dem „Guten Gerhard“ des Rudolf von Ems) und 1979 „Althochdeutsche Literatur“. Bei Hinstorff in Rostock veröffentlichte er 1987 „Reynke de Vos“ nach der Lübecker Ausgabe von 1498. Im Berliner Verlag Rütten & Loening publizierte er 1972 „Der Schwanritter. Deutsche Verserzählungen des 13. und 14. Jahrhunderts“ (von Konrad von Würzburg, Herrand von Wildonie, Heinrich Kaufringer u. a.). Hier brachte der Leipziger Literaturwissenschaftler Hubert Witt 1979 – ebenfalls zweisprachig mit eigenen Übertragungen – die Ausgabe „Walther von der Vogelweide. Frau Welt, ich hab von dir getrunken“ heraus. Im Leipziger Reclam-Verlag erschienen die zweisprachigen Ausgaben „Älteste deutsche Dichtung und Prosa“ von Heinz Mettke (1976, 1982) sowie „Heinrich der Glichesaere, Fuchs Reinhart“ (1977) und „Freidanks Be17 18

Vgl. dazu auch Bentzinger, Wege, S. 20–21; Spiewok, Vorwort, o.S. (V). Vgl. Mettke, Edition, S. 394.

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scheidenheit“ (1985) von Wolfgang Spiewok. Letzterer veröffentlichte auch die Prosaübertragungen „Der Fuchs und die Trauben. Deutsche Tierdichtung des Mittelalters“ 1973 bei Rütten & Loening (Werke vom 13. bis 15. Jahrhundert, vom Stricker bis zum Reinke de Vos) und Wolframs „Parzival“ 1977 in der Dieterichschen Verlagsbuchhandlung in Leipzig. Rolf Bräuer brachte – ebenfalls bei Rütten & Loening – 1983 eine eigene Übertragung von Heinrich Wittenwilers „Ring“ auf der Grundlage von Edmund Wießners Edition von 1931 heraus. Vom Verfasser seien die Anthologien „Die Wahrheit muß ans Licht! Dialoge aus der Zeit der Reformation“ (ReclamVerlag Leipzig 1982, 1988) und „Thomas Müntzer. Schriften, Liturgische Texte, Briefe“, gemeinsam mit dem Leipziger Historiker Siegfried Hoyer 1990 im Union Verlag Berlin, genannt. Außerhalb des Arbeitskreises edierte Werner Lenk 1974 und 1980 im Leipziger Reclam-Verlag „Dokumente aus dem deutschen Bauernkrieg. Beschwerden. Programme. Theoretische Schriften“, und hier ist besonders die auf acht Bände angewachsene reich kommentierte Berliner Flugschriften-Edition unter Leitung von Adolf Laube zu nennen: „Flugschriften der Bauernkriegszeit“ 1975; „Flugschriften der frühen Reformationsbewegung (1518–1524)“, zwei Bände 1983; „Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich (1526–1535)“, zwei Bände 1992; „Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524)“ 1997 und „Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530)“, zwei Bände 2000. Nicht verschwiegen werden sollen die – ausschließlich in FeierabendArbeit entstandenen – Editionen des Hallenser Germanisten Manfred Lemmer. Für den akademischen Unterricht stellte er im Max Niemeyer Verlag Tübingen Sebastian Brants „Narrenschiff“ in vier Auflagen (1962, 1968, 1986, 2004) zur Verfügung, bei Erich Schmidt in Berlin 1971 Dietrich Schernbergs „Ein schön Spiel von Frau Jutten“, für die interessierte Öffentlichkeit schuf er die Übertragungen „Deutschsprachige Erzähler des Mittelalters“, 1977 bei Dieterich in Leipzig erschienen, von Dietrichs von Apolda lateinischsprachiger Vita „Das Leben der heiligen Elisabeth“, 1981 im Berliner Union Verlag publiziert, und 1986 bei Koehler & Amelang in Leipzig „Mutter der Barmherzigkeit. Mittelalterliche deutsche Mirakelerzählungen von der Gottesmutter“. Ebenso sollen bibliotheksinterne Editionen nicht unerwähnt bleiben. Zum 325-jährigen Jubiläum der Berliner Staatsbibliothek 1986 wurde das ostniederdeutsche Brandenburger Osterspiel-Fragment vom Ende des 14. Jahrhunderts von Renate Schipke, die es bei Katalogisierungsarbeiten in der Bibliothek des Brandenburger Domstifts entdeckt hatte, und Franzjosef Pensel herausgegeben.

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Rudolf Große edierte im Leipziger Insel-Verlag zur Luther-Ehrung 1983 „Martin Luthers Sprichwortsammlung“, eine populäre, aber auch für den Fachwissenschaftler nützliche Ausgabe. Es gab aber auch in dieser der Mediävistik nicht freundlich gesonnenen Periode eine eigene Reihe für altgermanistische Studienausgaben, die BITextausgaben, verlegerisch betreut vom Bibliographischen Institut in Leipzig. Der dritte ATB-Band „Der arme Heinrich“, 1966 von Heinz Mettke ediert (s. o.), erschien 1974 und 1986 (als unveränderte Zweitauflage) als BI-Textausgabe. Der Editor beschritt neue Wege: Nach dem synoptischen Textabdruck auf Grund der Straßburger und der Heidelberger Haupthandschriften und der Wiedergabe der Fragmente aus Benediktbeuren, St. Florian, Indersdorf und der Lesarten der Kalocsaer Handschrift kommt der kritisch vom Editor hergestellte Text, wobei genau über die Methoden Rechenschaft abgegeben wird. Es ist bekannt, dass 1996 die 16., neu bearbeitete Auflage, besorgt von Kurt Gärtner als dritter ATB-Band im NiemeyerVerlag Tübingen erschien. Im Vorwort charakterisiert der Herausgeber die BI-Textausgabe folgendermaßen: „Aufgrund dieses Vorzugs und vor allem im Hinblick auf die vollständige Zusammenstellung der Überlieferung, die z. T. von neuem anhand von Mikrofilmen der Handschriften kontrolliert worden war, bietet Mettkes Ausgabe derzeit die beste Grundlage für eine vergleichende Beschäftigung mit Text und Überlieferung.“19 Dieses Urteil ist ein gutes Beispiel für die Anerkennung der Leistung eines DDR-Altgermanisten durch einen erfahrenen westdeutschen Editor, und es bestärkt uns gleichzeitig in der Frage, weshalb sich niemand zu einer Drittauflage der Mettkeschen Edition entschließen kann. Ganz anders ist Heinz Mettkes zweibändige BI-Textausgabe „Ulrich von Hutten. Deutsche Schriften“ von 1972 und 1974 angelegt. Die entweder gleich in deutscher Sprache verfassten oder von Hutten oder Martin Butzer u. a. ins Deutsche übersetzten Schriften wurden nach dem in der Jenaer Universitätsbibliothek befindlichen Druck 4 Bud. theol. 158 oder der Ausgabe von Eduard Böcking von 1859/61 (Neudruck Aalen 1963) fast buchstabengetreu wiedergegeben. Auch die BI-Textausgabe „Kleinere deutsche Gedichte des 11. und 12. Jahrhunderts“ von Hans Joachim Gernentz (1970, 1982, 1987) steht in der ATB-Tradition. Deren zehnter Band war unter gleichem Titel 1916 (Zweitauflage) von Albert Waag herausgebracht worden. Die Editionsprinzipien wurden im Wesentlichen beibehalten, aber die Textzusammenstellung wurde wesentlich verändert („Memento mori“, „Annolied“ u. a. kamen hinzu, dafür entfielen die „Vorauer Sündenklage“, das „Benediktbeurer

19

Gärtner (Bearb.), Hartmann, S. XXVI–XXVII. In der 17. Auflage, Tübingen 2001, findet sich dieser Passus S. XXIX.

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Gebet zum Messopfer“ u. a.), so dass eine eigenständige Ausgabe zustande kam. Ebenfalls 1970 edierte die Berliner Germanistin Ingeborg Spriewald die sechs Prosadialoge von Hans Sachs auf der Grundlage der Erstdrucke bei den vier Dialogen von 1524 und der handschriftlichen Überlieferung bei denen von 1546 und 1554. Ein umfangreicher Lesartenapparat verdeutlicht die Überlieferungsstränge, und die ausführlichen Kommentare erschließen den Text auch für Studenten. 1973 erschienen die Ausgaben „Thomas Müntzer. Politische Schriften. Manifeste. Briefe 1524/25. Eingeleitet, kommentiert und herausgegeben von Manfred Bensing und Bernd Rüdiger“ (Zweitauflage) und „Heinrich Bullinger / Hans Sachs. Lucretia-Dramen. Herausgegeben von Horst Hartmann“. Manfred Bensing und Bernd Rüdiger lieferten „eine möglichst originalgetreue Wiedergabe der Erstdrucke bzw. der Handschrift“, wobei sie Fehler, Druckerzusätze u.ä. aus dem Text ausschieden und im Apparat dokumentierten. Eine Gesamtausgabe war nicht beabsichtigt. Die Herausgeber konzentrierten sich auf die in den siebziger Jahren gefragten politischen Schriften und Briefe. Der Potsdamer Literaturwissenschaftler Horst Hartmann bot einen textgetreuen Abdruck der beiden Dramen auf der Grundlage des Baseler Erstdruckes von 1533 mit Angabe der Varianten des Zweitdruckes von 1550 bei Heinrich Bullinger und des Nürnberger Druckes von 1561 des Dramas von Hans Sachs. Im Einleitungskapitel werden die beiden Werke vom Standpunkt des Literaturwissenschaftlers miteinander verglichen. Zum Bauernkriegsjubiläum 1975 erschien die Ausgabe der bis dahin kaum bekannten Flugschrift „An die versamlung gemayner Pawerschaft“ auf der Grundlage des Nürnberger Druckes von 1525 von Siegfried Hoyer und Bernd Rüdiger und mit einer sprachgeschichtlichen Einleitung der Moskauer Germanistin Mirra Moisejewna Guchmann. 1983 und 1989 in Nachauflage schließlich kam die Gesamtausgabe der Sprüche und Lieder Walthers von der Vogelweide von Helmut Protze heraus, die den Editionsprinzipien der ATB folgte. Man mag den BI-Textausgaben mangelnde Stringenz der Editionsprinzipien vorwerfen. Man muss aber allen Band-Herausgebern zugutehalten, dass kein Reihenherausgeber existierte und der Verlag diese Reihe auch nur halbherzig betreute, so dass die Wissenschaftler zum großen Teil auf sich selbst angewiesen waren. Trotzdem sind hier Editionen zustande gekommen, die – bisher nur in dem profunden wissenschaftshistorischen Bericht „Die Altdeutsche Textbibliothek“ von Christian Kiening erwähnt20 – eine ausführlichere Würdigung, ja vielleicht sogar den reprografischen Nachdruck ähnlich dem der DTM-Bände 1–41 verdienen. 20

Vgl. Kiening, Textbibliothek, S. 84.

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Die DTM waren demgegenüber in einer günstigeren Lage, auch wenn ihr Fortbestand, wie oben betont, mehrmals gefährdet war. Aber sie hatten in der Berliner „Akademie der Wissenschaften“ als herausgebender Institution ein schützendes Dach über sich, und der der Akademie verantwortliche Reihenherausgeber bzw. Reihenbeauftragte achtete auf Einhaltung der Editionsrichtlinien. Nun ist bekannt, dass die DTM von Anfang an wohl durchdachte Grundsätze für alle Editoren veröffentlicht haben, 1904 von Gustav Roethe, 1934 von Arthur Hübner. Wir halten uns heute noch an sie, und die von Arthur Hübner sind von Thomas Bein im ersten Band der „Dokumente Germanistischer Forschung“, „Altgermanistische Editionswissenschaft“, abgedruckt.21 Die DTM-Geschichte ist mehrmals dargestellt worden,22 so dass hier die Beschränkung auf die Jahrzehnte nach der Akademiereform angebracht ist. Die bis zum DDR-Ende erschienenen 16 Bände setzten zum einen Langzeitprojekte fort wie „Die niederdeutschen Bibelfrühdrucke“ von Gerhard Ising (drei Bände 1971, 1974, 1976), „Henric van Veldeken: Eneide“ (Band III, Wörterbuch, 1970), „Lancelot“ (Textband III, 1974), „Albrechts Jüngerer Titurel“ herausgegeben vom Schüler Werner Wolfs, Kurt Nyholm (Bände III.1 und 2, 1985, 1991), und zum anderen kamen Einzelbände wie „Sir John Mandevilles Reisebeschreibung in deutscher Übersetzung von Michel Velser“ (1974 herausgegeben von Eric John Morrall), „Das Egerer Urgichtenbuch“ (1972 herausgegeben von Emil Skála) und „Karl der Große und die schottischen Heiligen“ (1981 herausgegeben von Frank Shaw). Aus der Leipziger Schule, die die rheinische Karlsepik pflegte, wurden die Ausgaben „Morant und Galie“ (1976 ediert von Theodor Frings und Elisabeth Linke) und „Karl und Galie. Karlmeinet Teil I“, 1986 herausgegeben von Dagmar Helm, erarbeitet. Schwierigkeiten entstanden nicht nur durch das Fehlen einer Arbeitsstelle, sondern auch durch die immer knapper werdenden wirtschaftlichen Ressourcen der DDR. So wurde es notwendig, die endlich in der DDR beginnende Handschriften-Katalogisierung in die dafür gar nicht vorgesehene DTM-Reihe aufzunehmen, weil keine neue Reihe eröffnet werden konnte. Die Verzeichnisse der Stadtbibliothek Dessau und der Universitätsbibliothek Jena von Franzjosef Pensel wurden 1977 und 1986 ausgeliefert, und 1998 wurde es doch noch möglich, den Katalog der Universitätsbibliothek Leipzig, also einen der größten Handschriften-Bestände einer deutschen Universitätsbibliothek, zu publizieren. Auch er war von Franzjosef Pensel erarbeitet worden, und Irene Stahl brachte ihn zum Druck. Außerdem konnte lediglich – und auch dies nur mit erheblichem Zeitund Kraftaufwand – die Veröffentlichung eines DTM-Bandes pro Jahr 21 22

Vgl. Hübner, Grundsätze. Vgl. Bentzinger, Texte des Mittelalters; Zur Institutionsgeschichte: Schubert, Texte des Mittelalters, S. 7.

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durchgesetzt werden. Deshalb mussten 1990 zwei kleinere Texte in einem Band zusammen publiziert werden, obwohl sie inhaltlich nicht zusammengehörten, die anonyme deutsche Übersetzung des „Buches von Troja nach Guido de Columnis“, ediert von Hildegard Boková und Václav Bok, und der ostmitteldeutsche Traktat „Welch furste sich vnde syne erbin wil in synem furstethum festin“, herausgegeben von Uta Störmer. Trotzdem: Von 1948 bis 1990 sind 43 DTM-Bände erschienen. Seit 1960, dem ersten Erscheinungsjahr der Münchener Texte und Untersuchungen, waren es 32. Wenn man Größe und wissenschaftliches Potenzial der Alt-Bundesrepublik mit dem der DDR vergleicht, kann sich diese Zahl neben 102 MTU-Bänden sehen lassen.

4. Bei der Evaluation der Institute der Berliner „Akademie der Wissenschaften“ 1990 empfahl der Wissenschaftsrat, die DTM fortzuführen und wieder eine Arbeitsstelle zu begründen. Diese wurde am 1.1.1992 unter Leitung des Verfassers mit zwei weiteren Wissenschaftlern, von denen einer mit Abschluss der Katalogisierungsarbeiten und Betreuung des Handschriftenarchivs betraut war, und einer halben Stelle für eine wissenschaftlich-technische Kraft eröffnet. Als Projektleiter wurde Kurt Gärtner eingesetzt. Nun konnten die begonnenen und teils schon recht weit gediehenen Projekte zu Ende geführt werden. Das betraf den schon von Gabriele Schieb zu fast zwei Dritteln transkribierten „Malagis“, der nun – bei diesem schwierigen Text unumgänglich – von Annegret Haase und Rudolf Bentzinger gemeinsam mit den belgischen und niederländischen Experten Gilbert de Smet und Bob Th. W. Duijvestijn herausgegeben wurde und 2000 vorlag. Kurz darauf, 2002, erschien der „Ogier von Dänemark“, der – einer Anregung Gabriele Schiebs zufolge – von Hilkert Weddige gemeinsam mit den niederländischen Spezialisten Theo J. A. Broers und Hans van Dijk herausgegeben wurde. Karl Stackmann fügte seinen drei Teilbänden „Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln“ 2003 – mit Beiträgen von Michael Stolz – einen weiteren Band „Zweite Abteilung“ hinzu, so dass nun auch diese Edition als abgeschlossen gilt. Das andere Schwerpunkt-Projekt der DTM, die OstmitteldeutschForschung, wurde vorangetrieben durch die beiden jüngst erschienenen Johannes Rothe-Editionen, das Elisabeth-Leben, aufgrund des Nachlasses von Helmut Lomnitzer 2005 herausgegeben von Martin J. Schubert und Annegret Haase, und die Thüringische Landeschronik und die Eisenacher Chronik, 2007 herausgegeben von Sylvia Weigelt. Noch offen sind die Wör-

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terbuch-Bände zu den Editionen von Albrechts „Jüngerem Titurel“ und der niederdeutschen Bibelfrühdrucke sowie die Edition der Erfurter Historienbibel. Teils laufen die Arbeiten, teils werden sie jetzt in Angriff genommen. Die DTM blieben als einzige der eingangs genannten drei altgermanistischen traditionellen Editionsreihen, die ursprünglich alle in der DDR herausgegeben wurden, hier bestehen. 2004 konnten sie an ihrem Ursprungsort, in der „Akademie der Wissenschaften“ in Berlin, unter der Federführung von Martin J. Schubert, der seit 2000 als Arbeitsstellenleiter tätig ist, ihr 100-jähriges Bestehen mit einer Tagung „Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion“ feiern, zu der rund 200 Wissenschaftler aus nah und fern gekommen waren. Die DTM haben ihren festen Platz in der deutschen Editionswissenschaft und pflegen gute Kontakte zu den anderen mediävistischen Reihen (zu den MTU schon rege im letzten DDR-Jahrzehnt) und leisten damit ihren Beitrag zur Fortentwicklung einer nunmehr glücklicherweise vereinigten deutschen Germanistik.

Literaturverzeichnis Bentzinger, Rudolf: Die „Deutschen Texte des Mittelalters“. Traditionen, Probleme, Aufgaben, in: Zeitschrift für Germanistik 2 (1985), S. 199– 203. Bentzinger, Rudolf: Wege, Umwege und Auswege der Mediävistik in Deutschland-Ost, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik XXV,1 (1993), S. 8–22. Bentzinger, Rudolf: Das Institut für deutsche Sprache und Literatur bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1952–1969) – Ort gesamtdeutscher Germanistik, in: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte 11 (2004), S. 141–174. Boden, Petra / Böck, Dorothea (Hg.): Modernisierung ohne Moderne. Das Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR (1969–1991). Literaturforschung im Experiment, Heidelberg 2004 (= Beihefte zum Euphorion 47). Gärtner, Kurt (Bearb.): Hartmann von Aue. Der arme Heinrich, 16., neu bearb. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner, Tübingen 1996 (= Altdeutsche Textbibliothek 3). Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. 2. Theil, hg. v. Erich Schmidt, unveränd. Nachdruck der Ausgabe Weimar 1888, Weimar 1999 (Goethes Werke. Sophienausgabe III 15,1/2 [= 92/92]).

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Große, Rudolf: Die Sprachgeschichtsforschung in der DDR, in: Zeitschrift für Germanistik 2 (1985), S. 203–212. Hübner, A[rthur]: Grundsätze für die Herausgabe und Anweisungen zur Druckeinrichtung der „Deutschen Texte des Mittelalters“. Neue Fassung, in: Bein, Thomas (Hg.): Altgermanistische Editionswissenschaft, Frankfurt/Main u. a. 1995 (=  Dokumentation Germanistischer Forschung 1), S. 94–98. Kiening, Christian: Die Altdeutsche Textbibliothek, in: Schubert, Martin J. (Hg.): Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion. Berliner Fachtagung 1.–3. April 2004, Tübingen 2005 (= Beihefte zu Editio 23), S. 67–93. Mettke, Heinz: Zur Edition mittelalterlicher Texte, in: Spiewok, Wolfgang (Hg.): Deutsche Literatur des Spätmittelalters. Ergebnisse, Probleme und Perspektiven der Forschung, hg. von der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Sektion Germanistik, Kunst- und Musikwissenschaft, Greifswald 1986 (= Wissenschaftliche Beiträge der Ernst-MoritzArndt-Universität Greifswald. Deutsche Literatur des Mittelalters  3), S. 393–404. Schieb, Gabriele: Editionsprobleme altdeutscher Texte, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 89 (1967), S. 404–430. Neudruck: Bentzinger, Rudolf / Splett, Jochen (Hg.): Gabriele Schieb. Ausgewählte Schriften zur deutschen und niederländischen Sprach- und Literaturgeschichte. Gedenkschrift zu ihrem 75. Geburtstag, Göppingen 1994 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 601), S. 133–157. Schmidt, Hartmut: Sprachhistorische Forschung an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Ein Rückblick, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik XXXIV,2 (1992), S. 8–31. Schubert, Martin J.: Die „Deutschen Texte des Mittelalters“ und das „Handschriftenarchiv“ seit 1904, in: Schubert, Martin J. (Hg.): Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion. Berliner Fachtagung 1.–3. April 2004, Tübingen 2005 (=  Beiheft zu Editio 23), S. 297–310. Spiewok, Wolfgang / Zimdahl, Winfried: Bibliographische Übersicht über Arbeiten zur mittelalterlichen deutschen Literatur, die seit 1960 an Universitäts- und Akademieinstituten der DDR entstanden oder im Entstehen begriffen sind, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der ErnstMoritz-Arndt-Universität Greifswald. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 15,5/6 (1966), S. 601–605. Spiewok, Wolfgang: Vorwort, in: Spiewok, Wolfgang (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur des Spätmittelalters, Bd. 1: Einleitung, geisti-

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ge Hauptströmungen, das Weiterwirken der feudalhöfischen Epik, die Heldenepik, die Kleinepik (Novellen und Fabeln), der frühe deutsche Schelmen- und Narrenroman, unter Mitarbeit von Danielle Buschinger und Werner Hoffmann, Greifswald 1997 (= Wodan Greifswalder Beiträge zum Mittelalter 64. Serie 2 Studien zur mittelalterlichen Literatur 9). Spiewok, Wolfgang: Von Oberschlesien nach Vorpommern. Eine ostdeutsche Karriere, hg. Wolfhard Spiewok, Greifswald 2000 (= Reineke-Sonderdruck). Spiewok, Wolfgang (Hg.): Deutsche Literatur des Spätmittelalters. Ergebnisse, Probleme und Perspektiven der Forschung, hg. von der ErnstMoritz-Arndt-Universität Greifswald, Sektion Germanistik, Kunstund Musikwissenschaft, Greifswald 1986 (= Wissenschaftliche Beiträge der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Deutsche Literatur des Mittelalters 3). Tschirch, Fritz (Hg.): Frühmittelalterliches Deutsch. Ein Lesebuch ausgewählter Texte von den Anfängen des deutschen Schrifttums bis zum Ausgang des 11. Jahrhunderts, Halle/Saale 1955. Verlagskatalog 1950–1970. Mit einer Einleitung von Robert Harsch, hg. vom Max Niemeyer Verlag Tübingen, Tübingen 1970. Widmann, Hans: Tübingen als Verlagsstadt, Tübingen 1971 (= Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 1). Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 30,3/4, Greifswald 1981.

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„Das alte Wahre, faß es an“: zur editorischen Tätigkeit an den „Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar“ (NFG) Es erweist sich als notwendig, editorische Tätigkeit in Weimar nicht nur an die im Titel genannte Institution mit dem langen, neobarocken Namen zu binden, sondern knapp auch deren Vor- und Nachgeschichte zu behandeln. Denn während auf anderen Arbeitsfeldern der DDR-Germanistik, auf die Gegenwart bezogen, eher von Diskontinuität als von Kontinuität gesprochen werden muss, kehrt sich für das Weimar der Gegenwart dieses Verhältnis um. Die meisten der gegenwärtig existierenden quellenbezogenen wissenschaftlichen Projekte haben ihr Fundament in der Zeit seit l953, seit der Gründung der NFG, erhalten oder reichen noch weiter zurück. Alle Geschichte hat ihre Vorgeschichte. Philologische Forschung gibt es in Weimar von dem Zeitpunkt an, da durch das Testament des letzten Goethe-Enkels Walter Wolfgang im Jahre 1885 die Gründung des „GoetheArchivs“ (seit 1889 „Goethe- und Schiller-Archiv“) und des „Goethe-Nationalmuseums“ möglich geworden war. Die größte wissenschaftliche Leistung des Archivs in seiner Frühzeit bestand in der koordinierenden Organisation und Redaktion der Weimarer Goethe-Ausgabe, der bis heute einzigen wissenschaftlichen Gesamtausgabe Goethes.1 Dagegen führte die Erschließung der anderen Archivbestände und der Goetheschen Sammlungen zur Natur und Kunst lange Zeit ein Schattendasein. Pointiert gesagt, traten die Mitarbeiter der Weimarer Goethe-Institute – wie beide Einrichtungen benannt wurden – den Beständen nicht als Archivare oder Katalogautoren, sondern als Benutzer gegenüber. An diesem Zustand änderte sich bis 1945 wenig. Die beiden Goethe-Institute bestanden nach dem Zweiten Weltkrieg selbstständig nebeneinander. Nach dem Tod von Hans Wahl am 18. Februar 1949 ging die Leitung beider Häuser am 15. Mai 1949 an Gerhard 1

Vgl. Oellers, Sophienausgabe.

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Scholz über. Für Scholz, den aus schwedischer Emigration heimgekehrten Germanisten, waren die Weimarer Stätten ein Gedankenlabor, in dem er – gemeinsam mit einer Gruppe ihm anhängender marxistischer Nachwuchswissenschaftler – sein Projekt einer Umwertung aller literaturwissenschaftlichen Werte aus dem Geiste eines seherisch verkündeten Marxismus zu verwirklichen gedachte. Zwar ist nicht zu bestreiten, dass Scholz philologischer Arbeit zumindest Respekt entgegenbrachte – mündlichen Berichten zufolge wurde Scholz und seinen Schülern Textkritik durch Lieselotte Blumenthal, die Herausgeberin der Schiller-Nationalausgabe, seminaristisch vermittelt –, doch stand ihm weder nach eigenen Projekten der Sinn noch besaß er den langen Atem für die Organisation von quellenbezogenen Projekten seiner Mitarbeiter, die stärker seinen eigenen spekulativen Intentionen zu folgen bereit waren. Quellen wurden, wenn überhaupt, höchst willkürlich den Zwecken z. B. des unter seiner Regie entstandenen Goethezeit-Museums dienstbar gemacht. Außerdem fehlte ihm der rechte Sinn für Ordnungsprinzipien, ohne die weder Archive noch Museen existieren können. So geriet Scholz aus unterschiedlichen Gründen in die Kritik. Sie kam von Ernst Grumach, dem Leiter der Goethe-Akademieausgabe in Berlin, der in mehreren Gutachten (1949 und 1953) eine katastrophale Unordnung im „Goethe- und Schiller-Archiv“ (GSA) monierte2, Kritik kam aber auch von dogmatischen Funktionären in der Provinz, die von Scholzens zumindest unorthodoxen Auffassungen verblüfft, wenn nicht irritiert waren. In Weimar war 1952/53 eine Situation entstanden, die nach einer Strukturreform verlangte. Zur gleichen Zeit aber standen auch in der kulturpolitischen Zentrale in Berlin die Zeichen auf Veränderung. Die 1951 geschaffene „Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten“, nicht allein, aber vor allem auch Zensurbehörde für jedwede moderne Kunstäußerung, zog sich infolge ihres rigorosen Vorgehens den Unwillen prominenter Künstler, vor allem den von Brecht, zu. Es muss genügen, in diesem Zusammenhang sein Gedicht „Nicht feststellbare Fehler der Kunstkommission“ zu nennen.3 Sehr pauschal betrachtet, standen die Parteiinstanzen vor der Entscheidung, entweder einen ungeliebten Funktionär – in diesem Falle Helmut Holtzhauer – als Leiter der Kunstkommission im Amt zu halten, damit aber das Wohlwollen von Brecht (und damit auch die Akzeptanz durch andere kulturelle Repräsentanten, z. B. Walter Felsenstein) und letztlich das internationale Renommee des ‚Kunstlandes‘ DDR aufs Spiel zu setzen oder durch ein Bauernopfer die Voraussetzungen für eine moderate Lösung zu schaffen, wie sie dann nach Auflösung der Kunstkommission 1954 mit der Berufung Johannes R. Bechers zum Minister für Kultur erfolgte, von dem man sich 2 3

Vgl. Wahl, Überwindung. Brecht, Gedichte 5, S. 268.

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mehr Verständnis für die Künstler erhoffte. Holtzhauer selbst zog in einem wahrscheinlich 1973 niedergeschriebenen autobiographischen Text für seine Tätigkeit in Berlin folgendes Resümee: „Versuch, den Begriff des sozialistischen Realismus in Theorie und Praxis zu klären: am Widerstand der sog. führenden Künstler der DDR und ihrer internationalen Verbündeten sowie an den eigenen Schwächen in Theorie und Praxis gescheitert.“4 Inwiefern die Vorgänge in Weimar und Berlin ineinander griffen, wäre möglicherweise durch intensive Archivermittlungen zu verifizieren. Jedenfalls ist es eine Tatsache, dass die Verordnung der Regierung zur Gründung der NFG vom 6. August 1953 bereits von Holtzhauer, damals noch Leiter der Kunstkommission, vielleicht aber schon designierter Direktor in Weimar, im Wortlaut vorbereitet worden ist, so dass die Annahme nahe liegt, er habe hier ein Programm seiner eigenen künftigen Arbeit entworfen. Holtzhauer trat sein Weimarer Amt im Februar 1954 an, war zunächst Direktor, seit 1960 Generaldirektor der NFG und blieb es bis zu seinem Tode am 16. Dezember 1973. Mit imponierender Energie und Tatkraft ging er zu Werke. Das GSA wurde Willy Flach unterstellt, dem Direktor des „Thüringischen Landeshauptarchivs“, einem exzellenten Archivar, der diese Aufgabe im Auftrag der „Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin“ als deren Außenstellenleiter wahrnahm. Unter seiner Leitung wurden Grundsätze für die Verzeichnung der Bestände entwickelt und ein Verzeichnis sämtlicher Archivalien in Angriff genommen. Flach nahm 1957 einen Ruf an die Universität Bonn an, verließ Weimar am 16. Januar 1958 und setzte seinem Leben am 17. März 1958 in Bonn ein Ende. Das Weimarer Direktorenamt ging an Flachs Stellvertreter Karl-Heinz Hahn über, unter dessen Leitung 1961 das erste Bestandsverzeichnis des GSA5 erschien, eröffnet mit einer strikt fachbezogenen Vorrede, die sich jeder kulturpolitischen Verlautbarung enthielt. Das Gründungsdokument der NFG lieferte das kulturpolitische Fundament für die quellenbezogene Arbeit in Weimar. Es hieß darin (§ 3, 3): „Alle archivalischen Materialien, Bibliotheken, musealen Einrichtungen und Sammlungen sind zu sichten, zu katalogisieren sowie laufend zu ergänzen und sorgsam zu hüten.“6 Man täte Holtzhauer unrecht, wenn man sein Wirken lediglich als politisch motivierte Umsetzung eines einmal beschlossenen Konzepts durch einen gut funktionierenden Funktionär ansähe. Nicht zuletzt die Durchsicht seiner Tagebücher vermittelt mir den Eindruck, dass er selbst, Buchhändler von Beruf und versehen mit einem 4 5 6

Holtzhauer, Helmut: ‚autobiographischer Text‘, in: Institutsarchiv (GSA). Hahn, Goethe- und Schiller-Archiv. Gründungsdokument der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, in: Akten des Goethe- und Schiller-Archivs (GSA / IA 1166), Gesetzblatt 1953, Nr. 92.

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Abitur aus der Weimarer Republik, nach langen Haftjahren in faschistischen Zuchthäusern von 1945 an mit wichtigen Ämtern betraut, von der Notwendigkeit des zu Leistenden im Inneren ergriffen war und dass die Überzeugung, alle Interpretation müsse letztlich auf exakten philologischen Grundlagen beruhen, für ihn kein bloßes Lippenbekenntnis war. Dafür spricht schon die Konsequenz, mit der Holtzhauer das wissenschaftliche Fundament für alle Forschungstätigkeit an den NFG errichtete. Vom ersten Bestandsverzeichnis des GSA war schon die Rede. Parallel dazu begannen im „Goethe-Nationalmuseum“ (GNM) die Arbeiten am Corpus der Goethezeichnungen, das seit langem in acht Bänden abgeschlossen vorliegt und bis heute – trotz aller notwendigen Ergänzungen und Korrekturen – die Grundlage jedweder wissenschaftlichen Beschäftigung mit Goethes zeichnerischem Œuvre bildet.7 Kataloge für die anderen Bereiche der Goetheschen Kunstsammlungen (deutsche, italienische, französische Druckgraphik, Majoliken, Gemmen, Münzen und Medaillen) wurden in einer eigenen Publikationsreihe („Goethes Sammlungen zur Kunst, Literatur und Naturwissenschaft“) zur Veröffentlichung vorbereitet. Erschienen sind Kataloge der Gemmensammlung (1977)8 und der Mineraliensammlung Goethes (1978).9 Katalogisiert wurde ebenfalls Goethes Bibliothek.10 Hans-Joachim Schreckenbach besorgte einen Katalog der im GSA aufbewahrten Autographensammlung Goethes.11 All diese Projekte bezeugen Umsicht und strategischen Weitblick ihres Organisators, und es gehört nicht zu den Ruhmesblättern der unter wechselnden Namen seit 1990 existierenden Nachfolgeinstitution der NFG (heute: „Klassik Stiftung Weimar“), dass die Katalogarbeit speziell im Museumsbereich nur höchst unzulänglich fortgesetzt worden ist. Zudem entwickelten Holtzhauer und Hahn gemeinsam 1964 das Projekt einer Zentralkartei der deutschen Autographen12 – ein Vorhaben, dem freilich in Zeiten des Kalten Krieges keine Realisierung beschieden sein konnte und das erst nach 1990 in der Verantwortung der Berliner Staatsbibliothek Zug um Zug, nunmehr auch im europäischen Maßstab, als work in progress entwickelt wurde. Dass all diese Projekte auch eine notwendige Grundlage für editorische, insbesondere kommentierende Tätigkeit darstellen, dürfte unschwer einleuchten. Editorische Projekte im eigentlichen Sinne wurden seit den fünfziger Jahren für Goethe, Herder und Heine vorbereitet. Das zentrale Stichwort für Goethe lautete: Erneuerung der „Weimarer Ausgabe“ (WA). 7 8 9 10 11 12

Femmel, Corpus. Femmel, Gemmen. Prescher, Goethes Sammlungen. Ruppert, Goethes Bibliothek. Schreckenbach, Goethes Autographensammlung. Hahn, Zentralkartei.

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Bereits das Erscheinen der einzelnen Bände der WA seit 1887 war von kritischen Rezensionen begleitet worden, und auch nach dem Abschluss der Edition im Jahre 1919 wollten die kritischen Stimmen nicht verstummen.13 Insbesondere die Abteilung II mit den von Rudolf Steiner herausgegebenen naturwissenschaftlichen Schriften Goethes war davon betroffen, und so fasste die „Akademie der Naturforscher Leopoldina“ in Halle bereits 1941 den Beschluss, diese Abteilung neu herauszugeben. Einen neuen Impuls erhielt die Goethe-Philologie im Jubiläumsjahr 1949, als sich an der „Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin“ die Goethe-Akademieausgabe konstituierte; vorher schon war als Projekt mehrerer deutscher Akademien die Arbeit an einem Goethe-Wörterbuch aufgenommen worden.14 Ernst Grumachs Prolegomena zu einer GoetheAusgabe, 1950 publiziert, stellten eine Fundamentalkritik an der ersten Abteilung der WA dar, die in ihrer Substanz nicht widerlegt worden ist.15 Schwieriger stand es schon mit dem alternativen Neubau; nicht zuletzt die langwierigen Vorarbeiten, eine nach Grumachs Ausscheiden notwendige methodische Neuorientierung und das Erscheinen weniger und noch dazu umstrittener Bände erwiesen sich als schwerwiegendes Hemmnis für das weitere Erscheinen der Ausgabe. In Weimar wurde der Erneuerungsimpuls aufgenommen. Ein von den NFG 1960 einberufenes Goethe-Kolloquium, veranstaltet anlässlich des 75-jährigen Bestehens der Weimarer Goethe-Institute, hatte sich als dritten Arbeitsschwerpunkt Probleme der Edition vorgenommen. Unter dem Markenzeichen „Neue Weimarer Ausgabe“ (NWA) sollten Goethes Briefe und Tagebücher neu ediert, die an Goethe gerichteten Briefe in einer sog. Regestausgabe erschlossen werden. Hans Böhm veröffentlichte 1967 im Goethe-Jahrbuch Prolegomena für die NWA, kombiniert mit Probeeditionen bislang unveröffentlichter Goethe-Briefe.16 Parallel dazu waren im „Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar“ Vorarbeiten für eine Edition von Goethes amtlichen Schriften geleistet worden – hier hatte Willy Flach wichtige Grundlagen geschaffen.17 Auf dem Kolloquium von 1960 gab Holtzhauer eine hoffnungsvolle Prognose. Zwei Jahre darauf, im Februar 1962, wurde in einer Mitteilung der NFG als „wichtigste Schlußfolgerung“ auch für die Forschungsinstitute nach dem Bau der Mauer verkündet, „nunmehr Arbeitsintensität und wissenschaftliche Produktivität so hoch wie möglich zu schrauben. Durch Veröffentlichungen“, so heißt es weiter, „deren Grundlage der wissenschaft13 14 15 16 17

Vgl. Raabe, Weimarer Ausgabe. Mattausch, Goethes Wörtern. Grumach, Prolegomena. Böhm, Weimarer Ausgabe. Vgl. Wahl, Goethes amtliche Schriften.

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liche Sozialismus ist, […] muß sich die Überlegenheit des Sozialismus auch auf diesem Felde wissenschaftlicher Bestrebungen erweisen.“18 Die Schrauben-Metapher ist charakteristisch für Holtzhauers Ungeduld ebenso wie für seine Tendenz, den (wenigen) Wissenschaftlern im Sinne einer ‚Tonnenideologie‘ exakt messbare Tagesleistungen abzufordern. Ein Problem konnte auch Holtzhauer nicht aus der Welt schaffen, den Mangel an Mitarbeitern. „Der Ruf nach geschulten und erfahrenen Philologen“, so formulierte er 1957, „die Texte editieren können, ist allgemein geworden.“19 Seinem Idealbild eines Mitarbeiters entsprach am ehesten der italienische Kommunist Mazzino Montinari, der sich zwischen 1961 und 1970 zur Vorbereitung der kritischen Nietzsche-Edition in Weimar aufhielt. In Holtzhauers Tagebuch heißt es unter dem 10. Juni 1970: „Am Abend Dr. Montinari zu Gast, ein prächtiger, arbeitsamer, politisch interessierter und aktiver Mensch.“20 Nicht zuletzt der fehlenden Mitarbeiter wegen, soviel sei vorausgeschickt, kam die „Neue Weimarer Ausgabe“ vor 1990 nicht zustande. Hingegen nahmen die Vorarbeiten für eine Regestausgabe der an Goethe gerichteten Briefe (RA), die sich nahezu vollständig – etwa 19000 an der Zahl – im GSA befinden, gewissermaßen in der Stille am Archiv ihren Fortgang. Doch erst 1980 erschien der erste Band als, wie im Vorwort formuliert wird, „ein Zeugnis verantwortungsbewußter Förderung der Goethe- und Klassikforschung in der Deutschen Demokratischen Republik“21; erklärbar aus einer politischen Situation, in der wissenschaftliche Editionstätigkeit, sieht man einmal vom Paradefall der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) ab, das Odium kostspieliger Unproduktivität anhaftete. Inzwischen liegen 7 Bände vor, die Goethes Lebenszeit bis 1817 umfassen, doch ist erst knapp die Hälfte des Weges zurückgelegt. Ungeachtet aller methodischen Revision, die die RA seit ihrer Gründungsphase erfahren hat, ist sie ein Beispiel wissenschaftlicher Kontinuität. Erfolgreich gestaltete sich am GSA auch die Herausgabe von Herders Briefen, weil hier auf umfangreiche ältere Vorarbeiten zurückgegriffen werden konnte. Der in Weimar lebende Herderforscher Wilhelm Dobbek hinterließ bei seinem Tode 1971 bereits das Manuskript für eine vollständige Textedition, das in den Folgejahren von Günter Arnold revidiert und vor allem durch neue Funde ergänzt wurde. 1977 erschien der erste Textband, eingeleitet mit einem Vorwort des Herausgebers Karl-Heinz Hahn, das die Vorgeschichte der Edition sachlich rekapitulierte und sich jeder aktuellen Bezugnahme, auch des obligatorischen Dankes an Partei- und Staatsfüh18 19 20 21

Die Goethe-Institute in Weimar. Mitteilung, Februar 1962, S. 1. Holtzhauer, Säkularausgabe, S. 267. Holtzhauer, Helmut: Tagebücher, in: Institutsarchiv (GSA). Hahn, Einleitung, S. 32.

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rung, enthielt.22 Kontinuierlich erschienen seither neun Textbände, 1996 dann ein umfangreiches Gesamtregister, dem 2001, 2005 und 2009 vier Bände mit Erläuterungen einzelner Textstellen folgten. Der Abschluss der Ausgabe, Günter Arnolds bedeutendes Lebenswerk, wie mit Fug und Recht angemerkt werden kann, ist noch in diesem Jahrzehnt zu erwarten und wird gegenwärtig von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Kontinuität unter wechselnden Vorzeichen, so könnte die Überschrift zum Kapitel Heine-Säkularausgabe (HSA) lauten. Säkularausgabe darum, weil der Entschluss dazu im Heine-Jahr 1956, also zur hundertsten Wiederkehr des Todesjahres, gefasst wurde. Im Februarheft 1957 der von Holtzhauer mitbegründeten Zeitschrift „Weimarer Beiträge“ erschien sein Aufsatz „Zur Säkularausgabe von Heines Werken, Briefen und Lebenszeugnissen“.23 Bevor ich mich diesem Text zuwende, muss wenigstens andeutungsweise die Frage beantwortet werden, warum Heine in Weimar ediert werden sollte. Das hing mit Holtzhauers Klassikverständnis zusammen, dem zufolge sich eine historisch-ästhetische Entwicklung geradlinig konstruieren ließ, die über Antike und Renaissance zur deutschen Klassik führte, die für Holtzhauer die Periode zwischen Lessing und Heine umfasste. Dass Heine eigenem Bekunden zufolge das letzte freie Waldlied der Romantik sang, dass er die ‚Kunstperiode‘ mit Goethe enden ließ, sich selbst als durchaus modernen Autor begriff, der einer anderen Epoche angehöre, wurde zwar gelegentlich erwähnt, aber eigentlich beiseite geschoben. Der Zweck, Heines Einvernahme für die Klassik, erheischte seine Begründung, und sie wurde geliefert, z. B. von Wissenschaftlern der NFG, die Heines positives AntikeBild und seinen Status als Klassiker herauszupräparieren hatten.24 Sieht man einmal von diesen Prämissen ab, so ist Holtzhauers Text im weiteren Sinne gleichermaßen unter politischem wie editionsmethodischem Aspekt aufschlussreich. Holtzhauer war bewusst, dass sein Plan nur verwirklicht werden konnte, wenn er auf die Handschriftenbestände aller öffentlichen Sammlungen des In- und Auslandes zurückgreifen konnte. So feierte er die 1955 erfolgte Rückkehr der Sammlung Strauß in die Stadt- und Landesbibliothek Düsseldorf als ein für Deutschland „glückliches Ereignis“ und sprach die Hoffnung aus, dass es „kaum Schwierigkeiten“ geben dürfte, die in öffentlicher Hand befindlichen Heine-Dokumente „der wissenschaftlichen Arbeit, vor allem der editorischen, zu erschließen“, ja es wäre am besten, wenn sich „die Beteiligten zu gemeinsamer Arbeit“ vereinigten.25 Am Schluss heißt es bei ihm: „Die reichen Schätze der Düsseldorfer Sammlung stehen unserer Arbeit nicht nur offen, sondern werden in selbständiger Ar22 23 24 25

Vgl. Hahn, Vorwort. Holtzhauer, Säkularausgabe. Vgl. Hecht, Wandlungen. Holtzhauer, Säkularausgabe, S. 268.

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beit für die Ausgabe erschlossen.“26 Doch als Eberhard Galley, der Düsseldorfer Bibliotheksdirektor, 1958 das Angebot einer gesamtdeutschen Ausgabe der Werke Heines unterbreitete, fragte sich Holtzhauer im Tagebuch unter dem 27. Januar 1958 zweifelnd, ob eine solche Ausgabe „jetzt noch möglich und zweckmäßig“27 sei – was beweist, dass er von vornherein die in der DDR betriebene Politik der Wiedervereinigung mit ihren taktischen Wechselfällen ins Kalkül zog. Der Mauerbau schuf auch hier vollendete Tatsachen, so dass Düsseldorf sich Mitte der sechziger Jahre zu einer eigenen Ausgabe entschloss. Insofern sind beide Heine-Editionen klassische Dokumente der deutschen Teilung. Als dann die Sammlung Schocken, die zweite bedeutende Heine-Privatsammlung, 1967 von Israel nach Frankreich in die „Bibliothèque Nationale“ wechselte und sich am „Centre National de la Recherche Scientifique“ (CNRS) in Paris die Equipe Heine unter der Leitung von Louis Hay bildete, nahmen Holtzhauer und Hahn Kontakt zu dieser Forschergruppe auf, und es gelang ihnen 1970, einen Kooperationsvertrag mit dem CNRS zu vereinbaren, der unter anderem – elementar wichtig für die notorisch devisenschwache DDR – die Finanzierung von Arbeitsaufenthalten Weimarer Editoren in Paris sicherte. Dass Holtzhauer dies auch als außenpolitischen Erfolg für die um Anerkennung bemühte DDR ansah (und ansehen durfte), bezeugt eine Tagebuchnotiz vom 17. März 1970, in der er seinem Unmut Ausdruck verleiht, für diese seine Tat nicht die nötige politische Anerkennung erfahren zu haben.28 Gegenüber der Düsseldorfer Ausgabe, die Heines französisch erschienene Werke den entsprechenden deutschen Textbänden zuordnete, hatte die HSA in Paris insofern gute Karten, als in ihrer Gesamtplanung von vornherein eine Abteilung II mit Heines französischen Werken vorgesehen war, denn Heine hatte nur in Frankreich so etwas wie eine Ausgabe letzter Hand zustande gebracht. Die Bände der Abteilung II wurden französischen Germanisten zur Bearbeitung anvertraut und in Weimar redigiert. Das alles gestaltete die Kooperation mit Paris günstig und verschaffte den Weimarer Editoren dort, solange die Notwendigkeit (bis in die neunziger Jahre hinein) bestand, vorzügliche Arbeitsbedingungen. Blickt man auf die editionsmethodischen Voraussetzungen der Säkularausgabe, soweit sie aus Holtzhauers Ausführungen erkennbar werden, so zeichnen sie sich durch Problembewusstsein und Liberalität aus. Nach dem Muster der WA sollte ein Team von vier bis fünf Redaktoren in Weimar die Arbeit organisieren, die Texte kontrollieren, Register anlegen und dadurch für die Einheitlichkeit der Ausgabe garantieren. Die Bandbearbeitung selbst sollte Gelehrten des In- und Auslandes übertragen werden, wobei man in 26 27 28

Ebd., S. 277. Holtzhauer, Helmut: Tagebücher, in: Institutsarchiv (GSA). Holtzhauer, Helmut: Tagebücher, in: Institutsarchiv (GSA).

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der Gründungsphase bereits auf die Heine-Sammlungen des in London lebenden Fritz Eisner und des in die USA exilierten Heine-Forschers Walter Wadepuhl zurückgreifen konnte. Die Konstituierung der Texte sollte „nach neuesten Editionsgrundsätzen“ geschehen, „ähnlich wie sie – naturgemäß nicht völlig übereinstimmend – bei der Akademieausgabe von Goethes Werken, der Schiller-Nationalausgabe oder der großen Stuttgarter HölderlinAusgabe entwickelt wurden. Es versteht sich, dass die Ausgabe auch einen allen wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Apparat enthalten soll.“29 Die Entscheidung, Text- und Apparatbände separat zu veröffentlichen, folgte einer Editionspraxis, die sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt hatte. Die Struktur der Anmerkungen folgte ebenfalls bewährten Grundsätzen. Die in Holtzhauers Aufsatz ausführlich erörterte Anordnung der Texte hat sich in der editorischen Praxis bewährt. Auffällig sparsam sollte mit der Kommentierung im eigentlichen Sinne verfahren werden. Holtzhauer dekretierte: „Deshalb sollte aber der Editor nicht zugleich interpretieren wollen“.30 Selbst wenn man diesem Grundsatz zustimmt, bleibt doch zu konstatieren, dass ein Sachkommentar – der in meinen Augen wichtigste qualitative Zugewinn auf dem Felde der historisch-kritischen Edition nach 1945 – hier längst nicht ausreichend bedacht wurde. Bei Holtzhauer heißt es: „Alles, was Wort- und Namenserklärungen betrifft, soll dem Wörterbuch des letzten Bandes zugewiesen werden, so dass alle Namen sowie mythologische, politische und ästhetische Begriffe an dieser Stelle eine einheitliche Erklärung finden.“31 So sehr man darüber heute den Kopf schütteln mag, mit solchen ebenso von Kühnheit wie von Ahnungslosigkeit geprägten Aussagen stand Holtzhauer damals nicht allein. Was nun die Darbietung von Text und Varianten betrifft, so sollte sich die im Aufsatz formulierte vorsichtige Einschränkung bald zur deutlichen Abgrenzung entwickeln. 1966 erschien in der NFG-Zeitschrift „Forschen und Bilden“ (die nur in zwei Nummern herauskam) Hahns und Holtzhauers Abhandlung „Wissenschaft auf Abwegen? Zur Edition von Werken der neueren deutschen Literatur“32, die vorher schon unter NFG-Editoren die Runde gemacht hatte und an der beide Autoren parallel zueinander seit 1962 gearbeitet hatten. Es ist hier nicht der Ort zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit diesem Text. Soviel aber sei gesagt, dass Hahn und Holtzhauer im Grunde einen Kampf an zwei Fronten führten. Auf der einen Seite hatten sie es mit bornierten Wissenschaftsfunktionären zu tun, die editorische Tätigkeit argwöhnisch als kostspielige, langwierige und dazu ideologieferne ‚bürgerliche‘ Wissenschaftspraxis ansahen. Den 29 30 31 32

Holtzhauer, Säkularausgabe, S. 269. Ebd., S. 270. Ebd., S. 276. Hahn/Holtzhauer, Wissenschaft auf Abwegen?

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politisch Verantwortlichen wurde entgegengehalten, „dass die Philologie […] ein Produkt des gesellschaftlichen Lebens ist und ihre Arbeitsergebnisse zum Nutzen der Gesellschaft gewonnen werden“, dass ein „Denkmal der Literatur“ nur editionswürdig wird durch „seinen künstlerischen Wert und die Bedeutung, die es für die Gesellschaft im Sinne fortschrittlicher Traditionen in der Geschichte der Nation und der Menschheit erlangt hat“33, dass die „Brauchbarkeit einer Ausgabe […] nicht durch die Qualität des Textes und durch die Übersichtlichkeit und Verständlichkeit ihrer Anlage allein bestimmt [wird], sondern auch durch den Zeitraum, in dem sie zustande kommt.“ Und daran schloss sich konsequenterweise an: „Auch die finanziellen Mittel, die für eine wissenschaftliche Ausgabe aufzuwenden sind, […] werden nur durch den Erfolg gerechtfertigt.“34 Das mag rechtfertigend in die Richtung einer politischen Obrigkeit gesprochen worden sein, doch die Autoren leiteten daraus gravierende inhaltliche Konsequenzen ab, wie sie in der zweiten Argumentationslinie zutage treten. Hauptaufgabe einer Edition sei die Konstituierung des besten, der Autorintention folgenden Textes, Nebenaufgabe die Darstellung der Textentwicklung in einem Variantenapparat. Diesen Apparat in seiner Erkenntnisfunktion herabzusetzen war jedes Mittel recht. „Alexandrinismus“ spiegele sich darin wider, jedoch auch die „Abwendung von echtem historischem Denken“ und die „Zuwendung zu sog. geisteswissenschaftlichen und später existentialistischen Positionen“.35 Im Apparat sollten nur „echte Varianten“ dargestellt werden, d. h. „solche Abweichungen in der Überlieferung, die möglicherweise unterschiedliche Entscheidungen für die endgültige Textkonstituierung zulassen“.36 Als einziger Kronzeuge für dieses völlig subjektive Auswahlverfahren konnte der Schweizer Keller-Editor Jonas Fränkel aufgerufen werden; die Protagonisten einer modernen Editionstheorie und -praxis hingegen – Hans Zeller für Conrad Ferdinand Meyer, Walter Killy für Trakl, Lieselotte Blumenthal und Siegfried Scheibe für Goethe – erfuhren radikale Kritik, während Friedrich Beißners Theorie vom idealen Wachstum eines Hölderlin-Gedichts eben noch passieren konnte. Zellers und Killys sorgfältig und überzeugend begründete Auffassung, räumliche Korrekturpositionen in einer Handschrift mit jeweils einem spezifischen Siglensystem wiederzugeben, wurde angesichts moderner Faksimilierungsverfahren zum sinnlosen Tun erklärt, Lieselotte Blumenthals Konstituierung des Tasso-Textes als „Unfug“ bezeichnet, Scheibes Apparatband zu Goethes Epen als „wissenschaftliche Fehlinvestition“ abgetan.37 Dies waren die Ab33 34 35 36 37

Ebd., S. 311. Ebd., S. 313. Ebd., S. 298. Ebd., S. 310. Ebd., S. 319.

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wege, auf die nach Ansicht der Autoren die Editionspraxis geraten war. Unter solchen Vorzeichen rückte der folgende Satz – insbesondere sein erster, auf die Goethe-Akademieausgabe zu beziehender Teil – in die gefährliche Nähe einer politischen Drohgebärde: Es ist das Bewußtsein einer kulturpolitischen, der Gesellschaft verpflichteten Aufgabenstellung ebenso verlorengegangen wie die Einsicht, dass die Werkhandschrift eines Dichters als materieller Träger des Werkes ihre Rolle ausgespielt hat.38

Man hätte annehmen können, dass die hier verkündeten Grundsätze rigoros in der Editionspraxis der NFG umgesetzt worden wären. Für die Anfangszeit der HSA sind solche Tendenzen auch zu beobachten. Dietrich Germann, der erste Arbeitsgruppenleiter der HSA, hatte eine zweibändige Darstellung zu Editionstheorie und -praxis vorgelegt, im ersten Band eine Geschichte der neugermanistischen Edition, im zweiten methodische Grundsätze für die HSA, die sich in vielen Punkten von Hahns und Holtzhauers Verlautbarungen unterschieden. Germanns Manuskript wurde sekretiert – noch in den achtziger Jahren musste ich dem damaligen Bibliotheksdirektor gegenüber begründen, warum ich partout dieses Werk aus dem Giftschrank lesen wolle –, Germann selbst von Holtzhauer aus politischen Gründen entlassen; er durfte seine beträchtliche editorische Kompetenz nur noch einmal – gemeinsam mit Eberhard Haufe als Bearbeiter von Schillers Gesprächen in der Schiller-Nationalausgabe39 – zur Geltung bringen. Doch aller Rigorosität stellte sich im Hinblick auf die HSA die Schwierigkeit entgegen, dass Editionsprinzipien nicht ohne die französischen Mitherausgeber beschlossen werden konnten. Der erste Kommentarband der HSA (zu den Gedichten 1812–1827) erschien erst 1982 und enthielt ein gemeinsames Vorwort40 von Karl-Heinz Hahn und Pierre Grappin, das in vielem mit dem übereinstimmte, was Holtzhauer bereits 1956 entworfen hatte, in puncto Variantendarbietung – nunmehr unter der Überschrift „Mitteilungen zum Text“ – aber doch gegenüber der „Wissenschaft auf Abwegen“ einige Modifikationen erkennen ließ. Im Leitungskollektiv der NFG war ein Textentwurf von Karl-Heinz Hahn 1977 ausführlich kritisch diskutiert worden. Ein ganz heikler Punkt – die Existenz des Düsseldorfer Parallelunternehmens – wurde mit wenigen knappen Sätzen abgetan – ganz vermeiden ließ sich die Nennung der Edition nicht. Zwar wird im Vorwort wiederum erklärt, dass „eindeutig unerhebliche, die Qualität des Textes nicht beeinträchtigende oder modifizierende Varianten und Textansätze […] dabei nicht berücksichtigt werden“ – diese Praxis ist später stillschweigend aufgehoben worden –, doch als Zweck der Variantenver38 39 40

Ebd. Germann/Haufe (Hg.), Schillers Gespräche. Hahn/Grappin, Vorwort.

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zeichnung wird nunmehr „eine sachgerechte und umfassende Information über Wort- und Sprachgebrauch des Dichters, die seine Gestaltungs- und Aussageabsichten zu verdeutlichen vermag“, definiert. Weiter heißt es: „Die auf je eine Textpassage – ein einzelnes Wort oder einen Vers, eine Versgruppe oder einen umfangreicheren Textteil – sich beziehenden Mitteilungen werden, in mutmaßlich chronologischer Folge, in Gestalt eines negativen Apparates dargeboten. Dabei wird auf die Kenntlichmachung graphischer Manuskriptbefunde grundsätzlich verzichtet.“41 Sacherläuterungen wurden jetzt den jeweiligen Werkbänden zugeordnet. Nach solchen Prinzipien ist die HSA über das Jahr 1990 hinaus weitergeführt worden. Als ich 1991 die Verantwortung für die Edition übernahm, erzielte ich mit Manfred Windfuhr und Josef Kruse in Düsseldorf rasch Einverständnis darüber, dass beide Editionen nach dem Gesetz, wonach sie angetreten, zu Ende zu führen seien. Während dies in Düsseldorf längst geschehen ist, standen die Jubiläumsjahre 1997 und 2006, wie einstmals geplant, noch nicht im Zeichen der Vollendung der HSA. Nunmehr aber ist ein Ende abzusehen. Der letzte in Arbeit befindliche Kommentarband, Heines später Prosa (Band zwölf ) vorbehalten, stellt ein Gemeinschaftswerk von Düsseldorf und Weimar dar, finanziert vom Deutschen Literaturfonds: ein schönes Beispiel für kollegiale Kooperation, wie sie zu Zeiten der DDR an der Basis dank großer Hilfsbereitschaft in Düsseldorf stets funktioniert hat. Eine Sonderstellung nahm in Weimar stets die Schiller-Nationalausgabe (NA) ein. 1940 begründet, gehörte sie zu den wenigen wissenschaftlichen Projekten, die zur Zeit der deutschen Teilung als gesamtnationales Unternehmen weitergeführt wurden – allein schon deshalb, weil keine der beiden Seiten ohne die Handschriftenbestände der anderen hätte weiterarbeiten können. Im Verwaltungsausschuss saßen neben anderen Bernhard Zeller und Ulrich Ott als Direktoren des Marbacher Literaturarchivs, Helmut Holtzhauer und seine Nachfolger im Amt als Generaldirektoren der NFG. In Zellers „Marbacher Memorabilien“ ist nachzulesen, wieviel Geduld und Fingerspitzengefühl nötig waren, um tragfähige Kompromisse zum Wohle der Ausgabe zu erzielen. Herausgeber waren nach dem Grundsatz politischer Parität seit 1958 Benno von Wiese und Lieselotte Blumenthal, von 1978 an Norbert Oellers und Siegfried Seidel, seit 1991, Seidels Todesjahr, ist es Oellers allein. Wechselseitige Arbeitsaufenthalte der Bearbeiter in Weimar oder in Marbach waren an der Tagesordnung. Die DDR-Seite befand sich insofern in einer Position der Schwäche, als sie nur wenige qualifizierte Philologen als potentielle Bearbeiter bereitstellen konnte. So ergab sich von vornherein ein Übergewicht von Bearbeitern aus der Bundesrepublik, und wenn diese zudem – wie im Falle von Benno von Wiese und Helmut 41

Ebd., S. 21–22.

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Koopmann – Schillers ästhetische Schriften interpretierend kommentierten, war vonseiten der DDR Widerspruch zu erwarten; schließlich erschien die Ausgabe in einem ihrer Verlage. Doch am Ende siegten pragmatische Überlegungen auf beiden Seiten und die für jedes in der DDR erscheinende Buch notwendige Druckerlaubnis wurde, wenn auch widerstrebend, erteilt. Aus Holtzhauers Tagebuchnotizen gewinnt man nicht den Eindruck, dass die NA für ihn ein geliebtes Kind war – von einem „fatalen Schacher“42 ist dort unter dem 27. Oktober 1958 zu lesen –, doch auch hier handelte er getreu dem Leninschen Grundsatz, dem zufolge man sich auch mit dem Teufel verbünden könne, wenn es der eigenen Sache nütze. Vorsichtige Kompromissbereitschaft, gepaart mit persönlicher Konzilianz, trugen zu Holtzhauers gutem Ruf unter Germanisten und Bildungsbürgern in der Bundesrepublik bei, weckten andererseits aber auch den Argwohn der DDR-Funktionäre, den Holtzhauer durch so manchen Alleingang am Leben erhielt. Dass die NA in den siebziger und achtziger Jahren kontinuierlich vorangebracht werden konnte, ist vor allem das Verdienst von Norbert Oellers, der sich sehr anschaulich zu den deutsch-deutschen Schwierigkeiten seiner Arbeit geäußert hat.43 Editionstätigkeit an den NFG umfasste indes nicht nur die Arbeit an historisch-kritischen Ausgaben. Da Holtzhauers Konzept darauf gerichtet war, die Kunst der Klassik dem werktätigen Volk zu vermitteln, erwies sich auch die Suche nach populären Editionsformen als notwendig. Geboren wurde 1955 die „Bibliothek deutscher Klassiker“ (BDK). Marcus Gärtner hat in einer Studie44 diese Buchreihe untersucht und den Nachweis geführt, dass sie ursprünglich nicht auf einer Idee Holtzhauers beruhte, sondern vom Kulturministerium der DDR ihren Ausgang nahm. Ein Beirat konstituierte sich, der seine Tätigkeit zunächst im Sinne eines gesamtdeutschen Unternehmens verstand, der über die Struktur der Buchreihe befand, die aufzunehmenden Autoren festlegte und Bearbeiter berief. In ihrem Aufbau orientierte sich die Reihe an bewährten Mustern (z. B. an Meyers Klassikerausgaben): Die einzelnen Bände enthielten eine Einleitung zu Leben und Werk, nach den besten wissenschaftlichen Ausgaben (sofern vorhanden) revidierte, orthographisch modernisierte Texte und Erläuterungen einzelner Stellen; das Ganze wurde in Leinen gebunden, in hoher Auflage gedruckt und zu geringem Preis vertrieben. Für den Weimarer Volksverlag, wo die BDK zunächst erschien, seit 1964 für den Aufbau-Verlag erwies sich die Reihe als Exportschlager, denn deren insgesamt 70 Ausgaben in 153 Bänden, gediegen-konservativ in der Ausstattung, konkurrenzlos günstig im Preis, boten sich in der Bundesrepublik als erschwingliche Lektüre für den 42 43 44

Holtzhauer, Helmut: Tagebücher, in: Institutsarchiv (GSA). Oellers, Jahre. Gärtner, „Bibliothek deutscher Klassiker“.

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Bildungsbürger wie als Arbeitsmaterial für den Studenten an, insbesondere für schwer zugängliche Autoren wie Bräker, Bürger, Schubart, Seume, Börne oder Weerth. Der ursprüngliche Beirat war zwar prominent besetzt (u. a. mit Hans Mayer), verschloss sich im Hinblick auf die Auswahl der zu edierenden Autoren aber nicht Holtzhauers Wünschen, billigte insbesondere dessen von Lukács herkommendes Romantik-Verdikt. Lediglich Eichendorff und die „Wunderhorn“-Lieder waren ihrer ‚Volkstümlichkeit‘ wegen zunächst zugelassen. Nicht minder problematisch war die Auswahl geeigneter Bearbeiter, denn auch auf diesem Felde herrschte Personalmangel. So wurde Reinhard Buchwald in Heidelberg, integrer liberaler Pädagoge und Schiller-Biograph, um eine Goethe-Auswahl gebeten, während die Schiller-Ausgabe in die Hände des Jenaer Ordinarius Joachim Müller gelegt wurde. Buchwalds 1956 erschienene Ausgabe wurde nicht mit einer Einleitung aus seiner Feder, sondern mit „Dichtung und Wahrheit“ eröffnet, ließ Goethe also als Herausgeber seiner selbst zu Wort kommen; das Fehlen einer marxistischen Einleitung aber veranlasste Alexander Abusch 1957 zu scharfer Kritik.45 Sobald Holtzhauer sich selbst zu editorischer Tätigkeit imstande sah, ersetzte er dann auch Buchwalds Edition (im Jahre 1966) durch eine eigene. Joachim Müllers Schiller-Ausgabe hatte zwar alle Instanzen passieren können, doch mit seiner Stifter-Auswahl und der ihr vorangestellten Einleitung war er, wie Gärtner im einzelnen nachgewiesen hat, scharfer, ideologisch motivierter Kritik ausgesetzt.46 Das am Ende doch mögliche Erscheinen der Stifter-Ausgabe war letztlich auf den Umstand zurückzuführen, dass der Buchhandel Stifter dringend wünschte und kein alternativer Herausgeber zur Verfügung stand, der die nötige wissenschaftliche Qualifikation besaß. Für die knapp 20 Jahre, in denen Holtzhauer die Geschicke der NFG lenkte, kann nur eine gemischte Bilanz gezogen werden. Zwar wurden viele quellenbezogene Projekte begonnen, manches auch zu Ende gebracht, doch spätestens um 1970 musste sich Holtzhauer eingestehen, dass er mit seinem groß angelegten Konzept gescheitert war. Die Gründe dafür sind vielfältig und in der Forschung bereits im Einzelnen dargelegt worden. Ich möchte sie knapp in drei Punkten zusammenfassen. 1.) Wissenschaftlich war Holtzhauer mit seinem normativen KlassikKonzept in der DDR-Germanistik isoliert. Weder war es ihm gelungen, Weimar zu einem Zentrum der Klassik-Forschung zu machen, noch war seine direkte Herleitung sozialistischer Kultur aus der Weimarer Klassik akzeptiert worden; ebenso wenig konnte sich seine These von der deutschen Klassik als einem Quellbecken des Marxismus durchsetzen. Kritische Aneignung des (bürgerlichen) Erbes wurde demgegenüber geltend gemacht. 45 46

Vgl. ebd., S. 201. Vgl. ebd., S. 203–206.

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Klassik-Zentrismus war ein häufig erhobener Vorwurf. Insbesondere die Schüler seines Intimfeindes Gerhard Scholz, Inhaber wichtiger Lehrstühle – unter ihnen nahm Hans-Günther Thalheim noch eine herausgehobene Position ein –, sahen Holtzhauer letztlich als bildungswilligen Dilettanten an, dem zwar große Verdienste um die Erhaltung der Weimarer Stätten nicht abzusprechen waren, der aber im Grunde als wissenschaftlicher Diskussionspartner nicht in Frage kam. Der alte Vorwurf, in Weimar würde ‚bürgerliche‘ Literaturwissenschaft betrieben, wollte ebenfalls nicht verstummen. 2.) Widerspruch zog Holtzhauer auch mit seiner Forderung auf sich, die gegenwärtige Kunst solle sich strikt am Vorbild der Weimarer Klassik orientieren; Widerspruch gegen diesen ästhetischen Dogmatismus, der bei Holtzhauer mit einem generellen Vorbehalt gegen die ästhetische Moderne gepaart war, kam vor allem von den Künstlern selbst, die sich bei dieser Gelegenheit auch an den Holtzhauer der Kunstkommission erinnerten. Anfang der siebziger Jahre war die Kommunikation zwischen Künstlern und Kunstwissenschaftlern in der DDR generell gestört. Insofern war Holtzhauer einbezogen in einen krisenhaften Vorgang, der für das kulturelle Klima insgesamt symptomatisch war. 3.) Als Fehlschlag stellte sich der ambitionierte Versuch heraus, Arbeiterbewegung und Klassik im Zeichen des „Bitterfelder Weges“ zusammenzuführen. Die Ausstellung „Arbeiterbewegung und Klassik“ im Jahre 1964 fand, von organisierten Gruppenbesuchen abgesehen, kaum Zuspruch, und auch den Bemühungen, durch Vorträge, Führungen und Gespräche die Werktätigen für die Klassik zu interessieren, war kein wirklicher Erfolg beschieden. Damit aber blieben die NFG in der späten Ulbricht-Zeit den Beweis für die These schuldig, dass die Arbeiterklasse berufen sei, die Höhen der Kultur zu erstürmen. Diese These wurde in den siebziger und achtziger Jahren zwar relativiert, aber niemals ganz außer Kraft gesetzt. Sie ging auf in einem Begriff von sog. sozialistischer Nationalkultur, die ihre Basis in der sozialistischen Lebensweise, aber auch in einem erweiterten Traditionsbezug (Stichworte: Luther, Preußen, Romantik) besaß, was die kulturpolitische Funktion der Weimarer Klassik weiter reduzierte. Auch die nationale Option hatte längst ihre Bedeutung verloren. Hatten die NFG in der Gründungsphase den Anspruch erhoben, das klassische Erbe nicht nur zu erschließen, sondern es auch in einen lebendigen Bezug zur Gegenwart zu setzen, so befanden sie sich Anfang der siebziger Jahre in einer Rückzugsposition, verwiesen auf die Funktion des Erhaltens und Bewahrens einer ‚guten Stube‘ des realen Sozialismus, was angesichts der ökonomischen Dauermisere der DDR alle Kräfte in Anspruch nahm und auch die Möglichkeiten wissenschaftlichen Edierens eingrenzte. Editorische Tätigkeit war zunächst dem 1956 gegründeten „Institut für deutsche Literatur“ übertragen worden, dessen klangvoller Name nicht über

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eine allzu geringe Personalausstattung hinwegtäuschen konnte und das auch darum seine Kompetenzen nicht ausschöpfte, weil die Übernahme neuer Aufgaben – z. B. die Mitarbeit an der im Verlag Volk und Wissen erscheinenden Literaturgeschichte, Studien zu einer Goethe-Monographie und die Erarbeitung eines Lexikons der deutschen Klassik – das Profil des Instituts erheblich veränderte. 1964 wurde es aufgelöst. Konsequenterweise gingen die editorischen Projekte – HSA, Herder-Briefausgabe, Regestausgabe der an Goethe gerichteten Briefe – dann an das GSA über, wo sie gewissermaßen im ideologischen Windschatten, wenn auch nicht im gewünschten Tempo weitergeführt wurden. Den Versuch, die HSA aus Weimar abzuziehen und sie z. B. dem Heine-Editor Hans Kaufmann anzuvertrauen, konnte Karl-Heinz Hahn abwehren, wobei ihm gewiss seine Autorität als Präsident der Goethe-Gesellschaft (seit 1974 als Nachfolger von Holtzhauer) zu Hilfe kam. Aufgegeben werden musste das Projekt der NWA. Ein Grund dafür war der von mir mehrfach genannte Mangel an qualifizierten Mitarbeitern. An dieser Stelle darum eine generelle Anmerkung: In der universitären Ausbildung der fünfziger und sechziger Jahre spielte die Editionswissenschaft nur eine marginale Rolle, und Förderung fand sie vor allem bei den verbliebenen Gelehrten der älteren Schule. So war es kein Zufall, dass die wenigen begehrten Editorenstellen von Schülern Leipziger Professoren wie Frings, Korff oder Greiner besetzt wurden, dass ein hoch begabter Germanist wie Eberhard Haufe, dem seiner aufrechten christlichen Haltung wegen eine Universitätslaufbahn verwehrt war, Unterschlupf fand als Redaktor der NA – ohne Aussicht auf die Herausgeberposition, die ihm von Rechts wegen hätte zufallen müssen. Die Quadratur des Kreises, befähigte junge marxistische Wissenschaftler für editorische Aufgaben zu gewinnen, wollte nicht gelingen. Denn diese zogen in der Regel eine Universitätskarriere philologischer Kärrnerarbeit vor, zumal Weimar auch nicht in dem Ruf stand, jungen Wissenschaftlern zumindest bescheidene ideelle Spielräume zu eröffnen. Holtzhauer war dieses Problem durchaus bewusst, und in seinen Tagebüchern wollen die Klagen darüber kein Ende nehmen. Das Scheitern der NWA ist nicht allein daraus zu erklären, dass sich die NFG in einer schwachen Position befanden, es erklärt sich auch aus größeren Veränderungen in der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung der DDR. Ende der sechziger Jahre wurde eine Akademiereform in Gang gesetzt, statt des bisher existierenden „Instituts für deutsche Sprache und Literatur“ der „Akademie der Wissenschaften der DDR“ wurde ein „Zentralinstitut für Literaturgeschichte“ (und ein weiteres für Sprachwissenschaft) gegründet, dem eine theoretische Leitfunktion zukommen sollte. Für die Editionsprojekte der Akademie hatte das zur Folge, dass nur jene weitergeführt wurden, die sich Autoren widmeten, die als progressiv zu deklarieren

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und die zudem weit vorangeschritten waren (wie z. B. die Forster-Ausgabe). Zwar wurden die editorisch tätigen Akademiemitarbeiter noch eine Weile mit abschließenden Arbeiten betraut (so erschienen z. B. noch Scheibes mustergültige Edition von „Dichtung und Wahrheit“ und ein „Handbuch der Editionen“), doch für die Goethe-Akademieausgabe war das Ende gekommen. Holtzhauer erkannte die Gefahr, die aus Berlin drohte, und versuchte zu retten, was zu retten war. Fieberhaft wurde an neuen Konzepten für die NFG gearbeitet. Den einstmals geschmähten Siegfried Scheibe lud Holtzhauer zu einem Donnerstag-Vortrag nach Weimar ein, suchte ihn also als Bundesgenossen zu gewinnen, und überdies nahm er Verhandlungen mit dem Aufbau-Verlag auf – den er sonst im Tagebuch mit sarkastischen Bemerkungen nicht verschonte –, um dort seine Ausgabe von Goethes Briefen unterzubringen, doch scheiterten die Gespräche an der Unvereinbarkeit der Intentionen: hier der Wunsch nach einer vollständigen historisch-kritischen Edition, dort die Absicht, eine umfangreiche kommentierte Auswahlausgabe von Goethes Briefen als neue Abteilung der Berliner Goethe-Ausgabe einzurichten. Das Ende der NWA war nicht abzuwenden. Nach einem kurzen Interregnum 1974/75 setzte mit der Berufung von Walter Dietze als Generaldirektor der NFG im Jahre l975 eine neue Phase der Entwicklung ein – im Zeichen einer kritischen Reflexion des klassischen Erbes.  Sie fand 1978 ihren sichtbaren Ausdruck in der Gründung (oder Wiedergründung) eines „Instituts für klassische deutsche Literatur“ (IkdL). Dieses Institut sollte Historizität und Aktualität in der eigenen Arbeit vermitteln, es sollte Grundlagenforschung zur „Kunstperiode“ betreiben – das hieß nicht zuletzt, Klassik und Romantik in ihrer epochalen Einheit zu begreifen, alte Dichotomien aufzuheben –, wissenschaftliche Konzepte für neu zu gestaltende Literaturmuseen in Weimar entwickeln, durch Vorträge, z. B. in den Lehrerkursen der NFG, in die Breite wirken, last but not least aber auch editorische Arbeit leisten. Nunmehr wurde von Editionen mit unterschiedlicher Adressatenbestimmung gesprochen. Während die historisch-kritischen Ausgaben in der Verantwortung des GSA blieben, sollten die Mitarbeiter des IkdL Bände der BDK übernehmen und Studienausgaben vor allem für den Aufbau-Verlag edieren. Dass dies überhaupt möglich wurde, war nicht zuletzt dem Engagement des von Dietze zum stellvertretenden Generaldirektor für Forschung und Publikationen berufenen Peter Goldammer zu danken, der als vormaliger Lektoratsleiter im Weimarer Aufbau-Verlag das wissenschaftliche Potential des Instituts für solche Aufgaben einzusetzen bereit war. Gefördert wurde editorische Tätigkeit gleichermaßen durch die Liberalität des Institutsdirektors Hans-Dietrich Dahnke, der den Mitarbeitern soweit möglich individuelle Freiräume gewährte. Letztlich war der zu bilanzierende Erfolg auch darin begründet,

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dass nicht wenige Mitarbeiter über Erfahrungen als Editoren verfügten, die nunmehr konzentriert genutzt werden konnten. Grundsätzlich bot sich bei den populären Editionsformen das gleiche Bild wie bei historisch-kritischen Editionen: Der Bedarf in den Verlagen an kompetenten Editoren war groß, doch die Bereitschaft oder auch die realen Spielräume der Universitätsgermanisten für die Übernahme editorischer Aufgaben waren gering. Das in der Bundesrepublik in solchen Fällen funktionierende Wechselspiel von dominierenden Ordinarien, Assistenten und Hilfskräften kannte die DDR nicht. Eine vorsichtige Öffnung des in der BDK repräsentierten Autorenkanons vor allem im Hinblick auf die deutsche Romantik und einige Autoren des 19. Jahrhunderts hatte schon eingangs der siebziger Jahre eingesetzt. Novalis, Friedrich Schlegel, Arnim, Brentano, die Brüder Grimm, Grabbe und Immermann sollten in Auswahlausgaben vorgestellt werden; ältere Editionen waren zu revidieren. Einiges davon übernahmen Mitarbeiter des IkdL. Hans-Dietrich Dahnke legte eine einbändige Novalis-Auswahl vor, Wolfgang Hecht eine zweibändige Ausgabe der Werke Friedrich Schlegels, Regine Otto besorgte eine neue fünfbändige Herder-Auswahl, ich selbst habe Holtzhauers zwölfbändige Goethe-Ausgabe in ihrer Auswahl modifiziert und alle Bände neu kommentiert; die Einleitung schrieb Walter Dietze. Gewichtiger noch fiel die Tätigkeit auf dem Felde der im Aufbau-Verlag erscheinenden Studienausgaben aus.  Heinz Härtl edierte dort Bettina von Arnim – zwei Bände waren erschienen (der letzte 1989), dann musste die umfangreicher geplante Edition angesichts des Parallelunternehmens im Deutschen Klassikerverlag aufgegeben werden. Regine Otto gab in drei Bänden Herders frühe „Schriften zur Literatur“ heraus, besorgte eine neue Ausgabe von Eckermanns „Gesprächen mit Goethe“ sowie von Bodes Sammlung „Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen“ und bearbeitete die Bände zwei und drei der Berliner Schiller-Ausgabe; Peter Fix übernahm Band sieben dieser Ausgabe, ich selbst bearbeitete die Bände eins und vier, besorgte eine zweibändige Studienausgabe von Jean Pauls „Titan“ und eine Auswahledition des Aufklärungspoeten Friedrich Leopold Günther Goeckingk. Die hier genannten Editionen möchte ich für durchaus buchenswert erklären – zudem durften Regine Otto, Peter Fix und ich noch die Genugtuung erleben, dass die Berliner Schiller-Ausgabe, lange Zeit als Torso dahinwesend, im Schillerjahr 2005 vollständig erscheinen konnte, ermöglicht durch das altmodische Verfahren der Subskription, freilich mit der Einschränkung, dass unsere eigenen Bände inzwischen 20 Jahre alt geworden waren. Einige Bemerkungen zur Entwicklung seit 1990 sollen sich noch anschließen. Politisch war 1990 zu entscheiden, ob die NFG als eine kulturelle Institution oder als Forschungseinrichtung anzusehen seien. Im ersten Falle

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fielen sie in die Zuständigkeit der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums (des heutigen Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien), im zweiten Falle in die des Bundesforschungsministeriums. Die Entscheidung, die NFG dem Bundesinnenministerium zu unterstellen und ihre künftige Struktur am Modell der „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“ auszurichten, verschaffte der Einrichtung eine solide Entwicklungsperspektive (mit einer Mischfinanzierung durch die Bundesregierung, den Freistaat Thüringen und die Stadt Weimar) und bescherte ihr eine vorzügliche Stellenausstattung im höheren Dienst, hatte zudem auch die Konsequenz, dass eine Evaluation an Haupt und Gliedern den NFG erspart blieb – ob dies ein Fehler oder eine vernünftige Konsequenz war, wurde zunächst nicht thematisiert. Eine Debatte darüber entstand erst, als um die Jahrtausendwende durch mehrere Kommissionen (darunter eine des Wissenschaftsrates) eine Strukturreform in Gang gesetzt wurde. Nach wie vor halte ich die damalige Entscheidung für wohlbegründet, denn quellenbezogene Projekte – Editionen, Kataloge, Bestandsverzeichnisse, Bibliographien usw. – benötigen Kontinuität, sie beruhen auf der Erfahrung und der Kompetenz ihrer Mitarbeiter, so dass es töricht gewesen wäre, einen Austausch um des Austausches willen vorzunehmen. Außerdem ist in allen jüngeren Gutachten der Arbeit des GSA ein gutes Zeugnis ausgestellt, sein Rang als ein Zentrum neugermanistischer Edition anerkannt worden. Das „Institut für klassische deutsche Literatur“ jedoch konnte seine ‚Orchideenexistenz‘ nicht fortsetzen. Bevor es zum Aussprechen ideologischer Bedenken kam, waren strukturelle Argumente (die Hoheit des entsprechenden Bundesministeriums über alle Forschung betreffend) ins Feld geführt worden. Doch es gelang, das Institut in eine Direktion für germanistische Edition und Forschung umzuwandeln, deren Leitung ich vom 1. Juli 1991 an kommissarisch übernahm – was im Einzelnen zur Folge hatte, dass (mit einer Ausnahme) alle Mitarbeiter erhalten blieben und mit neuen Aufgaben betraut wurden. Mit der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen wurde die gemeinsame Arbeit am „Goethe-Handbuch“ verabredet47, das dann bei Metzler herauskam, mit dem Saur-Verlag in München eine Bibliographie aller seit 1949 erschienenen Goethe-Literatur48, um nur das Wichtigste zu nennen. Mit der Privatisierung des Aufbau-Verlags und dessen Ausrichtung auf eine marktorientierte Geschäftigkeit, die nur noch der Edition weniger älterer Autoren (z. B. Fontane) Raum gibt, kam die editorische Tätigkeit für Studienausgaben oder die (1993 eingestellte) BDK zum Erliegen. Ein letztes Gespräch zwischen Stiftungspräsident Bernd Kauffmann und dem AufbauVerlag über die BDK fand 1992 statt. Doch eine neue Perspektive tat sich 47 48

Witte u. a. (Hg.), Goethe-Handbuch. Seifert, Goethe-Bibliographie.

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auf. Im Sommer 1990 versammelte Paul Raabe in Wolfenbüttel Direktoren aus Marbach, Frankfurt, Düsseldorf und Weimar, dazu einige Editionsexperten, um die alte Idee einer Erneuerung der WA wieder zu beleben. Weimar erklärte sich bereit, zunächst Goethes Tagebücher herauszugeben; für die Edition der Briefe fehlte es noch an den nötigen wissenschaftlichen Vorarbeiten. Es ist hier nicht der Ort, die Geschichte der Tagebuchedition im Einzelnen nachzuzeichnen, die Mitte der achtziger Jahre bereits wieder in den Perspektivplänen der NFG auftauchte.49 Von Mitarbeitern der neugebildeten Direktion wurden unter meiner Leitung Grundsätze entwickelt, die in einem Beirat regelmäßig diskutiert worden sind, 1995 erschien eine Probeedition, 1998 folgten der erste Text- und der erste Kommentarband. Inzwischen liegen fünf Text- und fünf Kommentarbände vor, der jüngste (Band 4 der Gesamtfolge) ist Ende 2008 erschienen. Die Ausgabe genießt zur Zeit eine Langzeitförderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Als ich 1994 die Leitung des GSA übernahm, wurde auch der seit 1992 existierende selbstständige Bereich Editionen (hervorgegangen aus einer Aufspaltung der 1991 gegründeten Direktion für germanistische Edition und Forschung in die Bereiche Editionen und Forschungsförderung) und damit auch die Tagebuchedition ins Archiv übernommen. Für das zweite Teilprojekt der NWA, die Briefedition, waren in Wolfenbüttel von Paul Raabe und seinen Mitarbeitern Anfang der neunziger Jahre Vorarbeiten geleistet worden. Dort war, gestützt auf die reichhaltigen Materialsammlungen des GSA und finanziert von der Krupp-Stiftung, ein Repertorium sämtlicher Goethe-Briefe entstanden, das dann vom GSA übernommen und als DFG-Projekt in Gestalt einer Datenbank weitergeführt wurde – eine unerlässliche Vorarbeit für die Briefedition, wie sie nunmehr als Langzeitvorhaben der DFG im Entstehen ist. Die ersten beiden Bände (von vermutlich insgesamt 23, aufgeteilt in separate Text- und Kommentarbände) sind 2008 und 2009 im Akademie-Verlag erschienen, Band sechs folgte 2010. So ist Holtzhauers große Idee von einer NWA doch noch in Erfüllung gegangen. Paul Raabe, dem das gegenwärtige Weimar viel verdankt, war und ist einer ihrer engagiertesten Förderer. Darüber hinaus nimmt ein weiterführendes Projekt, die Erneuerung der ersten Abteilung der WA in ausgewählten Einzelausgaben, ebenfalls Gestalt an. Vorbereitet wird, gefördert von der DFG, in der Verantwortung von Anne Bohnenkamp, Fotis Jannidis und Silke Henke eine historisch-kritische Hybridedition des „Faust“, allerdings ohne Zeilenkommentar. Gespräche über eine Neuausgabe von Goethes Gedichten sind bereits geführt worden. Um das Bild gegenwärtiger editorischer Tätigkeit abzurunden, sei noch darauf hingewiesen, dass seit 1990 in der Verantwortung eines internationa49

Vgl. Golz, Edition.

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len Herausgebergremiums, im eigentlichen aber in Weimar vorangetrieben durch Heinz Härtl, eine 40-bändige Ausgabe der Werke und Briefe von Ludwig Achim von Arnim im Entstehen ist; ihre ersten Bände sind bei Niemeyer in Tübingen bereits erschienen. Dass im Blick auf editorische Aktivitäten in Weimar eher von Kontinuität als von Diskontinuität gesprochen werden kann, habe ich als Ausgangsthese formuliert. Meine Bemerkungen haben, so hoffe ich, diese These plausibel machen können.

Literaturverzeichnis 1. Quellen Archivalien Gründungsdokument der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, in: Akten des Goethe- und Schiller-Archivs (= GSA) (IA 1166), Gesetzblatt 1953, Nr. 92. Holtzhauer, Helmut: ‚autobiographischer Text‘, in: Institutsarchiv (GSA, ohne Signatur), o. Bl. Holtzhauer, Helmut: Tagebücher, in: Institutsarchiv (GSA, ohne Signatur), o. Bl.

Forschung und Textausgaben Böhm, Hans: Neue Weimarer Ausgabe. Bemerkungen zur Neubearbeitung der Briefe und Tagebücher Goethes (Abteilungen III und IV der Weimarer Ausgabe), in: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft Weimar N.F. 29 (1967), S. 104–138. Brecht, Bertold: Gedichte 5: Gedichte und Gedichtfragmente 1940–1956, hg. v. Jan Knopf und Brigitte Bergheim, Berlin / Weimar / Frankfurt/ Main 1993 (= Bertold Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe 15).

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Die Goethe-Institute in Weimar. Mitteilung, hg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur, Weimar 1962–1964. Femmel, Gerhard (Bearb.): Corpus der Goethezeichnungen, Bd. 1–6, Bd. 1: Nr. 1–318. Von den Anfängen bis zur italienische Reise 1786, Bd. 2: Nr. 1–416. Italienische Reise 1786 bis 1788. Die Landschaften, Bd. 3: Nr. 1–271. Italienische Reise 1786 bis 1788. Antiken- und Anatomiestudien. Architektur und Perspektive, Bd. 4a: Nr. 1–348. Nachitalienische Landschaften, Bd. 4b, Nr. 1–271. Nachitalienische Zeichnungen 1788 bis 1829. Antike, Porträt, Figurales, Architektur, Theater, Bd. 5a: Nr. 1–390. Die Zeichnungen zur Farbenlehre, Bd. 5b: Nr. 1–264. Die naturwissenschaftlichen Zeichnungen mit Ausnahme der Farbenlehre, Bd. 6a: Nr. 1–302. Zeichnungen aus dem Bestande des Goethe- und Schiller-Archivs der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur in Weimar, Bd. 6b: Nr. 1–285. Zeichnungen außerhalb der Goethe-Institute der Nationalen Forschungsund Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur in Weimar, Nachträge, Berichtigungen zu C. I–VI A, Abschreibungen, Gesamtkonkordanz, Leipzig 1958–1973 (= Goethes Sammlungen zur Kunst, Literatur und Naturwissenschaft). Femmel, Gerhard (Bearb.): Die Gemmen aus Goethes Sammlung, Leipzig 1977 (= Goethes Sammlungen zur Kunst, Literatur und Naturwissenschaft). Germann, Dietrich / Haufe, Eberhard (Hg.): Schillers Gespräche, Weimar 1967 (= Schillers Werke, begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal, hg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Norbert Oellers 42). Grumach, Ernst: Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe, in: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft 12 (1950), S. 60–88. Hahn, Karl-Heinz: Die Zentralkartei für Nachlaßhandschriften deutscher Dichter, in: Vom Werden und Wachsen der Goethe-Institute in Weimar. Ansprachen zur Festsitzung und Vorträge der wissenschaftlichen Konferenzen anläßlich der Feier des zehnjährigen Bestehens der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur in Weimar, 27.–30.8.1964, Weimar 1965 (= Jahresgabe der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur in Weimar), S. 23–36.

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Hahn, Karl-Heinz: Vorwort, in: Hahn, Karl-Heinz (Hg.): Johann Gottfried Herder. Briefe, Gesamtausgabe 1763–1803, hg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv), Bd. 1–11, Bd. 1, Weimar 1977, S. 11–14. Hahn, Karl-Heinz / Grappin, Pierre: Vorwort, in: Heinrich Heine. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Säkularausgabe, hg. von den Nationalen Forschungs- u. Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris, Bd. 1: Gedichte 1812–1827, Berlin / Paris 1982, S. 9–23. Hahn, Karl-Heinz / Holtzhauer, Helmut: Wissenschaft auf Abwegen? Zur Edition von Werken der neueren deutschen Literatur, in: Nutt-Kofoth, Rüdiger (Hg.): Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition, Tübingen 2005 (=  Bausteine zur Geschichte der Edition 1), S. 289–320. Hahn, Karl-Heinz (Bearb.): Goethe- und Schiller-Archiv. Bestandsverzeichnis, Weimar 1961 (= Bibliographien, Kataloge und Bestandsverzeichnisse). Hahn, Karl-Heinz: Einleitung, in: Hahn, Karl-Heinz / Schmid, Irmtraud (Hg.): Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform, Bd. 1–7, Bd. 1: 1764–1795, Weimar 1980, S. 9–32. [wieder in: Hahn, Karl-Heinz: „Dann ist Vergangenheit beständig…“. Goethe-Studien, Weimar 2001 (= Schriften der Goethe-Gesellschaft 68), S. 157–180]. Hecht, Wolfgang: Wandlungen von Heines Antikebild, in: Becker, Karl Wolfgang (Hg.): Heinrich Heine. Streitbarer Humanist und volksverbundener Dichter. Internationale wissenschaftliche Konferenz aus Anlaß des 175. Geburtstages von Heinrich Heine vom 6.–9.12. 1972 in Weimar, Weimar 1972, S. 132–143. Holtzhauer, Helmut: Zur Säkularausgabe von Heines Werken, Briefen und Lebenszeugnissen, in: Weimarer Beiträge 3 (1957), S. 267–277. Mattausch, Josef: Von Goethes Wörtern und ihren „Les-Arten“. Zwischenbilanz am Goethe-Wörterbuch, in: Goethe-Jahrbuch 98 (1981), S. 11– 24. Prescher, Hans (Bearb.): Goethes Sammlungen zur Mineralogie, Geologie und Paläontologie. Katalog, Berlin 1978 (= Goethes Sammlungen zur Kunst, Literatur und Naturwissenschaft). Ruppert, Hans (Bearb.): Goethes Bibliothek. Katalog, Weimar 1958 (= Goethes Sammlungen zur Kunst, Literatur und Naturwissenschaft).

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Schreckenbach, Hans-Joachim (Bearb.): Goethes Autographensammlung. Katalog, Weimar 1961 (= Goethes Sammlungen zur Kunst, Literatur und Naturwissenschaft). Zeller, Bernhard: Marbacher Memorabilien. Bd 1: Vom Schiller-Nationalmuseum zum Deutschen Literaturarchiv 1953–1973, Bd. 2: Aus der Museums- und Archivarbeit 1973–1985, Marbach 1995/2000.

2. Forschungsliteratur Gärtner, Marcus: „Bibliothek deutscher Klassiker“. Die Klassiker im Leseland, in: Ehrlich, Lothar / Mai, Gunter (Hg.): Weimarer Klassik in der Ära Honecker, Köln / Weimar / Wien 2001, S. 193–218. Golz, Jochen: Die Edition von Goethes Tagebüchern. Geschichte und Aufgaben, in: Johann Wolfgang Goethe. Tagebücher. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 1.1, Stuttgart / Weimar 1998, S. V–XVI. Oellers, Norbert: Fünfzig Jahre Schiller-Nationalausgabe – und kein Ende? Marbach 1991. Oellers, Norbert: Die Sophienausgabe als nationales Projekt, in: Golz, Jochen / Ulbricht, Justus H. (Hg.): Goethe in Gesellschaft. Zur Geschichte einer literarischen Vereinigung vom Kaiserreich bis zum geteilten Deutschland, Köln / Weimar / Wien 2005, S. 103–112. Raabe, Paul: Die Weimarer Ausgabe nach hundert Jahren, in: Golz, Jochen (Hg.): Goethe-Philologie im Jubiläumsjahr. Bilanz und Perspektiven. Kolloquium der Stiftung Weimarer Klassik und der Arbeitsgemeinschaft für Germanistische Edition, 26.–27.8.1999, Tübingen 2001 (= Beihefte zu Editio 16), S. 3–19. Seifert, Siegfried: Goethe-Bibliographie 1950–1990, unter Mitarbeit von Rosel Gutseil und Hans-Jürgen Malles, Bd.  1–3, Bd. 1:  1. Werke – 2.5.6.4. Goethe als Zeichner (00001–07355), Bd. 2: 2.5.7. Musik – 2.7. Faust (Formprobleme. Sprache und Stil) (07356–15699), Bd. 3: 2.7. Faust (Urfaust) – 2.8.4.4. Verfilmungen (15700–20621). Namen- und Sachregister. Register der Werke Goethes, München 2000. Wahl, Volker: Die Überwindung des Labyrinths. Der Beginn der Reorganisation des Goethe- und Schiller-Archivs unter Willy Flach und die Vorgeschichte seines Direktorats, in: Golz, Jochen (Hg.): Das Goetheund Schiller-Archiv 1896–1996. Beiträge aus dem ältesten deutschen Literaturarchiv, Weimar / Köln / Wien 1996, S. 71–103.

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Wahl, Volker: Goethes amtliche Schriften als Editionsaufgabe des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar, in: Golz, Jochen (Hg.): GoethePhilologie im Jubiläumsjahr. Bilanz und Perspektiven. Kolloquium der Stiftung Weimarer Klassik und der Arbeitsgemeinschaft für Germanistische Edition, 26.–27.8.1999, Tübingen 2001 (=  Beihefte zu Editio 16), S. 175–194. Witte, Bernd u. a. (Hg.): Goethe-Handbuch in vier Bänden. Sonderausgabe, Bd. 1–5, Bd. 1: Gedichte, Bd. 2: Dramen, Bd. 3: Prosaschriften, Bd. 4,1: A – K, Bd. 4,2: L – Z, Bd. 5: Chronologie, Bibliographie, Karten, Register, Stuttgart / Weimar 1996–1998.

Heike Steinhorst

Faszinosum und Irritation: Heinrich von Kleist im Diskurs der DDR-Literaturwissenschaft Der nachfolgende Beitrag beansprucht nicht, tatsächlich die literaturwissenschaftliche Rezeption Kleists innerhalb der DDR-Literaturwissenschaft nachzeichnen zu können – das ist bei einem Autor wie Kleist im Rahmen eines Konferenzbeitrages überhaupt nicht möglich. Deshalb können entsprechende Versuche zu anderen Autoren1 hier auch nur begrenztes Vorbild sein. Stattdessen soll der Fokus auf den Voraussetzungen liegen, unter denen die Rezeption erfolgte, und auf den Umbrüchen sowie den Voraussetzungen solcher Umbrüche in der Sicht auf diesen Autor, wie sie über die Jahrzehnte zu beobachten sind. Nicht zuletzt sollen auch einige Schwierigkeiten benannt werden, die sich aus einer wissenschaftsgeschichtlichen Beobachtung aus fast noch zeitgenössischer Perspektive ergeben und die, wiewohl sie auf eine untergegangene und zeitlich abgeschlossene Wissenschaftslandschaft blickt, sich trotz noch lebender Akteure letztlich doch auf veröffentlichte Texte und lückenhafte schriftlich dokumentiert Aktenfunde stützen muss. Heinrich von Kleist ist in den letzten Jahren seines Lebens bekanntlich auch mit Anekdoten an die Öffentlichkeit getreten. So ist es vielleicht nicht völlig abwegig, diesen Beitrag mit einer kleinen Reminiszenz zu beginnen, die beinahe anekdotisches Gepräge trägt, gleichwohl aber in das Zentrum der Probleme historischer Forschung führt. Vor geraumer Zeit sagte ein Kollege, dass seines Wissens das Germanistische Seminar zu Rostock, korrekter: das „Deutsch-Philologische Seminar“, mit einem Rekurs auf Heinrich von Kleist, und zwar auf dessen Werk „Die Hermannsschlacht“ eröffnet worden sei. Das wäre bei 100 Jahren Geschichte plausibel gewesen, bei 150 Jahren aber doch recht wenig wahrscheinlich. 1

Vgl. z. B. Gunter Schanderas in Zusammenarbeit mit Heiko Borchardt, Gabriele Czech, Andy Gottschalk und Heike Steinhorst entstandene Studie: Schandera u. a., Immermann in der DDR.

Heinrich von Kleist im Diskurs der DDR-Literaturwissenschaft

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Dadurch neugierig gemacht, startete ich eine Suche, konnte allerdings keine genaueren Daten finden, bis auf die Tatsache, dass sich Adolph Wilbrandt, der Sohn von Christian Wilbrandt – dem Leiter des bereits 1839 zu Rostock gegründeten „Philosophisch-Ästhetischen Seminars“ – tatsächlich sehr viel mit Kleist beschäftigte. Ferner fand sich in der „Germania. Vierteljahrsschrift für deutsche Alterthumskunde“ von 18612 eine kurze Miszelle zu dem Spruch „Mich wundert, daß ich so fröhlich bin“, worin eine Verbindung zum genannten Kleistwerk hergestellt wurde. Auf den letzten beiden Seiten trug diese kleine Arbeit den falschen Seitenobertitel „Karl Bartsch“, also den Namen des Begründers des Germanistischen Seminars in Rostock. Tatsächlich war in der Zeitschrift unmittelbar im Anschluss eine Arbeit von Bartsch, allerdings zu Hartmanns „Gregorius“, abgedruckt.3 Der Beitrag mit dem Kleistbezug stammte jedoch von Reinhold Köhler. Da Bartsch selbst sich in erster Linie mit der älteren deutschen Literatur beschäftigte, führte die weitere Suche nun vom Thema weg. Umso interessanter erwies es sich jedoch, der Ausstellung „Germanistik und Gesellschaft. Deutsche Philologie in Rostock 1858–2008“ zu entnehmen, dass 1933 anlässlich des 75jährigen Bestehens des Institutes eine „Hermannsschlacht“ aufgeführt worden ist, jedoch nicht die von Kleist, sondern die von Klopstock. Einmal mehr aber illustriert solche Datensuche die Tatsache, wie begrenzt die Erkenntnisse sind, die sich allein aus dem schriftlich überlieferten Fundus gewinnen lassen. Das gilt im Grundsatz auch für das Thema „Kleist im Diskurs der DDR-Literaturwissenschaft“, für das neben den veröffentlichten Texten auch zum Beispiel die Redaktionsakten der „Weimarer Beiträge“ sowie die darauf bezogenen Akten der „Abteilung Wissenschaften“ beim ZK der SED eingesehen wurden, ohne doch im einzelnen zu jedem Vorgang fündig zu werden. Das liegt keineswegs nur daran, dass diese Akten unvollständig sind, sondern ist eine Crux aller historischen Forschung. Ein Beispiel: Noch 1979 erscheint in den „Weimarer Beiträgen“ ein nicht anders denn als skurril zu bezeichnender Forschungsbericht von zwei sowjetischen Forscherinnen aus Perm.4 Dies ist ein Bericht, der von Positionen Mehrings und Lunatscharskis ausgehend die Leistungen der sowjetischen Literaturwissenschaft in der Kleistforschung als immer tieferes Eindringen in sein Werk, immer tieferes Eindringen in sein Leben, immer tiefere Einsicht in die Epoche beschreibt, – also stereotyp genau jene Komparative benutzt, auf die Rainer Rosenberg schon einmal aufmerksam gemacht hat.5 Nicht 2 3 4 5

Vgl. Germania. Zeitschrift für deutsche Alterthumskunde 6 (1861), S. 368–372. Bartsch, Zu Hartmanns Gregor. Drushinina/Jaschenkina, Literaturwissenschaft. Für die „Weimarer Beiträge“ wird nachfolgend die Sigle WB verwendet. Vgl. Rosenberg, Diskurs. Zu Sprachregelungen und argumentativen Mustern innerhalb der DDR-Literaturwissenschaft vgl. auch Saadhoff, Germanistik, S. 170–171.

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weniger skurril mutet es an, wenn zum Beispiel die soziologische Methode in einem Atemzug erhoben und verdammt wird oder wenn eine Lenin abgewonnene Widerspiegelungstheorie zum unhintergehbaren Horizont erklärt wird. Zuletzt schließlich wird die eigene Kleistbetrachtung der beiden Forscherinnen favorisiert, die gestützt auf eine Arbeit von Meyer-Benfey aus dem Jahre 19116, die Kantkrise in den Blick nimmt. Außerordentlich schlecht übersetzt7, sogar die Kant-Zitate sind aus dem Russischen rückübersetzt, entwirft der Text ein Bild der sowjetischen Literaturwissenschaft, das in kaum einer Frage zum aktuell diskutierten Forschungshorizont passt oder auch nur auf ihn Bezug nimmt und bei dem die Leistungen danach bewertet werden, inwieweit sie die nachher ausgiebig vorgestellten eigenen Forschungen der beiden Verfasserinnen zur Kantkrise bestätigen oder nicht. Aus den Redaktionsakten erfährt man zu diesem Beitrag lediglich, dass es sich um ein unverlangt eingesendetes Manuskript handelt, das am 20.9.1977 eingegangen ist und welches von den begutachtenden Redakteuren Rönisch und Loeper mit der Frage kommentiert wird: „evtl. publikabel im Zus.hang d. Romantik-Tagung?“8 Gedruckt wird der Beitrag dann tatsächlich erst gut eineinhalb Jahre später im Maiheft des Jahres 1979, einem Heft, in dem sich Karin Richter unter dem Titel „Der ‚böse Dämon‘ in der deutschen Romantik“ mit einem der seinerzeit in jeder Hinsicht geradezu als indiskutabel aufgefassten Staatstheoretiker auseinandersetzt, nämlich mit Adam Müller.9 Warum nun die Redaktion den genannten sowjetischen Forschungsbericht im gleichen Heft abdruckte, warum sie ihn überhaupt druckte, dazu gibt es keine konkreten Daten. Wohl aber bieten sich mehrere Hypothesen an, für die es innerhalb des Redaktionsgeschehens über die Jahre zahlreiche Präzedenzfälle gibt. Die einfachste denkbare Hypothese bezieht sich dabei auf Manuskriptnöte, zu denen es in einer Zeitschrift immer wieder kommen kann. Eine zweite Hypothese beträfe die thematische Nähe der Beiträge. Auch weitere Beiträge des Heftes greifen Themen des 18. oder frühen 19. Jahrhunderts auf. So beschäftigen sich etwa allein drei Beiträge mit Herder, ferner wird eine westdeutsche Arbeit zur Romantik im Wesentlichen positiv rezensiert.10 Die „Weimarer Beiträge“ vermeiden zwar ausge6 7 8

9

10

Meyer-Benfey, Drama. Ob die deutschsprachige Fassung evtl. von den Autorinnen selbst stammt, war nicht sicher zu ermitteln. Handschriftliche Notiz auf einem nicht datierten Einschätzungsbogen, in: Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Archiv des Aufbau-Verlages (Nr. W 102), o. Bl.; Archivalien aus diesem Archiv werden künftig zitiert mit der Angabe: AAV (Akten-Nummer). Richter, Der „böse Dämon“. Der Aufsatz basiert auf der Dissertation der Verfasserin. Vgl. Richter, Staatstheorie. Die Bezeichnung „böser Dämon“, nicht der Romantik, sondern Kleists, leitet die Verfasserin aus einer Arbeit des oben erwähnten Adolph Wilbrand (Wilbrand, Kleist, S. 266) ab. Bänsch, Modernität.

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sprochene Themenhefte, doch intern wird Zusammengehöriges recht gern gebündelt. Eine dritte Hypothese lässt sich aus einer noch nicht benannten Besonderheit des sowjetischen Forschungsberichtes ableiten. Mit aller Selbstverständlichkeit wird hier das Forschungsfeld Romantik, in dem auch Kleist partiell verortet wird, als legitimer Gegenstand literaturwissenschaftlicher Arbeit markiert. Zugleich werden einige Defizite früherer Romantikauffassungen in der sowjetischen Forschung unmissverständlich als solche benannt. Immer vorausgesetzt, dass für die Redaktion 1979 noch eine Notwendigkeit dazu bestand, könnte ein solcher Forschungsbericht auch als Legitimationsinstanz dienen. Eine vierte und letzte Hypothese schließlich bezieht sich auf den generellen Umgang mit wissenschaftlichen Beiträgen aus den sozialistischen ‚Bruderländern‘ und hier ganz besonders solchen aus der Sowjetunion. Die Auswertung der Redaktionsakten zeigt unterschiedliche Umgangsweisen. Einerseits wird manches gedruckt, was qualitativ nicht überzeugt, andererseits erlaubt sich die Redaktion schon in den sechziger Jahren auch Beiträge zurückzuweisen.11 Die hier nur angedeutete Gemengelage unterschiedlicher Gründe, die ohne weiteres vermehrbar wäre, ist aus den schriftlich dokumentierten Funden nicht wirklich aufzulösen. Sichtbar werden hier aber unter Umständen Spielräume und Grenzen solcher Spielräume für die Redaktion einer Wissenschaftlichen Zeitschrift in der DDR. Selbst wenn das erläuterte Beispiel einen Sonderfall bezeichnen sollte, so ist es doch zugleich Teil jener Problemlage, die die Auseinandersetzung mit Kleistschen Texten schon in den allerersten Veröffentlichungen einer sich marxistisch verstehenden Literaturwissenschaft prägte und nicht selten behinderte, keinesfalls aber und zu keiner Zeit verhinderte, wie das etwa bei einem Adam Müller der Fall gewesen ist. Heinrich von Kleist und sein Werk, das sich nicht ohne weiteres unter ‚realistischen‘ Vorzeichen verorten ließ, stellte für die Literaturwissenschaft in der DDR in gewisser Hinsicht immer einen Problemfall dar. Auch dies lässt sich über die Jahre hin an einer jahrzehntelang führenden Zeitschrift wie den „Weimarer Beiträgen“ ablesen. Deutlich fasziniert sind die meisten Verfasser von der Kleistschen Sprache. Dies schlägt nahezu in allen Beiträgen durch, doch zugleich werden in Bezug auf die Inhalte der Texte immer 11

So wird beispielsweise 1967 auf die Besprechung einer „Kurzen Geschichte der Ästhetik“ von Owsjannikow und Smirnowa verzichtet, nachdem mehrere Rezensenten wegen mangelnder Qualität abgelehnt haben. Vgl. Briefwechsel von Günther K. Lehmann mit dem damaligen Redakteur Peter Anders, bes. die Briefe vom 28.4.1967 und 11.5.1967, in: AAV (Nr. W 75), o. Bl. Umgekehrt wird das am 19.8.1976 eingegangenen Manuskript von A. S. Dmitriev (Moskau) zum Thema „Die deutsche Romantik und die europäische Literatur“ in der redaktionellen Einschätzung durch Heidrun Loeper, die seit dem 1.1.1976 für das Ressort Kulturelles Erbe verantwortlich zeichnet, beinahe überschwänglich gelobt und zum Abdruck empfohlen, da es besonders die Unterschiede zwischen sowjetischer und bisheriger DDR-Romantikforschung bezeichne. Der Druck erfolgte dann in Heft 2 des Jahres 1977. Vgl. Formblatt, Einschätzung des Redakteurs vom 20.9.1976, in: AAV (Nr. W 95).

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wieder Vorbehalte artikuliert, die aber nun genau die Eigenart und Einzigartigkeit dieses Werkes betreffen, das nirgends ‚passgerecht‘ in die bevorzugte Erbelinie einzubinden war. Während die Faszination angesichts der Kleist-Texte eine durchgehende Konstante bildet, werden die Vorbehalte im Laufe der Jahrzehnte abgebaut. Das geschieht jedoch nicht voraussetzungslos, sondern ist Ergebnis eines komplexen Prozesses mit vielen Einflussfaktoren. Die Selbstreflexion solcher Entwicklungen12 innerhalb des Faches beginnt erst relativ spät: Vor und in den siebziger Jahren behindert die Überzeugung, mit dem Marxismus/Leninismus im Besitz einer ‚wissenschaftlichen‘ Weltanschauung zu sein, zunächst das Überdenken des eigenen historischen Standortes. Noch 1977 mahnt etwa Hans Jürgen Geerdts unter dem Titel „Romantik und Romantikforschung in der Diskussion“ eine Darstellung der Geschichte der Literaturwissenschaft in der DDR als fast völliges Desiderat an.13 So ist es nicht verwunderlich, wenn der erste Forschungsbericht zu Kleist erst Mitte der achtziger Jahre zustande kommt. Wer sich nur je mit Kleist beschäftigt hat, kennt gewiss die Anekdote von seiner Würzburger Reise im Jahre 1800, wonach Kleist gemeinsam mit einem Bekannten eine dortige Leihbibliothek aufgesucht haben will, und auf die Frage, wo denn hier die Werke von Wieland, Goethe oder Schiller zu finden seien, eine abschlägige Antwort bekam. Stattdessen fanden sich in der besagten Bibliothek lauter Ritterbücher, links die Ritterbücher mit Gespenstern, rechts die ohne „nach Belieben“ wie der Bibliothekar mitteilte.14 1985 veröffentlichte nun Peter Goldammer seinen Forschungsbericht zu Heinrich von Kleist und bezog sich dabei vornehmlich auf neue biographische Quellenfunde und bibliographische Zuschreibungen. Zu den immer zahlreicheren Interpretationen hingegen merkte er an: „Interpretationen, lauter Interpretationen, rechts die Interpretationen mit Marionetten, links ohne Marionetten, nach Belieben [...]“.15 Das heißt, er unterschied die Interpretationen danach, ob sie Kleists Aufsatz „Über das Marionettentheater“ einbezogen oder nicht, und bedauerte im Übrigen, dass die eigentlich wünschenswerte Durchsicht solcher Ergebnisse leider unterbleiben müsse. 12

13 14 15

Vgl. z. B. die wichtige Arbeit: Thierse/Kliche, DDR-Literaturwissenschaft. Vgl. auch die Reihe „Materialien zur Geschichte der marxistischen germanistischen Literaturwissenschaft in der DDR“, die in der „Zeitschrift für Germanistik“ zwischen 1982 und 1985 veröffentlicht wurde. Hier wurden Gespräche abgedruckt mit Ursula Wertheim, Hans Kaufmann, HansGünther Thalheim, Hans Jürgen Geerdts, Claus Träger, Inge Diersen, Alfred Klein, Siegfried Streller, Hans Richter, Horst Haase und Hans-Georg Werner. Vgl. Geerdts, Romantik. Zur Romantikforschung in der DDR vgl. auch den Beitrag von Monika Schneikart in diesem Band. Vgl. Kleists Brief an Wilhelmine von Zenge vom 14.9.1800, in: Sembdner (Hg.), Heinrich von Kleist, S. 562–563. Goldammer, Quellen, S. 2071.

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Er selbst konzentriert sich dann auf neuere bio-bibliographische Funde und Textzuschreibungen, die etwa in der vierbändigen Kleistausgabe16, 1978 im Aufbau-Verlag erschienen und 1984 unverändert nachgedruckt, noch keine Berücksichtigung gefunden hatten. Diskutiert werden ferner das Wünschenswerte und das Problematische einer historisch-kritischen Kleistausgabe. Sieht man auf die erwähnte Ausgabe des Aufbau-Verlages, die sich als Studienausgabe versteht, genauer als gehobene Leseausgabe, so tauchen vor allem zwei Namen auf, die in der Kleistforschung der DDR lange Zeit denn auch eine dominante Rolle spielten: Peter Goldammer selbst und Siegfried Streller. Streller ist knapp 20 Jahre zuvor der Verfasser der ersten Kleistmonographie in der DDR gewesen17, Goldammer, direkt beim Aufbau-Verlag tätig, brachte Mitte der siebziger unter anderem den Band „Schriftsteller über Kleist“18 heraus und entzündete damit jene bekannte Kontroverse mit Günter Kunert, dessen Kurzessay „Pamphlet für K“ er nicht aufnehmen wollte. Ob diese Ablehnung berechtigt war oder nicht, soll hier nicht untersucht werden, Goldammer benannte jedoch hier und später seine Gründe. Das Nachzeichnen dieser Kontroverse halte ich für wenig sinnvoll, da es Goldammer, allein durch den Gegensatz zu Kunert in eine Rolle drängt, die seinen Leistungen für die Kleistforschung nicht im Mindesten angemessen ist.19 Allerdings illustriert dieser Vorfall denn doch die Differenzen, die spätestens seit Beginn der siebziger Jahre zwischen einer Literaturwissenschaft, die sich in Teilen immer noch als Lenkungs- und Leitungswissenschaft begreift, und einer durchaus heterogen ausgerichteten Schriftstellerschaft aufgebrochen sind und nun mehr oder minder offen ausgetragen werden.20 Im Übrigen brachte die Zeitschrift „Sinn und Form“ unter der Aegide von Wilhelm Girnus den Kunertschen Text noch 1975 heraus, ergänzt durch ein „Notwendiges Nachwort“ und verschaffte ihm damit eine viel weitere Öffentlichkeit, als es die Goldammersche Anthologie je vermocht hätte. Auch die in gewisser Weise als Replik gedachte, und um ein Vorwort

16 17 18 19

20

Goldammer/Streller (Hg.), Heinrich von Kleist. Streller, Werk. Goldammer (Hg.), Schriftsteller. Zum Sachverhalt vgl. u. a.: Leistner, Spielraum; und Goldammer, Wort, S. 163–164. Goldammer wehrt sich hier in einem kurzen Statement gegen die Unterstellung, er sei außer ein ‚Betonkopf‘ auch noch ein IM gewesen. – Den grundsätzlichen Problemen einer „Fachgeschichte aus zeitgenössischer Perspektive“ widmete sich die gleichnamige Konferenz, die vom 24–26.11.2005 in Wendgräben stattfand. Die Ergebnisse sind veröffentlicht in: Adam/ Dainat/Ende (Hg.), „Weimarer Beiträge“. Zu den Versuchen der Literaturwissenschaft in der DDR, sich als „Leitungs- und Lenkungswissenschaft“ gegenüber den zeitgenössischen Schriftstellern zu inszenieren, vgl. Saadhoff, Germanistik, bes. S. 188–192, 254–258, 383–387.

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ergänzte rezeptionsgeschichtliche Einleitung Goldammers zu seinem Band wird dann in „Sinn und Form“ vorveröffentlicht.21 Überblickt man die literaturwissenschaftliche Forschung zu Kleist näher, so fällt auf, dass es außer Streller und Goldammer nur eine Handvoll Namen sind, die sich mit Kleist ausführlicher beschäftigen. Wohl kommt er in Darstellungen zur Romantik mit vor, doch dezidiert seinem Werk widmen sich relativ wenige Arbeiten und wenige Personen. Das liegt nicht allein daran, dass dieser Kleist nur bedingter Teil des geltenden Erbekanons war, mindestens ebenso wichtig ist die Tatsache, dass die DDR ein winziges Land mit 17 Millionen Einwohnern und selbstverständlich auch begrenzten Kapazitäten in der Literaturwissenschaft oder Germanistik gewesen ist. Unter diesem Aspekt muten die dennoch unternommenen Großprojekte nachträglich sogar außerordentlich kühn an. Im konkreten Umgang mit Kleists Texten markiert die DDR-Wissenschaft nun jedoch erhebliche Schwierigkeiten. Es sind teilweise dieselben wie mit der Romantik, aber diese Zuordnung deckt die Probleme nur zur Hälfte ab. Georg Lukács hatte von den Romantikern als einzige E. T. A. Hoffmann und Eichendorff partiell gelten lassen, wobei speziell Eichendorff ein „romantischer“ Antikapitalismus bescheinigt wurde, der sich auf einen Autor wie Kleist jedoch nicht so einfach übertragen ließ. Es wäre sehr leicht, ganze Tiraden beizubringen, in denen Kleist, angelehnt an die Vorbehalte von Mehring oder Lukács als preußischer Junker eingestuft wird, der von diesem Klassenstandpunkt aus nur Texte habe hervorbringen können, die der guten Sache schädlich sind, die die Wirklichkeit verfehlen oder bewusst verzeichnen, die den objektiven Geschichtsprozess, den man verstanden zu haben glaubt, nicht einmal in den Blick nehmen, die die humanistische Option der deutschen Klassik durchstreichen, die sich im Klassenkampf nicht brauchen lassen – womit die Vorbehalte noch keineswegs ausgeschöpft sind. Solche Positionen gibt es, wenn auch immer weniger in der Literaturwissenschaft selbst, beinahe noch bis zum Ende der DDR. Sie werden innerwissenschaftlich schon in den sechziger Jahren als vulgärmarxistisch oder ahistorisch betrachtet und zum Beispiel von einer Zeitschrift wie den „Weimarer Beiträgen“ abgewehrt als nicht wissenschaftsgemäß. Dilettierende Kulturpolitiker22 haben hier zwar bis weit in die Siebziger eine Stimme, doch trennen sich die Diskurse dermaßen, dass man zuweilen den Eindruck nebeneinander laufender diskursiver Veranstaltungen gewinnt. 21 22

Kunert, Pamphlet; Goldammer, Mythos; in überarbeiteter Form dann als Einleitung zu Goldammer, Schriftsteller, S. 7–26. Vgl. hierzu auch Saadhoff, Germanistik S. 35 und S. 194. Dilettierende Kulturpolitiker seien in den sich neu formierenden ‚Gesellschaftswissenschaften‘ zudem leichter unterzubringen gewesen als etwa im Bereich der Natur- und Technikwissenschaften.

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Ebenso von Anfang an aber gibt es die Stimmen, die Kleist in Schutz nehmen, und noch den schärfsten Kritikern seiner Werke merkt man jene schon benannte Faszination an, die vor allem der Sprache Kleists Aufmerksamkeit zollt. In seinem 1936 verfassten Aufsatz „Die Tragödie Heinrich von Kleists“, der dann in der DDR 1952 im Aufbau-Verlag in dem Band „Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts“23 erschien, setzt sich zum Beispiel Georg Lukács mit Kleist und den Begrenzungen seiner Herkunft auseinander, installiert auch hier jenes politische Koordinatensystem, das die Künstler und Kunstrichtungen in fortschrittlich oder reaktionär differenziert. Den politischen Implikationen, die Lukács 1936 bewegten, kann hier nicht nachgegangen werden. Kleist wird von Lukács als bedeutendster Romantiker überhaupt verstanden, der aber nichtsdestoweniger der als ‚reaktionär‘ apostrophierten Strömung verhaftet bleibe. Ein Hauptkritikpunkt etwa an der „Penthesilea“ bestand für Lukács darin, dass sie nicht nur die Antike ins Barbarische verzeichne, sondern dass hier unmittelbar die Moderne vorbereitet werde: Kleist ist hier der Vorläufer jener Tendenzen, die theoretisch in Nietzsche, praktisch-dramatisch in der imperialistischen Periode, etwa in der „Elektra“ von Hofmannsthal, ihren Gipfelpunkt erreicht haben. (Es braucht vielleicht nicht besonders betont zu werden, daß Gipfelpunkt hier hinsichtlich der Barbarisierung der Antike und nicht im ästhetischen Sinne gemeint ist; ästhetisch steht Hofmannsthal so tief unter Kleist, daß ein Vergleich dessen Andenken beleidigen würde.)24

Hier kommt es einmal mehr auf das in Klammern Gesagte an. Kleist also ist nach Lukács vom künstlerischen Rang her gar nicht vergleichbar mit solch ‚imperialistischen‘ Literaten wie Hofmannsthal. Wehrt das auf bekannte Weise die Moderne zur Gänze ab, so ist zugleich der Impetus spürbar, diesen außerordentlichen Kleist für die eigene Sache zu retten. Und für ein solches Anliegen werden schon hier verschiedene Strategien angedeutet, die sich im Wesentlichen als Selektion und Versuche der Abtrennung von der romantischen Tradition beschreiben lassen. Lukács fällt bekanntlich nach den Ereignissen von 1956 in Ungarn in Ungnade. Ebenso bekannt und inzwischen vielfach dargestellt innerhalb der Wissenschaftsgeschichte ist die Tatsache, dass seine Positionen nun zwar offiziell hinterfragt und bekämpft werden sollten, gleichwohl aber das von ihm installierte Koordinatensystem zur Bewertung von Literatur noch lange Gültigkeit behielt.25 Das ist zum Beispiel ablesbar an den Arbeiten des ersten Chefredakteurs der „Weimarer Beiträge“ Hans-Günther Thalheim, 23 24 25

Lukács, Realisten; Lukács, Tragödie. Ebd., S. 33–34. Vgl. dazu u. a. die Gemeinschaftsarbeit von Schandera und Heidrun Bomke, Dagmar Ende, Dieter Schade und Heike Steinhorst: Schandera u. a., Die „Weimarer Beiträge“.

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der in einem Aufsatz zu Schillers „Demetrius“ folgenden Bezug zu Kleist26 herstellte: Nie und nimmer bildet diese Auffassung der Tragödie im letzten unvollendeten Werk Schillers eine Brücke oder gar eine Vorstufe zu Kleists frühen Tragödien. Für Kleist gibt es keine objektive, erkennbare geschichtliche Wirklichkeit mehr; diese wird dunkel, fremd. Der tragische Untergang der Individuen entbehrt somit der zwingenden historischen Notwendigkeit und erscheint letzten Endes sinnlos. (Die ‚Notwendigkeit‘ ergibt sich nicht aus einer realistischen Widerspiegelung der geschichtlichen Wirklichkeit, sondern aus der Weltanschauung des Dichters.) Die welthistorische Thematik, die großartige Geschichtlichkeit, die Schiller, Goethe und Hegel […] erreicht hatten, geht – bis auf wenige Ansätze – fast vollständig verloren.27

Völlig klar erkennt Thalheim hier einen Aspekt der Modernität Kleists und deutet ihn als – Makel. Und zugleich sind hier in nuce auch die Rettungsmöglichkeiten gegeben, um dieses Erbe dennoch anzunehmen. Die eine davon ist die Selektion der wenigen Ausnahmen, die zweite aber die Entlastung des Dichters von dem Anspruch, den Geschichtsprozess durchdringen zu müssen und etwa für die Volksmassen Partei zu nehmen, um ein guter Dichter zu sein. Geschichtliche Abstinenz erscheint dann weniger als charakterlicher oder herkunftsbedingter Makel des Autors, sondern als tragische Dimension einer widerspruchsvollen Zeit, die es umso eher möglich macht, eigene geschichtliche Vorstellungen in und auf das Werk eines Autors wie Kleist zu projizieren. Derselbe Thalheim wird wenig später in den „Weimarer Beiträgen“ Abrechnungen und Auseinandersetzungen mit Georg Lukács und auch mit Hans Mayer veröffentlichen.28 Nun ist der Versuch der Neukonzeption einer politisch eingreifenden Literaturwissenschaft in den fünfziger Jahren, in welcher der Literaturwissenschaftler als Erzieher des Rezipienten wie des Autors fungieren sollte, mehrfach beschrieben worden und soll hier nicht wiederholt werden. Be26

27 28

Der erste Aufsatz zu Kleist in den WB stammte von Joachim Müller, Ordinarius für neuere und neueste deutsche Literaturgeschichte an der Universität Jena: Müller, Verständnis. Der bereits 1930 von Korff und Frings in Leipzig promovierte Müller wurde von den sich als marxistisch verstehenden Nachwuchswissenschaftlern der fünfziger Jahre wahlweise als bürgerlich oder revisionistisch kritisiert. Zu seiner Karriere vgl. Saadhoff, Germanistik, S. 109– 116. Thalheim, Schillers „Demetrius“, S.  66 (Hervorhebungen sind im Original gesperrt gedruckt). Vgl. Thalheim, Bemerkungen; vgl. ferner Heise, Konzeption. Zur Einflussnahme der SEDFührung auf diese Auseinandersetzungen vgl. Schandera u. a., Die „Weimarer Beiträge“, hier Kap. 5: „Hinter den Kulissen – Die Partei und die Weimarer Beiträge“, S. 317–330. Die Dokumente befinden sich im Bundesarchiv Berlin, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR (künftig BArch., SAPMO), Zentrales Parteiarchiv (künftig: ZPA), Abteilung Wissenschaften beim ZK der SED. Redaktionsinterne Dokumente der „Weimarer Beiträge“ der Jahre 1954–1963/64 befinden sich im Goethe- und Schiller-Archiv zu Weimar (IA 234–253), Direktion 120.

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obachtbar ist in diesem Zusammenhang und darüber hinaus die durchaus unterschiedliche Einstufung des Kleistschen Erbes, das sich in der Wahrnehmung durch die Literaturwissenschaft der DDR zunächst irgendwo zwischen bedingt tauglich und zeitweise untauglich bewegte, wobei man bis in die siebziger Jahre in Anspruch nahm‚ solche Einstufungen nach ‚objektiven‘ Kriterien vornehmen zu können. Erst allmählich machte hier zunehmende Selbstreflexion im Fach sichtbar, in welchem Maße sich solch scheinbar feste Kriterien und Bedürfnislagen verschieben konnten. Im selben Maße, wie hierbei der eigene, geschichtlich veränderbare Standort ins Blickfeld rückte, wurden Tauglichkeitskriterien zunehmend obsolet und nahm im Diskurs der Literaturwissenschaft in der DDR die Anzahl der ‚Untauglichen‘ ab, wobei sich die jeweiligen Begründungszusammenhänge abermals verschoben. Man kann formulieren: Ein Autor wie Kleist wird in der kapazitär begrenzten Literaturwissenschaft der DDR zunächst einmal auf Tauglichkeit geprüft. Und diese Tauglichkeit wird im Laufe der Jahre jeweils anders bestimmt. Zudem wandeln sich Bedingungen und Spielräume der Beteiligten. Wenn etwa Walter Ulbricht noch Ende der fünfziger Jahre, wie überliefert, der Germanistik erlaubte, „noch eine Weile Quatsch weiter[zu]machen“, jetzt sei erst einmal die Chemie und die Grundlagenindustrie dran29, so mag das ein heute komisch wirkender Anspruch sein, doch zeugte es von einer hohen Aufmerksamkeit der damaligen Partei- und Staatsführung für die Belange von Kultur und Kunst und für die Belange der dazugehörigen Wissenschaften. Nicht zufällig etwa müssen sich die Redakteure der „Weimarer Beiträge“ gegenüber der Abteilung Wissenschaften dazu verantworten, wo die Schwerpunkte ihrer Zeitschrift liegen und was geändert werden muss, um zum ‚Zentralorgan‘ der Literaturwissenschaft in der DDR aufsteigen zu können.30 Eine derartige direkte Einflussnahme wird im Laufe der Zeit zwar seltener, noch 1968 aber findet sich in den Akten eine handschriftliche Nachschrift von Forderungen der „Abteilung Wissenschaften“ beim ZK der SED, wonach speziell den Geisteswissenschaften auferlegt werde, sich doch von dem Sowohl-als-auch-Denken zu verabschieden und Tendenzen der Exaktheit und Lebensferne zu überwinden, um endlich zu einer eingreifenden Gesellschaftswissenschaft mit Führungsanspruch in kulturellen Prozessen aufsteigen zu können.31 29

30

31

Zu Fragen der Kaderentwicklung und Kaderschulung, in: BArch., SAPMO, ZPA, Abt. Wiss. beim ZK der SED (IV 2/9.04/33), Bl. 110–112. hier Bl. 111. Der Fund ist Petra Boden zu verdanken, vgl. Boden, Universitätsgermanistik, S. 149. Vgl. z. B.: Schreiben Hans-Günther Thalheims an die Abt. Wissenschaften beim ZK der SED vom 29.11.1957, „z. Hd. v. Genossen Börner“, in: BArch., SAPMO, ZPA, Abt. Wiss. beim ZK der SED (IV/2/9.04/229), Bl. 4–6. Zum Thema Einflussnahme der Partei insgesamt vgl. Schandera u. a., Die „Weimarer Beiträge“, hier Kap. 5: „Hinter den Kulissen – Die Partei und die Weimarer Beiträge“, S. 317–330. Umlaufpapier der Redaktion vom 31.07.1968, betreffs „Kritische Bemerkungen der Genos-

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Wenn in den siebziger und noch mehr in den achtziger Jahren derartiges unterbleibt, so ist das eben sowohl Ergebnis innerwissenschaftlicher Entwicklungen als auch Kennzeichen dafür, dass die Partei- und Staatsführung ihre Aufmerksamkeit fortan auf andere Dinge richtete, Literatur der Vergangenheit an Geltung verlor und dass ein antiutopischer Autor wie Kleist in keinem Fall mehr als Bedrohung galt. Inwieweit sich dieser Prozess mit dem Utopieverlust der DDR-Gesellschaft und ihrer Führung erklären lässt, ist ebenfalls, zum Beispiel von Lothar Ehrlich und Gunther Mai, wiederholt reflektiert worden.32 Die Ausgangsposition im Falle Kleist lässt sich nun wie folgt skizzieren: Da ist ein Autor, der von den führenden und traditionsbildenden marxistischen Arbeiten als Romantiker, als reaktionär, wenn auch als poetisch höchst begabter Reaktionär abgestempelt wird. Eigentlich könnte ein solches Urteil nur dann an Geltung verlieren, wenn der politische Maßstab als falsch erkannt würde. Stattdessen lassen sich von Beginn an Bemühungen beobachten, diesen Kleist so herzurichten, dass er mit den eigenen Vorstellungen von Literatur kompatibel wird. Derartige Versuche haben ebenfalls ihr Fundament in der frühen sozialistischen Literatur. Autoren wie Friedrich Wolf, Anna Seghers, Johannes R. Becher oder Arnold Zweig entwerfen von Anfang an ein völlig anders geartetes Kleistbild als etwa Lukács oder Mehring vorgeben. Und sogar eine kulturpolitisch so einflussreiche Frau wie Johanna Rudolph, die doch sonst vor keinem Verdikt zurückscheute, artikulierte in diesem Fall eine besondere Nähe zu Kleist.33 So ist die Ausgangssituation im Fall Kleist eine besondere: Von hier aus ist mehr möglich als etwa bei einem Autor wie Novalis, für den es zu Beginn weder solche Fürsprecher noch die gleiche Konstatierung poetischer Begabung gibt. Kleists Werke werden denn auch von Anfang an gedruckt, Querelen entstehen eher um die Herausgeber als um diesen Autor.34 Das hebt allerdings keineswegs die Schwierigkeiten des Umgangs auf: Ein frühes Beispiel der Auseinandersetzung mit Kleist bildet Siegfried Strel-

32 33

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sen Dr. Martin und Dr. Herden zum Planentwurf unserer Zeitschrift“, in: AAV [s. Anm. 8] (Nr. W 60), o. Bl. Vgl. Ehrlich/Mai, Einleitung. Vgl. dazu Streller, Ist er unser, ist er nicht unser? Zu Rudolph vgl. S. 92. In den Redaktionsakten der WB befinden sich auch Teile des Briefwechsels mit Johanna Rudolph, der einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf redaktionelle Entscheidungen belegt: AAV (Nr. W 81), o. Bl. Bereits 1954 erscheint mit einem Vorwort von Siegfried Streller versehen die ältere dreibändige Kleistausgabe von Bruno Markwardt, 1955 kommt im Aufbau-Verlag eine revidierte Auflage der von Heinrich Deiters besorgten vierbändigen Kleistausgabe heraus, schon 1953 war im Weimarer Volksverlag von Walter Victor „Kleist. Ein Lesebuch für unsere Zeit“ herausgebracht worden. Zur „Bibliothek deutscher Klassiker“ und zu den „Lesebüchern für unsere Zeit“ vgl. Gärtner, „Bibliothek deutscher Klassiker“.

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lers Aufsatz zur „Penthesilea“ aus dem Jahre 1959.35 Streller gelingt hier eine vorzügliche Strukturanalyse und eine Erklärung der faszinierenden Wirkung gerade dieses Textes. Aber auch Streller schreibt innerhalb des von Lukács entworfenen und dann tradierten Wertungs-Systems. Er macht trotz und jenseits aller Faszination Mängel bei Kleist aus: Eine unzulängliche Einsicht in den geschichtlichen Prozess sei hier vielleicht am wichtigsten, denn dieser Aspekt beeinträchtige den Realismus des Werkes. Ebenso, wenn auch ungleich behutsamer als bei Lukács, wird Kleists Biographie und Herkunft herangezogen. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Vergleich zu Goethe, welchem zwar unendlich mehr historische Einsicht bescheinigt wird, der aber mit seiner Napoleon-Verehrung nun keineswegs unproblematisch als Garant erreichter historischer Einsicht verstanden werden kann. Was sich hier bereits andeutet, ist neben dem Eigensinn von Literatur die Kollision der einen Wahrheit, in deren Besitz man zu sein glaubt, mit den vielen Wahrheiten und Standpunkten angesichts eines unüberschaubaren historischen Prozesses. Die Arbeiten Hans Mayers unterscheiden sich hier ganz erheblich vom etwa in den „Weimarer Beiträgen“ festgehaltenen literaturhistorischen Diskurs. Mayer, kein Kleistforscher im engeren Sinne, hielt bei der Kleistehrung von 1961 in Frankfurt/Oder (150. Todestag) das Hauptreferat, welches in überarbeiteter Form im Westen publiziert wurde. Das hängt nicht so sehr mit dem Referat selbst zusammen, sondern mit seinem schließlichen Weggang aus der DDR. Mayer weist zunächst jede „ahistorische und eklektisch auswählende Einvernahme oder Ausgrenzung Kleists“36 zurück und plädiert für eine Dialektik von historischem Verständnis und moderner Deutung: Worin der heutige Betrachter seine besondere Affinität zu Kleist erblickt, das hängt von ihm ab, von seinem eigenen Standpunkt. Vieles ist möglich, nur eines nicht: hochmütige Besserwisserei vor einem der größten und wahrhaftigsten deutschen Künstler, wie sie von Lukács und Gundolf betrieben wurde.37

Diese Worte zielten natürlich nicht nur auf die beiden genannten Namen. Eigentlich, so könnte man sagen, werden hier bereits in diesem frühen Stadium jene rezeptionsästhetischen Prämissen erkennbar, wenn auch noch nicht reflektiert, welche dann erst nach 1970 auch in die Literaturwissenschaft der DDR Eingang finden und damit zugleich die Außerkraftsetzung jeder normativen Forderung an Literatur vorbereiten können.38 Zugleich kollidierten immerfort die geforderte historische Genauigkeit, um die man sich bemüht, mit der Inanspruchnahme einer Dichtung für 35 36 37 38

Streller, Problematik. Streller, Hans Mayers Beitrag, S. 66. Mayer, Heinrich von Kleist, hier zitiert nach Streller, Hans Mayers Beitrag, S. 66–67. Zur Vergleichbarkeit der Entwicklungen in West und Ost vgl. insbesondere: Adam/Dainat/ Schandera, Wissenschaft.

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aktuelle Zwecksetzungen und Funktionsbestimmungen. Streller selbst wird das 1984 in einem Interview mit Klaus-Dieter Hähnel auch reflektieren, wenn er etwa Hans-Günther Thalheim, der 1965 gegen sein Kleistbild polemisiert hatte39, nun attestiert: „Thalheim mißt im Anschluß an Mehring und Lukács Kleist daran, wie Geschichte entsprechend unseren historischen Erkenntnissen angemessen ins Bild gebracht ist“40, und er habe ein solches Verfahren mit seinem Beitrag zum „Zerbrochenen Krug“ auch noch 1977 auf der Romantik-Konferenz fortgesetzt. Das ist zwar eine nachträgliche Einschätzung, sie zeigt aber bereits offen, inwieweit sich hier Scheidelinien auftun, wenn der Gesamtverantwortliche für das große Projekt einer Deutschen Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart noch während des Erscheinens der Einzelbände in Gegensatz zu erarbeiteten Forschungspositionen gerät. Ähnlich kritische Sichtweisen aus den siebziger Jahren vermeiden jedoch nach Möglichkeit den offenen Dissens, gegensätzliche Meinungen unter den Forschern werden teilweise lieber verschleiert, offensichtlich gelten divergierende Standpunkte im Grundsatz eher als schädlich. Wirkliche Neuerungen werden durch verschiedene Diskursregelungen und argumentative Muster an das Vertraute und scheinbar Gesicherte zurückgebunden. Solche Muster sind zum Beispiel die Inanspruchnahme kanonischer Texte für je eigene Zwecke, die Inszenierung von Kontinuität in der Wissenschaftsentwicklung, die Bezugnahme auf neue Erfordernisse der gesellschaftlichen Entwicklung sowie Bezugnahmen auf ebenfalls ausdeutbare kulturpolitische Verlautbarungen oder Positionen anerkannter Autoren der Gegenwart.41 Zum Standardargument wird dabei zunehmend die internationale Forschung, die man politisch (nichts dem Gegner überlassen) oder fachlogisch einbeziehen und mit der man die Systemkonkurrenz ebenso begründen wie überwinden kann. Hatte derlei Rückbindung nicht nur, aber auch mit dem Wahrheitsanspruch einer sich marxistisch verstehenden Wissenschaft zu tun, so ergibt sich im Anspruch der Vermittlung von zeitgenössischen geschichtlichen Bedürfnissen und historischen Kunstwerken für die Germanistik der siebziger Jahre eine Herausforderung, durch die sie eigentlich dem Anliegen nicht weniger Schriftsteller, im Medium der Vergangenheit ihre Gegenwart zu verhandeln, wesentlich aufgeschlossener hätte entgegentreten können. Was da bedenklich erschien, war möglicherweise die Eröffnung eines auch und gerade in der Gegenwart unabgegoltenen Erfahrungshorizontes, der die bedrängenden Fragen eines Kleists immer noch bedrängend und ungelöst erscheinen ließ. So bestand die Strategie im Wesentlichen darin, Kleist 39 40 41

Vgl. Thalheim, Prinz Friedrich von Homburg. Hähnel/Streller, Materialien, S. 13. Vgl. hierzu Saadhoff, Germanistik, S. 170–177.

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zunächst als Ausnahme zu markieren, Teile seines Werkes als realistisch zu verorten, ihn selbst auf der Trennlinie zwischen Klassik und Romantik zu platzieren und von hier aus eine Verbindung zur Aufklärung zu schaffen, die sich zum Beispiel mit der Rousseaurezeption untermauern ließ und Kleist bei Mayer sogar beinahe als Jakobiner erscheinen lässt. Dabei wurde sein Werk zumeist immer noch selektiv wahrgenommen. Noch der durchaus verdienstvolle Band 7 der Literaturgeschichte, der 1978 erschien, setzt hinsichtlich dieses Werkes manche Akzente ähnlich wie die alten „Erläuterungen zur deutschen Literatur“ aus den fünfziger Jahren. Bei allem Bemühen um Differenzierung sind nach wie vor „Michael Kohlhaas“, „Der zerbrochene Krug“ und der „Prinz von Homburg“ die Werke, die als am weitesten vorgedrungene realistische Texte mehr als nur eingeschränkte Geltung zu beanspruchen haben. Dabei wurde ausgeblendet, dass es inzwischen auch innerhalb der sich marxistisch verstehenden Literaturwissenschaft konträre Positionen gab, die ein einheitliches (und statisches) Kleistbild eben nicht mehr zuließen. Nicht nur wurden bereits unterschiedliche Sichten auf einzelne Texte vorgetragen, sondern generell konnten Leben und Werk, politisches Engagement Kleists, sein Preußen- oder Nichtpreußentum nun je unterschiedlich bewertet werden. Etiketten wie „Reaktionär“ oder „preußischer Junker“ hatten jedenfalls ausgedient. Stattdessen fragte man nun primär nach der Spezifik seines künstlerischen Schaffens und nach der ästhetischen Bewältigung der von ihm behandelten Probleme. Dasselbe Verfahren hatte auch Streller bereits 1959 mit der „Penthesilea“ betrieben, seinen Befunden dann jedoch eine Einbettung entsprechend dem geltenden Erbekanon und seiner Linienführungen angehängt. An der vereinheitlichenden Praxis aber, wie sie der Band 7 noch anbot (oder auch nur vorgab), wurde deswegen rasch Kritik laut. Bernd Leistner etwa rezensierte in den „Weimarer Beiträgen“ 1980 den Band 7 gar nicht mehr konzeptuell, sondern markierte gerade auch anhand des „Zerbrochenen Kruges“ die Tendenz zu einsinnigen, geschlossenen Deutungen, bei Ausblendung anderer.42 Von Leistner gibt es dann nicht nur in den „Weimarer Beiträgen“, sondern auch in der „Zeitschrift für Germanistik“, in der Reihe „Impulse“ sowie als Buchpublikation43 zahlreiche Wortmeldungen, die das alte Schema weitgehend hinter sich lassen, neue Fragen artikulieren und: Widersprüche nun dezidiert aushalten und offen halten. Was bis zum Ende der DDR nicht oder nur im Ansatz in den Blick gelangte, ist jedoch gerade jene verstörende Seite bei Kleist, die ihn als modernen Autor kenntlich macht. Oben wurde eine Position Thalheims aus den fünfziger Jahren zitiert. Thalheim entdeckte damals sehr wohl einen Aspekt Kleistscher Modernität, wertete dies zwar als Makel, legte jedoch 42 43

Leistner, Umgang. Leistner, Spielraum.

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den Finger auf das verstörende Moment einer Welt der Kontingenz, die bei Kleist gestaltet wird und die außer vielleicht im individuellen Gefühl und im Rekurs auf eine erst zu findende Ethik keinerlei metaphysischen Trost mehr erlaubt und andererseits auch kein sonderlich ermutigendes Szenarium einer geschichtlichen Zukunft zulässt. Die interessanteste Phase der Auseinandersetzung mit Kleist bilden wahrscheinlich die siebziger Jahre. Einerseits finden sich hier die alten Muster, wenn auch dynamisiert wieder, andererseits artikuliert sich innerhalb der Wissenschaft ein Bedürfnis nach neuen Fragestellungen und Horizonten. Drittens bilden die Arbeiten von Schriftstellern wie Christa Wolf und Gerhard Wolf, Karl Mickel, Plenzdorf, Hermlin, Kunert, Franz Fühmann, auch Peter Hacks und anderer eine permanente Herausforderung, die viertens flankiert wurde von einer scheinbaren Liberalisierung, den Realismus in seiner ganzen Vielfalt der Schreibweisen zuzulassen und die bereits mit der Biermann-Affäre an ein Ende kam. Rechnet man noch hinzu, dass sich die offizielle und offiziöse Kulturpolitik des Landes immer mehr den populären Formen zuwandte, dann ist der Streit um Kleist irgendwann nur noch Randphänomen. Aber als solches Randphänomen bleibt er bezeichnend für den Stand und die Möglichkeiten einer Wissenschaft zwischen parteipolitischer Inanspruchnahme und wissenschaftsinterner Ausdifferenzierung. In den „Weimarer Beiträgen“ etwa beginnt, partiell durchaus anknüpfend an Streller, in den siebziger Jahren die positive und aufwertende Auseinandersetzung mit Kleist, vor allem mit den Arbeiten Rudolf Heukenkamps, Peter Goldammers und Bernd Leistners, die nun die Spezifik des Kleistschen Werkes herausstellen und seine Grunderfahrung vom Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit als ins Werk selbst hinein genommene Achse deuten. Das führt in Teilbereichen sogar zu einer Höherschätzung gegenüber Goethe und nun auch zu einer wirklichen Auseinandersetzung mit der internationalen Forschung. Waren noch Anfang der sechziger solche Auseinandersetzungen eher Überlegenheitsbekundungen aus dem Gestus, selbst etwas ganz anderes, nämlich ‚objektive‘ Wissenschaft zu betreiben, so werden jetzt westliche Veröffentlichungen zu Kleist sorgfältig beobachtet und regelmäßig, und zwar überwiegend ohne inkriminierende Verbalattacken, rezensiert. All das geht einher mit Umbauten im Realismus- und Widerspiegelungsbegriff, bei dem die Autoren, nicht nur Kleist, von gnoseologischen Ansprüchen entlastet werden. Hier ist sicherlich Saadhoff zuzustimmen, der feststellt, solche Umbrüche seien „weder das Resultat rein innerdiziplinärer Entdogmatisierungs-, Pluralisierungs- und Demokratisierungsprozesse noch das Ergebnis fachexterner Planung und Leitung.“ Stattdessen spricht er vom Produkt „eines komplexen Wechselspiels von gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, staatlichen Forderungen und Förderungen,

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Neuerungen in der literarischen Praxis, von innerwissenschaftlichen Konkurrenzkämpfen, institutionellen Rahmenbedingungen, internationaler Wissenschaftsentwicklung und fachinternen Logiken.“44 Erst die Einbeziehung all dieser Faktoren aber ermöglichte es, den literaturwissenschaftlichen Diskurs um einen Autor wie Kleist angemessen zu erfassen.

Literaturverzeichnis 1. Quellen Archivalien (aus der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Archiv des Aufbau-Verlages [= AAV]; alle unpaginiert) Briefwechsel von Günther K. Lehmann mit dem damaligen Redakteur Peter Anders, bes. die Briefe vom 28.4.1967 und 11.5.1967, in: AAV (Nr. W 75). Briefwechsel der Redaktion mit Johanna Rudolph, in: AAV (Nr. W 81). Formblatt, Einschätzung des Redakteurs vom 20.9.1976, in: AAV (Nr. W 95). Handschriftliche Notiz auf einem nicht datierten Einschätzungsbogen, in: AAV (Nr. W 102). Umlaufpapier der Redaktion vom 31.07.1968, betreffs „Kritische Bemerkungen der Genossen Dr. Martin und Dr. Herden zum Planentwurf unserer Zeitschrift“, in: AAV (Nr. W 60). (aus dem Bundesarchiv Berlin, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR [= BArch., SAPMO], Zentrales Parteiarchiv [= ZPA], Abteilung Wissenschaften beim ZK der SED) Zu Fragen der Kaderentwicklung und Kaderschulung, in: BArch., SAPMO, ZPA, Abteilung Wissenschaften beim ZK der SED (IV 2/9.04/33), Bl. 110–112. Schreiben Hans-Günther Thalheims an die Abt. Wissenschaften beim ZK der SED vom 29.11.1957, „z. Hd. v. Genossen Börner“, in: BArch., SAPMO, ZPA, Abteilung Wissenschaften beim ZK der SED (IV/2/9.04/229), Bl. 4–6. 44

Saadhoff, Germanistik, S. 231.

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Forschung Bartsch, Karl: Zu Hartmanns Gregor, in: Germania. Zeitschrift für deutsche Alterthumskunde 6 (1861), S. 372–376. Bänsch, Dieter (Hg.): Zur Modernität der Romantik, Stuttgart 1977. Rezension von Gerda Heinrich, in. Weimarer Beiträge 25, Heft 5 (1979), S. 168–175. Drushinina, G. W. / Jaschenkina, R. F.: Sowjetische Literaturwissenschaft über das Schaffen Kleists, in: Weimarer Beiträge 25, Heft 5 (1979), S. 152–162. Geerdts, Hans Jürgen: Romantik und Romantikforschung in der Diskussion, in: Weimarer Beiträge 23, Heft 2 (1977), S. 151–153. Goldammer, Peter: Der Mythos um Heinrich von Kleist, in: Sinn und Form 28, Heft 1 (1976), S. 198–210. Goldammer, Peter (Hg.): Schriftsteller über Kleist. Eine Dokumentation, Berlin/Weimar 1976. Goldammer, Peter: Neue Quellen – neue Rätsel „in Sachen Kleist“, in: Weimarer Beiträge 31, Heft 12 (1985), S. 2071–2088. Goldammer, Peter: Ein Wort in eigener Sache, in: Beiträge zur Kleistforschung, Würzburg 1997, S. 163–164. Hähnel, Klaus-Dieter / Siegfried Streller: Materialien zur Geschichte der marxistischen germanistischen Literaturwissenschaft in der DDR, Gespräch mit Siegfried Streller, in: Zeitschrift für Germanistik 5 (1984), S.5–18. Heise, Wolfgang: Zur ideologisch-theoretischen Konzeption von Georg Lukács, in: Weimarer Beiträge 4 (1958), Sonderheft, S. 26–41. Köhler, Reinhold: „Mich wundert, daß ich so fröhlich bin“, in: Germania. Zeitschrift für deutsche Alterthumskunde 6 (1861), S. 368–372. Kunert, Günter: Pamphlet für K., in: Sinn und Form 27, Heft 5 (1975), S. 1091–1097. Leistner, Bernd: Vom Umgang mit dem poetischen Werk. Kritische Anmerkungen zum 7. Band der „Geschichte der deutschen Literatur“, in: Weimarer Beiträge 26, Heft 6 (1980), S. 171–183. Leistner, Bernd: Spielraum des Poetischen. Goethe – Schiller – Kleist – Heine, 2. Aufl., Berlin/Weimar 1989 (= Dokumentation, Essayistik, Literaturwissenschaft). Lukács, Georg: Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts, Berlin 1952.

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2. Forschungsliteratur Adam, Wolfgang / Dainat, Holger / Ende, Dagmar (Hg.): „Weimarer Beiträge“. Fachgeschichte aus zeitgenössischer Perspektive. Zur Funktion und Wirkung einer literaturwissenschaftlichen Zeitschrift der DDR, Frankfurt am Main u. a. 2009. Adam, Wolfgang / Dainat, Holger / Schandera, Gunter (Hg.): Wissenschaft und Systemveränderung. Rezeptionsforschung in Ost und West – eine konvergente Entwicklung? Heidelberg 2003 (= Beiträge zum Euphorion 44). Boden, Petra: Universitätsgermanistik in der SBZ/DDR. Personalpolitik und struktureller Wandel 1945–1958, in: Boden, Petra / Rosenberg, Rainer (Hg.): Deutsche Literaturwissenschaft 1945–1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen, Berlin 1997 (= LiteraturForschung), S. 119–149. Ehrlich, Lothar / Mai, Gunther: Einleitung der Herausgeber, in: Ehrlich, Lother / Mai, Gunther (Hg.): Weimarer Klassik in der Ära Honecker, Köln 2001, S. 7–28. Gärtner, Markus: „Bibliothek deutscher Klassiker“. Die Klassiker im Leseland, in: Ehrlich, Lothar / Mai, Gunther (Hg.): Weimarer Klassik in der Ära Honecker, Köln 2001, S. 193–218. Leistner, Bernd: Goethe, Hoffmann, Kleist et cetera. Zu einem Kapitel DDR-Literatur der siebziger, achtziger Jahre, in: Lothar Ehrlich/Gunther Mai (Hg.): Weimarer Klassik in der Ära Honecker, Köln 2001, S. 127–135. Rosenberg, Rainer: Der ritualisierte Diskurs. Das Modell der offiziellen sowjetischen Literaturtheorie der fünfziger Jahre, in: Zeitschrift für Germanistik, N.F. 1 (1993), S. 99–109. Saadhoff, Jens: Germanistik in der DDR. Literaturwissenschaft zwischen „gesellschaftlichem Auftrag“ und disziplinärer Eigenlogik, Heidelberg 2007 (= Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 13). Schandera, Gunter u. a.: Die „Weimarer Beiträge“ zwischen 1955 und 1961. Eine Zeitschrift auf dem Wege zum „zentralen Organ der marxistischen Literaturwissenschaft in der DDR“?, in: Boden, Petra / Rosenberg, Rainer (Hg.): Deutsche Literaturwissenschaft 1945–1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen. Berlin 1997 (= LiteraturForschung), S. 261–332. Schandera, Gunter u. a.: Immermann in der DDR. Zur Rezeptionsgeschichte zwischen 1945 und 1990, in: Immermann-Jahrbuch. Beiträge zur Literatur- und Kulturgeschichte 2 (2001), S. 71–98.

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Streller, Siegfried: Hans Mayers Beitrag zur Kleistforschung, in: Beiträge zur Kleistforschung, 1995, S. 66–71. Streller, Siegfried: Ist er unser, ist er nicht unser? Das Verhältnis linker Schriftsteller in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Heinrich von Kleist, in: Ensberg, Peter / Marquardt, Hans-Jochen: Kleist-Bilder des 20. Jahrhunderts in Literatur, Kunst und Wissenschaft, Stuttgart 2003 (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 414), S. 91–101.

Monika Schneikart

Claus Träger und die germanistische Romantik-Forschung an der Universität Leipzig in den siebziger Jahren Die Romantik als germanistisches Forschungsfeld gehörte auch in der DDR zu den zentralen Paradigmen der neugermanistischen Literaturwissenschaft. An ihr schieden sich die kleinen und die großen Geister, ihr Textmaterial war und ist eine ständige Herausforderung für die Auseinandersetzung mit literaturtheoretischen, philosophischen oder ästhetischen Leitkategorien wie Darstellung, Poesie, Nachahmung, Realismus, Wahrheit, Phantasie, Volk, Geschichte, Individuum, Staat etc. In der wissenschaftsgeschichtlichen Forschung, die mit Beginn der neunziger Jahre einen merklichen Aufschwung erfuhr, ist das selbstverständlich so benannt worden. Umfangreiche Arbeiten zur Geschichte der DDR-Germanistik, die sich der Romantik-Forschung in ihren personellen und institutionellen Zusammenhängen annehmen, fehlen indes noch. Sich mit dieser Fragestellung zu beschäftigen, entsprang der Rückschau auf mein Studium der Diplomgermanistik an der Leipziger Universität in den Jahren 1972–1976: Wenn es einen wissenschaftsgeschichtlich aufschlussreichen und relevanten Sachverhalt aus heutiger Sicht zu bestimmen gäbe, dann wären es die Forschungen (und die Lehre) zur Romantik, genauer zur Frühromantik, repräsentiert von Claus Träger. Die Fachentwicklung ab den siebziger Jahren, die sich in einem qualitativ neuen gesellschaftlichen Kräftefeld vollzog, ist in der Forschung im Vergleich zu früheren Phasen (1945–68) noch nicht mit zahlreichen und umfangreichen Einzeluntersuchungen präsent. Die 2004 veröffentlichte Studie zu diesem Zeitraum (1969–1991) „Modernisierung ohne Moderne“ über das – außeruniversitäre! – „Zentralinstitut für Literaturgeschichte“ (ZILG) an der „Akademie der Wissenschaften der DDR“ (AdW) von Petra Boden und Dorothea Böck steht singulär da.1 Die beiden ehemaligen Mitarbei1

Boden/Böck, Modernisierung. Im einleitenden Aufsatz „Literaturforschung an der Berliner

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terinnen entschieden sich, in Form von Interviews, also mit der Methode der oral history, „Leerstellen […] der Archivalien“2 zur Gründungsphase des literaturhistoriographisch ausgerichteten Forschungsinstituts zu füllen. Dass die interviewten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen dabei auch die wissenschaftspolitischen und forschungsgeschichtlichen Prozesse der siebziger und achtziger Jahre reflektierten, macht diesen Band für die Erforschung dieses Zeitraums zu einer wertvollen Quelle. Darüber hinaus gibt es zahlreiche wissenschafts- und fachgeschichtliche Untersuchungen, die ihre verallgemeinernden Aussagen aus der Analyse einzelner Institutionen ableiten – so in erster Linie die Forschungen Petra Bodens vor allem zum erwähnten ZILG –, oder zur literarischen Öffentlichkeit in der DDR.3 Als jüngste und die bisherigen Forschungen bereits bilanzierende Arbeit ist die vorzügliche Monographie von Jens Saadhoff zur Geschichte der germanistischen Literaturwissenschaft in der DDR zu nennen.4 Aufgrund der eingesehenen Quellen5 hat mein Beitrag eher den Charakter einer Problemskizze, er umreißt ein Arbeitsprogramm. Ich habe mich in Folge dieser Faktoren entschlossen, Material und Deutung in fünf Abschnitten zu erörtern.

1. Ausgangsfragen Gab es in den siebziger Jahren eine Leipziger Romantik-Forschung, eine institutionell verankerte Forschung und/oder eine identifizierbare, erkennbare Gruppe? Beide Fragen müssen verneint werden. Es gab keine als institutionelles Profil wahrnehmbare Romantik-Forschung, was ich im Folgenden zu belegen versuche, dagegen eine ständige Präsenz und personelle Repräsentanz des Forschungsfeldes Romantik in Leipzig durch den Ordinarius für Allgemeine Literaturwissenschaft Claus Träger. Hat es dann so etwas wie

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Akademie der Wissenschaften“ rekonstruieren die beiden Herausgeberinnen die Genese dieser zentralen Forschungseinrichtung im Kontext der Zeitgeschichte von 1945 bis zur Gründung am 15. August 1969. Ebd., S. 13–50. Ebd., S. 6. Langermann/Barck/Lokatis, „Jedes Buch ein Abenteuer“; Mittenzwei, Werner: Die Mentalität der literarischen Intelligenz. Die Geschichte des Aufbau-Verlages 1945–1991 (unveröffentlicht). Hinweis aus: Boden/Boeck, Modernisierung, S. 57. Saadhoff, Germanistik. Zum Zeitpunkt der Erarbeitung dieses Beitrages verfügte ich über einen aufgrund des Datenschutzes begrenzten Zugang zu den persönlichen Dokumenten Trägers und zu den archivalischen Quellen im Universitätsarchiv Leipzig (= UAL). Die Übergabe des Nachlasses von Claus Träger an das Literaturarchiv Marbach ist nach Auskunft der Angehörigen geplant.

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eine ‚Träger-Schülerschaft‘ unter dem von ihm betreuten wissenschaftlichen Nachwuchs gegeben, die sich thematisch oder methodisch ausweist, speziell im Bereich der Romantik-Forschung? Diese letzte Frage rückt die in den siebziger Jahren ausgebildete Wissenschaftlergeneration in den Fokus; sie zu untersuchen ist ein eigenes Forschungsprojekt, hier kann nur ein Einzelfall erläutert werden. Immerhin gibt es Bekenntnisse zum Universitätslehrer oder Kollegen6, sicher auch Gemeinsamkeiten im Methodischen, am ehesten in der ideologischen Orientierung. Das literaturtheoretische Profil Trägers war singulär innerhalb der DDR-Germanistik sowohl in seiner konsequenten methodischen Ausrichtung auf die Marx’schen Theoreme (besonders der philosophischen Schriften) als auch in der Qualität und Dauer dieser Ausrichtung.7 Zunehmend geriet er sowohl mit seinem Literatur- als auch Wissenschaftskonzept in den achtziger Jahren in deutliche Konkurrenz zu den anderen, an die allgemeine Fachentwicklung (hier besonders die Rezeptionstheorie) direkt anschließenden theoretisch-methodischen Konzepten, wie sie, um Beispiele zu nennen, von Berliner Germanisten um Peter Weber und Dieter Schlenstedt oder vom Hallenser Hans-Georg Werner vertreten wurden.8 Diese 1985 bilanzierten Richtungen lassen sich letztendlich an divergierende Literaturbegriffe zurückbinden: Dem an Dichtung ausgerichteten Literaturverständnis stand das funktional-kommunikative gegenüber.9 Die konkurrierenden Richtungen waren, auch wenn sie diskursiv unter dem Dach der marxistischen Literaturwissenschaft auftraten, sowohl methodologisch als auch institutionell zunehmend identifizierbar.10 Das dichtungs- und wirkungsästhetisch ausgerichtete Literaturkonzept der beiden Germanisten Hans Georg Werner (Literaturwissenschaftler) und Gotthard Lerchner (Linguist) mit der konsequenten philologischen Ausrichtung auf den poetischen Text und dessen ästhetische Eigenart ist nicht zuletzt deshalb von besonderer Rele6 7

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Marquardt/Störmer-Caysa/Heimann-Seelbach, Tradition; Opitz/Petzold, Geschichtlichkeit. Vgl. Rosenberg, Rezension: „Träger hat das literaturtheoretische Rüstzeug seiner Generation – die marxistische Ästhetik […] nicht unbesehen übernommen […] er ist den Anstrengungen seines Lehrers Werner Krauss gefolgt, die marxistischen Klassiker immer wieder direkt zu befragen. Träger operiert ständig mit Marx […] als methodisches Beispiel für eine ‚verständige Abstraktion‘ der Erscheinungen des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens […]“. Die politische Geschichte nach 1989 mit dem systematischen Umbau der Wissenschafts-, Fach- und Hochschullandschaft nach (alt)bundesdeutschem Vorbild brachte die Eliminierung, zumindest eine Marginalisierung des marxistischen literaturtheoretischen Diskurses im institutionellen Wissenschaftsbetrieb mit sich. Vgl. Kliche/Thierse, DDR-Literaturwissenschaft. Ein anderes Beispiel wäre die von Heinz Jürgen Staszak benannte Ausrichtung der literaturtheoretischen Forschung und Ausbildung an der Universität Rostock in jenen Jahren. Vgl. den Beitrag in diesem Band.

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vanz, da es die Neuausrichtung von Werners Romantikforschung fundierte. Diese verlief zeitlich ähnlich wie die Trägers, zwischen Mitte der sechziger und Anfang der siebziger Jahre.

2. Wissenschaftsgeschichtliche Einschätzung der Romantik- Forschung in der DDR Übereinstimmend zählen wissenschaftsgeschichtliche Einschätzungen die Forschungen zur Romantik zu den innovativen Leistungen der DDR-Germanistik in den siebziger Jahren, so Wolfgang Thierse, Dieter Kliche, Rainer Rosenberg in Publikationen vor 1989 und Petra Boden u. a. danach. In der bundesdeutschen Romantikforschung wird diese Auffassung schon länger vertreten und – homogener als im Diskurs der ostdeutschen Wissenschaftler – an einer Person festgemacht – an dem Leipziger Literaturwissenschaftler Claus Träger. Dessen Aufsatz „Ursprünge und Stellung der Romantik“ von 1975 erlangte repräsentativen Wert, indem und weil ihn Klaus Peter in seinen 1980 herausgegebenen forschungsgeschichtlichen Sammelband „Romantik-Forschung seit 1945“ aufnahm. Diesem Aufsatz, mit dem der Leipziger Germanist wissenschafts- und kulturpolitisch einen Angriff auf breiter Front eröffnete, indem er den bis dahin ideologisch verfemten frühromantischen Dichter Friedrich von Hardenberg – und die Frühromantik – in das sozialistische Realismus- und Erbekonzept einband11, weist Klaus Peter „programmatische[n]“ Stellenwert zu. „[P]lötzlich und für den Außenseiter geradezu sensationell“ sei die Abkehr von der Lukács’schen Position sichtbar geworden. Der Aufsatz markiere, das ist wohl der Zielpunkt von Peters Einschätzung, „die Wende in der Romantikforschung der DDR“, er versuche, „den Kurswechsel nun auf breiter Ebene zu begründen“.12 Der Kurswechsel bestand im Verständnis der Zusammengehörigkeit von Klassik und Romantik, in der Verankerung beider Strömungen in der Aufklärung, in der Zurückweisung des Lukács’schen Irrationalismusverdikts und in der Erkenntnis, dass die Frühromantiker die ersten Kritiker der neuen, wenig entwickelten Gesellschaftsformation waren. Trägers eigene Romantik-Forschung diente Peter dabei als Paradigma für die Geschichte der Romantik-Forschung in der DDR, vom 1961 vertretenen Konzept des „starren 11

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Gleichzeitige Veröffentlichung in der zentralen Fachzeitschrift, den „Weimarer Beiträgen“, und als Vorwort in der Studienausgabe des Reclam-Verlages: Träger (Hg.), Novalis. Dichtungen und Prosa. Peter, Romantik-Forschung, S. 26. 1997 bezog sich Petra Boden auf Peters Position und sieht sie als exemplarisch an für das Bemühen bundesdeutscher Germanisten, „zwischen dogmatischer Erstarrung in Lukács’ verhaftetem Denken und innovativen marxistischen Ansätzen zu unterscheiden“. Vgl. Boden, Es geht ums Ganze, S. 259.

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Gegensatz(es) Aufklärung/Klassik vs. Romantik“13 in der Mehring-LukácsNachfolge bis zur „Neu-Lektüre Novalis’“ in konsequenter, laut Peter „erzwungene[n]“ Rezeption des Krauss’schen Paradigmas des genetischen und konzeptionellen Zusammenhangs zwischen französischer Aufklärung und deutscher Romantik.14 In späteren Standardwerken zur Romantik wie dem „Handbuch“ von Helmut Schanze 1994 und dem „Lehrbuch“ von Detlef Kremer 2007 wird pars pro toto auf Trägers Aufsatz von 1975 verwiesen.15 Auch wenn Jens Saadhoff16 stärker die Breite des Neuansatzes im Romantik-Diskurs in den siebziger Jahren herausstellt, dokumentieren jedoch gerade die zusammengetragenen Diskurs-Belege ganz klar den zentralen Träger des Diskurses – Claus Träger. Das ist sowohl für den Beginn (1967), für die Dauer (bis in die achtziger Jahre) wie für die Intensität resp. Konsequenz zu konstatieren. Seine These von der Diskursänderung, der „allmähliche[n] Aufwertung“ der Romantik17, belegt Saadhoff mit einem Textausschnitt aus einem Aufsatz Claus Trägers, der 1984 für das gesamtdeutsche germanistische Fachpublikum bilanzierte: „Lukács’ Konzeption, mit dem Gewicht einer hundertjährigen Tradition beladen, war in der DDR eine geradezu uneingeschränkte Wirkung beschieden.“ „[D]ifferenziertere Ansätze“ hätten sich nicht entfalten, geschweige denn durchsetzen können.18

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Peter verweist als Exempel für die in der Tradition von Lukács stehende Entgegensetzung von Aufklärung und Romantik auf Trägers 1961 in der Zeitschrift „Sinn und Form“ publizierten Aufsatz „Novalis und die ideologische Restauration“. Vgl. Peter, Romantik-Forschung, S. 23. Werner Krauss’ Aufsatz „Französische Aufklärung und deutsche Romantik“ von 1962 hat Peter ebenfalls in die Dokumentation aufgenommen. Krauss bestimmt als den konzeptionellen Zusammenhang das Mittelalterinteresse resp. das historische Denken, das bereits der Aufklärung eigen war. Hoffmeister, Forschungsgeschichte, S. 199. Träger steht bei Hoffmeister für den „Kurswechsel“, allerdings attestiert Hoffmeister Träger lediglich eine kulturpolitische Innovation, da er wissenschaftlich die ein Jahrzehnt früher vorgenommene Revision des Romantik-Bildes in der westdeutschen Forschung übernommen habe, wie sie in Schanzes Novalis-Monographie von 1966 vorgenommen worden war. Diese gewichtige Behauptung bleibt ohne Nachweis. Mit einem äußerst knappen Verweis auf Träger, autorisiert mit Klaus Peter, begnügt sich Kremer, Romantik, S. 56. Saadhoff, Germanistik, S. 343–364. Ebd., S. 343. Träger, Erbe-Aneignung, zit. nach Saadhoff, Germanistik, S. 343.

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3. Traditionen Die Neukonzipierung der Romantik wird diskursiv fassbar mit Trägers 1967 auf einem internationalen Kongress in Belgrad gehaltenem Vortrag „Ideen der französischen Aufklärung in der deutschen Romantik“. Bereits der Titel zeigt die direkte Orientierung an und auf den Lehrer, den Romanisten Werner Krauss und auf dessen zentrale These von der Verbindung von Aufklärung und Romantik.19 Unmittelbar nach diesem Kongress erschien der Vortrag in den „Weimarer Beiträge[n]“.20 Zu dieser Zeit war Claus Träger Professor für Geschichte der deutschen Literatur an der Karl-Marx-Universität und damit der Erbe Hans Mayers, der übrigens just in diesem Belgrad einige Jahre zuvor den Entschluss gefasst hatte, seinen Leipziger Lehrstuhl leer bleiben zu lassen. Mit den beiden Namen Werner Krauss und Hans Mayer öffnet sich eine Traditionslinie Leipziger Romantik-Forschung, in die Claus Träger zu stellen ist und in der er sich zweifellos sehen musste, deren Akteure er selbst während seiner Studienzeit erlebte hatte. Die Erforschung der Literatur um 1800 hatte an der Leipziger Universität eine große Geschichte: August Hermann Korff21, Werner Krauss, Hans Mayer – diese Literaturwissenschaftler bestimmten nicht nur die Leipziger Universitätsgermanistik, sie prägten den wissenschaftlichen Nachwuchs in der DDR. Gleichzeitig verkörperten sie die unterschiedlichen Möglichkeiten eines wissenschaftlichen, geistigen und politischen Neu-Anfangs in der Nachkriegswissenschaft und ihrer institutionellen Verankerung in Leipzig. Stellvertretend sei der Romanist Manfred Naumann zitiert mit seiner Erinnerung an die Leipziger Studienzeit ab 1946: „[E]in solches intellektuelles Milieu, wie ich es damals in Leipzig erlebte, war einmalig“.22 Ernst Bloch, Walter Markov, Ernst Engelberg, Heinrich Scheel, Theodor Frings, Hermann August Korff – das sind die bedeutenden Persönlichkeiten, denen die Studierenden, viele von ihnen von Kriegs- und Gefangenschaftsjahren geistig und mental geprägt, begegneten. Diese auf unterschiedlichen Wegen in die Institution Hochschule gelangte Wissenschaftlergeneration bildete das Fundament, auf dem die nächste Generation von Forschern (sich) aufbaute. Claus Träger, der von 1951–1955 Germanistik, Philosophie und Geschichte studierte, orientierte sich nach eigenen Aussagen sehr zeitig und strikt am Romanisten 19 20 21 22

Krauss, Aufklärung, S. 500–501. Träger, Ideen, S. 175–186. Saadhoff sieht diese Arbeit am Beginn des Aufwertungsprozesses der Romantik. Vgl. Saadhoff, Germanistik, S. 350. Träger würdigte Korff in: Namhafte Hochschullehrer der Karl-Marx-Universität Leipzig, S. 84–95. Boden, Modernisierung, S. 79; ebenso Boden, Universitätsgermanistik; Krenzlin, Gespräch, S. 143.

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Werner Krauss, gleichzeitig war aber auch Georg Lukács prägend.23 Das damit erworbene und legitimierte Wissenschaftsverständnis war bestimmt von der Einheit von Wissenschaft und Politik und schloss im Selbst- und Zeitverständnis der marxistischen Literaturwissenschaft die politisch-ideologische Kritik der „bürgerlichen“ Wissenschaften in ihren theoretischen und methodischen Erscheinungsformen ein. Zunehmend verlagerte sich die Kritik auf das Gebiet der Literaturgeschichtsschreibung, besonders für die Literatur um 1800. Im Zuge der über die Gegenstandsdiskussion, den Literaturbegriff laufenden Theorie -und Methodenreflexion des Faches kam er in den achtziger Jahren anerkennend auf den Geisteswissenschaftler H. A. Korff zurück und würdigte dessen dialektische Denkmethode.24 Seine Abwendung bzw. Korrektur von Lukács präsentierte Träger als plötzliche gefühlsmäßige Einsicht statt als Ergebnis langjährigen Nachdenkens und Diskutierens: [M]an fühlt, wie eine Sache, zu Unrecht ad acta gelegt, plötzlich aktuell wird. So musste sich herausstellen, dass das nahezu drei Jahrzehnte gültige Romantikbild von Lukács, mit dem meine Generation aufgewachsen ist, im wesentlichen eine Umkehrung der geistesgeschichtlichen Auffassung war – Romantik im Grunde als ein Versagen des bürgerlichen Geistes.25

Im Gegensatz zu Lukács gestand Träger Hans Mayer keinen Einfluss bei seiner Neuausrichtung des Romantikverständnisses zu. Dabei muss die von Hans Mayer 1962 in Leipzig veranstaltete wissenschaftliche Tagung zu Fragen der Romantikforschung impulsgebend gewirkt haben. Träger hatte sich mit einem Referat über Fichtes Verhältnis zur Aufklärung und Französischen Revolution beteiligt – es gab nur fünf Referate –, er war also aktiver Teilnehmer gewesen. Auf dieser Tagung hatten Krauss und Mayer Lukács’ undialektisches, antinomisches Epochen- und Romantik-Konzept kritisiert und die Neubewertung der Frühromantik eingefordert: Sie brachten als Argumente und Überlegungen den progressiven Charakter der frühromantischen Literatur aufgrund der zustimmenden Haltung der Frühromantiker zum Jakobinismus, das Weiterwirken aufklärerischen Denkens bei Friedrich Schlegel und Novalis, die notwendige Neubewertung des Bekenntnisses zum Katholizismus und die Friedensutopie in „Die Christenheit oder Europa“. Mayers Referat ist zwar, im Gegensatz zu Krauss’, nicht gedruckt worden, in der ausführlichen Tagungsbesprechung in den „Weimarer

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24 25

Die geschichtsphilosophische Ausrichtung Trägers an Lukács während seines Studiums führt Marion Marquardt auf die politisch diskreditierte geistesgeschichtlich orientierte Literaturwissenschaft, deren Repräsentanten als Lehrende noch erlebt wurden (Korff), zurück. Vgl. Marquardt/Störmer-Caysa/Heimann-Seelbach, Fragen, S. 7. Vgl. Rosenberg, Rezension: Studien zur Erbetheorie und Erbeaneignung, S. 229. Krenzlin, Gespräch, S. 148.

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Beiträge[n]“26 wird Mayers Einleitungsvortrag „Zur heutigen Lage der Romantikforschung“ jedoch sehr ausführlich referiert, auch wenn der Artikel mit heftigen Angriffen auf Mayer, dessen Konzept ablehnend, endet. Von diesem (angehängt wirkenden) Textteil abgesehen, stellt sich bei dem nachgeborenen Leser die Vermutung ein, der Verfasser des ersten Textabschnittes ahnte das Schicksal des Referates und wollte so viele Informationen wie möglich geben. Saadhoffs Beobachtung ist völlig zuzustimmen, dass die „umfassende Rehabilitation“ der romantischen Literatur in den siebziger Jahren mit ähnlichen Argumenten arbeitete wie Mayer 1962, ohne dass dieser Bezug ausgewiesen wurde.27

4. Ausgestaltung der institutionellen Voraussetzungen Auch im institutionellen Bereich setzten sich – bei aller scharfen Abgrenzung Trägers von Mayer – die Bindungen fort: Werner Bahner, der Lehramtsnachfolger von Werner Krauss, holte Träger 1964 von Berlin nach Leipzig, wo er 1965 „Professor mit Lehrauftrag für Neuere deutsche Literatur“ wurde. Vor allem die selbst veranlasste Denomination des „Lehrstuhls für Allgemeine Literaturwissenschaft“, auf den er 1969 gelangte, indiziert – außer seiner hochschulpolitischen Wirkkraft – sein fachliches Selbstverständnis, das über das rein Nationalphilologische konzeptionell und in der Forschungspraxis hinausging. Er agierte als Forscher, Lehrer, Politiker und Leiter. Den Zuschnitt des Lehrstuhls wie auch der Sektion Kulturwissenschaften und Germanistik im Gefolge der Dritten Hochschulreform schrieb er sich nach eigenem Bekunden maßgeblich selbst zu.28 Die Etablierung der „Zeitschrift für Germanistik“ 1980 wie des Germanistenverbandes der DDR 1987 weisen ihn als einen an den Schaltstellen der Macht agierenden Wissenschaftler aus, dessen Habitus nicht nur aus der universitären Anbindung zu erklären ist.29 Die Differenz zu den Krauss-Schülern der gleichen 26 27

28

29

Hammer/Poschmann/Schnuchel, Romantikforschung. Zur Leipziger Tagung vgl. Saadhoff, Germanistik, S. 347–349. Saadhoff, S. 106, vermutet ein ideologisches und politisches Schutz-Verhalten als Grund. Aber auch noch 1983, als sich Claus Träger zu Hans Mayers Wirken in Leipzig nun positiv-kritisch und grundsätzlich anerkennend äußerte, gab er keinen Hinweis auf Mayers Rolle bei der Erneuerung der marxistischen Romantik-Forschung, wurzelnd in der Tagung von 1962. Damit korrespondiert sein ausweichendes Antwortverhalten auf Krenzlins Frage nach seinem Interesse für die Romantik. Er verweist hier wortreich auf sein methodisches Interesse. Vgl. Krenzlin, Gespräch, S. 144, 150. Ebd., S. 143. Die Sektion Kulturwissenschaften und Germanistik ging aus dem Institut für Deutsche Literaturgeschichte hervor, deren erster Direktor Träger 1968 wurde (1968–74; 1985–87). Seit 1972 war er Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirates für Kultur-, Kunst- und

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Generation, die sich in der „Akademie der Wissenschaften“ in Berlin, dem „Zentralinstitut für Literaturgeschichte“, konzentrierten, scheint recht klar und aufschlussreich zu sein. Das Moment der Konkurrenz sollte – auch wenn es nicht die um Stellen war – mit bedacht werden: Konkurrenz um Erfolg und Anerkennung im System Wissenschaft, um Einfluss auf den Entscheidungsebenen, um Papier- und Druckkapazitäten, um Reisemöglichkeiten, die ihrerseits Anerkennung, Publikations- und Wirkungsmöglichkeiten in der bundesdeutschen Wissenschaftslandschaft brachten. Dass das Agieren in dieser fachpolitischen Arena zum wissenschaftlichen Selbstverständnis gehörte, belegen seine Bewerbungen auf führende Positionen in internationalen Fachgremien (IVG 1985). Der Leipziger Neuansatz wäre, genauso wie diese Zuschreibung durch Klaus Peter, deshalb auch aus der gesamtdeutschen Fachentwicklung heraus in den Blick zu nehmen, wobei zur disziplinären Eigenlogik im besagten Zeitraum 1967–1975 die Politisierung der bundesdeutschen Germanistik im Vor- und Umfeld der 68er-Ereignisse gehörte.30

5. Forschungspraxis an der Universität Seit 1969 hatte Claus Träger den „Lehrstuhl für Allgemeine Literaturwissenschaft“ inne und agierte als Direktor der neuen Sektion, in der Diplomkulturwissenschaftler und Lehrer (D/Ge) ausgebildet wurden. 1971 immatrikulierte die Universität Leipzig in einer Art Monopolstellung erstmals seit vielen Jahren wieder Diplomgermanisten (als Ein-Fach-Studium über 8 Semester, später 10, eine echte Schmalspurausbildung). Damit begann die Erfüllung des „Forschungsplanes der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften der DDR“, die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses für das Fach Germanistik.31 Ab 1975 konnte demnach mit

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Sprachwissenschaft beim Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. Klaus Peter, der Träger in den bundesdeutschen Fachdiskurs einband, beteiligte sich 1997 als einer der wenigen Fachkollegen aus den alten Bundesländern an der FS zum 70. Geburtstag des Leipziger Kollegen. Boden verweist auf eine Äußerung Fritz Martinis, der von mehr oder weniger engen „offenen oder verdeckten Beziehungen“ zwischen den Germanisten in West und Ost sprach. In: Boden, Es geht ums Ganze, S. 259. Zentraler Forschungsplan der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften der DDR (von 1971) bis 1975. (Bestätigt vom Politbüro am 11. Januar 1972), in: UAL (ZM 8464.47.4.), S. 26. Hier heißt es: Die „Ausbildung von wissenschaftlichem Nachwuchs [ist] auf einigen Gebieten vordringlich zu gewährleisten. Dazu gehören vor allem Kader auf den Gebieten des historischen Materialismus, der politischen Ökonomie, des wissenschaftlichen Kommunismus sowie der Staatstheorie. […] Auch die Entwicklung des Kadernachwuchses in ausgewählten Gebieten der Gesellschaftswissenschaften sowie in der Kulturtheorie und Germanistik ist verstärkt zu fördern.“

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eigenem wissenschaftlichem Nachwuchs gerechnet werden, unbehelligt von den Zugriffen des Volksbildungsministeriums während des Studiums und danach. Die neuen Germanistikstudierenden hatten einen eigenen Studienplan, sie kamen eher in Kontakt mit den Forschungsgebieten der Dozenten, ihre Berufsfelder waren Wissenschaft und Verlagswesen, ein Teil sollte für die Auslandsgermanistik ausgebildet werden. Der erwähnte zentrale Forschungsplan, erarbeitet vor 1971, bestimmte für den Zeitraum bis 1975 die Forschungsfelder, Ergebnisformen und die jeweils zuständigen Einrichtungen im gesamten Land. Einen zentralen Platz nahm die institutionelle Organisierung der Erarbeitung der auf zwölf Bände geplanten marxistischen „Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart“ ein, das forschungspolitisch wichtigste Prestigevorhaben der DDR-Regierung auf dem Gebiet der germanistischen Literaturwissenschaft seit den sechziger Jahren. Für die Leipziger Germanistik sind nur sprachwissenschaftliche Themen verzeichnet, die Literaturwissenschaft war an diesem Megaprojekt der nationalen Literaturgeschichtsschreibung offensichtlich nicht beteiligt, im Gegensatz zu der Einbindung der literaturwissenschaftlichen Kapazitäten anderer Universitäten.32 Dagegen enthielten die von der Universität auf Aufforderung an den Minister für Hoch- und Fachschulwesen gemeldeten Forschungsthemen vom April 1972 für die Germanistik das Projekt „Schaffensprinzipien des sozialistischen Realismus in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ unter Leitung des Slawisten Roland Opitz, an dem Claus Träger als Mitarbeiter aufgeführt ist.33 Dieses Forschungsfeld tauchte dann im 1974 erstellten Folgeplan (für die Jahre 1976–1980) als Projektvorschlag unter dem Titel „Forschungen zur Theorie des sozialistischen Realismus“ wieder auf,34 es passierte erfolgreich den Weg aus der Sektion über das Rektorat ins Ministerium. Diese Projektvorschläge bedeuteten nicht zuletzt Bindung von Verlagskapazitäten, so dass die Einrichtungen auch aus diesem ganz pragmatischen ökonomischen Grund sehr daran interessiert waren, ihre Projekte im zentralen Plan zu lancieren.35 32

33 34

35

Neben den Universitäten waren zentrale Forschungseinrichtungen vorgesehen, die im Laufe des Projektes den Hauptbeitrag leisteten. Zur Geschichte dieses Projektes vgl. die Forschungsarbeiten zum Zentralinstitut für Literaturgeschichte sowie Rosenberg, Germanistik. Meldung von Schwerpunktthemen an den Minister für Hoch- und Fachschulwesen vom April 1972, in: UAL (ZM8464.47.4.), o. S. Schreiben des Prorektors der Universität Leipzig an den stellvertretenden Minister für Hochund Fachschulwesen: Vorschläge zur Aufnahme in den zentralen Forschungsplan der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften vom 4.2.1974, in: UAL (ZM 8464.47.2.), o. S. Das gelang beispielsweise nicht dem Projekt „Entwicklungsprobleme der DDR-Literatur als Teil der sozialistischen Staatengemeinschaft“ mit Walfried Hartinger als Verantwortlichem. Hartinger unterhielt u. a. enge Arbeitsbeziehungen zu Volker Braun, er galt als Spezialist für diejenige Werke und Autoren, zu deren Selbstverständnis die kritische Begleitung des DDRAlltags gehörte.

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Die Dokumente vermitteln das Bild, dass auf der Ebene der staatlichen Forschungslenkung die Literaturwissenschaftler der Leipziger Universität mehr Gestaltungsspielraum hatten, da sie ‚ihr‘ Projekt in den staatlichen Forschungsplan hineinbrachten, ohne am Pflichtprogramm der Literaturgeschichtsschreibung teilnehmen zu müssen.36 Als neue, perspektivisch aufzunehmende Grundrichtung der Forschung erschien „Das Begriffssystem der marxistisch-leninistischen Literaturwissenschaft“ in der Verantwortung von Claus Träger mit dem Ziel, ein Wörterbuch zu erarbeiten, dieses in Kooperation mit allen Universitäten der DDR und Instituten aus Moskau und Leningrad.37 Es war das einzige neue Projekt aus dem germanistisch-literaturwissenschaftlichen Bereich – eigentlich ein sehr altes, das aus Trägers Akademiezeit von 1955–1964 stammte – und das blieb es als „Leipziger Projekt“ bis zu seinem Erscheinen 1986. Die nun im Rückblick gewichtigeren literaturgeschichtlichen Editionen Trägers aus dem betreffenden Zeitraum, die (zweite) Leseausgabe von „Novalis. Dichtungen und Prosa“ von 197538 sowie der ebenfalls 1975 edierte Quellenband „Die französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur“39 tauchen in einem ganz anderen wissenschaftspolitischen Dokument auf – in einem nur sektionsinternen Bericht über den „Erfüllungsstand der staatlichen Planaufgaben zu Beginn des FS 1976“, unter der Rubrik „Publikationen“.40 Hier ist der Quellenband zudem mit einem unvollständigen Titel „Die französische Revolution im Spiegel…“ notiert. Der Berichterstatter begründet diese fehlerhafte Angabe, die er offenbar auch nicht korrigieren kann, mit der sehr persönlichen Notiz, dass die Trägers im Urlaub seien. Diese kleine handschriftliche Notiz im Schreibmaschinenmanuskript lässt nicht nur vermuten, dass Claus Träger vielleicht etwas lässig oder flüchtig mit der Auflage, der Berichterstattung zuzuarbeiten, umgegangen war. Darüber hinaus scheint man im Bereich nicht besonders gut über die Editionsprojekte des Chefs informiert gewesen 36

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39 40

Dass Forschungsprojekte zur marxistischen Realismustheorie gefördert wurden, bedarf keiner weiteren Erklärung, da diesen die Funktion zukam, den Realismusbegriff als zentrales Axiom des literaturwissenschaftlichen Diskurses bestehen zu lassen. Vielleicht erklärt dieser Schwerpunkt, aber nur dieser, die „Entlastung“ von der Erarbeitung eines Bandes der DLG. Vorschläge über Grundrichtungen der Forschung, die neu aufgenommen werden sollten für 1976–1980, in: UAL (ZM 8464.47.2.), o. S. Bereits 1961 erschien im Leipziger Reclam-Verlag „Novalis. Ausgewählte Werke“ mit einer Einleitung (17 S.). Die 1975 gemeinsam mit Heike Ruddigkeit veröffentlichte Reclam-Ausgabe „Novalis. Dichtungen und Prosa“ enthält als Einleitung „Ursprünge und Stellung der Romantik (52 S.). 1989 legte Träger eine dritte Ausgabe bei Reclam vor „Novalis. Dichtungen und Fragmente“. Hier rückt er mit seiner Sicht auf die Frühromantik in den Anhang „Geschichtlicher Ort und geschichtlicher Sinn der Frühromantik.“ (22 S.). Diese dritte Ausgabe enthält das umfangreichste Textmaterial (497 Seiten Text). Hg. von Claus Träger unter Mitarbeit von Frauke Schäfer. Fachbereich Literaturtheorie: Erfüllungsstand der staatlichen Planaufgaben zu Beginn des FS 1976, in: UAL (ZM 5171), Jahrespläne WB 1975, Bd. 117., o. S.

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zu sein. Ohne diesen Zufallsfund überstrapazieren zu wollen, bestätigt sich zumindest der Eindruck, der sich bereits aus den offiziellen Dokumenten ergibt: Neben der ‚geplanten‘ Forschung gab es eine literaturgeschichtliche Forschung, die im internen Lehrstuhlbereich sehr personalisiert in Erscheinung trat, sie vollzog sich quasi separat. Überprüft werden könnte diese Deutung beispielsweise anhand der Unterlagen über Trägers Kontakte zu seinem ‚Hausverlag‘, dem Leipziger Reclam-Verlag, dessen Beirat er in dieser Zeit angehörte. Das Verlagsarchiv enthält jedoch vergleichsweise wenig Dokumente, weder über seine Tätigkeit in diesem Beirat (bspw. Sitzungsprotokolle, Beschlüsse, Briefe, Einladungen etc.) noch Briefwechsel zu seinen Editionsprojekten.41 Aus diesem Tatbestand, dass es im unmittelbaren Arbeitsfeld des Verlages keine Spuren gibt, ließe sich hypothetisch schlussfolgern, dass viele Arbeitsvorgänge informell, also in direktem persönlichmündlichen Kontakt gelaufen sein könnten. Der Zugang zum Verlag stellte schon eine beträchtliche ökonomische Ressource dar, und für die Positionierung in der akademischen Welt diesseits und jenseits der Elbe spielte der Verlag eine noch größere Rolle als vergleichsweise die Verlage in der BRD. Nach dem institutionellen Rahmen und den politischen, d. h. staatlichen Planvorgaben wären nun die konkreten Forschungsaktivitäten zu kennzeichnen. Um auch hier vorwegzunehmen: Quantitativ gibt es keine Basis an der Universität, die den argumentativen Pool für Claus Träger hätte bilden können. Die erste, im von Claus Träger geleiteten Arbeitsbereich relevante Arbeit zur Romantikforschung war eine im Jahr 1972 abgeschlossene Dissertation, der Beginn läge somit mind. um 1969, eher davor.42 Die Verfasserin Maria-Verena Leistner arbeitete die historischen Anfänge einer bestimmten Linie der kritischen Auseinandersetzung mit der Romantik im Zeitraum zwischen „Goethe und Marx“ auf. Vor dem Hintergrund der bis dahin üblichen Praxis der Romantikkritik, diese mit Hegel, den Linkshegelianern und Heine – von Goethe ganz zu schweigen – abzustützen, sowie mit dem Blick auf die „Wende“ von 1975 lässt sich vermuten, dass diese Arbeit der Aufarbeitung der Quellen unter der neuen Perspektive diente. Die nächste Dissertation entstand in den Jahren 1976–1979 in der direkten Mentorschaft durch Claus Träger, Gabriele Rommel arbeitete u. a. die Editionsgeschichte des Novalis’schen Werkes auf.43 Der Dissertation schloss sich unmittelbar ein Habilitationsprojekt zu Novalis an. Diese durchgehen41

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Das Archiv des Leipziger Reclam-Verlages enthält 9 Schriftstücke, die sich auf Claus Träger beziehen, keines davon betrifft die Novalis-Bände. Sie stammen aus den Jahren 1961 (4 Dokumente), 1965 (1 Dokument), 1968 (1 Dokument) und 1972 (3 Dokumente). Vgl. Schreiben der Archivmitarbeiterin U. Krause an Verfn. vom 24. Januar 2008. Vorstellbar ist natürlich, dass der jetzige Bestand im Archiv nicht mehr alle Unterlagen enthält. Leistner, Romantikkritik. Rommel, Mensch.

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de Forschung berechtigt zu der Frage, ob es sich hier um eine konzeptionell begründete Fortsetzung der Frühromantikforschung Trägers handelte. Der Titel der Dissertation „Der Mensch als Universum – die Verteidigung des Humanismus in den Studien und Fragmenten Friedrich von Hardenbergs (Novalis)“ zeigt an, dass die Rettung, Rechtfertigung und Reklamierung des Frühromantikers Novalis für das sozialistische Erbe die strategischen Ziele der Arbeit sind, d. h. dass die Erbe- und indirekt auch die Realismustheorie nach wie vor die theoretischen Bezugsfelder bilden. Beide Themen – Erbeund Realismuskonzept – kennzeichneten Trägers wissenschaftliche Intention über den gesamten Zeitraum seines Wirkens. Inhaltlich konzentriert sich Rommels Arbeit in den Hauptpartien auf die naturwissenschaftlichen und philosophischen Schriften Hardenbergs. Damit schließt sie relativ direkt an einen Strang der bundesdeutschen Romantik-Forschung an, in der „der Nachweis der Nähe der romantischen Poetik zu Kategorien der idealistischen Philosophie Fichtes, Hegels, Schellings u. a.“ das Erkenntnisinteresse bildete44, aber auch an eine Arbeit Gerda Heinrichs, insbesondere zur Böhme-Rezeption bei Novalis.45 Im Verlauf der weiteren wissenschaftlichen Erarbeitung dieses Themas wurde in den achtziger Jahren eine Neuedition der Schriften Novalis’ angestrebt, denn mit dem Kommentar zu den naturwissenschaftlichen und philosophischen Schriften, der den zweiten Band der auf drei Bände geplanten Werkausgabe bilden sollte, habilitierte sich Rommel 1989.46 Zeitgleich gab Träger erneut bei Reclam ‚seinen‘ Novalis, nunmehr in der dritten Version, heraus. Kleine Veränderungen in der Textgestalt gehen auf die Forschungen seiner Schülerin zurück. Das Jahr 1989 brachte für beide das so nicht geplante Ende des Projektes, die Edition wurde bis heute nicht realisiert. Offen muss also bleiben, ob die Edition neue philologische Erkenntnisse und editionswissenschaftliche Problemlösungen gebracht hätte. Ob auch bei dieser Forschungsausrichtung von einer Rephilologisierungstendenz zu sprechen wäre, wie das Boden und Böck für die Wissenschaftsentwicklung der achtziger Jahre am ZILG formulieren47, muss als Frage stehen bleiben. Gabriele Rommel gehört seit Anfang der neunziger Jahre zu den Spezialisten der Novalis-Forschung, die sie jedoch im außeruniversitären Status, als Direktorin der Novalis-Forschungsstätte und des Novalis-Museums Schloss Oberwiederstedt, betreibt. Ihre For-

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Kremer, Romantik, S. 56. Heinrich, Aspekte. Die Habilitation ist im Manuskriptstatus mit der Ankündigung als Kommentarband zu Band 2 der im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar geplanten Werkedition und der Jahresangabe 1992 zugänglich. Vgl. Boden/Böck, Modernisierung.

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schungsgebiete sind Editionsfragen und die naturwissenschaftlich-naturphilosophischen Schriften bzw. Ideenkomplexe Novalis’.48 Die Hauptarbeit Trägers in den achtziger Jahren galt, wie es der Forschungsplan von 1976 auswies, dem „Wörterbuch der Literaturwissenschaft“, das 1986 erschien.49 Das wissenschaftsstrategische Ziel war die Normierung marxistischer literaturwissenschaftlicher Wissensbestände. Der Artikel „Romantik“ stammte hierbei von Träger und Rommel; Saadhoff betont, dass er keinerlei Spuren mehr des Lukács’schen Romantikkonzeptes aufweise.50 Es ist das einzige Mal, dass Lehrer und Schülerin gemeinsam auftreten. Das „Wörterbuch“ wurde bei seinem Erscheinen zwar gelobt, die Rezensenten nutzten es allerdings, um nachdrücklich auf der in den achtziger Jahren sich vollzogenen literaturtheoretischen Ausdifferenzierung im Sinne einer Weiterentwicklung der Disziplin zu bestehen. So diente Wolfgang Thierse nicht zufällig der von Claus Träger verfasste Artikel „Literatur“ als Exempel, um den „ontologischen, substantialistischen“ Charakter der Träger’schen „marxistischen“ Begriffsbildung aufzudecken. Er forderte, dass die (marxistischen) literaturtheoretischen und ästhetischen Begriffe (Konzepte) in ihrer Geschichtlichkeit, d. h. Veränderlichkeit, „in ihrer historischen Relativität erkennbar und diskutierbar“51 gemacht werden, dass die dialektische Methode also auch auf die eigenen Gegenstände, die marxistische Theoriebildung, anzuwenden wäre. Rosenberg bewertet diese Vorgänge als „Versuch der Modernisierung des Leitdiskurses“, was als „Erneuerung“ statt als „Auflösung“ wahrgenommen wurde.52 Ende der achtziger Jahre war nun klar, dass das von Träger repräsentierte Wissenschafts- und Literaturverständnis als heuristisch begrenzt in der Fachdebatte gewertet worden ist. Nichtsdestotrotz war es gerade Trägers ständige „Arbeit an den Begriffen“53 gewesen, die 15 Jahre zuvor zur Neukonzipierung der Literatur um 1800 als dialektische Einheit von Klassik und Romantik maßgeblich beigetragen hatte. 1984 formulierte er im Rückblick: [D]er Einsatz der Romantik (wurzelt) in der Aufklärung. […] [Eine solche Wendung der Dinge] führt zurück zu der Frage, inwiefern die […] Neubesinnung in Bezug auf die Romantik eine Reflexion über Begriff und geschichtliches Wesen der 48

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Inzwischen ist sie Mitherausgeberin von Teilbänden des Ergänzungsbandes der historischkritischen, von Paul Kluckhohn und Richard Samuel begründeten Ausgabe „Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs“. Die Herausgabe von Leseausgaben romantischer Dichter beim Reclam-Verlag ging indes weiter, so zu Wilhelm Hauff und Clemens Brentano, ebenso die Publikation methodologisch ausgerichteter literaturgeschichtlicher Aufsätze. Saadhoff, Germanistik, S. 355. Thierse, Rezension Claus Träger, S. 511. Rosenberg, Literaturwissenschaft, S. 212. Vgl. Kliche/Thierse, DDR-Literaturwissenschaft, S.  280; Rosenberg, Rez. Claus Träger, S. 226–227.

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Literatur überhaupt nach sich zieht […]. Diese Frage ist mit dem Realismusproblem verflochten.54

Träger verband ab 1967 den Realismusdiskurs mit der Neukonzipierung der Romantik55 (und der Klassik) und legitimierte dadurch diese „Neubesinnung“ im zentralen literaturwissenschaftlichen Fachdiskurs.56 Als Höhepunkt dieser Neukonzipierung erschien der Fachwelt der anfangs erwähnte Aufsatz „Ursprünge und Stellung der Romantik“. Unter dem Schutz dieser Legitimation hatten sich inzwischen andere Wissenschaftler – so z. B. HansGeorg Werner – mit anderen Erkenntnisinteressen und Methoden auf den Weg gemacht.

Literaturverzeichnis 1. Quellen Achivalien des Universitätsarchis Leipzig (UAL) Fachbereich Literaturtheorie: Erfüllungsstand der staatlichen Planaufgaben zu Beginn des FS 1976, in: UAL (ZM 5171), Jahrespläne WB 1975, Bd. 117., o. S. Meldung von Schwerpunktthemen an den Minister für Hoch- und Fachschulwesen vom April 1972, in: UAL (ZM8464.47.4.), o. S. Schreiben des Prorektors der Universität Leipzig an den stellvertretenden Minister für Hoch- und Fachschulwesen: Vorschläge zur Aufnahme in den zentralen Forschungsplan der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften vom 4.2.1974, in: UAL (ZM 8464.47.2.), o. S. Vorschläge über Grundrichtungen der Forschung, die neu aufgenommen werden sollten für 1976–1980, in: UAL (ZM 8464.47.2.), o. S.

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Träger, Geschichte, S. 19. Die Verbindung beider Forschungsfelder signalisiert Träger in der Publikation der Aufsätze „Ideen der Französischen Aufklärung in der deutschen Romantik“ (Belgrader Vortrag) und „Zur Stellung des Realismusgedankens bei Marx und Engels“ in zwei unmittelbar aufeinander folgenden Heften der „Weimarer Beiträge“ (Heft 1 und 2 des 14. Jahrgangs). Gleichzeitig orientierte der Berliner Werner Mittenzwei den 1967 erschienenen Literaturtheorieband „Positionen“ an Werner Krauss und eröffnete mit der Aufarbeitung der AntiLukács-Position Brechts eine andere Quelle für die dialektische Konzipierung bzw. ‚Erweiterung‘ des Realismus-Begriffs. Die theoretische Ausrichtung auf Brechts Ästhetik zielte auf eine aus der orthodoxen Denkweise herausstrebende marxistische Ästhetik.

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Zentraler Forschungsplan der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften der DDR (von 1971) bis 1975. (Bestätigt vom Politbüro am 11. Januar 1972), in: UAL (ZM 8464.47.4.), S. 26.

Arbeiten und Textausgaben Claus Trägers Träger, Claus: Novalis und die ideologische Restauration, in: Sinn und Form 13, Heft 4 (1961), S. 613–660. Träger, Claus (Hg.): Novalis. Ausgewählte Werke, Leipzig 1961 (= Reclams Universal-Bibliothek 9036–33). Träger, Claus: Ideen der französischen Aufklärung in der deutschen Romantik. Referat auf dem AILC-Kongress [Association Internationale de Littérature Comparée] in Belgrad 1967, in: Weimarer Beiträge 14, Heft 1 (1968), S. 175–186. Träger, Claus: Zur Stellung des Realismusgedankens bei Marx und Engels, in: Weimarer Beiträge 14, Heft 2 (1968), S. 229–276. Träger, Claus: Ursprünge und Stellung der Romantik, in: Weimarer Beiträge 21, Heft 2 (1975), S. 37–73. Träger, Claus / Heike Ruddigkeit (Hg.): Novalis. Dichtungen und Prosa, Leipzig 1975 (= Reclams Universal-Bibliothek 394). Träger, Claus (Hg.): Die französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur. Unter Mitarbeit von Frauke Schäfer, Leipzig 1975 (= Reclams Universal-Bibliothek, Sprache und Literatur, Dokumentation 597). Träger, Claus: Hermann August Korff (1882–1963), in: Namhafte Hochschullehrer der Karl-Marx-Universität Leipzig, Bd. 3, Leipzig 1983, S. 84–95. Träger, Claus: Geschichte und Romantik, Berlin 1984. (= Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie 103), zugleich Frankfurt/Main 1984. Träger, Claus: Erbe-Aneignung und Romantik-Rezeption, in: Träger, Claus: Geschichte und Romantik, Berlin 1984. (= Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie), zugleich Frankfurt/Main 1984, S. 7–25. Träger, Claus (Hg.): Novalis. Dichtungen und Fragmente, Leipzig 1989 (= Reclams Universal-Bibliothek 394).

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Romantikforschung in der DDR Hammer, Klaus / Poschmann, Henri / Schnuchel, Hans-Ulrich: Fragen der Romantikforschung, in: Weimarer Beiträge 9, Heft 1 (1963), S. 173– 182. Heinrich, Gerda: Aspekte frühromantischer Böhme-Rezeption. Böhme und Novalis, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 23, Heft 3 (1975). Krauss, Werner: Französische Aufklärung und deutsche Romantik, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der KMU Leipzig. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 12, Heft 2 (1963), S. 500–501. Krenzlin, Leonore: Gespräch mit Claus Träger, in: Zeitschrift für Germanistik 4, Heft 2 (1983), S. 142–155. Leistner, Maria-Verena: Romantikkritik im Zeitraum zwischen Goethe und Marx, Diss. Masch. Leipzig 1972. Mittenzwei, Werner (Hg.): Positionen. Beiträge zur marxistischen Literaturtheorie in der DDR, Leipzig 1969 (= Reclams Universal-Bibliothek, Sprache und Literatur 482). Rommel, Gabriele: Der Mensch als Universum – die Verteidigung des Humanismus in den Studien und Fragmenten Friedrich von Hardenbergs (Novalis), Diss. Masch. Leipzig 1979. Rommel, Gabriele: Wissenschaftlicher Kommentar zum zweiten Band, in: Friedrich von Hardenberg (Novalis): Werke in drei Bänden., Berlin/ Weimar 1992. Rosenberg, Rainer: Rez. Claus Träger: Studien zur Erbetheorie und Erbeaneignung, in: Zeitschrift für Germanistik 6, Heft 2 (1985), S. 226–229. Thierse, Wolfgang / Kliche, Dieter: DDR-Literaturwissenschaft in den siebziger Jahren. Bemerkungen zur Entwicklung ihrer Positionen und Methoden, in: Weimarer Beiträge 31, Heft 2 (1985), S. 267–308. Thierse, Wolfgang: Rezension: Claus Träger (Hg.): Wörterbuch der Literaturwissenschaft, Berlin 1986, in: Weimarer Beiträge 34, Heft 3 (1988), S. 508–513.

2. Forschungsliteratur Boden, Petra: „Es geht ums Ganze!“ Vergleichende Beobachtungen zur germanistischen Literaturwissenschaft in beiden deutschen Staaten 1945– 1989“, in: Euphorion 91 (1997), S. 247–275.

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Boden, Petra: Universitätsgermanistik in der SBZ/DDR. Personalpolitik und struktureller Wandel 1945–1958, in: Boden, Petra / Rosenberg, Rainer (Hg.): Deutsche Literaturwissenschaft 1945–1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen, Berlin 1997 (=  LiteraturForschung), S. 119–149. Boden, Petra / Böck, Dorothea (Hg.): Modernisierung ohne Moderne. Das Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR (1969–1991). Literaturforschung am Experiment, Heidelberg 2004 (= Beihefte zum Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 47). Hoffmeister, Gerhart: Forschungsgeschichte, in: Schanze, Gerhard (Hg.): Romantik-Handbuch, Stuttgart 1994 (= Kröners Taschenausgabe 363), S. 177–205. Kremer, Detlef: Romantik, 3. aktual. Aufl., Stuttgart / Weimar 2007 (= Lehrbuch Germanistik). Langermann, Martina / Barck, Simone / Lokatis, Siegfried: „Jedes Buch ein Abenteuer“. Zensur-Systeme und literarische Öffentlichkeit in der DDR bis Ende der sechziger Jahre, 2. Aufl., Berlin 1998 (= Zeithistorische Studien 9). Marquardt, Marion / Störmer-Caysa, Uta / Heimann-Seelbach, Sabine (Hg.): Kritische Fragen an die Tradition. Festschrift für Claus Träger, Stuttgart 1997 (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 340). Opitz, Roland / Petzold, Klaus (Hg.): Geschichtlichkeit – Aufklärung – Revolution. Literatur im Gang der Zeiten. Zum 80. Geburtstag von Claus Träger (1927–2005), Leipzig 2007. Peter, Klaus (Hg.): Romantik-Forschung seit 1945, Königstein/Taunus 1980 (= Neue Wissenschaftliche Bibliothek, Literaturwissenschaft 93). Rosenberg, Rainer: Literaturwissenschaftliche Germanistik. Zur Geschichte ihrer Probleme und Begriffe, Berlin 1989 (= Literatur und Gesellschaft). Rosenberg, Rainer: Zur Begründung der marxistischen Literaturwissenschaft in der DDR, in: Boden, Petra / Rosenberg, Rainer (Hg.): Deutsche Literaturwissenschaft 1945–1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen, Berlin 1997 (= LiteraturForschung), S. 203–240. Saadhoff, Jens: Germanistik in der DDR. Literaturwissenschaft zwischen „gesellschaftlichem Auftrag“ und disziplinärer Eigenlogik, Heidelberg 2007 (= Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 13). Schanze, Gerhard (Hg.): Romantik-Handbuch, Stuttgart 1994 (= Kröners Taschenausgabe 363).

Jörg Schönert

Literaturgeschichtsschreibung der DDR und BRD im Vergleich Am Beispiel von „Geschichte der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik“ (Berlin/Ost 1976) und „Die Literatur der DDR“ (München 1983)

1. Zum Gegenstandsbereich Literaturgeschichtsschreibung zählt neben Literaturtheorie und Methodologie, Edition, Kommentar und Interpretation zu den zentralen Arbeitsgebieten der Literaturwissenschaft.1 Gerade für eine Wissenschaft, die sich durch ihre Funktionen für die geschichtlich bedingte Entwicklung zur sozialistischen Gesellschaft bestimmt sieht, sind Theorie und Praxis der Geschichtsschreibung von besonderer Bedeutung. Diese Auszeichnung gewinnt zusätzliches Gewicht für den Zielbereich solcher Entwicklungen: für die Gesellschaftsbzw. Literaturgeschichte der Gegenwart. Die nachfolgenden Erhebungen und Analysen beziehen sich deshalb im Rahmen des Tagungsthemas „Germanistik in der DDR“ auf die geschichtliche Darstellung der DDR-Literatur. Ich vernachlässige dabei die Aspekte der theoretisch-methodologischen Voraussetzungen und Reflexionen zum literaturgeschichtlichen Vorgehen2, um mich auf die konkreten Konstellationen im elften Band der repräsentativen Reihe „Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart“ (GDL) konzentrieren zu können. Die für „Germanistik in der DDR“ kennzeichnenden Konzepte und Verfahrensweisen sollen durch Vergleich mit der gleichzeitigen Praxis in der BRD verdeutlicht werden am Beispiel des ebenfalls elften Bandes von „Hansers Sozialgeschichte der deut1 2

Vgl. Schönert, Literaturgeschichtsschreibung; vgl. zum Arbeitsgebiet der Edition in der literaturwissenschaftlichen Praxis der DDR auch den Beitrag von Jochen Golz in diesem Band. Vgl. dazu u. a. Schönert, Konzepte; s.a. jüngst Steinhorst, Literaturgeschichtsschreibung.

Literaturgeschichtsschreibung der DDR und BRD im Vergleich

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schen Literatur vom 16. Jahrundert bis zur Gegenwart“ (HSGDL).3 Ehe ich mich diesen Bänden zuwende4, will ich kurz den historischen Ort für die beiden Unternehmungen in der Fachgeschichte der Germanistik nach 1945 umreißen.

2. Entwicklungsphasen der Germanistik in BRD und DDR nach 1945/49 Wie ein solcher Prozess – gestützt auf aktuelle Forschungsdiskussionen5 – gegliedert werden könnte, sei in gebotener Kürze skizziert. Für die BRD wären die nachfolgenden Phasen abzugrenzen. (1) 1945– 1965: die nationalsozialistische Wissenschaftspraxis wird verdrängt durch die Rückkehr zu Verfahrensweisen aus den zehner und zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts sowie durch Strategien vorsichtiger Internationalisierung; (2a) 1965–1975: (konfliktreiche) Modernisierung durch erheblich beschleunigte disziplinäre Veränderungen und intensivierte Methodenkonkurrenz, gefördert durch den Ausbau des Hochschulsystems; (2b) 1975– 1985: die Modernisierung mündet im Methodenpluralismus, die Intensität von Forschungsdiskussionen wird geschwächt durch Überlastungen in der Lehre nach Abbruch des Hochschulausbaus (dieser Phase ist HSGDL zuzuordnen); (3) 1985–1995: es dominieren Krisenerfahrungen und Bewältigungsversuche durch Expansion zu Medien- und Kulturwissenschaft; (4) ab 1995: Problemlösungen werden vollzogen durch philologische Stabilisierung und technologische Effizienzstrategien (insbesondere durch digitale Medien und Nutzungsweisen im WWW); universitäre Strukturen werden durch bürokratische Ordnungen des Studienbetriebs (insbesondere im Bologna-Prozess) sowie durch Evaluationen, Ziel- und Leistungsvereinbarungen und sog. Exzellenzinitiativen gestaltet. Für die Konstellationen und Entwicklungen in der DDR könnte das Folgende gelten. (1) 1945–1955: „Koexistenz“ von ‚bürgerlicher‘ und mar-

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5

Für prinzipielle Aspekte des fachgeschichtlichen Vergleichs DDR/BRD siehe Danneberg/ Schernus/Schönert, Probleme. Beide Bände haben auf der Ebene der Autoren lokale Bezüge zur Region norddeutscher Universitäten: Die Ausarbeitung von GDL, Bd. 11 wurde von den Germanistischen Instituten der Universitäten Greifswald und Rostock mitgetragen; dem Herausgeber von HSGDL, Bd. 11, dem seinerzeitigen Rowohlt-Lektor Hans-Jürgen Schmitt, arbeiteten die Hamburger Germanisten Karl R. Mandelkow und Heinz Hillmann zu. Vgl. u. a. Boden, Probleme; Bogdal/Müller, Innovation; Rosenberg, Begründung; Rosenberg, Die sechziger Jahre; Saadhoff, Germanistik; Sill, Ende; Vietta/Kemper (Hg.), Germanistik; Thierse/Kliche, DDR-Literaturwissenschaft.

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xistischer Germanistik6; (2) 1955–1963/1965: die marxistisch orientierte Germanistik wird bei gleichzeitiger personeller Erneuerung (Nachwuchskader) durchgesetzt7 – die Erfahrungen im Zusammenhang mit dem UngarnAufstand 1956 können als Auslöser der neuen Entwicklungen angesehen werden8; (3) 1963/1965–1990 (konfliktreiche) Modernisierung der marxistischen Germanistik9 durch Ausdifferenzierung (bis zur Übernahme durch die BRD); diese Phase wäre noch in Teilphasen zu untergliedern: (3a) 1963/65–1973/75 sowie (3b) 1973/75–1990: Modifikationen der ‚monoparadigmatischen Konstellationen‘.10 Die Planung und Ausarbeitung des Bandes 11 der GDL gehört trotz des Erscheinungsjahrs 1976 noch in die Phase 1963/65–1973/75; Redaktionsschluss war der 31.10.1974 (der von Manfred Naumann 1973 herausgegebene Band zu „Gesellschaft – Litera6 7 8

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Vgl. Saadhoff, Germanistik, S. 133–136: „Geduldete Mehrstimmigkeit“; vgl. auch den Beitrag von Rainer Rosenberg in diesem Band. Diese personelle Erneuerung wird bis 1961 begünstigt durch zahlreiche Abwanderungen von Literaturwissenschaftler/innen in die BRD. Vgl. dazu Saadhoff, Germanistik, S. 196: Saadhoff dehnt diese Periode (im Zeichen fachexterner Oktrois für die Fachwissenschaft und der kämpferischen Umsetzung wissenschaftspolitischer Vorgaben zugunsten einer obwaltenden marxistisch-materialistischen Ausrichtung) bis 1975 aus, wobei er auch Gegenbewegungen zugunsten von ‚Fachspezifik‘ bzw. „disziplinärer Eigenlogik“ kennzeichnet (im Sinne der Modernisierungen, die ich erst für Phase 3 markiere). Somit könnte man für 1963/65–1973/75 von ersten Modernisierungsversuchen, nach 1973/75 von entschiedener Modernisierung sprechen. Vgl. dazu Boden, „Es geht ums Ganze!“, S. 254: Als ein entschiedenes Modernisierungskonzept für die Literaturwissenschaft ist das 1965 von Germanisten der Berliner HumboldtUniversität verfasste Manifest „Aktuelle Aufgaben der Germanistik nach dem XXII. Parteitag der KPdSU und dem 11. Plenum des ZK der SED“ anzusehen; ferner ebd., S. 261: Das 11. Plenum des ZK der SED von 1965 „mit seinen weitgreifenden Restriktionen“ brachte keine Restriktionen für die Wissenschaft, für die Literaturwissenschaft wird das 1962 erstmals formulierte Modernisierungsvorhaben bekräftigt und erneuert: „Maßnahmeplan zur Verbesserung der Arbeit in der germanistischen Literaturwissenschaft“. Vgl. dazu auch Rosenberg: Die sechziger Jahre, S. 171–172: Er geht aus von Modernisierung und Szientifizierung der Literaturwissenschaft in der BRD ab Mitte der sechziger Jahre; etwa zeitgleich (und bezogen auf die Annahme von neuen Konstellationen der Literatur in der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“) setze diese Entwicklung auch in der DDR ein: Nachdem in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren der Marxismus als ‚Leitdiskurs‘ für die Literaturwissenschaft etabliert worden war, wird eine ‚innermarxistische Pluralisierung‘ möglich. Zur Begründung der zeitlichen Abgrenzungen vgl. Boden, „Es geht ums Ganze!“, S. 254: 1967 wurde die „Sektion Literaturwissenschaft“ an der „Akademie der Wissenschaften“ eingerichtet; 1969 wurde das „Zentralinstitut für Literaturgeschichte“ (ZILG) gegründet. Vgl. dazu auch Boden/Böck (Hg.), Modernisierung. – Zwei literaturwissenschaftliche Publikationen gaben ‚Modernisierungssignale‘:  1973 Naumann (Hg.), Gesellschaft (vgl. dazu auch den Beitrag von Tim Reiß in diesem Band); 1981 Schlenstedt, Widerspiegelung; vgl. dazu Saadhoff, Germanistik, S. 286: Er verweist auf die Entdogmatisierung der Widerspiegelungstheorie (mit ihrer Produktionsorientierung, die auf Kosten der Aspekte von Distribution und Rezeption geht) zugunsten eines kommunikativ-funktionalen Literaturmodells für den Gesamtzusammenhang von Produktion, Distribution und Rezeption. Zudem ebd., S. 292: Die unterschiedlichen literaturtheoretischen Konzepte sind nicht mehr wie im GDL-Projekt ‚zentralisierend‘ zu vermitteln, sondern treten in Konkurrenz.

Literaturgeschichtsschreibung der DDR und BRD im Vergleich

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tur – Lesen“ wurde noch wahrgenommen und sorgte für Verunsicherungen im Redaktionsteam11, änderte aber nichts mehr an dem weitgehend abgeschlossenen Projekt).

3. Gegenwartsliteratur in der Literaturgeschichtsschreibung In den theoretischen Überlegungen zur Literaturgeschichtsschreibung stellt der Objektbereich Gegenwartsliteratur eine besondere Problemzone dar.12 Zugunsten eines Konzepts von Wissenschaftlichkeit, das eine einleuchtende Strukturierung des Gegenstandes, plausible Auswahlentscheidungen und tragfähige Bewertungen erwarten lässt, wird für die Literaturhistoriographie weithin die Auseinandersetzung mit der jüngsten Literatur ausgespart13 und der Tageskritik (etwa im Feuilleton) überlassen. Es ist naheliegend, dass in der DDR für die Geschichtsschreibung zur DDR-Literatur eine andere Vorgehensweise angezeigt und die Einbindung dieser ‚neuen Literatur‘ in einen umfassenden literaturgeschichtlichen Prozess erforderlich war – zumal in die Darstellung von Gegenwart der Literatur auch die Deutungsbilder zu Literaturvergangenheiten eingehen.14 Das starke Interesse der DDR am historiographischen Erschließen der ihr zugehörigen Literaturenwicklungen in Selbstdarstellung zieht – im Sinne der kulturpolitischen Kämpfe der sechziger und siebziger Jahre – konkurrierende Darstellungen aus Perspektiven der BRD nach sich. Diese Darstellungen der DDR-Literatur rücken bei sozialgeschichtlicher Orientierung – konzeptuell gesehen – in die Nähe der Selbstdarstellungen aus der DDR: Es gilt – mit allerdings unterschiedlicher Bewertung – ein in der Komplexität reduzierter Beeinflussungszusammenhang von gesellschaftlichen Prozessen, literaturpolitischen Vorgaben und literarischen Entwicklungen. Für die Literaturen in der DDR und der BRD jeweils eigenständige Darstellungen vorzusehen, erscheint um 1970 als ein sinnvolles Vorhaben: In den fünfziger und verstärkt in den sechziger Jahren hatten sich zwei differente Literatursysteme mit unterschiedlichen System-Umwelt-Beziehungen, Steuerungen der Systembildung und Systemkonstellationen ent11

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Vgl. Lemke, Materialien, S. 11; vgl. dazu auch Schönert, Konzepte, S. 94–95: Soll Literatur als Verarbeitung von gesellschaftlich bestimmten individuellen Erfahrungen (produktionsorientiert) verstanden werden oder als funktionaler Kommunikationszusammenhang, der auch Distributionsaspekte und Rezipientenaktivität einschließt? Vgl. prinzipiell und in historischer Perspektive für Konstellationen um 1900 Hess, Vergangenheit; für Konstellationen der siebziger und achtziger Jahre auch Schönert, ‚Der letzte Band‘. Vgl. Hess, Vergangenheit, S. 183. Vgl. Schönert, ‚Der letzte Band‘, S. 5.

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wickelt.15 Aus der Sicht von heute wäre somit die Phase 1945–1965 noch einer ‚Epoche‘ 1925–1965 als ein letzter Abschnitt und Übergang zu Neuem zuzurechnen. Die eigentliche DDR-Literatur würde dann im Laufe der sechziger Jahre sichtbar werden und wäre bereits 25 Jahre später zu ihrem Ende gekommen. Dagegen ist naheliegend, dass für die seinerzeitige Selbstdarstellung im 11. Band der GDL 1949 als das Jahr der Staatsgründung auch den Beginn der DDR-Literatur markiert. Diesen Band will ich genauer betrachten und mich dabei auf folgende Aspekte der historiographischen Vorgehensweise16 beziehen: Phasenbildung im Objektbereich17, Gegenstandsauswahl und -strukturierung, Texte und Kontexte18, Darstellungsverfahren, Arbeitsweisen (insbesondere unter dem Aspekt der Gemeinschaftsarbeit – einem für DDR-Verhältnisse geläufigen Verfahren, das für die Literaturgeschichtsschreibung der BRD eher Neuland bedeutete).

4. Vergleich der „Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart“ mit „Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrundert bis zur Gegenwart“ 4.1 „Geschichte der deutschen Literatur“ Das groß angelegte Literaturgeschichte-Projekt wurde dem Verlag Volk und Wissen zugeordnet19; der Adressatenkreis dieses Verlags war primär nicht auf ein Fachpublikum ausgerichtet, sondern auf das DDR-Programm der (ambitionierten) ‚Volksbildung‘.20 Die ersten Bände der GDL galten der 15 16 17 18 19

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Vgl. ebd., S. 7. Vgl. dazu Schönert, Literaturgeschichtsschreibung. Vgl. Schönert, ‚Der letzte Band‘, S. 5–9. Vgl. ebd., S. 11–12. Vorausgegangen war die Reihe der (nach Epochen gegliederten) „Erläuterungen zur deutschen Literatur, herausgegeben vom Kollektiv für Literaturgeschichte im volkseigenen Verlag Volk und Wissen“, deren literaturgeschichtliches Konzept noch von den Konstellationen der DDR-Germanistik in der Phase von 1955 bis 1963/65 (im Sinne der fortschreitenden Formierung der marxistischen Literaturwissenschaft) geprägt war. Bis 1967 erschienen epochengeschichtliche Darstellungen von der „Aufklärung“ bis „Zur Literatur nach 1848“. Die „Erläuterungen“ verstehen sich nicht als „Literaturgeschichte“, sondern als „Handbuch“ mit „monographischen Kapiteln“ zu den wichtigen Repräsentanten der jeweils darzustellenden „literarischen Strömung“ (Vorwort, in: Böttcher, Kurt/Mittenzwei, Johannes/Berger, Karl Heinz, Romantik, S. 5). Vgl. als Parallelunternehmung im Aufbau-Verlag (Berlin/Weimar) die „Bibliothek deutscher

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Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit: Die Bände 1,1 und 1,2 sowie 4 und 5 wurden im Zeitraum von 1960 bis 1964 erstmals publiziert; Bd. 2 (zum Hochmittelalter) erschien erst 1990 als deutsch-österreichisches Gemeinschaftswerk, Bd. 3 (zum Spätmittelalter) ist nicht mehr fertiggestellt worden. Im Vorwort zu Bd. 1,1 (S. V–VIII in der Auflage von 1963) heißt es: Vor mehr als zehn Jahren [begann] ein kleiner Kreis von Literaturwissenschaftlern, einem Auftrag der Partei der Arbeiterklasse folgend, mit Hilfe aller verfügbaren und bereitwilligen Kräfte eine umfassende marxistisch-leninistische Geschichte der deutschen Literatur vorzubereiten und auszuarbeiten […]. (S. V)

Nun sorgten für das Gelingen „mehr als hundert Germanisten in sozialistischer Gemeinschaftsarbeit“ (S. VIII). Erst ab 1973 wurden die Bände veröffentlicht, die der Neueren deutschen Literatur (im engeren Sinn: beginnend mit dem Ausgang des 17. Jahrhunderts) zuzurechnen waren21: 1973: Bd. 10 (1917–1945), 1974: Bd. 9 (Ausgang 19. Jh. bis 1917), 1975: Bd. 8,1 und 8,2 (1830 bis Ausgang 19. Jh.), 1976: Bd. 11 (Literatur der DDR), 1978: Bd. 7 (Goethezeit), 1979: Bd. 6 (Aufklärung); 1983 – gleichsam als ‚Spätgeburt‘ – erschien Bd. 12 (Literatur der BRD). Als Fazit für das GDL-Projekt stellt Hans Jürgen Geerdts fest: Die gemeinsame Arbeit und Diskussion zu dieser literaturgeschichtlichen Reihe haben zum „Aufschwung“ der Germanistik in der DDR geführt.22 Für Band 11 gilt (so eines der Vorsatzblätter): „Die Erarbeitung des Bandes wurde besonders gefördert durch das Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Lehrstuhl Kultur- und Kunstwissenschaften“ (Horst Haase) und „unterstützt“ durch die Germanistik der Universitäten Greifswald und Rostock. Der Klappentext bemerkt: „Im vorliegenden Band wird erstmals vom marxistischen Standpunkt ausführlich und geschlossen die Herausbildung und Entfaltung der sozialistischen Nationalliteratur der Deutschen Demokratischen Republik dargestellt;“ das gelte im Bezug auf „gesellschaftliche Grundlagen dieser Entwicklung“, „schöpferische Wechselbeziehungen zur sozialistischen Weltliteratur“ und das Markieren von „drei Entwicklungsstufen“ – mit Rücksicht auf die Gesamtentwicklung des „allgemeinen Literaturprozesses und der Genreentwicklungen“. Zu berücksichtigen seien die dazu erbrachten Beiträge einzelner Schriftsteller und die „Interpretation bedeutender literarischer Werke“, unter Einbezug von Kinder- und Jugendliteratur sowie von Unterhaltungsliteratur. Der Band bezeugt, daß die Schriftsteller der Deutschen Demokratischen Republik auf der Grundlage ihrer antiimperialistischen und sozialistischen Grundposition

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Klassiker“. Vgl. dazu Thierse/Kliche, DDR-Literaturwissenschaft, S. 268. Vgl. Hillich, Materialien, S. 48.

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sowohl in der Bewahrung progressiver Traditionen der deutschen und der Weltkultur als vor allem durch die ästhetische Aneignung der sozialistischen Wirklichkeit zur Entwicklung einer demokratischen und sozialistischen Weltliteratur beigetragen haben. (Klappentext)

Der Band 11 erschien 1976, in dem Jahr einer schweren kulturpolitischen Krise für die DDR-Literatur; sie wurde ausgelöst durch die Ausbürgerung Biermanns und die nachfolgenden DDR-internen Proteste. Doch hatten diese Ereignisse keinen Einfluss auf die Ausarbeitung des Bandes; seine Redaktion war bereits zwei Jahre zuvor am 31.10.1974 abgeschlossen worden. Anzunehmen ist jedoch, dass sich implizite Reaktionen ergaben auf die anfangs der siebziger Jahre in der BRD erschienenen ausführlichen Darstellungen zur DDR-Literatur23, die zumeist von ehemaligen Staatsbürgern der DDR (sog. ‚Renegaten‘) verfasst worden waren. In Endnote 8 zum letzten Teilkapitel des Bandes 11 werden die „Entstellungen und Verleumdungen in diesen Publikationen“ gebrandmarkt (S. 830, vgl. auch S. 783: diese historiographischen Darstellungen aus der BRD würden den Entwicklungen der DDR-Literatur nicht gerecht). In dem wichtigen Beitrag von Wolfgang Thierse und Dieter Kliche aus dem Jahr 1985 mit dem Titel „DDR-Literaturwissenschaft in den siebziger Jahren. Bemerkungen zur Entwicklung ihrer Positionen und Methoden“ heißt es eingangs: Die siebziger Jahre seien „für die Literaturwissenschaft ein Jahrzehnt heftiger methodologischer Wandlungen, Neuerungen, Irritationen und Bereicherungen“ gewesen24; da die Ausarbeitung von Band 11 jedoch weithin von den Konstellationen der späten sechziger Jahre geprägt ist25, sind solche Entwicklungen der siebziger Jahre kaum von Relevanz. So bilanzieren auch Thierse und Kliche: Die GDL war methodologisch der Versuch, die traditionelle produktionsästhetische Betrachtung wie die Praxis, Literaturgeschichte als Geschichte von Autoren und Werken zu betreiben, zu überwinden, indem die materiellen, organisatorischen, sozialen Bedingungen von literarischer Produktion und Rezeption – über das Konzept der „Literaturverhältnisse“26 – einbezogen27 und indem die Werkpro23 24 25 26

27

Vgl. insbesondere die Buch-Publikationen von Konrad Franke (1971), Fritz J. Raddatz (1972) und Hans Dietrich Sander (1972). Thierse/Kliche, DDR-Literaturwissenschaft, S. 267. Vgl. ebd., S. 269, sowie Rosenberg, Begründung, S. 226. Vgl. dazu Lemke, Materialien, S. 11; vgl. als korrespondierendes (aber anders metaphorisiertes) Konzept zu den ‚Literaturverhältnissen‘ in der Literaturwissenschaft in der BRD das ‚Literarische Leben‘; systematisch ausgearbeitet werden diese Perspektiven im Programm der ‚Sozialgeschichte der Literatur‘. Dazu Schönert, Konzepte, S. 99: Auch für die DDR-Literaturwissenschaft gilt, dass die „Geschichte des Entstehens von Literatur [...] nicht die Literaturgeschichte“ ist, doch wird in den DDR-Diskussionen nicht hinreichend geklärt, wie ‚Gesellschaftsverhältnisse‘ und ‚Literaturverhältnisse‘ zusammenhängen. Zur Erklärung werden – beispielsweise – naheliegende systemtheoretischen Annahmen nicht genutzt (ebd., S. 106).

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duktion in gesellschaftliche, kommunikative Zusammenhänge – über das Begriffspaar „Wirklichkeitsverhältnisse und literarische Gestaltung“ – gebracht wurde.28

Erreicht werden sollten „Abwendung von Literaturimmanenz“ und „Überwindung des engen Literaturbegriffs“.29 In den kritischen Stellungnahmen aus der DDR zum Band 11 wurde festgehalten, dass das ehrgeizige Konzept einer Verbindung von Textanalysen, kontextuellen Bedingungen, Autorenbiographien, Rezeptionsweisen usw. (in den Zusammenhängen von Produktion, Verbreitung und Rezeption der Literatur) nur eklektisch bedient werden konnte und letztlich reduziert war auf die Abhängigkeit der Literatur von den Wirklichkeitsbezügen, die sich methodologisch im Widerspiegelungsmechanismus erschöpften.30 In den späten siebziger Jahren erwies sich die GDL – so Thierse und Kliche – als „Ausgangs- und Abstoßpunkt nachfolgender Projekte [...], in denen sowohl literaturgeschichtliche Forschungsfelder in Spezialuntersuchungen ausgeschritten […], als auch methodische Ansätze weiterverfolgt, entfaltet und überprüft“ wurden; zu einer „theoretisch-methodologischen Debatte über die Ergebnisse der GDL“ sei es „leider“ nicht gekommen31; die Diskussionen hätten sich rasch von prinzipiellen Problemen der Literaturgeschichtsschreibung32 auf „Probleme der Theorie und Praxis des Erbes“ 33 verlagert – mit heftiger Kritik an der in GDL zugrunde gelegten Erbe-Konzeption. Ausführlich bezieht sich Rainer Rosenberg in einem 1997 publizierten Beitrag auf die Bände der GDL zur Neueren deutschen Literatur34: Im wesentlichen bestimmen – so Rosenberg – drei Perspektiven die Konzeption: (1) eine gesellschaftstheoretische – das geistige Leben einer Gesellschaft sei abhängig von der materiell-ökonomischen Basis –, (2) eine geschichtsphilosophische – mit dem Entwicklungsziel der klassenlosen Gesellschaft – , (3) 28 29 30 31 32

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Thierse/Kliche, DDR-Literaturwissenschaft, S. 268. Ebd. – Vgl. auch ähnliche Tendenzen in der Literaturwissenschaft der BRD im Zeichen von ‚Sozialgeschichte der Literatur‘. Vgl. ebd., S. 269. Ebd. Wie etwa zur Periodisierung allgemeingeschichtlicher und literaturgeschichtlicher Prozesse – vgl. dazu auch Schönert, Konzepte, insbes. S. 92–95: u. a. zur Verschränkungen von gesellschaftsgeschichtlichen Prozessen und politischen Ereignissen mit Literaturgeschichte; ferner zu Nationalliteratur und Weltliteratur, zu ‚Realismus‘ (Widerspiegelungen gesellschaftsgeschichtlicher Erfahrungen und Handlungsmuster in der Literatur) sowie zur Wertung (Bewertung von Autoren und Texten – insbesondere mit Bezug auf das Realismus-Problem). Thierse/Kliche, DDR-Literaturwissenschaft, S. 269. Rosenberg, Begründung; es finden sich jedoch keine spezifischen Ausführungen zu Band 11; nur nebenbei erwähnt der Fachhistoriker das GDL-Projekt in: Rosenberg, Die sechziger Jahre. – Keinen eingehenden Bezug auf den GDL-Band 11 nimmt das „Rundtischgespräch“ zu ‚35 Jahre DDR-Literatur‘, in: Weimarer Beiträge 30,10 (1984), S. 1589–1616; das Gespräch führten Horst Haase, Walfried Hartinger, Ursula Heukenkamp, Klaus Jarmatz, Joseph Pischel und Dieter Schlenstedt.

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eine gnoseologisch-ästhetische – im marxistischen Sinne sei Kunst als eine eigene Form der Erkenntnis zu verstehen.35 Für die GDL gelte „Literaturgeschichte als Teil eines zielgerichteten gesellschaftlichen Gesamtprozesses“36; literarische Leistungen würden danach bewertet, inwieweit sie diesen Prozess unterstützten. Daraus leite sich auch das entscheidende Wertkriterium des Realismus ab: Inwieweit eröffnet Kunst Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten, die dem jeweils aktuellen Stand der gesellschaftlichen Entwicklungen angemessen sind.37 Der negativ besetzte Gegenbegriff zu ‚realistisch‘ ist ‚modernistisch‘.38 Mit diesen Festlegungen habe man – so Rosenberg – in der GDL „an der Literatur vorbeigeschrieben“39; das Unternehmen sei in seiner ideologiegeschichtlichen Ausrichtung noch den geistesgeschichtlichen Traditionen des späten 19. Jahrhunderts verbunden. Nach diesen Einschätzungen zum Gesamtunternehmen der GDL wende ich mich wieder dem Band 11 zu. Die Hauptbeiträger sind Professoren für Germanistik; Hans Jürgen Geerdts und Walter Pallus lehrten an der Universität Greifswald, Erich Kühne an der Universität Rostock; Horst Haase (Jg. 1929) war von einer Professur an der Universität Leipzig 1969 als Forschungsbereichsleiter an das „Institut für marxistisch-leninistische Kultur- und Kunstwissenschaften“ der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED berufen worden40 – ein Zeichen dafür, dass dieser Germanist auch ein treuer Parteisoldat war. Diese Einschätzung gilt ebenso für den Mitherausgeber Hans Jürgen Geerdts (Jg. 1922)41; zusam35 36 37 38

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Vgl. Rosenberg, Begründung, S. 227. Ebd. Ebd., S. 228. Vgl. ebd., S. 236: Erst nach dem Erscheinen der GDL-Bände werde von dieser Opposition abgerückt und eingeräumt, dass modernistische Verfahren auch mit sozialistischer Gesinnung verbunden sein können. Ebd., S. 238–239; vgl. schon Schlenstedt, Literatur, S. 36: In Band 11 der GDL werde Literatur „als Nachvollzug ideologischer Leitlinien, als Erfüllung kulturpolitischer Programme und als Illustration großer Geschichte“ interpretiert. Vgl. Lemke, Materialien, S. 8: Die Akademie für Gesellschaftswissenschaften war nachhaltig beteiligt an der „Durchführung der Kultur- und Kunstpolitik der SED“ (intensiv beeinflusst u. a. von Hans Koch). Zu Geerdts und Haase informieren die Interviews in Hillich, Materialien, und Lemke, Materialien. Geerdts schloss 1952 seine Promotion an der Universität Jena bei Joachim Müller ab, er habilitierte sich 1956 und erhielt anschließend eine Dozentur an der Universität Greifswald (wo es zu ideologischen Konflikten mit Hans-Friedrich Rosenfeld und Hildegard Emmel kam; vgl. den Beitrag von Kersten Krüger in diesem Band), 1958 wurde Geerdts in Greifswald zum Professor ernannt; seit den fünfziger Jahren kooperierte Geerdts mit Walter Pallus – insbesondere im konfliktreichen Aufbau einer ‚sozialistischen Germanistik‘ an der Universität Greifswald (vgl. Hillich, Materialien, S. 47–48); zeitgleich zum Projekt der GDL, Bd. 11 konzipierte Geerdts die von einem Autorenkollektiv unter seiner Leitung in zwei Bänden (1974 und 1979) herausgegebene Publikation „Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. Einzeldarstellungen“. Haase studierte an der Humboldt-Universität

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men zeichneten Haase und Geerdts verantwortlich für die ‚Überbau-Kapitel‘ zu „Gesellschaftliche Entwicklung und Literaturverhältnisse“, Haase übernahm die „Einleitung“ für Band 11 und das Lyrik-Kapitel, Geerdts den „Ausblick“ und gemeinsam mit Walter Pallus das Kapitel zur Prosa, Erich Kühne war verantwortlich für das Kapitel zur Dramatik. Dissens unter den Autoren entstand vor allem in Fragen der Bewertung literarisch-künstlerischer Leistungen.42 Band 11 ist nach einem teleologischen Konzept in drei kleinteilige Phasen gegliedert: Sie beziehen sich auf „Vorbereitung“, „Herausbildung“ und „Entfaltung“ der „sozialistischen Nationalliteratur“: (1) 1945–1949, (2) 1949 bis Anfang 1960, (3) erste Hälfte der sechziger Jahre bis Anfang 1970. Als Basisannahme gilt: Neue gesellschaftliche Verhältnisse (auf dem Weg zum entwickelten Sozialismus) führen auch zu einer neuen (sozialistischen) Literatur, die sich auf ein humanistisches literarisches Erbe aus vorsozialistischen, bürgerlichen Konstellationen und auf das revolutionäre Erbe der Arbeiterklasse stützen kann. Dieser Erbe-Komplex wird als „demokratische Literatur“ bezeichnet. Daraus werden für Phase 1 – sozusagen die ‚Vorgeschichte zur DDR-Literatur‘ – auch Autoren berücksichtigt, die nicht in der SBZ lebten, sich jedoch durch eine (den SBZ-Konstellationen korrespondierende) antifaschistische bzw. antiimperialistische Gesinnung auszeichnen – wie etwa Thomas Mann oder Wolfgang Borchert. Die Teilkapitel zu den drei beschriebenen Phasen folgen einem wiederkehrenden Aufbauschema zur Tiefenstaffelung: Sie beginnen mit „Gesellschaftliche Entwicklung und Literaturverhältnisse“, es folgt der Aspekt „Wirklichkeitsverhältnis [im Sinne von ‚wünschenswertem Realismus‘] und literarische Gestaltung“, schließlich werden die Gattungen und einzelne Genres dargestellt – mit unterschiedlicher Reihenfolge von Lyrik, Dramatik und Erzählprosa, wobei Erzählprosa im Umfang dominiert. Die Gattungskapitel sind in der Folge von thematischen Aspekten, zuzuordnenden Autoren und deren Texten strukturiert. Kinder- und Jugendliteratur wird nur mit geringen Anteilen einbezogen; für die programmatisch aufgenommene Unterhaltungsliteratur werden stellvertretend Abenteuer- und Kriminalliteratur sowie „wissenschaftlich-phantastische Literatur“ (Science Fiction) im Bereich Erzählprosa im bescheidenen Umfang vorgestellt. Ein prägendes Charakteristikum für die Verfahrensweise in der GDL sind die zahlreichen Abbildungen; in Band 11 gelten sie der Bildenden Kunst, beziehen sich auf Fotos zur Zeitgeschichte, auf Szenenfotos zu Theater und Film, Buchillustrationen sowie auf Reproduktionen zu Plakaten, zu Berlin, wurde dort 1956 promoviert, habilitierte sich 1963 und wurde 1964 als Professor an die Universität Leipzig berufen, wo er bis 1969 in der Germanistik eine führende Rolle einnahm (vgl. Lemke, Materialien). 42 Vgl. Hillich, Materialien, S. 47. – Zu Einzelheiten der kooperativen Vorgehensweise finden sich im Band 11 keine Aussagen.

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Programmzetteln, Schutzumschlägen; sie zeigen Buchausschnitte, Faksimiles zu Handschriften und Typoskripten. Diese Darstellungsweise suggeriert Vitalität und Vielfalt der Literaturverhältnisse und spricht auch nicht-akademische Leser an. Insgesamt umfasst Band 11 rund 900 Seiten, davon sind etwa 100 Seiten dem Anhang vorbehalten. Mit Endnoten wird sparsam umgegangen (40 Seiten), dort sind die bibliographischen Angaben zur zitierten Literatur integriert; es gibt kein gesondertes Literaturverzeichnis. Vergleichsweise umfangreich (knapp 40 Seiten) sind die Erläuterungen und Herkunftsnachweise zu den Abbildungen. Den Band beschließt ein ausführliches und detailliertes Personen- und Werkregister. Dieses Register betont den prinzipiellen enzyklopädischen Anspruch des Bandes: Es sind möglichst viele Autoren und Werke zu erfassen; Wertungen zur Auswahl und Gewichtung haben nur nachgeordnete Bedeutung. In exemplarischer Weise soll Teil III dieses Bandes betrachtet werden: die – so heißt es – „Entfaltung der sozialistischen Nationalliteratur der Deutschen Demokratischen Republik (Von der ersten Hälfte der sechziger Jahre bis zum Beginn der siebziger Jahre)“; es sind fast 300 Seiten (S. 495– 785). Die zeitliche Eingrenzung wird nicht auf bestimmte Ereignisse als Zäsuren bezogen – wie etwa den Bau der Mauer in Berlin 1961 oder den Wechsel in der politischen Führung von Ulbricht zu Honecker 1971. Diese politischen Ereignisse erscheinen nur als implizite Markierungen eines fortlaufenden Literaturprozesses im Aufbau des Sozialismus in der DDR, der nach 1971 zur „Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ führt (S. 495). In den vorausgegangenen zehn Jahren sei die Literatur „zu einem festen Bestandteil des gesellschaftlichen Fortschritts“ (ebd.) geworden; etwa in der Mitte dieser Phase ist das 11. Plenum des ZK der SED 1965 zu beachten; es führt zur ideologische Festigung im Inneren (zur entschiedenen Abwehr von Kritik und Revisionismus) und zur Stärkung nach außen (gegen die Kritik an den DDR-Verhältnissen und die – so wird formuliert – Bedrohungen des Imperialismus). Die dargestellte Entwicklung einer sozialistischen Literatur steht im Zeichen des permanenten Aufschwungs und wachsenden Reichtums; problematische Konstellationen werden nicht sichtbar. Allerdings finden sich immer wieder Hinweise darauf, dass die Literatur die neuen (und definitionsgemäß lösbaren) Widersprüche der entwickelten sozialistischen Gesellschaft aufgreift und gestaltet, so beispielsweise in der Lyrik von Günter Kunert (S.  725–728) oder Volker Braun (S.  749–755). Hervorgehoben wird, dass in dieser Phase die hohe literarische Produktivität begleitet wird von intensiver öffentlich-essayistischer Reflexion über die Funktionen von Literatur.43 43

Vgl. etwa Wolf, Lesen und Schreiben; der gleichnamige Essay entstand bereits 1968.

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Für die Erzählprosa (S. 523–636) erscheint als zentrales Thema die Ausbildung einer „sozialistischen Persönlichkeit“. Ausführlich werden die Vorzeige-Autoren Erwin Strittmatter, Erik Neutsch, Hermann Kant, Franz Fühmann und Christa Wolf behandelt, ebenso das erzählerische Spätwerk von Anna Seghers („Das Vertrauen“ als charakteristischer Roman für diese Phase); dahinter rangiert eine stattliche Kohorte der eher Zweitrangigen vom Typus Werner Heiduczek. Die Darstellung will den quantitativen Reichtum und qualitativen Wert der DDR-Literatur erweisen. Im Genrespektrum der Erzählprosa erscheinen neben den Romanen und Erzählungen die Kurzgeschichten und Reportagen; darüber hinaus wird kurz die gut ausgebildete „Abenteuer-, Kriminal-, wissenschaftlich-phantastische und feuilletonistische Literatur“ (S. 609–617) betrachtet. Die Dramatik dieser Phase ist „auf der Suche nach neuen Wegen“; ihr wichtiges Thema sei die „Bewährung des Menschen im Sozialismus“; im Vergleich mit der Erzählprosa erfolgen entsprechende Darstellungen mitunter aber in „stofflicher und inhaltlicher Enge“ (S. 637). Aus der großen Zahl von heute kaum noch rezipierten Dramatikern und Dramen heben sich durch besonderen künstlerischen Anspruch Peter Hacks, Heiner Müller und Volker Braun heraus. Aber auch in diesem Kapitel werden – ähnlich wie in der Erzählprosa – keine deutlichen Abstufungen vollzogen zu einer großen Gruppe von heute weithin nicht mehr geläufigen Autoren wie Hammel, Stolper, Kerndl oder Baierl (vgl. S. 679). Kurz wird – mit kritischen Untertönen – auf den Publikumserfolg von Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“ (1972) eingegangen; einbezogen werden zudem Ausführungen zum Fernsehspiel (S. 693–709). Das literarische Engagement für die entwickelte sozialistische Gesellschaft wird auch für den Gattungsbereich der Lyrik betont (vgl. S.  711); erneut findet sich eine enzyklopädische Fülle von Namen; die meisten sind heute bereits vergessen. Autoren wie Günter Kunert, Volker Braun, Karl Mickel sowie Sarah und Rainer Kirsch gilt besondere Aufmerksamkeit, ohne dass sie dabei eine Sonderstellung erhalten. Ein sehr knapper Ausblick von fünf Seiten (S. 780–785) erfasst auch Entwicklungen nach 1971 – im Wesentlichen werden der gesellschaftliche und der kulturpolitische Bereich angesprochen, nur wenige Hinweise beziehen sich auf Autoren und Einzelwerke (vgl. S. 785); die Überschrift: „Entwicklungstendenzen der DDR-Literatur in den siebziger Jahren“ (S. 780) wird in der Darstellung nicht eingelöst. Herausgehoben ist der VII. Schriftstellerkongress im Jahr 1973 – im Verweis auf die dort ‚herrschende Meinung‘, dass sich der Schriftsteller der DDR nunmehr „in einer Zeit“ befinde, „in der der Künstler, der vom sozialistischen Standpunkt aus schreibt, Ermutigung und Aufschwung erhält.“ (S. 781; Zitat aus der „Begrüßungsrede“ von Anna Seghers); dabei würden auch „die neuartigen Widersprü-

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che des Sozialismus“ (ebd.) erkannt und dargestellt.44 Schließlich wird im Rückblick auf fast 25 Jahre DDR-Literatur bilanziert: Einengungen und Behinderungen der Literaten in früheren Phasen seien überwunden zugunsten von umfassenden Ermutigungen und Förderungen. Das Programm des Sozialismus wolle neben materiellen Bedürfnissen der Menschen auch ihre kulturellen Bedürfnisse befriedigen (vgl. S. 782). Nach 1971 seien „die Ansprüche an die Mannigfaltigkeit der Themen, Sujets und Darstellungsweisen“ (ebd.) gewachsen; auch international finde „die DDR-Literatur […] immer mehr Anerkennung“ (S.  783). Kurzum – nicht nur in Wirtschaft und Sport gilt: Wir sind wer! Der rhetorische Nachweis dazu erfolgt im Stil der Prüfung von Produktivitätsplänen; das Vertrauen auf eine gute Zukunft der DDR-Literatur (vgl. S. 785) sei gesichert. Ich gehe nun über zum Band 11 von „Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur“, der Darstellung zur Literatur der DDR aus der Sicht von Literaturwissenschaftlern der damaligen Bundesrepublik Deutschland. Ich habe diese literaturgeschichtliche Reihe ausgewählt, weil die „Sozialgeschichte der Literatur“ (nicht zuletzt) als perspektivenreicherer Gegenentwurf zur dogmatisch begründeten marxistisch-materialistischen Literaturwissenschaft der DDR entwickelt wurde.

4.2 „Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur“ Da ich mich bereits 1985, also vor mehr als 20 Jahren, mit dem Problem „Literaturgeschichtsschreibung als Sozialgeschichte der Literatur“ befasst hatte45, kann ich es für Band 11 bei Feststellung belassen, dass sich im Konzept für Band 11 eine sozialgeschichtliche Perspektivierung der Literaturgeschichte gut anlegen ließ, indem die Geschichte der DDR-Literatur programmatisch auf ihre Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Verhältnissen und die Steuerung durch Kulturpolitik festgelegt wurde. Diese naheliegende Konstellation mag auch ein Grund dafür sein, dass der Band 11 bereits drei Jahre nach dem ‚Prototyp‘ der Hanser-Reihe, dem vom Gesamtherausgeber Rolf Grimminger verantworteten 3. Band zur Literatur der Aufklärung (1980), veröffentlicht wurde. Erst 1986 folgte Bd. 10 (zur Literatur der BRD bis 1967), im Jahr darauf erschien Bd. 4 (Klassik/Romantik). Nach 1987 entstand eine Pause von fast 10 Jahren bis zum Erscheinen eines weiteren Bandes. 44

45

Vgl. dazu etwa auch Schlenstedt, Literatur, S.  39: Literatur in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft müsse nicht ‚einheitlich sozialistisch‘ sein; für sie gelte als Zukunftsperspektive die weitere gesellschaftliche Entwicklung vom Sozialismus zum Kommunismus. Vgl. (als Wiederabdruck) Schönert, Elend.

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HSGDL ist im Gegensatz zur national-repräsentativen GDL ein Verlagsprodukt, das mit den literaturgeschichtlichen Reihen anderer Verlage konkurriert.46 Waren für die GDL externe Gutachten bestellt und für Band 11 an prominenter Stelle ausgewiesen47, so wurden die Autoren des Bandes 11 von HSGDL allein von Hans-Jürgen Simm, dem Lektor des Verlages, beraten. Dabei zeichneten die Autoren in HSGDL namentlich für ihre jeweiligen Kapitel (über die man sich in Kolloquien der Beiträger zum Band abstimmte), während sich in der GDL mit den namentlich genannten Verfassern der Teilkapitel nur eine pauschalisierte Autorschaft verband, die durch nicht näher bezeichnete Zuarbeit weiterer Literaturwissenschaftler/ innen ergänzt wurde. Die Autoren für den Band 11 von HSGDL sind Hochschullehrer und publizistisch tätige Literaturwissenschaftler. Der Herausgeber Hans-Jürgen Schmitt verfolgte keine Universitätskarriere48; ab 1969 war er Lektor im S. Fischer-Verlag, 1973 veröffentlichte er in der Reihe „edition suhrkamp“ Bd. 649 zur „Expressionismusdebatte“49, 1983 übernahm er ein Lektorat im Rowohlt-Verlag. Schmitt wurde 1938 geboren und hat vermutlich zunächst in der SBZ und DDR gelebt, denn er widmet sein Einleitungskapitel zu Band 11 Kurt Batt, dem Cheflektor des Rostocker Hinstorff-Verlags, als „dem Freund und Förderer“ (S. 15). Vier der Autoren sind zu Beginn der achtziger Jahre als Professoren aktiv: Karl Robert Mandelkow (der älteste, Jg. 1926), Heinz Hillmann, Harald Hartung und Bernhard Greiner (der jüngste, Jg. 1943); sechs Autoren übten kein akademisches Lehramt aus, hier ist Heinrich Küntzel (Jg. 1933) der älteste. Aufschlussreich wäre es, den kompakten Band 11 als Gemeinschaftsarbeit im Vergleich mit den frühen (zumeist sehr umfangreichen) und individuell verantworteten Darstellungen zur DDR-Literatur aus den Jahren 1971/72 in den jeweils relevanten Spezifika zu kennzeichnen – insbesondere mit Konrad Frankes Handbuch; darauf muss ich hier verzichten und beschränke mich auf die Charakteristika des 11. Bandes von HSGDL. Zur Verfahrensweise und zum methodologischen Konzept finden sich nur wenige präzise Angaben in der kurzen „Vorbemerkung“ (S. 7–11) des Herausgebers. Die sozialgeschichtliche Orientierung wird angestrebt durch den postulierten Bezug von Literatur auf „soziale[.] Wirklichkeit“, die lite46 47

48 49

Dazu ebd. Die beiden Hauptgutachten wurden eingeholt von Dieter Schiller und dem Moskauer Literaturwissenschaftler Aleksandr L. Dymšic, der einer Gruppe sowjetischer Literaturwissenschaftler angehörte, die zeitgleich eine Geschichte der DDR-Literatur erarbeiteten; darüber hinaus wurden drei (gattungsbezogene) Teilgutachten erstellt. Er nahm lediglich Lehraufträge (Anfang der Siebziger) an der Universität Frankfurt/Main wahr. Vgl. als weitere Buchpublikation von Schmitt, Realismuskonzeptionen (Dokumente zum 1. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller).

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rarisch-ästhetisch „verarbeitet“ wird (S. 7). In dieser Betrachtungsweise soll die „Eigenart“ von Literatur bewahrt werden, indem die soziale Referenz von Literatur wie ihre ästhetische Eigengesetzlichkeit gleichermaßen zu beachten sind (vgl. S. 7–8). Dabei soll eine Antwort auf die Zentralfrage gefunden werden, ob die Entwicklung der Literatur in der DDR als Folge der gesellschaftlichen Entwicklungen zu verstehen sei. Diese Frage war für den Band 11 der GDL die leitende Annahme für die historiographische Darstellung gewesen. Auch die Autoren von HSGDL weisen der Kulturpolitik eine entscheidende Rolle in der Vermittlung von gesellschaftlichen und literarischen Prozessen zu, doch sollen Kulturpolitik und Literaturentwicklung nicht im Sinne mechanischer Kausalität verschränkt werden (vgl. S. 10) – darüber hinaus erfolgen keine weiteren Aussagen zum sozialgeschichtlichen Programm. Im Gegensatz zur GDL kommt HSGDL ohne Illustrationen aus, versammelt Endnoten auf 37 Seiten und erstellt auf 20 Seiten ein Literaturverzeichnis; 43 Seiten füllen ein detailliertes Personen-, Werk- und Periodikaregister sowie ein ausführliches Sachregister. Der Band mit knapp 600 Seiten hat also einen Haupttext von etwa 500 Seiten. Auf die Gliederung des Haupttextes will ich nun eingehen. Die Einleitung des Herausgebers skizziert mit Bezug auf kennzeichnende Rezeptionsvorgänge die in der BRD dominierenden Einstellungen zur DDR-Literatur. Im 1. Teil des Bandes (ca. 25% vom Haupttext) wird zunächst das besondere Profil der DDR-Literatur unter dem Aspekt von „Literatur und Politik“ bestimmt – mit dem Schwerpunkt „Literaturbetrieb als Staatsmonopol“ (S. 45–77), woraus auf eine staatlich gelenkten Literaturentwicklung (mit Hilfe von Disziplinierungs- und Förderungsmaßnahmen) geschlossen wird. Aus diesen Vorgaben entsteht eine kenntnis- und faktenreiche, kritische Darstellung. Der folgende Artikel von Karl R. Mandelkow zur „literarische[n] und kulturpolitische[n] Bedeutung des Erbes“ (S.  78–119) gilt einem Schlüsselbegriff für Literaturgeschichtsschreibung der DDR-Literatur; ein neuer Umgang mit dem Erbe sei mit Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“ (1972) markiert worden. Seltsamerweise werden erst im dritten Unterkapitel des 1. Teils dieses Bandes die politischen Grundlagen für die Literaturentwicklungen aufgezeigt: Der Publizist Peter Lübbe schreibt knapp und entschieden kritisch zum „real existierenden Sozialismus“ in der DDR (S. 120–130). Im 2. Teil (ca. 40% des Gesamtumfangs) heißen die Leitbegriffe für die Darstellung: „Gattungen, Publikum und Institutionen“; der in der neueren Literaturgeschichtsschreibung – so auch in GDL – häufig gewählte Durchgang der Gattungstrias dient hier nur als Folie; die Differenzierung nach Gattungen wird nicht systematisch verfolgt, die Relationen zu „Publikum und Institutionen“ stehen programmatisch für die sozialgeschichtlich ori-

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entierte Literaturbetrachtung; sie erhalten jedoch in der Ausarbeitung der Artikel wenig Gewicht. Zunächst wird von Otto F. Riewoldt das Drama behandelt als „Literatur für das Theater“, dann von Hans Drawe „Literatur als Vorlage für Filme“. Es folgen Manfred Jägers Ausführungen zur Unterhaltungsliteratur in der DDR50 – als einer „ideologisch präformierte[n] Massenliteratur“ (S. 241) mit dem Schwerpunkt „Krimi“ (S. 246–260). Im Unterkapitel zur Lyrik von Harald Hartung wird wie in GDL für die sechziger Jahre auf die erhebliche quantitative Steigerung verwiesen; dagegen wird eine qualitative Verbesserung nicht erkannt: Die Lyrik bleibe zurück gegenüber den Entwicklungen in der BRD.51 Erst in den siebziger Jahren ergebe sich für die Lyrik ein Zugewinn im „ästhetischem Spielraum“ (S. 300), dem 1976 nach der Ausbürgerung Biermanns allerdings Resignation folgte (zwei der wichtigsten Lyriker, Sarah Kirsch und Günter Kunert, verließen die DDR; Volker Braun blieb). Das letzte Unterkapitel, verfasst vom Herausgeber, gilt der Erzählprosa nur unter einem Sonderaspekt der neuen Erzählformen (insbesondere der siebziger Jahre) mit „journalistischer Bedeutung“: Die Literatur des ‚Sozialistischen Realismus‘ übernehme in journalistischer Funktion Informationen über das Alltagsgeschehen, die keinen Platz in den Zeitungen finden. Die Überschrift zum 3. Teil (ca. 30% des Haupttextes) kündigt „Phasen der Literaturentwicklung“ an, doch nur das erste Unterkapitel stellt eine solche Phase dar: Bernhard Greiner kennzeichnet Literaturentwicklungen der fünfziger Jahre. Die beiden folgenden Unterkapitel haben erneut einen thematischen Schwerpunkt. Heinz Hillmann erörtert das Problem „Subjektivität“52 in der Erzählprosa (S. 385–434) und stützt sich dabei insbesondere auf detaillierte Textanalysen zu Christa Wolfs „Der geteilte Himmel“ (1963) und „Nachdenken über Christa T.“ (1968). Gerade dieses Unterkapitel zeigt, wie der Band insgesamt dem enzyklopädischen Anspruch der GDL mit seiner Namenfülle eine problemorientierte Darstellung exemplarischer Konstellationen entgegensetzt. Zum Abschluss des Bandes charakterisiert Heinrich Küntzel Aspekte zur literarischen Verarbeitung des NS-Faschismus in der DDR-Literatur – mit dem Schwerpunkt der Nachkriegsliteratur (S. 435–467). 50 51

52

Unterhaltungsliteratur sei in der DDR dadurch bestimmt, dass sie ästhetischen Ansprüchen nicht hinreichend genügt. Zu beachten seien dennoch die wiederholten öffentlichen Diskussionen zur Lage der Lyrik; so wird von Hartung hingewiesen auf die Diskussion vom Sommer 1966 in der FDJ-Zeitschrift „Forum“ (vgl. S. 279) und auf die Diskussion 1971/72 in der Kulturzeitschrift „Sinn und Form“ (vgl. S. 284). Vgl. dazu u. a. Schlenstedt, Literatur, S. 31–32: Die entwickelte sozialistische Gesellschaft bringe auch neue Formen selbstreflexiver Subjektivität mit sich.

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5. Fazit Eine wichtige Differenz zwischen der GDL und HSGDL besteht in der zeitlichen Anlage des Gegenstandsbereichs: Das Schlussstück der GDL bildet die Phase vom Beginn der sechziger Jahre (1961 Bau der Mauer in Berlin) bis Anfang der siebziger Jahre (als Erster Sekretär des ZK der SED folgt Honecker 1971 auf Ulbricht), dagegen erschließt HSGDL noch weitere zehn Jahre der Literaturentwicklung in der DDR. Allerdings gelten die sechziger Jahre als die entscheidende Phase, in der sich die wichtigen Autoren der DDR-Literatur profilieren (GDL spricht von der „Entfaltung“ einer eigenständigen Literatur der DDR), so dass im hier durchgeführten Vergleich der beiden literaturgeschichtlichen Bilanzen jeweils der ‚Kernbereich der DDRLiteratur‘ erfasst werden kann. Der 11. Band der GDL erschien im Jahr der Biermann-Ausbürgerung (im November 1976); der Band 11 von HSGDL folgte sieben Jahre später (und nachdem 1977 eine stattliche Zahl von Autoren die DDR verlassen hatte). Im Gegensatz zur GDL gehen für die Autoren des HSGDL-Bandes politische Faktoren wie die neue Ostpolitik Willy Brandts, die 1971 vollzogene Ablösung Ulbrichts durch Honecker oder die Autoren-Revolte nach der Ausbürgerung Biermanns in die Bewertungen der Gesellschafts- und Literaturentwicklungen in der DDR ein. Zudem wird darauf verwiesen, wie viele Verlage DDR-Literatur in der BRD verlegen (vgl. S. 26–27), so dass neben den ehemaligen DDR-Autoren auch seit den siebziger Jahren zahlreiche aktuelle DDR-Autoren in der BRD publizieren und rezipiert werden:53 DDR-Literatur, so die Implikation, finde in wichtigen Konstellationen in der BRD statt; von einer eigenständigen Nationalliteratur der DDR könne somit nicht die Rede sein. Die Autoren aus der DDR werden in der Sicht der BRD nach einem simplen Schema geordnet: als Verkünder und Mitträger des Systems oder als dessen Kritiker und Opfer. Für die GDL ergibt sich dagegen als akzeptable Haltung für Autoren in der DDR nur die ‚Mitträgerschaft‘. Ähnlich antagonistische Wertungen finden sich für die jeweiligen Kapitel zu den Grundlagen der Literaturentwicklungen in der DDR, für „Gesellschaftliche Entwicklung und Literaturverhältnisse“ (GDL) und „Literatur und Politik im Sozialismus“ (Hans-Jürgen Schmitt in HSGDL) bezüglich der Rolle der Kulturpolitik der DDR. Deren lenkende Funktion wird in der GDL positiv gesehen, in HSGDL negativ bewertet mit dem Rubrum: „Literaturbetrieb als Staatsmonopol“. Insgesamt gesehen zeigt sich die historiographische Vorgehensweise in der GDL als entwicklungsbezogen, streng strukturiert, mit klaren ideologi53

Besonderes Interesse gelte in der BRD solcher Literatur aus der DDR, der sich die Abwendung von „Parteidisziplin“ und „Kollektivismus“ zuschreiben lässt (HSGDL, Bd. 11, S. 16).

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schen Ordnungen bei enzyklopädischer Erfassung des Materials. HSGDL argumentiert problembezogen mit Interessen sowohl am beschreibenden Vermitteln charakteristischer Konstellationen und Verfahrensweisen der DDR-Literatur als auch an kritischen Abweichungen von den dogmatischen Vorgaben der Kultur- und Literaturpolitik sowie an kritischen Einstellungen zur gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR – dazu werden entschieden wertende Akzente gesetzt. Nur schwach sind Phasen eines Entwicklungsprozesses herausgearbeitet. HSGDL ist eher eine problemorientierte EssaySammlung zur DDR-Literatur als eine enzyklopädische Literaturgeschichte (wie GDL); lediglich das Lyrik-Kapitel von Harald Hartung folgt der Tradition der Gattungsgeschichte – allerdings am Leitfaden (kultur-)politischer Entwicklungen. Enzyklopädischer Wert ist GDL noch heute zuzusprechen; der problemorientierte Band 11 von HSGDL dokumentiert dagegen eine bereits abgeschlossene Phase der Rezeption von DDR-Literatur in der alten Bundesrepublik Deutschland.

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Von gesellschaftswissenschaftlicher zu ‚humanistisch-normativer‘ Rezeptionsästhetik Zu einem methodischen Rückschritt in Germanistik und Erbetheorie der siebziger und achtziger Jahre1

In der Entwicklung der DDR-Germanistik gab es spätestens seit Ende der sechziger Jahre eine innermarxistische Pluralität zum Teil konkurrierender und gegensätzlicher Theoriekonzepte. Die Einsicht in diesen Umstand wird oft dadurch erschwert, dass die literaturwissenschaftlichen Texte dieser Zeit – wenn auch in unterschiedlichen Phasen der Wissenschaftsentwicklung in unterschiedlichem Maße – die wissenschaftspolitische Vorgabe berücksichtigen mussten, unterschiedliche und auch konträre Positionen als nur in der Schwerpunktsetzung differierende Ausdeutungen der einen gemeinsamen Grundposition darzustellen.2 Es wäre jedoch sehr irreführend, dieses institutionell vorgegebene Selbstverständnis zu übernehmen. Es soll im Folgenden gezeigt werden, dass es von der Systematik der Theorie her gesehen nicht nur differierende, sondern konträre Positionen in der Literaturwissenschaft gab. Damit soll zugleich auch eine Deutung der Entwicklung der DDR-Germanistik seit Ende der sechziger Jahre nach einem einfachen Modernisierungs- und Liberalisierungsparadigma in Frage gestellt werden. Die Veränderungen, die Literaturwissenschaft und auch Kulturpolitik der DDR seit diesem Zeitpunkt durchliefen, wurden und werden häufig als begrüßenswerte Liberalisierung und nachholende Modernisierung beschrieben – so stellt es sich bis heute häufig auch für das Selbstverständnis der DDR-Wissenschaftler dar. So heißt es etwa am Schluss eines Aufsatzes, der die Entwicklung der Geschichte der Germanistik in beiden deutschen 1 2

Für ihre unersetzbare Hilfe bei der Abfassung dieses Aufsatzes sowie für unzählige Diskussionen über das Thema möchte ich mich bei Sibylle Meyer bedanken. Für eine Beschreibung der rhetorischen, stilistischen und argumentativen Spezifika literaturwissenschaftlicher Texte aus der DDR vgl. Rosenberg, Begründung, S. 203–215.

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Staaten vergleicht: „Die angestellten Beobachtungen sollten hinreichend begründen, dass es möglich ist, die Geschichte der literaturwissenschaftlichen Germanistik in beiden deutschen Staaten unter ein und derselben Fragestellung – ihrer Modernisierung im Prozess ihrer Ausdifferenzierung – zu vergleichen.“3 Beziehen sich solche Darstellungen affirmativ auf diejenige Entwicklung, die sie als Modernisierung beschreiben, so gab es aber auch die genau entgegengesetzte Bewertung: Ich denke hier an – schon zeitgenössische – Darstellungen aus der Bundesrepublik, die von einem ‚kulturrevolutionären‘ Standpunkt aus schon für die Zeit seit Anfang der sechziger Jahre die endgültige und vollständige Durchsetzung einer „revisionistischen Kulturtheorie“ in der DDR ausmachten.4 Beide Deutungen – als begrüßte Modernisierung und als beklagter Revisionismus – treffen sich in der Beschreibung einer kontinuierlichen Entwicklung und zeigen damit, dass sie ein zu monolithisches Bild der Wissenschaftsentwicklung zugrunde legen. Ich werde dagegen von folgender Beobachtung ausgehen: Es gab Ende der sechziger Jahre eine Zäsur in der Entwicklung der Literaturwissenschaft, einen Bruch mit der orthodoxen Theorie, die immer noch stark von Lukács geprägt war. Als diese Zäsur wird übereinstimmend die Entwicklung der Rezeptionsästhetik eingeschätzt. Nun ist es jedoch so, dass im Laufe der siebziger Jahre sich eine weitere literaturwissenschaftliche Position gegen die gesellschaftswissenschaftliche Richtung der Rezeptionsästhetik, wie sie von Werner Krauss geprägt wurde, herauszubilden beginnt. Diese ‚humanistisch-normative‘ Position versteht sich selbst gleichermaßen als Kritik an der orthodoxen Theorie, steht jedoch in systematischen Zügen, vor allem in ihrer Restitution des Werkfetischs, derjenigen Form literaturwissenschaftlicher Theoriebildung, gegen die sich die Rezeptionsästhetik ursprünglich abgegrenzt hatte, näher, als ihr bewusst ist. Schon die zeitgenössische Selbstbeschreibung der DDR-Germanistik erkannte rückblickend das Auseinanderfallen der germanistischen Literaturwissenschaft seit den siebziger Jahren in zwei gegenläufige Grundströmungen, die als „ideologiegeschichtlich-kritische[]“ und als „ästhetischbeziehungsweise humanistisch-normative[] Betrachtungsweise“ bezeichnet wurden.5 Die Tatsache, dass die ‚humanistisch-normative‘ Richtung zeit3

4 5

Boden, „Es geht ums Ganze!“, hier S. 271. Rainer Rosenberg beispielsweise erkennt in den Auswirkungen der damaligen theoretischen Richtungsänderungen einen „innermarxistische[n] Pluralisierungseffekt“, vgl. Rosenberg, Sechziger Jahre, S. 174; zu einer ähnlichen Auffassung vgl. schon die Selbstdeutung in dem im SED-Auftrag verfassten „Bilanzpapier“ (vgl. Boden, „Es geht ums Ganze!“, S. 268) von Thierse/Kliche, DDR-Literaturwissenschaft, S. 267–268, 274–275, 280. Schlenker, Das „Kulturelle Erbe“, insbesondere S.  149–155; vgl. dazu kritisch schon die Rezension von Bock, „Leider nur ein Versuch“. Thierse/Kliche, DDR-Literaturwissenschaft, S. 271; dort wird sogar auf die „offene[] Polemik“ zwischen diesen Richtungen eingegangen (S. 282). Auch wird von den Autoren bestritten, dass zum damaligen Zeitpunkt der Wissenschaftsentwicklung eine Synthese beider

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genössisch vor allem als Kritik an ‚offizieller‘ Theorie und marxistischer Orthodoxie rezipiert wurde, mag einer der Gründe dafür sein, dass diese Richtung heute rückblickend als ‚Modernisierung‘ oder ‚Liberalisierung‘ eingeschätzt wird.6 Eine solche Einschätzung verstellt jedoch meines Erachtens die Einsicht darin, in welchem Maße diese Richtung theoriesystematisch und methodisch einen Rückschritt gegenüber der gesellschaftswissenschaftlichen Grundausrichtung der Literaturwissenschaft darstellte. Es gab Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre den Versuch, in methodischer Konsequenz Literatur- als Gesellschaftswissenschaft zu begreifen; der Band „Gesellschaft – Literatur – Lesen“ (1973) etwa ist ein herausragendes Beispiel dafür. Meine Verwendung des Begriffs ‚methodischer Rückschritt‘ soll sich nun daraus erklären, dass meines Erachtens mit der ‚humanistischnormativen‘ Kritik an einer gesellschaftswissenschaftlichen Grundausrichtung der Literaturwissenschaft diese innermarxistische Reformperspektive in der Literaturwissenschaft verspielt wurde. Dass ich mit dem Begriff ‚methodischer Rückschritt‘ keinen wertfreien Begriff zur Beschreibung dieser Entwicklung verwende, hängt auch damit zusammen, dass ich mit dem Nachweis dieser Entwicklung nicht nur ein historisches, sondern ebenso ein systematisches Interesse verfolge:7 Mein Interesse, eine bestimmte Richtung

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Richtungen möglich wäre (S. 303–304), dies mag im Hinblick und in Antwort darauf geschrieben sein, dass in den achtziger Jahren „von (wissenschafts-)politischer Seite“ eine „graduelle Entdifferenzierung“ vorgegeben wurde (vgl. Neumeyer, Diskussionsbericht, S. 441). Ähnlich Rosenberg: „Die Ausdifferenzierung unterschiedlicher marxistischer ‚Schulen‘ wurde erst in den siebziger Jahren auch von der Wissenschaftsadministration akzeptiert – als eine transitorische Erscheinung und in der illusorischen Erwartung einer neuen Synthese.“ (Rosenberg, Begründung, S. 213) Das ist beides in der Diskussion im Anschluss an diesen Vortrag sehr deutlich geworden. In der Diskussion dieses Vortrags hat sich gezeigt, dass der von mir ursprünglich benutzte Begriff der Restauration eine Vielzahl, zum Teil auch sehr emotionaler Reaktionen hervorgerufen hat und in besonderer Weise zu Missverständnissen einlud. Aus diesen Gründen möchte ich auf dem Begriff nicht bestehen. Ich hatte ihn ursprünglich gewählt, weil ich nach einem pointierten und eingängigen Begriff gesucht hatte, um die Regression hinter einen einmal erreichten methodischen Stand zu bezeichnen. Ich wollte mit diesem Begriff derjenigen Entwicklung einen Namen geben, durch die aus meiner Sicht eine Reformperspektive innerhalb der marxistischen Literaturwissenschaft durch Rückschritt hinter deren methodisches Bewusstsein verspielt wurde. Zwei Arten von Missverständnissen sollten jedoch durch die folgende Argumentation meines Textes ausgeschlossen sein: Zum einen verstehe ich die von mir als ‚methodisch rückschrittlich‘ eingeschätzte Richtung nicht als eine Gegen- oder Komplementärbewegung zu derjenigen Richtung, die heute im allgemeinen, wie sich auch in der Diskussion exemplarisch gezeigt hat, als die eher ‚liberale‘ oder ‚modernere‘ Richtung der DDR-Literaturtheorie eingeschätzt wird. Meine Behauptung ist vielmehr: Die heute als eher „liberal‘ oder ‚moderner‘ eingeschätzte Richtung selbst stellt einen ‚methodischen Rückschritt‘ dar. Zum anderen soll der Gegensatz zwischen der gesellschaftswissenschaftlichen Richtung und der von mir als ‚methodisch rückschrittlich‘ verstandenen autonomieästhetischen Richtung nicht so verstanden werden, dass damit letztlich der Gegensatz zwischen marxistischer und bürgerlicher Literaturwissenschaft gemeint sei: Die gesellschaftswissenschaftliche Richtung der DDR-Literaturwissenschaft ist selbst in Absetzung von der damals dominierenden,

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der DDR-Germanistik gegen ihre spätere Kritik in der DDR zu rehabilitieren, ist auch darin begründet, dass ich glaube, dass einige methodische Überlegungen dieser ideologiegeschichtlichen, gesellschaftswissenschaftlichen Richtung die argumentativen Ressourcen verschaffen können, um bestimmte Theoriebildungen in der Literaturwissenschaft hier und heute zu kritisieren. Es muss auch eines der Ziele der Wissenschaftsgeschichte sein, die historischen Forschungen zur DDR-Germanistik im Hinblick auf ihre aktuelle Bedeutung zu befragen. Ich möchte im folgenden einen Beitrag dazu leisten, diese Fragestellung nicht nur, wie es häufig geschieht, so zu verstehen, dass danach gefragt wird, auf welche Weise aus heutiger Perspektive die methodische Ausrichtung der DDR-Literaturwissenschaft kritisiert und etwa ihr ‚Modernisierungsdefizit‘ beklagt werden kann. Es sollte vielmehr auch möglich sein, in umgekehrter Richtung danach zu fragen, ob sich nicht aus einigen Arbeiten der DDR-Literaturwissenschaft argumentative Mittel gewinnen lassen, um gewisse gegenwärtige Formen der Literaturwissenschaft zu kritisieren, indem deren methodisches Reflexionsdefizit aufgezeigt wird. Zum anderen ist es mir damit auch sehr wichtig, zu zeigen, inwiefern die Kritik bestimmter fragwürdiger Entwicklungen im methodischen Verständnis der DDR-Literaturwissenschaft nicht auf eine Perspektive angewiesen ist, die dem grundlegenden Selbstverständnis dieser Wissenschaft als marxistischer Gesellschaftswissenschaft ganz äußerlich gegenüber steht. Die argumentativen Ressourcen zur Kritik bestimmter Entwicklungstendenzen lassen sich, das möchte ich zeigen, im Rahmen einer immanenten Kritik aus Texten der DDR-Literaturwissenschaft selbst gewinnen. In einem ersten Schritt werde ich auf die Entwicklung der DDR-Germanistik seit Ende der sechziger Jahre eingehen und dann an Textbeispielen zeigen, inwiefern die ‚humanistisch-normative‘ Richtung Theoreme rehabilitiert, durch deren Kritik die rezeptionsästhetische Richtung gerade versucht hatte, Literatur- als Gesellschaftswissenschaft zu begründen (1.). Dann sollen in einem zweiten Schritt diese methodischen Richtungskämpfe in der Literaturwissenschaft in Beziehung gesetzt werden zu Veränderungen in der Erbetheorie und -praxis der DDR. Dadurch soll ein Zusammenhang aufgewiesen werden zwischen der ‚humanistisch-normativen‘ Kritik an Ideologiegeschichte und gesellschaftswissenschaftlicher Grundausrichtung von Lukács geprägten Richtung der marxistischen Literaturtheorie entwickelt worden (wie auch die spätere Kritik an dieser gesellschaftswissenschaftlich-ideologiekritischen Richtung in der DDR wiederum von einer Position aus vorgenommen wurde, die sich selbst gleichermaßen als marxistisch verstand). Im Gegenteil: Ich möchte gerade darauf hinaus, dass der Gegensatz zwischen einem Verständnis von Literaturwissenschaft als Wissenschaft von einem gesellschaftlichen Kommunikationsprozess und einem mystifizierenden Verständnis von Literaturwissenschaft als Beschwörung großer Werke nicht notwendig der Gegensatz zwischen marxistischer und nichtmarxistischer Theorie ist, denn es soll gezeigt werden, dass es Mystifizierungen – von Lukács bis Werner – gleichermaßen in der marxistischen Tradition gab.

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der Literaturwissenschaft einerseits und der erbetheoretischen Ersetzung der These vom Klassencharakter der kulturellen Überlieferung durch ein Konzept der Einheit des kulturellen Erbes andererseits; die Einsicht in diesen Zusammenhang soll auch auf ihre Konsequenzen in Bezug auf die Kritik gegenwärtiger methodischer Ausrichtungen der Literaturwissenschaft befragt werden (2.).

1. Die Zeit Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre wird generell als eine Zäsur in der Entwicklung der DDR-Germanistik betrachtet,8 wobei sich die allgemeinen Merkmale dieser methodischen Neuausrichtung mit dem Namen der ‚rezeptionsästhetischen Wende‘9 bezeichnen lassen. Dabei ist es nicht so, dass sich die Literaturwissenschaft der DDR damit einfach an Entwicklungen in der westdeutschen und internationalen Entwicklung der Literaturtheorie dieser Zeit anschließen würde, denn zum einen gab es in der DDR eine relativ eigenständige Tradition der Rezeptionstheorie, zum anderen kamen entscheidende Impulse zur Entwicklung der westdeutschen Rezeptionsästhetik auch aus der DDR – hier ist vor allem an den Einfluss von Werner Krauss zu denken.10 Dabei ist jedoch, und das hängt mit der späteren Ausdifferenzierung in konträre Theorierichtungen zusammen, die Einschätzung des Entstehungszusammenhangs und damit auch die Bewertung der politischen Hintergründe dieser theoretischen Richtungsänderungen umstritten. So einig sich vor allem auch die DDR-Wissenschaftler selbst in der Einschätzung dieser

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9

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So auch in ihrer späteren Selbstbeschreibung, vgl. Thierse/Kliche, DDR-Literaturwissenschaft, S. 267, S. 280. Vgl. Rosenberg, Sechziger Jahre; für die Philosophie vgl. auch Franz, Kunstbegriff. Ich differenziere im Folgenden nicht zwischen Rezeptionsästhetik und Rezeptionstheorie und benutze beide Begriffe als Synonyme. Dagegen differenziert beispielsweise Mandy Funke zwischen westdeutscher Rezeptionsästhetik (Konstanzer Schule) und ostdeutscher Rezeptionstheorie (Funke, Rezeptionstheorie, S. 12.). Zum Einfluss von Werner Krauss auf die Entstehung der Rezeptionstheorie in Westdeutschland vgl. Boden, „Es geht ums Ganze!“, S. 263. Die These, die Rezeptionsästhetik sei aus Konstanz in die DDR importiert worden, wird durch den Nachweis einer eigenständigen Entwicklung der Rezeptionstheorie in der DDR zurückgewiesen bei Funke, Rezeptionstheorie. Zur Vorgeschichte der Rezeptionsästhetik in der DDR gehören die Arbeiten des Barockforschers Joachim Boeckh (vgl. Boden, „Es geht ums Ganze!“, S. 252–253) und die Arbeiten des Leipziger Literaturhistorikers Martin Greiner, der sich schon in den 50er Jahren im Rahmen eines erweiterten Literaturbegriffs mit Trivialliteratur, der „Literatur von unten“, beschäftigte (vgl. dazu Poser, Mein Leipzig, S. 241).

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Wende als „Zäsur“ in der Theorieentwicklung sind,11 so unklar ist, ob, und wenn ja, in welche Richtung sie „subversive Wirkungen“12 zeitigte: So gibt es zeitgenössisch die Kritik der Rezeptionsästhetik als „Markttheorie des Kunstschaffens“13. Andere Deutungen verstehen die Rezeptionsästhetik als theoretischen Ausläufer des ‚Bitterfelder Wegs‘ (und auch von dessen ‚kulturrevolutionären‘ Implikationen14), so zum Beispiel wegen des Interesses der Rezeptionsästhetik an konkreten soziologischen Fragen des Leseverhaltens von Arbeitern, und somit als ‚linkes‘ Korrektiv zur in die Lukácssche Theorie eingegangenen ‚rechten‘ Bündnispolitik.15 In Bezug auf ihre theoretischen Grundannahmen lässt sich diese rezeptionsästhetische Wende in der Literaturwissenschaft der DDR nun dadurch charakterisieren, dass – auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Grad – verschiedene zentrale Konzepte der früher dominierenden Literaturtheorie verabschiedet wurden, die immer noch stark von Lukács geprägt war, und die sich schlagwortartig durch zentrale Begriffe wie Werk, Realismus, Klassik oder auch Bündnispolitik charakterisieren ließe. Der 11

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Vgl. Rosenberg, Sechziger Jahre. An anderer Stelle heißt es: „Der theoretische Neuansatz bei der Rezeptionsästhetik markiert den m. E. bedeutsamsten Einschnitt in der Geschichte der DDR-Literaturwissenschaft.“ (Rosenberg, Begründung, S. 214.) – Andere gehen noch weiter: Gunter Schandera glaubt, die Entwicklung der Rezeptionsästhetik habe Pluralisierung und Postmoderne vorgearbeitet (vgl. Schandera, System). Schanderas Aufsatz ist im übrigen in seiner Deutlichkeit ein aufschlussreiches Beispiel für das Verfahren eines totalitarismuskritischen Vergleichs von „Wissenschaft in der Diktatur“: So gelangt Schandera in diesem Aufsatz zu der Schlussfolgerung, dass die angeblich die DDR-Wissenschaftspolitik charakterisierende „Rationalitäts- und Machbarkeitsgläubigkeit […] ebenso ein Mythos wie der von Blut und Boden [war]“ (ebd., S. 366). Rosenberg schreibt rückblickend, dass die „subversive Wirkung der Rezeptionsästhetik [...] kaum zu überschätzen“ sei, vgl. Rosenberg, Sechziger Jahre, S. 175. Zu den Auswirkungen der Rezeptionsästhetik auf Theorie und Praxis des Literaturunterrichts an Schulen sowie zu den um parteiliche Steuerung besorgten Reaktionen staatlicher Instanzen auf diese Entwicklung in der Deutschmethodik vgl. die Beiträge von Brauer, Kutz/Vollmer, Mieth und Vorein. So Kurella, Kunstwerk, S. 745; vgl. Schlenstedt, Gesellschaft, S. 17. „Die ideologische Aufwertung des ‚Volkes‘ als Träger der ‚sozialistischen Kulturrevolution‘ legte es nahe, sich nicht mehr nur den Werken, sondern auch den gesellschaftlichen Voraussetzungen der Produktion, Distribution und Rezeption zuzuwenden.“ (Boden, „Es geht ums Ganze!“, S. 254.) Dafür wird u. a. angeführt, dass die empirische Literatursoziologie nicht zufällig im Industriezentrum Halle institutionalisiert wurde, vgl. dazu Boden, „Es geht ums Ganze!“, S. 261–262. – Die Entwicklung der Rezeptionsästhetik geht dabei auch zurück auf die der Literatur- wie generell der Gesellschaftswissenschaft zugedachte Funktion einer ‚Leitungswissenschaft‘ im „System der Planung und Leitung aller gesellschaftlichen Prozesse“ (vgl. etwa Schandera, System, S.  368). Schon zeitgenössisch wurde deshalb die Ambivalenz solcher soziologischer Forschung registriert, die darin begründet liegt, dass die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, mit ihr auch „die Interessen der Apparate“ zu bedienen, „die wissen wollten, wie sie die Menschen besser bearbeiten könnten“ – dass also auch und gerade soziologische Forschungen als „Herrschaftswissenschaft“ missbraucht werden können („Wir wollten Rezeptionstheorie im Horizont einer denkbaren Funktionstheorie.“ Ein Gespräch mit Dieter Schlenstedt, in: Funke, Rezeptionstheorie, S. 153).

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entscheidende Punkt, der im folgenden belegt werden soll, besteht aber darin, dass sich, bedingt durch Unterschiede im methodischen Vorgehen ebenso wie im genauen Bezugspunkt dieser Distanzierung, im weiteren Verlauf der theoretischen Ausdifferenzierung in der DDR-Literaturwissenschaft zwei dominante, aber eigentlich konträre Positionen ausmachen lassen, die sich dennoch selbst gleichermaßen als rezeptionsästhetisch verstanden. Da ist zum einen die auf Werner Krauss zurückgehende Richtung mit einem hauptsächlich ideologiegeschichtlichen Interesse. Institutionell formierte sich diese Richtung vor allem am „Zentralinstitut für Literaturgeschichte“ der „Akademie der Wissenschaften“ – auf die komplexe Vorgeschichte dieses Instituts werde ich hier jedoch nicht eingehen.16 Als Gründungsdokument dieses Instituts gilt der von Werner Mittenzwei herausgegebene Band „Positionen. Beiträge zur marxistischen Literaturtheorie in der DDR“ von 1969, in dessen Schlussaufsatz sich die Autoren unter Bezug auf das Konzept von Werner Krauss gegen die bis dahin dominierende Richtung der Literaturtheorie positionierten.17 Mittenzwei hatte schon zuvor, im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Schriften Brechts zur Expressionismusdebatte, damit begonnen, die Brechtsche Gegenposition zu Lukács als eine weitere gleichermaßen legitime marxistische Auffassung von ‚Realismus‘ zu verteidigen;18 schon der Titel des angesprochenen Bandes – „Positionen“ im Plural – verweist auf das Interesse an einer Pluralisierung der als marxistisch akzeptierten Positionen.19 Die in dem angesprochenen ‚Gründungsdokument‘ des Zentralinstituts als Position von Werner Krauss beschriebene Richtung der Literaturwissenschaft, der erkennbar die Sympathie der Autoren galt, bedeutete die eigentliche Provokation gegen die Konzeption von Lukács. Das Interesse der Literaturwissenschaft sollte sich im Sinne von Krauss auf die konkreten historischen und gesellschaftlichen Bedingungen und die kommunikative und ideologische Funktion von Literatur richten. Dies führte zu einer erheblichen Erweiterung des Literaturbegriffs, gegen den Werkzentrismus von Lukács.20 Damit zusammenhängend war das Bemühen um eine Rehabilitierung bzw. Aufwertung der literaturgeschichtlichen Bedeutung der Epoche der (französischen) Aufklärung gegenüber dem einseitigen Bezug auf die Kunstliteratur der (deutschen) Klassik bei Lukács. Das literaturwissen16

17 18 19 20

Zur Geschichte der Gründung dieser Institution vgl. Boden, „Es geht ums Ganze!“, S. 261–262; vgl. auch die Beiträge in Barck/Münz-Koenen/Gast, Dialog. Vgl. auch die darin abgedruckten Dokumente „Streng vertraulich“. Die Gründung des „Zentralinstituts für Literaturgeschichte“ an der „Akademie der Wissenschaften der DDR“, S. 241–264. Vgl. Barck/Naumann/Schröder, Literatur. Mittenzwei, Brecht-Lukács-Debatte. Vgl. dann im Positionen-Band das Kapitel von Mittenzwei, Erprobung. Vgl. Boden, „Es geht ums Ganze!“, S. 262. Vgl. Barck/Naumann/Schröder, Literatur, S. 577.

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schaftliche Interesse bezog sich auch und vor allem auf die Untersuchung der ideologischen Herkunft und Funktion der Texte, d. h. ihrer „geschichtlichen Bedingtheit“.21 Grundlegend für diese Position war die Überzeugung vom „Klassencharakter der Literatur“.22 Dies begründete eine heftige Polemik gegen jede „bürgerliche“ Form von Autonomieästhetik.23 Methodisch-theoretisch wurde diese Position am „Zentralinstitut für Literaturgeschichte“ weiterverfolgt und begründete die Ausarbeitung einer Theorie der Rezeptionsästhetik; das Ergebnis dieses theoretischen Selbstverständigungsprozesses war dann der von Manfred Naumann, Dieter Schlenstedt, Karl-Heinz Barck, Dieter Kliche und Rosemarie Lenzer verfasste Band „Gesellschaft – Literatur – Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht“ von 1973.24 Dieser Band war wohl der interessanteste und ertragreichste Beitrag der DDR-Wissenschaft zur internationalen Diskussion um Fragen der Rezeptionsästhetik und ist wahrscheinlich eines der lesenswertesten Bücher der DDR-Literaturwissenschaft überhaupt. In seiner grundsätzlichen und detaillierten Kritik an den Prämissen ‚idealistischer‘ Theoriebildung der ‚bürgerlichen‘ Literaturwissenschaft war dieser Band insbesondere auch der Versuch, Literaturwissenschaft konsequent als Gesellschaftswissenschaft zu konzipieren. Gegen diesen literaturwissenschaftlichen Grundansatz positionierte sich nun im weiteren Verlauf immer stärker eine zweite Richtung der Literaturwissenschaft, die später als ‚humanistisch-normative‘ Richtung bezeichnet wurde. Diese Richtung, die auch unter dem Namen der ‚Wirkungsgeschichte‘ oder ‚Wirkungsästhetik‘ auftrat, verstand sich als ein Komplementärprogramm zur Ideologiegeschichte innerhalb des rezeptionsästhetischen Rahmens. Die ‚humanistisch-normative‘ Richtung war aber, so die im Folgenden zu belegende These, in letzter Konsequenz gegen die gesellschaftswissenschaftliche Grundausrichtung der Rezeptionsästhetik gerichtet und rehabilitierte damit sukzessive all jene ästhetischen Dogmen, die in dem Band „Gesellschaft – Literatur – Lesen“ in ihrer Funktion für eine ‚idealistische‘ Literaturwissenschaft analysiert worden waren. Nur der zunehmende Einfluss der ‚humanistisch-normativen‘ Richtung und ihre damit steigende Deutungsmacht scheint mir beispielsweise erklären zu können, dass selbst die Vertreter der Ideologiegeschichte zunehmend darauf festgelegt wurden, das Fehlen einer Theorie der ‚Autonomie‘ der Literatur und der ‚Spezifika‘ des Ästhetischen und Poetischen als ein Desiderat zu 21 22

23 24

Ebd., S. 567, 576, 603. Ebd.; vgl. Krauss, Klassencharakter, S. 120. Die Betonung des „Klassencharakters“ des Überlieferten kann sich auf Lenins Theorie von den „zwei Kulturen“ berufen, vgl. Lenin, Bemerkungen. Barck/Naumann/Schröder, Literatur, S. 588–589. Im Folgenden mit der Sigle GeLiLe zitiert. Ich zitiere nach der 2. Auflage Berlin und Weimar 1975.

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akzeptieren. Der Vorwurf des Soziologismus ist hierfür einschlägig,25 trifft aber weder die Arbeitsgruppe an der „Akademie der Wissenschaften der DDR“ noch Krauss selbst, die sich explizit von einer „vulgärsoziologischen“ Interpretation ihrer Theorie absetzten.26 Ganz allgemein ist es aus der Distanz betrachtet schon recht merkwürdig, wie in der sich als materialistisch verstehenden Literaturwissenschaft der DDR der Zwang zur Distanzierung von soziologischen Zugängen eine der Konstanten bildet und welcher Thematisierungsdruck spätestens seit Beginn der achtziger Jahre in Bezug auf die Diskussion der Begriffe der Autonomie der Kunst, der Spezifika des Poetischen und Literarischen und erlebnisästhetischer Fragestellungen herrschte.27 Die ‚humanistisch-normative‘ Richtung beschreibt sich dabei meist so, dass sie das angebliche Desiderat einer Theorie der Autonomie des Ästhetischen beheben möchte. Damit soll, um das kurz einzufügen, nicht behauptet werden, dass es eine zufriedenstellende und abschließende Behandlung des Problems, das unter dem Titel der Autonomie der Kunst oder des Ästhetischen diskutiert wird, in der marxistischen Tradition damals gab oder heute gibt.28 Es ist aber Ziel der folgenden Argumentation aufzuzeigen, dass die Art und Weise der Reflexion auf dieses Problem in den Texten der ‚humanistisch-normativen‘ Richtung auf Argumentationsmuster zurückgreift, die in „Gesellschaft – Literatur – Lesen“ überzeugend als ‚idealistisch‘ kritisiert 25 26

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Vgl. etwa Werner, Probleme, S. 22. Barck/Naumann/Schröder, Literatur, S. 592, und Krauss, Literaturgeschichte, S. 117–119; vgl. zur Kritik an „Vulgärsoziologie“ auch GeLiLe, S. 41, 80. In den „Grundproblemen der Literaturwissenschaft“ von Werner Krauss heißt es: „Die materialistische Geschichtsbetrachtung […] ist nur in ihrer marxistischen Höchstform akzeptabel. Denn ein undialektischer Materialismus muss notwendig in einen geisttötenden Determinismus versinken.“ (Krauss, Grundprobleme, S. 93; auch in: Krauss, Literaturtheorie, S. 211.) Vgl. etwa auch Hartung, Theorie. Dazu kritisch Schröder, „marxistische Theorie der ‚Autonomie der Kunst‘“ und die Replik Hartungs, Diskussion. Die Beobachtung, dass gerade das Aufkommen dieser Art von Fragestellungen rückblickend als der Punkt der partiellen ‚Anschlussfähigkeit‘ der DDR-Wissenschaft interpretiert wird, bestätigt sich zusätzlich dadurch, dass selbst Rainer Rosenberg 1997 das Konzept von Literatur- als Ideologiegeschichte als Verkürzung beklagt und über die DDR-Literaturgeschichte schreibt, an ihr könne „exemplarisch vorgeführt werden, wie die Literaturgeschichtsschreibung […] an der Literatur vorbeigeschrieben“ habe (Rosenberg, Begründung, S. 239). Die Konsequenz, die aus diesem Scheitern gezogen werden soll, soll darin liegen, „deutlich zu machen, dass etwa Gottfried Benns Platz in der Literaturgeschichte durch seine Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus nicht einmal annähernd bestimmt werden kann und dass eine antifaschistische Gesinnung noch keine literarische Qualität ist.“ (Ebd.; Hervorhebung im Original.) Bei Lukács etwa wird die Lösung einfach dekretiert: „Das Wesen der dialektischen Methode besteht eben darin, dass in ihr das Absolute und das Relative eine unzerreißbare Einheit bilden.“ Weiter spricht Lukács von der „Einheit der Unvergänglichkeit des ästhetischen Werts des Kunstwerks mit dem Geschichtsprozess, von der [sic] die Kunstwerke gerade in ihrer Vollkommenheit, gerade in ihrem ästhetischen Wert unabtrennbar sind.“ (Lukács, Einführung, S.  231.) Zum Verhältnis von historischem und dialektischem Materialismus in der Literaturwissenschaft vgl. ebd., S. 207.

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worden waren. In dieser Bewegung gegen die Ideologiegeschichte ist man methodisch zum Teil weit hinter deren Einsichten zurückgegangen. Ein deutliches Beispiel hierfür ist die sich selbst als ‚wirkungsgeschichtlich‘ verstehende Position des Hallenser Germanisten Hans-Georg Werner, auf die ich mich im Folgenden ausführlicher beziehen werde. Sein theoretisches Programm, das sich dem Selbstverständnis nach als Komplementärprogramm zur Ideologiekritik begriff,29 war in Wahrheit nämlich deren Verabschiedung. Werners Konzeption steht zwar, wie die Rezeptionsästhetik der Krauss-Schule, insoweit ebenfalls gegen die alte Lukácssche Konzeption, als dass sie dessen, wie es damals hieß, ‚gnoseologisches‘ Literaturverständnis zurückwies. Die erlebnisästhetische Kritik an der erkenntnistheoretischen Ausrichtung der Lukácsschen Theorie bezog sich aber weiterhin, in schärfstem Kontrast zur Tradition der Krauss-Richtung, völlig ungebrochen auf das Konzept vom Werk als zentraler Kategorie der Literatur, oder, wie es bezeichnenderweise bei Werner ausschließlich heißt, der ‚Dichtung‘. Damit rehabilitierte Werner den normativen Gebrauch des Werkbegriffs gegenüber seiner Ersetzung durch einen neutralen, weiten Literaturbegriff. In Werners Texten taucht damit der Werkfetisch wieder auf, der in „Gesellschaft – Literatur – Lesen“ in seiner Funktion in der ‚bürgerlichen‘ Literaturwissenschaft analysiert worden war, und durch dessen Kritik „Gesellschaft – Literatur – Lesen“ gerade auch mit dem Lukácsschen Verständnis gebrochen hatte.30 Ich werde nun anhand einiger beispielhafter Stellen aus Texten Werners illustrieren, wie verschiedene Ideologeme in diesen Texten wieder auftauchen, die in „Gesellschaft – Literatur – Lesen“ als Grundmuster idealistischer Hermeneutik analysiert worden waren: Das beginnt mit der sehr deutlichen und offenen Kritik an einer sich gesellschaftswissenschaftlich verstehenden Literaturwissenschaft, der permanent vorgeworfen wird, ihr ideologiegeschichtliches Interesse könne die Spezifik literarischer Werke nicht fassen. So warnt Werner vor der Gefahr, „daß Literaturwissenschaftler voreilig ihre Aufgabe in den Blickwinkel beschränken, der Dichtung als das Produkt sozialer Umstände erscheinen läßt.“31 Dagegen geht es Werner darum, „marxistische Literaturgeschichte als Darstellung der Spezifika der literarischen Entwicklung zu schreiben.“32 Das hätte zur Folge, „daß die Dichtungsgeschichte von für sie unspezifischen ideologiegeschichtlichen Erörterungen mehr entlastet werden kann und sich die Aufmerksamkeit stärker auf die Darstellung und materialistische Erklärung spezifisch poetischer 29 30

31 32

Vgl. Werner, Probleme, S. 20, 22. Vgl. Werner, S. 16, 19; Werner, Aneignung, S. 59. – Zur Kritik dieser Auffassung vgl. GeLiLe, S. 115–117. Zur Kritik am „klassizistischen Ideal großer Werke“ vgl. GeLiLe, S. 113– 114. Werner, Probleme, S. 16. Ebd., S. 22; meine Hervorhebung.

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Veränderungen […] konzentriert.“33 Werner kritisiert deshalb namentlich Rainer Rosenberg und Helmut Bock dafür, mit der „Kategorie Literaturverhältnisse“ und damit der Erforschung der „realgesellschaftlichen Beziehungen“ von Produktion, Distribution und Rezeption nur „partielle Aspekte des Phänomens Literaturgeschichte absolut [zu setzen]“.34 Wegen der „Neigung, Dichtungsgeschichte in Kulturgeschichte zu integrieren“ erscheine das Programm von Rosenberg „ungeeignet, als Modell marxistischer Literaturgeschichtsschreibung überhaupt zu dienen. Ansonsten würde Dichtung weiterhin vor allem als Produkt allgemeiner Sozialverhältnisse und demgemäß nur in für sie großenteils unspezifischen ideologischen Zusammenhängen erscheinen“.35 Dagegen solle der Literaturwissenschaftler, wie es in einem anderen Aufsatz Werners heißt, „sich zur Dichtung als Dichtung – und nicht als Illustration von Geschichte, als Dokumentation von Ideologie […] – äußern […]“.36 Das „gesellschaftliche Interesse“ an den „generellen Mechanismen von Literaturproduktion und -wirkung“ wird ausdrücklich „ein abgeleitetes“ Interesse genannt.37 Das primäre Interesse richtet sich dagegen auf die „relative Autonomie großer Kunstwerke“, auf das „ästhetische[.] Selbstbestimmtsein der Dichtung“ in Perioden „künstlerische[r] Aufgipfelung“.38 Der „essentielle ästhetische Wert einer Dichtung“39 und die „ästhetische Problematik“40 seien die entscheidenden Kategorien. Im „Zentrum“ literaturwissenschaftlicher Analyse steht für Werner deshalb „die bedeutungsvolle einzelne Dichtung.“41 Damit zeigt sich der Zusammenhang zwischen autonomieästhetischer Kritik an Ideologiegeschichte und dem traditionellen Werkfetisch: Den Literaturwissenschaftler verpflichtet Werner auf „minutiöse Analyse“ des einzelnen Textes,42 auf „das Kriterium der Textangemessenheit“43 und den „Fixpunkt ‚poetischer Text‘“.44 Die Literaturwissenschaft solle „in völliger Verantwortung gegenüber dem alten Text“ stehen.45 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45

Ebd.; meine Hervorhebungen. Ebd. Ebd. Werner, Aneignung, S. 57. Ebd., S. 63; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 60. Ebd., S. 57. Werner, Probleme, S. 26. Werner, Aneignung, S. 63. Werner, Probleme, S. 16. Werner, Aneignung, S. 58. Ebd., S. 59. Materialien, S. 283.

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Bei Werner findet sich damit das, was in „Gesellschaft – Literatur – Lesen“ als das „klassizistische[.] Ideal“ der „großen Werke“46 kritisiert worden war: „Für die Literaturwissenschaft als Disziplin werden aber die literarischen Höchstleistungen immer im Mittelpunkt stehen müssen.“47 Über die „Wirkungsgeschichte“ dieser Werke heißt es dann: „‚Mittelfristig‘ […] sondert sich in der Wirkungsgeschichte zumeist die literarische Spreu vom Weizen.“48 Damit wird der Prozess der Kanonisierung, der gesellschaftlichen Vermittlung des eigenen Traditionsbezugs, naturalisiert zum Prozess des Sich-Durchsetzens des ästhetisch Höherwertigen. Die Beschäftigung des Literaturwissenschaftlers mit anderen als den kanonischen Werken entschuldigt sich dann allein dadurch, dass durch diese Beschäftigung die Einsicht in die Größe der „herausragenden Dichtungen“49 verstärkt werde: „Er [der Literaturwissenschaftler] kann die traditionsstärkenden und -brechenden Leistungen der herausragenden Dichtungen nicht verstehen, wenn er die aus historischer Perspektive unscheinbar wirkenden nicht durchanalysiert hat.“50 Die Beschäftigung mit der realhistorischen Rezeptionsgeschichte hat bei Werner nur noch das Ziel, diese hinter sich zu lassen, gilt es doch, „durch die Überlagerungen der Interpretationsgeschichte“ zurück zu „den Werken in ihrer Ursprünglichkeit“ zu kommen.51 So heißt es ausdrücklich, dass die „Wirkungsgeschichte“ den „Zugang zur Dichtung verstellt“52, und dass deshalb hinter die „Wirkungsgeschichte“ zurückgegangen werden muss, um zu „den Werken in ihrer Ursprünglichkeit“ zu kommen.53 Es erstaunt zunächst, wie denn eine Position, die sich selbst doch ausdrücklich als ‚wirkungsgeschichtlich‘ versteht, die Rezeptionsgeschichte als den literarischen Kunstwerken, die den eigentlichen Gegenstand literaturwissenschaftlicher Arbeit ausmachen sollen, letztlich ganz äußerlich begreift. Dazu ein Schritt zurück: In „Gesellschaft – Literatur – Lesen“ war mit Hilfe des Begriffs der ‚Rezeptionsvorgabe‘ versucht worden, innerhalb des grundsätzlich rezeptionstheoretischen Ansatzes gleichwohl auf der Möglichkeit wissenschaftlicher Aussagen über objektivierbare Merkmale des literarischen Textes zu bestehen und damit auch das literarische Werk gegen die unmittelbare Identifikation mit seiner Rezeptionsgeschichte zu schützen. Besteht also auch „Gesellschaft – Literatur – Lesen“ auf der Möglichkeit der Nicht-Identität von Werk und Rezeptionsgeschichte, so wird in Wer46 47 48 49 50 51 52 53

Vgl. GeLiLe, S. 113; dort formuliert in Bezug auf Gadamer. Materialen, S. 281. Werner, Probleme, S. 24. Werner, Aneignung, S. 64. Ebd.; meine Hervorhebung. Ebd., S. 62; meine Hervorhebungen. Werner, Probleme, S. 26; meine Hervorhebung. Werner, Aneignung, S. 62; meine Hervorhebungen.

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ners Konzeption von ‚Wirkungsgeschichte‘ die Unterscheidung von Werk und Rezeptionsgeschichte zur kategorialen Trennung hypertrophiert. Das geschieht, indem begrifflich zwei Bedeutungen von ‚Wirkung‘ unterschieden werden: Einmal wird unter ‚Wirkung‘ die faktische Rezeption eines Textes verstanden; ‚Wirkungsgeschichte‘ in diesem ersten Sinn wäre dann, was normalerweise unter Rezeptionsgeschichte verstanden wird. Diese Art von Rezeptionsgeschichte versteht Werner aber nun ausdrücklich als dem eigentlichen Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchung äußerlich, die Beschäftigung hiermit „würde aus den literaturwissenschaftlichen Bahnen in die Gebiete des Literatursoziologen und -psychologen führen.“54 Zum anderen soll unter dem Begriff der Wirkung aber „auch eine Eigenschaft des dichterischen Textes, seine besondere Kraft, etwas zu bewirken“ verstanden werden: „Sie [diese Eigenschaft] ist der primäre Gegenstand literaturwissenschaftlicher Wirkungsforschung.“55 Der Gegenstand dieser Art ‚Wirkungsgeschichte‘ ist damit ausdrücklich nicht die realgeschichtliche Rezeption eines Textes, sondern dessen „Wirkungsfunktion“,56 die als objektivierbares Merkmal des literarischen Textes verstanden wird. Nach dieser Konzeption ist es im Fall ästhetisch bedeutsamer Werke so, dass in der realgeschichtlichen Rezeptionsgeschichte nichts anderes passiert, als dass diejenigen Wirkungspotentiale aktualisiert werden, die im Werk immer schon angelegt sind57 – wenn auch aufgrund des geschichtlichen Standorts des Rezipienten notwendig partial. Deshalb könnten sie vom Literaturwissenschaftler auch ohne den Umweg der Rezeptionsgeschichte als Merkmale des Textes selbst analysiert werden. Somit bedeutet paradoxerweise ‚Wirkungsästhetik‘ in diesem Sinne gerade nicht Rezeptionsgeschichte, sondern Textanalyse. Dementsprechend werden literatursoziologische Ansätze als Verfehlung des eigentlichen Gegenstands literaturwissenschaftlicher Arbeit delegitimiert, während die Emphase des Textbezugs mit innerer Logik zur Anbindung der Literaturwissenschaft an linguistische Methoden der Textanalyse führt.58

54 55 56 57

58

Werner, Probleme, S. 15. Ebd. Ebd. Werner deutet es dabei generell als Ausdruck der „geistigen Kraft“ bedeutender Werke, dass es ihnen möglich ist, auch „unter veränderten Verhältnissen menschlich produktiv zu wirken.“ (Ebd., S. 25.) Hier ist unter anderem auch an die Zusammenarbeit von Hans-Georg Werner mit dem Sprachwissenschaftler Gotthard Lerchner zu denken.

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Daneben finden sich in Werners Texten auch die Ideologeme von schöpferischer Subjektivität59 und künstlerischer Originalität60 wieder, die in „Gesellschaft – Literatur – Lesen“ ebenfalls bereits als solche analysiert und kritisiert worden waren.61 Zusammenfassend lässt sich sagen: Alles, was in „Gesellschaft – Literatur – Lesen“ an der klassischen Hermeneutik kritisiert worden war, findet sich bei Werner wieder – die „Mystifizierung des künstlerischen Subjekts“62 ebenso wie die Behauptung einer „imaginäre[n] Kontinuität“63 zwischen Autor, Werk und Leser, die „die Beziehung der Leser zu den Werken enthistorisiert“.64 Damit ergibt sich in der Konsequenz die Betonung der Übermacht der Tradition und der kulturellen Überlieferung über die „gesellschaftliche[.] Praxis“;65 dieses Moment begründet nach der Analyse in „Gesellschaft – Literatur – Lesen“ den „objektiv geschichtsfeindlichen Charakter“ dieser Art hermeneutischer Theorie.66 Letztlich trifft auf Werners Position exakt die Idealismus-Diagnose zu, die „Gesellschaft – Literatur – Lesen“ der ‚bürgerlichen‘ Literaturwissenschaft gestellt hatte,67 als dort festgehalten wurde, dass „Enthistorisierung ein Grundmerkmal aller [...] idealistischen Literaturtheorien ist.“68 Auch ist in diesen Texten Werners überdies der, wie ich meine, folgenschwere Zusammenhang vorgezeichnet zwischen Kritik an Ideologiegeschichte im Namen des Ästhetischen und einer Kategorie der, wie es bei Werner heißt, „Muster menschlicher Grundsituationen“69 oder „Grundmuster von Welterfahrung“.70 Die hermeneutische Prämisse „imaginärer Kontinuität“ muss, auch das war in Bezug auf die klassische Hermeneutik in „Gesellschaft – Literatur – Lesen“ analysiert worden, auf eine sol59

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Vgl. Werner, Probleme, S.  23; Werner, Aneignung, S.  56, S.  61 („individuelle Schöpferkraft“). Zum emphatischen Bezug auf die eigene Subjektivität des Literaturwissenschaftlers vgl. Werner, Aneignung, S. 58. Vgl. Werner, Probleme, S. 20, 23, 25. Zur Kritik am Subjektivismus vgl. GeLiLe S.  138, zur Kritik an der „Mystifizierung des künstlerischen Subjekts“ vgl. GeLiLe, S. 108. Ebd. Ebd., S. 110. Ebd., S. 108–109. Ebd., S. 111. Ebd., S. 110. Vgl. Werner, Probleme, S. 25; vgl. GeLiLe, S. 142. GeLiLe, S. 128. Deshalb hatte Werner Krauss betont, dass „[d]ie wichtigste Waffe im Kampf mit der bürgerlichen Ideologie [...] der Gedanke der Geschichtlichkeit aller menschlichen Verhältnisse [ist]“. Krauss, Karl Marx, S.  451; vgl. Barck/Naumann/Schröder, Literatur, S. 576. Werner, Probleme, S. 25. Werner, Aneignung, S. 61; dort zunächst noch Kritik am „Allgemein-Menschlichen“.

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che Konstante zurückgreifen – bei Dilthey handelt es sich dabei um das „Gleichförmige der Menschennatur“.71

2. Ich habe versucht, an Textbeispielen plausibel zu machen, inwiefern in der ‚humanistisch-normativen‘ Richtung der Germanistik jene Ideologeme und Mystifizierungen wiederauftauchen, die in „Gesellschaft – Literatur – Lesen“ aus einem gesellschaftswissenschaftlichen Selbstverständnis heraus als Elemente einer idealistischen Literaturwissenschaft analysiert worden waren. Damit wollte ich zeigen, dass man die ‚humanistisch-normative‘ Richtung als ‚methodisch rückschrittlich‘ einschätzen kann, wenn man vom Standpunkt der Rezeptionstheorie aus argumentiert: Legt man das durch Krauss u. a. erarbeitete methodische Instrumentarium zu Grunde, lassen sich Argumentationsfiguren in Texten der späten siebziger und achtziger Jahre, insbesondere bei Werner, als Mystifizierungen und Fetischisierungen einer Autonomieästhetik großer literarischer Werke analysieren. Eine gewisse Ambivalenz liegt jedoch darin, dass die Position Werners zeitgenössisch von vielen Literaturwissenschaftlern auch als Emanzipation von einer als oktroyiert empfundenen, politisch vorgegebenen Verpflichtung der Literaturwissenschaft auf sozial- und ideologiegeschichtliche Fragestellungen wahrgenommen und deshalb begrüßt wurde.72 Insbesondere ließen sich seine Arbeiten auch als Kritik an einem allzu undifferenziert vorgehenden Vulgärsoziologismus benutzen. Das objektiv rückschrittliche Moment scheint mir gleichwohl darin zu liegen, dass Werners autonomieästhetische Argumentation in der Konsequenz auf eine Kritik an einer gesellschaftswissenschaftlichen Ausrichtung der Literaturwissenschaft überhaupt hinausläuft und nicht nur auf eine Kritik an deren vulgarisierten Schwundformen. An diesen Befund lässt sich in zwei Richtungen anschließen. Zum einen wissenschaftshistorisch: Welche weitere Tendenzen in der DDR-Germanistik ließen sich unter einen so verstandenen Begriff von ‚methodischem Rückschritt‘ bringen? Ich denke hier an bestimmte Richtungen der Entwicklung der Germanistik der achtziger Jahre, wie etwa die Fixierung auf Textanalyse (in enger Anbindung an die Sprachwissenschaft, etwa an der Universität Halle) oder auch die Forschungsprogramme zu Autorpoetiken und Schriftstellerselbstverständnissen (wie etwa an der PH Potsdam). Lassen sich nicht auch diese beiden Richtungen in bestimmten Hinsichten als Symptome 71 72

Vgl. GeLiLe, S. 107. In der Diskussion dieses Vortrags ist diese Ambivalenz sehr deutlich geworden und hat mich zur Differenzierung meiner Einschätzung veranlasst.

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der Re-Auratisierung von Werk und Autor nach der rezeptionsästhetischen Wende deuten? Auch die für die achtziger Jahre als Forschungsschwerpunkte ausgewiesenen Themen „künstlerische Subjektivität“73 und die naturalisierende Kategorie der „Generationsspezifika“74 erscheinen unter dieser Perspektive nicht unproblematisch. Mir scheint jedoch noch eine andere Blickrichtung weiterführend, die Frage nämlich nach dem kulturpolitischen Zusammenhang, in dem die ‚humanistisch-normative‘ Richtung der Literaturwissenschaft der achtziger Jahre steht. Ich habe oben versucht zu zeigen, wie in den Texten Werners auch exemplarisch deutlich wird, wie die Kritik an einem gesellschaftswissenschaftlichen Selbstverständnis der Literaturwissenschaft letztlich, auch gegen subjektive Beteuerungen,75 auf Enthistorisierung und damit auf ein Konzept des ‚Allgemein-Menschlichen‘ hinausläuft, das wiederum die genaue Gegenthese zur Überzeugung vom ‚Klassencharakter‘ der Literatur ist.76 Das ist nun genau der Punkt, an dem sich, wie gezeigt werden soll, ein struktureller Zusammenhang mit kulturpolitischen Änderungen in der sogenannten Erbetheorie nachweisen lässt. Denn die ideologiegeschichtliche Betonung des „Klassencharakter[s] der Literatur“77 war von Anfang an auch eine literaturwissenschaftliche Begründung deutscher Zweistaatlichkeit.78 In dem Beitrag des „Positionen“-Bandes über Krauss hatte es geheißen: „Diese Erkenntnis [des Klassencharakters der Literatur] ist für die Herausarbeitung des Klassencharakters der gegenwärtigen Literaturströmungen von größter Bedeutung. So sind zum Beispiel die staatlich-politischen Grenzen zwischen

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Thierse/Kliche, DDR-Literaturwissenschaft, S. 294, dort hervorgehoben. Ebd., S. 295. Vgl. bspw. Werner, Aneignung, S. 59. Dabei gilt generell, dass die ‚humanistisch-normative‘ Richtung der DDR-Literaturwissenschaft zur Erklärung der ästhetischen Bedeutsamkeit von Literatur immer stärker auf ein Konzept anthropologischer Konstanten und des ‚Allgemein-Menschlichen‘ zurückgriff, gegen das sich die Ideologiegeschichte gerade gerichtet hatte. Vgl. etwa Werner, Probleme, S. 25 („Muster menschlicher Grundsituationen“). Bei Werner, Aneignung, S. 61–63, findet sich zwar zunächst eine Warnung vor dem sofortigen Bezug aufs „Allgemein-Menschliche“, dann aber doch der Bezug auf „Grundmuster von Welterfahrung“. Der unproblematisierte Bezug aufs ‚Allgemein-Menschliche‘ war jedoch nicht auf die ‚humanistisch-normative‘ Richtung beschränkt: Auch bei Dieter Schlenstedt, einem der Autoren von „Gesellschaft – Literatur – Lesen“, findet sich 1980 der positive Bezug auf „anthropologische[] Konstanten“ (Schlenstedt, Wertung, S. 85). Vgl. als weitere Beispiele für den unproblematisierten Bezug auf das ‚Allgemein-Menschliche‘ auch die gängigen Lehrbücher, etwa: Zur Theorie des sozialistischen Realismus, S. 503–505; so auch in sowjetischen Werken, etwa Kagan, Vorlesungen, S. 594–596. Barck/Naumann/Schröder, Literatur, S. 588. Ebd., S. 589.

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der DDR und Westdeutschland, wie Krauss vermerkt, gleichzeitig auch ‚die Grenzen zwischen zwei Literaturen geworden.‘“79 Deshalb steht, so meine These, die Verschiebung vom ‚Klassencharakter‘ zum ‚Allgemein-Menschlichen‘ in der Literaturwissenschaft in engem Zusammenhang mit einer bestimmten Entwicklung in der Erbetheorie. Und zwar bedeutete, um das kurz vorwegzunehmen, die autonomieästhetische Kritik an ideologiegeschichtlichen Zugängen zugleich die Kritik am literaturwissenschaftlichen Hintergrund einer erbetheoretischen Position, die als kulturpolitische Legitimation deutscher Zweistaatlichkeit verstanden werden konnte.80 Ich kann hier nur in größter Verkürzung auf Struktur und geschichtliche Entwicklung der Erbetheorie, die für sich selbst ein hochinteressantes Forschungsthema darstellt, eingehen. Es ist im Folgenden vor allem wichtig, dass es sich bei der Erbetheorie – als einer allgemeinen Theorie des gesellschaftlichen Verhältnisses zur kulturellen Überlieferung – um ein wichtiges Verbindungsglied zwischen Literaturwissenschaft und Kulturpolitik handelte. Grob schematisiert lässt sich die geschichtliche Entwicklung der Erbetheorie in der DDR in drei Phasen einteilen: Die Erbetheorie war zunächst lange Zeit geprägt von ihren bündnispolitischen Anfängen und der sich daraus ergebenden Klassik-Fixierung. Diese Fixierung war lange Zeit kulturpolitische Praxis, ohne dass es eine ausgearbeitete Theorie gegeben hätte. Das eigentliche Bemühen um eine elaborierte und kohärente Theoretisierung des Erbebezugs setzt erst Ende der sechziger Jahre ein und steht „im unmittelbaren Kontext realpolitischer Umbrüche“,81 nämlich dem Bemühen der DDR um staatliche Anerkennung und damit der Legitimation deutscher Zweistaatlichkeit. Die Erbetheorie war in ihrer zweiten Phase, in der auch die Zahl theoretischer Publikationen rapide stieg, ab Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre, der Intention nach „eine entschieden legitimatorische Angelegenheit“ und damit eine wissenschaftliche Reaktion auf „kulturpolitischen Legitimationsdruck.“82 Eines der grundlegenden Legitimationsverfahren bestand dabei darin, „die aktuelle Zweistaatlichkeit durch die Konstruktion einer fortschrittlichen und einer rückschrittlichen kulturellen Überlieferung historisch zurück[zu]verlängern“83, also von einer 79

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Ebd., S.  589. Der zitierte Satz heißt im Ganzen: „Staatlich-politische Grenzen, wie sie Deutschland seit 1945 zerreißen, sind die Grenzen zwischen zwei Literaturen geworden, zwischen denen es keinen Kontakt gibt, ja, die nicht einmal mehr voneinander Kenntnis nehmen.“ (Krauss, Grundprobleme, S. 26; auch in: Krauss, Literaturtheorie, S. 155) Insofern gehört dieser Punkt zur Entwicklung der Erbetheorie hin zu einem Konzept des ‚nationalen Kulturerbes‘, und damit vielleicht auch letztlich hin zu einem Konzept der Einheit der ‚Kulturnation‘. Vgl. Peitsch, Erbe, S. 696. Willer, Politik, S. 47. Ebd., S. 45. Ebd., S. 57. Dabei bestand das Dilemma in Folgendem: „Bei einer frühen Datierung dieser

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„internen deutschen Heterogenität“84 auszugehen. Es wird schon an dieser Stelle erkennbar, wie eine Theorie der internen Heterogenität der kulturellen Überlieferung – man denke hier auch an Lenins Theorie der zwei Kulturen in jeder Kultur85 – in Zusammenhang steht mit der literaturwissenschaftlichen These vom ‚Klassencharakter der Literatur‘ (s. o.). Auf jeden Fall ist wichtig, dass die Überzeugung von der Heterogenität des kulturellen Erbes eine offene Konzeptualisierung von Kriterien der Auswahl des zu Erbenden verlangt. Dieser Punkt ist im Folgenden entscheidend. Denn interessanterweise setzt das intensive theoretische Bemühen um die Erbetheorie86 zu einem Zeitpunkt ein, an dem in der Praxis der Literatur und Literaturvermittlung die Kriterien dieser frühen Form der Erbetheorie bereits immer mehr aufgeweicht und zurückgedrängt werden. Für den angesprochenen Zeitraum, spätestens seit dem Beginn der siebziger Jahre, lässt sich nämlich im Blick auf die Erbepraxis in der DDR-Literatur als offensichtlichste Neuerung eine immense Ausweitung des Kanons ‚erbefähiger‘ Werke und Epochen feststellen. Hier ist zunächst beispielsweise an die vielfältigen Adaptionen und Nacherzählungen weltliterarischer Stoffe in der Literatur zu denken.87 In der Kulturpolitik finden sich dann seit 1972 die Formeln von der „Aneignung der ganzen Breite des kulturellen Erbes“88 und von dessen „Weite und Vielfalt“.89 Für den Bereich des ‚Erbefähigen‘ lässt sich also eine zunehmende Pluralisierung des Kanons beobachten, analog zur internen Pluralisierung des Realismusbegriffs in der Literaturwissenschaft der damaligen Zeit, die mit

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Heterogenität lief man Gefahr, undialektisch zu verfahren, zuviel an Erbe auszuschließen und sich auf eine ‚pseudolinke‘ Position zu begeben, während eine zu späte Datierung die Heterogenitätsthese als solche in Frage gestellt hätte“ (ebd.). Ebd. Vgl. Lenin, Bemerkungen. So erklärt Hans Koch 1970 „die Ausarbeitung einer historisch-materialistischen ‚Generalkonzeption‘ der wesentlichen geschichtlichen Gesetzmäßigkeiten und (vor allem nationalkulturellen) Prozesse, die historisch zum sozialistischen Realismus unserer Tage hinführen“, zur wichtigsten Aufgabe der Kulturwissenschaften; das solle auch bedeuten, „wesentliche Grundlagen für eine in sich geschlossene, marxistisch-leninistische Theorie der Übernahme des progressiven, humanistischen und realistischen Erbes in die Kultur der sozialistischen Gesellschaft zu schaffen“ (Koch, Standpunkt, S. 9). Stefan Willer sieht die Welle von Adaptionen weltliterarischer und mythologischer Stoffe durch die Schriftsteller seit Beginn der siebziger Jahre als „ausdrückliche Gegenbewegung zu erbetheoretischen Programmen und Analysen“ (vgl. Willer, Politik, S. 59). Dass die Adaptionskonzepte der Schriftsteller tatsächlich zum Teil in äußerst kritischem Bezug zur ‚offiziellen‘ Theorie stehen, habe ich am konkreten Beispiel der Bearbeitung des „Nibelungenlieds“ durch Franz Fühmann zu zeigen versucht in: Reiß, Weltuntergangsmaschine. Zu den Aufgaben der Kultur- und Kunstwissenschaften, S. 26; meine Hervorhebung. Der Ausdruck entstammt einer Schrift Brechts zur Expressionismusdebatte (Brecht, Weite und Vielfalt.); vgl. Peitsch, Erbe, S. 694.

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der Rehabilitierung der Position Brechts als gleichermaßen legitime Theorie des Realismus begonnen hatte.90 Das Dilemma bestand aber in Folgendem: Je größer der Umfang des kulturellen Erbes wurde, auf das man Anspruch erhob, um so weniger konnte eine kohärente Theoretisierung der Kriterien, nach denen ‚Erbefähiges‘ ausgewählt wurde, gelingen. In der dritten Phase der Erbetheorie, die in den achtziger Jahren ihren Höhepunkt erreicht, führt das dann dazu, dass man in immer neuen Formulierungen, man müsse sich dem ‚ganzen‘ Erbe stellen, die Notwendigkeit einer Auswahl überhaupt abzustreiten begann.91 Die mindestens implizite Ersetzung der Heterogenitätsthese durch eine Theorie der Einheit der kulturellen Überlieferung führt in kulturpolitischen Veröffentlichungen etwa dazu, dass das „Bewußtwerden der Verwurzelung der sozialistischen deutschen Nation in der ganzen deutschen Geschichte“ angemahnt wird.92 Auf die Hintergründe dieses komplexen kulturpolitischen Prozesses kann ich hier nicht weiter eingehen, auch nicht auf die Tatsache, dass dieser Rhetorik des ‚Ganzen‘ durchaus auch von einer Position aus vorgearbeitet worden ist, die sich als Kritik an der offiziellen Kulturpolitik begriff.93 Worum es mir hier geht, ist die Beobachtung, dass die ‚humanistisch-normative‘ Richtung in der germanistischen Literaturwissenschaft geeignet war, die erbetheoretische Ersetzung der Heterogenitätsthese durch ein Konzept der 90 91

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Vgl. Mittenzwei, Brecht-Lukács-Debatte; vgl. dazu oben. Symptomatisch für diese Entwicklung scheint auch die Verschiebung im Begriff des Erbes, insbesondere im Verhältnis zum Begriff der Tradition zu sein: Während in der ersten Phase der Erbetheorie der Begriff des Erbes, im Gegensatz zum Begriff der Tradition, eine bewusste Auswahl aus der kulturellen Überlieferung bezeichnete, der Begriff des Erbes damit für „die Elemente der geistigen Kultur der Vergangenheit“ stand, „die in einem parteilich bestimmten Interesse kritisch anzueignen sind“ (Peitsch, Tradition, S. 688.), hat sich dieses Verhältnis der Begriffe zueinander später genau umgekehrt: Der Begriff des Erbes bezeichnet nunmehr – und im Unterschied zum Begriff der Tradition, dem als Gegenbegriff jetzt die Funktion der wertenden Kategorie zukommt – die Gesamtheit der Überlieferung. Vgl. dazu Mai, Nation, S. 62. – Diese Begriffsverschiebung zeigt in aller Deutlichkeit, dass das Erbe nun als Einheit verstanden wird. Haase, SED, S. 509; meine Hervorhebung. – So empfahl man sich dann beispielsweise auch die „kulturellen Werte der Vergangenheit Preußens“ zur Aneignung. Vgl. als Beispiel für diese Entwicklung den neuen Preußen-Bezug aus der Sicht der DDR-Geschichtswissenschaft Mittenzwei, Gesichter; Bartel/Mittenzwei/Schmidt, Preußen. Zur Frage, inwiefern diese Entwicklung mit der zunehmenden Durchsetzung des Konzepts der deutschen ‚Kulturnation‘ in den achtziger Jahren in Westdeutschland verbunden ist, vgl. Peitsch, Erbe, S. 696. Als Beispiel hierfür könnte man Äußerungen Franz Fühmanns heranziehen. Fühmann kritisiert den Erbebegriff, weil er werte und auswähle, und spricht beispielsweise davon, dass es darum gehe, das in der Literatur „Angelegte“ gegen einen äußerlichen, weil politischen Erbebegriff zu verteidigen (vgl. Krüger, Literatur). Fühmann, so Krüger, verstehe sich als Vertreter „der dezidierten Position, dass Erbe weder teilbar noch gegenseitig ersetzbar bzw. austauschbar sei und dass man in diesem Sinne die Romantik ohne die Klassik nicht haben könnte, wie auch umgekehrt“ (ebd., S. 44; dort Verweis auf Fühmanns Akademie-Rede zu E.T.A. Hoffmann von 1976).

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Einheit der kulturellen Überlieferung literaturwissenschaftlich zu legitimieren. Die Kritik an der Ideologiegeschichte im Namen der Autonomieästhetik bedeutete zugleich Kritik an derjenigen literaturwissenschaftlichen Position, die die erbetheoretische Heterogenitätsthese begründen konnte – und die erbetheoretische Heterogenitätsthese war eine entscheidende Figur der kulturpolitischen Legitimation deutscher Zweistaatlichkeit; die ideologiegeschichtliche Betonung des „Klassencharakter[s] der Literatur“94 hatte von Anfang an auch eine literaturwissenschaftliche Begründung deutscher Zweistaatlichkeit dargestellt.95 Die erbetheoretische Implikation der erlebnis- und autonomieästhetischen Kritik am gesellschaftswissenschaftlichen Selbstverständnis der Literaturwissenschaft wird von dem führenden Vertreter der ‚humanistisch-normativen‘ Richtung an anderer Stelle offen ausgesprochen: „Die Vorstellung, daß dabei [d. h. im Zugriff auf das Erbe] das Positive wie die Rosinen aus dem Kuchen herausgepickt und das Negative wie die Krümel vom Tisch beiseite gefegt werden können, ist mit dem Wesen von Kunst und Kultur sowie der Eigenart ihrer Wirkung unvereinbar.“96. Ein solches Verständnis des Erbes markiert das Ende der „Erbe-Theorie in ihrer Funktion als Institution der Auswahl“.97 Es ist die deutliche Absage an jede Heterogenitätsthese, und es ist damit letztlich auch die Absage an „ein Verständnis des Erbens als eines historischen, widersprüchlichen, von den Bedürfnissen der Gegenwart gelenkten Verhältnisses.“98 Wenn man von der besonderen Akzentuierung ganz absieht, die ein solches Konzept im kulturpolitischen Kontext der Geschichte der Legitimierungs- und Delegitimierungskämpfe in Bezug auf die Zweistaatlichkeit Deutschlands erhält, so liegt, allein aus der Perspektive der Literaturwissenschaft betrachtet, die Problematik einer solchen Position in Folgendem: Wenn diese Position ihre Kritik an Kriterien der Auswahl des ‚Erbefähigen‘ so versteht, dass es eine Kritik jeder kriteriellen Auswahl überhaupt sein soll, dann kann man das auch so verstehen, dass den tatsächlichen gesellschaftlichen Auswahlprozessen – durch Verlage, Schulen, Universitäten usw. – mit Desinteresse begegnet wird. Die literaturwissenschaftliche Reflexion auf diese Prozesse wird als ihrem eigentlichen Gegenstand äußerlich abgewertet: Die Erforschung der „realgesellschaftlichen Beziehungen“ von Produktion, Distribution und Rezeption setze nur „partielle Aspekte des Phänomens Literaturgeschichte absolut“,99 das „gesellschaftliche Interesse“ an den „ge94 95 96 97 98 99

Barck/Naumann/Schröder, Literatur, S. 588. Ebd., S. 589. Werner, Vorbemerkungen, S. 10. Peitsch, Probleme, S. 311. Thierse/Kliche, DDR-Literaturwissenschaft, S. 300. Werner, Probleme, S. 22.

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nerellen Mechanismen von Literaturproduktion und -wirkung“ stelle nur „ein abgeleitetes“ Interesse dar.100 In der Folge ergibt sich daraus der Zwang, die Rezeptionsgeschichte zu naturalisieren: „‚Mittelfristig‘ […] sondert sich in der Wirkungsgeschichte zumeist die literarische Spreu vom Weizen.“101 Zu diesem Naturalisierungsprozess gehört die Kritik an der literaturwissenschaftlichen Reflexion auf den gesellschaftlichen Vermittlungsprozess als der „bedeutungsvolle[n] einzelne[n] Dichtung“102 gegenüber äußerlich. An diese Beobachtung anschließend ließen sich Überlegungen anstellen, inwiefern der historische Nachweis des Zusammenhangs zwischen einer solchen idealistischen Hermeneutik und einer bestimmten Art der Identitätsproduktion zu einer kritischen Befragung gegenwärtiger methodischer Orientierungen der Literaturwissenschaft überleiten könnte. Das kann ich hier nicht mehr ausführen.103 Nur soviel: Wenn sich tatsächlich zeigen lässt, dass gerade die ‚humanistisch-normative‘ Richtung später, nach dem Ende der DDR-Wissenschaft, aufgrund ihrer autonomieästhetischen Akzentuierung als die eher ‚moderne‘, interessante oder ‚liberale‘ Richtung der DDRLiteraturwissenschaft rezipiert wurde, sagt das natürlich auch etwas über die Position aus, von der aus eine solchen Einschätzung vorgenommen wird. Wenn man, wie ich zeigen wollte, mit Hilfe des methodischen Instrumentariums aus „Gesellschaft – Literatur – Lesen“ die ‚humanistisch-normative‘ Richtung der DDR-Germanistik kritisieren kann, dann müsste man mit diesem Instrumentarium auch die Position kritisieren können, von deren methodischen Prämissen aus es naheliegt, diese ‚humanistisch-normative‘ Richtung heute rückblickend als Liberalisierung einzuschätzen. Helmut John (PH und dann Universität Potsdam) hat in seinem einleitenden Aufsatz zu dem von ihm und Gustav Schröder herausgegebenen Band Literaturrezeption in praktischer Sicht (1982) das Ziel literaturwissenschaftlichen Arbeitens so bestimmt: „Es geht primär darum, die Fähigkeit des Lesers zu erhöhen, an einem gesellschaftlichen Kommunikationsprozeß als gleichberechtigter Partner teilzunehmen“104. Wenn man diese emanzipatorische Zielbestimmung der Literaturwissenschaft ernst nimmt, dann ist, so scheint mir, die Kritik an bestimmten Formen ‚idealistischer‘ Literaturtheorie, wie sie in „Gesellschaft – Literatur – Lesen“ kritisiert wurde, noch und gerade heute aktuell. 100 101 102 103

Werner, Aneignung, S. 63; Hervorhebung im Original. Werner, Probleme, S. 24. Werner, Aneignung, S. 63. Zu denken wäre hier etwa an eine Kritik derjenigen Formen der Literaturwissenschaft, die heute in ihrer Funktion für Identitätsproduktion und für die Formierung des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ nachgefragt werden. 104 John, Literaturbegriff, S. 16.

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Rezeptionsästhetik der siebziger und achtziger Jahre

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Christian Vorein

Von der Erziehung durch Literatur zur Erziehung zur Literatur Literaturtheorie und -methodik der DDR in Beiträgen der Zeitschrift „Deutschunterricht“

Die Zeitschrift „Deutschunterricht“ ist die einzige spezifisch an die Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer gerichtete Fachzeitschrift der DDR. Die Zielstellungen des Fachorgans, so ist in der ersten Ausgabe im Juli 1948 zu lesen, sind die Beteiligung des Deutschlehrers an wissenschaftlicher Arbeit, an der Erarbeitung einer wissenschaftlichen Didaktik und Methodik und die Unterstützung bei der „Erziehung zum selbständigen Denken und gesellschaftsverpflichteten Handeln“1. Ab 1952 erscheint das bisher zweimonatlich erschienene Periodikum mit neuen Ambitionen: monatliches Erscheinen, verstärkter Umfang, enge Bindung der Beiträge an den Lehrplan, Erweiterung des methodischen Teils, Quellenhinweise und Veröffentlichung von Unterrichtsmaterial dienen einem Ziel: der besseren Qualifizierung der Deutschlehrer, der Leistungssteigerung im Unterricht, der Hebung des wissenschaftlichen Niveaus in allen Erziehungs- und Bildungsfragen.2

Es kann davon ausgegangen werden, dass die Zeitschrift ein nicht unwesentlicher Faktor gewesen ist, um Deutschlehrkräften fachwissenschaftliche und parteipolitische Positionen zu vermitteln.3 Da der „Deutschunterricht“ das offizielle Fachorgan der DDR ist, liegt die Vermutung nahe, dass beide Positionen übereinstimmen, die Fachwissenschaft also im Dienst der Politik steht. Der Aufsatz verfolgt daher zwei Ziele: Zum einen soll der Wandel im Literaturverständnis und damit verbunden der methodischen Konsequenzen aufgezeigt werden, insofern er sich in Aufsätzen der Zeitschrift wider1 2 3

Redaktion „Deutschunterricht“, Einführung. Harnisch, Deutschunterricht, S. 1. Auch heute noch spielen die Fachzeitschriften eine maßgebliche Rolle. Vgl. Kunze, Konzepte, S. 422.

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spiegelt. Dabei interessiert zum anderen der Grad an Meinungsverschiedenheiten zwischen fachwissenschaftlichen und parteioffiziellen Ansichten, sozusagen das „Zappeln unter der Decke“, wie es Hartmut Jonas nennt.4 Von Beginn an werden in der DDR mit dem Unterricht nicht nur Bildungs-, sondern dezidiert auch Erziehungsziele verfolgt. Nach dem Zweiten Weltkrieg soll u. a. mit Hilfe schulischer Erziehung eine Wiederholung dieses Schreckens verhindert werden, soll Schule nicht nur Erziehung, sondern auch Umerziehung leisten.5 Der Deutschunterricht erhält dabei einen „hervorragenden Platz“, wie bereits Artikel in den frühen Ausgaben der Zeitschrift „Deutschunterricht“ belegen.6 Spätestens Anfang der fünfziger Jahre wird deutlich, in welche Richtung sich der Deutschunterricht zu bewegen hat. Literaturunterricht führt in einem planmäßig gelenkten Bildungs- und Erziehungsprozeß über das Verständnis für die konkreten Zusammenhänge zwischen Dichter, literarischem Werk und gesellschaftlicher Wirklichkeit zur parteilichen Beurteilung gesellschaftlicher Erscheinungen und zu festen, begründeten Überzeugungen und unterstützt die Erziehung edler, starker, gesellschaftlich wertvoller Gefühle und die Ausbildung von Eigenschaften, die die Schüler zu bewußten, disziplinierten und aktiven Staatsbürgern macht.7

Dabei müsse auch das methodische Vorgehen überdacht werden, denn zwischen den „reaktionären Methoden der Literaturbetrachtung“ und dem „kulturellen Verfall“ der „unfähig gewordenen bürgerlichen Gesellschaft“ würde ein sichtbarer Zusammenhang bestehen.8 Der emphatische Glaube der Schulverantwortlichen in der DDR an die Steuerbarkeit der Erziehung prägt auch die Konzeption des Literaturunterrichts. In seinem, 1951 erschienenen, programmatischen Aufsatz „Deutschunterricht auf der Grundlage der dialektisch-materialistischen Literaturbetrachtung“ fordert Lothar Ziechert Deutschlehrer auf, „das literarische Kunstwerk als eine besondere Form der Spiegelung der objektiven Wirklichkeit“9 zu vermitteln. Damit wird ein zentraler Begriff der marxistischen Literaturtheorie eingeführt, der das Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit definieren soll. Einen verbindlichen Sinn hat dieser zentrale Begriff jedoch nie erlangt.10 Deshalb kann nicht von dem Widerspiegelungsbegriff die Rede sein. Das Verständnis dieser Kunst-Wirklichkeits-Beziehung wandelt sich – und damit wandeln sich auch die jeweils daraus abgeleiteten methodologischen Forderungen. 4 5 6 7 8 9 10

Jonas, Literaturunterricht, S. 138. Waterkamp, Erziehung, S. 269. Vgl. auch Kluchert, Erziehung. Thomsen, Deutschunterricht, S. 3. Ziechert/Donath, Bildungs- und Erziehungsziele, S. 471. Ziechert, Deutschunterricht, S. 10. Ebd. Schlenstedt, Problemfeld, S. 6.

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Literatur wäre Ziechert zufolge das „Ergebnis einer harten intellektuellen und moralischen Arbeit“11 des Schriftstellers, mit der er um Erkenntnis der objektiven Realität strebe – genauso wie die Wissenschaftler. Während diese aber mit Begriffen arbeiten, „schafft der Künstler in verdichteten Bildern“.12 In Ziecherts Forderung nach einer „dialektisch-materialistischen Literaturbetrachtung“ äußert sich die an Georg Lukács’ Kunstauffassung13 anknüpfende gnoseologische Orientierung, nach der Literatur die Fähigkeit und die Aufgabe besitze, „das Wesen der Wirklichkeit künstlerisch […] zu erkennen“.14 Sowohl Wissenschaft als auch Kunst würden demzufolge nach Erkenntnis der umgebenden Welt streben, Ausgangspunkt beider wären Beobachtung und Betrachtung.15 Wenn nun die Kunst bildlich darstelle, was die Wissenschaft begrifflich erfasse, müsste sich der Wert der Kunst als „Veranschaulichung einer Erkenntnis“16 danach richten, wie exakt und wie tiefgründig Gegenstände der Welt widergespiegelt werden.17 Eine zweite Tendenz der Anfangsjahre lässt sich als soziologische Orientierung charakterisieren.18 Dabei wird an eine soziologisch fundierte Kunsttheorie angeknüpft, die maßgeblich von Georgij W. Plechanow etabliert wird.19 Aufbauend auf Marx’ These, dass das gesellschaftliche Bewusstsein von sozialen Existenzbedingungen determiniert wird, werden literarische Phänomene als „ideologische, durch die ökonomisch-sozialen Verhältnisse bedingte Erscheinungen geortet“.20 Im Rezeptionsprozess bestehe daher die Aufgabe darin, die „Idee eines gegebenen Kunstwerkes aus der Sprache der Kunst in die Sprache der Soziologie zu übertragen, um das zu finden, was man als soziologisches Äquivalent einer gegebenen literarischen Erscheinung bezeichnen kann“.21 Literarische Werke werden dementsprechend als 11 12 13

14 15 16 17

18 19 20 21

Ziechert, Deutschunterricht, S. 10. Ebd., S. 11. Vgl. Lukács, Einführung. „Seine Realismustheorie, sein ästhetischer Klassizismus und militanter Antimodernismus, sein manichäisches Konzept der deutschen Literaturgeschichte, bestimmten bis weit in die 60er Jahre die literaturwissenschaftlichen Seminare.“ (Barck, Literaturwissenschaft(en), S. 217) Schlenstedt, Problemfeld, S. 16. Vgl. auch Gysi, Kampfaufgaben, S. 123. Schlenstedt, Problemfeld, S. 90. Vgl. Gysi, Kampfaufgaben, S. 202: „Sobald die formalen Mittel der Kunst nicht mehr die Hauptaufgabe haben, die Grundgedanken des Verfassers auf das schärfste hervortreten zu lassen, ist der künstlerische Wert des Werkes gefährdet.“ Göbel, Blick, S.  413. Auch: Schlenstedt, Problemfeld, S.  52; Jonas, Literaturunterricht, S. 141. Plechanow, Kunst. Schlenstedt, Problemfeld, S. 54. Plechanow, Kunst, S. 219.

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Produkt angesehen, als Resultat der klassenmäßig bestimmten Ursache seines Entstehens und damit als historischer Beleg dieser Zeit. Eine Auswirkung dessen ist die Fokussierung auf die Produktionsweise und die darin wirkende Weltanschauung des Künstlers. Eine weitere Folge ist die Auffassung, dass künstlerisch gestaltete Wertvorstellungen linear, sozusagen mechanisch auf die Schüler übertragen werden könnten. So behaupten Ziechert/Donath 1959: „Die Schüler erleben unmittelbar an sich selbst die vielfältigen Wirkungen eines literarischen Kunstwerkes, das ihre Vorstellungskräfte und ihr Denken, ihre Gefühle, ihr Sprachbewusstsein, ihren Willen in Bewegung setzt und aktiviert.“22 Lesen Schüler literarische Werke, die sozialistische Wertvorstellungen thematisieren, werde ihre Persönlichkeit also entsprechend geprägt. Walther Dreher bemerkt, dass die stärksten Impulse für die sozialistische Erziehung „ausgehen von der sozialistischen Literatur, von der Literatur also, die das Denken und Fühlen der werktätigen Menschen widerspiegelt und der Errichtung der sozialistischen Gesellschaft beziehungsweise der Festigung der sozialistischen Ordnung unmittelbar dient“23. Deshalb fordert er eine Überarbeitung des Kanons und eine stärkere Berücksichtigung sozialistischer Gegenwartsliteratur, denn noch habe die Literaturarbeit „einen überwiegend demokratischen, nicht einen überwiegend sozialistischen Charakter.“24 In den Klassen 7 und 8 sollten daher Schillers „Bürgschaft“, Lessings „Ringparabel“ oder Fontanes „Effi Briest“ ersetzt werden durch Texte von Weerth, Brecht und Strittmatter. Die soziologische Auffassung, nach der Literatur bereits eine Wirkung an sich zugestanden wird, beeinflusst die staatlich gelenkte Auswahl der Schullektüre bis 1989.25 Die beschriebenen Auffassungen des Widerspiegelungsbegriffs dominieren das Literaturverständnis der fünfziger Jahre, wirken auch darüber hinaus. Literatur wird ein hoher Wirkungscharakter zugeschrieben, demzufolge könnten literarische Werke für den Prozess der Erziehung resp. Umerziehung funktionalisiert werden. Dafür seien im Unterricht die entsprechenden Inhalte herauszuarbeiten. Die Aufsätze thematisieren deshalb hauptsächlich Kanon- und Wissensfragen. Die Fokussierung auf die Erkenntnis- bzw. Erziehungsfunktion der Literatur verleitet jedoch zum stereotypen Gebrauch von Literatur, durch den Schülern ein statisch gegebener und nicht veränderbarer Sinn vermittelt 22 23 24 25

Ziechert/Donath, Erläuterungen, S. 244. Dreher, Literaturunterricht, S. 175. Vgl. auch die noch im selben Jahrgang des „Deutschunterricht“ erschienene Diskussion über Drehers Artikel in: Wie kann der Literaturunterricht? Dreher, Literaturunterricht, S. 176. Jonas, Literaturunterricht, S. 142. Vgl. Marnette, Präzisierung, S. 107 (Hervorhebung im Original): „Die Auswahl der Texte erfolgte daher in erster Linie von erzieherischen Gesichtspunkten aus.“

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werden soll.26 Die Folgen werden verstärkt seit Beginn der sechziger Jahre kritisch in der Fachzeitschrift diskutiert. In Leserbriefen27 wie auch in Aufsätzen wird die fehlende Spezifik des Deutschunterrichts bemängelt. Literatur, so wird kritisiert, werde nicht als Literatur, sondern als Demonstrationsobjekt politischer, ökonomischer oder moralischer Fragen behandelt – eine Erscheinung nicht nur des Literaturunterrichts, sondern auch der Literaturkritik.28 Anekdotisch beschreibt Karl Reichert seine angenehme Überraschung, dass bei einer Hospitation im Geschichtsunterricht Literatur herangezogen werde. Seine Freude verschwindet augenblicklich, als er bemerkt, dass es sich nicht um eine Geschichts-, sondern um eine Deutschstunde handelt.29 Diese „Geschichtsstunde mit literarischem Ausgangspunkt“30 wird als unangemessen empfunden, der Literaturunterricht müsse sich stärker profilieren und emanzipieren. Ansonsten würden die Schüler Literatur „nur noch als einen überflüssigen oder gar unbequemen Umweg zum Erwerb von Kenntnissen“ betrachten, zu denen man auch „direkter“, „zeitsparender“ gelangen könne.31 An der Kritik lässt sich das stereotype methodische Vorgehen in der Unterrichtspraxis erahnen, das unter dem Schlagwort Schematismus anhaltend diskutiert wird: 1. Biographie, 2. Einführung in die gesellschaftlichen Verhältnisse, 3. Werk, 4. Charakteristik der Hauptgestalten. Im Anschluss schreiben die Schüler „Aufsätze über die verschiedensten Themen, zum Beispiel: ‚Lessings Emilia Galotti – eine Anklage gegen den Feudalismus‘ oder ‚Heinrich Manns Untertan – ein Spiegel seiner Zeit‘ oder ‚Heinrich Heine – ein unerschrockener Kämpfer gegen die Reaktion‘. Diese Themen haben den Vorzug, daß sie immer passen. Man braucht nur Namen und Titel auszuwechseln.“32 Die Reaktionen lassen mehrere Schlüsse zu: Literatur wird in der Unterrichtspraxis auf der Grundlage soziologischer und gnoseologischer Auffassungen des Widerspiegelungsbegriffs vermittelt. Die Erkenntnisfunktion dominiert – reduziert auf rationale Inhalte, die herausgearbeitet, analysiert oder nacherzählt werden sollen. Eigenarten literarischer Texte werden dabei unzureichend berücksichtigt. Der Literaturunterricht erhält seinen hervorragenden Platz nicht wegen der angestrebten literarischen Bildung, sondern wegen der erhofften erzieherischen Wirkung von Literatur. 26 27 28 29 30 31 32

Göbel, Blick, S. 411. Bergner, Leserbrief, S. 115. Schuckmann, „Interpretieren“, S. 639. Reichert, Schematismus, S. 142. Marnette, Erziehung, S. 264; Hartwig, Erziehung. Hartwig, Literaturunterricht, S. 676. Reichert, Schematismus, S. 142. Vgl. auch John, Wege.

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Um durch die Literatur erziehen zu können, müsse auch zur Literatur erzogen werden.33 Diese Forderung erhebt Hans Marnette in seinem richtungweisenden Aufsatz „Zur Erziehung des schöpferischen Kunstgenießenden im Literaturunterricht“.34 Die von ihm kritisierten plakativen, schematischen Interpretationen beruhen seiner Ansicht nach darauf, dass „das ästhetische Wesen der schöngeistigen Literatur ungenügend berücksichtigt“35 wird. Die Rezeption von Kunst dürfe aber ihrem ästhetischen Wesen nicht widersprechen, denn die ästhetische Identifizierung sei der entscheidende Prozess für die Wirksamkeit der Literatur. Das individuelle Schicksal der literarischen Helden müsse zunächst nacherlebt werden, um eine Identifikation der Schüler zu ermöglichen. Ohne diese Identifizierung könnten „die großen erzieherischen Potenzen der literarischen Helden nicht wirksam werden“.36 Aufgabe der ästhetischen Erziehung im Literaturunterricht sei es deshalb, bei den Schülern die Vorstellungskraft zu entwickeln, damit die literarischen Schicksale „nacherlebt“ werden, sich die Schüler in die Figuren „hineinversetzen“ können. Hans Marnette und zahlreiche Aufsätze von Alfred Hartwig fordern einen Unterricht, der die einseitige Betonung der rein rationalen Interpretation überwindet. Stattdessen müsse eine „Einheit von Verstand und Gefühl, von Erkennen und Empfinden“37 hergestellt werden. Die Rezeptionskompetenz solle gefördert, die Kommunikation über Literatur verstärkt werden, um so „Bewegung sowohl im Sinne emotionalen Angerührtseins als auch rationalen Sichrührens“38 hervorzurufen. Dieser Umschwung im Literaturunterricht ist wohl auch deshalb möglich bzw. nötig, weil die rationalen Hinführungen zu ideologischen Schlussfolgerungen nicht die erhoffte Überzeugungskraft entfalten. Deshalb wird der intellektuellen Wirkung nicht mehr ausschließlich vertraut, „sondern das gesamte erzieherische Potential des Unterrichts, sein Wertegehalt, namentlich seine geistigen, moralischen und ästhetischen Gehalte, müssten in einem erziehenden Unterricht stärker zu ihrem Recht kommen.“39 Die einseitige Orientierung auf die verstandesgemäße Erkenntnisfunktion kann überwunden werden durch eine zunehmende Beachtung der ästhetischen Funktion. Theoretisch fundiert werden die Ansichten durch „Das ästhetische Wesen der Kunst“ von Alexander I. Burow40 und „Marxis33 34 35 36 37 38 39 40

Vgl. Ministerrat (Hg.), Lehrplan, S. 49. Marnette, Erziehung. Ebd., S. 267. Ebd., S. 270. Ebd., S. 271. Hartwig, Lehrplanleitlinien, S. 674; Hartwig, Aspekte und Hartwig, Aspekte (II). Neuner, Lehrplanarbeit, S. 294 (Hervorhebung im Original). Burow, Wesen.

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mus und Ästhetik“ von Hans Koch41, mit denen das Spezifische der Kunst bei der Aneignung der Realität herausgestellt wird: „jene Merkmale, die die Kunst von allen anderen Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins unterscheiden, die ihre qualitative Eigenart und damit ihre relative Selbständigkeit innerhalb der anderen Bewußtseinsformen bestimmen.“42 Beispielhaft für das neue, eigenständige Selbstverständnis und Selbstbewusstsein43 sind die „Grundpositionen des Literaturunterrichts“, die 1969 veröffentlicht werden: Im Literaturunterricht erfolgt die literarisch-ästhetische Bildung und Erziehung der Schüler; sie ist notwendiger Bestandteil der allseitigen Persönlichkeitsentwicklung und kann durch kein anderes Fach geleistet werden. Die literarisch-ästhetische Bildung und Erziehung hilft, das sozialistische Lebensgefühl und die sozialistische Lebensweise auszuprägen, sie befähigt zur aktiven Teilnahme am geistig-kulturellen Leben. […] Die literarisch-ästhetische Bildung und Erziehung ist also eine notwendige Seite der ganzen Persönlichkeitsentwicklung.44

Im Rahmen dieses Profilierungsprozesses etabliert sich im Verlaufe der sechziger Jahre auch die Methodik des Literaturunterrichts als eigenständige Disziplin der Pädagogischen Wissenschaften. Zu lösen ist eine der schwierigsten Aufgaben der DDR-Methodik. Ist bisher die erzieherische Wirkung von Literatur nicht in Frage gestellt worden, gerät diese Ansicht ins Wanken durch einen Paradigmenwechsel in der DDR-Literaturwissenschaft. Die literaturtheoretischen Reflexionen versuchen das Verhältnis der Literatur zur Wirklichkeit neu zu bestimmen und gehen seit Anfang der siebziger Jahre von einer produktionsästhetischen, rein werkorientierten Betrachtungsweise zu einer kommunikativ-funktionalen Herangehensweise über. Die Forschungsgruppe um Manfred Naumann untersucht die Leistung der Rezipienten im Aneignungsprozess und veröffentlicht ihre Ergebnisse im Sammelband „Gesellschaft – Literatur – Lesen“45, der als entscheidender Impuls für den Paradigmenwechsel in der Widerspiegelungstheorie angesehen werden kann.46 Literarische Werke werden darin als Rezeptionsvorgabe verstanden, die aber, eben weil sie für die Rezeption bestimmt sind, erst im Rezeptionsprozess vollendet werden. Die textorientierte Wirkungsforschung Hans-Georg Werners und Gotthard Lerchners kommt zu ähnlichen Ergebnissen, stellt „funktional bestimmte semantische Undeutlichkeiten 41 42 43

44 45 46

Koch, Marxismus. Burow, Wesen, S. 11. Die Profilierung als ästhetischer Unterricht wird dezidiert auch gegenüber offiziellen Erlassen eingefordert, so wird 1964 an den „Grundsätzen für die Gestaltung des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems“ bemängelt, dass die ästhetische Wirkung der Literatur nicht genügend berücksichtig wird: Hujer/Schmidt/Marnette, Stellung. Sallmon/Rumland/Bütow, Grundpositionen, S. 626. Naumann u. a. (Hg.), Gesellschaft. Schandera, Aspekte, v. a. S. 33.

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oder Mehrdeutigkeiten von Textstellen“ fest bzw. „Leerstellen im Text, die bei seiner Dekodierung gedanklich besetzt werden müssen“, so dass sie den Leser nicht als Rezipienten, sondern als „Reproduzenten“ verstehen.47 Die ab 1967 von Dietrich Sommer geleitete Abteilung „Literatursoziologie“ an der Universität Halle-Wittenberg untersucht die Lesepraxis und damit auch die Wirkung literarischer Texte empirisch.48 Die Ergebnisse widersprechen dem bis dahin herrschenden Literaturverständnis der DDR und unterstützen dadurch die neueren Ambitionen, den Literaturbegriff und seine Funktionsbestimmung zu differenzieren.49 Rita Schober betont, dass der Gegenstand der Literatur das „Verhältnis des Menschen zur Welt“ 50 wäre. Dieses Verhältnis wird vom Autor erkannt, gewertet, geformt und mitgeteilt.51 Dieser vierfachen Tätigkeit entspräche auch auf Rezipientenseite ein „aktives Mithandeln, d. h. Mitschaffen“52 auf Basis der individuellen Erfahrungen und Kenntnisse. Literatur wird so zu einem kommunikativ bestimmten Vorgang zwischen Schriftstellern und Lesern – literarische Werke werden nicht mehr verstanden als ein „fertiges, statisches Gebilde“ sondern „als Ausgangspunkt wirkungsästhetischer Vorgänge“.53 In unterschiedlicher Ausprägung wird in der DDR-Literaturwissenschaft dem Rezipienten eine Eigenleistung in der Sinnkonstituierung literarischer Werke zugeschrieben. Die unterschiedlichen Positionen und das Bemühen um die Wiederherstellung einer einheitlichen Begrifflichkeit und Interpretationspraxis werden deutlich in dem prominent besetzten Kolloquium „Theorie und Methoden der Interpretation literarischer Werke“, das vom 4. bis 7. März 1986 in Kühlungsborn stattfindet.54 Dieser notwendigerweise sehr verkürzt dargestellte Paradigmenwechsel55 bildet das theoretische Fundament für einen am Schüler orientierten 47 48 49 50 51

52 53 54

55

Lerchner/Werner, Probleme, S. 102–103; vgl. auch Werner, Probleme. Sommer u. a. (Hg.), Funktion; Sommer u. a. (Hg.), Leseerfahrung. Funke, Glanz, S. 134. Schober, Kommunikation, S. 26. Vgl. ebd. auch den Abschnitt „Rezeption und Bewertung“, S. 241–264. Die Begriffe des Wertens und der Parteilichkeit werden langanhaltend im „Deutschunterricht“ diskutiert, vgl. z. B. Hartwig, Lehrplanleitlinien, S. 610–619; Bütow/Scholz, Rezeption (II); Rumland, Aufgaben; Bütow, Überlegungen; Hohmann, Wertung. Schober, Kommunikation, S. 46. Schlenstedt, Problemfeld, S. 114. Diskussionsgrundlage sind die im Vorfeld publizierten Beiträge zu „Theorie und Methoden der Interpretation literarischer Werke“ in der Zeitschrift für Germanistik 6,4 (1985), S. 415–457. Die Referate und Diskussionsbeiträge sind veröffentlicht in den Heften: Staszak (Hg.), Werkbegriff; Staszak (Hg.), Theorie. Ausführlicher als dies im Rahmen dieses Aufsatzes möglich ist, beschreibt z. B. Jens Saadhoff in seiner Dissertation die Entwicklung der DDR-Literaturwissenschaft: „Germanistik in der DDR. Literaturwissenschaft zwischen ,gesellschaftlichem Auftrag‘ und disziplinärer Eigenlogik“, S. 229–310.

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Umgang mit Literatur im Unterricht. Bereits Anfang der siebziger Jahre wird der „aktiv-mitschaffende Charakter der Aneignung“56 durch die Schüler berücksichtigt, werden Schüler „Mitspieler im Geschehen“, er „spielt Varianten für sich durch, bringt dabei seine eigenen Erkenntnisse, Erfahrungen, Überzeugungen ins Spiel“.57 In der Lehrplaninterpretation der Klasse 9, die in der Zeitschrift veröffentlicht wird, betont Bütow: Der Schüler will jedoch auf dieser Altersstufe nicht einfach vom Lehrer ‚an die Hand genommen‘ und geführt werden; er möchte auf eigene Faust eindringen […], umgehen, suchen und forschen, auswählen und verweilen oder gelegentlich nur vorübergehen, um später tiefer einzudringen.58

Die Eigenständigkeit der Schüler im Umgang mit Literatur wird auch durch die Arbeiten der sowjetischen Psychologen Alexej N. Leontjew und Sergej L. Rubinstein gestützt, die Lernen als individuelle Aneignung verstehen und damit die subjektive Komponente in Lernprozessen betonen.59 Diese Toleranz wird teilweise erstaunlich provokant in der Zeitschrift „Deutschunterricht“ eingefordert. So fragt Thomas Havel 1974, ob es Aufgabe des Literaturunterrichts sei, „Lehrerurteile über Literatur zu vermitteln“ oder „die Urteile der jungen Menschen über belletristische Werke zu hören, zu beachten, ernst zu nehmen […]?“60 Zur beabsichtigten Identifikation mit positiven Helden könne es nur kommen, wenn auch die „Möglichkeit kritischer Distanzierung“ gegeben wäre, „Vorbilder lassen sich nun einmal nicht diktieren“.61 Deshalb sollte jeder Literaturdiskussion im Unterricht anzumerken sein, dass Lehrer und Schüler dem Text „gemeinsam als Suchende und Forschende“62 gegenüber träten. In dieser Schärfe stellt der Aufsatz eine Ausnahme dar, die stärkere Beachtung der Schülermeinung wird jedoch mehrfach thematisiert und insbesondere von Wilfried Bütow immer wieder gefordert. Den Schülern müsse es in einem kompetent geleiteten Aneignungsprozess auch möglich sein, ihre individuelle Lesart zu entwickeln. Sie hätten nicht nur ein Recht darauf, sondern erst im Dialog über die Lesarten seien literarische Werke überhaupt erschließbar.63

56 57 58 59 60 61 62 63

Bütow, Probleme, S. 326. Hartwig, Lehrplanleitlinien, S. 674. Bütow/Wittig, Einführung, S. 15. Vgl. Jonas, Theorie, S. 166. Havel, Auseinandersetzung, S. 24. Ebd., S. 27. Ebd., S. 28. Bütow, Bilanz, S. 672; Bütow, Literaturaneignung, v. a. S. 106; Bütow, Schülertätigkeit.

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Diese Positionen zusammenfassend gesteht Werner Jehser 1989 jedem Rezipienten nicht nur „seinen eigenen Zugang“64 zu. Da literarische Werke der „Rezeptionsleistung des Lesers“ bedürften, könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass „deren Wertbedeutung für alle denkbaren Rezipienten die gleiche ist“.65 Werte ließen sich mit Literatur eben nicht pauschal anerziehen, Literatur sei höchstens wertorientierend. In dieser Weise könne aber nur das wirken, „was dem Leser aus seiner individuellen Beziehungsfähigkeit zur Wertewelt des literarischen Werkes zum nachhaltigen ästhetischen Erlebnis wird, was ihm Zuwachs an Identitätsgewinn verschafft“.66 Diese Auffassungen widersprechen der Ansicht, mit Literatur Wertvorstellungen vermitteln und erzieherische Potenzen ausschöpfen zu können. Je mehr davon ausgegangen wird, dass sich Literatur erst im Leseakt konstituiert, desto weniger kann sie als eine „Verfügungsmasse für diese oder jene pädagogische Maßnahme dienen“67. Ist also bis Ende der sechziger Jahre nur das methodische Wie der literarischen Erziehung diskutiert worden, stellen diese Aufsätze in Frage, dass mit Literatur zielgerichtet erzogen werden könne. Die rezeptionsästhetische Entsubstantialisierung des Werk-Begriffs, die Überführung wesentlicher dem Werk zugeschriebener Wirkungen in Leseraktivitäten habe Rosenberg zufolge der „orthodoxen marxistisch-leninistischen Tradition ästhetischer Urteilsbildung eigentlich der Boden entzogen“.68 Unbeeindruckt davon postuliert Liesel Rumland vom Ministerium für Volksbildung jedoch gleichzeitig dogmatisch, in der Literatur lägen unerschöpfliche Möglichkeiten der Einflußnahme auf Weltanschauung, Moral und Charakter, auf die Gedanken- und Gefühlswelt und auf die gesamte Lebensweise der Menschen im Sinne kommunistischer Wertvorstellungen und Ideale von einem sinnerfüllten Leben, die es immer besser zu nutzen gilt.69

Aufgabe der Lehrer wäre es nach offiziellem Verständnis eben nicht, individuelle Lesarten zu akzeptieren, sondern, „eine weitgehende Übereinstimmung zwischen den gesellschaftlich determinierten Wertungen literarischer Werke und Schriftsteller, wie sie in den Lehrplanforderungen ihren Niederschlag finden, und den subjektiven Urteilen der Schüler zu erreichen“.70 Von diesem Standpunkt wird nicht abgerückt. Rumland beharrt darauf, in einem zielgerichteten Unterricht alle Schüler „zu den in den Lehrplänen 64 65 66 67 68 69 70

Jehser, Leser, S. 322. Ebd., S. 326. Ebd., S. 327. Schenk, „Neues“, S. 134. Rosenberg, Begründung, S. 214. Rumland, Ziele, S. 356. Ministerium für Volksbildung, Führungsschwerpunkte, S. 441.

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fixierten Zielen zu führen“.71 Die Frage nach flexiblem Unterricht und individuellen Lesarten wird geklärt mit dem Verweis, dass es sich bei den ‚Zielen und Aufgaben‘ und den Behandlungsschwerpunkten in unseren Lehrplänen um gesellschaftlich bestimmte Bildungs- und Erziehungsaufgaben und durch die gesellschaftliche Literaturrezeption und -analyse gesicherte Interpretationen und Wertungen von Literatur handelt, die für die Arbeit jedes Lehrers und für die Persönlichkeitsentwicklung jedes Schülers Gültigkeit haben.72

Noch 1989 sieht sie das Hauptanliegen des Literaturunterrichts darin, „Literatur mit ihren besonderen Möglichkeiten als künstlerische Widerspiegelung der Wirklichkeit für die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler, insbesondere für ihre ideologische Bildung und Erziehung wirksam zu machen.“73 Dieser dogmatischen parteipolitischen Position stehen mehrere fachwissenschaftliche Aufsätze74 von Literaturwissenschaftlern und -methodikern gegenüber, die die Eigenleistung des „aktiven Lesers“ beim „Erfassen der objektiven Textbedeutung und des persönlichen Textsinns“75 betonen und damit den „Literaturlehrer als Leser, als Diskussionspartner, als differenziert Wertende[n], als Spielräume Sichernde[n]“76 verstehen. Die in der Fachzeitschrift „Deutschunterricht“ veröffentlichten Beiträge zeigen durchaus einen Wandel im Literaturverständnis und der daraus folgenden methodischen Konsequenzen. Dieser Wandel vollzieht sich jedoch nicht radikal oder abrupt, sondern allmählich. Er vollzieht sich auch nicht in einander ablösenden Stadien, vielmehr existieren die verschiedenen Auffassungen von Literatur durchaus nebeneinander. Inwieweit dieser Wandel zeitlich parallel oder zeitversetzt z. B. mit Diskussionen in der literaturtheoretischen Zeitschrift „Weimarer Beiträge“ verläuft, wäre weiter zu erforschen. In den DDR-Lehrplänen für den Literaturunterricht der achtziger Jahre findet dieser Wandel kaum einen Niederschlag77, die Beiträge im „Deutschunterricht“ hätten für engagierte Lehrende in der Schulpraxis insofern eine bedeutende legitimatorische Funktion gehabt. In den Anfangsjahren betonen die Aufsätze methodologisch den rationalen Nachvollzug des im literarischen Werk enthaltenen Sinns bzw. der 71 72 73 74 75 76 77

Rumland, Qualität, S. 367. Ebd. Hasdorf-Rumland, Einheit, S. 112 (Hervorhebung im Original). Schneider, Lese- und Verstehensvorgänge, S. 294; Posdzech, Erkenntnisse; Schlewitt, Interpretieren; Wachwitz, Interpretieren. Schneider, Lese- und Verstehensvorgänge, S. 294. Kunze, Konzepte, S. 175. Vgl. Jonas, Theorie, S. 173 und Czech, Kunst, S. 154. Rosenberg konstatiert dagegen, dass die Lehrpläne sich „bis zuletzt völlig unbeeindruckt“ gezeigt hätten (Rosenberg, Begründung, S. 215).

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dargestellten Erkenntnis. Ab Anfang der sechziger Jahre wird der emotionale Aspekt und damit einhergehend die ästhetische Funktion zunehmend berücksichtigt, Literatur aber weiterhin unter dem Aspekt erzieherischer Wirkungsmöglichkeiten behandelt. Diese Auffassung wird Mitte der siebziger Jahre relativiert durch Ergebnisse der empirischen Leseforschung und den rezeptionsästhetischen Ansätzen, die die Subjektposition des Schülers stärken. Ist bis zu diesem Zeitpunkt vorwiegend die Unterrichtspraxis kritisiert worden, wird verstärkt die Theorie der literarischen Aneignung hinterfragt. Als Ausgangspunkt für die methodische Unterrichtsgestaltung differenzieren sich didaktische Positionen zwischen der traditionellen Autorzentrierung, einer die Textdominanz betonenden Ausrichtung und der Orientierung am individuellen Leser.78 Die von Beginn an beabsichtigte weltanschauliche Erziehung durch den Literaturunterricht bleibt bis zuletzt eine ministeriell geforderte Aufgabe des Literaturunterrichts. Da der Großteil der Beiträge vor allem auf die Unterrichtspraxis abzielt, arrangieren sich die Autoren meist mit den Rahmenbedingungen und stellen selten das Gesamtverständnis in Frage, mit Literatur bestimmte Werte zu vermitteln. Durchgängig ist jedoch in mehreren Beiträgen das Bemühen feststellbar, Literatur zu ihrem Stellenwert zu verhelfen. Mit dem Verweis auf die Multifunktionalität von Kunst wird immer deutlicher gegen die „Indienstnahme von Literatur als ‚Demonstrationsobjekt für etwas anderes‘“79 und für eine Entideologisierung des Literaturunterrichts plädiert. Das Vorhaben, der Eigenart von Literatur und ihrer spezifischen Aneignung gerecht zu werden und gleichzeitig den ministeriellen Vorgaben entsprechend weltanschaulich zu erziehen, bleibt ohne Erfolg.80 Dass dieses Vorhaben nicht gelingt und nicht gelingen kann, ist eine auch für die Zukunft wertvolle Erkenntnis aus der DDR-Zeit. Eine zweite Erkenntnis ist die, dass es divergierende Auffassungen nicht nur in der Literaturwissenschaft sondern, aus dem Literaturverständnis folgend, auch von adäquatem Literaturunterricht in der DDR gab. Damit einhergehend ist ebenfalls festzuhalten: Auch wenn in der Zeitschrift „Deutschunterricht“ das letzte Wort – nicht aufgrund fachlicher Qualifikation sondern aufgrund politischer Autorität – aus dem Ministerium für Volksbildung stammt, werden in der Zeitschrift kritische fachwissenschaftliche Beiträge zugelassen, die die Erziehungsabsichten zunehmend fragwürdig erscheinen lassen. In diesem Wandlungsprozess scheint das ministerielle Ziel der politischen Überzeugungsbildung, die Erziehung durch Literatur, durch die Arbeit einiger Fachwissenschaftler immer mehr zurückzutreten hinter das ihrem Gegenstand 78 79 80

Jonas, Literaturunterricht, 145. Kunze, Konzepte, S. 172. Vgl. auch Jonas, Literaturunterricht, S. 140.

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angemessenere Ziel der Erziehung zur Literatur, vielleicht sogar der literarischen Bildung.

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Hartwig, Alfred: Politisch-moralische Erziehung und intensives Lernen, in: DU 15 (1962), S. 128–148. Hartwig, Alfred: Im Literaturunterricht: Literatur!, in: DU 18 (1965), S. 673–685. Hartwig, Alfred: Erzieherische Aspekte der Schülertätigkeit am literarischen Text, in: DU 20 (1967), S. 674–685. Hartwig, Alfred: Erzieherische Aspekte der Schülertätigkeit am literarischen Text (II), in: DU 21 (1968), S. 23–33. Hartwig, Alfred: Lehrplanleitlinien und schöpferische Tätigkeit im Literaturunterricht der Klasse 8. Ein Beitrag zur Lehrplaninterpretation, in: DU 23 (1970), S. 674–685. Hasdorf-Rumland, Liesel: Zur Einheit von ästhetischer und ideologischer Bildung und Erziehung im Literaturunterricht, in: DU 42 (1989), S. 112–117. Havel, Thomas: Stärker zur Auseinandersetzung befähigen!, in: DU 27 (1974), S. 21–30. Hohmann, Walter: Die Wertung in der Literatur und das Werten im Literaturunterricht, in: DU 28 (1975), S. 76–92. Hujer, Dora / Schmidt, Wilhelm / Marnette, Hans: Zur Stellung des Deutschunterrichts im Entwurf der „Grundsätze für die Gestaltung des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems“, in: DU 17 (1964), S. 629–633. Jehser, Werner: Der geforderte Leser. Überlegungen zu einigen Aspekten der persönlichkeitsbildenden und wertorientierenden Funktion der Literatur, in: DU 42 (1989), S. 322–328. John, Dieter: Wege zu lebendigem Literaturunterricht, in: DU 14 (1961), S. 253–258. Marnette, Hans: Zur Erziehung des schöpferischen Kunstgenießenden im Literaturunterricht. I. Das ästhetische Wesen der Literatur und der Literaturunterricht, in: DU 17 (1964), S. 263–273. Marnette, Herta: Zur Präzisierung des Lehrplans für den Lese- und Literaturunterricht in Klasse 6, in: DU 20 (1967), S. 106–113. [Ministerium für Volksbildung]: Führungsschwerpunkte für den Deutschunterricht, in: DU 28 (1975), S. 438–446. Posdzech, Dieter: Erkenntnisse der marxistischen Literaturwissenschaft zur Interpretation literarischer Werke, in: DU 40 (1987), S. 407–416. Redaktion Deutschunterricht: Zur Einführung, in: DU 1,1 (1948), S. 1–2. Reichert, Karl: Wider den Schematismus im Literaturunterricht, in: DU 9 (1956), S. 140–147.

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Rumland, Liesel: Aufgaben, Ergebnisse und Probleme der Lehrplanrealisierung im Literaturunterricht, in: DU 26 (1973), S. 466–476. Rumland, Liesel: Ziele, Aufgaben und Möglichkeiten des Literaturunterrichts bei der kommunistischen Erziehung der Jugend, in: DU 30 (1977), S. 355–369. Rumland, Liesel: Für eine höhere Qualität des Literaturunterrichts auf der Grundlage überarbeiteter Lehrpläne, in: DU 36 (1983), S. 362–379. Sallmon, Heinz / Rumland, Liesel / Bütow, Wilfried: Grundpositionen des Literaturunterrichts bei der Verwirklichung der Forderungen des neuen Lehrplans und der Aufgabenstellung für die staatsbürgerliche Erziehung (I), in: DU 22 (1969), S. 624–631. Schlewitt, Jörg: Zum Interpretieren von Funktion und Wirkung spezifischer Mittel sprachkünstlerischer Gestaltung bei der Aneignung epischer Texte, in: DU 39 (1986), S. 95–102. Schneider, Renate: Lese- und Verstehensvorgänge bei epischen Kurzformen. Beobachtungen in den Klassen 9 und 10, in: DU (1987), S. 294–299. Schuckmann, Dietrich: „Interpretieren Sie…!“ Gedanken über die Forderungen an unseren Literaturunterricht, in: DU 16 (1963), S. 629–639. Thomsen, Franziska: Der Deutschunterricht im Licht des 4. Pädagogischen Kongresses, in: DU 2,4 (1949), S. 3–5. Wachwitz, Elke: Zum Interpretieren im Literaturunterricht, in: DU 41 (1988), S. 356–364. Wie kann der Literaturunterricht noch besser als bisher der sozialistischen Erziehung dienen? Diskussion über die Vorschläge Walther Drehers in Heft 4/1958, in: DU 11 (1958), S. 312–318. Ziechert, Lothar: Deutschunterricht auf der Grundlage der dialektischmaterialistischen Literaturbetrachtung, in: DU 4,1/2 (1951), S. 4–15. Ziechert, Lothar / Donath, Rudolf: Die Bildungs- und Erziehungsziele im Deutschunterricht des 5. bis 8. Schuljahrs, in: DU 5 (1952), S. 469– 476. Ziechert, Lothar / Donath, Rudolf: Erläuterungen zum Entwurf des Lehrplans für den Deutschunterricht in der 9. und 10. Klasse, in: DU 12 (1959), S. 233–245.

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Staszak, Heinz-Jürgen (Hg.): Theorie und Methodologie der Interpretation literarischer Werke. Beiträge des Kolloquiums „Theorie und Methoden der Interpretation literarischer Werke“, Kühlungsborn, 4.–7. März 1986, Rostock 1987 (= Rostocker Forschungen zur Sprach- und Literaturwissenschaft 4). Werner, Hans-Georg: Methodische Probleme wirkungsorientierter Untersuchungen zur Dichtungsgeschichte, in: Weimarer Beiträge 25,8 (1979), S. 14–28.

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dien zur Bildungsgangforschung 1). (zugl.: Habil. masch., Hamburg 2002) Neuner, Gerhart: Die Lehrplanarbeit in der DDR, in: Keck, Rudolf W. / Ritzi, Christian (Hg.): Geschichte und Gegenwart des Lehrplans. Josef Dolchs „Lehrplan des Abendlandes“ als aktuelle Herausforderung, Hohengehren 2000, S. 279–300. Rosenberg, Rainer: Zur Begründung der marxistischen Literaturwissenschaft der DDR, in: Boden, Petra / Rosenberg, Rainer (Hg.): Deutsche Literaturwissenschaft 1945–1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen, Berlin 1997, S. 203–240. Saadhoff, Jens: Germanistik in der DDR. Literaturwissenschaft zwischen „gesellschaftlichem Auftrag“ und disziplinärer Eigenlogik, Heidelberg 2007 (= Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 13). Schandera, Gunter: Aspekte der Rezeptionsästhetik in der DDR. Zum Problem der Beschreibung des Verhältnisses von Wissenschaft und politischer Diktatur, in: Henckmann, Wolfhart / Schandera, Gunter (Hg.): Ästhetische Theorie in der DDR 1949 bis 1990. Beiträge zu ihrer Geschichte, Berlin 2001, S. 25–36. Schenk, Gerhild: „Weil ich immer wieder etwas Neues entdecke“, in: Ivo, Hubert / Wardetzky, Kristin (Hg.): „aber spätere Tage sind als Zeugen am weisesten“. Zur literarisch-ästhetischen Bildung im politischen Wandel. Festschrift für Wilfried Bütow, Berlin 1997, S. 127–138. Waterkamp, Dietmar: Erziehung in der Schule, in: Anweiler, Oskar u. a. (Hg.): Vergleich von Bildung und Erziehung in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, hg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Köln 1990 (= Materialien zur Lage der Nation), S. 261–277.

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Methoden des Literaturunterrichts in der DDR am Beispiel Schöpferische Dramenlektüre und Darstellendes Spiel 1. Man kann das Problem Unterrichtsmethoden aus der Sicht des Deutschunterrichts, insbesondere des Literaturunterrichts, in drei Abschnitten betrachten. Das betrifft erstens die Situation unmittelbar nach 1945: Die Lehrpläne von 1946 stellten einen völligen Bruch mit der faschistischen Vergangenheit dar. Sie orientierten auf eine antifaschistische, demokratische Schule und eine grundlegende Reform des Bildungswesens. In vielem knüpften sie an Traditionen der Schule in der Weimarer Republik an [...]. Als Rahmenpläne gaben sie den Lehrern im Methodischen völlige Freiheit des Unterrichtens.1

Als Ziele des Deutschunterrichts liest man in diesen Lehrplänen von 1946: Der Deutschunterricht hat stärker als jedes andere Unterrichtsfach die Möglichkeit, unmittelbar auf den ganzen jungen Menschen einzuwirken und ihn im Geiste der Humanität zu erziehen. [...] Das nächstliegende Ziel des Deutschunterrichts ist es, die Schüler zum richtigen Gebrauch ihrer Muttersprache, zu ihrer Beherrschung in Wort und Schrift zu führen. [...] Ziel des Deutschunterrichts ist es ferner, den Schüler mit den wichtigsten Werken der deutschen Literatur vertraut zu machen, so weit sie seiner Altersstufe zugänglich sind, und dadurch in ihm das Streben nach dem Wahren, Guten und Schönen zu wecken.2

Der Deutschunterricht war Kernfach und einheitlich; es gab also noch keine spezifische Disziplin Literaturunterricht. Die Beschäftigung mit Literatur diente auch immer der Entwicklung des Lesenkönnens und des Vortragens. Werkverstehen wurde in aller Regel über das frontale Unterrichtsgespräch und den Lehrervortrag gelenkt. 1 2

Friedrich, Entwicklung, S. 565. Deutsche Verwaltung für Volksbildung (Hg.), Lehrpläne.

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2. Einschneidende Veränderungen wurden schon etwa seit dem „2. Pädagogischen Kongress“ 1947 unter starkem Einfluss der Sowjetischen Militäradministration und sowjetischer Lehrbücher eingeleitet und bis in die sechziger Jahre durchgesetzt. Gemäß der die antifaschistisch-demokratische Ordnung ablösenden gesellschaftspolitischen Zielsetzung des Übergangs zum Aufbau des Sozialismus wurden für alle Unterrichtsfächer geltende ,Grundüberzeugungen des jungen sozialistischen Staatsbürgers‘ formuliert, für den Unterricht rückten die Grundpositionen Wissenschaftlichkeit, Parteilichkeit und Lebensverbundenheit in den Vordergrund und bewahrten ihren Anspruch dauerhaft mit einer Argumentation, die noch 1988 wie folgt formuliert ist: Eine wissenschaftlich anspruchsvolle Allgemeinbildung, solides Wissen und Können, eine hohe geistige Kultur sind entscheidend für eine ‚stabile ideologische Position der sozialistischen Persönlichkeit‘. Die Jugend muss, wie W. I. Lenin lehrte, den Kommunismus so studieren, dass er ‚als Summe der Schlussfolgerungen‘ erscheint, die ‚vom Standpunkt der modernen Bildung unerlässlich sind‘.3

Diese Konzeption mit ihrer einseitigen Überbetonung des Rationalen und des Ideologischen wurde seit den sechziger Jahren entwickelt. Die Unterrichtsmethoden wurden nun zunehmend in ein hierarchisches System von Regulativen eingeordnet. Nach Klingberg4 war methodisches Vorgehen bestimmt vom Ziel der Handlung, von der Sachlogik der betreffenden Aufgabe und den Bedingungen, unter denen die Handlungen stattfinden. Er hatte drei methodische Grundformen benannt, und zwar erstens die Darbietung des Lehrers, zweitens selbstständiges Arbeiten der Schüler und drittens gemeinsames Erarbeiten eines Problems durch Lehrer und Schüler.5 Über den minimalen praktischen Wert so allgemeiner Sätze war sich Klingberg völlig im Klaren: „Die Wahl der methodischen Grundformen sagt zunächst noch nichts über die innere Struktur einer Unterrichtsmethode aus.“6 Und: Die methodische Gestaltung des Unterrichts „weist immer wieder neue, originelle Elemente bzw. Varianten auf; es gibt keine Erstarrung, keine Schablone“.7 Dem konnte auch jeder erfahrene Praktiker zustimmen. Nun wurden jedoch den Methoden ‚Grundpositionen‘ und ‚didaktische Prinzipien‘ übergeordnet, und zwar so dominant, dass die soeben formulierte Lockerheit und Kreativität gleichsam aufgehoben wurde. Klingberg hatte noch geschrieben: „Der Unterrichtsgrundsatz der Wissenschaftlich3 4 5 6 7

Neuner, Allgemeinbildung, S. 55. Klingberg, Abriß. Ebd., S. 136. Ebd., S. 138. Ebd., S. 136.

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keit und des erziehenden Unterrichts durchdringt in so starkem Maße alle anderen Grundsätze, dass er den Charakter eines Leitprinzips erhält.“8 Bei Fuhrmann / Weck heißt es dann 1976: Innerhalb der Relation Grundpositionen – didaktische Prinzipien – Unterrichtsmethoden sind die jeweils letzteren von den anderen abhängig [...]. Werden diese Zusammenhänge nicht beachtet, so besteht die Gefahr einer ideologiefreien Betrachtung der Unterrichtsmethoden.9

Nun soll man nicht übersehen, dass die Kategorien Wissenschaftlichkeit und Ideologisches auch synonym mit marxistisch-leninistisch oder materialistisch gebraucht wurden, und zwar nicht selten in Form eines simplifizierten Substrats des tatsächlichen marxistischen wissenschaftlichen Theoriebestands. Das hatte negative Folgen für die Methodik des Literaturunterrichts. Literatur wurde verstanden als – mechanistisches – Abbild gesellschaftlicher Verhältnisse, und so entwickelte sich als Vorgabe ein Stereotyp von Werkbehandlungen mit etwa diesem Ablauf: gesellschaftliche Verhältnisse – Biographie des Autors / der Autorin – Inhaltsangabe – Erschließen des Gehalts des literarischen Werks – Beschreibung der künstlerischen Form – Aktualisierung. Das geschah in frontalem Unterricht, unter Führung des Lehrers, es sollte ohne Abweichung von vorgedachten Wertungen und Zielen stattfinden und durch genau formulierte Behandlungsschwerpunkte eng geleitet sein. Diese quasi transitive Lehrer-Schüler-Relation wird auch ersichtlich in einer seinerzeit gängigen Definition des Begriffs Unterrichtsmethoden: Unterrichtsmethoden in der sozialistischen Schule sind Aufforderungen für Handlungen, Handlungsweisen und Verhaltensweisen der Lehrer zum Bewirken notwendiger Schülertätigkeiten und damit zur zielgerichteten, planmäßigen und effektiven Führung des Prozesses der Bildung und Erziehung im Unterricht.10

Zu Ehren der Lehrerschaft darf gern gesagt werden, dass nicht wenige dank ihrem Kunstsinn, ihrer Liebe zur Literatur und zu den Kindern die oben beschriebene schematische Art von Werkbehandlung ablehnten und zum Glück für die Schüler eigene Wege gingen. Das geschah auch in wissenschaftlichen Arbeiten und in der studentischen Ausbildung. So fand Hans Marnette weithin Zustimmung mit einer Ziel-Konzeption für den Literaturunterricht, deren populäre Kurzform lautete Erziehung durch Literatur zur Literatur. Wir kritisierten schon Anfang der siebziger Jahre soziologischen Schematismus und widersetzten uns den banalen Verfahren so genannter Aktualisierung. In einem Rostocker Studienmaterial für die Hand des Studenten aus dem Jahre 1971 kann man lesen: 8 9 10

Ebd., S. 108. Fuhrmann/Weck, Forschungsproblem, S. 57. Ebd., S. 69–70.

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Die erzieherischen Potenzen des Literaturunterrichts müssen aus dem ästhetischen Wesen der Literatur, aus der besonderen Form der künstlerischen Widerspiegelung, aus dem ästhetischen Erlebnis erschlossen werden. [...] Zu vermeiden sind insbesondere – ein vordergründiges, von der Arbeit am Kunstwerk weitgehend abgehobenes Historisieren und Aktualisieren. [...]11

3. Diese letzten Bemerkungen sind Ausdruck einer widersprüchlichen Entwicklung. Einerseits wurde das Konstrukt streng geordneter Grundpositionen eher noch stabilisiert, am deutlichsten durch die breite Propagierung der sog. Ziel-Inhalt-Methoden-Relation vor allem mit dem Buch „Allgemeinbildung, Lehrplanwerk, Unterricht. Eine Interpretation des Lehrplanwerks der sozialistischen Schule der DDR unter dem Gesichtspunkt der Gestaltung eines wissenschaftlichen und parteilichen Unterrichts“ (Berlin 1972) unter Leitung von Gerhart Neuner. Zugleich aber entwickelte sich Reform- und Variantendenken, v. a. fachspezifische Prinzipien und Methoden betreffend. So wurde z. B. die Ziel-Inhalt-Methoden-Relation durch die Kategorie Bedingungen ergänzt, die immerhin geeignet war, starre Hierarchien aufzulösen und subjektiven, individuellen Faktoren im Unterricht erweiterte Geltung zu verschaffen. Wenn im Folgenden weiter von Reform und Varianten die Rede sein wird, so gilt das jedoch nur unter einem Vorbehalt. Was sich da entwickelte, das trug immer Kompromisscharakter. Was damit gemeint ist, hat Pflugk 1998 wie folgt beschrieben: Neue Unterrichtskonzeptionen blieben auch weiterhin auf die Erziehung ‚sozialistischer Persönlichkeiten‘ orientiert. Weder konnten noch wollten wir uns damals von wirklichen sozialistischen Zielstellungen lösen. Wir sahen und nutzten aber nun Möglichkeiten, die Dominanz der Theorie von der Abbildfunktion literarischer Werke einzuschränken, die Vordergründigkeit eines sozial-historisch beschreibbaren Werkinhalts abzubauen. Es setzte sich die Forderung durch, die Begegnung der Schüler mit dem literarischen Werk als Erlebnis zu gestalten, statt das Werk ‚klassenmäßig‘ zu interpretieren.12

Starken Einfluss auf diese Entwicklung gewann die Wandlung zu rezeptionsästhetischem und kommunikationstheoretischem Denken in der Literaturwissenschaft, nachhaltig beeinflusst durch theoretische Modelle aus der westlichen Welt. Der damit einsetzende fachwissenschaftliche Diskurs wurde wenig später für die Methodiker akzentuiert durch die Zuwen11 12

Zit. bei Taege, Quellen, S. 128. Ebd., S. 110–111.

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dung zur Handlungs- und Tätigkeitstheorie in pädagogischen und psychologischen Disziplinen (angeregt v. a. durch grundlegende Untersuchungen aus der Sowjetunion von Rubinstein, Galperin, Leontjew u. a.). Sie führte in einer Hauptrichtung zu einer breiten Diskussion um den Begriff des Könnens, der geeignet war, angestrebte Persönlichkeitseigenschaften umfassender und differenzierter zu verstehen als der Begriff des Wissens und, prozessual gesprochen, der Wissensaneignung als Unterrichtsdominante. Diese Forschungsrichtungen gewannen zunehmend Einfluss auf die Persönlichkeitstheorie und damit v. a. auf das Verständnis für die Rolle des Schülers als Subjekt des Unterrichts und für das Aufbrechen der dogmatisch dominierenden transitiven Lehrer-Schüler-Relation. Die Auseinandersetzung mit diesen und weiteren theoretischen Modellen hat das wissenschaftliche Niveau des unterrichtsmethodischen Denkens entschieden positiv geprägt. All dies kam den mindestens seit Beginn der siebziger Jahre anhaltenden Bemühungen zugute, innere, also fachspezifische Strukturen der Unterrichtsmethoden zu erkunden. Dem fachfremden Schematismus entgegengesetzt, gewannen Ideen eines schöpferischen Literaturunterrichts an Interesse, angeregt z. B. durch einen von Wilfried Bütow herausgegebenen Sammelband „Zur schöpferischen Arbeit im Literaturunterricht“ (1974) mit Beiträgen erfahrener Lehrerbildner und Lehrer. Mit dem ebenfalls unter Bütows Leitung entstandenen Buch „Methodik Deutschunterricht Literatur“ (1977) wurde dann die Abkehr vom kunstfremden Schematismus Programm. Die Autoren, voran der verdienstvolle Ideengeber Bütow, standen vor der schwierigen Aufgabe, die offiziell geltenden übergeordneten Systeme beileibe nicht anzuzweifeln, aber zugleich Fachspezifik überzeugend zur Geltung zu bringen: Unter Prinzipien verstehen wir allgemeine Aufforderungen für ein theoretisches und praktisches Handeln. Sie tragen orientierenden Charakter und geben allgemeine, grundlegende Hinweise für Tätigkeiten, bezogen auf einen Objektbereich. [...] Nun aber, begründet durch die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem, ergeben sich [...] mannigfaltige Möglichkeiten der Zu- und Unterordnung. Einige dieser Prinzipien haben für das didaktisch-methodische Vorgehen im Literaturunterricht besondere, ja grundlegende Bedeutung, weil sie auf ‚wesentliche Seiten‘ dieses Vorgehens orientieren.

Für den Literaturunterricht wird als „zentrales fachspezifisches Prinzip“ das der „schöpferischen Kunstaneignung“ gesetzt.13 Im Kern der nachfolgenden Erläuterungen heißt es: [Schöpferische Aneignung ist] ein Prozess [...], der die Schüler befähigt und fordert, das literarische Werk ganzheitlich, in seiner individuellen und gesellschaftlichen Bedeutsamkeit anzueignen. [...] An diesem Erfassen des literarischen Kunst-

13

Bütow u. a., Methodik, S. 123–124.

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werks in seinen ‚allseitigen Beziehungen‘ sind [...] das Sinnliche und das Rationale beteiligt.14

Nicht zu übersehen bleibt freilich das Dilemma, dass die Lehrpläne schöpferischer Auseinandersetzung mit literarischen Werken weiterhin Grenzen setzten durch zum Teil enge Zielvorgaben und, diese untersetzend, Behandlungsschwerpunkte. Im Sinne des ‚zentralen Prinzips‘, mit dem Ziel, zunehmend selbstständige, schöpferische Schülertätigkeit zu fördern, wurden Phasen der Werkaneignung formuliert und davon grundlegende Unterrichtsmethoden abgeleitet: 1.

Die Methode der schöpferischen Kunstaufnahme (Methode der schöpferischen Lektüre), Aufnahme (unmittelbare Wahrnehmung), da im Literaturunterricht auch Werke (dramatische Werke, Filme) gehört und gesehen werden [...].

2.

Die analysierend-interpretatorische Methode (untersuchende Methode) [...].

3.

Die synthetisierende Methode als ein wichtiges Mittel zur Realisierung des Doppelaspekts von Kunst und Wissenschaft im Literaturunterricht.15

Das Buch verschaffte nun auch Methoden und Verfahren Raum, die dieses – gemäß seiner Ableitung ja immer noch sehr allgemeine und abstrakte – Methodenmodell weiter untersetzten. Mit dem Bemühen um Reform des Literaturunterrichts hatte sich unter anderem ein auffälliges Interesse für gattungsgemäße Werkrezeption angebahnt, das dem Schema der Ziel-InhaltMethoden-Relation einen aus der inneren Seite des Aneignungsgegenstands hergeleiteten Zugang – sagen wir – an die Seite stellte. Gattungsspezifik ließ eine verstärkte Zuwendung zum Eigenen und Besonderen des Aneignungsgegenstands, zur Begründung seiner Auswahl und der Aneignungsweise erwarten. Unter diesem Blick wurde die Synthese des Fachlichen und des Didaktisch-Pädagogischen als Aufgabe für Unterrichtsmethoden evident und, ganz nebenbei, konnte abfälligen Meinungen über die Methodik als bloße Technologie oder gar Handwerkelei der Boden entzogen werden. Von dem Ansatz gattungsgemäßer Werkrezeption her kamen nun zum einen Überlegungen zu spezifischen Methoden und Verfahren und zum anderen Einsichten in die Respektierung der Originalität jedes Kunstwerks und, wiederum prozessual gewendet, zu vermehrter Aufmerksamkeit für individuelle Rezeptionsweisen und Lesarten. In diesem Kontext entschied sich der Rostocker Lehrbereich „Methodik des Deutschunterrichts“ für die Zuwendung zu Dramatik und darstellender Kunst an Schulen und in der Lehrerbildung. In den Forschungsprogrammen und Arbeitsplänen, mit denen die „Akademie der Pädagogischen 14 15

Ebd., S. 125. Ebd., S. 144.

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Wissenschaften“ die Vorhaben und die Kapazitäten aller lehrerbildenden Einrichtungen koordinierte, war Rostock seit den siebziger Jahren für dieses Gebiet verantwortlich. Die gesamte (Forschungs-)Arbeit des Lehrbereichs, soweit sie die Methodik des Literaturunterrichts betraf, wurde dadurch profiliert. Bis dahin hatten jeweils einzelne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Untersuchungen zu ganz unterschiedlichen Themen geleistet, denen aber die Orientierung auf das Niveau der studentischen Ausbildung und auf Anregungen für die Unterrichtspraxis gemeinsam war.16 Es gab für unsere Entscheidung einen wichtigen Bezugspunkt im Lehrplan Deutsch 8. Klasse: Bei der Einführung in die dramatische Dichtung werden die Schüler erstmalig mit Besonderheiten dieser Gattung vertraut gemacht. Sie sollen befähigt und daran gewöhnt werden, das Gelesene in lebendige Vorstellungen vom szenischen Geschehen [Hervorhebung durch d. Verf.] umzusetzen.17

Das war doch schon etwas! Diesen Satz verstand der Rostocker Lehrbereich gewissermaßen als Auftrag, Bedingungen und Möglichkeiten für seine Verwirklichung zu erschließen. Das geschah auf folgenden Arbeitsgebieten: – – – –



– –

Erarbeitung grundlegender wissenschaftlicher Beiträge (Dissertationen, Publikationen zu umfassenden und speziellen Themen), Akzentuierung der Lehrprogramme und darauf bezogener Lehrveranstaltungen, Entwicklung von Studienmaterial, Thematische Orientierung der Diplomkurse (Der Lehrbereich betreute z. B. 1986 drei Diplomkurse mit dem Thema „Differenzierte Schülertätigkeit bei der unterrichtlichen Arbeit am Dramatischen in den Klassen 8 und 9 – ein Beitrag zur Könnensentwicklung bei der Rezeption dramatischer Werke“), Einfluss auf die Reichweite der Integration von Drama, Theater, Medien in den Unterricht, in außerunterrichtliche Tätigkeit, in die Arbeitsgemeinschaften Literatur, Untersuchungen zur Erweiterung des Kanons dramatischer Texte mit dem Ziel der Veränderung von Lehrplänen, Wissenschaftliche Konferenzen.

Dank vielfältiger und stabiler Praxiskontakte fand die neue Arbeitsrichtung kräftigen Halt durch die Verbindung zu innovativ arbeitenden Lehrerinnen und Lehrern, ohne deren Interesse und eigenständige Arbeiten auf dem 16 17

Beckmann-Schikorra, Arbeitsgemeinschaft; Junghans, Vorstellungsbildung; Pflugk, Kreatives Schreiben; Kopplow, Lesen. Ministerrat (Hg.), Lehrplan, S. 13.

Methoden des Literaturunterrichts in der DDR

319

Gebiet der darstellenden Kunst neue theoretische Konzepte praktisch wirkungslos geblieben wären. Unsere Initiativen wurden an Schulen und an Lehrerbildungseinrichtungen als belebende Anregungen angenommen und unterstützt. Nicht traf das zu auf die obersten Leitungsorgane. Vermutlich war der hohe Stellenwert, den der Begriff Produktivität in unseren Untersuchungen und Entwürfen gewonnen hatte, der Auslöser für scharfe Kritik und Ablehnung. In der zeitgenössischen literaturmethodischen Diskussion – etwa seit Mitte der siebziger Jahre – markierte das Stichwort Produktivität einen Standpunkt, der die absolute Dominanz rezeptiven Verhaltens zum Text im Literaturunterricht in Frage zu stellen begann. Hier tauchte etwas ganz anderes auf als die Auffassung, dass zweckentsprechend ausgewählte Literatur dazu da sei, den Rezipienten zu sagen, was die Stunde geschlagen hat, was wahr ist und was falsch. Noch 1983 wurde in einem offiziösen Kommentar zu einer Lehrplan-Neuausgabe festgestellt: Die für die Erschließung von Dramatik erforderlichen gattungsspezifischen Kenntnisse und Fähigkeiten – auch Schülertätigkeiten – müssen [...] darauf gerichtet sein, das literarische Werk zu erschließen und dürfen sich nicht verselbständigen, so dass das literarische Werk nur noch das Mittel ist, um darstellerische Fähigkeiten zu entwickeln, so dass das darstellende Spiel zum bloßen Spaß wird, ohne Funktion für die Literaturaneignung.18

Zu derartigen Zurechtweisungen standen natürlich – z. B. schon in der 1974er Ausgabe unseres Studienmaterials – Positionen in deutlichem Widerspruch wie die Gleichsetzung des Spiels mit höchsten Formen des Schöpferischen, die Rolle des Spiels für die Selbstverwirklichung junger Menschen, die Entdeckung verborgener Begabungen oder die Vertiefung sozialer Beziehungen. Ich kann es hier nicht unterlassen, aus einem Schriftstück zu zitieren, das die Entschlossenheit des Lehrbereichs demonstriert, Erreichtes nicht aufzugeben und weiterzuführen. Am 20.01.1983 hatte ein verantwortlicher Mitarbeiter der „Akademie der Pädagogischen Wissenschaften“ (APW) auf einer Beratung der „Forschungsgemeinschaft Literaturunterricht“ einen „Standpunkt zur Behandlung dramatischer Kunst im Literaturunterricht der Klassen 5 – 10“ vorgetragen. Mit Datum vom 26.01.1983 schickte der Lehrbereich eine Stellungnahme zu diesem Standpunkt an die APW. Darin heißt es: Wir distanzieren uns ausdrücklich von der Forderung, die grundlegende [...] Position aufzugeben, nämlich den Dramentext als Spielvorlage zu verstehen. Eine solche Zurücknahme bedeutete, entscheidende Erkenntnisse der marxistisch-leninistischen Literaturästhetik nicht zur Kenntnis zu nehmen [...]. Wir verwahren uns infolgedessen entschieden gegen die Auffassung, Lesen sei die Hauptform der 18

Rumland, Qualität, S. 376.

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Wolfgang Brauer

Rezeption dramatischer Kunst. Hauptmethoden müssen die schöpferische Dramenlektüre und das darstellende Spiel sein [...]. Abschließend möchten wir betonen, dass die dargelegten Standpunkte nicht Meinungen einzelner Enthusiasten sind, sondern dass sie auf gesicherten Forschungsergebnissen beruhen und durch die Schulpraxis immer erneut bestätigt werden.19

In Bezug auf mein Thema ist die Entscheidung für zwei soeben schon genannte fachspezifische Methoden hervorzuheben: Darstellendes Spiel (anfänglich: szenisches Gestalten/Spiel) und schöpferische Dramenlektüre. Was mit Letzterem gemeint war, hatte Braun (1975) wie folgt paraphrasiert: „Das sind [...] Verfahren, denen die Kreativität des Spiels innewohnt, ohne dass wirklich gespielt wird.“20 In diesem Zusammenhang soll auch nicht vergessen werden, dass zu jener Zeit bei Schülern wie bei Lehrern, bei Schriftstellern wie bei Kritikern und Theaterleuten die Verwendung von Dramen als Lieferanten von Klassenkampf-Szenarien heftig kritisiert wurde und totale Unzufriedenheit herrschte mit der inzwischen – dies aber nicht nur und nicht erst in der Schule der DDR – jede Freude an Literatur und darstellender Kunst tötenden formalistischen Art der Dramenlektüre im Unterricht. Da wirkte nun der Vorrat neuer Verfahren bei schöpferischer Dramenlektüre wahrhaftig umwälzend. Es gab jetzt Aufgaben, die die Analyse von Figuren, Verhaltensweisen oder Konflikten mit dem Erschließen des Gestus, mit Aspekten einer Inszenierung, dem Skizzieren und Probieren von Arrangements verbanden. (Wie stellen wir uns diese Figur in jener Situation auf der Bühne vor? – Mit welcher Schauspielerin würden Sie diese Rolle besetzen? – Wir probieren die Stellung und die Gänge der Figuren in dieser Episode. – Skizzieren Sie Ihre Vorstellungen von der Anordnung und den Bewegungen der Figuren in dieser Szene.) Besonderheiten dialogischer Textgestaltung wurden nicht mehr in trocken-begrifflichem Zergliedern vermittelt, sondern induktiv und funktional in Verbindung mit der für szenisches Darstellen vorbereitenden Arbeit am Text erschlossen – ein weites Feld für entdeckende Schülertätigkeit, für Phantasie, ganzheitliches Untersuchen, für Produktivität und Kreativität. So konnte sich ein Unterrichtsstil entwickeln, der Neugier weckte, Lust und Vergnügen bereitete. Gelesenes in lebendige Vorstellungen von szenischem Geschehen umzusetzen – dieser Satz als Programm verstanden – stieß sehr schnell an die stoffliche Armut der damaligen Lehrpläne, die Angebote dramatischer Texte betreffend. Bis zur Klassenstufe 8 gab es gerade mal ein Fastnachtspiel. So wurde es eine ganz natürliche Arbeitsrichtung, herkömmliche Vorstellungen über die Eignung bestimmter Theaterstücke kritisch zu überprüfen und 19 20

Durchschrift des Schreibens beim Verfasser. Braun, Methoden, S. 177.

Methoden des Literaturunterrichts in der DDR

321

v. a. zeitgenössische Werke zu erproben. Das geschah in Verbindung mit Theaterbesuchen und Schauspielergesprächen (z. B. zu den Rostocker Aufführungen von Theaterstücken von Agranowski: „Wer kümmert sich um M.?“ und Kaz: „Gespräche im Lehrerzimmer“ 1981 und 1983), aber auch ohne Theaterbesuche, dann die Methode der schöpferischen Dramenlektüre nutzend. So bildete sich ziemlich schnell ein Fundus von Stücken, die für ein künftiges, wesentlich erweitertes und flexibel verwendbares Angebot geeignet gewesen wären. 7. Klassen fanden bei einer Unterrichtsführung, die sich vorrangig auf die Aktivität und Vorstellungskraft der Schülerinnen und Schüler stützte, Zugang zu so unterschiedlichen Stücken wie „Auf der Suche nach Freude“ (Rosow), „Die Herren des Strandes“ (Gerlach), „Turandot“ (Schiller nach Carlo Gozzi), „Der zerbrochene Krug“ (Kleist). Unsere Mitarbeiterinnen, die die Versuche ausführten oder leiteten, und die mit ihnen arbeitenden Fachlehrerinnen konnten bei den Schülerinnen und Schülern fast ausnahmslos positive Wirkungen und Ergebnisse verzeichnen: Lebhaftes Interesse an den angebotenen Stücken und an Schauspiel überhaupt, aktive Mitarbeit beim Erproben kreativer Komponenten der Unterrichtsgestaltung, besonders lebhafte Beziehung zu eigenen Lebensproblemen bei Stücken mit zum Teil hohem sozialpsychologischem Anspruch. Besonders beteiligt waren an diesen Versuchen Dr. Ursula Beckmann-Schikorra, Dr. Elke Wachwitz, Sylvia Rüting. Die bis Ende der achtziger Jahre vorliegenden Erkenntnisse und Erfahrungen wurden in einem Kapitel für das geplante Nachfolgewerk zu „Methodik Deutschunterricht Literatur“ zusammengefasst (Brauer / Wachwitz). Darin hat Wachwitz – unser Thema betreffend – auch Verfahren vorgestellt, die die Methode schöpferische Dramenlektüre weiter entwickeln können (z. B. Szenenstudium, Gesprächsverhalten, Beschreiben von szenischen Vorgängen, Erschließen einer stummen Szene). Zur Fertigstellung und Publikation dieses Nachfolgewerks ist es nicht mehr gekommen. Doch dessen ungeachtet: Welchen hohen Stellenwert und welche Vielfalt von Existenzformen und Methoden v. a. das darstellende Spiel in den Jahren seit der Wende gewonnen hat, das sehen wir heute mit höchstem Interesse und mit Genugtuung. Und was die Unterrichtsmethoden angeht, so ist Lehrerinnen und Lehrern nur zu wünschen, dass sie dem treu bleiben, was schon Klingberg geraten hatte: ihre eigene Kreativität voll zur Geltung zu bringen. Dann können Unterrichtsmethoden immer dazu beitragen, dass jede Unterrichtsstunde schön und lebendig wird wie ein Kunstwerk.

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Wolfgang Brauer

Literaturverzeichnis Beckmann-Schikorra, Ursula (Hg.): Arbeitsgemeinschaft Literatur – nicht mehr wegzudenken! Erziehungswirksame Arbeitsvorhaben in der AGR Literatur, hg. von dem Bezirkskabinett für Weiterbildung der Lehrer und Erzieher Rostock, Rostock 1980. Braun, Anne: Methoden und Verfahren der Dramenbehandlung im Literaturunterricht der Klassen 8–10, Diss. masch., Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR, Berlin 1975. Bütow, Wilfried u. a.: Methodik Deutschunterricht Literatur, hg. von der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR, 2. Aufl., Berlin 1979. Deutsche Verwaltung für Volksbildung in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (Hg.): Lehrpläne für die Grund- und Oberschulen in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Deutsch, 1. Juli 1946, Berlin 1946. Friedrich, Bodo: Die Entwicklung des Muttersprachunterrichts in der DDR – dargestellt an Lehrplanveränderungen von 1946–1982, in: Diskussion Deutsch 122 (1991), S. 565–593. Fuhrmann, Elisabeth / Weck, Helmut: Forschungsproblem Unterrichtsmethoden, Berlin 1976 (= Beiträge zur Pädagogik 4). Junghans, Ingrid: Entwicklung von Vorstellung und Phantasie der Schüler als notwendige Bedingung der pädagogisch gelenkten Literaturrezeption, Bd. 1–2, Diss. masch. Rostock 1980. Klingberg, Lothar u. a.: Abriß der Allgemeinen Didaktik, Berlin 1965. Kopplow, Helga: Untersuchung zur Entwicklung des schöpferischen Lesens epischer Werke unter dem Aspekt der Arbeit am gestaltenden Lesen – dargestellt an ausgewählten epischen Kurzformen der Klassenstufen 6 und 7, Bd. 1–2, Diss. masch. Rostock 1983. Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik / Ministerium für Volksbildung (Hg.): Lehrplan für Deutsche Sprache und Literatur Klasse 8, Berlin 1972. Neuner, Gerhart u. a.: Allgemeinbildung, Lehrplanwerk, Unterricht. Eine Interpretation des Lehrplanwerks der sozialistischen Schule der DDR unter dem Gesichtspunkt der Gestaltung eines wissenschaftlichen und parteilichen Unterrichts, hg. von der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR, Berlin 1972.

Methoden des Literaturunterrichts in der DDR

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Rumland, Liesel: Für eine höhere Qualität des Literaturunterrichts auf der Grundlage überarbeiteter Lehrpläne, in: Deutschunterricht 36 (1983), S. 362–379. Taege, Friedrich (Hg.): Verborgene Quellen des Literaturunterrichts in der DDR. Eine kommentierte Auswahl, Frankfurt/Main u. a. 1998 (= Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts 30).

Björn Kutz / Gesa Vollmer

Zum Zusammenhang von sozialistischem Erbebegriff und schöpferischer Literaturaneignung im Deutschunterricht der DDR am Beispiel von Lessings „Nathan der Weise“ Die Tatsache, daß die revolutionäre Arbeiterklasse von Anfang an die Bewahrung und Fortsetzung des humanistischen Erbes als ihr Anliegen betrachtete, ist eine im Literaturunterricht zu vermittelnde Grunderkenntnis.1

Heute wie früher zielt die schulische Vermittlung von Literatur darauf ab, die Schülerinnen und Schüler zu befähigen, am kulturellen und politischen Diskurs ihrer Zeit aktiv teilzunehmen. Diese Aktivität bewegt sich stets im Spannungsfeld von Individualität und gesellschaftspolitischer Norm.2 Wie literarisches Lernen in Bezug auf kulturelle Teilhabe in der DDR verstanden wurde, soll im Folgenden diskutiert werden. Im Besonderen beschäftigt sich dieser Beitrag im Kontext des politisch-ideologischen Systems der DDR mit Funktion und Vermittlung des literarischen Erbes auf der Basis des Prinzips der schöpferischen Literaturaneignung im Deutschunterricht. Da der Aufklärer Lessing von der materialistischen Literaturgeschichtsschreibung als Schöpfer einer „einheitlichen, von demokratischem Geist erfüllten bürgerlich-nationalen Ideologie“3 bezeichnet und sein „Nathan“ als „Botschaft der Freiheit und der Befreiung im Rahmen des sozialistischen Humanismus“4 verstanden wurde, war dieses Drama unerlässlicher Bestandteil des literarischen Kanons im Deutschunterricht der DDR. Als solcher werden dieser Text und seine Aneignung im Unterricht hier exemplarisch für das literarische Erbe in der sozialistischen Schule herangezogen. 1 2 3 4

Bütow, Wilfried: Grundlegende Positionen der Erbeaneignung in den neuen Lehrplänen (Deutschunterricht DDR), zit. nach: Thürmer, Kritik, S. 65–66. Schuster, Einführung, S. 12. Geerdts (Hg.), Literaturgeschichte, S. 166. Barner u. a., Lessing, S. 422.

Sozialistischer Erbebegriff und schöpferische Literaturaneignung

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Den Untersuchungen liegen Analysen zweier Lehrplangenerationen (1953 und 1979) sowie zugehörige Unterrichtshilfen und Methodiken in Hinblick auf die Stellung des literarischen Erbes im Rahmen der Zielstellung des Literaturunterrichts zugrunde. Die Auswahl bezieht sich auf unterschiedliche Etappen der Schulentwicklung.5

1. Das literarische Erbe im Kontext der sozialistischen Schule Die deutsche Klassik galt der marxistisch-leninistischen Literaturgeschichtsschreibung und dem sozialistischen Parteiregime als Dreh- und Angelpunkt der literarischen Entwicklung. In ihr sah man die „letzte und höchste Stufe der vom ,aufsteigenden‘ deutschen Bürgertum getragenen Literaturentwicklung“.6 Die Behandlung des klassischen Erbes nahm daher sowohl in den Lehrplänen der Polytechnischen Oberschulen (POS) als auch in denen der Erweiterten Oberschulen (EOS) einen hohen Stellenwert ein. Wenn, wie bisher, vom klassischem Erbe die Rede war, bezog sich der Klassik-Begriff auch damals schon nicht etwa ausschließlich auf die im Allgemeinen damit assoziierte literarische Epoche der Weimarer Klassik, sondern wurde in einem normativ-wertenden Sinn weiter gefasst, als Vollkommenheit und Mustergültigkeit von Dargestelltem und Darstellung.7 So galten in den Lehrplänen nicht nur die Werke Goethes und Schillers – wenn auch im besonderen Maße – als klassisch-humanistisch, sondern auch das literarische Schaffen Lessings, Herders, Kleists und Hölderlins. Das klassische Erbe kann folgerichtig als theoretisches Konstrukt bezeichnet werden, das die Gesamtheit der als wertvoll und mustergültig erachteten literarischen Werke der Vergangenheit mit einem Oberbegriff umfasst; dementsprechend eine Form der Kanonisierung darstellt. Im Verständnis der marxistisch-leninistischen Kulturtheorie galt die (literarische) Erbetheorie als „Postulat der Bewahrung und Nutzung überlieferter Kulturwerte“.8 Erste Überlegungen dazu finden sich bereits bei Engels.9 In Lenins Resolutionsentwurf „Über proletarische Kultur“ wird der Begriff schließlich präzisiert. Für ihn hatte die Aneignung des kulturellen Erbes staatstragende 5

6 7 8 9

Für die Entwicklung des Literaturunterrichts der DDR war insbesondere die Konferenz „Literaturunterricht und kommunistische Erziehung der Schuljugend“ im Jahr 1979 von prägender Bedeutsamkeit. Sie markiert als Zäsur sowohl Neuerungen in der schulischen Vermittlung von Literatur als auch Stabilisierung der ideologischen Ausrichtung des Unterrichts. Rosenberg, Verhandlungen, S. 335. Thomé, Klassik 1, S. 266. Würffel, Erbetheorie, S. 488. Engels, Ludwig Feuerbach, S. 235.

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Björn Kutz / Gesa Vollmer

Funktion und sollte zur Stabilisierung der Sowjetunion beitragen. Auch im deutschen Bruderstaat galten das Erbe und die in ihm wirksamen humanistischen Ideale als Wegweiser für die eigene Identitätsentwicklung. Auf diese Weise wurde das klassische Erbe zu einer Voraussetzung der Staatslegitimation.10 So betrachtete auch Dahnke den jeweiligen „Stand kultureller Entwicklung […] als Ergebnis der gesamten Menschheitsgeschichte“11 und damit als ererbt. In diesem Zusammenhang grenzte er die Begriffe Erbe und Tradition voneinander ab. Während der Begriff Erbe die überlieferten Werte an sich beschreibt und darüber hinaus „den Aspekt des aneignenden gesellschaftlichen Subjekts als Voraussetzung für seine historisch-konkrete Bestimmung“12 impliziert, bezeichnet der Begriff der Tradition die Prozesse des Aneignens, Übernehmens und Fortführens des Überlieferten. Trotz der begrifflichen Differenzierung ergänzen sich beide Erscheinungen in ihrer inhaltlichen Funktion.13 Für die Betrachtung des literarischen Erbes formulierte Dahnke in Anlehnung an die marxistisch-leninistische Literaturwissenschaft die folgenden fünf Prämissen: 1. Ausgangspunkt der Erbebetrachtung sei die jeweilige Gegenwart, sie erfolge stets aus der Retrospektive. Deshalb sei das, was als Erbe gelte, je nach gesellschaftlichem Kontext variabel; 2. die sozialistische Gesellschaft sei legitimer Erbe aller überlieferten Werte; 3. die Erbebeziehung stehe im Spannungsfeld „von Historizität und Aktualität, von Objektivem und Subjektivem, von Überlieferung und Rezeption“14; 4. die Verfahrensweise der Erbeaneignung sei die historisch-kritische Methode; 5. das, was der sozialistischen Gesellschaft als literarisches Erbe gelte, sei abhängig von ihren Bedürfnissen.15 Die Schlussfolgerungen, die sich daraus für den schulisch verwendeten Erbebegriff ergaben, wurden im Studienmaterial zur Methodik des Literaturunterrichts an der Wilhelm-Piek-Universität Rostock zusammenfassend formuliert:

10 11 12 13 14 15

Würffel, Erbetheorie, S. 489. Dahnke, Erbe, S. 7. Ebd., S. 62. Müller-Michaels, Positionen, S. 93. Ebd., S. 38. Ebd., S. 37–41.

Sozialistischer Erbebegriff und schöpferische Literaturaneignung

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In der Schule verstehen wir unter literarischem Erbe all das, was im Interesse der humanistischen Absichten unserer sozialistischen Gesellschaft wert ist, bewahrt und – als aktives Erbe – eingesetzt zu werden. Damit besitzt der Erbebegriff einen Wertaspekt, er repräsentiert eine Auswahl aus der Totalität der künstlerischen literarischen Produktion der Vergangenheit.16

Der hier skizzierte Erbebegriff scheint demzufolge ein dynamisch-flexibler Kanon zu sein, d. h. variabel in Bezug auf die jeweilige gesellschaftspolitische Situation. Aus diesem Grund lehnte Kaufmann eine rein historischgenetische Betrachtungsweise des literarischen Erbes ab, weil dadurch ein In-Beziehung-Setzen von Erbe und momentaner Gegenwart unmöglich erscheine.17

2. Das Unterrichtsprinzip der schöpferischen Literaturaneignung Um den aktiven Charakter des Traditionsprozesses im Unterricht stärker zu betonen, wurden aktive, d. h. auf schöpferische Tätigkeit des Schülers bezogene Unterrichtsprinzipien bei der Behandlung des literarischen Erbes zu Grunde gelegt. Im Folgenden soll eine für die Aneignung des literarischen Erbes besonders häufig angewendete Grundposition näher erläutert werden. Der Erbebegriff, wie er hier definiert worden ist, impliziert wesentliche Bedingungen für die Vermittlung seines Gegenstandes im Unterricht. Diese werden im Unterrichtsprinzip der schöpferischen Literaturaneignung vereint: Unter schöpferischer Aneignung ist ein Prozeß zu verstehen, der die Schüler befähigt und fordert, das literarische Werk ganzheitlich, in seiner individuellen und gesellschaftlichen Bedeutsamkeit anzueignen […]. An diesem Erfassen des literarischen Kunstwerkes in seinen allseitigen Beziehungen sind […] das Sinnliche und das Rationale beteiligt, und zwar nicht als zwei verschiedene Stufen, sondern als zwei Momente, die das Erkennen in allen Formen und Entwicklungsetappen durchdringen.18

An anderer Stelle heißt es: Schöpferische [Literatur-]Aneignung, das ist die Einheit von kulturell-ästhetischer und sprachlich-geistiger Tätigkeit, die Einheit von Bewußtseinsbildung und literarischer Entwicklung der Schüler. Damit orientiert dieses Prinzip auf die Verwirklichung der Erkenntnisse der marxistisch-leninistischen Gesellschaftstheorie […]. [U]nd auf vergnügliche Weise [werden vom Schüler] zahlreiche Impulse aufge16 17 18

Junghans/Kopplow (Hg.), Studienmaterial, S. 103. Kaufmann, Versuch, S. 8–9. Bütow u.a: Methodik, S. 125.

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Björn Kutz / Gesa Vollmer

nommen, die die Ausbildung klassenmäßiger ideologischer Haltung, die sozialistisches Denken, Fühlen und Handeln anregen.19

Demnach lässt sich das Prinzip der schöpferischen Literaturaneignung als aktiver Aneignungsprozess bezeichnen, der auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Gesellschaftstheorie darauf abzielen sollte, die sozialistische Persönlichkeit zu entwickeln. Aktivität meint in diesem Zusammenhang „[i]ndividuelles Nach- und Mitschöpfertum“20 bzw. „nach- und mitschaffende Phantasie“21 der Schüler bezogen auf die von den literarischen Figuren und vom Werk selbst vermittelten Werte. Eine Positionierung gegen das literarische Erbe wird an dieser Stelle durch Nicht-Nennung ausgeschlossen, d. h. eine tatsächliche Schülermitbestimmung war konzeptionell nicht gegeben. Denn eine ablehnende Haltung der Schüler gegenüber dem klassischen Erbe konnte „mithin auch als Kritik am offiziellen Geschichtsbild und damit als verdeckter Angriff auf die Legitimität des Regimes verstanden werden“22. Dass Schülermitbestimmung ausschließlich innerhalb eines definierten Rahmens zugelassen werden konnte, wird dadurch verdeutlicht, dass bereits in der Konzeption der schöpferischen Literaturaneignung reglementierende schulpolitische Grundforderungen eingeflossen waren: Wissenschaftlichkeit, Parteilichkeit und Lebensverbundenheit. Wissenschaftlichkeit bedeutet […] für den Literaturunterricht […] die besondere poetische Verfahrensweise, […] die spezifische Eigenart des Kunstwerkes […] für den Schüler erlebbar und damit persönlich bedeutsam werden [zu lassen].23

Im Gegensatz zum herkömmlichen Wissenschaftsverständnis zielen die an der Literaturwissenschaft orientierten Analysen und Interpretationen poetischer Werke nicht vordergründig auf sachlogische Schlussfolgerungen, sondern auf die Vernetzung rationaler Erkenntnisse und individuell-emotiver Erfahrungen. Dadurch sollte das klassische Erbe an persönlicher Bedeutsamkeit gewinnen. Dieser pädagogische Ansatz war durch das Prinzip der Lebensverbundenheit zu realisieren: Lebensverbundenheit […] bedeutet für den Literaturunterricht, durch schöpferische Kunstaneignung allen Schülern erlebbar zu machen und bewußt werden zu lassen, daß literarische Kunstwerke und ästhetische Ansprüche ihr Leben reicher werden lassen, daß die Auseinandersetzung mit literarischen Kunstwerken zur Ausbildung der wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse, zur Veredelung des Charakters und der Gefühle, zu einer begründeten Wertorientierung, zur Aus-

19 20 21 22 23

Ebd., S. 125–126. Ebd., S. 127. Bütow, Zentrum, S.7. Rosenberg, Verhandlungen, S. 335. Bütow u. a., Methodik, S. 128.

Sozialistischer Erbebegriff und schöpferische Literaturaneignung

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bildung von Schönheitssinn und Kunstgenußfähigkeit führt und Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens vermittelt.24

Die Forderung nach Parteilichkeit signalisiert einen Führungsanspruch der Lehrenden im Unterricht. Diese sollten demgemäß „eine eindeutige, von der Ideologie der Arbeiterklasse bestimmte Haltung gegenüber den literarischen Kunstwerken einn[ehmen]“25 und auf dieser Grundlage einen Interpretationsraum festlegen. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass der Text innerhalb einer kollektiv akzeptierten Lesart verstanden wurde. Das Prinzip der schöpferischen Kunstaneignung wurde auf der Konferenz „Literaturunterricht und kommunistische Erziehung der Schuljugend“ im Jahr 1979 gestärkt und in der Folge weiter präzisiert. Damit war der Versuch unternommen, Schüleraktivität im Literaturunterricht zu fördern. Wie diese Vorgehensweise im Unterricht konkret umgesetzt werden sollte, soll Gegenstand der folgenden Ausführungen werden.

3. Zur schöpferischen Aneignung von Lessings „Nathan der Weise“ Lessings „Nathan der Weise“ war sowohl Gegenstand im chronologischen Literaturlehrgang der Polytechnischen Oberschulen als auch im thematisch strukturierten Unterricht der Erweiterten Oberschulen. Der Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik hat den Themenkomplex, der das Werk „Nathan der Weise“ einschloss, „Humanismus und Realismus in der klassischen Literatur, ihre Bedeutung für die sozialistische Nationalkultur“26 genannt. Bereits diesem Titel ist zu entnehmen, dass dem Text aufgrund seines implizierten Humanitätsideals eine Bedeutung als Grundlage der sozialistischen Nationalkultur zugeschrieben wurde. Die gesteigerte Relevanz dieser Einheit zeigte sich auch in der hohen Stundenanzahl gegenüber den übrigen drei Komplexen. Wie oben bereits erwähnt, galt Lessing dem Literaturunterricht der DDR als „Wegbereiter bei der Ausprägung des [B]ürgerlich-[K]lassischen“27. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr er als Person, dessen eigene Haltungen und Überzeugungen durch seinen „Nathan“ repräsentiert werden sollten. 24 25 26

27

Ebd., S. 128–129. Ebd., S. 128. Ministerrat (Hg.), Lehrplan Abiturstufe, S. 72. Im Gegensatz zur Themenbeschreibung im Lehrplan von 1953 weist die hier zitierte Themenkomplexbezeichnung stärkere ideologisierende Züge auf. Vgl. Ministerrat (Hg.), Lehrplan Oberschule, 1953, S. 13. Jüling, Lessings „Nathan der Weise“, S. 165.

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Die biographische Sichtweise stellte demzufolge eine wesentliche Zugangsweise zur Entschlüsselung des literarischen Werkes dar.28 Der Literaturunterricht war im Wesentlichen zielorientiert. Die Analyse der Lehrpläne und Unterrichtshilfen ergab, dass Erziehungsziele im Vordergrund der Behandlung standen. Die Schüler sollten in Lessings „kämpferischen Humanismus“29 Einsicht nehmen, um die eigene (sozialistische) Persönlichkeit auf dieser Grundlage zu entwickeln. Dadurch wurde Lessing zur moralischen Instanz erhoben und seine Dichtung zum Erziehungsmedium (um)funktionalisiert. In einem weiteren Schritt sollten die Lernenden das Denken und Fühlen Lessings als exemplarisch und programmatisch für die „humanistischen Forderungen konsequenter bürgerlicher Aufklärung“30 begreifen. In dieser Zielsetzung verbanden sich Ideologie und literarische Bildung. Lessing wurde zum einen als ein Wegbereiter der literarischen Aufklärung, zum anderen als ideeller Vorläufer des sozialistischen Humanismus verstanden. Im Analysieren und Interpretieren der Dramenhandlung, der Figuren und Motive sollte sich die Vorgehensweise bei der Deutung des Textes verfestigen. Fachspezifische und methodische Ziele waren damit benannt. Ein Ziel der Untersuchung des Dramentextes war die begründete Wertung. Aus dieser Zielorientierung lassen sich zwei Folgen ableiten: Zum einen wurde dem klassischen Erbe bei der Erziehung und Bildung der Schülerinnen und Schüler ein besonderer Stellenwert beigemessen. Zum anderen wird daraus ersichtlich, dass sich ideologische und literarisch-ästhetische Bildung gegenseitig bedingten. Der Literaturunterricht war demnach – zumindest in der Theorie – das ästhetische Fundament für die Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit. Um diese Aufgaben tatsächlich erfüllen zu können, wurden im Unterricht lediglich ausgewählte, d. h. vom Lehrplan, seinen Präzisierungen oder von der unterrichtenden Lehrkraft vorgegebene Textteile und Fragestellungen behandelt. Folgende Szenen waren laut Lehrplanvorgabe von entscheidender Bedeutung: II,5; III,5; IV,2. –



– 28 29 30

Szene II,5: Nathan fühlt sich dem Tempelherrn für das Leben seiner adoptierten Tochter, Recha, zu Dank verpflichtet und überzeugt ihn von seinem Humanitätsideal. Szenen III,5 bis III,7: Nathan und Saladin treffen erstmals aufeinander. Nathans Parabel überzeugt auch den Mohammedaner von der Gleichwertigkeit der Menschen, unabhängig von ihrer Religion. Szene IV,2: Der Patriarch von Jerusalem artikuliert radikal seine religiös begründeten Stereotype gegen das Judentum. Ebd., S. 169. Bütow (Hg.), Unterrichtshilfen, S. 86. Ministerrat (Hg.), Lehrplan Abiturstufe, S. 78–79.

Sozialistischer Erbebegriff und schöpferische Literaturaneignung

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Anhand dieser Szenen sollte im Unterricht demonstriert werden, wie die Auseinandersetzung zwischen humanistischen und feudalabsolutistischen, orthodoxen Ideologien stattgefunden hatte. In besonderer Weise verdeutlichen die Dramenausschnitte, wie Nathan Saladin und den Tempelherrn von seinem Humanitätsideal überzeugt. Lediglich der Patriarch ändert seinen Standpunkt nicht, weshalb er als Verlierer des Dramas galt. Die ideologische Verurteilung seiner Engstirnigkeit in der Wertung durch die Schüler wurde dadurch vorbereitet. Eine Reflexion über die Gründe seiner geistigen Unbeweglichkeit war konzeptionell nicht vorgesehen. Als Ausgangsfragen für die Behandlung des Dramentextes „Nathan der Weise“ wählt Jüling: „Welchen Anteil hat Lessings ‚Nathan‘ an der Herausbildung des klassisch-bürgerlichen Humanitätsideals?“ „Inwieweit kann dieses Werk für uns heute von Bedeutung sein?“31 Ausgehend von dieser Fragestellung sollten nach Jüling „wichtige Potenzen [der] Bildungs- und Erziehungsabsicht am ‚Nathan‘“32 erschlossen werden. Die Entwicklung zur sozialistischen Persönlichkeit fand im Unterricht in der gesinnungsbildenden Verknüpfung von Bildungs- und Erziehungsmotiven, d. h. von inhaltlich literarischen und intendiert gesellschaftlichen Beweggründen Ausdruck. Die Unterrichtseinheit zu Lessings Text stellt bereits im Vorfeld zwei Ergebnisse der Aneignung deutlich heraus: Der Grundgedanke der Dichtung: Notwendigkeit und Wert einer aktiven humanistischen Haltung; die gesellschaftliche Bedeutung des kämpferischen Humanismus und sein Wert für die Entwicklung der Persönlichkeit.33

Zum anderen sollten die Schüler „Lessings Bekenntnis zu aktiver Humanität und zu Toleranz im Vergleich mit der sozialistischen Humanitätsauffassung“34 kennen lernen und verinnerlichen. Hinter diesen Zielsetzungen, die als vorweggenommene Ergebnisse erreicht werden sollten, verbarg sich die Annahme, dass das „wesentliche Persönlichkeits- und Gesellschaftsideal Lessings erkennbar und im Prozeß einer durch die dramatischen Figuren möglichen ästhetischen Identifizierung auch nacherlebbar“35 wird. Dem für die Erbeaneignung essentiellen Moment der Aktualisierung vergangener Wertvorstellungen wurde auf diese Weise Rechnung getragen. Diese Teilergebnisse führen zu der Frage, wie die erzieherischen Zielsetzungen im Unterricht methodisch konkret umgesetzt wurden. Dass eine derartige Fragestellung methodologisch problematisch erscheint, ergibt sich zum einen daraus, dass Methodik auch schon innerhalb der sozialistischen 31 32 33 34 35

Jüling, Lessings „Nathan der Weise“, S. 166. Ebd. Ministerrat (Hg.): Lehrplan Abiturstufe, S. 78. Ebd., S. 79. Jüling, Lessings „Nathan der Weise“, S. 166.

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Schule eine Handlungspraxis umriss, die auf situativen Entscheidungen der unterrichtenden Lehrer basierte. Zum anderen gaben die methodischen Anleitungen in den Lehrplänen und seinen Direktiven nur wenige konkrete Hinweise zur praktischen Umsetzung der Ziel-Inhalt-Beziehungen. Denn nicht alle Aufgabenstellungen waren dezidiert ausformuliert. Deshalb sollen im Folgenden lediglich die Ergebnisse genannt werden, die durch die Rekonstruktion möglicher Anregungen auf Basis der gesetzten Ausführungen zustande kamen: Die Erschließung des literarischen Erbes (Historizität) ging vom Leser und damit von der sozialistischen Gegenwart aus (Aktualität), d. h. die Aneignung des poetischen Werkes erfolgte deduktiv. Da das Erbe und seine Bewertung (prinzipiell) vorgegeben waren, ging der Leser von einem fest definierten gesellschaftlichen Kontext aus. Aus diesem Kontext heraus entstanden Deutung und Wertung des Werkes bezogen auf den definierten Kontext. In Lehrervorträgen zur Biographie Lessings und bei Angaben zur Entstehungszeit des Stückes sowie zum Handlungskontext der ausgewählten Szenen und vor allem durch die Behandlungsschwerpunkte der Lehrpläne, die eine bestimmte Lesart im Vorfeld festlegten, wurde der Interpretationsrahmen, in dem sich die Schüler schöpferisch bewegen konnten, fest abgesteckt. Der Text wurde demnach nicht als autonom zu betretene Lesefläche gesehen, als die er von vielen Didaktikern im gegenwärtigen Diskurs verstanden wird.36 Eine schöpferische Textarbeit war deshalb nur eingeschränkt möglich, je nach Offenheit der Aufgabenstellungen. Einige Beispiele: – – –

„Worin sehen Sie den Aussagewert der Ringparabel?“37 „Wodurch erreicht Nathan, daß der Tempelherr am Ende von II,5 sagt: ‚Nathan, wir müssen Freunde werden.‘?“38 „Beschreibung und Wertung der Hauptfiguren: Nathan, Derwisch, Tempelherr, Saladin nach sozialer Stellung, Handlungen, Verhaltensweisen, Motiven, Charakterzügen, wobei die Kriterien für Humanität nach der Ringparabel (unbestechlich, vorurteilsfrei, verträglich, wohltätig, in Gott ergeben) anzuwenden sind.“39

Hier zeigt sich die Kleinschrittigkeit im Vorgehen. Eine autonome Schülerleistung wurde dadurch bereits im Vorfeld weitgehend ausgeschlossen. Auch andere Positionen wurden vertreten. So sahen Methodiker der damaligen Wilhelm-Pieck-Universität Rostock offene kreative Arbeitsanweisungen 36 37 38 39

Vgl. Gross, Lese-Zeichen, S. 61. Jüling, Lessings „Nathan der Weise“, S. 173. Ebd., S. 174. Bütow, Unterrichtshilfen, S. 91.

Sozialistischer Erbebegriff und schöpferische Literaturaneignung

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zum Beispiel im Erstellen von Spielvorlagen und in der Aufführung dramatischer Szenen.40 Durch derartige Aneignungsformen konnten die Schüler einerseits literarische Schaffensprozesse nachvollziehen und gleichzeitig ermöglichten sie, den Grad der Identifizierung der Schüler mit dem Autor bzw. den literarischen Figuren zu erhöhen. Der schöpferische Aneignungsprozess wurde auf diese Weise in Gang gesetzt.

4. Zusammenfassung Wie jedes politisch-ideologische System war auch die DDR darauf angewiesen, sich zu legitimieren. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistete – zumindest konzeptionell – der schulische Literaturunterricht seit der Mitte der sechziger Jahre. Während die ersten beiden Lehrplangenerationen noch stark von einer antifaschistisch-demokratischen Haltung geprägt waren, zielten die nachfolgenden vorrangig auf eine Erziehung des Schülers zur sozialistischen Persönlichkeit. Sozialismus als Ideologie verstand sich als Träger von Frieden und Humanität. Vor diesem Hintergrund nahm gerade auch das klassische Erbe, dem ein hohes Maß an Humanitätsidealen zugestanden wurde, einen besonderen Stellenwert in Schule und Kultur ein. Zu diesen Zwecken wurde die Literatur instrumentalisiert. Diese bildungstheoretische Zielsetzung und vor allem neuere Ergebnisse zur Leseforschung, die Lesen nicht als bloße reproduktive Aneignung, sondern als Akt konstruktiver Verarbeitung sahen und damit die Aktivität des Lesers betonten, forderten nach und nach ein Umdenken in der Methodik des Literaturunterrichts.41 Deshalb ist das Prinzip der schöpferischen Literaturaneignung, mit dessen Hilfe die Schüleraktivität gesteigert und die historischen Bezüge für die Gegenwart aktualisiert werden sollten auch aus heutiger Perspektive als eine Möglichkeit der Abkehr von bisherigen historisch-genetischen Arbeitsweisen zu verstehen. Es beanspruchte für sich, zu schöpferischer Tätigkeit im Umgang mit Literatur anzuregen, d. h. Mit- und Nachempfinden bei den Schülern zu ermöglichen und damit in der Konsequenz entsprechend der bildungstheoretischen Forderungen zu erziehen. In den Mittelpunkt wurden dem Anspruch nach das aktiv-dynamische Erbe und der Schüler als subjektiver Faktor (Subjektposition) gestellt. Die Wirklichkeit sah zum Teil vermutlich anders aus. Dies hängt vorrangig mit zwei Faktoren zusammen. Erstens: In Bezug auf die Leseinteressen der Schülerinnen und Schüler war das Erbe, das nach seiner Anlage ein variabler Kanon sein sollte, nur wenig flexibel. 40 41

Junghans/Kopplow, Studienmaterial, S. 88–91. Naumann u. a., Gesellschaft.

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Das zeigen die qualitativen Leseerhebungen Wilfried Bütows aus den achtziger Jahren.42 Und zweitens: Wenn das Prinzip der schöpferischen Literaturaneignung auch für sich die Forderung aufstellte, die Schülertätigkeit in den Mittelpunkt zu stellen, darf das nicht dazu verleiten, in ihm ein völliges Zugeständnis an den Individualismus des Schülers zu sehen.43 Schon in Lehrplänen, bildungspolitischen Folgematerialien und Lehrbüchern zur Methodik des Literaturunterrichts war festgelegt, dass alle Ergebnisse, die im Rahmen einer autonomen Schülertätigkeit zustande kamen, in der Schlusssequenz einer Unterrichtseinheit durch die parteiliche Lehrkraft in eine kollektive Lesart zu transformieren waren. Es ist jedoch davon auszugehen, dass derartige Forderungen in der Unterrichtspraxis weitaus freier gehandhabt wurden. Der dargestellte Zusammenhang von sozialistischem Erbebegriff und schöpferischer Literaturaneignung kennzeichnet einen Versuch der Literaturmethodik, innerhalb bildungstheoretischer, ideologischer Forderungen und unter Bezug auf rezeptionstheoretische Erkenntnisse Schüleraktivität im Umgang mit Literatur zu fördern. Ähnlichkeiten zu gegenwärtigen Konzepten handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts können durchaus wahrgenommen werden, jedoch mit Einschränkungen. Die methodische Forschung der DDR war an staatliche Vorgaben gebunden, die die ideologischen wie institutionellen Rahmenbedingungen festlegten.

42 43

Langermann/Schlenstedt: Zeitzeugen. Müller-Michaels, Positionen, S. 102.

Sozialistischer Erbebegriff und schöpferische Literaturaneignung

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Literaturverzeichnis 1. Quellen Junghans, Ingrid / Kopplow, Helga (Hg.): Studienmaterial zur Methodik des Literaturunterrichts, Fachbereich Methodiken des Faches Deutsche Sprache und Literatur Sektion Sprach- und Literaturwissenschaft Wilhelm-Pieck-Universität Rostock, Manuskript 1985.

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Kaufmann, Hans: Versuch über das Erbe, Leipzig 1980 (= Reclams Universal-Bibliothek. Kunstwissenschaften 849). Langermann, Martina / Schlenstedt, Dieter: Zeitzeugen. Im Gespräch mit Wilfried Bütow, in: Berliner LeseZeichen 3 (1998) [Onlineausgabe: http://www.luise-berlin.de/Lesezei/Blz98_03/text01.htm (18.05.2012)]. Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Ministerium für Volksbildung (Hg.): Lehrplan Deutsche Sprache und Literatur. Abiturstufe, Berlin 1979. Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Ministerium für Volksbildung (Hg.): Lehrplan für die Oberschule. Deutsch. 9. bis 12. Schuljahr, Berlin 1953. Müller-Michaels, Harro: Positionen der Deutschdidaktik seit 1949, Königstein 1980 (= Scriptor Taschenbücher. Literatur und Sprache und Didaktik 126). Naumann, Manfred: Gesellschaft – Literatur – Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht, 3. Aufl., Berlin / Weimar 1976. Rosenberg, Rainer: Verhandlungen des Literaturbegriffs. Studien zu Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft, Berlin 2003 (= LiteraturForschung). Schuster, Karl: Einführung in die Fachdidaktik Deutsch, 8., aktual. Aufl., Baltmannsweiler 1999. Thomé, Horst: Klassik 1, in: Fricke, Harald u. a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, 3., neubearb. Aufl., Berlin / New York 2000, S. 266–270. Thürmer, Wilfried: Zur Kritik der Erbe-Theorie in der literaturwissenschaftlichen und literaturdidaktischen Diskussion der DDR, in: Fingerhut, Karl-Heinz u. a. (Hg.): Deutschdidaktik und Gesellschaftstheorie. Kritische Anmerkungen zu Anleihen in Sprach- und Literaturdidaktik, Paderborn 1977 (=  Informationen zur Sprach- und Literaturdidaktik 12), S. 65–82. Würffel, Stefan Bodo: Erbetheorie, in: Weimar, Klaus u. a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, 3., neubearb. Aufl., Berlin / New York 1997, S. 488–490.

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Theorie und Erforschung der deutschen Literatursprache Zu den Forschungen Mirra Moiseeva Guchmanns und den Ergebnissen aus der Zusammenarbeit zwischen zwei Akademien

Im Folgenden sollen die Erfahrungen und Ergebnisse fast dreißigjähriger Zusammenarbeit im Bereich der linguistischen Germanistik dargestellt werden, die zwischen zwei hochrangigen Forschungsinstitutionen – dem „Institut für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften“ der UdSSR und dem „Zentralinstitut für Sprachwissenschaft“ der „Akademie der Wissenschaften der DDR“ – betrieben wurde (1958–1989). Als Rahmenthema der wissenschaftlichen Kontakte und Forschungskooperation galt die Herausbildung und Entwicklung der deutschen Literatursprache, die in verschiedenen historischen Epochen als höchste Existenzform der Sprache galt. Die Grundzüge dieses Themas hat Mirra Moiseeva Guchmann entwickelt in ihrer zweibändigen Monographie „Von der deutschen Nationalitätssprache zur deutschen Nationalsprache“, die 1955–1959 auf Russisch erschien.1 Die Arbeit gehörte zu den ersten Veröffentlichungen der „Abteilung für germanische Sprachen“, die am „Institut für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften“ der UdSSR in Moskau 1950 gegründet wurde. Mit der Gründung dieser Abteilung entstand in Moskau ein neues Forschungszentrum, dessen Aufgabe war, die germanischen Sprachen in den Bereich der sowjetischen Sprachwissenschaft aktiver einzubeziehen.2 1

2

Guchmann, Mirra M.: Ot jazyka nemeckoj narodnosti k nemeckomu nacional’nomu jazyku [Von der deutschen Nationalitätssprache zur deutschen Nationalsprache], Moskva 1955/1959. Bis 1950 galt Leningrad mit vielen Lehr- und Forschungsinstitutionen als Zentrum der linguistischen einschließlich germanistischen Forschungen in der UdSSR; näher darüber: Desnitzkaja, Lingvistitscheskije instituty Leningrada v istorii sovetskogo jazykosnanija [Le-

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Seit 1959 war die Germanistik an der Akademie der Wissenschaften institutionell von der Hochschulgermanistik getrennt. Im Rahmen der Akademie der Wissenschaften entstand dadurch eine einzigartige Forschungssituation, in der fundamentale Projekte in der Linguistik gefördert wurden. Es gab eine gewisse Arbeitsteilung zwischen der akademischen Germanistik und der Hochschulgermanistik: Die Erste war orientiert auf historische, vergleichend-typologische Studien grammatischen Profils und auf die Erforschung germanischer Literatursprachen in ihrer geschichtlichen Entwicklung unter Betonung der Spezifik der sprachgeschichtlichen Prozesse in einzelnen Zeitabschnitten.3 Viel weniger vertreten waren die Lexikologie und Lexikographie sowie die Stilistik und der ganze Komplex der gegenwartssprachlichen Probleme auf allen Ebenen des Sprachsystems, die mehr zu dem Forschungsbereich der sowjetischen Hochschulgermanistik gehörten.

1. Aus der Vorgeschichte der wissenschaftlichen Kooperation Die ersten wissenschaftlichen Kontakte zwischen den Germanisten der DDR und der Sowjetunion fallen auf das Ende der fünfziger Jahre. Genauer Oktober 1958, als Mirra Moiseeva Guchmann ihre erste dreiwöchige Dienstreise in die DDR in das einige Jahre zuvor in Berlin gegründete von Theodor Frings geleitete „Institut für deutsche Sprache und Literatur“ gemacht hat.4 Im Bericht über den Besuch der DDR5 hat sie als Hauptzweck ihres Aufenthaltes genannt: 1) Bekanntmachung mit der wissenschaftlichen 3

4

5

ningrader linguistische Institute in der Geschichte sowjetischer Sprachwissenschaft]. Es gehörte zur Spezifik der wissenschaftlichen Situation in der SU, dass seit den fünfziger Jahren die Germanisten theoretisches Wissen erzeugten, das zu einem wesentlichen Bestandteil der russischen Linguistik wurde. Die Inlandsrussistik stand damals aus verschiedenen Gründen ziemlich weit von den modernen Richtungen der westlichen Linguistik entfernt, was letzten Endes Vor- und Nachteile hatte. Die Russistik profitierte im guten Sinne dieses Wortes vom russischen philologischen Wissen aus der früheren Zeit. Sie war in höherem Grade als Germanistik ideologisiert und legte mehr Wert auf die Erforschung der Sprache der literarischen Texte und ihrer Stilprägungen. Zudem war die Russistik sehr stark auf die Probleme der Begründung des Russischen als Verkehrssprache zwischen Nationen (eine Art lingua franca) innerhalb der Sowjetunion mit Anspruch auf die Weltsprache angewiesen. Die Leistungen von Theodor Frings in der Germanistik waren in der SU aus den Publikationen von Viktor Žirmunskij gut bekannt: Žirmunskij, [Rezension] der bedeutendsten Publikationen zur Geschichte der Schriftsprache von Theodor Frings; vgl. drei Abhandlungen von Theodor Frings in russischer Fassung im Sammelband: Žirmunskij, Nemeckaja dialektografija [Deutsche Dialektographie]; Žirmunskij, Th. Frings kak germanist [Th. Frings als Germanist]. Der vollständige Text des Berichtes wurde veröffentlicht in: Isvestija akademii nauk SSSR, Serija literatury i jazyka 18 (1959), H. 5, S. 252–273.

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Arbeit des neuen Instituts und 2) Durchführung der vorläufigen Verhandlungen mit der Leitung des Instituts über die Zusammenarbeit zwischen zwei akademischen Forschungsinstitutionen im Bereich der Geschichte der deutschen Literatursprache des 16.–18. Jahrhunderts. Die Zusammenarbeit zwischen den Akademien war vor allem als Erforschung der späteren Perioden der deutschen Sprachgeschichte gedacht, die im Vergleich zu den früheren Etappen noch nicht eingehend und umfangreich genug untersucht wurden. Während dieser Dienstreise in die DDR hat Guchmann die deutschen Germanisten mit ihrer Konzeption geschichtlicher Entwicklung des Deutschen vertraut gemacht. Der Vortrag, den Guchmann vor den Institutsangehörigen über Probleme der deutschen Sprachgeschichte aus der Sicht einer Auslandsgermanistin hielt, wurde teilweise mit einem gewissen Unverständnis aufgenommen, da die von Guchmann benutzten Begriffe wie Nationalsprache, sprachliche Existenzformen6, Literatursprache (statt Schreibsprache, Schriftsprache und Hochsprache) u. a. M. in der Germanistik nicht geläufig waren, und die theoretischen Voraussetzungen für die Wahrnehmung ihrer Ausführungen zu den neuen Ansätzen in der Sprachgeschichtsforschung des Deutschen noch fehlten. Damals waren die Leistungen der sowjetischen Germanisten in den deutschsprachigen Ländern, auch in der DDR, noch kaum bekannt. Erst später, Anfang der sechziger Jahre sind die Aufsätze der sowjetischen Germanisten durch die Übersetzungen ins Deutsche zugänglich geworden.7 Die Problematik der geschichtlichen Entwicklung der Literatursprache war in der sowjetischen Sprachwissenschaft tief verankert und durch die Werke der bedeutenden Russisten (Viktor Vladimirovich Winogradow, Grigorij Osipovic Vinokur, Lev Petrovic Jakubinskij u. a.) weit verbreitet, indem in den theoretischen Begründungen der Literatursprache als leitende Form die vorbildliche Rolle der schönen Literatur in der Sprachentwicklung immer hervorgehoben wurde. In die Reihe der Aufsätze zum Problem der Nationalsprache und ihrer theoretischen Auffassung gehörten einige soziologisch orientierte Werke von Viktor Maksimovič Žirmunskij, in denen so6

7

Unter der terminlogischen Verbindung ‚Existenzformen der Sprache‘ hat Mirra Guchmann funktionale Subsysteme ein und derselben Sprache verstanden. Zu ihnen gehören die Dialekte, die Literatursprache (oder ein sprachlicher Standard) sowie die verschiedenen Typen des Halbdialekts und der Umgangssprache. Diese von Guchmann in ihrer Monographie zur Herausbildung der deutschen Nationalsprache vorgeschlagene Auffassung der ‚Existenzformen der Sprache‘ wurde in verschiedenen Arbeiten sowjetischer Sprachwissenschaftler aufgegriffen. Sie hat später auch in den Forschungen der deutschen Germanisten Verbreitung gefunden als Zeichen einer funktionalen Begründung der sprachgeschichtlichen Entwicklungen auf dem Wege zu einer einheitlichen, polyfunktionalen, überregionalen, normierten und kodifizierten Literatursprache in ihrer schriftlichen sowie mündlichen Form. Vgl. die Übersetzung ins Deutsche des fundamentalen Werkes: Žirmunskij, Deutsche Mundartkunde (russisch: „Nemeckaja dialektologija“); Admoni, Der deutsche Sprachbau; Admoni, Grundzüge der Grammatiktheorie; Admoni, Entwicklungstendenzen; Guchmann, Weg, Teil 1.

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ziolinguistische Ansätze und terminologische Neuerungen mit den aktuellen Aufgaben der Sprachforschung in der SU in enger Verknüpfung standen.8 Guchmann hat diese Problematik auf die deutsche Sprache übertragen und die Unterschiede in den Fragestellungen zwischen der historischen Grammatik, der Sprachgeschichtsschreibung und der Geschichte der Literatursprache bestimmt. In den Erläuterungen zu den Begriffen Nationalsprache, Nationalitätssprache und Literatursprache hat Guchmann betont, dass der Terminus Literatursprache der Entwicklung und der Funktionsweisen der einheitlichen übermundartlichen Sprache genauer entspricht als die Termini Schriftsprache und Hochsprache, die in der deutschen wissenschaftlichen Tradition gängig sind.9 Bei der Literatursprache handelte es sich für Guchmann nicht nur um die Präzisierung der Terminologie, sondern um eine neue Sicht- und Beschreibungsweise der sprachgeschichtlichen Prozesse; ausschlaggebend war die Hervorhebung der Literatursprache als besondere sprachliche Formung (im schriftlichen sowie im mündlichen Verkehr), die auf der Auswahl der sprachlichen Erscheinungen aus dem allgemeinen Reichtum der Sprache beruht (in der Publizistik, in der wissenschaftlichen Prosa, anders in der schönen Literatur usw.). Die Auswahl und sprachliche Formung zählte Guchmann zum „wesentlichen und unabdingbaren Merkmal der Literatursprache“, und so gesehen war die Sprache der althochdeutschen Epik, vertreten durch solch hervorragende Zeugnisse mündlich überlieferter Volksdichtung wie das „Hildebrandslied“, das Ergebnis einer langen und bewussten sprachlichen Formung.10 Die weitere Auseinandersetzung von Guchmann mit dem Begriff Literatursprache als geformte Sprache bestand in der Ausgliederung und Präzisierung der wichtigsten Merkmale dieser sprachlichen Existenzform (dazu s. unten). Zwischen der Veröffentlichung der Monographie von Guchmann in russischer Sprache und der Übersetzung ins Deutsche vergingen zehn Jahre. Dazwischen lag die Zeit einer weiteren intensiven Auseinandersetzung in der SU und in der DDR mit den in der Monographie aufgestellten Problemen. Die teilweise kritischen Äußerungen der DDR-Rezensenten über die Darstellung und Deutung sprachgeschichtlicher Prozesse in der Mono8

9

10

Vgl. Žirmunskij, Nacional’nyj jazyk i socia’nyje dialekty [Nationalsphäre und soziale Dialekte]. In den dreißiger Jahren war das Thema ‚deutsche Literatursprache‘ zum Leitmotiv der jungen sowjetischen Germanistik im Kontext der ideologischen Arbeit in der SU geworden, die aktivere ‚linguistische Bautätigkeit‘, d. h. die die einheitliche theoretische Begründung und die praktische Ausarbeitung der Kriterien für neue Literatursprachen der Völker der UdSSR förderte. Vgl. dazu Dubinin, Aspekte. Vgl. terminologische Erläuterungen von Guchmann in einem Artikel aus dem Jahr 1961, d. h. einige Jahre vor der Veröffentlichung der deutschen Fassung ihrer zweibändigen Monographie: Guchmann, Begriffe. In den weiteren deutschsprachigen Aufsätzen von Guchmann wurde die Bezeichnung ‚Sprache der Volkschaft‘ durch den Begriff ‚Nationalitätensprache‘ ersetzt. Guchmann, Weg, Teil 1, S. 17–18.

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graphie von Guchmann haben zu einer weiteren intensiven Behandlung zugeführt.11 Manche der damals noch strittigen Ausführungen konnten in der deutschen Fassung vertieft und bekräftigt werden, sodass sie seitdem allgemeine Anerkennung gefunden haben, andere dagegen bedürften weiterer Klärung. Mit der deutschen Fassung von Guchmanns Monographie hat die Konzeption der sprachlichen Existenzformen und der Literatursprache als sprachgeschichtliche Beschreibungsgröße auch in der DDR-Germanistik festen Boden gefunden. Dazu gab es wichtige Voraussetzungen, darunter auch ideologisch geprägte, die neue Fragestellungen in der Sprachgeschichtsschreibung legitimieren mussten: unter anderem die ausschlaggebende Bedeutung der Literatursprache in der sowjetischen Philologie und die Lehre über die Gesetzmäßigkeiten der geschichtlichen Entwicklung als Abwechslung von einzelnen gesellschaftlichen Formationen.12 Die Vorbereitung der deutschen Fassung der Monographie von Guchmann wurde zum Anlass genommen, den Text stellenweise zu überarbeiten, neue Forschungsergebnisse auszuwerten und in einigen Abschnitten inzwischen erschienene Texte in die Untersuchung einzubeziehen. Das zweiteilige Werk von Guchmann unter dem Titel „Der Weg zur deutschen Nationalsprache“13 stand historiographisch gesehen in einem gewissen Gegensatz zum Werk von Th. Frings „Grundlegung einer Geschichte der deutschen Sprache“ (1957)14, in dem solche Fragen wie die Frühgeschichte des Deutschen und seine Ursprünge, die Entstehung des Deutschen in verschiedenen Sprachgebieten und Territorien, Stamm und Sprache, Sprachgeographie und Kulturgeographie behandelt wurden.15 Guchmanns monographische Darstellung des Werdegangs des Deutschen zu einer einheitlichen Sprache wurde konzipiert im Rahmen einer umfassenden Gegenüberstellung der sprachlichen Existenzformen und ihrer Wechselbeziehungen, indem die Rolle der Literatursprache als leitend hervorgehoben wurde. 11 12

13 14 15

Vgl. die Rezension Fleischer, Zur Entstehung der deutschen Nationalsprache. Es ist wahrscheinlich, dass die sprachgeschichtlichen Untersuchungen unter anderem durch die Berufung auf Friedrich Engels Arbeit „Der fränkische Dialekt“ in der DDR legitimiert wurden, die Theodor Frings als große Leistung von Engels gewürdigt hat. 1972 erschien in der SU ein Sammelband anlässlich des 150. Geburtstages von Engels, in: Engels i jazykosnanije [Engels und Sprachwissenschaft], Moskva 1972. Einzelne Artikel aus diesem Band wurden später ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht in: Feudel, Günter (Hg.): Existenzformen germanischer Sprachen – soziale Basis und typologische Kennzeichen, Berlin 1977 (= Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen 57). Berlin 1964, 1969. Vgl. Feudel, Mirra Moisejevna Guchmann. Der deutsche Titel von Guchmanns Monographie entsprach mehr dem deutschsprachigen linguistischen Diskurs und somit sind die Überschneidungen mit einigen Aufsätzen von Frings auffallend: „Der Weg zur deutschen Hochsprache“ (mit Ludwig E. Schmitt, 1942); „Vorwort. Einiges Grundsätzliches über den Weg zur deutschen Schriftsprache“ (1956).

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Sehr wichtig ist die Tatsache, dass der erste Band der Monographie „Der Weg zur deutschen Nationalsprache“ eine neue Schriftenreihe „Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen“ eröffnete. Die neue Reihe sollte „das Werden einer geeinten deutschen Sprache studieren und dokumentieren. Diese Entwicklung anhand der schriftlichen Überlieferung genauer zu verfolgen, ist eine Notwendigkeit“.16 Verwiesen wurde dabei auf einige Arbeiten, die früher in der Reihe „Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur“ entstanden sind, wie z. B. Band 23, Günter Feudels „Das Evangelistar der Berliner Handschrift (Ms.germ. 4 533)“.17 In ihrem zweiteiligen Werk untersuchte Guchmann die Sprachform (meist Laut- und Formenbestand, teilweise auch Syntax und Lexik) einiger literarischer Denkmäler, vornehmlich aber stadtsprachlicher Zeugnisse (vor allem Urkunden) des 12. bis 18. Jahrhunderts – mit dem Schwerpunkt auf dem 14.–15. Jahrhundert – vorwiegend unter sprachgeographischem Aspekt. Sie kam zu folgendem Ergebnis: Die Herausbildung der einheitlichen deutschen Literatursprache hängt vor allem mit der Ausbreitung der ostmitteldeutschen literatursprachlichen Variante über die Grenzen Thüringens und Sachsens zusammen. Das Wesen dieses Vorgangs bestand darin, daß eine der konkurrierenden literatursprachlichen Varianten allmählich ihren lokalen Charakter einbüßte, in einem bedeutenden Teil Deutschlands mehr und mehr Allgemeingültigkeit erlangte und die anderen landschaftlichen Varianten verdrängte. Dieser Vorgang, der bereits Ende des 16. Jhs. einsetzte, erfaßte die verschiedenen Gebiete Deutschlands nicht auf einmal und nicht gleichmäßig. Außerdem rückte die siegreiche Variante der Literatursprache nicht auf geschlossener Fläche vor, sondern von einem großen städtischen Zentrum zum anderen, wobei sie nicht selten im Umkreis der Städte größere Gebiete ganz unberührt ließ.18

Es gab zu der Zeit der Übersetzung von Guchmanns Monographie auch eine andere Meinung, z. B. die von Werner Besch, der für das 15. Jahrhundert ein anderes Bild der Sprachentwicklung bot: Auf der Grundlage von 68 Handschriften der Erbauungsliteratur ist er zur Erkenntnis gekommen, dass der Süden mehr gegeben, der mitteldeutsche Osten mehr empfangen hat. Die Forschungsresultate von Mirra Moiseeva Guchmann haben die Fortsetzung der Erforschung des Ostmitteldeutschen legitimiert, die von

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Frings, Einleitung, S. 7. Es war Günter Feudel, dem verdienstvolle Übersetzung und wissenschaftliche Bearbeitung der zweibändigen Monographie von Mirra Guchmann gehört, der die deutsche Fassung durch ständige Besprechungen und Diskussionen mit der Verfasserin selbst gemeistert und die Monographie in den deutschen wissenschaftlichen Diskurs recht produktiv eingeführt hatte. Guchmann, Weg, Teil 2, S. 159.

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der Berliner Akademie und mehreren DDR-Universitäten schon lange vorangetrieben wurde.19

2. Theoretische Begründungen der deutschen Literatursprache Eine nähere theoretische Begründung des Begriffs Literatursprache hat Guchmann in ihrem Beitrag zu einem Sammelband zur allgemeinen Sprachwissenschaft entwickelt, der zuerst 1970 auf Russisch erschien und 1975 ins Deutsche übersetzt worden war.20 Unter Literatursprache hat Guchmann jede geformte Sprache verstanden, unabhängig davon, ob sie im mündlichen oder im schriftlichen Verkehr angewandt wird. Die ‚geformte Sprache‘ setzt voraus, dass aus dem Gesamtinventar sprachlicher Mittel auf Grund mehr oder weniger bewusst angelegter Kriterien eine bestimmte Auswahl getroffen und im Zusammenhang damit eine größere oder geringere Regelung vorgenommen wird. Als historische Kategorie verfügt die Literatursprache über Merkmale, die in verschiedenen Perioden der Sprache sich unterschiedlich zeigen.21 Ihre Potenzen realisiert die Literatursprache im Ganzen erst in der nationalen Periode: Multivalenz und stilistische Vielfalt, Auswahl und relative Regelung, überdialektalen Charakter. Multivalenz heißt, dass die Literatursprache in allen Verkehrsbereichen verwendet wird; das Stilsystem erfasst den gesprochenen literatursprachlichen Stil; die Auswahl und relative Regelung entwickelt sich zum kodifizierten Normsystem mit begrenzter und ebenfalls normierter Variabilitätsbreite; der überdialektale Charakter der Literatursprache tritt als territorial nicht gebundene, einheitliche und allgemeinverbindliche Norm in Erscheinung.22 1979 schrieb Günter Feudel über die Literatursprache in der Auffassung von Mirra M. Guchmann folgendes: Der grundsätzliche Artikel über die Literatursprache in der „Allgemeinen Sprachwissenschaft“, in dem M. Guchmann die theoretischen Einsichten und Erkenntnisse der sowjetischen Sprachgeschichtsforschung über das Wesen und die Rolle der nationalen (wie auch der vornationalen) Literatursprache zusammenhängend – vor allem mit dem Blick auf die deutsche Sprache – darstellt, hat bei uns eine solche Breitenwirkung erzielt und gehört inzwischen so sehr zum Allgemeinwissen eines jeden Germanisten, dass sich eine weitere Kommentierung […] erübrigt.23 19 20 21 22 23

Vgl.: Benzinger, Fragen, S. 20–21. Guchmann, Die Literatursprache. Ebd., S. 412. Ebd., S. 443. Feudel, Mirra Moisejevna Guchmann, S. 203.

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Jedes von den wichtigsten Merkmalen der Literatursprache bekam in den Arbeiten von Guchmann grundsätzliche Bestimmungen; das gilt auch für die Überregionalität der Literatursprache, unter der die Herausbildung einer überlandschaftlichen, überdialektalen Sprachform verstanden wurde. Überregionalität ist in der Konzeption der Literatursprache von Guchmann ein komplexes Merkmal, eine Kategorie, die in verschiedenen Perioden der Sprachentwicklung sehr mannigfaltig zum Vorschein kommt. Vereinfacht bedeutet die Überregionalität die Absonderung der Literatursprache vom Dialekt, die sich auch in der vornationalen Periode zeigen lässt. Die Entstehung überdialektaler Formen hängt deutlich mit der wechselseitigen Beeinflussung unterschiedlicher Dialektgebiete zusammen. Diese Beeinflussung zeigt sich nicht nur in der Dialektmischung oder Ausbreitung einer bestimmten Erscheinung aus dem Ursprungsgebiet auf benachbarte Dialekte, wie z. B. bei der zweiten Lautverschiebung, sondern auch in der wechselseitigen Beeinflussung überlandschaftlicher schriftlicher und mündlicher Sprachformen. Im Zusammenhang mit der Kategorie der Überregionalität haben die Probleme der Dialektologie in den Aufsätzen von Guchmann eine für die deutsche Sprachgeschichtsforschung nicht traditionelle Behandlung bekommen. So betonte Guchmann, dass der Terminus Dialekt, den sie besonders umstritten und kompliziert fand, von den Linguisten undifferenziert gebraucht wird: In Zusammensetzungen wie Stammdialekt, Territorialdialekt, Dialektliteratur (vgl. auch Schriftdialekte in der deutschen Sprachwissenschaft) bezeichnet der Terminus Dialekt keineswegs dieselben, sondern eher gegensätzlichen Erscheinungen. Guchmann stellte fest, dass der Bedeutungsumfang des Terminus Dialekt davon abhängt, wie man seine Stellung im System der Existenzformen der Sprache auffasst, d. h. seine Wechselbeziehungen mit verschiedenen Typen überregionaler Sprache, darunter auch der Literatursprache. Je enger der Bedeutungsumfang des Terminus Dialekt, desto größer ist die Zahl funktionalstilistischer Sprachvarianten, die sich auf dialektfremde und überregionale Formen beziehen, und umgekehrt, je weiter und undifferenzierter der Bedeutungsumfang dieses Begriffs ist, desto ärmer und begrenzter erscheint das System überregionaler Formen der sprachlichen Kommunikation.24 In diesem Kontext sind auch die polemischen Äußerungen von Guchmann zu Frings’ Interpretation der dialektalen Grundlage der deutschen Literatursprache zu verstehen: Nach ihrer Auffassung beruhte die deutsche Literatursprache nicht unmittelbar auf den ostmitteldeutschen Dialekten, vielmehr stelle sie eine selbständige Variante dar, die schon im 14.–15. Jh. in der Schriftlichkeit Ostmitteldeutschlands weit gebraucht wurde. 24

Guchmann, Wechselbeziehungen, S. 36.

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3. Die Erforschung der Flugschriften (das 16. Jh.) und Publizistik (das 18. Jh.) Die Favorisierung der Kanzleisprache als Material der sprachgeschichtlichen Untersuchungen, die Isolierung der Kanzleisprache von den anderen Formen der Sprachtätigkeit, ihre Erhebung in den Rang eines ‚Hegemons‘ der gesamten Sprachentwicklung war Gegenstand der kritischen Bewertungen des in der historischen Germanistik vorhandenen Kanons. Die Einseitigkeit des Sprachmaterials suchte Guchmann schon in ihrer Monographie „Der Weg zur deutschen Nationalsprache“25 teilweise zu überwinden, obwohl diese Arbeit auch eher sprachgeographisch mit dem Schwerpunkt auf die Kanzleisprache konzipiert wurde. Die Monographie „Die Sprache der deutschen politischen Literatur in der Zeit der Reformation und des Bauernkrieges“ bedeutete eine wesentliche Erweiterung des Sprachmaterials und seine Auswertung aus der Sicht der sprachgeschichtlichen Pragmatik.26 Während die traditionelle deutsche Germanistik im großen und ganzen auf die sprachliche Analyse von Luthers Werken und anderen religiösen Denkmälern beschränkte und aus deren Vergleich mit den vorangegangenen Bibelübersetzungen wesentliche Rückschlusse auf die Entwicklung der deutschen Sprachverhältnisse im 15.–16. Jh. ziehen zu können glaubte, wandte sich Maria M. Guchmann der vielfältigen und vielschichtigen politischen Agitations- und Propagandaliteratur jener Zeit zu, die während der frühbürgerlichen Revolution keine geringere Bedeutung für das Schicksal der deutschen Sprache gehabt haben dürfte als die religiöse Literatur. Im Vordergrund ihrer Untersuchung standen dabei Probleme wie: die neuen Funktionen, die die Literatursprache in jener Zeit übernahm; die Rolle der gattungsbedingten, territorialen und sozialen Varianten für die stilistische Differenzierung der Literatursprache jener Zeit; die Herausbildung des invarianten Systems der Literatursprache als Basis für den Normierungsprozess u. a. Geleitet von diesen Fragestellungen, gelangte sie zu wichtigen und neuartigen Aussagen über den Einfluss des Kampfes der Volksmassen auf die schriftliche Variante der Literatursprache, das Verhältnis von gesprochener und literatursprachlicher Tradition.27

Wichtig scheint in diesem Werk auch die Verwendung der in der Dialektologie ausgearbeiteten Isoglossenmethode bei der Untersuchung der deutschen Literatursprache. Durch diese Methode bekam die Beschreibung der 25

26

27

Die Arbeit ist zuerst in russischer Sprache erschienen: Guchmann, Jazik nemeckoj polititscheskoj literatury epochi reformacii i krest’janskoj vojny (1970); deutsche Fassung: Guchmann: Sprache der deutschen politischen Literatur in der Zeit der Reformation und des Bauernkrieges (1974). Der Terminus Pragmatik, der nach der Arbeitstagung „Ansätze zu einer pragmatischen Sprachgeschichte“ im „Deutschen Seminar“ der Universität Zürich 1978 in die deutsche Germanistik Eingang gefunden hat, um Sprache im Vollzug des kommunikativen Handelns besser zu beschreiben, blieb in der sowjetischen Germanistik der achtziger Jahre noch ungebräuchlich; vgl. den Sammelband: Sitta, Ansätze. Feudel, Mirra Moisejevna Guchmann, S. 203–204.

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Verhältnisse zwischen den Dialekten und der Literatursprache einen neuen Wert als eine tiefere Begründung der überlandschaftlichen Tendenzen in der Sprachentwicklung. Da die Struktur der Dialektgebiete infolge der Entwicklungen unterschiedlicher Typen überlandschaftlicher Sprachformen immer komplizierter wurde, führte das dazu, dass sich die Isoglossen der geformten Sprachtypen von dialektalen Isoglossen im engeren Sinne des Wortes abhoben, d. h. die Merkmale der Schriftsprache fallen in ihren verschiedenen territorialen Varianten mit der Verteilung der gleichen sprachlichen Erscheinungen in den Dialekten nicht zusammen. Durch die Analyse der Sprache der Flugschriften hat Guchmann zwei deutlich geprägte Tendenzen abgesteckt: eine westliche, die in großem Umfang Elemente der umgangssprachlichen Lexik und dialektale Formen verwendet, und eine östliche, die den Einfluss der Traditionen der Geschäftssprache und der religiösen Übersetzungsliteratur aufweist und sich an die Sprache der Drucker Mitteldeutschlands und des Südostens anlehnt. Die sprachlichen Unterschiede der einzelnen Flugschriften waren durch einen ganzen Komplex von Faktoren bedingt. Sie hingen vom Charakter der Flugschrift (Dialog, Lied, Traktat), vom Ort ihrer Veröffentlichung, von der Meisterschaft und der „sprachlichen Politik“ ihres Autors und schließlich von der allgemeinen Ausrichtung und Bestimmung der Flugschrift ab. Es ist charakteristisch, dass die Thesen der aufständischen Bauern sich stilistisch in nichts von den zahlreichen Traktaten unterscheiden, dass aber unter den Dialogen die verschiedenen Sprachtypen vertreten sind, vom „Gemeindeutsch“ der Augsburger Drucker bis zur Ortsmundart, die sich in den Flugschriften widerspiegelt, die in Form von kleinen Volksdramen verfasst wurden.28 Die deutsche Fassung von Guchmanns Monographie über die Sprache der deutschen politischen Literatur hat mächtige Impulse zu weiteren Untersuchungen des aufschlussreichen Sprachmaterials gegeben, das früher zur Analyse kaum herangezogen wurde. Von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Gerhard Kettmann und Joachim Schildt wurden die Untersuchungen zur Verwendung lexikalischer und syntaktischer Stilmittel in der Agitationsliteratur der Reformationszeit herausgegeben.29 Sprachgeschichtlich gesehen war diese Zeit wichtig, weil „die geschriebene Form der Literatursprache aufgrund der völlig veränderten gesellschaftlichen Bedürfnisse […] Aufgaben übernahm, die bislang vor allem von der gesprochenen Sprache wahrgenommen wurden: propagandistisch in Klassen nämlich und in soziale Schichten zu wirken, die als Handelnde in den zeiteigenen Auseinandersetzungen auftraten. Religiöse, politische und soziale Fragen in 28 29

Semenjuk, Differenzierungen, S. 122. Kettmann/Schildt, Literatursprache im Zeitalter der frühbürgerlichen Revolution.

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deutscher Sprache aufzuwerfen und in breiter Öffentlichkeit zu diskutieren – das aber war etwas völlig Neues im gesellschaftlichen Leben.“30 Die sprachgeschichtlichen Untersuchungen der Massenliteratur im Rahmen der literatursprachlichen Problematik bekamen in der sowjetischen Germanistik der sechziger Jahre die Erweiterung durch das Studium der Sprache des periodischen Schriftwesens. Natalja Semenjuk erforschte in ihrer Monographie, die als wissenschaftliches Projekt in der „Abteilung für germanische Sprachen der Akademie der Wissenschaften der UdSSR“ verfasst wurde, das Problem der Herausbildung der Norm in der deutschen Literatursprache des 18. Jahrhunderts anhand der periodischen Literatur.31 Die Sprache der deutschen Publizistik und ihre Stellung innerhalb der Prozesse der Sprachentwicklung waren noch wenig erforscht. Für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts war es charakteristisch, dass die Literatursprache sich vornehmlich auf der Grundlage rhetorischer und literarischer Genres entwickelte; das waren historische Zeitschriften, politische und gelehrte Zeitungen, moralische und literarische Zeitschriften. Die periodische Literatur stellte eine prinzipiell neue Sphäre der Verwendung der Literatursprache dar. Nach ihrem Inhalt und ihren genremäßigen Eigenschaften war sie uneinheitlich, sie spiegelte in vielerlei Hinsicht die Besonderheiten der entsprechenden funktionalen Bereiche wider. Die Erweiterung der Funktionen rief eine komplizierte Differenzierung der Sprache hervor. Darüberhinaus lassen sich in der periodischen Literatur einige Gradunterschiede in der Geformtheit der Sprache nachweisen, die gewissermaßen durch Zweckbestimmung der Werke und Sprachgewohnheiten der Autoren bedingt waren. Für die Literatursprache jener Periode waren nicht nur mannigfaltige Differenzierungsvorgänge, sondern auch eine gewisse Stabilisierung der Normen kennzeichnend.32 In der sowjetischen Germanistik war die Behauptung grundlegend, dass die literatursprachlichen Normen als Sonderfall der Sprachnormen betrachtet werden müssen. Die literatursprachliche Norm wurde definiert als „Gesamtheit kollektiver Realisierungen des Sprachsystems […], die von der

30 31

32

Kettmann, Einleitung, S. 7. Semenjuk, Problema formirovanija norm nemezkogo jazyka XVIII stoletija [Das Problem der Herausbildung der Normen der deutschen Literatursprache im 18. Jahrhundert]. Gekürzte deutsche Fassung einiger Kapitel dieser Arbeit: Semenjuk, Zustand. Die sprachliche Norm ist ein funktionaler Begriff; die Auffassung von der Norm als Gesamtheit stabiler, traditioneller Realisierungen des Sprachsystems, die sich unter Eugenio Coserius’ Einfluss verbreitet hat, war nicht neu. Sie drückte den bekannten Standpunkt aus, dass die Sprache sowohl unter dem Aspekt ihrer inneren Organisation (d. h. als Struktur) wie auch unter dem Aspekt der Realisierung und der Funktionsweise dieser Struktur (d. h. als Norm) behandelt werden kann.

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Gesellschaft auf einer bestimmten Etappe ihrer Entwicklung anerkannt und als richtig und vorbildlich aufgefaßt werden“.33 Die Herausbildung der Norm kann als Geschichte der Umgruppierung von varianten Mitteln verschiedener Sprachebenen verstanden werden. Sprachgeschichtlich gesehen wird die Variabilität keinesfalls völlig beseitigt, sie wird nur eingeschränkt und teilweise umgestaltet. Die Untersuchung der Normierungsprozesse anhand der Periodik erbrachte, dass sich die Sprachnormen in verschiedenen thematischen Gruppen der periodischen Literatur ungleichmäßig herausgebildet haben. Die Erweiterung der Funktionen der Literatursprache und eine teilweise Stabilisierung verstärkten ihre Übermundartlichkeit und ihren Einfluss auf die südlichen und westlichen deutschsprachlichen Gebiete. Die Untersuchung ergab, dass die Sprache politischer Zeitungen und Zeitschriften, wissenschaftlicher Zeitschriften und literarischer Journalistik des 18. Jahrhunderts sich auch durch zahlreiche soziale und funktional-stilistische Differenzierungen auszeichnete, die in sehr komplizierten und vielschichtigen Verhältnissen standen. Am Sprachstoff der deutschen politischen Literatur des 16. Jahrhunderts und der periodischen Literatur des 18. Jahrhunderts wurde unter anderem deutlich gezeigt, dass die Vergrößerung der Zahl der Funktionen und die Ausdehnung der gesellschaftlichen Gebrauchssphären einer Literatursprache gewöhnlich von verstärkten Normierungsstrebungen und von aktiven Kodifikationsprozessen begleitet werden. Letzteres ist nicht nur dadurch bedingt, dass die Verwendung der Literatursprache in der wissenschaftlichen Tätigkeit, im Unterricht, in der Publizistik usw. ihre besonders sorgsame Gestaltung erfordert, sondern auch dadurch, dass die Erweiterung der sozialen Basis einer Literatursprache zu einer Verwischung der Grenzen führt, die sie von den territorialen und sozialen Dialekten, von den Halbdialekten und von der Umgangssprache trennen.

4. Normforschung und Aspekte der historischen Sprachsoziologie des Deutschen Eine enge wissenschaftliche Kooperation in der Sprachgeschichtsschreibung des Deutschen folgte dann in den siebziger Jahren. Da hat die akademischen Institute für Sprachwissenschaft in Moskau und in Berlin ein umfangreiches Forschungsvorhaben verbunden, das zum Ziel hatte, wichtige Prozesse bei der Herausbildung der deutschen Literatursprache der Gegenwart zu untersuchen. Es entstanden sechs Bände, die einer gemeinsamen Methode der Analyse und Beschreibung folgten, sich auf ein weitgehend einheitlichen 33

Semenjuk, Norm, S. 468.

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Textkorpus stützten und gleiche zeitliche Einschränkungen festlegten: zwei Mikroperioden 1470–1530 und 1670–1730. Dennoch zeigte jeder Band für sich eine relative Eigenständigkeit.34 Ein Schwerpunkt in der Erforschung der Geschichte der Literatursprache lag dabei auf der Untersuchung der Herausbildung literatursprachlicher Normen unter funktionalem Aspekt. Es wurde vorausgesetzt, dass zwischen den Normierungsprozessen und der Entwicklung bestimmter Arten und Genres des Schrifttums ein Zusammenhang besteht, der durch die Untersuchung der Differenzierungen des sprachlichen Materials in den verschiedenen Texttypen für jede Periode aufgedeckt werden sollte. Diese Aufgabe war keineswegs einfach, weil davor keine entsprechenden Untersuchungen vorlagen, die funktionale, gattungsbedingte, lokale, soziale, chronologische Faktoren in ihrem Zusammenwirken in verschiedenartigen Texttypen vergleichend und tendenzaufweisend berücksichtigt hätten. In diesen Bänden wurde eine ganze Reihe neuer theoretischer Probleme aufgeworfen, insbesondere das der literatursprachlichen Norm in verschiedenen Bereichen: der Lexik, Syntax, Morphologie, Wortbildung. Die geschichtliche Erforschung der deutschen Literatursprache im Rahmen der wissenschaftlichen Zusammenarbeit eröffnete Möglichkeiten für viele Fragestellungen und aufschlussreiche Verallgemeinerungen unter soziologischem Aspekt.35 Guchmann und Semenjuk sind davon ausgegangen, dass soziale Faktoren zu vielfältigen Existenzformen der Sprache innerhalb einer bestimmten historischen Periode und auf einem bestimmten Territorium führen. Aber die soziale Struktur der Gesellschaft spiegelt sich nur mittelbar in der Sprache wider: Zwischen den einzelnen Existenzformen der Sprache und bestimmten sozialen Gruppierungen gibt es keinen obligatorischen Zusammenhang. Zugleich gewinnt eine dynamische Einschätzung der Wechselbeziehungen zwischen sprachlichen und sozialen Faktoren immer mehr an Boden.36

34

35 36

Kettmann/Schildt, Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache auf der syntaktischen Ebene (1470–1730). Der einfache Satz; Dückert, Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache auf der lexikalischen Ebene (1470–1730). Untersucht an ausgewählten Konkurrentengruppen; Müller, Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache auf der lexikalischen Ebene (1470–1730). Untersucht an ausgewählten Konkurrentengruppen mit Anteilen slawischer Herkunft; Admoni, Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache im Bereich des neuhochdeutschen Satzgefüges (1470–1730). Ein Beitrag zur Geschichte des Gestaltungssystems der deutschen Sprache; Guchmann / Semenjuk, Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache im Bereich des Verbs (1470–1730). Tempus und Modus; Pavlov, Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache im Bereich der Wortbildung (1470–1730). Von der Wortgruppe zur substantivischen Zusammensetzung. Semenjuk, Differenzierungen. Guchmann/Semenjuk, Untersuchung, S. 119.

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Die Charakteristik der für die deutsche Sprache unterschiedlichen Existenzformen gestaltet sich häufig komplex. Zu berücksichtigen sind soziale Merkmale (Umfang der gesellschaftlichen Funktionen) und territoriale Merkmale (das Gebiet seiner Anwendung), aber auch andere, im eigentlichen Sinne funktionale Momente (Charakter der Normen, stilistische Schichtung der Sprache). Im Zusammenhang mit der sozialen Schichtung der Sprache wurde die Feststellung geäußert, dass sie in mehr oder minder starkem Maße mit den chronologischen, territorialen und funktional-stilistischen Merkmalen verbunden ist. Zwischen der Literatursprache einerseits und dem Dialekt und der Umgangssprache andererseits bestehen gewisse Unterschiede: Die soziale Schichtung des Dialekts und der Umgangssprache basiert unmittelbar auf territorialen Merkmalen. Dagegen ist für die Literatursprache die Beziehung der sozialen und der funktional-stilistischen Differenzierungen grundlegend und wichtig. Aus der deutschen Sprachgeschichtsschreibung des 16. bis 18. Jahrhunderts ließen sich wichtige Gesetzmäßigkeiten der geschichtlichen Entwicklung der Literatursprache ableiten. In den verschiedenen historischen Perioden der Entwicklung einer Literatursprache sind das spezifische Gewicht, der Charakter und die Beziehungen der beiden differenzierenden Faktoren (des sozialen und des funktional-stilistischen Faktors) durchaus nicht identisch. Je enger der gesellschaftliche Geltungsbereich einer Literatursprache und je geringer die Zahl ihrer stilistischen Varianten ist, desto größer ist die Rolle der sozialen Faktoren, die in hohem Maße die funktional-stilistischen Modifikationen der Literatursprache bestimmen. Und umgekehrt, je stärker und vielschichtiger der Gebrauch der Literatursprache ist, desto größer ist die Selbständigkeit, die hier die stilistische Variation erlangt, da die sozialen Faktoren an Bedeutung verlieren oder einen anderen Charakter annehmen.37 Beim Studium der Geschichte der deutschen Literatursprache (das kann auch für die anderen Literatursprachen gelten) erwies sich, dass sich mit der historischen Entwicklung der deutschen Literatursprache auch das Verhältnis zwischen ihren Funktionen ändert. Und zwar grenzen sich die funktionalstilistischen Besonderheiten von den sozialen Differenzierungen allmählich ab, obwohl ihr Zusammenhang durchaus nicht gänzlich verloren geht. Die Ausführungen dieser Art verweisen auf die Auseinandersetzung der Verfasser mit den Differenzierungen der verschiedenen Typen der Literatursprache (des chronologischen, räumlichen und stilistische Typs), die letzen Endes einer pragmatisch orientierten Sprachbeschreibung nicht fremd sind. Diese Tatsache findet jetzt Anerkennung, indem festgestellt wird, dass „die 37

Ebd., S. 121.

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pragmatische Wende in der germanistischen Sprachwissenschaft Anfang der siebziger Jahre in den ‚Bausteinen‘ schon längst vorbereitet war, wenn sie nicht dort längst vollzogen war“.38

5. Probleme der sprachgeschichtlichen Periodisierung des Deutschen Wichtige und grundlegende Verallgemeinerungen betrafen Anfang der achtziger Jahre die Probleme der Periodisierung des Deutschen. Am 25./26. Mai 1981 wurde im „Zentralinstitut für Sprachwissenschaft“ der „Akademie der Wissenschaften der DDR“ eine Arbeitstagung zu Problemen der Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte durchgeführt. Die Referate und Diskussionsbeiträge waren dann in einem Band der Reihe „Linguistische Studien“ zusammengefasst.39 Die Diskussion um die sprachgeschichtliche Periodisierung entfaltete sich unter anderem auch im Zusammenhang mit dem gemeinsamen Diskussionsbeitrag von Mirra Moiseeva Guchmann und Natalja Semenjuk.40 Es ging im Referat um die Notwendigkeit, die Periodisierung neu zu überdenken, indem Gegenstand und Aufgaben der deutschen Sprachgeschichte von den strukturellen Aspekten über die sozialen Gesetzmäßigkeiten zu der sozial-kommunikativen Betrachtung reichten. Die Entwicklung der Germanistik und der allgemeinen Sprachwissenschaft haben die Unvollkommenheit der traditionellen dreigliedrigen Periodisierung bloßgelegt, die vorwiegend auf einigen Einzelprozessen basiert und sozialhistorische Bedingungen ganz außer Acht lässt. Zu der Schlussfolgerung, dass außersprachliche Faktoren als Periodisierungskriterien konsequenter und umfassender herangezogen werden müssen, sind Vertreter verschiedener linguistischen Schulen gelangt. Im Vortrag von Guchmann und Semenjuk wurde auf die Periodisierung hingewiesen, die von Peter von Polenz entwickelt wurde. Sie stützte sich auf die wichtigsten Ergebnisse der kulturellen Entwicklung wie die Christianisierung oder die Erfindung des Buchdrucks. Als zweckmäßiger und methodologisch fundierter wurde von Guchmann und Semenjuk die systematische Betrachtung aller außersprachlichen Stimuli angesehen. Hervorgehoben wurde die außerordentliche Vielfalt von Faktoren, die als Grundlage für eine Gliederung von historisch-linguistischen Prozessen dienen könnten. Diese Faktoren sind bei weitem nicht gleichwertig und unterscheiden sich voneinander durch den Grad und Cha38 39 40

Benzinger, Fragen, S. 23–24. Linguistische Studien, Reihe A, Arbeitsberichte 88, Berlin 1982. Guchmann/Semenjuk, Fragen.

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rakter ihres Einflusses auf die Sprache. Die Reihenfolge der die Sprache beeinflussenden außersprachlichen Faktoren, die in hierarchischen Zusammenhängen zueinander stehen, sollte wie folgt aussehen: 1.) historische Etappen in der Entwicklung der Gesellschaft (allgemeine Charakteristik der Prozesse und die wichtigsten historischen Tatsachen); 2.) soziale Struktur der Gesellschaft und ihr Verhältnis zu den hauptsächlichen Kommunikationssphären; 3.) kulturhistorische Situation und kulturelle Triebkräfte der Sprachentwicklung; 4.) Gattungen des Schrifttums in den einzelnen Perioden und ihre Verteilung auf funktionalstilistische Bereiche. Im Beitrag wurde angenommen, dass im Gesamtprozess der Entwicklung des Deutschen aufgrund der Korrelation mit der Geschichte der Gesellschaft vier Perioden angesetzt werden können: 1. Der Werdegang des Deutschen (theodisca lingua) als Sprache der deutschen Nationalität: Annäherung von zwei Gruppen germanischer Stammesdialekte, und zwar der Rheinisch-Weser-Gruppe und der BayrischAlemannischen Gruppe. Die Grenzen dieser Periode bilden das 7. und das 11. Jh. (Epoche des ‚Frühfeudalismus‘). 2. Die Entwicklung der Sprache der deutschen Nationalität im 12.–15. Jh., d. h. in der Periode der ‚Blütezeit des Feudalismus‘, in dessen letzter Etappe, im ‚Spätfeudalismus‘, Voraussetzungen für künftige Veränderungen ausgebildet werden. 3. Das 16. Jh. bis zur ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bilden die Periode des Werdegangs der deutschen Nationalsprache. In dieser Zeit entwickeln sich die Voraussetzungen der künftigen ‚kapitalistischen Gesellschaftsformation‘. 4. Der Zeitraum, der das Ende des 18. und des 19. Jahrhunderts umfasst, ist die mit der ‚Epoche des Kapitalismus‘ korrelierende Periode der Entwicklung der deutschen Nationalsprache. Der vorgeschlagene chronologische Rahmen stellt eine verallgemeinerte Gliederung der Geschichte des Deutschen dar. Sie korreliert weder unmittelbar mit den internen Prozessen, die die Struktur der deutschen Sprache veränderten, noch mit den Wandlungen im System der Existenzformen der Sprache und mit den Veränderungen der gesamten sprachlichen Situation. Wenn die Prinzipien der sprachgeschichtlichen Epocheneinteilungen auf der Grundlage von Entwicklungen in der herrschenden (dominanten) Existenzform, der Literatursprache, in der Diskussion auch als völlig berechtigt anerkannt wurden, entwickelten die DDR-Germanisten in ihren Aufsätzen doch auch weiterführende Vorstellungen über theoretische und praktische Aspekte dieses Problems. Gotthard Lerchner z. B. plädierte für die Berücksichtigung von komplexen Zusammenhängen in der Sprach-

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kommunikation, die „als relative selbständige Verhaltensform gilt“41; die sprachgeschichtliche Periodisierung erscheint dann als Periodisierung von gesellschaftlicher Kommunikation, der Herausbildung bzw. Veränderung von Kommunikationsstrukturen, d. h. „denjenigen Ordnungen, innerhalb deren sich die Kommunikation historisch konkret organisiert; diese sind zwar immer sozial bedingt, doch wird diese Determination oft nur sehr vermittelt wirksam“.42 In den anderen Ausführungen zum Problem der Periodisierung des Deutschen wurde mehr Gewicht auf die Rolle der sozialökonomischen Gesellschaftsdeterminationen für den Ablauf sprachlich-kommunikativer Tätigkeit, deren Inhalt und Formen gelegt: Die Epochen der deutschen Sprachentwicklung […] müssen [...] mit den sozialökonomischen Gesellschaftsformationen, die sich für die deutsche Entwicklung ergeben, und deren spezifischen Verlauf im Wesentlichen korrespondieren. Hier müssen die Zäsuren zwischen den einzelnen Epochen, die den relativen Abschluss einer bestimmten Entwicklung und zugleich einen Neubeginn signalisieren, linguistisch vor allem durch Wandlungen in der Funktionsweise der deutschen Sprache, d. h. in den Existenzformen bzw. in einem Existenzformengefüge, die Ausdruck grundlegender Veränderungen kommunikativer Bedürfnisse der sie tragenden kommunikativen Gemeinschaften sind, begründet werden.43

Feudel schlägt vor, bei der Periodisierung der Sprachgeschichte drei Ebenen zu unterscheiden: 1.) die Ebene des Gefüges der Existenzformen (Stammessprache, Nationalitätensprache, Nationalsprache); 2.) die Ebene der literatursprachlichen Entwicklungen (vornationale Literatursprache); 3.) die Ebene der Perioden in der Entwicklung des Sprachsystems (Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, Neuhochdeutsch).44 In die achtziger Jahre fällt die Zusammenarbeit zwischen zwei akademischen Instituten der UdSSR und der DDR an einem gemeinsamen Projekt, in dem die Geschichte der deutschen Literatursprache von den Anfängen bis zum 19. Jh. dargestellt und ein Modell der Periodisierung nach den komplexen Kriterien ausgearbeitet werden mussten. Die sowjetischen Germanisten übernahmen die Beschreibung des Zeitabschnittes vom 9. bis 18. Jh. und von der deutschen Seite musste die Darstellung der späteren Etappen in der Entwicklung der literatursprachlichen Form des Deutschen erarbeitet werden.45 41 42 43 44 45

Lerchner, Dialektik, S. 65. Ebd., S.67. Schildt, Verhältnis, S. 34. Feudel, Bedeutung, S. 108. Es gab damals nur wenige vorläufige Studien zur dieser Periode, die die deutsche Sprachgeschichte unter dem Blickwinkel der literatursprachlichen Entwicklungen darstellten; vgl. Schildt, Einfluss.

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Als akademisches Projekt konnte diese Arbeit einen besonderen Platz unter den gängigen Geschichten dieser Art einnehmen, beruhend auf einer konsequenten Darstellung von allen Prozessen der sprachgeschichtlichen Entwicklung, die die Durchsetzung der Literatursprache als höchste Existenzform des Deutschen in verschiedenen Zeitabschnitten bestimmten. Die Untersuchung war gedacht als eine einheitliche Beschreibung von mehreren außersprachlichen und innersprachlichen Phänomenen, deren Auswahl theoretisch begründet worden war aus der Sicht von komplexen Zusammenwirkungen der Sprache und Kultur.46

6. Literatursprachen als Gegenstand typologischer Studien In der Mitte der siebziger Jahre erschien die typologische Thematik als eine neue Forschungsrichtung in der germanischen Philologie mit dem Anspruch auf theoretische Verallgemeinerungen und Erstellung von universalen Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung der Sprachen verschiedener Typen. Durch die Definition von wesentlichen Merkmalen der Literatursprache und ihre Gegenüberstellung zu den Dialekten erwies es sich als möglich, die Herausbildung von verschiedenen Typen der Literatursprache aufgrund von bestimmten Kriterien zu charakterisieren: 1. Umfang der Kommunikationsbereiche; 2. Charakter der Einheitlichkeit und das Niveau der Normalisierung; 3. Grad der Absonderung von den umgangssprachlichen Formen. Neben der traditionellen Typologie ist also eine funktionale Typologie47 entstanden als eine neue linguistische Richtung, die am Material der germanischen Sprachen (Deutsch, Englisch, Niederländisch) erprobt wurde.48 Es wurde hervorgehoben, dass die sozial-funktionalen Kriterien, die Eigenart 46

47 48

Im Rahmen dieses Projekts sind nur zwei Bände in russischer Fassung erschienen, die die Geschichte der deutschen Literatursprache in der Periode zwischen dem 9. bis 18. Jh. umfassen: Guchmann/Semenjuk, Istorija nemeckogo literaturnogo jazyka IX–XV vv. [Geschichte der deutschen Literatursprache des 9.–15. Jahrhunderts], Bd. 1; Guchmann/Semenjuk/Babenko, Istorija nemeckogo literaturnogo jazyka XVI–XVIII vv. [Geschichte der deutschen Literatursprache des 16.–18. Jahrhunderts], Bd. 2. Die erste Erwähnung in: Guchmann, Die Literatursprache, S. 452–453. Jarceva, Tipologija germanskich literaturnych jazykov [Typologie der germanischen Literatursprachen]. In diesem Sammelband wurden einige Aufsätze der deutschen Germanisten auf Russisch veröffentlicht als Erfahrungsberichte und Ergebnisse der Zusammenarbeit zwischen den Akademien: vgl. Schildt, Ismenenije sootnošenija stabil’nosti i variativnosti v prozesse rasvitija nemeckogo nacional’nogo literaturnogo jazyka [Veränderungen in den Verhältnissen der Stabilität und der Varianz im Prozess der Entwicklung der deutschen nationalen Literatursprache], in: Jarceva, Tipologija, S. 79–91.

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der sprachlichen Situation als Grundlage der typologischen Charakteristik einer jeden beliebigen Literatursprache dienen sollten. Dabei treten folgende stabile Merkmale der Literatursprache in den Vordergrund:  1.) ihr überlandschaftlicher Charakter, der verschiedene Formen annehmen kann und vorwiegend mit der Absonderung von der spontanen Rede zusammenhängt; 2.) ihre besondere sprachliche Formung, die auf der Auswahl von sprachlichen Erscheinungen aus dem allgemeinen Reichtum der Volkssprache beruht; 3.) die Möglichkeit der stilistischen Variierung, die mit der Verwendung in verschiedenen Geltungsbereichen verbunden ist. Diese stabilen Merkmale können aber auch individuelle Formen erhalten und gerade die Unterschiede in ihrer Realisierung erlauben es, verschiedene Typen von Literatursprachen auszusondern. Die typologische Darstellung der funktional differenzierten Merkmale der Sprache, die ein System der Existenzformen darstellen, hat Guchmann zur Erweiterung der Vorstellungen von den Existenzformen der Sprache und ihrer Zusammenhänge geführt: Sie formulierte die These, dass die Existenzformen nicht im gleichen Verhältnis zur jeweiligen kulturellen Situation stehen. Bei seiner kulturellen Tätigkeit im weitesten Sinne dieses Wortes bedient sich der Mensch vorwiegend der geformten, kultivierten Sprachform, nicht etwa des territorialen Dialekts oder der Halbmundart. Das Eindringen der Letzten in irgendeinen kulturellen Bereich ist in den meisten Fällen ein sekundärer Vorgang, ihr Gebrauch funktional begrenzt und kulturell markiert. Die Dominanz der sozial und kulturell höheren Existenzform der Sprache bleibt stabil. Guchmann betonte auch, dass die kulturellen Stimuli primär auf die kultivierte Sprachform einwirken, die dann auf andere Existenzformen ausstrahlt. Die funktionale Sprachschichtung ist eine historisch-typologische Kategorie, die in ungleichen Realisationsformen das Dasein der Sprachen charakterisiert. Die funktionale Sprachschichtung hat Guchmann als funktionales Paradigma modelliert. Das heißt, dass funktionale Sprachstratifikation in der Form einer binären Opposition existiert: Dialekt – überdialektale Existenzform. Das zweigliedrige Oppositionssystem der Existenzformen ist die eigentliche Urform und auch der Kern jeder funktionalen Schichtung; ihr Ausbau in der Geschichte einzelner Sprachen weist unterschiedliche Wege auf. Unter bestimmten Verhältnissen erfolgt eine weitere Untergliederung des Systems, es entstehen verschiedene Arten von Übergangsformen (Halbmundart, Umgangssprache), oft regional markiert. Die Entwicklung der Schriftlichkeit schafft eine neue Opposition, diejenige der gesprochenen und der geschriebenen Sprache, was die Struktur des funktionalen Paradigmas noch komplizierter macht.49 49

Literatursprache als theoretisches und sprachgeschichtliches Problem wurde in den siebziger Jahren erweitert und bereichert, als am „Institut für Sprachwissenschaft der Russischen Akademie der Wissenschaften“ die Kommission für Erforschung der Herausbildung und des

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7. Abschließende Bemerkungen und Ausblicke Die grundlegenden Verallgemeinerungen im Zusammenhang mit den Ergebnissen von vieljährigen Untersuchungen, die in enger Kooperation mit den Germanisten aus der DDR zu der deutschen Literatursprache durchgeführt wurden, hat Guchmann in ihrer Rede anlässlich der Überreichung des Konrad-Duden-Preises 1984 wie folgt zusammengefasst: Es gibt zwei Möglichkeiten, die Entwicklung und qualitativen Veränderungen im Status dieser Existenzformen und in ihrem Verhältnis zu den anderen Komponenten des funktionalen Systems zu modellieren. Das hängt davon ab, ob man die Geschichte des funktionalen Sprachsystems und seines höchsten Stratums als seine Abfolge geschlossener Gebilde auffaßt, wobei in der Beschreibung jeder Entwicklungsstufe das Besondere eine vorrangige Rolle spielt, oder ob man trotz qualitativer Unterschiede die funktionale Einheit, den inneren Zusammenhang dieser Entwicklungsstufen, die Rolle der Tradition in den Vordergrund treten läßt. Damit sind auch terminologische Auseinandersetzungen verbunden.50

Das erste Modell ist in den Studien von Werner Besch exemplifiziert worden. Die Geschichte der Ausbildung einer überregionalen Sprachform des Deutschen wird in drei Etappen eingeteilt, wobei jede Etappe als ein geschlossenes System dargestellt wird und eine eigene Benennung bekommt: Schreib- oder Schriftdialekt – Schriftsprache – Standardsprache. Das Vorhandensein einer gesamtsprachlichen Norm dient als wichtigstes differenzierendes Merkmal der Schriftsprache (16.–18. Jh.). Die abschließende Normung verläuft parallel mit der Übernahme der sprechsprachlichen Funktion, wodurch sie polyvalent wird. Polyvalenz ist das Kriterium für die Standardsprache in Abhebung von Schriftsprache. Das zweite Modell gehört dem Bereich der Theorie der Literatursprache an. Der Begriff Literatursprache wird hier in seiner globalen Bedeutung gebraucht, nämlich als Bezeichnung jeder Art geformter Sprache, die den spontanen Existenzformen der Alltagsrede gegenüberstehen. Der Terminus Literatursprache ist also nicht als Sprache der schönen Literatur zu verstehen, ebenso wie Schriftsprache nicht mit Sprache der Schrift gleichzusetzen ist. In

50

Funktionierens der Literatursprachen unter der Leitung von Guchmann gegründet wurde. Seitdem sind in einer Publikationsreihe 6 Bände erschienen mit verschiedenen Fragestellungen im Bereich der Literatursprachen: Guchmann, Tipy naddialektnych form jazyka [Typen der überregionalen Formen der Sprache], 1981; Guchmann, Funktionalnaja stratifikacija jazyka [Funktionale Stratifikation der Sprache], 1985; Semenjuk u. a., Literaturnyj jazyk i kul’turnaja tradicija [Literatursprache und kulturelle Tradition], 1994; Semenjuk, Jazykovaja norma. Tipologija normalizacionnych prozessov [Sprachliche Norm. Die Typologie der Normalisationsprozesse], 1996; Semenjuk, Ustnyje formy literaturnogo jazyka. Istorija i sovremennost’ [Mündliche Formen der Literatursprache. Geschichte und Gegenwart], 1999; Semenjuk, Jazykovaja norma i estetičeskij kanon [Sprachliche Norm und ästhetischer Kanon], 2006. Guchmann, Literatursprache und Kultur, S. 9.

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beiden Fällen hat das zusammengesetzte Wort eine andere Bedeutung, es wird idiomatisch gebraucht. Somit ist die Literatursprache nicht als Glied der terminologischen Reihe Dichtersprache – Sprache der Poesie – Literaturstil aufzufassen. Sie ist vielmehr ein Glied, eine Komponente im System der Existenzformen der Sprache. In der vertikalen Gliederung der deutschen Sprache, im funktionalen Paradigma, nimmt die Literatursprache stets die oberste Stellung ein. Potenziell kann sie in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens gebraucht werden: in der staatlichen Verwaltung, in der Jurisprudenz, in der Wissenschaft und Publizistik, in der Kirche und in der Schule, in der schönen Literatur und in öffentlichen Vorträgen, schließlich im alltäglichen Umgang. Die maßgebenden relevanten Merkmale jeder Literatursprache sind: 1.) ihre Geformtheit und die damit verbundene Auswahl; 2.) die Absonderung vom Dialekt oder der überdialektale Charakter, der verschiedene Formen annehmen kann (strukturelle und funktionalstilistische Absonderung); 3.) die Multifunktionalität und funktionalstilistische Variabilität. Obwohl diese Merkmale für die Literatursprache typisch sind und ein bestimmtes System bilden, unterscheiden sich verschiedene Perioden in der Geschichte der deutschen Literatursprache durch die jeweiligen Realisierungsformen einzelner Merkmale und ihr Verhältnis zueinander. Es betrifft den Grad und die Eigenart der Geformtheit, das Niveau der Absonderung vom Dialekt, den Umfang der Multifunktionalität, die Art der Reglementierung. Doch stabil bleibt die Opposition selbst zu den Abarten der spontanen Alltagsrede. Eine volle Entfaltung bekommt dieses Merkmalsystem erst im 19.–20. Jh.51 Dass das zweite funktionalorientierte Modell der Sprachgeschichtsschreibung in seinen verschiedenen Varianten in der modernen Historiolinguistik immer mehr an Bedeutung gewinnt, davon zeugen zahlreiche Aussagen und Studien, mit denen die Theorie der Literatursprache, die von zwei Akademien der Wissenschaften (UdSSR und DDR) im 20. Jahrhundert betrieben wurde, in enger Verknüpfung steht.52

Literaturverzeichnis Admoni, Wladimir G.: Der deutsche Sprachbau. Theoretische Grammatik der deutschen Sprache, Leningrad 1960. Admoni, Wladimir G.: Grundzüge der Grammatiktheorie, Heidelberg 1971. 51 52

Guchmann, Literatursprache und Kultur. Vgl. z. B. Warnke, Diskursivität.

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Admoni, Wladimir G.: Die Entwicklungstendenzen des deutschen Satzbaus von heute, München 1973 (= Linguistische Reihe 12). Admoni, Wladimir G.: Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache im Bereich des neuhochdeutschen Satzgefüges (1470–1730). Ein Beitrag zur Geschichte des Gestaltungssystems der deutschen Sprache, Berlin 1980 (= Bausteine zur Geschichte des Neuhochdeutschen 56/4). Benzinger, Rudolf: Methodologische Fragen und Ergebnisse sprachhistorischer Forschungen in den „Bausteinen zur Geschichte des Neuhochdeutschen“, in: Benzinger, Rudolf / Wolf, Norbert Richard (Hg.): Arbeiten zum Frühneuhochdeutschen. Gerhard Kettmann zum 65. Geburtstag, Würzburg 1993 (= Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 11), S. 18–30. Desnitzkaja, Agnija Vasil‘evna: Linguističeskije instituty Leningrada v istorii sovetskogo jazykosnanija [Leningrader linguistische Institute in der Geschichte sowjetischer Sprachwissenschaft], in: Acta linguistica petropolitana. Trudy instituta lingvistitscheskich issledovanij [Transactions of the institute for linguistic studies], Bd. 1, Teil 1, Sankt Petersburg 2003, S. 13–40. Dubinin, Sergej I.: Aspekte der regionalen Geschichte der deutschen Literatursprache in den Forschungen der russischen Germanisten, in: Russkaja Germanistika, ježegodnik rossijskogo sojusa germanistov [Russische Germanistik, Jahrbuch des Russischen Germanistenverbandes] 2 (2006), S. 54–63. Dückert, Joachim: Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache auf der lexikalischen Ebene (1470–1730). Untersucht an ausgewählten Konkurrentengruppen, Berlin 1976 (= Bausteine zur Geschichte des Neuhochdeutschen 56/II). Feudel, Günter (Hg.): Existenzformen germanischer Sprachen – soziale Basis und typologische Kennzeichen, Berlin 1977 (= Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen 57). Feudel, Günter: Mirra Moisejevna Guchman zum fünfundsiebzigsten Geburtstag, in: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung 32 (1979), S. 201–205. Feudel, Günter: Zur Bedeutung der Literatursprache für die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte, in: Linguistische Studien, Reihe A, Arbeitsberichte 88 (1982), S. 98–109. Fleischer, Wolfgang: Zur Entstehung der deutschen Nationalsprache. Bemerkungen zu einem zweibändigen Werk von M. Guchmann, in: Bei-

Theorie und Erforschung der deutschen Literatursprache

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Natalja Semenjuk / Natalja Babenko

Kennzeichen, Berlin 1977 (= Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen 57), S. 35–54. Guchmann, Mirra M.: Literatursprache und Kultur. Rede anlässlich der feierlichen Überreichung des Konrad-Duden-Preises der Stadt Mannheim durch den Herrn Oberbürgermeister am 14. März 1984, Mannheim / Wien / Zürich 1984 (= Duden-Beiträge zu Fragen der Rechtschreibung, der Grammatik und des Stils 47). Guchmann, Mirra M. (Hg.): Tipy naddialektnych form jazyka [Typen der überregionalen Formen der Sprache], Moskva 1981. Guchmann, Mirra M. (Hg.): Funktionalnaja stratifikacija jazyka [Funktionale Stratifikation der Sprache], Moskva 1985. Guchmann, Mirra M. / Semenjuk, Natalja N.: Zur Untersuchung der deutschen Literatursprache unter soziologischem Aspekt, in: Schildt, Joachim (Hg.): Existenzformen germanischer Sprachen – soziale Basis und typologische Kennzeichen, Berlin 1977 (= Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen 57), S. 117–132. Guchmann, Mirra M. / Semenjuk, Natalja N.: Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache im Bereich des Verbs (1470–1730). Tempus und Modus, Berlin 1981 (= Bausteine zur Geschichte des Neuhochdeutschen 56/5). Guchmann, Mirra M. / Semenjuk, Natalja N.: Einige Fragen der Periodisierung des Deutschen, in: Linguistische Studien, Reihe A Arbeitsberichte 88 (1982), S. 15–29. Guchmann, Mirra M. / Semenjuk, Natalja N.: Istorija nemeckogo literaturnogo jazyka IX–XV vv. [Geschichte der deutschen Literatursprache des 9.–15. Jahrhunderts], Moskva 1983. Guchmann, Mirra M. / Semenjuk, Natalja N. / Babenko, Natalja S.: Istorija nemeckogo literaturnogo jazyka XVI–XVIII vv. [Geschichte der deutschen Literatursprache des 16.–18. Jahrhunderts], Moskva 1984. Jarceva, Viktorija N.: Tipologija germanskich literaturnych jazykov [Typologie der germanischen Literatursprachen], Moskva 1976. Kettmann, Gerhard: Einleitung, in: Kettmann, Gerhard / Schildt, Joachim: Zur Literatursprache im Zeitalter der frühbürgerlichen Revolution. Untersuchungen zu ihrer Verwendung in der Agitationsliteratur, Berlin 1978 (= Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen 58), S. 7–19. Kettmann, Gerhard / Schildt, Joachim: Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache auf der syntaktischen Ebene (1470–1730). Der einfache Satz, Berlin 1976 (= Bausteine zur Geschichte des Neuhochdeutschen 56/I).

Theorie und Erforschung der deutschen Literatursprache

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Kettmann, Gerhard / Schildt, Joachim: Zur Literatursprache im Zeitalter der frühbürgerlichen Revolution. Untersuchungen zu ihrer Verwendung in der Agitationsliteratur, Berlin 1978 (= Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen 58). Lerchner, Gotthard: Zur Dialektik von Objektivem und Subjektivem in der sprachgeschichtlichen Periodisierung, in: Linguistische Studien, Reihe A Arbeitsberichte 88 (1982), S. 60–71. Müller, Klaus: Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache auf der lexikalischen Ebene (1470–1730). Untersucht an ausgewählten Konkurrentengruppen mit Anteilen slawischer Herkunft, Berlin 1989 (= Bausteine zur Geschichte des Neuhochdeutschen 56/III). Pavlov, Vladimir M.: Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache im Bereich der Wortbildung (1470–1730). Von der Wortgruppe zur substantivischen Zusammensetzung, Berlin 1983 (= Bausteine zur Geschichte des Neuhochdeutschen 56/6). Schildt, Joachim: Ismenenije sootnošenija stabil’nosti i variativnosti v prozesse rasvitija nemeckogo nazional’nogo literaturnogo jazyka [Veränderungen in den Verhältnissen der Stabilität und der Varianz im Prozess der Entwicklung der deutschen nationalen Literatursprache], in: Tipologija germanskich literaturnych jazykov [Typologie der germanischen Literatursprachen], Moskva 1976, S. 79–91. Schildt, Joachim: Zum Einfluss von Marx und Engels auf die deutsche Literatursprache. Studien zum Wortschatz der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert, Berlin 1978 (= Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen 59). Schildt, Joachim: Zum Verhältnis von Gesellschafts- und Sprachgeschichte. Periodisierungsprobleme, in: Linguistische Studien, Reihe A Arbeitsberichte 88 (1982), S. 30–39. Semenjuk, Natalja N.: Problema formirovanija norm nemezkogo jazyka XVIII stoletija [Das Problem der Herausbildung der Normen der deutschen Literatursprache im 18. Jahrhundert], Moskva 1967. Semenjuk, Natalja N.: Zustand und Evolution der grammatischen Normen des Deutschen in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts, am Beispiel der periodischen Schriften, in: Schieb, Gabriele (Hg.): Studien zur Geschichte der deutschen Sprache, Berlin 1972 (= Bausteine zur Geschichte des Neuhochdeutschen 49), S. 79–166. Semenjuk, Natalja N.: Die sprachliche Norm, in: Zikmund, Hans / Feudel, Günter (Hg.): Allgemeine Sprachwissenschaft, Bd. 1: Existenzformen, Funktionen und Geschichte der Sprache, 2. berichtigte Aufl., Berlin 1975, S. 454–493.

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Natalja Semenjuk / Natalja Babenko

Semenjuk, Natalja N.: Funktional-stilistische Differenzierungen der Literatursprache und der historische Aspekt ihrer Untersuchung, in: Schildt, Joachim (Hg.): Existenzformen germanischer Sprachen – soziale Basis und typologische Kennzeichen, Berlin 1977 (= Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen 57), S. 133–158. Semenjuk, Natalja N. (Hg.): Literaturnyj jazyk i kul’turnaja tradicija [Literatursprache und kulturelle Tradition], Moskva 1994. Semenjuk, Natalja N. (Hg.): Jazykovaja norma. Tipologija normalizacionnych prozessov [Sprachliche Norm. Die Typologie der Normalisationsprozesse], Moskva 1996. Semenjuk, Natalja N. (Hg.): Ustnyje formy literaturnogo jazyka. Istorija i sovremennost’ [Mündliche Formen der Literatursprache. Geschichte und Gegenwart], Moskva 1999. Semenjuk, Natalja N. (Hg.): Jazykovaja norma i estetičeskij kanon [Sprachliche Norm und ästhetischer Kanon], Moskva 2006 (= Teorija i istorija literaturnych jazykov). Sitta, Horst (Hg.): Ansätze zu einer pragmatischen Sprachgeschichte. Zürcher Kolloqium 1978, Tübingen 1980 (= Reihe germanistische Linguistik 21). Warnke, Ingo: Diskursivität und Intertextualität als Parameter sprachlichen Wandels – Prolegomena einer funktionalen Sprachgeschichtsschreibung, in: Warnke, Ingo (Hg.): Schnittstelle Text: Diskurs, Frankfurt/ Main / Berlin / Bern 2000 (= Sprache. System und Tätigkeit 32), S. 215–222. Zikmund, Hans / Feudel, Günter (Hg.): Allgemeine Sprachwissenschaft, Bd. 1: Existenzformen, Funktionen und Geschichte der Sprache, 2. berichtigte Aufl., Berlin 1975. Žirmunskij, Viktor M.: [Rezension] der bedeutendsten Publikationen zur Geschichte der Schriftsprache von Th. Frings, in: Isvestija akademii nauk SSSR, Serija litaratury i jazika (1940), Heft 2, S. 140–142. Žirmunskij, Viktor M. (Hg.): Nemeckaja dialektografija [Deutsche Dialektographie], Moskva 1955. Žirmunskij, Viktor M.: Nemeckaja dialektologija [Deutsche Dialektologie], Moskva 1956. Žirmunskij, Viktor M.: Th. Frings kak germanist [Th. Frings als Germanist], in: Isvestija akademii nauk SSSR, Serija literatury i jazyka 15 (1956), Heft 4, S. 365–373. Žirmunskij, Viktor M.: Deutsche Mundartkunde. Vergleichende Laut- und Formenlehre der deutschen Mundarten, Berlin 1962 (= Veröffentlichungen des Instituts für Deutsche Sprache und Literatur 25).

Dieter Herberg / Klaus-Dieter Ludwig

Germanistische Lexikographie in der DDR Ergebnisse, Wirkungen, Probleme am Beispiel des „Wörterbuches der deutschen Gegenwartssprache“

0. Vorbemerkung Eine der Germanistik in der DDR gewidmete Tagung bezieht mit Recht, ja mit Notwendigkeit die germanistische Lexikographie in ihr Programm ein. Allerdings muss der Überblick über die Leistungen der germanistischen Lexikographie, der im gegebenen Rahmen erwartet werden kann, naturgemäß auswählend und skizzenhaft ausfallen, handelt es sich doch um eine in 40 Jahren gewachsene und äußerst vielgestaltige Wörterbuchlandschaft, die zu besichtigen wäre. Wir haben uns in Anbetracht dessen zu einer Zweiteilung unseres Beitrages entschlossen. Im ersten Teil soll eine Skizze von wesentlichen Leistungen der DDR-Lexikographie gegeben werden, die sich auf solche allgemeinen und spezielleren Wörterbücher konzentriert, die den Wortschatz der deutschen Gegenwartssprache (Standardsprache) darstellen. Das heißt, dass der gesamte Bereich der historischen, der Dialekt-, der Fach- sowie der zwei- und mehrsprachigen Wörterbücher hier unberücksichtigt bleibt. Dies geschieht nicht etwa aus Unterschätzung dieser Aspekte lexikographischer Arbeit, sondern weil – im Gegenteil – das reiche Ergebnisspektrum auf diesen Feldern angemessen nur durch eigenständige und eingehende Darstellungen zu würdigen wäre. Im zweiten Teil wird dann am Beispiel des „Wörterbuches der deutschen Gegenwartssprache“ (WDG), das nach wie vor als Pionierleistung im Bereich der großen mehrbändigen einsprachigen Wörterbücher der deutschen Standardsprache – gleichsam der ,Königsdisziplin‘ der synchronischen Lexikographie – gelten kann, dargelegt, wie und in welchem Maße

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Dieter Herberg / Klaus-Dieter Ludwig

die gesellschaftlichen Bedingungen zur Zeit der Entstehung die Arbeit der Lexikographen und damit das Ergebnis beeinflusst haben. Beide Referenten haben nicht nur an diesem sechsbändigen AkademieWörterbuch mitgearbeitet, sondern sind seit fünf Jahrzehnten auch anderweitig bis in die jüngste Zeit als Lexikographen und Wörterbuchforscher aktiv, davon rund 30 Jahre in der DDR.

1. Wörterbuchlandschaft DDR – eine Skizze Außer der bereits vorgenommenen Eingrenzung auf Wörterbücher zur deutschen Gegenwartssprache wird beim nun folgenden Überblick insofern eine weitere Einschränkung gemacht, als das Hauptaugenmerk auf seinerzeit allgemein zugänglichen und meist in mehreren Auflagen verbreiteten Werken liegt. Die ausgewählten Wörterbücher fassen wir der besseren Übersicht wegen nach dem jeweils dominierenden Aspekt der lexikographischen Beschreibung in vier Untergruppen zusammen. Es handelt sich um 1. den Bedeutungsaspekt, 2. den Formaspekt, 3. den Systemaspekt und 4. den Verwendungsaspekt.1

1.1 Bedeutungsaspekt Die älteste und wohl auch die wesentliche Frage, die im Hinblick auf Wörter gestellt wird, ist die nach ihrer Bedeutung. Der daraus erwachsenden zentralen lexikographischen Aufgabe, nämlich die Wortbedeutung(en) durch Umschreibungen, sinnverwandte Ausdrücke, Kommentare u.Ä. zu erklären, widmet sich vor allem der Typ des allgemeinen einsprachigen Wörterbuches. Die Wörterbücher dieses Typs verstehen sich meist in erster Linie als Bedeutungswörterbücher, obwohl sie diese Bezeichnung kaum je in ihrem Titel führen und eine Vielzahl weiterer Informationen über das Stichwort enthalten können. In der DDR war dieser Typ des grundlegenden lexikographischen Nachschlagewerkes mit zwei an der Berliner „Akademie der Wissenschaften“ erarbeiteten Wörterbüchern vertreten: dem sechsbändigen WDG, das im zweiten Teil ausführlicher gewürdigt wird, und dem darauf fußenden zweibändigen „Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ (HDG). 1

Vgl. auch Herberg, Wörterbücher.

Germanistische Lexikographie in der DDR

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An dieser Stelle soll lediglich kurz auf drei weitere Wörterbuchtypen eingegangen werden, bei denen der Bedeutungsaspekt ebenfalls ein zentrales Anliegen ist: das Fremdwörterbuch, das Neologismenwörterbuch und das Lernerwörterbuch. Für einen Teilbereich des Wortschatzes, der der Erklärung besonders bedürftig ist, hat sich im Deutschen seit langem der Typ des Fremdwörterbuches etabliert. In der DDR wurde dem Informationsbedürfnis zunächst notdürftig mit einer bearbeiteten Neuausgabe des schon aus dem 19. Jahrhundert stammenden „Volksfremdwörterbuches“ von Wilhelm Liebknecht entsprochen (Berlin 1953). Bald lösten aber Neuerarbeitungen des „Bibliographischen Instituts“ Leipzig dieses Provisorium ab: zunächst das „Fremdwörterbuch“ (1954), später das wesentlich erweiterte „Große Fremdwörterbuch“ (1977). Mit diesem wurden etwa 40.000 nichtmuttersprachliche Stichwörter einschließlich einer großen Anzahl Fachwörter erfasst und erläutert. Mitte der achtziger Jahre wurden an der „Akademie der Wissenschaften“ zwei Projekte in Bezug auf lexikographische Desiderate in Angriff genommen, die infolge der Wendeereignisse nicht mehr in der DDR realisiert worden sind. Da ihnen aber beiden ein – wenn auch unterschiedlich geartetes – ,Nachleben‘ in der nunmehr gesamtdeutschen Wörterbuchlandschaft beschieden war, seien sie hier mit einigen Bemerkungen einbezogen. Zunächst zum Neologismenprojekt2: Der kritikwürdige Zustand der deutschen Lexikographie von Neologismen war in den achtziger Jahren zunehmend beklagt worden, besonders im Vergleich mit den europa-, ja weltweit prosperierenden Neologismenwörterbüchern für zahlreiche andere Sprachen. Die Leitung des „Zentralinstituts für Sprachwissenschaft“ (ZISW) griff die Anregungen auf und beauftragte 1986 eine kleine Forschungsgruppe, ein – so der Arbeitstitel – „Wörterbuch der in der Allgemeinsprache der DDR gebräuchlichen Neologismen“ zu schaffen, das die sechziger, siebziger und achtziger Jahre berücksichtigen und eine aktuelle Ergänzung zu WDG und HDG bilden sollte. Die Beschränkung auf die in der DDR gebräuchlichen Neologismen war unter den 1986 gegebenen Bedingungen in der DDR das einzig realistische Arbeitskonzept, denn ungeachtet der Notwendigkeit, ein Neologismenwörterbuch für die gesamte deutsche Sprache zu schaffen, konnte sich die Gruppe diese umfassendere Aufgabe damals nicht stellen, weil ohne personelle und materielle Beteiligung der Bundesrepublik eine kompetente und authentische Bearbeitung der für die Sprache der Bundesrepublik spezifischen Teile nicht zu leisten gewesen wäre. Nach dem Urteil eines altbundesrepublikanischen Germanisten handelte es sich um ein Projekt, „das bis zu den Wendeereignissen des Jahres 1989 gut vorangekommen und als innovatives lexikographisches 2

Vgl. dazu insgesamt Herberg, Projekt.

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Dieter Herberg / Klaus-Dieter Ludwig

Projekt auch im Westen wiederholt vorgestellt worden war. Es gab sicherlich gute Gründe, dieses Unternehmen aufgrund seiner makrostrukturellen Vorgaben mit dem Ende der DDR abzubrechen. Die Bemühungen um das erste deutsche Neologismenwörterbuch blieben damit zunächst allerdings auf der Strecke.“3 Dass es dabei nicht blieb, ist der Initiative des „Instituts für Deutsche Sprache“ (IDS) in Mannheim zu danken, wo 1997 unter maßgeblicher Beteiligung mehrerer ehemaliger ZISW-Mitarbeiter die Arbeiten für das erste größere, nach den Prinzipien der wissenschaftlichen Lexikographie erarbeitete Neologismenwörterbuch – nun für das Deutsche insgesamt – begannen. Es ist 2004 unter dem Titel „Neuer Wortschatz. Neologismen der 90er Jahre im Deutschen“ erschienen, soll Nachfolgebände erhalten und ist mittlerweile zusätzlich in einer kontinuierlich erweiterten Internetversion zugänglich (http://www.owid.de). Nun zum Lernerwörterbuch4: Im Jahre 2000 erschien im Verlag Walter de Gruyter das „Wörterbuch Deutsch als Fremdsprache“ von Günter Kempcke und anderen, das ebenfalls eine DDR-Vorgeschichte hat. Nachdem Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre in Ost und West die großen und mittleren einsprachigen synchronischen Gesamtwörterbücher der deutschen Gegenwartssprache erschienen waren, mehrten sich – auch unter dem Einfluss der sich entwickelnden Wörterbuchbenutzungsforschung – die Stimmen, die nach adressatenspezifischen Wörterbüchern verlangten. Im ZISW der „Akademie der Wissenschaften“ begann man daraufhin (übrigens nahezu zeitgleich mit einer Augsburger Gruppe um Hans Wellmann), eine abgrenzbare Benutzergruppe mit identischen Interessen zu ermitteln und richtete die Konzeption auf Bedürfnisse von fortgeschrittenen ausländischen Deutschlernenden aus. Lassen wir den Hauptautor und Herausgeber selbst den Fortgang und die Endphase resümieren: Das Ostberliner Projekt geriet mit der Wende und der damit verbundenen Abwicklung der Akademie-Institute in Schwierigkeiten. Erst die finanzielle Absicherung des Projekts durch die WIP-Förderung [WIP = Wissenschaftlerintegrationsprogramm] ermöglichte eine Anbindung an die neu gegründete Universität Potsdam und damit die Fortsetzung und Beendigung des Projekts.5

3 4 5

Kinne, Neologismen, S. 329–330. Vgl. dazu insgesamt Kempcke, de Gruyters „Wörterbuch“. Ebd., S. 191.

Germanistische Lexikographie in der DDR

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1.2 Formaspekt Je nachdem, ob die gesprochene oder die geschriebene Form der Wörter dargestellt wird, handelt es sich um den Typ des Aussprache- oder des Rechtschreibwörterbuches, in einem Spezialfall um den des rückläufigen Wörterbuches. In der DDR waren alle drei Wörterbuchtypen mit je einem markanten Standardwerk vertreten. Das 1964 erschienene „Wörterbuch der deutschen Aussprache“ und das darauf aufbauende „Große Wörterbuch der deutschen Aussprache“ (Leipzig 1982) wurden von Sprechwissenschaftlern der Universität Halle-Wittenberg erarbeitet. Eine Neuaufnahme und Neuregelung der Hochlautung war infolge offensichtlicher Widersprüche zwischen der kodifizierten ,Bühnenaussprache‘ nach Theodor Siebs und der aktuellen Sprechwirklichkeit notwendig geworden. So stellten die Verfasser umfangreiche Ausspracheuntersuchungen mit besonderer Berücksichtigung der Sprechweise im Rundfunk und im Fernsehen an. Im Unterschied zu Siebs fixierten die Autoren eine allgemein gültige, weil weit verbreitete, und für jeden erlernbare Aussprache, was für den im öffentlichen Leben stehenden Muttersprachler von ebenso großer Wichtigkeit war wie für den Deutsch lernenden Ausländer. Wegen des ungleich höheren Verbindlichkeitsgrades der Norm der geschriebenen Sprache – der Orthographie – in der Gesellschaft, hat es das Rechtschreibwörterbuch in Gestalt des Dudens zu einem von keinem anderen Sprachwörterbuch erreichten Grad der Verbreitung und Bekanntheit gebracht. Es gibt allerdings noch einen außerorthographischen Grund, der dem Rechtschreibwörterbuch diese besondere Stellung in der deutschen Wörterbuchlandschaft – übrigens in Ost wie in West – verschafft hat: die Entwicklung zum – wenn auch rudimentären – Mehrzweck- oder Multiwörterbuch. Die häufig zitierte Aussage: „Der Duden reicht mir“6, ist Ausdruck einer deutschen Besonderheit, die sich darin zeigt, dass dieses Wörterbuch außer den Regeln der deutschen Rechtschreibung ein stattliches Verzeichnis von Stichwörtern enthält, denen vielfach knappe Bedeutungsangaben, Herkunftshinweise, Angaben zur Betonung und zur Aussprache, grammatische Charakteristika, pragmatische Markierungen und anderes beigegeben sind. Während der Zeit der deutschen Teilung erschienen in Mannheim und in Leipzig separate Dudenausgaben, die sich vor allem im Lemmabestand und in der Darstellung des Regelteils, nicht jedoch in den orthographischen Regeln selbst unterschieden. Die erste DDR-Eigenausgabe erschien 1951 (14. Auflage seit der 1. Auflage von 1880), die letzte 1985 (18. Auflage), bevor 1991 gleichzeitig in Mannheim und Leipzig eine gemeinsame 20. Auflage – der sog. ,Einheitsduden‘ – herauskam. 6

Vgl. Kühn/Püschel, „Der Duden reicht mir“.

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Dieter Herberg / Klaus-Dieter Ludwig

Ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der graphischen Form wird der Wortschatz auch in rückläufigen Wörterbüchern erfasst, die im Unterschied zu anderen vom Wortende her alphabetisiert sind. Dieser Wörterbuchtyp wird vorzugsweise als Grundlage für weiterführende wissenschaftliche Untersuchungen (z. B. zur Graphematik, zur Morphologie, zur Wortbildung) genutzt, kann aber beispielsweise auch zum Aufsuchen von Reimwörtern Verwendung finden. 1965 erschien Erich Maters „Rückläufiges Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ mit etwa 140.000 Wörtern, die ohne zusätzliche Informationen alphabetisch von den Endbuchstaben her eingetragen sind. Das Wörterbuch, das seinerzeit an der „Akademie der Wissenschaften der DDR“ mit Hilfe datenverarbeitender Maschinen hergestellt worden war, ist – nach mehreren Printnachauflagen in den siebziger und achtziger Jahren – seit 2001 in einer erweiterten und aktualisierten Fassung (knapp 200.000 Einträge) als CD-ROM verfügbar.

1.3 Systemaspekt Die Elemente des Wortschatzes stehen nicht isoliert nebeneinander, wie es die alphabetische Anordnung der Stichwörter in den bisher betrachteten Wörterbüchern erscheinen lassen kann, sondern sie sind durch verschiedenartige Beziehungen miteinander verbunden. Deshalb wird der Wortschatz einer Sprache auch als deren lexikalisches System bezeichnet. Besonders interessant für den Sprachbenutzer sind die Bedeutungsbeziehungen zwischen lexikalischen Einheiten, vor allem die Bedeutungsgleichheit oder -ähnlichkeit (Synonymie) und der Bedeutungsgegensatz (Antonymie). Mit der praktischen Zielsetzung, dem Benutzer die Wahl der treffenden, angemessenen Bezeichnung zu erleichtern, haben sich die Typen des Synonym- bzw. des Antonymwörterbuches herausgebildet, die ihrem Wesen nach Bezeichnungswörterbücher sind, weil sie diejenigen Wörter und Ausdrücke zusammenstellen, die in einer Sprache zur Bezeichnung der einzelnen Begriffe vorhanden sind. Beiden Wörterbuchtypen ist in der DDR Beachtung geschenkt worden, und die daraus erwachsenen Publikationen haben sich auch gesamtdeutsch behaupten können. 1973 erschien in Leipzig („Bibliographisches Institut“) das von einer Autorengruppe, der auch die Verfasser dieses Beitrags angehört haben, erarbeitete und von Herbert Görner und Günter Kempcke herausgegebene „Synonymwörterbuch. Sinnverwandte Ausdrücke der deutschen Sprache“. Es enthält über 35.000 alphabetisch angeordnete Wörter und Wendungen. Von den einzelnen Stichwörtern wird jeweils auf ihr Grundsynonym verwiesen, unter dem dann alle sinnverwandten Ausdrücke aufgeführt sind,

Germanistische Lexikographie in der DDR

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wenn erforderlich, nach Bedeutungspunkten untergliedert und mit stilistischen und anderen Kennzeichnungen versehen. In der DDR erlebte das Nachschlagewerk zwölf Auflagen sowie – teilweise mit variierenden Titeln – zwei verschiedene Lizenzausgaben in der BRD (1974 als Heyne-Taschenbuch, 1984 als Hardcover-Ausgabe im Drei Lilien Verlag Wiesbaden), um schließlich nach der Wende als „Wörterbuch Synonyme“ in aktualisierter und erweiterter Neuausgabe im Deutschen Taschenbuch Verlag (vierte Auflage 2005) zu landen. Während Synonymwörterbücher – auch im Deutschen – eine lange Tradition haben, gab es für das Deutsche kein Antonymwörterbuch, bis Christiane und Erhard Agricola mit ihrem Buch „Wörter und Gegenwörter. Antonyme der deutschen Sprache“ (Leipzig 1977) hervortraten. Dieses Wörterbuch enthält in alphabetischer Anordnung etwa 8.300 Stichwörter, zu denen mindestens ein, meist jedoch mehrere Partner angegeben werden, die sprachliche Ausdrücke dialektischer und logischer Gegensätze in einem sehr allgemeinen Sinn sind. Nachdem das Buch in der DDR 1987 bereits in sechster Auflage erschienen war, übernahm es 1992 der Dudenverlag Mannheim als Band 23 in die Reihe seiner Duden-Taschenbücher.

1.4 Verwendungsaspekt Unter diesem Aspekt lassen sich einige Wörterbuchtypen zusammenfassen, die – bei aller Unterschiedlichkeit – vorrangig darüber informieren, wie das einzelne Wort im Äußerungszusammenhang verwendet wird. Dabei spannt sich der Bogen von der modellhaften Anweisung zur Erzeugung richtiger Wortverbindungen (Kollokationen) in den Valenzwörterbüchern bis hin zur lexikographischen Erfassung von Redensarten, Sprichwörtern und Zitaten. Alle diese Typen von Wörterbüchern sind auch in der DDR erarbeitet worden. Hier können allerdings nur wenige Worte zu zwei von ihnen verloren werden: zu den Valenzwörterbüchern und zu einem Wörterbuch zum deutschen Sprachgebrauch. Die Valenzlexikographie will mit ihren Ergebnissen vorrangig Bedürfnisse des Deutschunterrichts für Ausländer befriedigen, indem sie dem Lernenden einen Regel- und Erklärungsmechanismus für die mögliche und richtige Kombinierbarkeit von Wortschatzelementen an die Hand gibt. Dabei wird in teils formalisierter Weise die syntaktische wie die semantische Umgebung der Stichwörter beschrieben. Nach dem Vorbild des zunächst publizierten „Wörterbuches zur Valenz und Distribution deutscher Verben“ von Gerhard Helbig und Wolfgang Schenkel (Leipzig 1969) entstanden in der Folgezeit auch ein „Wörterbuch zur Valenz und Distribution

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Dieter Herberg / Klaus-Dieter Ludwig

deutscher Adjektive“ (Leipzig 1974) und ein „Wörterbuch zur Valenz und Distribution der Substantive“ (Leipzig 1977), beide von den Autoren KarlErnst Sommerfeldt und Herbert Schreiber. Allen drei Titeln war nach der Wende ein gesamtdeutsches Nachleben im Max Niemeyer Verlag Tübingen beschieden. Die in Valenzwörterbüchern modellhaft gefassten Regularitäten werden naturgemäß vom Ausländer häufiger verletzt als vom Muttersprachler. Auch der hat aber gelegentlich Zweifel hinsichtlich der semantisch, grammatisch oder stilistisch normgerechten Verknüpfung der Wörter. Als geeignetes Nachschlagewerk, das zu etwa 8.000 Wörtern des Allgemeinwortschatzes rund 150.000 typische Wendungen als – auch stilistisch gekennzeichnete – Beispiele bietet, war das „Wörterbuch zum deutschen Sprachgebrauch“ (Untertitel) „Wörter und Wendungen“ (Leipzig 1962) von Erhard Agricola unter Mitwirkung von Herbert Görner und Ruth Küfner herausgegeben worden, das in der DDR zahlreiche Auflagen erlebte und auch nach der Wiedervereinigung weiter seine Dienste tat (nunmehr „Bibliographisches Institut Mannheim“). Damit schließen wir die Musterung der Wörterbuchlandschaft unter vier zentralen Beschreibungsaspekten – Bedeutung, Form, System und Verwendung – ab. Wir tun dies jedoch nicht ohne den Hinweis, dass es daneben natürlich noch ein breit gefächertes Spektrum von lexikographischen Darstellungen unter weiteren Aspekten gab, die alle ihren praktischen Wert als Wissensspeicher und Nachschlagewerke über viele Jahre und Auflagen unter Beweis gestellt haben und die von Namenwörterbüchern über Abkürzungswörterbücher bis hin zum Bildwörterbuch reichen. Als besonders erfolgreich erwies sich das von Joachim Dückert und Günter Kempcke herausgegebene und alle bereits erwähnten Aspekte berücksichtigende „Wörterbuch der Sprachschwierigkeiten“ (Leipzig 1984), das unter etwa 7.000 Stichwörtern über „Zweifelsfälle, Normen und Varianten im gegenwärtigen Sprachgebrauch“ (so der Untertitel) informiert und 1986 auch als Lizenzausgabe im Schweizer Ott Verlag (Thun) herauskam. Am Ende dieses Überblicks soll noch einmal hervorgehoben werden, dass die germanistische Lexikographie in der DDR auf dem hier betrachteten Gebiet der Gegenwartssprache ein vielseitiges und aspektreiches Angebot an Nachschlagewerken aufzuweisen hatte. Vieles davon – darauf wurde hingewiesen – hat sich teils als Lizenzausgabe, teils als Übernahme, teils als Anregung für neue Projekte auch gesamtdeutsch behaupten können, was nicht zuletzt als Beleg für die überwiegend sachorientierte und kompetente Arbeit der daran beteiligten Lexikographen gelten kann.

Germanistische Lexikographie in der DDR

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2. Das „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ (WDG) 2.1 Allgemeine einsprachige Wörterbücher des Deutschen nach 1945 bis etwa 1960 Bevor die Sprache auf das WDG kommt, soll ein kurzer Blick auf die deutsche Wörterbuchlandschaft in der Zeit nach 1945 bis etwa 1960 geworfen werden, also die Zeit vor dem WDG. In „Wörterbücher. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie“ befasst sich der Mitbegründer der Metalexikographie bzw. Wörterbuchforschung Herbert Ernst Wiegand in seinem instruktiven Artikel „Die deutsche Lexikographie der Gegenwart“ u. a. mit der Lage der deutschen Lexikographie im Jahre 1945 und weist darauf hin, dass es kein allgemeines einsprachiges Wörterbuch gab, welches die Standardsprache der damaligen Gegenwart einigermaßen hinreichend erfasste. Als einen zentralen Grund für diesen Missstand führt er die „überaus einseitige Ausrichtung der Deutschen Philologie auf alles Sprachhistorische und überwiegende Orientierung am sog. historischen Prinzip“ an.7 Über ein Jahrhundert war die deutsche Sprachwissenschaft, insbesondere die Lexikographie, sprachhistorisch ausgerichtet. Hinzu kam, dass fast alle einflussreichen Germanisten vor allem Interesse am Grimmschen Wörterbuch zeigten (1854–1960) oder sich in ihren lexikographischen Projekten an diesem Wörterbuch orientierten. Deshalb standen den deutschen Philologen seinerzeit „auch kaum Kriterien zur Verfügung, um die nicht an den Universitäten oder Akademien erarbeiteten Wörterbücher zur deutschen Gegenwartssprache angemessen einzuschätzen.“8 Zu nennen sind für die frühe Nachkriegslexikographie vor allem vier einbändige allgemeine einsprachige Wörterbücher, die hier nicht im Einzelnen vorgestellt werden. Sie haben immer wieder Neuauflagen erlebt: – „Der Sprach-Brockhaus. Deutsches Bildwörterbuch für jedermann“ erschien 1947 als entnazifizierte Neuauflage (1. Auflage Leipzig 1935; 6., verb. Auflage Wiesbaden 1955; 7., durchges. Auflage 1956 und 1962; 8., völlig neubearb. und erw. Auflage 1972; 9., neubearb. und erw. Auflage 1984). – Das „Wörterbuch der deutschen Sprache in ihrer heutigen Ausbildung“ von Peter Friedrich Ludwig Hoffmann, das erstmals unter dem Titel „Neuestes Wörterbuch der deutschen Sprache, nach dem Standpunkte ihrer heutigen Ausbildung“ 1860 erschienen ist, wurde seit der 10. Auf7 8

Wiegand, Lexikographie, S. 2105. Ebd.

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lage (1936) von Martin Block bearbeitet und erlebte 1945 die letzte, die 14. Aufl. Der Hoffmann-Block war ein wichtiges Wörterbuch auch für die Herstellung der Wortliste zum WDG wie auch: Richard Pekrun: „Das deutsche Wort“, das in der 1. Auflage Leipzig 1933 erschien (2. Auflage 1953; 12. Auflage Bayreuth o. J.). Hinzu kamen die zahlreichen Auflagen der Wörterbücher von Lutz Mackensen, die unter dem Titel „Deutsches Wörterbuch“ bzw. „Neues Deutsches Wörterbuch. Rechtschreibung. Grammatik. Stil. Worterklärung. Fremdwörterbuch“ erschienen sind (1. Auflage Laupheim 1952; 12. Auflage München 1986).

2.2 Das WDG setzt neue Maßstäbe für die einsprachige Lexikographie Nach den einbändigen Wörterbüchern der Nachkriegslexikographie erscheinen nach 1960 mehrbändige allgemeine einsprachige Wörterbücher, von denen das in der DDR von 1961–1977 publizierte WDG Maßstäbe setzt. Es stellt nach Wiegand „die lexikographische Pionierleistung nach dem Zweiten Weltkrieg dar und ist in mehreren Hinsichten, welche die Wörterbuchform, den Wörterbuchstil und die philologische Akribie betreffen, für die germanistische Sprachstadienlexikographie bis in die späten 80er Jahre das Leitwörterbuch“.9 Seit dem synchronischen fünfbändigen Wörterbuch von Johann Christoph Adelung, „Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der hochdeutschen Mundart […]“ (1774–1786), waren 150 Jahre vergangen. Ein Wörterbuch, das den Wortschatz des 20. Jahrhunderts dokumentiert, gab es nicht. Und so stellte 1952 der Finnougrist Wolfgang Steinitz, der als Mitglied der KPD 1934 in die Sowjetunion emigriert war, anlässlich der Eröffnungsfeierlichkeiten des „Instituts für deutsche Sprache und Literatur“ der „Akademie der Wissenschaften“ in Berlin den Plan für die Erarbeitung eines fünf bis sechs Bände umfassenden gegenwartssprachlichen Wörterbuches vor, angeregt durch das vierbändige „Tolkovyj slovar’ russkogo jazyka“ von Dmitrij  N.  Ušakov (Moskva 1935–1940). Im September 1952 begann Ruth Klappenbach als Leiterin zusammen mit ihrer Schwester Helene Malige-Klappenbach die Arbeit an diesem Unternehmen. In wechselnder Zusammensetzung arbeiteten etwa 15 Lexikographinnen und Lexikographen an dem Werk. Die Vorbereitungsphase dauerte etwa

9

Ebd., S. 2170. Hervorhebung durch die Verfasser.

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neun Jahre, die Bearbeitung insgesamt 25 Jahre. Die erste Doppellieferung erschien 1961, die 57. und damit letzte Lieferung 1977.10 Die neuen Maßstäbe, die das WDG in der einsprachigen Lexikographie der deutschen Gegenwartssprache gesetzt hat, betreffen insbesondere die folgenden Bereiche:11 1. Erstmals wird in der germanistischen Lexikographiegeschichte nach 1945 bei der Erarbeitung eines allgemeinen einsprachigen Wörterbuches für den zu dokumentierenden Wortschatz eine eigene Quellenbasis geschaffen und nicht nur aus anderen Nachschlagewerken geschöpft. Die „gegenwartssprachliche Wortkartei“ wies am Ende etwa 2,5 Millionen Belege auf12, die aus 822 Werken der Literatur, Zeitschriftenreihen und pressesprachlichen Texten exzerpiert worden sind. Das Profil der Quellenbasis wird im Vorwort beschrieben: „Das Wörterbuch […] soll die deutsche Sprache der bildungstragenden Schicht der Gegenwart darstellen.“ Die bildungstragende Schicht „sind die in Wissenschaft und Kunst, in Technik, Wirtschaft und Verwaltung, in den gesellschaftlichen Organisationen und Parteien verantwortlich tätigen Menschen“.13 2. Daraus folgt, dass das Allgemeinverbreitete und Typische der Gegenwartssprache erfasst wird, einschließlich allgemein gebräuchlicher Fremdwörter. Fach- und sondersprachlicher und Mundartwortschatz wird nach dem Grad der Integration in die Standardsprache verzeichnet. Unter deutscher Gegenwartssprache wird außer der heute geschriebenen und gesprochenen Sprache der bildungstragenden Schicht „auch die Sprache der in unserer Zeit noch gelesenen, lebendigen deutschen Literatur der Vergangenheit“ verstanden, sodass das WDG auch Wortschatz „der Literatur des 19. Jahrhunderts und in gewissem Umfang des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts“ heranzieht.14 Somit wird „ein, an den Zielen des Wörterbuches orientiertes, relativ ausgewogenes, linguistisch fundiertes Konzept für die äußere Selektion entworfen“.15 3. Es wird eine übersichtliche Artikelstruktur entwickelt, wobei das Schwergewicht auf die lexikalische Bedeutung gelegt wird. Kurze, beispielhafte Syntagmen (Kollokationen) illustrieren die Wortverwendung. Gut ausgewählte Literaturbelege sind sparsam.

10 11 12 13 14 15

Über die Geschichte des WDG informieren insbesondere die Arbeiten von Klappenbach, in: Abraham, Studien; Malige-Klappenbach, „Wörterbuch“ und Kempcke, Wörterbuch. Vgl. hierzu Wiegand, Lexikographie, S. 2129–2146; Haß-Zumkehr, Wörterbücher, S. 225– 233; Kempcke, Wörterbuch, S. 119–122. Klappenbach, in: Abraham, Studien, S. 6. Klappenbach/Steinitz (Hg.), Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Bd. 1, S. 4. Ebd. Wiegand, Lexikographie, S. 2130.

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4. Mit dem WDG beginnt die systematische „stilistische Charakterisierung des deutschen Wortschatzes“16 durch die Zuordnung der dokumentierten lexikalischen Einheiten zu Stilschichten und/oder Stilfärbungen. 5. Nach Joachim Heinrich Campes „Wörterbuch der deutschen Sprache“ (1807–1811) werden im WDG Neologismen wieder gekennzeichnet, differenziert nach Neuwörtern, Neuprägungen und Neubedeutungen: „Wörter, die in den letzten Jahrzehnten, besonders seit 1945, in der deutschen Sprache neu aufgekommen sind“, erhalten die Kennzeichnung Neuwort (z. B. campen), „Wörter und Redewendungen, die aus schon bestehenden Wörtern“ in dieser Zeit „neu geschaffen“ wurden, das Kennwort Neuprägung (z. B. Wettersatellit), und ein „schon vorhandenes Wort“, das in dieser Zeit „eine neue Bedeutung angenommen“ hat, das Kennwort Neubedeutung (z. B. Polarisation „Herausbildung, deutliches Hervortreten von Gegensätzen in einem Entwicklungsprozeß“).17 „Die drei Kennzeichnungen erhalten den Zusatz DDR (Deutsche Demokratische Republik) oder BRD (Bundesrepublik Deutschland), wenn das Wort oder die Redewendung nur in einem der beiden deutschen Staaten bekannt und gebräuchlich ist“ (z. B. Kombinat Neuwort DDR; Politesse1 Neuwort BRD; Volkskammer, Held der Arbeit Neuprägung DDR; ausgründen Neuprägung BRD) oder „wenn es sich um Wörter handelt, deren Bedeutung seit 1945 in den beiden deutschen Staaten eine verschiedene Entwicklung genommen hat“18, z. B.: Aktivist „Werktätiger, der vorbildliche Leistungen vollbracht hat“ Neubedeutung DDR; Bund1 Neubeteutung BRD Bund und Länder „Gesamtstaat und Bundesländer“. 6. Neue Wege geht das WDG auch bei der Darstellung der Wortbildung: Die linkserweiterten Komposita werden „im Anschluß an den Artikel des Grundwortes“ im Kleindruck angeführt, zugeordnet „den Hauptbedeutungen (Gliederungspunkten)“19, z. B.: Baum, der; -(e)s, Bäume /Verkl.: Bäumchen, Bäumlein/ 1. größtes und stärkstes Gewächs auf unserer Erde mit einem einzigen Stamm aus Holz, mit Zweigen, die Blätter oder Nadeln tragen, und mit einer Krone: im Herbst fällt das Laub von den Bäumen; […] 2. u m g. Tanne, Fichte, die zum Weihnachtsfest geschmückt wird, Weihnachtsbaum: wir wollen morgen den Baum schmücken; […] zu 1 /in Verbindung mit Früchten, Samen, z. B./ Apfel-, Birn-, Feigen-, Kaffee-, Kakao-, Kastanien-, Kirsch-, Lorbeer-, Mandel-, Maulbeer-, Nuß-, Oliven-, Orangen-, Pfirsich-, Pflaumen-, Vogelbeer-, Zitronenbaum; /in Verbindung mit bestimmten Baumarten, z. B./ Eich(en)-, Fichten-, Linden-, Magnolien-, Palm(en)-, 16 17 18 19

Klappenbach/Steinitz (Hg.), Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Bd. 1, S. 11. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15. Ebd., S. 19.

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Pappel-, Weiden-, Zypressenbaum; /in Verbindung mit Ortsbezeichnungen, z. B./ Allee-, Chaussee-, Park-, Promenaden-, Spalier-, Straßen-, (Ur)waldbaum; /ferner in/ Balz-, Blüten-, Buchs-, Ein-, Faul-, Grenz-, Gummi-, Hebe-, Heu-, Lade-, Laub-, Lebens-, Lieblings-, Mai-, Mast-, Nadel-, Nutz-, Obst-, Öl-, Purzel-, Richt-, Riesen-, Schellen-, Schlag-, Schmuck-, Schwebe-, Stamm-, Webe-, Zier-, Zwergbaum; aufbaumen, aufbäumen zu 2 Christ-, Lichter-, Weihnachtsbaum zu 1 u. 2 Tannenbaum

2.3 Die ,von oben‘ angeordnete Konzeptionsänderung des WDG Das WDG war unter gesamtdeutschem Aspekt konzipiert und verstand sich als gesamtdeutsches Wörterbuch mit einer normativen Funktion. Der dritte Band erschien 1969. Im Zusammenhang mit der vor allem Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre von der DDR proklamierten ZweiStaaten-Theorie wurde in der Zeit des Kalten Krieges „der Wert eines gegenwartssprachlichen Wörterbuches als Waffe erkannt, als Waffe in dem Bemühen um Abgrenzung“, wie Günter Kempcke20 treffend bemerkt, und es musste dieser Abgrenzung gewissermaßen auch lexikographisch Tribut gezollt werden: Das WDG hatte nun – staatlich verordnet – „den gesamten Wortschatz konsequent auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Weltanschauung“ darzustellen. So heißt es u. a. in der „Vorbemerkung“ zum vierten Band21 – beginnend mit dem Buchstaben M –, die mit der 31. Lieferung 1970 veröffentlicht und von der Leiterin und Herausgeberin des Wörterbuches, Ruth Klappenbach, und dem damaligen Institutsdirektor, Werner Neumann, im August 1970 unterzeichnet wurde. Diese staatsideologische Orientierung „gilt für die Auswahl der Stichwörter, für die Bedeutungsangaben, die kommentierenden Bemerkungen und auch für die Auswahl der Beispiele.“22 Begründet wird diese ideologisch gebundene Darstellung mit der angeblich sprachlichen Auseinanderentwicklung beider deutscher Staaten: Seit dem Erscheinen der ersten Lieferung des Wörterbuches der deutschen Gegenwartssprache sind fast zehn Jahre vergangen; die konzeptionellen Vorarbeiten für das Werk reichen noch weiter zurück. In dieser Zeit haben sich die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den Staaten, in denen deutsch gesprochen wird, immer mehr verstärkt. Das gilt besonders für die DDR und die BRD. Hier stehen sich heute zwei Staaten gegenüber mit ausgeprägt unterschiedlichen ökonomischen 20 21 22

Kempcke, Wörterbuch, S. 117. Klappenbach/Steinitz (Hg.), Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Bd. 4, S. II. Ebd.

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Strukturen, mit staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen und herrschenden Ideologien, in denen gegensätzliche Klasseninteressen zum Ausdruck kommen. […] Infolge dieser gegensätzlichen gesellschaftlichen Entwicklung sind bedeutsame sprachliche Unterschiede zwischen der sozialistischen DDR und der staatsmonopolistischen BRD entstanden. […] Die tiefgreifendste Veränderung in der Lexik beider Gesellschaftsordnungen ist durch die Bedeutungsdifferenzierung ein und desselben Zeichens entstanden. […] Die begrifflichen Unterschiede haben ihre Ursache darin, daß in der sozialistischen und in der bürgerlichen Ideologie gegensätzliche Klasseninteressen zum Ausdruck kommen, die die adäquate Widerspiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse möglich machen bzw. verhindern.23

Das WDG sollte „das erste semantische Wörterbuch sein“, das der ökonomischen, politischen, insbesondere aber der ideologischen Konfrontation zweier Weltsysteme „auf linguistischem Gebiet Rechnung trägt“.24 Der Schlusssatz für die Begründung der Konzeptionsänderung lautet: Mit seinen lexikographischen Mitteln will es [das WDG] zur Festigung des sozialistischen Bewußtseins der Menschen in der DDR beitragen, aber auch den fortschrittlichen Kräften in anderen Ländern helfen, die Sprache des sozialistischen Staates deutscher Nation besser zu verstehen und den Versuchen des Sprachmißbrauchs durch die Monopolbourgeoisie entgegenzuwirken.25

Das bedeutete ,lexikographischen Klassenkampf‘ – einmalig in der Geschichte der Lexikographie! Und in der Tat veröffentlichte das „FORUM. Organ des Zentralrats der FDJ“ im zweiten Januarheft 1978 den Beitrag „Klassenkampf im Wörterbuch?“, in dem es um einen „Vergleich zwischen dem Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, erschienen in der DDR, und dem Großen Wörterbuch der deutschen Sprache, erschienen in der BRD“ ging.26 DDR-Spezifisches und BRD-Spezifisches war im WDG schon immer ausgewiesen worden, durch in Schrägstriche gesetzte Kommentare nach der Bedeutungserläuterung oder in der Bedeutungserläuterung, z. B.: Arbeitgeber, der Institution, Person, von der Arbeit vergeben wird /wird auf sozialistische Verhältnisse nicht angewandt/: der Anteil des Arbeitgebers an der Sozialversicherung27 [WDG 1 (1964)]

23 24 25 26 27

Ebd., S. I. Ebd., S. II. Ebd. Gemeint ist: „Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in sechs Bänden“. Mannheim/Wien/Zürich 1976–1981. Vgl. FORUM (Red.), Klassenkampf im Wörterbuch. Unterstreichungen von den Verfassern.

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Börse2 , die; -, -n 1. zentraler Markt des nichtsozialistischen Wirtschaftssystems, auf dem Geschäfte über Wertpapiere und Waren abgeschlossen werden: an der B. kaufen, verkaufen, handeln, spekulieren, wuchern; […] 2. Gebäude, in dem der Markt für Wertpapiere und Waren abgehalten wird: die B. liegt im Zentrum der Stadt, ist ein Prachtbau zu 1 /in Verbindung mit Waren, z. B./ Butter-, Getreide-, Kaffee-, Korn-, Metall-, Waren-, Woll-, Zuckerbörse; /ferner in/ Filmbörse [WDG 1 (1964)] Dumping, das; -s, /ohne Pl./ [dam . . ] Verkauf von Waren nach dem Ausland zu Unterpreisen im nichtsozialistischen Wirtschaftssystem, um die ausländische Konkurrenz auszuschalten: dem D. durch ein Einfuhrverbot begegnen, entgegenwirken dazu Lohn-, Preis-, Valutadumping [WDG 2 (1967)]

Zur Kennzeichnung des abweichenden Sprachgebrauchs dienten auch die erwähnten Hinweise auf die Neologismen: Neuwort DDR, Neuprägung DDR, Neubedeutung DDR vs. Neuwort BRD, Neuprägung BRD, Neubedeutung BRD. Ab dem vierten Band ging es in den Bedeutungserläuterungen ganz eindeutig um unmissverständliche ideologische Ziele, um deutliche Abgrenzung des sozialistischen Systems zum monopolkapitalistischen System auch mithilfe des Wörterbuches. „Damit wurde die einst von Wolfgang Steinitz aufgestellte gesamtdeutsche Konzeption von der konträren Konzeption der Abgrenzung abgelöst, und das erforderte neue Wege und neue Methoden“, beschreibt Helene Malige-Klappenbach diese einschneidende Änderung.28 Es sollten gewissermaßen zwei Sprachen suggeriert werden. Ein Beirat für „ideologiegebundene Lexeme“29 wurde gegründet, denen neben Mitarbeitern des WDG jeweils ein Vertreter aus den in Frage kommenden Zentralinstituten der Akademie angehörten: „Zentralinstitut für Wirtschaftswissenschaften“, „Zentralinstitut für Geschichte“, „Zentralinstitut für Philosophie“. Die zeitraubenden Diskussionen über Artikelentwürfe zu den brisanten Lexemen führten zur Verzögerung in der Drucklegung. Obwohl seit dem Erscheinen des letzten Bandes des WDG über 30 Jahre vergangen sind, sollte nicht vergessen werden, dass die angeordnete ideologische Artikelgestaltung zum Leidwesen der Herausgeberin, der Bearbeiter und Autoren geschah, denen die Reglementierung nur noch wenig Handlungsspielraum ließ. Wie Bedeutungserläuterungen nach der Konzeptionsänderung aussehen, zeigen zum Beispiel die Artikel zu Pazifismus und Staat:

28 29

Malige-Klappenbach, „Wörterbuch“, S. 50. Ebd.

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Pazifismus, der; -, /ohne Pl./ bürgerl. politische Strömung und Ideologie, die sich unter der Losung des Friedens um jeden Preis gegen jeden Krieg, auch den gerechten Verteidigungs- und Befreiungskrieg, wendet: nach dem ersten Weltkrieg hatte der P. viele Anhänger gewonnen; dazu Pazifist, der; -en, -en; pazifistisch /Adj./ [WDG 4 (1974)] Staat1, der; -es, -en 1. innerhalb territorialer Abgrenzung existierendes politisches Machtinstrument der herrschenden Klasse einer Gesellschaftsformation zur Durchsetzung, Aufrechterhaltung und Sicherung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse nach innen und außen, das in den auf Ausbeutung beruhenden Gesellschaftsordnungen zur Unterdrückung der Mehrheit der Bevölkerung, in der soz. Gesellschaftsordnung unter Führung der Arbeiterklasse den Interessen des Volkes und seinem Schutz dient: ein volksdemokratischer, sozialistischer S. […] 2. Hoheitsgebiet von 1, Land: der Minister bereiste mehrere afrikanische Staaten […] [WDG 5 (1976)]

Nach der Konzeptionsänderung mussten auch die bisher erschienen drei Bände zu A bis Lyzeum auf eine „marxistisch-leninistische Grundlage“ gestellt werden. Die Wörterbuchartikel zu Kosmopolitismus und Krieg lauten zum Beispiel vor und nach Änderung der Konzeption: Kosmopolitismus, der; -, /ohne Pl./ Denkweise der Bourgeoisie, die den Menschen vornehmlich als Glied der ganzen Menschheit und nicht als einer staatlich selbständigen Nation mit dem Recht auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit betrachtet [WDG 3 (1969)] Kosmopolitismus, der; -, /ohne Pl./ bürgerl. Ideologie von einem Weltbürgertum aller Menschen, die sich ursprünglich gegen die geistige Enge feudaler Kleinstaaterei richtete, heute jedoch von der imperial. Bourgeoisie zur Verschleierung ihres nationalistischen Vormachtstrebens und zur Zerstörung von Nationalbewußtsein und -kultur anderer Nationen propagiert wird [WDG 3 (21973)] Krieg, der; -(e), -e organisierte militärische Auseinandersetzung großen Ausmaßes und längerer Dauer zwischen Staaten, Machtgruppen, Stämmen oder Klassen, Ggs. Frieden: ein aufgezwungener, blutiger, ergebnisloser, furchtbarer, langer, offener, räuberischer, verlustreicher K; der atomare, gerechte, imperialistische, totale K.; N e u p r ä g. ein kalter K. (Politik, durch die ständig die Gefahr eines heißen Krieges heraufbeschworen wird); der Dreißigjährige K.; K. und Frieden TOLSTOI /Titel/; der K. zu Lande, zu Wasser und in der Luft; seit Wochen tobt der K.; der K. verwüstet das Land; die Bevölkerung muß die Last des Krieges tragen; dem K. ein Ende machen; den K. auslösen, beginnen, beenden, führen, gewinnen, verlieren, verhindern, verurteilen; jmdm. den K. erklären; am K. verdienen; aus dem K. kommen; sich aus einem K. heraushalten; gegen den K. in Vietnam kämpfen, protestieren; im K. fallen, auf der Seite des Verteidigers, des Volkes stehen; in den K. ziehen; das Nachbarvolk in

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den K. hineinreißen; ein Land mit K. überziehen; zum K. hetzen; zum, für den K. rüsten; es darf nicht wieder zum Krieg kommen dazu /in Verbindung mit Personen, z. B./ Bauern-, Bruder-, Bürger-, Hitler-, Partisanen-, Sänger-, Sklavenkrieg; /in Verbindung mit Hinweisen auf das Ziel, z. B./ Befreiungs-, Eroberungs-, Freiheits-, Glaubens-, Handels-, Interventions-, Präventiv-, Raub-, Religions-, Unabhängigkeits-, Vernichtungs-, Verteidigungs-, Wirtschaftskrieg; /in Verbindung mit Hinweisen auf das Mittel der Kriegsführung, z. B./ Atom-, Banden-, Barrikaden-, Bewegungs-, Bomben-, Feder-, Gas-, Papier-, Zweifrontenkrieg; U-Boot-Krieg; /ferner in/ Aggressions-, Angriffs-, Blitz-, Dschungel-, Graben-, Guerilla-, Klein-, Koalitions-, Kolonial-, Luft-, Nerven-, See-, Stellungs-, Weltkrieg [WDG 3 (1969)] Krieg, der; -(e), -e 1. organisierte militärische Auseinandersetzung zur gewaltsamen Durchsetzung politischer Ziele, Ggs. Frieden: ein blutiger, verlustreicher, furchtbarer, langer, schwerer K.; Krieg und Frieden TOLSTOI /Buchtitel/; der Dreißigjährige K.; der K. zu Lande, zu Wasser und in der Luft; seit Wochen tobt der K.; der K. verwüstet das Land; K. führen; den K. gewinnen, verlieren, beenden; im K. fallen a) zwischen Staaten zur territorialen Annexion, zur nationalen und kolonialen Unterdrückung: ein imperialistischer, räuberischer, schmutziger, ungerechter, atomarer K.; zum K. hetzen, rüsten; am K. verdienen; den K. verhindern; gegen den K. protestieren, kämpfen; den K. verurteilen; die Bevölkerung muß die Last des Krieges tragen; im K. sind Millionen Menschen gefallen; es darf nicht wieder zum K. kommen b) zur Abwerfung nationaler und kolonialer Unterdrückung: der gerechte K.; der K. gegen die faschistischen Okkupanten c) zwischen verschiedenen Klassen einer Gesellschaft, Bürgerkrieg 2. in scharfer Form geführter politischer Kampf: N e u p r ä g. ein kalter K. (Politik imperialistischer Staaten, durch ständige Drohung mit dem heißen Krieg die sozialistische Staatengemeinschaft zu erpressen) zu 1 /mit Hinweisen auf das Mittel der Kriegführung, z. B./ Bomben-, Gaskrieg; / ferner in/ Graben-, Luft-, Stellungs-, Welt-, Zweifrontenkrieg zu 1a Aggressions-, Angriffs-, Blitz-, Eroberungs-, Hitler-, Interventions-, Kolonial-, Präventiv-, Raub-, Vernichtungskrieg zu 1 a u. c Glaubens-, Religionskrieg zu 1b Befreiungs-, Freiheits-, Guerilla-, Partisanen-, Unabhängigkeits-, Verteidigungskrieg zu 1c Bauern-, Bruder-, Bürger-, Sklavenkrieg zu 2 Handels-, Nerven-, Wirtschaftskrieg dazu Feder-, Papier-, Sängerkrieg [WDG 3, (21973)]

Unter der Abgrenzungspolitik der DDR zur BRD hatten im WDG insbesondere auch die Artikel zu den Lemmata deutsch, Deutsch, Deutschland und mit ihnen gebildete Komposita (z. B. Deutschlandfrage, Deutschland-

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politik, innerdeutsch) und Derivationen (Deutschtum, Deutschtümelei) zu ‚leiden‘ und das Adjektiv deutsch in lexikographischen Beispielen. Da speziell diese Änderungen an anderer Stelle30 ausführlich dargestellt worden sind, sollen hier nur wenige Beispiele genannt werden: Die Kollokation „deutsche Flotte“ (unter Flotte) wurde zu „dänische Flotte“, aus „deutsche Fluggesellschaft“ (unter Fluggesellschaft) wurde „polnische Fluggesellschaft“. Ein „Deutsches Haus“ als Beispiel für den Gebrauch von Haus in der Bedeutungsvariante „Hotel, Ferienheim (H. Waldfrieden; H. Seeblick; Deutsches H.; das erste H. am Platz)“ durfte es nicht mehr geben. Die illustrierenden Beispiele lauteten nun: „H. Waldfrieden; H. Seeblick; das größte, beste, erste H. am Platz“. Auch ein „Deutscher Fußballmeister“ war unerwünscht, wie wir ihn noch 1967 unter Fußballmeister finden: Aus dem ursprünglichen Beispiel „dieser Verein ist schon zum zweiten Mal Deutscher F. geworden“ wurde „dieser bekannte Verein ist schon zum zweiten Mal F. geworden“ [WDG 2 (1967) vs. WDG 2 (51977)]. Es kam auch zu kuriosen Änderungen: Von den ursprünglich verzeichneten Zusammensetzungen fortschrittsfeindlich, Fortschrittsglaube, fortschrittsgläubig, Fortschrittsoptimismus, Fortschrittswille [WDG 2 (1967)] mussten Fortschrittsglaube, fortschrittsgläubig und Fortschrittsoptimismus gestrichen werden. Es blieben fortschrittsfeindlich „jedem Fortschritt gegenüber feindlich eingestellt: ein f. Mensch […]“ und Fortschrittswille „N e u p r ä g. Wille zum Fortschritt: ein kämpferischer F. […]“. Der durch die Streichung der drei Artikel frei gewordene Raum wurde gefüllt mit dem bisher nicht vorhandenen Artikel fortschwanken „[…] schwankend weggehen: die Betrunkenen schwankten langsam fort“ [WDG 2 (51977)]. Neue Darstellungsmethoden mussten entwickelt werden: Es entstand ein „System von Definitionsversatzstücken und kommentarähnlichen Zuweisungsformen, mit deren Hilfe Stichwörter ideologisch eindeutig charakterisiert wurden, sofern sie nur der kapitalistischen oder der sozialistischen Gesellschaft eigentümlich schienen“.31 ,Versatzstücke‘ in den Bedeutungserläuterungen sind z. B.: –



30

31

„unter kap. Verhältnissen“: „Mädchenhandel, der unter kap. Verhältnissen auftretende Vermittlung von Mädchen zu moralisch unsauberen Zwecken“ „in kap. Ländern“: „Mehrwertsteuer, die W i r t s c h. Steuer in kap. Ländern, die auf den jeweiligen Umsatzstufen erhoben wird“

Vgl. Ludwig, Das Wörterbuch als Spiegel von Zeitgeschichte; Ludwig, Wörterbücher als Spiegel gesellschaftlicher Veränderungen; Ludwig, Das „Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit“; vgl. auch Zieliński, Kampf. Kempcke, Wörterbuch, S. 130.

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– – –

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„im bürgerl. Staat“: „Pension1, die […] 1. im bürgerl. Staat gezahlte lebenslängliche Geldrente für Beamte im Ruhestand und für Witwen von Beamten“ „unter bürgerl. Verhältnissen“: „Pension2, die […] 1. (kleines) privates Fremdenheim, das gegen Entgelt Unterkunft und Verpflegung bietet […]; unter bürgerl. Verhältnissen vorkommende private Unterkunft, in der Schüler(innen) wohnen, verköstigt und erzogen werden […]“ „der bürgerl. Gesellschaft“: „Oberschicht, die privilegierte, begüterte und (indirekt) herrschende Menschengruppe der bürgerl. Gesellschaft“ „im bürgerl. Heer“: „Offizierskasino, das Kasino für Offiziere im bürgerl. Heer“ „im bürgerl. Rechtswesen“: „Nebenkläger, der J u r. Person, der im bürgerl. Rechtswesen das Recht zusteht, sich der öffentlichen Klage des Staatsanwalts anzuschließen“

Als „typisierte Marker“32 werden in Schrägstrichen der Bedeutungserklärung z. B. beigeordnet: –



„/im bürgerl. Schulsystem/“: „Oberstudiendirektor, der /Titel für einen Lehrer in leitender Stellung/ a) DDR /höchster Ehrentitel/ b) /im bürgerl. Schulsystem: Dienstrangbez. für den Direktor einer höheren Schule/“ „/unter soz. Verhältnissen/“, „/unter kap. Verhältnissen/“: „Öffentlichkeitsarbeit, die N e u p r ä g. 1. /unter soz. Verhältnissen/ Maßnahmen zur Information der Öffentlichkeit über Vorgänge in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens mit dem Ziel, die schöpferischen Potenzen der gesamten Bevölkerung zu aktivieren 2. /unter kap. Verhältnissen/ gezielte informatorische Maßnahmen, die, (mittelbar) in die Öffentlichkeit manipuliert, dazu dienen sollen, ein günstiges Bild bestimmter Personen, Unternehmen und der kap. Gesellschaft überhaupt zu geben“

Über die ideologische Einfärbung des synchronischen Bedeutungswörterbuches vom vierten Band an hat man – mehr oder weniger emotional – diskutiert. Im Übrigen hat man den ideologischen Anteil im WDG auf rund drei Prozent des im WDG insgesamt erfassten Wortschatzes geschätzt.33 Das WDG bleibt nach wie vor eine zuverlässige Informationsquelle und ist gerade wegen der angeordneten ideologischen Ausrichtung das Dokument der germanistischen Lexikographie, das zeigt, wie gesellschaftliche Bedingungen in den Wörterbuchartikeln ihren Niederschlag finden mussten.

32 33

Ebd. Nach Schaeder, Lexikographie, S. 69.

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3. Schlussbemerkung Wir haben mit unserem Erfahrungshintergrund als Lexikographen und Metalexikographen einen groben Überblick über die Wörterbuchlandschaft der DDR zu geben versucht. Am Ende stand das Großprojekt WDG, das das Ziel verfolgte, als gesamtdeutsches Wörterbuch den Wortschatz eines geteilten Landes darzustellen, dessen Mitarbeiter aber „in ihrer besten Produktionsphase das Triebrad anhalten mußten, um über eine neue Konzeption nachzudenken, die ihnen ,von oben‘ verordnet worden war“.34 Bleibt noch darauf hinzuweisen, dass nach dem WDG 1984 das HDG erschien, verfasst von einem ,Autorenkollektiv‘ unter der Leitung von Günter Kempcke, der seit 1963 neben Ruth Klappenbach und Helene Malige-Klappenbach als Bearbeiter des WDG tätig war. Es gäbe über die Lexikographie in der DDR noch vieles mitzuteilen, so z. B., dass es auch in der DDR eine Wörterbuchforschung (Metalexikographie) gegeben hat. Erwähnt seien nur der Sammelband „Wortschatzforschung heute. Aktuelle Probleme der Lexikologie und Lexikographie“ (Leipzig 1982) und Bände, die in der Reihe „Linguistische Studien“ des „Zentralinstituts für Sprachwissenschaft“ der „Akademie der Wissenschaften der DDR“ herausgegeben worden sind, z. B.: „Die Lexikographie von heute und das Wörterbuch von morgen. Analysen – Probleme – Vorschläge“ (1983), „Beiträge zu theoretischen und praktischen Problemen in der Lexikographie der deutschen Gegenwartssprache“ (1984), „Untersuchungen zu konzeptionellen Problemen der historischen Lexikographie (Bedeutungen, Definitionen, Stichwortlisten, Aussagebereiche)“ von Hartmut Schmidt (1985), „Studien zu einem KOMPLEXWÖRTERBUCH der lexikalischen Mikro-, Medio- und Makrostrukturen“ („Komplexikon“), die unter der Leitung von Erhard Agricola entstanden (1987), „Theoretische und praktische Probleme der Neologismenlexikographie“ unter Leitung von Dieter Herberg (1988).

34

Kempcke, Wörterbuch, S. 117.

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Literaturverzeichnis 1. Quellen/Wörterbücher Adelung, Johann Christoph: Versuch eines vollständigen grammatischkritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, Bd. 1–5, Leipzig 1774–1786. Agricola, Christiane / Agricola, Erhard: Wörter und Gegenwörter. Antonyme der deutschen Sprache. Eine Sammlung von Wortpaaren zum sprachlichen Ausdruck dialektischer und logischer Gegensätze, Leipzig 1977. Agricola, Erhard (Hg.): Wörter und Wendungen. Wörterbuch zum deutschen Sprachgebrauch, Leipzig 1962. Becker, Heinrich (Red.): Fremdwörterbuch, Leipzig 1954. Campe, Joachim Heinrich: Wörterbuch der Deutschen Sprache, Bd. 1–5, Braunschweig 1807–1811. Der Sprach-Brockhaus. Deutsches Bildwörterbuch für jedermann, 4., verb. Aufl., Wiesbaden 1947 [1. Aufl., 1935; 6., verb. Aufl., Wiesbaden 1955; 7., durchges. Aufl., 1956 und 1962; 8., völlig neubearb. und erw. Aufl., 1972; 9., neubearb. und erw. Aufl., 1984]. Drosdowski, Günther (Bearb.): Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in sechs Bänden. Hrsg. und bearb. vom Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenredaktion unter Leitung von Günther Drosdowski, Mannheim / Wien / Zürich 1976–1981. Dückert, Joachim / Kempcke, Günter (Hg.): Wörterbuch der Sprachschwierigkeiten. Zweifelsfälle, Normen und Varianten im gegenwärtigen deutschen Sprachgebrauch, Leipzig 1984. Duden. Rechtschreibung mit Berücksichtigung der häufigen Fremdwörter. Ratgeber bei rechtschreiblichen und grammatischen Schwierigkeiten der deutschen Sprache, vollständig neu bearb. Ausg., Leipzig 1951. FORUM (Red.): Klassenkampf im Wörterbuch? Vergleich zwischen dem Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, erschienen in der DDR, und dem Großen Wörterbuch der deutschen Sprache, erschienen in der BRD, in: FORUM. Organ des Zentralrats der FDJ 32,2 (1978), S. 7–9. Görner, Herbert / Kempcke, Günter (Hg.): Synonymwörterbuch. Sinnverwandte Ausdrücke der deutschen Sprache, Leipzig 1973.

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Dieter Herberg / Klaus-Dieter Ludwig

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Germanistische Lexikographie in der DDR

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Dieter Herberg / Klaus-Dieter Ludwig

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Dieter Nerius

Zur Geschichte der Schriftlinguistik in der Germanistik der DDR Schriftlinguistik verstehen wir als zusammenfassende Bezeichnung für die linguistische Beschäftigung mit geschriebener (schriftlicher) Sprache, Schreibung (Graphie) und Orthographie (Rechtschreibung). Mit diesem Terminus wollen wir ausdrücklich die linguistischen Bezüge der Beschäftigung mit Schriftlichkeit, die ja ein multidisziplinäres Forschungsgebiet darstellt, zum Ausdruck bringen. Geprägt haben wir diesen Begriff 1987 und ihn erstmals auf dem „XIV.  Internationalen Linguistenkongress“ in Berlin verwendet. Seitdem hat er sich allmählich in der Sprachwissenschaft verbreitet. Dort organisierten Gerhard Augst aus der BRD und Dieter Nerius aus der DDR gemeinsam eine Untersektion (Rundtischgespräch) „Probleme der geschriebenen Sprache“, deren Beiträge in den Linguistischen Studien Nr. 173 des „Zentralinstituts für Sprachwissenschaft“ der „Akademie der Wissenschaften“ 1988 veröffentlicht wurden. Die Aufnahme dieses Themas in das offizielle Kongressprogramm war nicht nur eine Anerkennung für die bisherige Arbeit auf dem Gebiet der Schriftlinguistik in der DDR, sondern auch ein Beweis für die internationale Akzeptanz des relativ jungen Gebietes der sprachwissenschaftlichen Schriftlichkeitsforschung. Das war durchaus ein deutlicher Fortschritt in der Geschichte der Linguistik, an dem auch die Schriftlinguistik in der DDR ihren Anteil hatte. Denn in der jüngeren Geschichte der Sprachwissenschaft und speziell in der germanistischen Linguistik nimmt die Beschäftigung mit der geschriebenen Sprache, Schreibung und Orthographie bis in die siebziger Jahre des 20.  Jahrhunderts nur einen sehr bescheidenen Platz ein. Die Zurückhaltung der Sprachwissenschaft gegenüber der schriftlichen Existenzweise der Sprache war ein Ergebnis der Wissenschaftsentwicklung des 19. Jahrhunderts, das auch im 20. Jahrhundert noch fortwirkte. Dafür waren zunächst vor allem das Funktionsverständnis und die Gegenstandsbestimmung von Sprachwissenschaft bei den Junggrammatikern verantwortlich, für die sich das Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache als ein Verhält-

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Dieter Nerius

nis von Sprache und Schrift darstellte. Sprache und damit Gegenstand der Sprachwissenschaft war folglich nur die gesprochene Sprache, während die geschriebene Form als etwas Sprachexternes, als eine Art äußeres Gewand angesehen wurde, mit dem sich der Sprachwissenschaftler eigentlich nicht zu beschäftigen hätte. Diese Position erlangte auch in der internationalen Sprachwissenschaft weite Verbreitung, sodass der Nestor der Schriftlinguistik Josef Vachek feststellte: Es ist fast symptomatisch, dass die zweite Hälfte des  19. ebenso wie die ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sehr wenig Verständnis für die Auffassung der geschriebenen Sprache als eines (zumindest teilweise) eigengesetzlichen Systems bewiesen hat […]. In der genannten Periode dominiert in der Sprachwissenschaft die Vorstellung vom absoluten Primat (man könnte sagen von der linguistischen Legitimität) der gesprochenen Sprache und des akustischen Charakters gesprochener Äußerungen.1

Diese Feststellung gilt keineswegs nur für die ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, sondern sowohl in der internationalen Linguistik wie vor allem in der germanistischen Sprachwissenschaft weit darüber hinaus und ist erst in der jüngeren Vergangenheit allmählich überwunden worden. Erste Ansätze zur Überwindung der Position einer relativen Geringschätzung der geschriebenen Sprache als Gegenstand der Linguistik und der damit korrespondierenden weitgehenden Reduzierung der graphischen Form auf ein bloßes Abbild der lautlichen Form der Sprache gab es in der internationalen Linguistik im 20.  Jahrhundert bereits ziemlich früh. Einer der ersten, der die Auffassung entwickelte, dass gesprochene und geschriebene Sprache als zwar miteinander in Beziehung stehende, aber doch mehr oder weniger voneinander unabhängige, eigenständige Existenzweisen der Sprache mit spezifischer Funktion und Struktur zu betrachten seien, war der polnisch-russische Sprachwissenschaftler Baudouin de Courtenay. Umfassender ausgearbeitet wurde diese Ansicht von Vertretern der Prager Schule der strukturellen Linguistik, vor allem von Vachek. Er entwickelte in einer Reihe von Arbeiten den allgemeinen linguistischen Rahmen2, in dem die Spezifik und die Beziehungen von gesprochener und geschriebener Sprache erfasst werden können, und er legte auch entsprechende konkrete Untersuchungen zum Verhältnis von Schreibung und Lautung, speziell im Englischen, vor. Ausgangspunkt und Basis seiner Darstellungen waren die unterschiedlichen Funktionen beider Existenzweisen der Sprache in der Kommunikation, die sich letztlich auch in gewissen strukturellen Besonderheiten niederschlagen und zu einer relativen Autonomie der Existenzweisen führen. 1 2

Vachek, Language, S. 241. Vgl. Vachek, Problem; Vachek, Chapters; Fragen; Language.

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Dieser Ansatz hat sich als sehr fruchtbar erwiesen und ist von Linguisten in mehreren anderen Ländern aufgenommen worden, so auch von der sich in den siebziger Jahren entwickelnden Orthographieforschung in der DDR. Für diese Forschung, die sich zunächst an der „Akademie der Wissenschaften“ und an der Universität Rostock etablierte, bald aber auch Vertreter anderer Universitäten der DDR einbezog, erschien der funktional-strukturelle Ansatz Vacheks in mehrfacher Hinsicht für die Lösung der sich abzeichnenden theoretischen und praktischen Probleme besser geeignet als eine bloß phonographische Konzeption, wie sie bisher üblich war. Auf dieser Grundlage konnte z. B. der tatsächlichen Bedeutung der geschriebenen Sprache und der Orthographie in der heutigen Kommunikation angemessen Rechnung getragen werden, denn schriftliche Kommunikation und damit die geschriebene Form der Sprache spielen bekanntlich in der modernen Gesellschaft eine bedeutende Rolle und sind für das Funktionieren des gesellschaftlichen Zusammenlebens unerlässlich, was eine Vernachlässigung dieser Seite der Sprache durch die Linguistik als unangemessen erscheinen lässt. Auf dieser Grundlage konnte aber auch eine Konzeption entwickelt werden, die dem Wechselverhältnis und der relativen Autonomie von gesprochener und geschriebener Sprache gerecht wird und die graphische Form der Sprache als unverzichtbaren Bestandteil in die systematische Sprachbeschreibung integriert und sie nicht als auch vernachlässigbaren Appendix irgendwo anhängt. Die schriftlinguistischen Forschungen, die sich in der DDR in den siebziger Jahren unter Bezug auf Vachek und die Prager Schule entwickelten, waren nicht die ersten Untersuchungen zur graphischen Formseite der deutschen Sprache in diesem Land, auch wenn sie eine neue Qualität markieren. Neben einzelnen Arbeiten von Renate Baudusch und Jürgen Scharnhorst sowie den Überlegungen und Vorschlägen zur Orthographiereform in den fünfziger Jahren, an denen vor allem Theodor Frings, Wolfgang Steinitz und Ruth  Klappenbach mitwirkten, war es in den sechziger Jahren besonders die historische Graphematik, die die schriftliche Seite der Sprache zum Forschungsgegenstand machte. Hier war es vor allem Wolfgang Fleischer, der solche Forschungen in Gang setzte, später haben auch Gerhard Kettmann u. a. auf diesem Gebiet gearbeitet. Sie beschäftigten sich mit frühneuhochdeutschen Texten, die ja wie alle sprachgeschichtlichen Dokumente nur in schriftlicher Form vorlagen, und erkannten, dass es spezielle Strukturen waren, die ihren Untersuchungsgegenstand kennzeichneten und die mit der traditionellen Reduzierung der graphischen Form auf ein Abbild der Lautform der Sprache nicht angemessen zu erfassen waren. Die daraus resultierenden theoretischen Überlegungen zum Graphembegriff bildeten einen wichtigen Baustein für die weitere Entwicklung der Schriftlinguistik.

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Dieter Nerius

Diese weitere Entwicklung hängt eng zusammen mit den Bemühungen um eine Reform der deutschen Orthographie. Solche Bemühungen sind bekanntlich seit der Festlegung der deutschen Einheitsorthographie 1901 gewissermaßen periodisch immer wieder hervorgetreten. Nachdem entsprechende Vorschläge in den fünfziger Jahren, bekannt unter den Bezeichnungen Stuttgarter und Wiesbadener Empfehlungen, wie schon viele vor ihnen erfolglos geblieben waren, gab es Anfang der siebziger Jahre im Gefolge der Ereignisse von 1968 in der BRD einen neuen Schub in den Bemühungen um eine Reform der deutschen Orthographie. Das fand auch in der DDR sein Echo und führte auch hier zu neuerlichem Nachdenken über eine Orthographiereform, und zwar vor allem an der „Akademie der Wissenschaften“, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, maßgeblich getragen durch Frings und Steinitz, die Federführung in dieser Angelegenheit besaß. So fand im Februar 1973 nach einigen vorbereitenden Arbeiten an dem inzwischen aus der veränderten Akademiestruktur hervorgegangenen „Zentralinstituts für Sprachwissenschaft“ (ZISW) eine Tagung zum Thema „Sprachwissenschaftliche Probleme einer Reform der deutschen Orthographie“ statt, an der viele germanistische Sprachwissenschaftler der „Akademie der Wissenschaften“, der Universitäten und Hochschulen der DDR sowie Vertreter der „Akademie der Pädagogischen Wissenschaften“ und der Duden-Redaktion teilnahmen. Die Teilnehmer tauschten sich über den bestehenden Forschungsstand zur deutschen Orthographie aus und formulierten Schlussfolgerungen für weitere theoretische und empirische Untersuchungen zur Rechtschreibung. Es wurde beim ZISW eine Kommission gebildet, die den Auftrag erhielt, die entsprechenden Vorstellungen weiter auszuarbeiten und zu präzisieren sowie bisher vorliegende Untersuchungen zur gegenwärtigen Orthographie, vor allem zu der damals besonders in der Diskussion befindlichen Groß- und Kleinschreibung, zu bilanzieren und zu bewerten. Dieser Kommission gehörten an: Dieter Nerius (Universität Rostock) als Vorsitzender, Ruth Klappenbach, Jürgen Scharnhorst und Peter  Suchsland von der „Akademie der Wissenschaften“, Joachim  Riehme (Universität Leipzig), Helmut  Langner (Pädagogische Hochschule Potsdam), Gerhard Schreinert und Edmund Wendelmuth von der „Akademie der Pädagogischen Wissenschaften“ und Pia Fritzsche (Duden-Redaktion). Der Bericht der Kommission mit der Formulierung entsprechender Forschungsaufgaben lag im Herbst 1973 vor und daraus zog die Leitung des ZISW die Schlussfolgerung, künftig die Orthographieforschung als eigenen Forschungsgegenstand des Instituts zu etablieren und die notwendigen personellen Kapazitäten dafür bereitzustellen. So veranlasste der damalige Direktor des ZISW der „Akademie der Wissenschaften“ Günter Feudel Anfang 1974 die Bildung einer „Themengruppe Orthographie“ – später Forschungsgruppe genannt –, die sich der sprach-

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wissenschaftlichen Erforschung der Orthographie und der linguistischen Vorbereitung einer Rechtschreibreform widmen sollte. Ihre anfänglichen Mitglieder waren: Dieter Nerius als Leiter, Renate Baudusch, Klaus Heller, Dieter Herberg und Jürgen Scharnhorst. Hinzu kamen bald weitere Sprachwissenschaftler und vereinzelt auch Sprachdidaktiker aus Berlin, Rostock, Leipzig, Halle und Jena, die sich für die Orthographieforschung interessierten und die zeitweilig oder auf Dauer in der Forschungsgruppe mitarbeiteten. Das waren: aus Rostock Werner Hofrichter, Ilse Rahnenführer, Anneliese Möller, Petra Ewald, Dagmar Reichardt, Birgit Gabler, aus Leipzig Joachim Riehme, Brigitte Walz und der spätere Leiter der Duden-Redaktion Dieter Baer, aus Berlin Hans-Joachim Schädlich, aus Halle Eberhard Stock und aus Jena Gottfried Meinhold, womit die Forschungsgruppe im Laufe der Zeit auf mehr als 15 Mitglieder anwuchs. Außerdem kamen häufig zu den Beratungen der Gruppe auch Bodo Friedrich, Gerhard Schreinert und Edmund Wendelmuth von der „Akademie der Pädagogischen Wissenschaften“ hinzu. Diese Gruppe bildete fortan den Hauptträger schriftlinguistischer Untersuchungen in der DDR. Einzelne Arbeiten zur Schriftlinguistik gab es auch an anderer Stelle – ich verweise z. B. auf den viel zitierten Aufsatz von Manfred Bierwisch „Schriftstruktur und Phonologie“ aus dem Jahre 1972 – kontinuierliche Forschung auf diesem Gebiet gab es jedoch andernorts nicht. Es begann nun eine Zeit intensiver wissenschaftlicher Arbeit, die sehr bald auch dadurch erheblich an Bedeutung gewann, dass die Forschungsgruppe 1975 von der im gleichen Jahr geschaffenen Orthographiekommission der DDR den offiziellen Auftrag zur sprachwissenschaftlichen Vorbereitung einer Orthographiereform erhielt. Unterstrichen wurde die Bedeutsamkeit dieser Arbeit auch noch dadurch, dass man dieses Projekt für den Zeitabschnitt von 1975–1980 in den zentralen Forschungsplan der DDR aufnahm und ihm von Seiten der „Akademie der Wissenschaften“ wie auch des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen in diesem Zeitraum eine für DDR-Verhältnisse relativ intensive Förderung angedeihen ließ, speziell auch in Hinsicht auf die Literaturbeschaffung und die Kontakte zu Orthographieforschern in der BRD und in Österreich. Diese offizielle Aufmerksamkeit für die Orthographieforschung war aber nicht etwa ein Resultat der besonderen Vorliebe der DDR-Führung für die Rechtschreibreform, sondern hatte rein politische Gründe und ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund der diesbezüglichen Bemühungen in der BRD und in Österreich Anfang der siebziger Jahre. In dieser Zeit war hier, wie schon erwähnt, die Diskussion um die Orthographiereform neu und heftig entbrannt. Besonders 1973 gab es vielerlei öffentliche Aktivitäten und im Mai 1973 beschloss die Kultusministerkonferenz (KMK), einer Rechtschreibreform auf der Grundlage der Wiesbadener Empfehlungen von 1958

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zuzustimmen. Im Oktober 1973 gab es auch eine offizielle Anfrage der BRD an die DDR, wie man hier zu einer Orthographiereform stehe. Dies alles muss bei der DDR-Führung den Eindruck erweckt haben, dass eine Orthographiereform demnächst auf der Tagesordnung stehe und es jetzt darauf ankomme, sich dabei einen entsprechenden Einfluss zu sichern. Das aber erforderte natürlich eigene Vorbereitungen und Untersuchungen zu Inhalt und Auswirkungen einer möglichen Rechtschreibreform und so erklärt sich u. a. die große offizielle Aufmerksamkeit für die Orthographieforschung. Die Forschungsgruppe profitierte, wie schon erläutert, in dem genannten Zeitraum 1975–1980 von dieser Situation. Auch wenn diese Konstellation mit Sprachwissenschaft zunächst gar nichts zu tun hatte, so ist sie doch für die Entwicklung der Schriftlinguistik in der DDR durchaus von Bedeutung gewesen und sollte deshalb ebenso wie die radikale Änderung der Haltung der DDR-Führung zur Orthographiereform nach 1980 nicht unerwähnt bleiben. Im Februar 1975 beschäftigte sich sogar das oberste Machtorgan der DDR, das Politbüro des Zentralkomitees (ZK) der SED, mit der Frage der Rechtschreibreform und verabschiedete ein Memorandum dazu, in dem eine komplexe Vorbereitung einer Orthographiereform auf allen infrage kommenden Gebieten, darunter auch auf sprachwissenschaftlichem, festgelegt wurde. Grundlage dafür war die Bildung einer multiinstitutionellen Orthographiekommission der DDR, die alle erforderlichen Maßnahmen koordinieren und steuern sollte. Sie nahm im März 1975 ihre Arbeit auf und wurde zunächst von Akademievizepräsident Heinrich  Scheel, später von Akademievizepräsident Werner Bahner geleitet. Vor ihr musste die Forschungsgruppe auch mehrmals über den Fortgang der sprachwissenschaftlichen Vorarbeiten für eine Orthographiereform berichten. Die zweite Hälfte der siebziger Jahre war für die Forschungsgruppe eine Zeit der intensiven und weitgehend störungsfreien Arbeit, die die nationale und internationale Entwicklung der Schriftlinguistik nicht unwesentlich vorangebracht und uns mindestens im deutschsprachigen Raum eine gewisse Vorreiterrolle auf diesem Gebiet verschafft hat. Bei den Überlegungen zur sprachwissenschaftlichen Vorbereitung einer Orthographiereform bestätigte sich nun die schon vorher gewonnene Erkenntnis, dass entsprechende seriöse Vorschläge umfangreiche theoretische und empirische Untersuchungen erforderlich machten. Viele theoretische Fragen waren neu oder erstmals zu durchdenken und in ein stimmiges Konzept zu bringen, bevor man überhaupt an die Entwicklung von Änderungsvorschlägen der Orthographie gehen konnte, so z. B. die Spezifik und das Verhältnis von geschriebener und gesprochener Sprache, die Merkmale und Bestimmungsfaktoren der Orthographie, die Stellung und Funktion der Schreibung im System der Standardsprache, die Begriffe orthographisches Prinzip und orthographische Regel, der Aufbau und die Hierarchie

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eines orthographischen Regelwerkes und die Funktion des Orthographiewörterbuches, die spezifischen Strukturen und Funktionen der einzelnen Teilbereiche der Orthographie, aber natürlich auch die Determinanten der bisherigen Orthographieentwicklung und die Kriterien, Möglichkeiten und Grenzen einer Weiterentwicklung der Orthographie. Die Arbeit der Forschungsgruppe war also in dieser Zeit geprägt durch die Verbindung theoretischer Grundlagenforschung mit der Erarbeitung konkreter Reformvorschläge. Nach der Präsentation von Arbeitshypothesen und Zwischenergebnissen in den Linguistischen Studien des ZISW der Akademie und auf einer internationalen Arbeitstagung zu sprachwissenschaftlichen Problemen der Orthographie in Rostock 19783, an der u. a. auch Vachek und Amirova beteiligt waren, wurden die bisherigen Arbeitsergebnisse der Forschungsgruppe 1980 und 1981 in zwei Publikationen vorgelegt. Das war einmal der Sammelband „Theoretische Probleme der deutschen Orthographie“, der die theoretischen Grundlagen und Konzepte der Arbeit der Forschungsgruppe vorstellte (und in seinem historischen Teil auch erstmals das von uns wiederentdeckte Protokoll der „II. Orthographischen Konferenz“ von 1901 publizierte) und das waren zum anderen die in zwei Heften der „Linguistischen Studien“ veröffentlichten Vorschläge der Forschungsgruppe zur Reform der deutschen Orthographie mitsamt ihren theoretischen Begründungen und den Ergebnissen der empirischen Untersuchungen.4 Diese Publikationen wie auch die weiteren Arbeiten der Forschungsgruppe fanden rasch einen großen Widerhall in der Fachwelt und bildeten in gewisser Weise einen Neubeginn der linguistischen Orthographieforschung, der sich als weiterführend erwies und zum Aufschwung der Orthographieforschung auch in den anderen deutschsprachigen Ländern beitrug, wo es in den achtziger Jahren geradezu einen Boom auf dem Gebiet der Schriftlinguistik gab. Nach 1980 verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen und Wirkungsmöglichkeiten der Forschungsgruppe beträchtlich. Es bestand in der DDR seit 1981 ein Publikationsverbot zu Fragen der Rechtschreibreform und die in dem erwähnten Politbüromemorandum anvisierte komplexe Vorbereitung einer solchen Reform wurde im Grunde eingestellt. Die Ursache dafür lag in einer veränderten Haltung der DDR-Führung zur Orthographiereform Anfang der achtziger Jahre. Warum sich in dieser Zeit ein solcher Wandel vollzog, ist nicht ganz klar und von uns nicht mit konkreten Aussagen oder Dokumenten zu belegen. Auch hier sind sicher vor allem politische Gründe, speziell die in dieser Zeit verstärkt betriebene Ab-

3 4

Vgl. Sprachwissenschaftliche Probleme einer Reform der deutschen Orthographie; Beiträge zu Problemen der Orthographie. Vgl. Nerius/Scharnhorst (Hg.), Theoretische Probleme; Sprachwissenschaftliche Untersuchungen zu einer Reform der Orthographie.

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grenzung zur BRD, maßgeblich gewesen.5 Aber dass die Orthographiereform plötzlich nicht mehr wichtig war, bekam die Forschungsgruppe in mehrfacher Hinsicht deutlich zu spüren, nicht nur bei den Publikationsmöglichkeiten, sondern z. B. auch in Bezug auf die Reisetäigkeit. Allerdings gingen die Restriktionen nicht so weit, dass die sprachwissenschaftlichen Vorarbeiten für eine Rechtschreibreform erheblich eingeschränkt oder gar abgebrochen werden mussten, auch wenn man an ihrer Umsetzung offensichtlich gar kein Interesse mehr hatte. Die Weiterführung dieser Arbeiten hing zweifellos mit der inzwischen entwickelten internationalen Einbindung unserer Forschungen in die Kooperation der entsprechenden Arbeitsgruppen aus den damals vier deutschsprachigen Staaten zusammen. Diese Kooperation ist maßgeblich dem Schweizer Germanisten Heinz Rupp zu verdanken, der die Zusammenarbeit der Gruppen 1980 auf dem „Internationalen Germanistenkongress“ in Basel initiiert und in seiner Eigenschaft als Präsident des „Internationalen Germanistenverbandes“ von der DDR-Führung die Zusage erwirkt hatte, dass sich die DDR an der wissenschaftlichen Zusammenarbeit der Arbeitsgruppen zur Entwicklung einer orthographischen Neuregelung beteiligen werde. Die Kooperation der Arbeitsgruppen, die sich in einem regelmäßigen Informationsaustausch und in acht gemeinsamen, abwechselnd in den vier Staaten durchgeführten Arbeitstagungen während der achtziger Jahre realisierte, führte zur Bildung des „Internationalen Arbeitskreises für Orthographie“ und war insgesamt sehr konstruktiv und erfolgreich. Je erfolgreicher sie verlief, desto weniger war es möglich, sie einfach einzustellen, ohne mit der in dieser Zeit staatlicherseits propagierten Dialogpolitik zwischen Ost und West in Konflikt zu geraten. So konnten wir gewissermaßen trotz der im Grunde ablehnenden Haltung der DDR-Führung zur Orthographiereform unsere Vorstellungen und Untersuchungsergebnisse in die gemeinsamen Reformvorschläge der Arbeitsgruppen der vier deutschsprachigen Länder einbringen, auch wenn wir uns dabei nicht immer durchsetzen konnten. Das gemeinsam erarbeitete orthographische Regelwerk des „Internationalen Arbeitskreises für Orthographie“ wurde 1991 fertiggestellt und 1992 unter dem Titel „Deutsche Rechtschreibung. Vorschläge zu ihrer Neuregelung“ veröffentlicht. Es bildete dann die Basis für die weitere Bearbeitung der Neuregelung bis hin zum heutigen Stand, wurde dabei allerdings erheblich verändert, was hier jedoch nicht zu thematisieren ist. Die sprachwissenschaftliche Vorbereitung einer Orthographiereform bildete zwar einen Ausgangspunkt schriftlinguistischer Forschung in der DDR, diese war aber, wie im Vorangehenden schon gezeigt, keineswegs darauf beschränkt. Besonders nachdem in den achtziger Jahren die Vorarbeiten zur Orthographiereform von offizieller Seite eher mit Skepsis betrach5

Vgl. dazu genauer Hillinger/Nerius, Geschichte, S. 21–23.

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tet wurden und in der DDR nichts mehr dazu publiziert werden durfte, wurden die Schwerpunkte der Tätigkeit der Forschungsgruppe verändert und auf weitere Aufgabengebiete ausgeweitet. Einer dieser Schwerpunkte, der allerdings auch schon vorher bedeutsam war, betraf die Fortsetzung und Intensivierung der Beschäftigung mit linguistisch-theoretischen Problemen der Orthographie. Das mündete zwischen 1980 und 1985 in die Erarbeitung einer sprachwissenschaftlichen Gesamtdarstellung der deutschen Rechtschreibung, wie sie dann in dem 1987 veröffentlichten Buch „Deutsche Orthographie“ vorgelegt wurde.6 Dieses Buch war Bestandteil der Reihe sprachwissenschaftlicher Hochschullehrbücher in der DDR und hat rasch weite Verbreitung und vielfältige Rezeption erfahren. Zwei Auflagen sind noch in der DDR erschienen, die dritte und vierte, jeweils neu bearbeitete und erweiterte Auflage sind 2000 und 2007 herausgekommen und man kann wohl ohne unbescheiden zu sein sagen, dass dieses Buch die Beschäftigung mit der Orthographie im akademischen Unterricht an deutschen Universitäten maßgeblich vorangebracht hat. Ein zweiter Schwerpunkt in der Tätigkeit der Forschungsgruppe, der in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre in den Vordergrund trat, war die Beschäftigung mit der historischen Entwicklung der Schreibung und Rechtschreibung im Deutschen. Auch das war schon für die Vorüberlegungen zur Orthographiereform wichtig und wurde besonders durch die Feststellung der außerordentlichen Lückenhaftigkeit großer Teile der bisherigen Sprachgeschichtsschreibung auf diesem Gebiet befördert. Sehr oft wurde und wird die Geschichte der Schreibung des Deutschen nur metasprachlich anhand der Darstellungen von Grammatikern und Orthographen beschrieben und häufiger noch spielte in der Sprachgeschichtsschreibung die geschriebene Sprache theoretisch gar keine Rolle, sondern wurde nur als Folie für den eigentlichen Beschreibungsgegenstand, die gesprochene Sprache, angesehen. Diese aus dem schon eingangs angedeuteten Wissenschaftsverständnis der Junggrammatiker resultierende Auffassung ist erst in der jüngsten Vergangenheit allmählich überwunden worden. Dazu wollte die Forschungsgruppe mit einem umfangreichen Programm zur Erforschung der Entwicklung unserer Schreibung und Rechtschreibung beitragen, das nur noch ansatzweise realisiert werden konnte. Die Ansätze und Vorstudien dieser Forschungen sind gebündelt in dem 1992 von Nerius und Scharnhorst herausgegebenen Sammelband „Studien zur Geschichte der deutschen Orthographie“. Eine Fortsetzung weit über das Ende der DDR hinaus fanden diese sprachhistorischen Forschungen in dem noch 1989 gemeinsam von Germanisten der Universitäten Bamberg und Rostock unter der Leitung von Rolf Bergmann und Dieter Nerius entwickelten Projekt zur Entwicklung der Großschreibung im Deutschen von 1500 bis 1700, das über sechs Jahre von der DFG 6

Nerius (Hg.), Orthographie.

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Dieter Nerius

gefördert wurde und dessen Ergebnisse 1998 in zwei Bänden publiziert wurden. Mit der Abwicklung der „Akademie der Wissenschaften der DDR“ und der Neuordnung der Universitäten im Osten Deutschlands im Jahre 1990 endete auch die Tätigkeit der „Forschungsgruppe Orthographie“. Etliche ihrer Mitglieder setzten aber an ihren Wirkungsstätten die Arbeit auf dem Gebiet der Schriftlinguistik fort und tun das auch heute noch.

Literaturverzeichnis Augst, Gerhard / Nerius, Dieter (Hg.): Probleme der geschriebenen Sprache. Beiträge zur Schriftlinguistik auf dem XIV.  Internationalen Linguistenkongreß 1987 in Berlin, Berlin 1988 (= Linguistische Studien, Reihe A 173). Augst, Gerhard u. a. (Hg.): Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Begründung und Kritik, Tübingen 1997 (= Reihe Germanistische Linguistik 179). Beiträge zu Problemen der Orthographie, hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR. Zentralinstitut für Sprachwissenschaft, Berlin 1979 (= Linguistische Studien, Reihe A 54). Bergmann, Rolf u. a. (Hg.): Die Entwicklung der Großschreibung im Deutschen von 1500 bis 1700, Bd. 1–2, Heidelberg 1998 (= Germanistische Bibliothek, Reihe 3 Untersuchungen, N.F. 29,1/2). Bierwisch, Manfred: Schriftstruktur und Phonologie, in: Probleme und Ergebnisse der Psychologie 43 (1972), S. 21–44. Deutsche Rechtschreibung. Vorschläge zu ihrer Neuregelung, hg. vom Internationalen Arbeitskreis für Orthographie, Tübingen 1992. Fleischer,  Wolfgang: Strukturelle Untersuchungen zur Geschichte des Neuhochdeutschen, Berlin 1966 (=  Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse 112,6). Herberg, Dieter (Hg.): Dokumente zu den Bemühungen um eine Reform der deutschen Orthographie in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR von 1945 bis 1973, Hildesheim 2006 (= Documenta Orthographica, Abt. B 11). Hillinger, Sabine / Nerius, Dieter: Die Geschichte der Reformbemühungen von 1965 bis 1990 in der DDR, in: Augst,  Gerhard u. a. (Hg.): Zur

Zur Geschichte der Schriftlinguistik in der Germanistik der DDR

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Neuregelung der deutschen Orthographie. Begründung und Kritik, Tübingen 1997 (= Reihe Germanistische Linguistik 179), S. 15–24. Nerius, Dieter (Hg.): Deutsche Orthographie, 4., neu bearb. Aufl., Hildesheim 2007. Nerius,  Dieter / Scharnhorst,  Jürgen (Hg.): Theoretische Probleme der deutschen Orthographie, Berlin 1980 (=  Reihe Sprache und Gesellschaft 16). Nerius,  Dieter / Scharnhorst,  Jürgen (Hg.): Studien zur Geschichte der deutschen Orthographie, Hildesheim 1992 (= Germanistische Linguistik 108/109). Sprachwissenschaftliche Probleme einer Reform der deutschen Orthographie, Bd. 1–2, hg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR. Zentralinstitut für Sprachwissenschaft, Berlin 1975 (= Linguistische Studien, Reihe A 23–24). Sprachwissenschaftliche Untersuchungen zu einer Reform der Orthographie, hg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR. Zentralinstitut für Sprachwissenschaft, Berlin 1981 (Linguistische Studien, Reihe A 83,1–2). Vachek,  Josef: Zum Problem der geschriebenen Sprache, in: Travaux du Cercle Linguistique de Prague 8 (1939), S.  94–104. Nachdruck in: Scharnhorst, Jürgen / Ising, Erika (Hg.): Grundlagen der Sprachkultur. Beiträge der Prager Linguistik zur Sprachtheorie und Sprachpflege, Teil 1, Berlin 1976 (= Reihe Sprache und Gesellschaft 8,1), S. 229–239. Vachek, Josef: Two Chapters on Written English, in: Brno Studies in English 1 (1959), S. 7–38. Vachek, Josef: Zu allgemeinen Fragen der Rechtschreibung und der geschriebenen Norm der Sprache, in: Stilistik und Soziolinguistik. Beiträge der Prager Schule zur strukturellen Sprachbetrachtung und Spracherziehung. Zusammengestellt von Eduard Beneš und Josef Vachek, Berlin 1971 (= Berichte und Untersuchungen aus der Arbeitsgemeinschaft für Linguistik und für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur, Serie A Berichte 1), S. 102–122. Vachek, Josef: Written Language. General Problems and Problems of English. The Hague / Paris 1973. Übers. in: Scharnhorst, Jürgen / Ising, Erika (Hg.): Grundlagen der Sprachkultur. Beiträge der Prager Linguistik zur Sprachtheorie und Sprachpflege, Teil 1, Berlin 1976 (= Reihe Sprache und Gesellschaft 8,1), S. 240–295.

Ulla Fix

Stilistik als Forschungs- und Lehrgegenstand an den Hochschulen der DDR 1. Stilforschung in der DDR – ein Überblick Wenn man sich mit der Sprachwissenschaft in der DDR und ihrer Rolle an den Universitäten und Hochschulen dieses Staates auseinandersetzen will, kommt man an der Stilistik nicht vorbei. Anders als in der Bundesrepublik war sie immer zentraler Gegenstand der universitären Ausbildung. An der Karl-Marx-Universität Leipzig z. B. hatte jeder Studierende im Lauf seines Studiums fünf bis sechs Semesterwochenstunden im Fach Stilistik zu absolvieren. Er hatte außerdem im Laufe des Studiums auf diesem Gebiet zwei große Klausuren zu schreiben und zwei umfangreiche Analysen sowie drei selbst produzierte Sachtexte vorzulegen. Diese Opulenz finden wir heute nicht mehr. Das hat studienpraktische einsehbare Gründe. Allerdings wäre eine solche – durchaus praxisbezogene Ausbildung – angesichts der Berufsaussichten der Studierenden auch heute noch sehr nützlich. Alle Studierenden müssten lernen, Texte – vor allem Sachtexte – zu verstehen, begründet zu beurteilen und selbst zu schreiben. Auf diesen Nenner ließe sich bringen, was damals – zusätzlich zum Umgang mit literarischen Texten – vermittelt wurde. Der Bedeutung der Stilistik für die Lehre entsprach ihr Stellenwert in der Forschung an den Universitäten und Pädagogischen Hochschulen, nicht aber an der „Akademie der Wissenschaften“. Über die Positiva dieses Lehr- und Forschungsgebietes wie über die Negativa, die sich v. a. in der zeitweise starken ideologischen Ausrichtung zeigten, soll berichtet werden.

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1.1 Stilfragen in der Wörterbucharbeit Der sehr knappe Überblick beginnt in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts.1 Möglicherweise überrascht es, wenn als erste Etappe der Stilforschung die Wörterbucharbeit genannt wird. Gerade auf diesem Gebiet aber gab es in diesen Jahren2 eine lebhafte Diskussion, die Stilistisches betraf, nämlich die Problematisierung der stilistischen Kennzeichnung der Wörterbucheinträge. Die Auseinandersetzung wurde eingeleitet durch die Mitherausgeberin des „Wörterbuchs der deutschen Gegenwartssprache“3 Ruth Klappenbach, Schülerin und Kollegin des Ethnologen und Sprachwissenschaftlers Wolfgang Steinitz. Sie legte 1960 einen Vorschlag für die Angaben zu Stilschichten und Stilfärbungen in diesem Wörterbuch vor.4 Alle 100.000 Wörter des Wörterbuchs wurden nach diesem Vorschlag stilistisch überprüft und der ins Wörterbuch aufgenommene Wortschatz auf diese Weise als stilistisches Gefüge umfassend charakterisiert. Schon hier zeigte sich in der Praxis, was später zum Thema theoretischer Erörterungen werden sollte, das Problem nämlich, Stil als Erscheinung des Systems (Stilgrammatik) und gleichzeitig als Phänomen der Verwendung dieses Systems (Stilgebrauch) zu betrachten. Jürgen Scharnhorst (1964, 1974) führte die theoretische Diskussion fort und differenzierte das Raster der Markierungen unter den Aspekten von stilistischer Bedeutung, funktionsbedingter Verwendungsbeschränkung und kontextualer Stilfärbung.5 Diese Überlegungen wurden von Klaus-Dieter Ludwig (u. a. 1982, 1995) mit dem Blick auf die Wörterbucharbeit weitergeführt in dem Bemühen, die Stilangaben zu objektivieren, d. h. ihren theoretischen Status zu klären, z. B. in Hinsicht auf Stilfärbung, Konnotation, Emotionalität, Expressivität und Wertung.6 Der Begriff der Konnotation wird später zu einem Schlüsselbegriff der Arbeit am Stil poetischer Texte bei Gotthard Lerchner (s.u.). Erhard Agricola setzte in seinem viel benutzten Verknüpfungswörterbuch „Wörter und Wendungen“ (1962) das Bemühen um die stilistische Markierung von Wörterbucheintragungen fort und hat damit sicher das Stilempfinden der Benutzer über Jahrzehnte nachhaltig geprägt. Henrik Becker, Leiter des „Instituts für Sprachpflege und Wortforschung“ an der Universität Jena, legte von 1964 bis 1966 in 13 Lieferungen das im Auftrag des Staatssekretärs für das Hochschulwesen erarbeitete „Stil-Wörterbuch“ vor, das – aus meiner Sicht heute schwer nachvollziehbar – ohne bemerkenswerte Wirkung 1 2 3 4 5 6

Ich beziehe mich hier v. a. auf Fix, Stilforschung. Gleichsam in der Nachfolge Adelungs. Vgl. Dückert, Bedeutungsdarstellung. Erste Doppellieferung 1961. Klappenbach, Gliederung des deutschen Wortschatzes. Scharnhorst, Die stilistische Gliederung; Scharnhorst, Stilfärbung. Ludwig, Angaben in Wörterbucheintragungen; Ludwig, Stilkennzeichnungen.

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blieb. Es wäre interessant, auf dem heutigen Stand von Formulierungs- und Schreibtheorien die Leistung dieses „Wortfindebuchs“ (so die Benutzungshinweise) zu überprüfen und die Anregungen, die in der Anlage des Buches liegen, wieder aufzugreifen. 900 Stichwörter, auf 13.000 Seiten behandelt, dienen als so genanntes „Ausgangswort zu Wanderwegen durch den Wortschatz“ (s. Benutzungshinweise).7 D. h. sie führen zu Bedeutungsvarianten, Ableitungen, Zusammensetzungen und Wendungen, die mit dem jeweiligen Wort gebildet wurden, und könnten im Formulierungsprozess eine große Hilfe sein. Auf der metasprachlichen Ebene finden wir um diese Zeit das 1970 in erster Auflage erschienene „Kleine Wörterbuch der Stilkunde“ der Journalisten ausbildenden Leipziger Autoren Siegfried Krahl und Josef Kurz, das von eigenem, immer wieder anerkanntem Wert war und teilweise noch ist. 1977 erschien das in der studentischen Ausbildung viel verwendete „Wörterbuch stilistischer Termini“ von Wolfgang Spiewok. Dass im Hochschulunterricht auch der 1934 erschienene „Deutsche Wortschatz nach Sachgruppen“ des Leipziger Altphilologen Franz Dornseiff im Sinne der Vermittlung von Differenzierungsfähigkeit eine Rolle spielte, sei nur erwähnt. Insgesamt war dies eine produktive und vielversprechende Entwicklung, die in Wörterbüchern ihre Früchte getragen hat.

1.2 Traditionen praktischer Stillehren Stilratgeber gab es nicht wenige; entweder – der seltenere Fall – waren sie dazu gedacht, dem Bürger die Teilnahme am öffentlichen Diskurs zu ermöglichen (Georg Möller „Praktische Stillehre“ 1968, Rosemarie Jackstel „Besser sprechen“ 1970, Werner Hirte „Besser schreiben“ 1978) oder aber sein Reden und Schreiben in die gewünschten, ideologisch bestimmten „Formulierungsbahnen“ zu lenken (Dieter Faulseit / Gudrun Kühn, „Die Sprache des Arbeiters im Klassenkampf“ 1974). Zwei Beispiele sollen die Tendenzen zeigen. 1961 veröffentlichten Faulseit und Kühn unter dem Titel „Stilistische Mittel und Möglichkeiten der deutschen Sprache“ eine gelungene Sammlung vom Stilbeispielen aus der schönen Literatur mit gut nachvollziehbaren stilistischen Kommentaren. Ihr Ziel war, Sprachgefühl durch Vorbilder zu schulen. Wenige Jahre darauf, 1974, erschien ihr dem 25. Jahrestag der DDR gewidmetes Buch „Die Sprache des Arbeiters im Klassenkampf“. Die Wahl des Themas, der Bezug auf die „marxistisch-leninistische Sprachkunde“ zeigen einen anderen Zugang: Sie wechseln vom Standpunkt des vorurteilslosen Beobachters zum ideologischen Bewerten der öffentli7

Becker, Stil-Wörterbuch, Bd.1, S. X.

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chen Sprache und kommen zu Urteilen, die man nicht mehr ernst nehmen kann: „Die Profitgier der Bourgeoisie findet ihren Niederschlag in der Sprache: sie verseucht die Sprache mit ihrem nackten Profitdenken.“8 Auf viele andere an Laien gerichtete sprachkulturelle Arbeiten9, die ebenfalls Beachtung verdient hätten, kann hier nicht eingegangen werden. Eine Persönlichkeit jedoch, die immer schon über die Grenzen der DDR hinaus gewirkt hat, muss genannt werden, nämlich Georg Möller.10 Ihm ist es gelungen, die Darbietung von Wissen über Stil, auf einer eigenen Stilauffassung beruhend, für den Laien völlig verständlich, sach- und anwendungsbezogen, wertfrei und vorurteilslos zu vermitteln. Er stellt den selbsternannten, ohne argumentative Grundlage vorgehenden Stilautoritäten wie z. B. Ludwig Reiners eine in sich schlüssige Darstellung von Stil und Sprachgebrauch entgegen, die sich in Auffassungen der Kommunikationstheorie einbettet, ohne dem Laien die Theorie selbst zuzumuten. Erkenntnisse der Kommunikationslinguistik vorwegnehmend, baute er auf eigenen Erfahrungen aus dem sprachlichen Alltag eine kommunikativ-pragmatische Textund Stilauffassung auf und vermittelte eine Anleitung zum Schreiben, die den Benutzer befähigt, in Kommunikationszusammenhängen zu denken und entsprechend situations- und adressatenbezogen zu formulieren, ohne dass dieser sich belehrt fühlt. Auf das Gesamtschaffen Möllers kann hier nicht eingegangen werden. Es verdiente nicht allein eine Würdigung, sondern es wäre auch für die aktuelle Sprachkulturdiskussion aufschlussreich, das theoretische Gedankengerüst seiner Arbeiten „herauszupräparieren“.11

1.3 Stilistik als Forschungsgegenstand Den wichtigsten Teil meiner Ausführungen muss natürlich die Stilistik im Sinne der Stiltheorie bilden. In Erörterungen wissenschaftstheoretischer und wissenschaftsprogrammatischer Art (z. B. Neumann u. a. 1976) spielte die Stilistik eine geringe Rolle, am „Zentralinstitut für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften“ hatte sie – abgesehen von Diskussionen zur Sprachkultur – gar keine Bedeutung. Ganz im Gegensatz dazu entwickelte sie sich aber innerhalb der Universitäten und Hochschulen (Schwerpunkte Leipzig und Potsdam, auch Greifswald und Erfurt) zu einer wichtigen Grö8 9 10 11

Faulseit/Kühn, Sprache des Arbeiters, S. 19. Vgl. z. B. Geier/Huth/Wittich, Verständlich schreiben. Vgl. Nickisch, Gutes Deutsch? Dem im Schuldienst oft wegen seiner unkonventionellem Auffassungen und Methoden Reglementierten wurde im März 1992 die Ehrendoktorwürde der damaligen Pädagogischen Hochschule Erfurt und Mühlhausen verliehen.

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ße (s.u.). Dass man sich wissenschaftstheoretisch nicht interessierte, mag daran liegen, dass die Stilistik grundlagentheoretisch nie von Bedeutung zu sein schien. Für die Theoretiker war und ist sie wohl – nach ihrer idealistischen „Herkunft“ (z. B. Leo Spitzer 1961) bewertet – ein suspektes Fach, zwischen Literatur und Sprachwissenschaft changierend. Sie nahmen nicht zur Kenntnis, dass sich die Stilistik zu einem pragmalinguistisch orientierten Fach entwickelt hatte. Wissenschaftspolitisch war sie uninteressant, weil nicht prekär, zumindest ab 1970, seit sich die Vertreter der Stilistik auf der „VII. Arbeitstagung der germanistischen Linguistik“ in Erfurt dezidiert zu einer marxistisch-leninistischen Basis bekannt hatten. Ein Abdriften zu ‚bürgerlichen Einflüssen‘ war nicht mehr zu befürchten, was bei einem zu individueller Sicht herausfordernden Gegenstand, wie es der Stil ist, sonst dem üblichen ideologischen Standpunkt nahe gelegen hätte. Seit Ende der sechziger Jahre hatte sich die Funktionalstilistik als Theorie und Lehrgegenstand in der Sprachwissenschaft der DDR durchzusetzen begonnen, v. a. in der germanistischen Linguistik. Anregungen der in Moskau lehrenden Stilforscherin Elise Riesel (indirekt: der ‚Prager Schule‘) wurden aufgenommen und in ein schlüssiges Konzept gebracht, das heute noch für relevant gehalten wird – zunehmend in der Soziolinguistik12 und Textlinguistik13, aber auch nach wie vor in der Stilistik. Die Funktionalstilistik ging und geht davon aus, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Außersprachlichem (Tätigkeitsbereichen, Kommunikationssituationen, gesellschaftlich relevanten Aufgaben) und sprachlichen Gebrauchsweisen (typischen Verwendungsweisen von sprachlichen Ausdrucksweisen des Systems). Nach der Art der außersprachlichen Gegebenheiten unterscheidet man verschiedene typische Funktionalstile (s.u.). Diese Auffassung versteht sich als eine Sprachvorstellung, die auf Funktionieren und Wirksamkeit hin orientiert ist und damit den Begriff der Funktion (‚Prager Schule‘) als ausdrücklich gesellschaftsbezogen betrachtet. Parallel zu dieser zentralen Richtung der Stilforschung wurden in dieser Zeit aber auch theoretisch und methodologisch anders angelegte wichtige Arbeiten vorgelegt, die aus verschiedenen Gründen nicht schulbildend wirkten. In der allgemeinen Sprachwissenschaft schrieb Anita Steube, Leipzig, 1967 eine Arbeit zum Thema „Gradation der Grammatikalität und stilistische Adäquatheit (dargestellt an moderner deutscher Prosa)“, die mit Mitteln der Generativen Transformationsgrammatik detaillierte Analysen vorstellte. Diese weithin (über die Grenzen der DDR hinaus) bekannte Arbeit blieb für die Entwicklung der Stilistik in der DDR, jedenfalls für die (ministeriell bestimmten) Studienpläne, ohne Folgen. Der Grund: Die wissenschaftspolitische Entwicklung um die siebziger Jahre war gekennzeichnet 12 13

Vgl. Löffler, Soziolinguistik. Vgl. Adamzik, Textlinguistik.

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von einer „Strukturalismusdebatte und -kritik“, die sich gegen den Strukturalismus als westliche Philosophie schlechthin und gegen seine Anwendung als Methode wandte.14 Sicher auch deshalb, weil in einer strukturalistischen Sprachbetrachtung der Schwerpunkt von den ideologisch eher interessanten Wortinhalten zu den ideologisch unergiebig scheinenden Strukturen verlagert wurde. So war jede strukturalistische Arbeit ideologisch verdächtig. Auswirkungen auf die Lehrinhalte durfte eine solche Auffassung auf keinen Fall haben. In den Übersetzungswissenschaften entwickelte sich in dieser Zeit ebenfalls ein bemerkenswerter Ansatz. Heide Schmidt, Leipzig, legte eine Dissertation zum Thema „Textinhalt, Stil und Übersetzung“ vor. Sie entwickelte darin schon 1973 das moderne Konzept einer kommunikativ-pragmatischen Stilistik mit semiotisch begründeten Schlüssen für die Übersetzungstheorie. Dass diese tatsächlich innovative Arbeit nicht über die Übersetzungswissenschaft hinaus gewirkt hat, wozu sie geeignet gewesen wäre, kann eine Folge der Dritten Hochschulreform (1968/69) gewesen sein, die in Leipzig mit der Trennung der Fremdsprachenlinguistiken von der germanistischen Linguistik die endgültige Isolierung der Sprachwissenschaften mit sich brachte. Wenn aber eine Arbeit zur Stilistik öffentliches Interesse hätte finden sollen, wäre dies am ehesten über das „Zentrum der Stilistik“ möglich gewesen, das damals die Leipziger Germanistik gemeinsam mit der Potsdamer Germanistik bildete. Die Anglistin Rosemarie Gläser veröffentlichte 1966 die Übersetzung der 1960 in Leningrad erschienenen Stilistik der englischen Sprache von Marianna Davidovna Kuznec und Jurij Maksimoviÿ Skrebnev und führte so funktionalstilistische Überlegungen für das Englische in die Forschung ein. Sie erweiterte den Blickwinkel um Stile und Textsorten des Englischen und um Stiltheorien des englischen Sprachraums. So wies sie auf den in der englischen Linguistik beheimateten Registerbegriff hin. Darüber hinaus richtete sie sehr früh schon den Blick auf den Stil fachgebundener Kommunikation und hat mit ihren Untersuchungen zu Fachtextstilen (1979) gegenwärtigen Entwicklungen Einiges voraus genommen. In den achtziger Jahren entwickeln sich in der Germanistik der DDR kommunikativ-pragmatische Stilauffassungen. Wohl für alle Vertreter dieser Richtung (Firle 1990, Fix 1990, Hoffmann 1987 u. a.)15 waren die Arbeiten von Gotthard Lerchner (1980, 1981, 1984)16 von entscheidender Bedeutung, auch die aus den siebziger Jahren stammenden semiotisch ori14 15 16

Vgl. in diesem Band den Beitrag von Heinz Vater, Flucht nach dem Mauerbau; er berichtet auch von der Schließung der „Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik“ 1973. Firle, Stil in Kommunikation; Fix (Hg.), Beiträge zur Stiltheorie; Hoffmann, Die Kategorie Stilzug. Lerchner, Individualstil; Lerchner, Stilistisches und Stil; Lerchner, Sprachform von Dichtung.

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entierten Arbeiten von Wolfgang Spiewok (1972)17 zum Stil in der Grenzzone von Sprach- und Literaturwissenschaft. Lerchner vertrat ein kommunikations- und zeichenbezogenes Verständnis von Stil. Einerseits ist seine Theorie mit ihrem tätigkeitsorientierten Ansatz der pragmatischen Stilistik Sandigs (1978, 1986)18 vergleichbar, in der Stil als Handeln betrachtet wird. Andererseits ist sie aber eigenständig, da sie von einem semiotischen Ansatz ausgeht und sich anders als Sandig auf literarische Texte konzentriert. Mit Bezug auf die in beiden Teilen Deutschlands rezipierten sowjetischen Psycholinguisten Aleksej Nikolajevic und Aleksej Aleksejevic Leont’ev (1975, 1984)19, fasst Lerchner Stil als Teil menschlicher Sprachtätigkeit in der Relation von Produktion und Rezeption auf; mit Bezug auf Lotman (1981)20 wird Stil als an den Zeichenbegriff gebundene kommunizierbare Information betrachtet. Stil hat also semiotische Qualität. In Lerchners Arbeiten wird deutlich, wie ergiebig die Untersuchung sprachkünstlerischer Kommunikation als ‚zugespitzter‘, aber doch repräsentativer Fall sprachlicher Kommunikation an sich für einen differenzierten Stilbegriff sein kann. Interessant ist – um zu resümieren –, dass in den siebziger Jahren nebeneinander eine pragmatische Stilistik (Sandig) in der Bundesrepublik, eine funktionale (Fleischer, Michel) und eine kommunikations- und zeichenbezogene (Lerchner) Stilistik in der DDR entstehen. Deutlich spiegeln sie alle die pragmatische Wende wider: die Sandigsche Stilistik mit dem Ansatz der Sprechakttheorie, die Funktionalstilistik von Fleischer und Michel mit dem funktionalen Ansatz der Prager Schule, vermittelt über Riesel, und die Lerchnersche mit dem tätigkeitsbezogenen Ansatz Leont’evs und dem semiotischen der ‚Tartuer Schule‘ (Lotman). Auf die beiden letzteren gehe ich nun etwas genauer ein.

2. Funktionalstilistik und Pragmatisch-semiotische Stilistik Die Funktionalstilistik der DDR baute auf der Theorie der funktionalen Stile auf, wie sie unter dem Einfluss des Funktionsbegriffs der Prager Schule in den dreißiger Jahren entwickelt wurde. Noch enger als zur Prager Linguistik war die Beziehung zu der in den fünfziger Jahren von Riesel entwickelten sowjetischen Variante der Funktionalstilistik (1964, 1974, 1975).21 17 18 19 20 21

Spiewok, Zur ästhetischen Funktion Sandig, Sprachpragmatische Grundlegung; Sandig, Stilistik der deutschen Sprache. Leont’ev, A. A., Psycholinguistische Einheiten; Leont’ev, A. N., Der allgemeine Tätigkeitsbegriff. Lotmann, Kunst als Sprache. Riesel, Alltagsrede; Riesel, Theorie und Praxis der linguostilistischen Textinterpretation;

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Neben den von den Pragern stammenden Ansatz der Funktion und neben die praxisorientierte, empirisch starke Rieselsche Variante der Funktionalstilistik tritt die sich auch theoretisch verstehende und ebenfalls stilpraktisch orientierte Funktionalstilistik der DDR. Eine moderne Stilauffassung, die einen völlig neuen tätigkeitsorientierten Blickwinkel eröffnet, vergleichbar eben mit der etwa zur gleichen Zeit veröffentlichten pragmatischen Stilistik Sandigs. Mit dem außersprachlichen Bezug rückt das Typische und Normative in den Vordergrund. Das machte die Funktionalstilistik aus der Sicht ihrer Vertreter fasslich und lehrbar. Mit der zentralen Kategorie der Angemessenheit und mit dem Selbstverständnis als didaktische Stilistik (Lehrbarkeit von Stil) werden Beziehungen zur Rhetorik deutlich. Der Ansatz der Funktionalstilistik ist (s. o.), dass es beim Formulieren einen korrelativen Zusammenhang gibt zwischen außersprachlichen Bedingungen und sprachlichen Gebrauchsweisen. Je nachdem, in welchem Tätigkeitsbereich man formuliert, werden die Anforderungen an den Stil der Texte anders sein, jeweils aber sind sie auf Typisches ausgerichtet. Nach der Art der Korrelationen unterscheidet die Funktionalstilistik die Funktionalstile Alltagsverkehr, Amtsverkehr, Wissenschaft, Journalismus und Belletristik, weiter untergliedert in Substile. Das Typische zeigt sich in den dominierenden Stilzügen. Gemeint sind den ganzen Text durchziehende charakteristische Züge, die für den Tätigkeitsbereich stehen, indem man agiert: z. B. eindeutig, sachlich, klar, abstrakt, unpersönlich für den Stil der Wissenschaft. Das Innovative der Funktionalstilistik von Fleischer und Michel (1975)22 – vor dem Hintergrund damals noch gängiger hermeneutischer, interpretativer, idealistischer Stilauffassungen – besteht in den folgenden Punkten: –



– –

22

Die Funktionalstilistik bezieht Stil ausdrücklich auf den Text. Der Schritt von der Stilgrammatik zur Textstilistik ist damit getan. Nun ist das ganzheitliche Erfassen des Stils eines Textes möglich. Stil wird auch für nichtkünstlerische Texte angenommen. Das Textrepertoire erweitert sich damit beträchtlich. Andere Fragestellungen werden wichtig, nicht nur Abweichung, sondern auch Normatives ist im Blick. Kommunikative Gegebenheiten, z. B. die Kommunikationssituation, werden berücksichtigt, d. h. der Rahmen des Textes wird gesprengt. Die Betrachtung von Stil wird objektiviert. Vorgaben für die Stilanalyse und (in Grenzen) für die Stilproduktion werden gegeben. Riesel/Schendels, Deutsche Stilistik. Zu Riesel vgl. dem Beitrag von Natalja Troshina in diesem Band. Fleicher/Michel, Stilistik der deutschen Gegenwartssprache.

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An dieser Auffassung sind folgende Punkte problematisch: –

Die Überbetonung des Normativen bringt ein gewisses Vernachlässigen des Individuellen mit sich. Die Berücksichtigung des Individuellen war im Kontext einer entdifferenzierten Gesellschaft, wie sie als Folge des Einparteiensystems entstanden war, auch kein offiziell angestrebtes Ziel.



Das Wechselspiel zwischen Norm und Freiheit im Sprachgebrauch kommt nicht zur Sprache. Literarische Texte sind auf diesem Weg schwer, möglicherweise gar nicht zu erfassen. Die fünf Funktionalstile, mit denen gearbeitet wurde, sind zu grobmaschig. Eine Ausdifferenzierung in Substile und Textsorten wird zwar schon als Lösung gesehen, aber nicht konsequent ausgearbeitet. Mit dem Erscheinen des Standardwerkes von Fleischer und Michel im Jahr 1975 findet eine ideologische Einbettung statt, die das Ganze vereinseitigt.23

– –



In der Lehre war die Ideologisierung insofern zu spüren, als der Blick auf andere Stilauffassungen ausdrücklich versperrt wurde; denn die Funktionalstilistik erhob als einzige Stiltheorie, die auf der Basis der so genannten marxistisch-leninistischen Sprachwissenschaft arbeitete, tatsächlich einen Führungsanspruch. Alle anderen Stilauffassungen des 20. Jahrhunderts wurden, zum Teil aus Sachgründen, letztlich aber immer aus ideologischen Gründen zurückgewiesen. Es sollte der Eindruck vermittelt werden, dass es nur eine ‚richtige‘ Theorie von einer Sache geben und dass dies nur die marxistischleninistische Theorie von den Funktionalstilen sein könne. So heißt es zu Beginn dieses Buches: Die Prinzipien des Marxismus-Leninismus bilden das theoretisch-methodologische Fundament für die an der Erforschung der Sprachverwendung beteiligten Disziplinen, und damit unterscheidet sich die marxistisch-leninistische Stilistik prinzipiell von den bürgerlichen Forschungen zum Stilphänomen. Bei allen Erfolgen in der Klärung von Detailfragen und bei aller Raffinesse in ‚pragmatischen‘ Fragen des Sprachgebrauchs ist die bürgerliche Stilistik letztlich außerstande, die Erscheinungen und Gesetzmäßigkeiten der Sprachnutzung in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang zu erklären und für den sozialen Fortschritt wissenschaftlich beherrschbar und praxiswirksam zu machen.24

Später im letzten Kapitel steht der Absatz: Die politisch-ideologische Funktion der Bewertungskriterien muss ausgewiesen und die Grundlage und Normen der Stilkritik müssen wissenschaftlich begründet sein. Werturteile über die Qualität und Zweckmäßigkeit des sprachlichen Aus23 24

Vgl. die Rezension von Stolt, Stilistik. Fleischer/Michel, Stilistik der deutschen Gegenwartssprache, S. 14.

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drucks in einem Referat, Geschäftsbrief oder Schüleraufsatz sind – abgesehen vom Spielraum individueller Varianten – Ausdruck gesellschaftlicher Ansprüche und Beziehungen. Es gibt keinen ‚guten‘ Stil an sich. Die Art und Weise des Sprachgebrauchs ist durch die sozialen, klassenbestimmten Anschauungen und Auffassungen bedingt. Was guter Stil ist, ist folglich auch eine ideologische Frage.25

Dies – veröffentlicht in einem Hochschullehrbuch – musste über viele Jahrgänge hinweg das Theorieverständnis der Studenten einengen. Es steht ganz im Gegensatz zu dem Bild, das den Studenten der sechziger Jahre noch vermittelt wurde (S. 3.). Wenn man auch – mindestens seit den achtziger Jahren – in der Forschung über die Grenzen der DDR und der Funktionalstilistik hinaus blicken und sich z. B. mit Erkenntnissen der pragmatischen Stilistik Sandigs auseinandersetzen konnte, so blieb dies in der Lehre noch längere Zeit aus. Der funktionale Ansatz wird in den achtziger Jahren aufgenommen in ein Konzept der funktional-kommunikativen Sprachbeschreibung, wie es an den Pädagogischen Hochschulen der DDR vertreten wurde (z. B. Michel 1985, vgl. Siehr/Ehrhardt/Berner 1997).26 Es wurden, gestützt auf die Leont’evsche Tätigkeitstheorie (1975, 1984), Kommunikationsaufgaben, -absichten, -pläne und Kommunikationsverfahren nach kommunikativen und funktionalen Merkmalen beschrieben. Das steht in thematischer Nähe zu den textuellen Grundfunktionen, wie sie in der westdeutschen Textlinguistik z. B. Brinker beschrieben hat, und ist teilweise in der Auffächerung der Verfahren differenzierter. In dem speziell für die Aufgaben der Schule entwickelten Konzept der kommunikativen Sprachbeschreibung traten Fragen des Stils allerdings zurück. Das wirkte sich in der Mitte der achtziger Jahre auch auf die universitäre Lehre aus. Dennoch bleibt die Funktionalstilistik im Blick und Michel bestätigt 1985 den funktionalen Ansatz, übt allerdings Kritik an der Grobheit der Differenzierung und weist folgerichtig auf die Möglichkeit hin, Textsortenstile einzubeziehen und die Stilistik als Teil der Textlinguistik zu betrachten. Von der kritischen Wertung anderer Stilauffassungen, die „das Wesen des Stils reduktionistisch aus der Sprache selbst heraus bestimmen“27, weicht er nicht ab. 1993 erschien eine neue Stilistik von Fleischer, Michel und Starke, die den Textansatz dezidiert einbezog und in vieler Hinsicht die Grenzen der Funktionalstilistik überwunden hat. In den achtziger Jahren rücken dann die kommunikativ-pragmatischen und semiotischen Arbeiten Lerchners ins Blickfeld (s. o.) und nehmen auch in der Lehre einen gewissen Platz ein. Lerchner erprobte in Zusammen-

25 26 27

Ebd., S. 350. Michel, Grundfragen der Kommunikationsbefähigung; Siehr/Ehrhardt/Berner (Hg.), Funktionale Sprachbeschreibung. Michel, Position, S. 44.

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arbeit mit dem Literaturwissenschaftler Hans-Georg Werner (1975)28 die Möglichkeiten, linguistische und literaturwissenschaftliche Methoden bei der Analyse literarischer Texte zusammenzuführen. Aus seinen theoretischen Prämissen, pragmatisch-semiotisch bestimmt, leitete er eine Reihe produktiver Folgerungen ab. Zu ihnen gehört die Installation der Kategorie konnotative Textpotenz: Gemeint ist, dass ganze Texte Konnotationen (Mitbedeutungen) haben können, die durch ihre textinternen und textexternen Gegebenheiten hervorgebracht werden und eine zweite Bedeutungsebene des Textes, also ein Sinnangebot über dessen Form bilden. Das war von aktueller Bedeutung; denn das rezeptionsästhetische Problem der Interpretation bzw. der Sinnherstellung war – in der Praxis der Textanalyse und -interpretation – für den Schüler und Lehrer in der DDR neu. Die Schule vermittelte, gelenkt durch die staatlich vorgegebenen Unterrichtshilfen für den Lehrer, den Eindruck, es gäbe nur eine, vom Autor gewollte und vom Lehrer zu vertretende Verstehensweise literarischer Texte, die ideologisch zu begründen war. Mit der Kategorie der konnotativen Textpotenz, mit dem Gedanken an Sinnerzeugung und Lesartenangebot, ermöglicht durch die Form von Texten, war der Gedanke, es gäbe eine einzige und eben einzig richtige Lesart eines Textes auch durch die Stiltheorie ad absurdum geführt. Eine andere wichtige Folgerung: Indem Lerchner Tätigkeit und damit auch Rezeption und Wirkung hervorhob, erhielt der Rezipient, d. h. das Individuum, einen Stellenwert, den es bisher in der Stilistik der DDR nicht hatte. Als Reaktion auf die unbefriedigende Behandlung des Individualstils entwickelte Lerchner seine Auffassung vom Persönlichkeitsstil, z. T. auch sprachhistorisch begründet: Eine Handlung sei immer Einzelnes als individualisierende Organisation der Aussage, sowohl bei der Umsetzung objektiver, von außen gegebener Bedingungen als auch subjektiver Faktoren. Folgerichtig galt Lerchners Hauptinteresse künstlerischen Texten, ihrer Poetizität und Ästhetizität. Es war gewiss von Signalwirkung, dass Lerchner das Individuelle so deutlich ins Spiel gebracht hat. Er hatte damit ein Tabu gebrochen; denn die Persönlichkeit – auch wenn von ‚allseitig entwickelter sozialistischer Persönlichkeit‘ immer die Rede war –, spielte generell und auch in der Wissenschaft vom Stil, wo sie von Haus aus einen angestammten Platz hat, keine Rolle. Lerchners Gedanken wurden aufgenommen und weiter entwickelt von Firle, Hoffmann und Fix (s. o.).

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Lerchner/Werner, Probleme der semantischen Analyse.

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3. Die Stilistik im Hochschulunterricht der DDR Manches von dem, was nun vorgestellt wird, betrifft tatsächlich die gesamte DDR, einiges stammt aus den Erfahrungen, die ich als Lehrende in Leipzig und als Mitglied einer Forschungsgruppe in Halle gemacht habe. Selbstverständlich wird nicht der Anspruch erhoben, einen vollständigen Überblick zu geben. Der Einstieg ist eine Erinnerung an mein eigenes Studium: In den sechziger Jahren vollzog sich in Leipzig (und sicher ähnlich auch an den anderen Hochschulen der DDR) ein Wandel, den ich mit zunehmendem zeitlichem Abstand zu den Ereignissen für immer bemerkenswerter halte. Es fand in der Lehre eine – jedenfalls aus der Sicht der damaligen Studentin – ‚unaufgeregte‘, umfassende und, wie ich aus dem Rückblick meine, gelungene Umstellung von einem rein sprachhistorischen Studium auf die Vermittlung von Gegenwartssprache (auch schon unter pragmatischem Aspekt) statt, natürlich bei Reduktion der Sprachgeschichte, die aber im Vergleich zu heutigen Angeboten immer noch gut repräsentiert war. Ich gehe davon aus, dass diese Umstrukturierung sowohl dem doktrinären staatlichen, gegen die Geschichtsbetrachtung gerichteten Eingriff zugeschrieben werden muss wie auch einem über Deutschland hinausgehenden Paradigmenwechsel in der Sprachwissenschaft.29 Die Studierenden erhielten ein volles Pflichtprogramm angeboten, das jeder in seiner Gänze zu absolvieren hatte: Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, Schulgrammatik, Syntax, Lexikologie, Wortbildung, Phonologie, strukturalistische Grammatik, generative Semantik, auch, wenn man es wünschte, Gotisch und Namenkunde. Obligatorisches Fach war auch die Stilistik, ja sie war in der Lehre sogar ein besonders hervorgehobener Gegenstand, weil man Stilistik (als Textstilistik) nur betreiben kann, so war die Auffassung, wenn man alle anderen Disziplinen durchgearbeitet hat. Nun musste man beweisen, dass man morphologische, syntaktische, lexikalische und andere Kenntnisse anwenden konnte. Im Wintersemester 1968 z. B. bot Wolfgang Fleischer ein Spezialseminar an, in dem z. B. die Stilsemiotiker Thomas Albert Sebeok, Stephen Ullmann, Walter Alfred Koch, die Strukturalisten Michael Riffaterre, Roman Jakobson, Nils Erik Enkvist, der Stilstatistiker Werner Winter und auch traditionelle Autoren wie Emmy Kerkhoff und Wilhelm Schneider gelesen wurden. Hinzu kamen zur Literaturwissenschaft tendierende oder ganz dahin gehörende Autoren wie Leo Spitzer, Wolfgang Kayser, Fritz Martini, Herbert Seidler. Später – mit dem Erscheinen der Funktionalstilistik von Fleischer und Michel 1975 – konzentrierte sich der akademische Unterricht allerdings auf die Funktionalstilistik und die genannten Autoren wurden nicht nur zurückgedrängt, sondern teilweise auch ideologisch verurteilt (s. o.). Dass ich 29

Vgl. dazu den Beitrag von Jürgen Scharnhorst in diesem Band.

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die ideologische Prägung des Faches für eine bedauerliche Entwicklung halte, will ich noch einmal deutlich sagen. Die Reduktion auf einen einzigen Denkansatz, auch wenn er – wie die Funktionalstilistik – durchaus produktiv ist, kann nie richtig sein. Ich stelle diesen Verlust in Rechnung, kann aber für die praktische Vermittlung der Funktionalstilistik in der Lehre sagen, dass sie sicher in der Mehrheit der Fälle ohne Ideologisierung vor sich ging. Wer wollte, konnte im Lehrangebot im Fach „Sprachliche Kommunikation und Stilistik“ theoretisches Wissen und vor allem praktische Erfahrungen gewinnen, die für die Produktions-, Rezeptions- und Analysefähigkeit fundamental waren. Das abschließend vorgestellte Studienprogramm (Privatarchiv) vermittelt einen Einblick in Struktur und Anliegen der Ausbildung in Stiltheorie und Stilpraxis in der Leipziger Sprachwissenschaft:

Lehrgebiet Sprachliche Kommunikation und Stilistik – Plan für Lehramtsstudenten aus dem Studienjahr 1987/88: Stundenverteilung: 5. Sem.: 1 Stunde Vorlesung, 2 Stunden Seminar 6. Sem.: 1 Stunde Seminar, anschließend 14-tägiges Praktikum 8. Sem.: 1 Stunde Seminar Schwerpunkte: Theorie: Grundwissen über Kommunikation und Stil, Ansätze der Stilforschung, Mittel und Methoden, Angemessenheit als Grundgedanken verstehen, Zusammenhang von Stilistik und Muttersprachunterricht, Verständnis für die Spezifik künstlerischer Texte. Praxis: Befähigung zu Rezeption, Analyse und Bewertung, Befähigung zur Produktion angemessener Texte, Methoden der Stilanalyse beherrschen, Fähigkeit zum integrativen Herangehen, bewusste Einstellung zur Sprachkultur. Seminar im 5. Semester: Das in der Vorlesung vermittelte stiltheoretische Wissen soll auf nichtkünstlerische Texte angewendet werden. Schwerpunkt: Textproduktion. Was muss man leisten, wenn man einen Text herstellt? Die Studenten schreiben drei Arbeiten: ein Resümee, eine Rezension und eine Beurteilung (Gutachten).

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Seminar im 6. Semester: Das in der Vorlesung vermittelte stiltheoretische Wissen wird auf künstlerische Texte angewendet. Was muss man leisten, wenn man einen Text rezipiert? Was muss man können, wenn man ihn analysiert? Hinzu kommt die Vermittlung von Tropen und Figuren. Die selbständige Analyse eines literarischen Textes wird verlangt. Eine Klausur zu Tropen und Figuren wird geschrieben. Nach dem 6. Semester „Interdisziplinäres Praktikum“: 1. Woche, 2 Stunden Vorlesung, 16 Stunden Seminar 2. Woche Anfertigung einer schriftlichen Hausarbeit. Seminare werden von Literaturwissenschaftlern und Linguisten gemeinsam geführt. Die Studenten sollen auf die Schulpraxis vorbereitet werden: sprachliche Analyse und literarische Interpretation. 8. Semester: Komplexe Textanalyse Als Vorbereitung für die Abschlussprüfung werden stilistische wie auch andere linguistische Kenntnisse bei der Analyse von zwei bis drei umfassenden Texten wiederholt. Verschiedene Schwerpunkte möglich: Verständlichkeit, Wirksamkeit, Angemessenheit, Textsortengerechtheit, Sprachkultur. Es folgt die Abschlussklausur.

Literaturverzeichnis Adamzik, Kirsten: Textlinguistik. Eine einführende Darstellung, Tübingen 2004 (= Germanistische Arbeitshefte 40). Agricola, Erhard (Hg.): Wörter und Wendungen. Wörterbuch zum deutschen Sprachgebrauch, Leipzig 1962. Becker, Henrik: Stil-Wörterbuch, verfaßt in einem Forschungsauftrag des Staatssekretariats für das Hoch- und Fachschulwesen der Deutschen Demokratischen Republik von den Germanisten des Instituts für Sprachpflege und Wortforschung der Friedrich-Schiller-Universität Jena, geleitet von Henrik Becker unter Mitarbeit von Richard Rothe, Bd. 1–2, Leipzig 1964–1966. Dornseiff, Franz: Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen, Berlin / Leipzig 1934.

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Dückert, Joachim: Zur Bedeutungsdarstellung in Adelungs Wörterbuch, in: Bahner, Werner (Hg.): Sprache und Kulturentwicklung im Blickfeld der deutschen Spätaufklärung. Der Beitrag Johann Christoph Adelungs, Berlin 1984 (= Abhandlungen der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, philologisch-historische Klasse 70,4), S. 224–232 Faulseit, Dieter / Kühn, Gudrun: Stilistische Mittel und Möglichkeiten der deutschen Sprache, Halle 1961 (= Beiträge zur Gegenwartsliteratur 19). Faulseit, Dieter / Kühn, Gudrun: Die Sprache des Arbeiters im Klassenkampf, Berlin 1974. Firle, Marga: Stil in Kommunikation, Sprachkommunikation und poetischer Kommunikation, in: Fix, Ulla (Hg.): Beiträge zur Stiltheorie, Leipzig 1990 (= Linguistische Studien), S. 19–45. Fix, Ulla (Hg.): Beiträge zur Stiltheorie, Leipzig 1990 (= Linguistische Studien). Fix, Ulla: Stilforschung und Stillehre in der DDR, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 26,1 (1994), S. 88–102. Fix, Ulla: Die Sprache in der DDR und in der „alten“ Bundesrepublik aus der Perspektive der DDR-Linguistik – Oder: Wie sie sprechen sollten, in: Antos, Gerd / Fix, Ulla / Kühn, Ingrid (Hg.): Deutsche Sprach- und Kommunikationserfahrungen zehn Jahre nach der „Wende“, Frankfurt/ Main / Berlin / Bern 2001 (= Weimarer Beiträge zur deutschen Sprache und Kultur 2), S. 81–10. Fleischer, Wolfgang: Grundfragen der Stilklassifikation unter funktionalem Aspekt, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der PH Erfurt / Mühlhausen GSR 7 (1970), S. 23–28. Fleischer, Wolfgang / Michel, Georg: Stilistik der deutschen Gegenwartssprache, Leipzig 1975. Fleischer, Wolfgang / Michel, Georg / Starke, Günter: Stilistik der deutschen Gegenwartssprache, Frankfurt/Main u. a. 1993. Geier, Ruth / Huth, Hella / Wittich, Ursula: Verständlich und wirksam schreiben, Leipzig 1982. Gläser, Rosmarie: Fachstile des Englischen, Leipzig 1979 (= Linguistische Studien). Greule, Albrecht / Ahlvers-Liebel, Elisabeth: Germanistische Sprachpflege. Geschichte, Praxis und Zielsetzung, Darmstadt 1986 (= Germanistische Einführungen). Hirthe, Werner: Besser schreiben. Eine Stilkunde für jedermann, 5. erw. Aufl., Leipzig / Jena / Berlin 1978.

Stilistik als Forschungs- und Lehrgegenstand an den Hochschulen der DDR

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Lerchner, Gotthard: Sprachform von Dichtung. Linguistische Untersuchung zu Funktion und Wirkung literarischer Texte, Berlin / Weimar 1984 (Dokumentation, Essayistik, Literaturwissenschaft). Löffler, Heinrich: Germanistische Soziolinguistik, 3. überarb. Aufl., Berlin 2005 (= Grundlagen der Germanistik 28). Lotmann, Jurij Mikhailovich: Kunst als Sprache. Untersuchungen zum Zeichencharakter von Literatur und Kunst, Leipzig 1981 (= Reclams Universal-Bibliothek 905). Ludwig, Klaus-Dieter: Zu normativen, konnotativen und stilistischen Angaben in Wörterbucheintragungen, in: Agricola, Erhard / Schild, Joachim / Viehweger, Dieter (Hg.): Wortschatzforschung heute. Aktuelle Probleme der Lexikologie und Lexikographie, Leipzig 1982 (= Linguistische Studien), S. 166–184. Ludwig, Klaus-Dieter: Stilkennzeichnungen und Stilbewertungen in deutschen Wörterbüchern der Gegenwart, in: Stickel, Gerhard (Hg.): Stilfragen, Berlin / New York 1995 (= Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache), S. 280–302. Michel, Georg: Zum Stilbegriff in der neueren Linguistik, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der PH Erfurt / Mühlhausen GSR 7 (1970), S. 17–33. Michel, Georg: Grundfragen der Kommunikationsbefähigung, Leipzig 1985. Michel, Georg: Positionen und Entwicklungstendenzen der Sprachstilistik in der DDR, in: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 16,55 (1985), S. 42–53. Möller, Georg: Praktische Stillehre, Leipzig 1968. Möller, Georg: Die stilistische Entscheidung. Formulierungshilfen für die Praxis, Leipzig 1978. Möller, Georg: Warum formuliert man so? Formulierungsantriebe in der Sachprosa, Leipzig 1983. Neumann, Werner: Theoretische Probleme der Sprachwissenschaft, Bd. 1–2, Berlin 1976 (= Sprache und Gesellschaft 9). Nickisch, Reinhard M. G.: Gutes Deutsch? Kritische Studien zu den maßgeblichen Stillehren der deutschen Gegenwartssprache, Göttingen 1975 (= Sammlung Vandenhoeck). Riesel, Elise: Der Stil der deutschen Alltagsrede, Moskau 1964 (= Biblioteka filologa). Riesel, Elise: Theorie und Praxis der linguostilistischen Textinterpretation, Moskau 1974 (= Biblioteka filologa). Riesel, Elise / Schendels, Eugenie: Deutsche Stilistik, Moskau 1975.

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Sandig, Barbara: Stilistik. Sprachpragmatische Grundlegung der Stilbeschreibung, Berlin / New York 1978 (= De-Gruyter-Studienbuch). Sandig, Barbara: Stilistik der deutschen Sprache, Berlin / New York 1986 (= Sammlung Göschen 2229). Scharnhorst, Jürgen: Die stilistische Gliederung des deutschen Wortschatzes, in: Sprachpflege 13,4 (1964), S. 65–72. Scharnhorst, Jürgen: Stilfärbung, Stilwert und Stilschicht, in: Sprachpflege 23,1 (1974), S. 1–7; 23,4 (1974), S. 75–82. Schmidt, Heide: Textinhalt, Stil und Übersetzung, Diss. Masch., Leipzig 1973. Siehr, Karl-Heinz / Ehrhardt, Horst / Berner, Elisabeth (Hg.): Funktionale Sprachbeschreibung in der DDR zwischen 1960 und 1990. Beiträge zur Bilanz und Kritik der „Potsdamer Richtung“, Frankfurt/Main u. a. 1997 (= Sprache – System und Tätigkeit 21). Spiewok, Wolfgang: Zur ästhetischen Funktion der Sprache, in: Weimarer Beiträge 18,4 (1972), S. 90–115. Spiewok, Wolfgang: Wörterbuch stilistischer Termini, Greifswald 1977. Spitzer, Leo: Stilstudien. Erster und zweiter Teil, 2. Aufl., München 1961. Steube, Anita: Gradation der Grammatikalität und stilistische Adäquatheit (dargestellt an moderner deutscher Poesie), Diss. Masch., Leipzig 1966. Stolt, Birgit, Marxistisch-leninistische Stilistik, in: Moderna Sprak 2 (1977), S. 129–139.

Natalja Troshina

Funktionalstilistik von Elise Riesel als Voraussetzung zur Entstehung des gesamtdeutschen Stilforschungsraums Ein Blick aus Moskau

Bei wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten zur Geschichte der Sprachwissenschaft rücken vor allem Theorien ins Blickfeld, die den Problemkreis eines Wissensbereiches auf bestimmten Etappen der Forschungsgeschichte geprägt haben oder deren heuristisches Potential die Weiterentwicklung eines Wissensbereiches wesentlich mitbestimmt hat oder deren wichtigste theoretische Leitsätze in der Forschungspraxis erfolgreich realisiert werden konnten. Diesen drei Kriterien entspricht die Funktionalstilistik von Elise Riesel, der bedeutendsten österreichisch-russischen Stilforscherin, deren Geburtstag sich am 12. Oktober 2006 zum 100. Male gejährt hat. Anlässlich dieses würdigen Jubiläums hat die Moskauer Staatliche Linguistische Universität – einst die Maurice-Thorez-Hochschule für Fremdsprachen –, in deren Wänden Elise Riesel als Professorin für deutsche Stilistik mehrere Jahrzehnte tätig war, eine internationale Konferenz veranstaltet und einen Jubiläumsband herausgegeben.1 Die intensive Einbezogenheit von Elise Riesel in den internationalen Stilforschungsraum war durch ihre persönlichen Lebensumstände wesentlich vorbedingt. Diese Lebensumstände sowie die hohe wissenschaftliche Autorität der Jubilarin haben sie zu einer ‚Brückenperson‘ zwischen Ost und West im Forschungsbereich Stilistik und somit zur Mitgestalterin der germanistischen Stilistik des 20. Jhs. gemacht. Sie war gebürtige Wienerin, studierte Klassische Philologie und Germanistik an der Wiener Universität zu der Zeit, in der dort in der deutschen Literaturgeschichte unter Berücksichtigung von Stilfragen intensiv 1

Ljubimova/Fadeeva, Nachlass.

Funktionalstilistik von Elise Riesel

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geforscht wurde. Einen großen Beitrag zur Germanistik haben die Professoren der Neugermanistik aus der Schule Jakob Minors (Robert F. Arnold, Eduard Castle, Walther Brecht) geleistet. So hat Arnold die Studierenden in die wissenschaftliche Behandlung grammatischer, stilistischer, metrischer und literarhistorischer Fragen aus dem Gebiete der älteren und neueren deutschen Sprache und Literatur2 eingeführt. Die literaturwissenschaftlichen Forschungen von Brecht führten zu einer neuen Betrachtungsweise von Sprachkunstwerken, ja zu „eine[m] geistesgeschichtlichen Perspektivenwechsel, der zumal für die Wiener Germanistik einschneidend war“3: Es wurde primär die innere Struktur z. B. einer Gedichtsammlung untersucht, und erst danach beschäftigte man sich mit dem Dichter: Nur an der behutsamen Betrachtung des Werkes selbst können die eigentlichen poetischen Wesenszüge gewonnen werden, und das Werk ist und bleibt die Hauptsache, worauf es ankommt, denn des Werkes wegen beschäftigen wir uns mit dem Dichter.4

Es waren aber nicht nur die neugermanistischen Forschungen, die die wissenschaftlichen Interessen von Elise Riesel geprägt haben: Eine nicht weniger wichtige Rolle hat die Idealistische Neuphilologie in der Romanistik gespielt. Emil Winkler, der 1928–1935 als Professor für Romanistik an der Wiener Universität tätig war, gehörte dieser Forschungsrichtung an.5 Die Bezeichnung Idealistische Neuphilologie und die aus ihr hervorgegangene Neubegründung der Stilistik geht auf den Titel einer Festschrift6 zurück, die die Schüler von Karl Vossler, Begründer dieser Richtung, zum 50. Geburtstag ihres Lehrers veröffentlicht haben. Die Prinzipien der Idealistischen Neuphilologie konstituierten „ein Programm für eine ästhetische Reform der positivistisch geprägten Sprachwissenschaft, in dem der Stilistik eine leitende Rolle zugedacht war.“7 Diese Rolle der Stilistik ist mit Fragen verbunden, die auch heute noch nicht ausdiskutiert sind. Heidi Aschenberg zählt folgende nach wie vor problematische Aspekte auf: das systematische Verhältnis von Sprach- und Literaturwissenschaft; Motivierung und Begründung sprachwissenschaftlicher Textanalyse; Legitimität psychologischer Literaturinterpretationen; Auslegung des Methodenbegriffs in Hinblick auf die Analyse literarischer Werke.8

2 3 4 5 6 7 8

Wiesinger/Steinbach, 150 Jahre. Ebd., S. 161. Brecht, Conrad Ferdinand Meyer, S. X. Winkler, Kunstwerk; Winkler, Grundlegung. Klemperer, Neuphilologie. Aschenberg, Philologie, S. 2. Ebd., S. 1.

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Einer der bedeutendsten Vertreter der Idealistischen Neuphilologie war Leo Spitzer9, ebenfalls gebürtiger Wiener und ehemaliger Student der Wiener Universität. Er unterrichtete zwar an dieser Universität nicht (er war Professor an den Universitäten Bonn, Marburg, Köln und Baltimore), hatte aber ständigen Kontakt mit Emil Winkler, so dass durch diesen die Stilauffassungen Leo Spitzers die Studenten in Wien erreichten. Spitzer hat mit seinen Stilforschungen den Versuch unternommen, Sprach- und Literaturwissenschaft in der sprachwissenschaftlichen Analyse literarischer Texte einander anzunähern und damit eine Brücke zwischen diesen beiden lange Zeit getrennten Disziplinen zu schlagen. Für eine enge Zusammenarbeit der Sprach- und Literaturwissenschaftler hat sich später auch Elise Riesel intensiv eingesetzt. Zu der Zeit, in der Riesel in Wien studierte, promovierte (1930) und dann als Schullehrerin arbeitete, entfaltete der Prager Linguistenkreis seine Tätigkeit. Seine berühmten Thesen10 wurden „in Vorbereitung auf den ersten Internationalen Slawistenkongress, der im Oktober 1929 in Prag stattfand, von einer Kommission des Prager Linguistenkreises verfasst.“ „Sie wurden den Teilnehmern des Kongresses als gedrucktes Material in tschechischer Sprache überreicht.“11 Riesel fand vor allem zwei Thesen besonders interessant: Die Auffassung der Sprache als ein funktionales System. Als Produkt der menschlichen Tätigkeit ist die Sprache wie jene zielgerichtet. Untersucht man die Sprache als Ausdrucksfähigkeit oder Kommunikation, so ist es die Absicht des Sprechers, sich möglichst deutlich, leicht und natürlich auszudrücken. Deshalb muß man den funktionalen Gesichtspunkt bei der linguistischen Analyse berücksichtigen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Sprache ein System von Ausdrucksmitteln, die auf ein bestimmtes Ziel gerichtet sind. Kein sprachliches Faktum ist ohne Berücksichtigung des Systems, zu dem es gehört, zu verstehen.12 [D]ie Beziehung zwischen den Sprechern, die sich in sprachlichem Kontakt befinden: Der Grad ihrer sozialen, beruflichen, territorialen und verwandtschaftlichen Bindung, weiter ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen Gemeinschaften, die eine Vermischung sprachlicher Systeme in den Stadtsprachen bewirken. […] Es ist notwendig […] den tiefen wechselseitigen Einflüssen dieser verschiedenen sprachlichen Gebilde Aufmerksamkeit zu schenken, und zwar nicht nur unter territorialem Gesichtspunkt, sondern auch unter dem der verschiedenen Funktionalsprachen, dem der verschiedenen sprachlichen Erscheinungsweisen und dem der Sprachen verschiedener Gruppen und Gemeinschaften.13 9 10 11 12 13

Spitzer, Wortbildung. Thèses, S. 5–29. Vgl. den Kommentar der Herausgeber Scharnhorst und Ising zu der deutschen Übersetzung in: Thesen, S. 43. Ebd. Ebd., S. 53.

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Diese für den Prager Strukturalismus charakteristische Betrachtung der Sprachprobleme und Probleme der Sprachkultur in Bezug auf ihre soziokulturelle Einbettung wurde später für Elise Riesels Forschungen maßgebend. Für den wissenschaftlichen Werdegang von Riesel war bedeutungsvoll, dass sie 1934 nach Moskau kam, in das Land, dessen Vertreter aktiv am Prager Linguistenkreis mitgewirkt, ja ihn sogar mitbegründet haben (Roman O. Jakobson, Nikolaj S. Trubetzkoj, Boris V. Tomaševskij, Jurij N. Tynjanov). Gewiss hat es in Moskau anfangs sprachliche Schwierigkeiten gegeben, die von Riesel aber allmählich überwunden wurden, so dass sie für ihre wissenschaftlichen Forschungen zuerst in Sverdlovsk (ab 1941) und dann in Moskau (ab 1943) die Publikationen von Grigorij O. Vinokur, Vladimir J. Propp, Viktor M. Žirmunskij, Boris V. Tomaševskij, Viktor V. Vinogradov, Viktor B. Šklovskij auf Russisch lesen konnte. Die aufgezählten Namen benennen ‚russische Formalisten‘ – Moskauer und Petersburger Literaturund Sprachforscher, die sich vor allem mit der Struktur der literarischen Texte befassten und Verfahren untersuchten, mit denen diese Texte erzeugt werden. Die Publikationen von diesen Philologen wurden im Westen erst später bekannt: 1958 erschien auf Englisch Propps Buch „Morphologie des Märchens“14 und in den siebziger Jahren die Textsammlung „Russischer Formalismus: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa“15 sowie die Bücher von Viktor Erlich16 und Aage A. Hansen-Löve17. Das Interesse der russischen Formalisten galt aber nicht nur den literarischen Texten, sondern auch den soziolinguistischen Fragen (das wird oft übersehen), was zur Schaffung von Grundlagen für die Soziolinguistik führte. Für Riesel waren folgende Grundsätze der russischsprachigen Linguistik von Bedeutung: 1.) Die Sprachfunktion ist der wichtigste Aspekt der linguistischen Untersuchungen (Grigorij O. Vinokur18 und Viktor M. Žirmunskij19, vgl. dazu auch Leonid P. Krysin20). 2.) Die Stilistik der schönen Literatur schlägt eine Brücke zur Literaturwissenschaft, Poetik und Ästhetik (Viktor V. Vinogradov21) – ein Standpunkt, der mit den Forschungen der Wiener Philologen korrelierte. 14 15 16 17 18 19 20 21

Propp, Morphology. Striedter, Formalismus. Erlich, Formalismus. Hansen-Löve, Formalismus. Vinokur, Kul’tura jazyka [Sprachkultur]. Žirmunskij, Obščeje i germanskoje jazykoznanije [Allgemeine und germanistische Sprachwissenschaft]. Krysin, Voprosy sociologii jazyka v rabotah G. O. Vinokura [Fragen der Sprachsoziologie in den Werken von G. O. Vinokur], S. 206–211. Vinogradov, O jazyke hudožestvennyh proizvedenij [Über die Sprache der Kunstwerke]; Vi-

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3.) Bei der Analyse eines Sprachkunstwerks sind sprachliche Anforderungen der literarischen Gattungen zu beachten.22 4.) „Damit die Sprachwissenschaft ihrem Forschungsobjekt adäquat sein kann, muss sie eine soziologische Wissenschaft sein.“ (Evgenij D. Polivanov23) Die Koordination von Textforschung und Soziolinguistik wurde später in der funktionalstilistischen Theorie von Elise Riesel zu einem geschlossenen Stilmodel entwickelt, das durch die Publikationen in deutscher Sprache (in der SU und in der DDR) im ganzen deutschsprachigen Raum bekannt wurde. Zeitlich fiel das in die fünfziger bis sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. In den fünfziger Jahren hat sich in der sowjetischen Sprachwissenschaft die Diskussion über die Probleme der Stilistik24 entfaltet. Dabei wurde diskutiert: 1.) über den Begriff Stil im Verhältnis zu den Begriffen langue und parole; 2.) ob es ein stilistisches Subsystem im Sprachsystem gibt (Grigorij O. Vinokur hat seiner Zeit den Sprachgebrauch als eine „Gesamtheit von stilistischen Systemen“ definiert25); 3.) wonach Sprachstile unterschieden werden können. Dabei wurde die funktionsgerechte Verwendungsweise der Sprachmittel mehrmals mit dem Bezug auf Riesels Buch „Abriss der deutschen Stilistik“26 betont. Herbert Seidler27 hat zwei grundsätzliche Tendenzen benannt, von denen Sprachforschungen im 20. Jh. insgesamt geprägt waren: 1.) die große Ausweitung des Beobachtungsfeldes: Während früher vor allem die Sprache literarischer Denkmäler Forschungsgebiet war, wurde jetzt die Sprache in allen Erscheinungsweisen und gesellschaftlichen Schattierungen untersucht. Damit hat Seidler also den Standpunkt von Elise Riesel anerkannt, dass jeder Text (nicht nur der eines Sprachkunstwerks) einen Stil hat.

22 23

24 25

26 27

nogradov, Stilistika. Teorija poètičeskoj reči. Poètika [Stilistik. Theorie der Dichtungssprache. Poetik]. Ebd. Polivanov, Krug očerednyh problem sovremennoj lingvistiki [Aktueller Problemkreis der modernen Linguistik], zitiert nach: Polivanov; Evgenij D.: Stat’i po obščemu jazykoznaniju [Aufsätze zur allgemeinen Sprachwissenschaft], S. 182. Vinogradov, Itogi obsuždenija voprosov stilistiki [Ergebnisse der Stildiskussion], S. 61. Vinokur, O zadačah istorii jayzka [Über die Aufgaben der Sprachgeschichte], zitiert nach: Berezin, Istorija sovetskogo jazykoznanija. Nekotoryje aspekty teorii jazyka. Hrestomatija [Geschichte der sowjetischen Sprachwissenschaft. Einige Aspekte der allgemeinen Sprachwissenschaft. Chrestomatie], S. 450. Riesel, Abriss. Seidler, Stil, S. 205.

Funktionalstilistik von Elise Riesel

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2.) die Einengung auf der methodischen Ebene: Erkenntniswert wurde nur solchen Aussagen zugesprochen, die sich formalisieren lassen und festlegbar sind. Für Stilforschungen bedeutete das, dass erstens die ästhetische Stilistik zurückgedrängt wurde, dass zweitens Stilphänomene, die sich kaum formalisieren ließen, aus dem Beobachtungsfeld ausgeklammert wurden, und dass drittens Stil unter gesellschaftlich offensichtlich relevanten (soziolinguistischen, pragmalinguistischen, rhetorischen, spracherzieherischen) Aspekten untersucht wurde. Diese neue Gesamtorientierung der stilistischen Forschungen entsprach den Bemühungen Riesels um die Integrierung von Strukturalismus und Funktionalismus in die Theorie des Sprachstils. Der rein strukturalistische Ansatz war ihr schon immer zu eng, brachte aber Ordnung in das Bild von stilistischen Möglichkeiten der deutschen Sprache, das sie als Professorin für deutsche Stilistik den Studenten vermittelte. Sie verstand es sehr gut, linguistische Theorie und praktischen Fremdsprachenunterricht zu verbinden und den Studierenden eine Art Instrument zu geben, das ihnen zeigte, wie man mit dem zu bewältigenden Lernmaterial umgehen soll, damit die erworbenen Fremdsprachenkenntnisse gut, nämlich funktionsgerecht, strukturiert werden. Deshalb wurde die Sonderveröffentlichung der Zeitschrift „Sprachpflege“ „Aus der Werkstatt für stilkundliche Wortschatzarbeit“28 von den Studenten mit Begeisterung aufgenommen. Das war die angewandte Linguistik in ihrer prägnantesten Form. Durch vielseitige Übungen ließ Riesel ihre Studenten in stilistische Eigenheiten und dadurch in Fügungsmöglichkeiten deutscher Wörter und Wendungen hineinfühlen. Ich kann als ihre ehemalige Studentin (wir waren stolz auf den Namen „Rieselkinder“!) bezeugen, dass das Stilgefühl im Fremdsprachenunterricht bis zu einem gewissen Grade gelehrt und erlernt werden kann. Die in dieser Publikation dargelegte Vorgehensweise gründet auf der Unterscheidung von zwei Arten der stilistischen Bedeutung: erstens die absolute (paradigmatische) Bedeutung des Stils, die mit der Stilfärbung der isolierten sprachlichen Einheit im Sprachsystem zusammenfällt und aus funktionalen, normativen und expressiven Komponenten besteht. Die absolute stilistische Bedeutung ist „eine Eigenheit des Sprachsystems selbst.“29 Zweitens die kontextuelle (syntagmatische) Bedeutung des Stils, d. h. der stilistischen Bedeutung der sprachlichen Einheit im Redeganzen.30

28 29 30

Riesel, Werkstatt. Riesel, Stilistik. Vgl. dazu Riesel/Schendels, Stilistik.

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Die Methodik der stilkundlichen Wortschatzarbeit wird von Elise Riesel folgenderweise formuliert: Bei der stilkundlichen Wortschatzarbeit müssen wir ein und dieselbe lexikalische Einheit bald im Kontext, bald im System der Sprache betrachten. Aus dem Sinnzusammenhang abstrahieren wir ihre absolute Charakteristik, um gleich darauf das Ergebnis wieder an neuen und womöglich an zahlreichen neuen Textbeispielen zu überprüfen. Das Schema der Wortschatzarbeit ließe sich etwa so darstellen: Wort im Kontext ĺ absolute Charakteristik des Wortes ĺ neue Textproben.31

Diese Unterscheidung wird heute im modularen kognitiven Ansatz32 bei der Erforschung der Sprache als Kenntnissystem relevant, denn die absolute Stilfärbung gehört neben den anderen Merkmalen zum Inhalt eines Konzepts als „elementarer Einheit unserer strukturellen Kognition“.33 „Das sprachliche System ist aber auch ein funktionales System, das sowohl durch ein Kognitionssystem als auch durch die dazugehörigen Realisierungsmechanismen realisiert wird.“34 Diese Mechanismen sind durch ein weiteres mentales Gebilde bedingt – durch den Wissensrahmen Stil, zu dem Barbara Sandig schreibt: „Durch die Rekonstruktion dieses Wissensrahmens unter dem Gesichtspunkt der Funktion wird versucht, das Wissen der Benutzer über Stil zu erfassen und für die Stilistik zu nutzen.“35 Riesel gab auch als Lehrerin ihr Bestes, den Studenten das Wissen über den Stil des Deutschen als Fremdsprache zu vermitteln und damit den studentischen Wissensrahmen vom Stil der deutschen Sprache auszubilden. Heute besteht dieses funktionalstilistische Modell der Sprachverwendung und Sprachforschung neben dem diskursiven Modell. Diese Modelle korrespondieren miteinander, und das Bindeglied zwischen ihnen ist die Textsorte als „globale[s] sprachliche[s] Muster zur Bewältigung von spezifischen kommunikativen Aufgaben in bestimmten Situationen“.36 Im Unterschied zum Begriff Funktionalstil ist der Diskurs-Begriff nicht so direkt an bestimmte Kommunikationsbereiche gebunden. Diskursive Textsorten können aus einem funktionalen Stil in den anderen, aus einem Diskurs in den anderen ‚hinüberwandern‘, z. B. kann die Textsorte Gebrauchsanweisung im Bereich der Presse, der Werbung, der Alltagsrede verwendet werden. Das führt zur teilweisen Überlagerung von den Peripherien der funktionalen Stile, von denen jeder sein Zentrum hat. Es ist Jürgen Scharnhorst vollkommen zuzustimmen, dass funktionale Stile ihre Zentren und Peripherien 31 32 33 34 35 36

Riesel, Werkstatt, S. 4. Schwarz, Einführung. Ebd., S. 84. Ebd., S. 46. Sandig, Textstilistik, S. 8 Fix/Poethe/Yos, Textlinguistik, S. 220

Funktionalstilistik von Elise Riesel

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haben, was durch Haupt- und Nebenfunktionen dieser Stile bedingt ist.37 Dieses Begriffspaar ist aus der Wortfeldtheorie bekannt, wo es eine strukturelle Unterscheidung sprachlicher Phänomene leistet; dagegen beschreibt es in der funktionalen Stilistik kommunikativ-pragmatische Differenzen. Da viele Probleme der Funktionalstilistik heute noch diskutiert werden und keine endgültige Lösung gefunden haben, stellt Michael Hoffmann die Frage: Ist Funktionalstilistik heute vielleicht zu einem „Stolperstein“ geworden?38 Aus diesem hochinteressanten Aufsatz ist ersichtlich, wie viel die Stilforscher noch zu klären haben und wie heuristisch wertvoll manche „Stolpersteine“ sind, da sie heute im gesamtdeutschen Forschungsraum zu wichtigen Diskussionen anregen. In dem neuen Buch von Hans-Werner Eroms „Stil und Stilistik“39 ist der Funktionalstilistik ein ganzes Kapitel gewidmet, in dem der große Beitrag von Elise Riesel zur Stiltheorie gewürdigt wird. Es war nie das Ziel von Riesel, eine ideologisch fundierte Stiltheorie aufzubauen: Es ging ihr um die Theorie einer funktionsgerechten und wirkungsvollen Verwendungsweise der Sprache (um die Stilistik unter soziolinguistischem und pragmatischem Aspekt). Die Funktionalstilistik ist ein Erkenntnismodell und ein Forschungsinstrument zugleich, das in jedem soziokulturellen und politischen Kontext anwendbar ist. Deshalb war die Funktionalstilistik eine Vorwegnahme der pragmatischen Wende, die den Forschungsschwerpunkt auf die stilistische Angemessenheit und Wirkung der Texte verlegt hat. Und das ist bei jeder Gesellschaftsordnung aktuell. Die DDR-Stilforschung stand unter einem sehr starken Einfluss der Forschungsbeiträge von Riesel. Und kein einziges Stilistikbuch, das in den sechziger bis achtziger Jahren im Westen erschienen ist, umging die funktionalstilistische Fragestellung. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Stiltheorie von Riesel wichtige Voraussetzungen für die Bildung eines gesamtdeutschen Stilforschungsraumes geschaffen hat. Seit den achtziger Jahren verlief die Stilforschung im Osten (in der DDR und UdSSR) und im Westen parallel. Das beweist, dass fruchtbare Konzeptionen den wissenschaftlichen Raum über die ideologischen Grenzen sowie über die Staatsgrenzen hinaus prägen.

37 38 39

Scharnhorst, Wesen, S. 312. Hoffmann, Stolpersteine. Eroms, Stil.

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Natalja Troshina

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Christina Janz

Germanistische Soziolinguistik in der DDR Ein forschungsgeschichtlicher Abriss

Als Beginn einer Soziolinguistik in der DDR könnten die „Thesen zur marxistischen Soziolinguistik“1 angesehen werden, die 1970 von den Leipziger Sprachwissenschaftlern Rudolf Große und Albrecht Neubert formuliert wurden. Aber das würde den Blickwinkel zu sehr auf Leipzig einschränken. Ohne Zweifel ist Leipzig mit dem „Leipziger Linguistischen Arbeitskreis“ ein wichtiges Zentrum der soziolinguistischen Forschungen gewesen. Allerdings sind Entstehung und Etablierung dieser linguistischen Disziplin an mehrere Arbeitsgruppen und an Einzelforscher gebunden. Die Autoren der Thesen brachten zugleich verschiedene philologische Zugänge ein, sie kamen aus der Anglistik, Germanistik, Romanistik und aus der Slawistik. Dabei werden Traditionen aus der Dialektologie in der Germanistik deutlich, was insbesondere für die Wissenschaftsgeschichte relevant ist und im Folgenden berücksichtigt werden soll. Ein Zeitraum von etwa 28 Jahren ist in der Geschichte einer Wissenschaftsdisziplin gut überschaubar, weil er relativ kurz und demnach auf den ersten Blick einfach zu charakterisieren ist. Manfred Uesseler hatte 1982 unter wissenschaftsgeschichtlichem Aspekt Aussagen zur Soziolinguistik in der DDR getroffen, die allerdings sehr einseitig, zu stark verallgemeinernd und deshalb bereits damals zu Recht heftig kritisiert worden sind.2 Im Jahre 1983 hat Helmut Schönfeld in der „Zeitschrift für Germanistik“ die Soziolinguistik in der DDR wissenschaftsgeschichtlich dargestellt.3 Damit wird gleichzeitig das zweite wichtige Zentrum der Soziolinguistik genannt, nämlich die Forschergruppe an der „Akademie der Wissenschaften“ (AdW). 1 2 3

Große/Neubert, Thesen zur marxistischen Soziolinguistik, S.  3–15, und Große/Neubert, Thesen zur marxistisch-leninistische Soziolinguistik, S. 9–24. Uesseler, Soziolinguistik. Schönfeld, Soziolinguistik.

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Zwischen beiden Zentren gab es regelmäßigen Austausch und zeitweise durch Doppelmitgliedschaft einzelner Personen direkten Kontakt.4 Da die Soziolinguistik in der DDR durchaus andere Themen behandelte, als sie in der damaligen Bundesrepublik diskutiert wurden, und Fragestellungen nachging, die ebenfalls andersartig waren, weil die wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Umstände in beiden Systemen, aber auch die Wissenschaftstraditionen, verschieden waren, soll zunächst die Sicht auf den Gegenstand dieser linguistischen Disziplin verdeutlicht werden.

1. Gegenstand der Soziolinguistik Eine allgemein akzeptierte Definition der Soziolinguistik gibt es bis heute nicht. In den meisten Arbeiten jener Zeit wird einer engeren Gegenstandsbestimmung der Soziolinguistik der Vorzug gegeben: Die „Heterogenität der Sprache, also die Entstehung der sprachlichen Varietäten und Varianten, deren Beschreibung sowie ihre Verwendung in der Kommunikation und die determinierenden sozialstrukturellen Bedingungen“,5 werden in der DDRSoziolinguistik als Gegenstände benannt. Damit hat Schönfeld hinreichend klar beschrieben, wo die Traditionslinien und die theoretischen Ausgangspunkte zu finden sind. Die sprachwissenschaftliche Richtung, die sich speziell mit dem Verhältnis von Sprache und Gesellschaft beschäftigte, wurde bis zum Ende der sechziger Jahre als Sprachsoziologie bezeichnet – und das nicht nur in der DDR. Mit der Fokussierung auf den Tätigkeitsbegriff setzte sich nach 1970 die Bezeichnung Soziolinguistik allmählich durch. Theoretische Ansätze zu soziolinguistischen Kategorien und Begriffen und wesentliche Traditionslinien sind in den beiden genannten Zentren der Forschung, Leipzig und Berlin, entwickelt worden. Außerdem gab es einzelne Projekte, die sich auf diese theoretischen Konzepte beziehen, zum Beispiel an den Universitäten in Rostock, Greifswald und in Halle/Wittenberg oder auch an der Pädagogischen Hochschule Potsdam.6 Um das Verständnis für die Andersartigkeit der Geschichte der Disziplin an den genannten Orten in der DDR gegenüber der damaligen Bundesrepublik zu erleichtern und für die in der Folge andere Kategorien- und 4

5 6

1983 habe ich in meiner Diplomarbeit zur Wissenschaftsgeschichte der Soziolinguistik in der DDR einzelne Fragestellungen und damit Forschergruppen vorgestellt (vgl. Janz, Aufarbeitung). Schönfeld, Soziolinguistik, S. 213. Helmut Langner war Anfang der siebziger an der PH Potsdam tätig und hat hier diese Ansätze verfolgt.

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Begriffsbildung, sind einige Fakten, aber auch Aussagen von Zeitzeugen, aufzuführen: Nach 1945 bis in die sechziger Jahre hinein gab es in der DDR an den Hochschulen de facto die Wissenschaftsdisziplin Soziologie nicht. Soziologie wurde als ‚bürgerliche‘ Wissenschaft7 etikettiert und in den sechziger Jahren an fast allen Hochschulen als Fachgebiet in die Sektionen Philosophie integriert. Nur in Berlin, an der Humboldt-Universität, an den Universitäten in Halle/Wittenberg und in Leipzig gab es ein Fachstudium „Diplomsoziologie“ mit einer geringen Zahl an Studierenden. Fünfzehn bis zwanzig Studenten wurden, teilweise im Wechsel jedes zweite Studienjahr, immatrikuliert. In der Forschung wurden sehr spezielle Fragestellungen, z. B. in der Medizin, in der Landwirtschaft und in der Jugendforschung an den drei Universitäten bearbeitet, sodass sich nach 1982 noch weniger Studenten immatrikulieren ließen. Ende der siebziger Jahre war die Situation im Studium der Diplomgermanistik sehr ähnlich. An den Universitäten Rostock und Jena wurde nicht mehr immatrikuliert, in Berlin (HUB) und Leipzig gab es jedes Studienjahr im Wechsel zwischen beiden Universitäten 20–25 Immatrikulationen. Davon spezialisierte sich etwa die Hälfte in der germanistischen Linguistik. Rudolf Bentzinger8 erinnert als Zeitzeuge daran, dass der Entwicklung einer Soziolinguistik in der DDR große Steine in den Weg gelegt wurden. Man behauptete in hochschulpolitischen Kreisen, dass keine Soziolinguistik gebraucht werde, weil die Linguistik in der DDR doch bereits eine umfassende Gesellschaftswissenschaft9 sei. Es sollten sogar Titel von Zeitschriften und Veröffentlichungen umbenannt werden. Weder die Arbeitsgruppe an der Akademie in Berlin noch die in Leipzig oder an anderen Orten haben sich von diesen Überlegungen beeindrucken lassen, so Rudolf Bentzinger. So fand zum Beispiel 1969 eine Konferenz zur Sprachsoziologie an der Universität Rostock statt. Rostock hat bis in die achtziger Jahre hinein große Verdienste in der historischen Soziolinguistik erlangt.10 Einige soziolinguistische Arbeiten sind aber eben auch nicht veröffentlicht worden, wie Jürgen 7

8 9

10

Das Attribut bürgerlich war in der Nomenklatur der DDR bekanntlich negativ konnotiert und wurde in der Soziolinguistik dazu benutzt, um eine angebliche Befangenheit der ‚bürgerlichen‘ Soziolinguistik in der Kodetheorie von Basil Bernstein kritisieren oder um sie von einer ‚marxistischen‘ Soziolinguistik abgrenzen zu können. In den meisten Arbeiten wird dieses Attribut aber einfach nur ohne zusätzliche Konnotation zur Abgrenzung der andersartigen Fragestellungen in beiden Gesellschaftssystemen benutzt. Konferenzteilnehmer in Rostock im Mai 2008; in der beschriebenen Zeit an der AdW tätig. Die Bezeichnung Gesellschaftswissenschaft wurde für sämtliche Disziplinen als Oberbegriff für Geistes- und Sozial-, teilweise auch für die Erziehungs- oder heute Bildungswissenschaften, verwendet. In der Reihe „Bausteine des Neuhochdeutschen“ sind mehrere Arbeiten zu diesen Fragen erschienen.

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Scharnhorst11, damaliges Mitglied des „Zentralinstituts für Sprachwissenschaft“ an der AdW ausführt. Nach diesem kleinen historischen Exkurs sollen das Begriffssystem und einige Schwerpunkte empirischer soziolinguistischer Forschungen in der Linguistik der DDR vorgestellt werden.

2. Soziolinguistische Kategorien und Begriffe Den Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Soziolinguistik in der DDR bildete die These eines wechselseitigen, eben eines dialektischen, Verhältnisses von Sprache und Gesellschaft. Sprache und sprachliches Verhalten sind demnach sozial-historisch determiniert. Veränderungen im Leben, in der Arbeit, „in den sozialen Beziehungen sowie in den sprachlichen Verhältnissen und hinsichtlich der speziellen Anforderungen an die sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten der Individuen“12 sollten in ihrer wechselseitigen Bezogenheit beschrieben und erklärt werden. Hervorzuheben ist hier, dass die Klärung dieser Zusammenhänge nicht nur als linguistische Fragestellung begriffen werden soll, sondern dass sich „Forderungen mehrerer Praxisbereiche auf anwendbare Ergebnisse richteten“.13 Darauf ist besonders hinzuweisen, weil nur vor diesem Hintergrund nachvollziehbar wird, warum einige Kommunikationsbereiche sehr intensiv soziolinguistisch untersucht wurden, andere aber in geringem Umfang und warum es zu bestimmten Kommunikationsbereichen keine soziolinguistischen Untersuchungen in der DDR gegeben hat. Anknüpfend an Forschungen zur Dialektologie und zum Sprachwandel des 19. Jahrhunderts, in denen Sprache als soziales Phänomen gedeutet wurde, entstanden in den fünfziger und sechziger Jahren Arbeiten zu den Dialekten. Zunächst wurde der Begriff der Existenzform entwickelt und auf Dialekt als einer solchen Form in Abgrenzung zur Literatursprache und später zur Umgangssprache angewendet. Raum, Beruf und Alter wurden als soziologische Kategorien der Kategorie Dialekt direkt gegenübergestellt. Sprachphilosophische Arbeiten aus den fünfziger und sechziger Jahren von Georg Klaus und Erhard Albrecht bestimmten zunächst Begriffe und Kategorien in der Soziolinguistik.14 In der Regel wurden die Kategorien Sprache und Politik, Sprache und Ideologie, Sprachverwendung und Manipulation, Sprache und Klasse als determinative Verhältnisse erklärt. Sprache sah 11 12 13 14

Konferenzteilnehmer in Rostock im Mai 2008; in der beschriebenen Zeit an der AdW tätig. Schönfeld, Soziolinguistik, S. 213. Ebd. Albrecht, Sprache; Klaus, Macht des Wortes.

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man häufig in ihrem Werkzeugcharakter und weniger in dem postulierten dialektischen Verhältnis zu sozialen Faktoren und Gruppen, zu Ideologie oder anderen Phänomenen. Für die siebziger Jahre gilt dann zunehmend, dass sowohl in der Theoriebildung als auch in der Empirie der Einfluss der damaligen sowjetischen Soziolinguistik, insbesondere der psychologischen Ansätze, aber auch der amerikanischen und westdeutschen Soziolinguistik dokumentierbar ist.15 Zum Begriff Existenzformen treten synonym in den siebziger Jahren Varietät und Varianten, was unter anderem wahrscheinlich auf die Rezeption der westlichen Soziolinguistik zurückzuführen ist. Begriffe wie Normen und Sprachkultur, Sprachpflege, sprachliche Tätigkeit, Kommunikationssituation, Kommunikationsereignis, Sprachbarriere als soziale Barriere und andere werden Mitte der siebziger Jahre über Modelle abgeleitet und definiert. In mehreren Sammelbänden sind diese Konzepte in der DDR-Soziolinguistik klar ausgearbeitet worden. Folgende sind hier zu nennen: Sonderheft 2 der „Linguistischen Studien“ (1974) mit dem Titel „Sprache, Gesellschaft, Kommunikation“ oder „Sprachkultur – warum, wozu?“ (1977) in denen unter anderem Klaus-Dieter Ludwig, Erika Ising, Dieter Nerius, Jürgen Scharnhorst Beiträge veröffentlichten. „Normen in der sprachlichen Kommunikation“ erschien 1977, Autoren waren Wolfdietrich Hartung, Christiane Schwarz, Bärbel Techtmeier, Helmut Schönfeld, Renate Herrmann-Winter, Joachim Donath. „Grundfragen einer Theorie der sprachlichen Tätigkeit“ (1984), hg. von Dieter Viehweger, verfasst von den Sprachpsychologen Aleksej Aleksejevic und Aleksej Nikolajevic Leont’ev und Erik G. Judin, „Kommunikation und Wissen“, 1989 an der AdW entstanden. Alle diese Veröffentlichungen zeigen einerseits eine gewisse Vielfalt, aber ebenfalls grundsätzliche Gemeinsamkeiten in der Theoriebildung. Dieter Nerius16 weist als Zeitzeuge darauf hin, dass die Initiierung der Themen Sprachkultur, Sprachpflege, Sprachnormen bereits vor der Jahrestagung des „Instituts für deutsche Sprache“ in Mannheim im Jahre 1986 Gegenstand der Diskussion in der DDR war. Aus dem Rückblick ist anzunehmen, dass nicht zuletzt die hochschulpolitische Forderung in der DDR nach praxisbezogener Forschung und das angestrebte Bildungsziel einer Beherrschung der Literatursprache maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung dieser Konzepte hatten. Grundlegend für die Theoriebildung, für die Empirie und für die Gegenstandsbestimmung der DDR-Soziolinguistik sind meiner Meinung nach die folgenden Arbeiten gewesen: „Sprachliche Kommunikation und Gesellschaft“ (1974), mehrere Autoren unter Leitung von Wolfdietrich Hartung, 15

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Peter Porsch hat das in seinem Beitrag zum Workshop auf dem Ichols-Kongress ausführlich dargelegt. Vgl. Vortragsmanuskript (unveröffentlicht) vom 02.09.2008 mit dem Titel „Als der Marxismus-Leninismus aus den USA in die DDR kam oder die Vollendung von ‚Dell Frings‘. Soziolinguistik in Leipzig und der DDR.“ Konferenzteilnehmer in Rostock im Mai 2008.

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AdW, und „Beiträge zur Soziolinguistik“, ebenfalls 1974 unter Leitung von Rudolf Große und Albrecht Neubert erschienen, beide in Leipzig tätig.17 In beiden Büchern werden die theoretischen Ausgangspunkte, die Begründungen für das empirische Vorgehen in den Einzeluntersuchungen und die Traditionslinien für die DDR-Soziolinguistik dargestellt. Die Aufarbeitung der Soziolinguistik in Westeuropa, in Amerika und in der damaligen Sowjetunion wird nicht nur in der dort zitierten Literatur deutlich.18 In den siebziger und achtziger Jahren stand die Beschreibung und Erklärung sprachlicher Existenzformen/Varietäten und Varianten, ihrer Veränderung sowie ihrer wechselseitigen Beziehungen im Zentrum der DDR-Soziolinguistik. Die Untersuchungen richteten sich auf sozial bestimmte Differenzierungen in konkreten Kommunikationsereignissen. Es wurde entweder eine komplexe Einheit von vier Faktoren angenommen, die in dialektischer Beziehung zueinander stehen, wie 1. sprachlicher Kode, 2. Sprecher und seine Gruppenzugehörigkeit, 3. Kommunikationspartner, ebenfalls sozial bestimmt, 4. konkrete Kommunikationssituation. Oder es wird eine Dreigliederung der sprachlichen Variabilität angenommen, nach sozialer, regionaler und funktionaler Differenzierung. Das ist als sogenanntes ‚soziolinguistisches Differential‘ der Kommunikation in der empirischen Forschung verwendet worden.19 Bevor einzelne soziolinguistische Untersuchungen in der ehemaligen DDR vorgestellt werden sollen, ist auf zwei weitere Besonderheiten, neben der beschriebenen hochschulpolitischen Situation, in der Geschichte der DDR-Soziolinguistik hinzuweisen.

3. Besonderheiten der DDR-Soziolinguistik Die Soziolinguistik baute in der Anfangsphase auf dialektologischen Traditionen auf, weil sie von Sprachwissenschaftlern entwickelt wurde, die der Dialektologie verpflichtet waren. Die Qualität des empirischen Materials ist beachtlich, wenn man bedenkt, dass die technischen Möglichkeiten der 17 18

19

Hartung u. a., Kommunikation und Gesellschaft; das Sonderheft 2 – Hartung/Schwarz, Sprache – ging diesem Sammelband voraus. Große/Neubert, Beiträge zur Soziolinguistik. Vgl. Zitate und verwendete Literatur wie: Serébrennikov (Hg.), Allgemeine Sprachwissenschaft; Bright, Sociolinguistics; Dieckmann, Information oder Überredung; Ferguson, Diglossia; Fishman, Review (Hertzler, Joyce O.); Fishman, Sociology of Language; Halliday/ McIntosh/Strevens, The Linguistic Sciences; Hartig/Kurz, Sprache als soziale Kontrolle; Hymes, Ethnography of Speaking; Labov, Social Stratification; Lurija, Role of Speech. Sämtliche Autoren werden in den beiden genannten Büchern zitiert. Vgl. Neumann, Sprachwissenschaft; Große/Neubert, Beiträge zur Soziolinguistik, S. 9–15.

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Aufzeichnung von Daten in den fünfziger und sechziger Jahren völlig andere waren als heute. Eine andere Besonderheit der DDR-Soziolinguistik zeigt sich in der Favorisierung des Tätigkeitsbegriffes aus der psychologischen Tradition von Leont’ev und Lurija.20 Dieser Begriff wurde von Friedrich Klix und Adolf Kossakowski, damals anerkannte Psychologen in der DDR, weiter differenziert. Das Verständnis dieses Tätigkeitskonzeptes ist untrennbar verbunden mit der Annahme einer sog. praktisch-gegenständlichen und einer geistigen Tätigkeit, in der die sprachliche Kommunikation eine regulative Funktion besitzt.21

4. Schwerpunkte empirischer soziolinguistischer Untersuchungen Die Dialektforschung Ende des 19. Jahrhunderts führte Erhebungen und Analysen zu Dialekten als relativ selbstständige Teilsysteme der Sprache durch. Daran knüpften dialektgeografische-kulturräumliche Arbeiten in der DDR an, die fast ganz Obersachsen und große Teile Thüringens erfassten. Seit Mitte der fünfziger Jahre wurden Laut- und lexikalisches System der regionalen Umgangssprachen und Stadtsprache mit einbezogen. Auf den Streit, ob es überhaupt eine Varietät Umgangssprache in der vertikalen Sprachschichtung gebe, der sehr kontrovers ausgetragen wurde, muss an dieser Stelle verzichtet werden. Als Ursachen für die regionale Ausbreitung von Umgangssprachen wurden Urbanisierung, Industrialisierung und Bildungsstreben benannt. Wandelprozesse im Gefüge der gesellschaftlichen Verhältnisse und damit in den sozial-kulturellen Gegebenheiten fanden ihren Niederschlag im Wandel der Varietäten. Bereits in dieser frühen Phase der Forschung werden klare soziolinguistisch begründete Fragestellungen aufgeworfen. Einzelne Arbeiten aus der dialektologischen Tradition sind im Folgenden zu nennen: Heinz Rosenkranz und Karl Spangenberg legen 1963 „Sprachsoziologische Studien in Thüringen“ vor.22 Beide fassen Umgangssprache in der Tradition von Theodor Frings als eine Sprachform auf, „die zwischen Mundart und Schriftsprache steht“.23 Umgangssprache wird funktional beschrieben. Das geschieht zum einen aus der Beobachtung heraus, wenn es heißt: 20 21 22 23

Namhafte Wissenschaftler in der Psychologie in der damaligen Sowjetunion. Vgl. u. a. Neumann, Probleme. Rosenkranz/Spangenberg, Studien. Ebd., S. 9.

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So trat neben die geographisch nivellierende Tendenz das Streben zur Schriftsprache hin als zweiter Wesenszug der industriellen Umgangssprache. In den weiten ländlichen Arbeiterwohngebieten der Großbetriebe – Leuna z. B. hat ein Einzugsgebiet von rund 30 km im Umkreis – konnte sich auch das Bauerntum auf die Dauer dem Einfluß der Umgangssprache nicht entziehen. Je mehr die Zahl der Arbeiter zunahm, um so mehr wurde die einheitliche Sprachgemeinschaft des Ortes aufgelockert. Da aber auch immer mehr Kinder aus den bäuerlichen Familien in die Industriebetriebe übergingen, drang die Zweisprachigkeit sogar in den Familienkreis ein. Damit konnten auch die dem bäuerlichen Beruf treu Gebliebenen sich der Werbekraft der Umgangssprache nicht länger entziehen. Nachdem die alte Sprachgemeinschaft der Ortsmundart aufgelöst war, schlossen sich die vereinzelten Mundartsprecher der größeren Sprachgemeinschaft der Umgangssprache an.24

Umgangssprache wird aber neben dieser funktionalen Kennzeichnung auch soziologisch, räumlich, phonetisch, lexikalisch und stilistisch charakterisiert.25 Rosenkranz und Spangenberg zeigen mit ihren Untersuchungen Tendenzen des Verschwindens der alten Mundarten und eine „Bedrohung für den Bestand der Umgangssprache“26, wie sie es werten. Es wird, bedingt durch kulturell-soziale Veränderungen, Wandel mit gegenläufigen Tendenzen im Gefüge von Mundart-Umgangssprache-Schriftsprache angenommen. Dieser Wandel wird vor allem funktional begründet. Bei Rosenkranz heißt es: Obwohl manche Entwicklungstendenzen sich klar abzeichnen, ist das Ergebnis dieses großen Wandlungsprozesses noch nicht zu überschauen. Sicher ist aber, daß an seinem Ende nicht der Untergang der Volkssprache stehen wird, sondern ihre Neuformung nach den Bedürfnissen unseres veränderten gesellschaftlichen Lebensgefüges.27

Im Jahre 1973 erscheint Band 4 in der damals neuen Reihe „Sprache und Gesellschaft“, die vom „Zentralinstitut für Sprachwissenschaft“ der AdW herausgegeben wird.28 Helmut Schönfeld legt mit diesem Band soziolinguistische Untersuchungen zur Sprachschichtung und zur sprachlichen Interferenz im „gesprochenen Deutsch in der Altmark“ vor. Die dialektologische Tradition wird klar thematisiert und der neue Ansatz in der Interpretation der erhobenen Sprachdaten ebenso. Unter dem Stichwort „Geltungsbereich und Funktion der sprachlichen Erscheinungsformen“ heißt es: Im altmärkischen Dorf sind heute gewöhnlich Hochsprache, Umgangssprache [...] und niederdeutsche Mundart üblich, wobei letztere entweder als jeweilige Ortsmundart oder umgangssprachlich beeinflußte Ortsmundart gebraucht wird. Wohl alle Einwohner beherrschen heute mehrere oder sogar alle im Ort üblichen sprach24 25 26 27 28

Ebd., S. 16. Vgl. ebd., S. 21–25. Ebd., S. 48. Ebd., S. 51. Schönfeld, Gesprochenes Deutsch.

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lichen Erscheinungsformen und benutzen diese. Aber deren Kenntnis und Verwendung ist nicht bei allen Einwohnern gleich, sondern es zeigen sich hier Gruppierungen. Die Hochsprache haben alle Einwohner in der Schule erlernt. Jeder ist aber unterschiedlich befähigt und genötigt, sie anzuwenden. Jenes wird vor allem durch Schulbildung und berufliche Tätigkeit bestimmt, dieses durch die Position des Sprechers in der Gesellschaft.29

Schönfeld stellt zunächst Korrelationen zwischen Kenntnis und Verwendung der niederdeutschen Mundart und Geschlecht und Alter als soziale Kategorien her. Weitere Korrelationen zwischen Verwendung von Mundart oder Umgangssprache/Hochsprache und Schulbildung, ausgeübtem Beruf, Verbalintensität in den verschiedensten Kommunikationssituationen, Partnerorientierung in der Kommunikation bis hin zur Rolle der Mütter im Bemühen, die Verwendung der Hochsprache bei den Kindern zu befördern, werden von Schönfeld angenommen – in dieser frühen Untersuchung aber noch nicht genauer verifiziert.30 Die Rolle der Schulbildung, insbesondere des Muttersprachunterrichts, wird sehr hoch eingeschätzt und nicht durch die anderen sozialen Faktoren, die das Sprachverhalten beeinflussen, relativiert. Darauf wird an anderer Stelle noch einmal eingegangen. Im Jahre 1977 wird im Auftrag der „Sprachwissenschaftlichen Kommission der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig“ eine Schriftenreihe „Dialektologische Studien zur Sprachgeschichte und Sprachsoziologie“ eröffnet, und zwar mit „Untersuchungen zur Mundart und zur Umgangssprache im Raum um Wittenberg“ von Helmut Langner.31 In der Methode ähnlich wie Schönfeld, aber in den Interpretationen der angenommenen Korrelationen zwischen sprachlichen und sozialen Daten wesentlich differenzierter, zeigt Langner insbesondere Zusammenhänge zwischen Alter, Beruf und Haltung zur Mundart auf, die Prognosen für die nächsten 10 bis 15 Jahre begründen sollen.32 Er setzt sich außerdem in dieser Arbeit kritisch mit Feststellungen von Rosenkranz auseinander, die zu stark verabsolutieren. Langner wendet sich gegen die These, dass jeder Sprachschicht eine bestimmte soziologisch abgrenzbare Gruppe als Trägerschicht zugeordnet werden kann.33 In der dialektologischen Tradition der DDR-Soziolinguistik gibt es eine lange Reihe von Einzeluntersuchungen, die jetzt zusammenfassend genannt werden: So hat Gunter Bergmann „Sprachschichtung und Sprachwandel an Entwicklungen der Vokalphoneme im Gebiet um Karl-Marx-Stadt“, heute 29 30 31 32 33

Ebd., S. 128. Vgl. ebd. Langner, Untersuchungen. Vgl. ebd., S. 229–231. Vgl. ebd., S. 232.

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wieder Chemnitz genannt, untersucht. Ebenfalls in den „Beiträgen zur Soziolinguistik“, 1974 in Halle/Saale erschienen, zeigten Gotthard Lerchner „Gesellschaftliche Einflüsse auf Phonemmutationen“ und Hans Walther und Johannes Schultheis „Soziolinguistische Aspekte der Eigennamen“.34 Namengebung und Namenwahl wirken bis heute „gruppenfestigend“35 und lassen Schlüsse auf kulturgeschichtliche und soziale Gegebenheiten zu, so die Autoren. Auch Lerchner hebt noch einmal heraus, dass Sprachveränderungen im Rahmen der Sprache beschrieben werden müssen und dass „historische, kulturgeschichtliche und soziale Fakten nicht einfach als Folie hinter die linguistischen Befunde gehalten“36 werden dürfen. Die Zusammenhänge sind weitaus differenzierter anzunehmen und zu beschreiben als das in den Anfängen der Soziolinguistik geschehen war, so Gotthard Lerchner und Rudolf Große in den „Beiträgen zur Soziolinguistik“. Im Band 73 der „Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig“ erscheinen 1986 Beiträge eines Kolloquiums zum 100. Geburtstag von Theodor Frings unter dem Gesamttitel „Sprache in der sozialen und kulturellen Entwicklung“.37 Horst Naumann äußert sich dort wie Walther und Schultheis in den „Beiträgen“ zu „Soziolinguistischen Aspekten der Eigennamen“.38 Er hebt die Anthroponyme als wichtige Namenklasse für soziolinguistische Forschung hervor. In dem Band sind weiterhin veröffentlicht: „Dialektologie und Soziolinguistik in der Theorie des Sprachwandels“ von Rudolf Große, Forschungen von Karl Spangenberg und Helmut Schönfeld und von Horst Weber zu verschiedenen Mundarten und Umgangssprachen.39 Rudolf Große hat, mit einem Vorwort von Ulla Fix und Horst Weber versehen, 1989 „Beiträge zur Sprachgeschichte und Soziolinguistik, entstanden 1953–1983“, zusammengestellt.40 Sie zeigen in beeindruckender Weise die dialektologische Tradition mit der kulturmorphologischen Denkweise, die in den siebziger und achtziger Jahren von der soziolinguistischen Sicht verdrängt wird. Ulla Fix und Horst Weber stellen im Vorwort unter anderem fest: „Soziolinguistischen Fragestellungen in der Sprachgeschichte nachzugehen bedeutet für Rudolf Große, die Gesellschaftlichkeit der Spra34 35 36 37 38 39 40

Bergmann, Sprachschichtung; Lerchner, Einflüsse; Walther/Schultheis, Aspekte. Walther/Schultheis, Aspekte, S. 188. Lerchner, Einflüsse, S. 71. Große, Sprache. Naumann, Aspekte, S. 150–160. Große, Dialektologie; Weber, Wortschatz; Spangenberg, Sprachsituation; Schönfeld, Sprachvarietäten. Große, Beiträge zur Sprachgeschichte.

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che in ihrer historischen Dimension aufzuhellen.“41 Dies im Schaffen von Rudolf Große zu zeigen, ist unter anderem im Vortrag von Peter Porsch in einem Workshop zum „Ichols-Kongress“ 2008 nachgezeichnet.42 Im Jahre 2003 hat Rudolf Große rückblickend im Vorwort zu seinen bis dahin ungedruckt gebliebenen Akademievorträgen sein Anliegen folgendermaßen beschrieben: [I]n jenen Jahren vollzogen sich in der Sprachwissenschaft tiefgreifende theoretische Wandlungen, die durchaus den Charakter von Paradigmenwechsel trugen. [...]; [es] bereitete sich die „pragmatische Wende“ vor und die Soziolinguistik war auf Sprachgeschichte und Dialektologie zu beziehen. Hierbei war mein Anliegen von Anfang an, die Einsichten und Erfahrungen aus der traditionellen Sprachwissenschaft nicht untergehen zu lassen, sondern nutzbringend in die neuen Konzepte einzubeziehen und dabei frühzeitig auf Unzulänglichkeiten in der deduktiven Analyse aufmerksam zu machen.43

Das geschah dann auch in Vorträgen wie „Sprachliche Normen als soziale Normen“ (1976) und „Soziolinguistische Probleme der Sprachgeschichte der Reformationszeit“ (1983).44 Zur „Sprachsituation in den nördlichen Bezirken der DDR“, wie es im Titel eines Buches von Hans Joachim Gernentz (1964) heißt45, gibt es mehrere Arbeiten, die einerseits sprach- und literaturwissenschaftlich Mundarten und Umgangssprache und mundartliche Dichtung erforschen. Andererseits legen Eva-Sophie Dahl 1974 und Renate Herrmann-Winter 1974 und 1977 – veröffentlicht 1979 – soziolinguistische Arbeiten vor.46 Dahl verdeutlicht, dass soziolinguistische Interpretationen vor dem Hintergrund sprachhistorischer Befunde erfolgen müssen, um Tendenzen im Verhältnis der Existenzformen/Varietäten der Sprache zeigen zu können. HerrmannWinter untersucht Zusammenhänge zwischen neuen Produktionsweisen in der Landwirtschaft und sprachlicher Kommunikation in den Nordbezirken: Mit Zunahme der Mechanisierung und Industrialisierung in der Landwirtschaft, mit der Vernetzung von Tier- und Pflanzenproduktion in der DDR gab es große Veränderungen in den Arbeits- und Lebensgewohnheiten der 41 42

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Fix/Weber, Vorwort. Peter Porsch legt eine ausführliche Literaturliste zu Arbeiten von Rudolf Große in seinem Beitrag zum Workshop auf dem „Ichols-Kongress“ vor. Vgl. Vortragsmanuskript (unveröffentlicht) vom 02.09.2008 mit dem Titel „Als der Marxismus-Leninismus aus den USA in die DDR kam oder die Vollendung von ‚Dell Frings‘. Soziolinguistik in Leipzig und der DDR.“ Große, Residva, S. 6. Mich persönlich und viele andere Linguisten hat Rudolf Große als einer der wissenschaftlichen Lehrer während des Studiums in Leipzig und als jemand, der bereits 1971 Beziehungen zwischen Text- und Soziolinguistik herstellte, in der wissenschaftlichen Arbeit beeinflusst. Gernentz, Niederdeutsch gestern und heute. Dahl, Interferenz; Herrmann-Winter, Auswirkungen; Herrmann-Winter, Studien.

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Menschen in den Dörfern. Berufliche Qualifikation und Spezialisierung, polytechnische Ausbildung von Jugendlichen, Dorfakademien, Landwirtschaftssendungen des Rundfunks, Winterakademie des Fernsehfunks und anderes veränderten die sozialen Beziehungen und Strukturen in den Dörfern und in den Arbeitsprozessen, aber auch im Freizeitverhalten grundlegend, was sich zum Beispiel in der Intensivierung der mündlichen, durch Medien vermittelten Kommunikation, im Anwachsen der schriftlichen Kommunikation und nicht zuletzt in der Beherrschung der Fachlexik widerspiegelte. In den „Studien zur gesprochenen Sprache im Norden der DDR“ untersucht Herrmann-Winter neben der sozialen Differenzierung sprachlicher Phänomene der gesprochenen Sprache auch metasprachliche Aussagen der Sprachteilnehmer über die Wahl der sprachlichen Varianten. Die empirischen Erhebungen fanden dazu zwischen 1973 und 1977 im Kreisgebiet Greifswald statt.47 Im Jahre 1989 erscheint ein Buch von Renate Herrmann-Winter, in dem 29 mehr oder weniger prominente Gesprächs- und Briefpartner ihr Verhältnis zum Plattdeutschen kundtun.48 Das sind keine linguistischen Analysen, sie zeigen aber das Verhältnis von Sprachteilnehmern zu einer Varietät der deutschen Sprache, ohne Prestige und Stigmatisierung von Varietäten in den Vordergrund zu rücken. Das ist im Vergleich zu soziolinguistischen Untersuchungen mit dialektologischem Hintergrund in der damaligen Bundesrepublik unbedingt als Unterschied festzustellen. In Gesprächen mit Hugo Steger und zwei seiner Schüler und mit Heinrich Löffler Mitte der 90er Jahre oder mit Peter Wiesinger, nach einem Seminar 1982 in Leipzig49, kam zum Ausdruck, dass diese eben genannten Forschungen als beeindruckende Leistungen wegen ihrer Akribie und wegen ihres funktionalen, soziolinguistischen Ansatzes in der damaligen Bundesrepublik und in Österreich wahrgenommen wurden. Es wurde aber auch wahrgenommen, dass zwischen Fertigstellung der Arbeiten bzw. der Manuskripte und ihrem Druck, ihrer Herausgabe, ein bis zwei Jahre liegen konnten.50 Insgesamt liegen bis Mitte der siebziger Jahre flächendeckende soziolinguistische Untersuchungen zu Tendenzen in der Verwendung und Bewertung der territorialen Varietäten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR vor. Gemeinsam ist diesen Arbeiten, das sie die Tendenzen in Verwendung und Bewertung der Varietäten mit den veränderten und sich verändernden kom47 48 49 50

Herrmann-Winter, Studien, S. 216–252. Herrmann-Winter, Frau Apotheker. Diese Wissenschaftler sind hier als Zeitzeugen zu nennen. Die westdeutschen Kollegen wussten, dass die Publikationen von soziolinguistischen Arbeiten erst mit einem bekenntnisreichen Vorwort zu politischem Anliegen versehen sein mussten, um erscheinen zu können.

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munikativen Bedürfnissen und Fähigkeiten und mit veränderten sozialen Beziehungen begründen. Zum Berlinischen gibt es in dieser Zeit gesonderte Untersuchungen, die weniger in soziolinguistischer Perspektive einzuordnen sind, da sie im Jahr des Stadtjubiläums eine andere Zielstellung verfolgten.51 Unter dem Gesichtspunkt der Dynamik in der sprachlichen Entwicklung in der Stadt gegenüber der in dörflicher Umgebung sind aber Studien zu Berlin zu nennen, die bereits Ende der siebziger Jahre konzipiert und unter dem Titel „Sprache und Sprachvariation in der Stadt“ im Jahre 1989 veröffentlicht wurden.52 Die Mitglieder der „Arbeitsgruppe Soziolinguistik“ am „Zentralinstitut für Sprachwissenschaft“ an der AdW stellten in den Studien die in Berlin gesprochene Umgangssprache in den Mittelpunkt der Untersuchungen. Dabei ist ein Kommunikationsbereich zu nennen, der in der genannten Arbeitsgruppe ebenfalls über mehrere Jahre soziolinguistisch erforscht wurde, nämlich der Industriebetrieb. „Untersuchungen zum Wortschatz bei sozialen Gruppen“ heißt der Untertitel des 1976, 1978 gedruckten, von Helmut Schönfeld und Joachim Donath verfassten Buches.53 Es handelt sich um umfangreiche empirische Studien, die 1972 begannen. In Vorarbeiten zu Qualität und Quantität der Kommunikationsprozesse, z. B. zu Besonderheiten der Gesprächssorten Informationsgespräch, Weisungsgespräch, Randgespräch, kollektive Aussprache, und zur Quantität kommunikativer Beziehungen in diesen Gesprächen, wurden Fragestellungen für die Untersuchungen erarbeitet. Das Verhältnis von verbaler und nonverbaler und von schriftlicher und mündlicher Kommunikation fand Berücksichtigung in der Untersuchungsanordnung. Im Ergebnis wurden unter anderem gruppenspezifisches Sprachvermögen und gruppenspezifische Sprachverwendung, die unterschiedlichen Anteile an der Kommunikation, insbesondere die der Meister, und der sogenannte Umgangston, hier die Anredeformen, in Relation zur Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen und funktionalen Gruppen interpretiert. Kenntnis von Fach- und Fremdwörtern, von Abkürzungen und zutreffende Bedeutungszuordnung, und zwar in den damaligen typischen Kontexten, wurden dokumentiert. Diese Kontexte waren: sozialistische Rationalisierung, sozialistische Intensivierung, sozialistische Arbeitskultur, Pläne, Wettbewerbs- und Neuererbewegung. Insgesamt wurden drei Gruppen gebildet, Leiter, Arbeiter, Lehrlinge. Die Probanden kamen aus zwei Industriebetrieben und deren Betriebsschulen. Ergebnisse aus Erhebungen in einem rheinischen Industriebetrieb konnten wegen der

51 52 53

Zum Berlinischen erschienen: Schildt/Schmidt, Berlinisch; Wiese, Berliner Wörter. Schönfeld, Sprache. Schönfeld/Donath, Sprache.

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Unterschiedlichkeit in den sozialen und ökonomischen Verhältnissen nicht direkt einbezogen werden, wurden aber zur Kenntnis genommen.54 Die Reihe „Sprache und Gesellschaft“, an der AdW herausgegeben, enthält Forschungen zu einzelnen Kommunikationsbereichen und Varietäten, die mit Bezug auf das Tätigkeitskonzept durchgeführt wurden. Band 1 „Sprachliche Kommunikation und Gesellschaft“ lag 1972 vor, Band 2 „Aktuelle Probleme der sprachlichen Kommunikation“ 1974. Ein Beitrag darin beschäftigt sich mit dem Kommunikationsbereich Schule. Karl Spangenberg und Joachim Wiese nehmen an, dass „zwischen dem Sprachverhalten der Sprecher und ihrer Stellung innerhalb der bestehenden Klassenund Schichtstruktur“55 nur bedingt direkte Beziehungen hergestellt werden können. Die ‚Einheitsschule‘ würde die soziale Differenzierung ausgleichen, sodass diese sich nicht deutlich im Sprachverhalten zeigen würde. Ulla Fix nennt diese Sichtweise „Blick auf eine entdifferenzierte Gesellschaft“.56 Für diesen Kommunikationsbereich Schule gab es keine weiteren veröffentlichten soziolinguistischen Arbeiten.57 Peter Porsch gehörte ebenfalls zum bereits erwähnten „Leipziger Linguistischen Arbeitskreis“. Er hat sich in der Soziolinguistik zu Prinzipien soziolinguistischer lexikalischer Semantik, zur Normendiskussion, zu soziolinguistischen Kategorien wie Kommunikationssituation, Gruppenwortschatz u. a. geäußert.58 Beachtung fand seine Arbeit zur Rezeption von Basil Bernstein und seiner Kode-Theorie im Verhältnis zur Differenziertheit von Sprache.59 Dieser Überblick zu soziolinguistischen Arbeiten zeigt, dass zwei größere, mehr oder weniger langfristig konstituierte Gruppen zu dialektologisch bzw. zu tätigkeitsorientierten Themenkreisen forschten. Zum einen war das die Gruppe an der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Wolfdietrich Hartung, Helmut Schönfeld und mehrere andere Genannte, zum anderen in Leipzig die Gruppe um Rudolf Große. 54 55 56 57

58 59

Vgl. ebd., S. 15. Spangenberg/Wiese, Sprachwirklichkeit, S. 324. Ulla Fix prägte diese Formulierung im Beitrag auf der Konferenz im Mai 2008 in Rostock. Mein vorsichtiger Versuch, 1987 in der Dissertation text- und soziolinguistische Untersuchungen zu verbinden und Differenzierungen im Sprachverhalten von Schülern der Klassenstufen 5 und 9 vor dem Hintergrund sozialer Unterschiede zu interpretieren, wurde an der damaligen Pädagogischen Hochschule Dresden sehr skeptisch aufgenommen und entsprechend bewertet. Nebenbei darf hier erwähnt werden, dass die öffentliche Verteidigung der Ergebnisse der Dissertation zunächst in Frage stand, da sich die soziale Differenzierung auch deutlich im Sprachverhalten der Schüler statistisch verifiziert widerspiegelte. Peter Porsch, einer meiner weiteren wissenschaftlichen Lehrer in Leipzig, setzte sich aber erfolgreich für die öffentliche Verteidigung ein. Porsch, Textbeurteilung; Porsch, Hörerurteile; Porsch, Soziale Approbation, S.  167–175; Porsch, Prinzipien. Porsch, Theorie.

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5. Desiderata Dieser Überblick zeigt aber auch etwas anderes. Nämlich dass es Fragestellungen gab, die kaum oder gar nicht bearbeitet wurden. Arbeiten zum Kommunikationsbereich Schule waren sehr selten, sie sind eigentlich zu vernachlässigen. Zur Jugendsprache hat Margot Heinemann im „Kleinen Wörterbuch der Jugendsprache“60 vor allem Hörbelege aus den achtziger Jahren inhaltlich geordnet und dokumentiert. Ein Hinweis zu dieser Sammlung in der Einleitung: „Die heutige Jugend – keine ‚Null-Bock-Generation‘“61 musste sicher mit vorangestellt werden, damit dieses Wörterbuch veröffentlicht werden konnte. Ebenso vorsichtige Versuche gab es zur Rezeption der feministischen Linguistik. Hier ist nur eine kleine Konferenz dazu Mitte der achtziger Jahre in Leipzig bekannt. Völlig ausgespart in der soziolinguistischen Forschung blieb, nach Lage der Veröffentlichungen, die Erforschung der institutionellen Kommunikation. Kommunikation mit Gastarbeitern oder Migrationsprobleme wurden ebenfalls nicht untersucht, obwohl Gastarbeiter aus Vietnam und Mosambik in größerer Zahl in die DDR gekommen waren und mittelbar kommunikative Beziehungen in den Arbeitsprozessen zwischen deutschen Arbeitern und den Gastarbeitern bestanden. Eine direkte Kommunikation zwischen beiden Gruppen fand aufgrund der Barriere Fremdsprachenkenntnis faktisch nicht statt. Vietnamesisch bzw. Portugiesisch waren den deutschen Arbeitern und Deutsch den Gastarbeitern nicht geläufig. Für die Verständigung wurden Dolmetscher eingesetzt. Nicht untersucht wurde auch die Varietät Soldatensprache in der Nationalen Volksarmee.62 Der Frage, warum diese Varietäten und Varianten in der Erforschung ausgespart blieben, kann in umfangreicheren wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten nachgegangen werden, die noch nicht geleistet sind. In diesem forschungsgeschichtlichen Abriss wurde bewusst auf Etikettierung verzichtet, weil der differenzierte Umgang mit Zeitdokumenten aus einer Wissenschaftsdisziplin wie der Soziolinguistik einschließt, dass Attribute wie ‚bürgerliche‘ versus ‚marxistische‘ Soziolinguistik die Unterschiede zwischen Postulat und der tatsächlichen Forschung nicht einmal im Ansatz zutreffend kennzeichnen können. In den theoretischen Grundlegungen der Gruppe um Wolfdietrich Hartung gibt es eine klare Bezugnahme auf die 60 61 62

Heinemann, Wörterbuch. Vgl. ebd., S. 11. Die Abschlussarbeit einer Lehramtsstudentin dazu liegt 1992 an der PH Dresden vor: Woborschil, DDR-Soldatensprache.

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Methode des dialektischen Materialismus und auf das Tätigkeitskonzept, um die sogenannte Differenzhypothese in der Soziolinguistik vor allem für empirische Untersuchungen zu reflektieren und wohl auch, um die mündliche Kommunikation in den Blick der Forschung zu rücken. Denn hier sind eben keine einfachen determinativen Zusammenhänge anzunehmen und für Erklärungen der auftretenden Varianten heranzuziehen.

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Spangenberg, Karl / Wiese, Joachim (unter Mitarbeit von Heinz Gebhardt): Sprachwirklichkeit und Sprachverhalten sowie deren Auswirkungen auf Leistungen im muttersprachlichen Unterricht der Allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschule, in: Ising, Gerhard (Hg.): Aktuelle Probleme der sprachlichen Kommunikation, Berlin 1974 (= Reihe Sprache und Gesellschaft 2), S. 285–338. Spangenberg, Karl: Sprachsituation und Sprechweisen in thüringischen Städten, in: Große, Rudolf (Hg.): Sprache in der sozialen und kulturellen Entwicklung. Beiträge eines Kolloquiums zu Ehren von Theodor Frings, Berlin 1990, S. 114–119. Uesseler, Manfred: Soziolinguistik, Berlin 1982. Viehweger, Dieter (Hg.): Leont’ev, Aleksej N. / Leont’ev Aleksej A. / Judin, Erik G.: Grundfragen einer Theorie der sprachlichen Tätigkeit, Berlin 1984 (= Reihe Sprache und Gesellschaft 13). Walther, Hans / Schultheis, Jürgen: Soziolinguistische Aspekte der Eigennamen, in: Große, Rudolf / Neubert, Albrecht (Hg.): Beiträge zur Soziolinguistik, Halle/Saale 1974 (= Linguistische Studien), S. 187–205. Weber, Horst: Wortschatz der Mundarten im Existenzformenmodell, in: Große, Rudolf (Hg.): Sprache in der sozialen und kulturellen Entwicklung. Beiträge eines Kolloquiums zu Ehren von Theodor Frings, Berlin 1990, S. 109–113. Wiese, Joachim / Lindemann, Hartmut: Berliner Wörter & Wendungen, Berlin 1987. Woborschil, Jana: Zum Problem der DDR-Soldatensprache, Staatsexam. masch., Dresden 1992.

Wolfgang Motsch / Peter Suchsland

Grammatikforschung in der DDR 1. Vorbemerkungen Zu den verheerenden Folgen des faschistischen Regimes gehörte auch eine Isolierung und zum Teil wohl auch Verkümmerung der ehemals weltweit führenden deutschen Linguistik. Überlebt hatten besonders die Dialektforschung, die Indogermanistik, die nun Indoeuropäistik genannt wurde, und Ausläufer der historisch-vergleichenden Sprachforschung. Außerhalb Deutschlands hatte sich inzwischen eine lebhafte Entwicklung vollzogen. Wir erwähnen hier nur die Prager Schule, die Dependenztheorie von Lucien Tesnière und den amerikanischen Deskriptivismus. In den fünfziger und sechziger Jahren kamen dann die Anfänge der mathematisch orientierten Generativen Grammatik Noam Chomskys und der mit Zielstellungen der automatischen Sprachverarbeitung verbundenen Dependenzgrammatik hinzu. Das Gefühl, dass die germanistische Linguistik einen Neuanfang wagen muss, war in ganz Deutschland allgemein verbreitet. Bestimmend für die weitere Entwicklung der Grammatikforschung in Deutschland war vor allem die Auswertung des entstandenen Defizits. Positiv zu bewerten war zweifellos das reiche Erbe an empirischen Fakten, auf das sich jeder stützen konnte, der sich neue theoretische Ziele stellte. Stellvertretend sei hier nur auf so umfangreiche Speicher für Fakten der deutschen Grammatik hingewiesen, wie sie Forscher wie Otto Behaghel zusammengestellt hatten. Die Konsequenzen, die aus den Mängeln der germanistischen Grammatikschreibung gezogen wurden, darf man wohl auf zwei unterschiedliche Wissenschaftsideale zurückführen. Ein Teil der Grammatikforscher beschränkte sich auf die Übernahme einzelner theoretischer Ansätze, bewegte sich aber weitgehend auf dem Boden der traditionellen Forschung. So wurden Elemente verschiedener Richtungen des linguistischen Strukturalismus übernommen. Hennig Brinkmann und Johannes Erben übernahmen z. B. Ideen der Abhängigkeitsgrammatik von Tesnière und trugen damit zur Be-

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reicherung der Faktenbeschreibung bei. Auch die Vorschläge des Schweizer Germanisten Hans Glinz führten durch die Übernahme von einzelnen Vorschlägen der strukturalistischen Linguistik zu einer Bereicherung der Grammatikschreibung. Ein damals viel beachteter Beitrag zur Erneuerung der Grammatikforschung wurde von Leo Weisgerber vorgetragen. Weisgerber wollte die in der Tradition überkommene einseitige Betonung der Form durch eine inhaltbezogene Sehweise überwinden.1 Rückblickend stellen wir fest, dass keiner dieser Ansätze die Kraft in sich barg, eine nachhaltige neue Forschungsrichtung zu begründen. Aus der Sicht einer zweiten, meist junge Forscher umfassenden Gruppe, musste ein solches als ‚eklektizistisch‘ bezeichnetes Vorgehen zwangsläufig theoretisch unbefriedigende Ergebnisse zeitigen. Die zu dieser Gruppe zu zählenden Forscher sahen nur in einer radikalen methodologischen Neuorientierung einen Ausweg. Notwendig war aus dieser Warte eine Grammatiktheorie, die in der Tendenz die Maßstäbe naturwissenschaftlicher Theorien erfüllt. Die Grundlagen für eine solche Theorie hatte Noam Chomsky mit seiner ersten Version der Generativen Grammatik in seinem Werk „Syntactic Structures“2 gelegt. Auf ähnlichen methodologischen Prämissen beruhen Dependenzgrammatiken, die besonders von Vertretern der automatischen Sprachverarbeitung favorisiert wurden. Mit einer radikalen methodologischen und theoretischen Neuorientierung der Grammatikforschung befassten sich in Ostberlin Mitarbeiter der zunächst noch „Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin“ (DAW) genannten Forschungsstätte. Unter dem Einfluss des Vizepräsidenten Wolfgang Steinitz, der selbst ein international bekannter Sprachwissenschaftler und Volkskundler war, wurden in den fünfziger Jahren zwei germanistische Vorhaben auf den Weg gebracht: ein Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache und die Erarbeitung einer Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Mit der zweiten Aufgabenstellung wurde eine Gruppe von jungen Hochschulabsolventen betraut, die unter dem Namen „Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik“ tätig wurde. Ebenfalls an der DAW angesiedelt war eine Forschungsstelle für mathematische Linguistik und automatische Sprachverarbeitung. Mitarbeiter dieser Arbeitsstelle entwickelten unter der Leitung des Mathematikers und Linguisten Jürgen Kunze eine Dependenzgrammatik des Deutschen, die strenge theoretische Maßstäbe befolgte und als formale Grundlage für Programme der automatischen Sprachverarbeitung gedacht war. An einzelnen Aspekten der deutschen Grammatik interessiert waren Forschungen zur Valenz, die besonders an der Humboldt-Universität zu 1 2

Weisgerber, Weltbild. Zur ‚inhaltbezogenen‘ Sprachbetrachtung Weisgerbers vgl. den Beitrag von Wolfgang Sucharowski in diesem Band. Chomsky, Structures.

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Wolfgang Motsch / Peter Suchsland

Berlin (Wilhelm Bondzio) und am Herderinstitut der Universität Leipzig (Gerhard Helbig) durchgeführt wurden. Dem sicher für Satzstrukturen zentralen Gesichtspunkt der Valenz von Verben wurde in den siebziger Jahren auch in anderen Ländern große Aufmerksamkeit gewidmet. Mit der deutschen Grammatik befassten sich weiterhin Germanisten der Pädagogischen Hochschulen in Potsdam und Güstrow. Ziel dieser Arbeiten war eine theoretische Fundierung des Grammatikunterrichts in der Schule. Dieser Ansatz wurde als ‚Funktionale Grammatik‘ bezeichnet. Praktische Zielstellungen verfolgten auch Mitarbeiter des Herder-Instituts der Karl-Marx-Universität Leipzig. Sowohl theoretisch orientierte Arbeiten (Gerhard Helbig) als auch Darstellungen der deutschen Grammatik für Fremdsprachler (Gerhard Helbig und Joachim Buscha) gehören zu den international anerkannten Leistungen der DDR-Linguistik. Auf diese Ansätze, Generative Grammatik (GG), Dependenzgrammatik, Valenztheorie, Funktionale Grammatik, Deutsch als Fremdsprache werden wir noch etwas ausführlicher eingehen. Ziel dieses Beitrags ist aber lediglich ein orientierender Überblick. Was die allgemeine wissenschaftstheoretische Orientierung betrifft, so sind kaum Unterschiede zwischen der Grammatikforschung in der DDR und in anderen Ländern, insbesondere auch in der Bundesrepublik zu erkennen. Es gab Beiträge, die sich an strengen Theorien orientierten ebenso wie solche, die traditionelle Verfahrensweisen mit Komponenten strikterer Theorien verknüpften. Verbreitet war eine tiefe Kluft zwischen Anhängern der oben erwähnten Wissenschaftsideale, die sich in der DDR zunächst weniger restriktiv auswirkte als in Westdeutschland. Das hatte einen ganz einfachen Grund: Sehr viele ältere Germanisten waren dorthin umgesiedelt. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass Manfred Bierwisch mit seiner Dissertation über das deutsche Verb ernste Schwierigkeiten bei seinem Doktorvater Theodor Frings bekam, der zugleich Direktor des „Instituts für deutsche Sprache“ der DAW war. Es spricht für Wolfgang Steinitz’ Weitsicht, dass er die wissenschaftliche Bedeutung dieser Arbeit erkannte und die Promotion durchsetzte. Bierwischs Arbeit fand als erste Monographie in der Reihe „Studia Grammatica“ eine überwältigende Aufmerksamkeit. Sie erlebte zahlreiche Nachdrucke.

Grammatikforschung in der DDR

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2. Erste Anfänge der Grammatikschreibung in der DDR3 1953 erschien im Dudenverlag Leipzig die von Walter Jung unter Mitwirkung von Henrik Becker verfasste „Kleine Grammatik der deutschen Sprache – Satz und Beziehungslehre“.4 Diese Grammatik war als Ergänzung zum Duden gedacht. Bereits zwei Jahre später waren 375.000 Exemplare dieses Nachschlagewerks verkauft. Jung bemühte sich, neue Gesichtspunkte für die Beschreibung grammatischer Fakten einzuführen. Er legte Wert darauf, dass die einzelnen Formen in ihrem wechselseitigen Zusammenhang innerhalb von Satzstrukturen dargestellt werden. 1966 veröffentlichte Jung eine wesentlich erweiterte Fassung unter dem Titel „Grammatik der deutschen Gegenwartssprache“. In diese Arbeit konnte er nach eigenen Angaben inzwischen erschienene Arbeiten von Admoni, Agricola, Beneš, Lindgren, Motsch, Neumann, Schmidt und Weisgerber einbeziehen.5 1980 erschien eine Neubearbeitung der Duden-Grammatik von Günter Starke.6 Johannes Erben, am Anfang seiner wissenschaftlichen Laufbahn Mitarbeiter der DAW in Ost-Berlin und Lehrbeauftragter an der Humboldt-Universität, veröffentlichte 1958 seinen „Abriß der deutschen Grammatik“.7 Diese Grammatikbeschreibung, die er auch seinen Studenten Heinz Vater, Wolfdietrich Hartung, Karl Erich Heidolph und Wolfgang Motsch in Vorlesungen vermittelt hatte, war zu dieser Zeit ein Aufsehen erregender Neubeginn der germanistischen Grammatikschreibung. Erben hatte sich im Prinzip für eine synchrone Beschreibung des Sprachsystems entschieden. Er stellt grammatische Beziehungen aus der Warte vom Wort zum Satz dar und er benutzte die Verbvalenz als Basis für die Beschreibung von Satzmodellen. Wie viele Germanisten der damaligen Zeit, hier ist besonders auch der Schweizer Germanist Hans Glinz zu nennen, verwendete er etwas gewöhnungsbedürftige deutsche Termini. Der Grund dafür war wohl der Versuch, die der deutschen Sprache häufig unangepassten Termini der lateinischen Grammatik zu vermeiden und mit deutschen Termini die syntaktische Funktion grammatischer Kategorien zu verdeutlichen.

3 4 5 6 7

Für einen früheren Überblick vgl. Suchsland, Grammatikforschung. Jung, Kleine Grammatik. Jung, Grammatik der deutschen Gegenwartssprache (1966). Jung, Grammatik der deutschen Gegenwartssprache (1980). Erben, Abriß.

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Wolfgang Motsch / Peter Suchsland

3. Generative Grammatik in der DDR Ende der fünfziger Jahre erhielt eine Gruppe junger Wissenschaftler im Rahmen des „Instituts für deutsche Sprache“ der DAW den Auftrag, mit Vorarbeiten zur umfassenden Beschreibung der deutschen Grammatik zu beginnen. Es ist die bereits erwähnte „Arbeitsstelle strukturelle Grammatik“ (ASG). Bereits vorher hatte am gleichen Institut eine Gruppe unter Leitung von Ruth Klappenbach mit der Erarbeitung eines Wörterbuchs der deutschen Gegenwartssprache begonnen. Die Grammatikgruppe bestand, in der Reihenfolge ihrer Einstellung, aus Wolfdietrich Hartung, Heinz Vater, Karl Erich Heidolph, Wolfgang Motsch und Manfred Bierwisch. Wenige Jahre später kamen Renate Steinitz, Wolfgang Ullrich Wurzel, Ewald Lang, Horst Isenberg und einige Mitarbeiter hinzu, die nicht direkt an den germanistischen Aufgaben beteiligt waren. Die Arbeitsgruppe hatte in der Akademie einen selbständigen Status neben den Instituten. Sie verschaffte sich sehr bald internationales Ansehen in der Fachwelt. Die Vorbereitungsarbeiten begannen mit einer systematischen Aufarbeitung der theoretisch orientierten Sprachwissenschaft der damaligen Zeit. Insbesondere die Glossematik Hjelmslevs, die Prager Schule, die Theorien von Harris, Hockett und anderen amerikanischen Linguisten wurden in regelmäßigen Arbeitssitzungen diskutiert. Mehr oder weniger zufällig stieß Manfred Bierwisch auf eine Arbeit von Robert Lees über deutsche Nominalphrasen, die ihn dann direkt auf Noam Chomsky aufmerksam machte. Alle Mitarbeiter der ASG waren sich damals einig, dass dies der theoretische Ansatz war, nach dem sie gesucht hatten. Das Wissenschaftsideal dieser Gruppe orientierte sich fortan an der damals noch in den Anfängen stehenden Generativen Grammatik. Eine grobe Aufteilung der Arbeitsbereiche in der ASG sah zunächst vor, dass Manfred Bierwisch die Verbsyntax übernimmt, Heinz Vater die Artikel, Karl Erich Heidolph Nominalphrasen und Komposita, Wolfgang Motsch Adjektive, andere Attribute und Wortbildung, Wolfdietrich Hartung zusammengesetzte Sätze. Renate Steinitz befasste sich mit Adverbien und Adverbialen, Ewald Lang mit der Koordination und anderen Satzkonnektoren, Wolfgang Ullrich Wurzel mit Phonologie und Flexionsmorphologie und Horst Isenberg, der zunächst eine Dissertation über ein grammatisches Thema des Spanischen verfasste, mit der Frage, welche Regelmäßigkeiten jenseits des Satzes für die Verknüpfung von Sätzen zu Texten anzunehmen sind. Die Ergebnisse der Arbeiten erschienen seit Anfang der sechziger Jahre als Monographien oder als Artikel in Sammelbänden in der vom Akademie-

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verlag herausgegebenen Schriftenreihe „Studia Grammatica“ sowie in anderen nationalen und internationalen Sammelbänden und Fachzeitschriften.8 Man darf sicher behaupten, dass das Zentrum der Grammatikforschung der DDR an der DAW angesiedelt war, die später in „Akademie der Wissenschaften der DDR“ (AdW) umbenannt wurde. Engere wissenschaftliche Beziehungen unterhielt dieses Zentrum mit linguistischen Einrichtungen der Karl-Marx-Universität Leipzig (Rudolf Růžička, Anita Steube, Rudi Conrad) und dem Wissenschaftsbereich Germanistik der Friedrich-SchillerUniversität Jena (Peter Suchsland). Der Wissenschaftsbereich Germanistik an der Sektion Sprachwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität war im übrigen die einzige universitäre germanistische Einrichtung in der DDR, in der seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre Theorie und Methode der Chomskyschen Generativen Grammatik zur Grundlage der Ausbildung in deutscher Syntax gemacht wurde, zunächst im Rahmen des Aspecte-, später im Rahmen des Rektions- und Bindungs- bzw. des Minimalist-Program-Modells. Dies wurde über die Wende hinaus zusammen mit Josef Bayer fortgeführt. Von Jena aus wurde die generative Betrachtungsweise der Grammatik in den siebziger und achtziger Jahren an Partneruniversitäten wie Tbilissi, Kraków und Veliko Tirnovo getragen.9 In der ASG-Zeit, d. h. im Verlauf der sechziger Jahre, bezog sich die Gruppe im Wesentlichen auf die theoretischen Ansätze, die Chomsky in „Aspects of the Theory of Syntax“ entwickelt hatte sowie auf ergänzende und kritische Arbeiten von Anhängern der Generativen Grammatik. Mit besonderer Aufmerksamkeit wurden die Vorschläge für eine phonologische und eine semantische Komponente verfolgt. Bereits in den „Thesen“ der ASG von 1962, die in einer international besetzten Konferenz diskutiert worden waren, wurde die Notwendigkeit einer semantischen Komponente hervorgehoben. Chomsky hatte seinen Blick zunächst ganz auf syntaktische Fragestellungen gerichtet. Auf dieser Konferenz wurde diese Zielstellung von Roman Jakobson, Robert Lees und in einem Grußschreiben auch von Noam Chomsky ausdrücklich begrüßt. Jakobson gab jedoch die Empfehlung, es sei gewinnbringender, semantische Arbeiten von denen, die sich wieder mit Semantik beschäftigten und nicht von denen, die sich noch mit Semantik beschäftigen, zu studieren. Die ASG fand sehr bald viele Anhänger in der Bundesrepublik. Maßgeblichen Einfluss auf die Verbreitung der Generativen Grammatik in Westdeutschland hatten vor allem Dieter Wunderlich, der längere Zeit an den 8

9

Als wichtige Arbeiten sind vor allem zu nennen: die „Thesen über die theoretischen Grundlagen einer wissenschaftlichen Grammatik“ der „Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik“ der „Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin“ von 1962; Bierwisch, Grammatik; Motsch, Syntax; Hartung, Sätze; Steinitz, Adverbial-Syntax; Wurzel, Studien; Lang, Semantik. Vgl. z. B. Suchsland, Einführung; Suchsland. Grammatik.

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Montagssitzungen der ASG teilgenommen hat, sowie die unmittelbar nach dem Mauerbau in die Bundesrepublik übergesiedelten ehemaligen Kollegen Heinz Vater und Klaus Baumgärtner.10 Auch mit ausländischen Linguisten entwickelte sich ein lebhafter Kontakt. Besonders wertvoll waren die Gespräche mit zahlreichen amerikanischen Linguisten, die die Gruppe mit dem neuesten Stand der in den USA geführten Diskussionen vertraut machten und mit aktueller Literatur versorgten. Nach einer Reform der Akademie, die zur Unterteilung in einen naturwissenschaftlichen und einen gesellschaftswissenschaftlichen Forschungsbereich sowie zur Gliederung der Forschungsbereiche in Zentralinstitute führte, die wiederum in Bereiche und Arbeitsgruppen untergliedert wurden, verlor die ASG ihren selbständigen Status. Dass auch der Name aberkannt wurde, hatte in erster Linie politische Ursachen. Wir kommen auf diesen Aspekt der wissenschaftlichen Arbeit unter den ideologischen Auflagen einer ‚führenden Partei‘ und den machtpolitischen Auslegungen dieser Auflagen durch missgünstige Kollegen und subalterne Mitarbeiter des Partei- und Verwaltungsapparats noch zurück. Die Forschungstätigkeit wurde glücklicherweise nicht grundsätzlich behindert. Zu den internationalen Leistungen der Wissenschaftler, die sich an der Generativen Grammatik orientierten oder deren Wissenschaftsideal weitgehend durch Chomsky geprägt wurde, auch wenn sie sich später mit Aufgaben beschäftigten, die über den von ihm behandelten Rahmen hinausgehen, oder neue Theorieansätze fanden, die ihnen für ihr Gebiet angemessener erschienen, kann man vor allem folgende Ergebnisse rechnen: –





10

Durch die Anwendung einer relativ umfassenden und strikten Theorie konnten wichtige syntaktische Zusammenhänge und neue Fakten verdeutlicht werden, die auch von Autoren weniger strikt vorgehender germanistischer Grammatikbeschreibungen anerkannt wurden. Manfred Bierwisch bereicherte maßgeblich die internationale Diskussion über die Erweiterung des Chomsky-Modells um eine semantische Komponente. Zu Bierwischs Verdiensten zählt auch seine Beschäftigung mit psycholinguistischen Ansätzen, die er für theoretische Grundsatzfragen auswertete. Wolfgang Ullrich Wurzel hat wesentliche Verdienste auf den lange Zeit vernachlässigten Gebieten deutsche Phonologie und Flexionsmorphologie.

Vgl. dazu Vater, Entwicklung, S. 21–22, und seine Beiträge in diesem Band. Weitere Informationen über die ASG findet man in Clément, Grammatik; Bierwisch, Beobachtungen; Bierwisch, Grammatikforschung; Wurzel, Geschichte; Vater, Entwicklung.

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Ewald Lang hat die Beschäftigung mit Konnektoren nachhaltig beeinflusst und Manfred Bierwisch bei der Entwicklung einer Semantiktheorie unterstützt. Wolfgang Motsch hat viel beachtete Beiträge zur Einordnung der Wortbildung in eine Grammatiktheorie sowie, zusammen mit Renate Pasch und Dieter Viehweger, zur Abgrenzung der Grammatik von Theorien und Aufgabenstellungen, die außerhalb der Grammatik anzusiedelnde Aspekte der Sprache betreffen, erarbeitet. Als Vorbild und Ausgangsbasis diente dabei der von Chomsky entworfene syntaktische Kern einer Generativen Grammatik. Zu erwähnen ist auch die Pionierrolle, die Horst Isenberg mit seinen Arbeiten zur Textanalyse leistete.

In der DDR arbeiteten die Akademiemitarbeiter besonders eng mit der Sektion „Theoretische und angewandte Sprachwissenschaft“ (TAS) der Karl-Marx-Universität Leipzig sowie mit dem „Wissenschaftsbereich Germanistik“ an der Sektion Sprachwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena zusammen. Das schlägt sich in den Veröffentlichungen in der Reihe „Studia Grammatica“ nieder. Manfred Bierwisch, Ewald Lang und Ilse Zimmermann leiteten teils mehrfach Weiterbildungs- und Forschungsseminare in Jena. Renate Steinitz war für ein ganzes Jahr als Gastdozentin in Jena tätig.

4. Grundzüge einer deutschen Grammatik Im Rahmen des „Zentralinstituts für Sprachwissenschaft“ der „Akademie der Wissenschaften der DDR“ (ZISW) entstand Anfang der siebziger Jahre eine umfangreiche Beschreibung der Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Unter Leitung von Walter Flämig fertigten zunächst Brigitta Haftka, Wolf Dietrich Hartung, Karl Erich Heidolph, Dolly Lehmann und John Pheby eine „Skizze der deutschen Grammatik“ an. Mitwirkende waren weiterhin Werner Neumann und Fritz Jüttner. Diese immerhin 376 Seiten umfassende Skizze erschien 1972 beim Verlag Volk und Wissen, Berlin.11 Sie war als Grundlage für die Ausarbeitung einer umfassenderen Grammatik, die als Handbuch für Lehrer dienen sollte, gedacht. Die „Skizze“ sollte zur Diskussion anregen. Sie wurde positiv in der Fachwelt aufgenommen, allerdings mit einer gravierenden Ausnahme: Nach dem Erscheinen der „Skizze“ 1972 legte das „Institut für marxistisch-leninistische Sprachtheorie“ der PH Potsdam eine offensichtlich unter Federführung von Wilhelm 11

Flämig, Skizze.

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Schmidt entstandene „Potsdamer Stellungnahme zur ‚Skizze der deutschen Grammatik, ausgearbeitet von einem Autorenkollektiv unter Leitung von W. Flämig‘“12 vor. Die „Stellungnahme“ ist ein scharfer Verriss der Skizze. Der zentrale Punkt der „Potsdamer Stellungnahme“ war die Frage, „ist die ‚Skizze‘ geeignet, Grundlage für die Ausarbeitung eines Handbuches der Grammatik für Lehrer – und mittelbar auch einer Grammatik für Schüler – zu sein“.13 Die Frage bezieht sich auf eine entsprechende Bemerkung auf S. 12 der „Skizze“: „Die Skizze ist gedacht als Beitrag zur Erarbeitung einer theoretischen Grundlage für die Planung und Ausarbeitung künftiger Lehrpläne und Lehrmittel für den Muttersprachunterricht der Klassen 1 bis 8 der allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule.“ In der Potsdamer „Stellungnahme“ wird die Frage strikt verneint: „Die ‚Skizze‘ der deutschen Grammatik ist in der vorliegenden Fassung keine tragfähige Grundlage für ein Grammatikhandbuch für Lehrer und für die Effektivierung der muttersprachlichen Bildung und Erziehung.“14 Es folgen einige fadenscheinige, nur mühsam wissenschaftlich verbrämte ideologische Begründungen. Es ist klar, was die Ursache dieser radikalen Ablehnung war. Im Kapitel „Funktionale Grammatik“ unseres Beitrags wird auf den Anspruch der Gruppe um Wilhelm Schmidt verwiesen, die Studienpläne für das germanistisch-linguistische Studium und die Lehrpläne an den Schulen der DDR bestimmen zu wollen. Genau diesem Anspruch stand die in der „Skizze“ formulierte Zielstellung diametral entgegen. Schmidt und seine Anhänger fürchteten den Verlust ihres Monopols in der Studien- und in der LehrplanGestaltung, soweit es den Unterricht in deutscher Sprache an Oberschulen und Hochschulen betraf. Dieses Monopol wirkte sich auch darin aus, dass nahezu alle PH-Germanisten eine einheitliche Phalanx in der „Zentralen Fachkommission Deutsch“ der beiden Ministerien für Volksbildung und für Hochschulwesen bildeten, die die uneinheitlich agierenden Vertreter der Universitäten stets majorisieren konnten. Der Angriff mit der Potsdamer Stellungnahme führte zunächst zur Verzögerung der offiziellen Aufnahme der Arbeit an den „Grundzügen“. Bedauerlicherweise schenkte der damalige Leiter des ZISW der Potsdamer Kritik mehr Aufmerksamkeit als sie verdient hätte. Dadurch ergab sich eine unangenehme Vergiftung des sozialen Klimas in den Arbeitskollektiven. Die Autoren Flämig, Haftka, Heidolph, Isenberg, Jüttner, Pheby, Steinitz und Wurzel begannen trotz der widrigen ideologischen Umstände unmittelbar nach Erscheinen der Skizze mit der Ausarbeitung der „Grundzüge einer deutschen Grammatik“. Wesentlichen Anteil an dieser Grammatik 12 13 14

Unseres Wissens ist die „Potsdamer Stellungnahme“ nie veröffentlich worden. Sie existiert nur noch in wenigen Exemplaren als Schreibmaschinenkopie in Privatbesitz. Potsdamer Stellungnahme, S.1. Potsdamer Stellungnahme, S. 22–23.

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hatten Heidolph und Flämig. In der Endphase übernahm Wolfgang Motsch die Endredaktion, die eine gründliche Überarbeitung des Kapitels 5 einschloss, das Umstellungen in einfachen Sätzen und komplexen Sätzen gewidmet ist. Das Buch erschien in der ersten Auflage im Jahre 1981 im Akademie Verlag und erlebte zahlreiche Auflagen.15 Die Grammatik wurde in dem Bewusstsein verfasst, dass die theoretische Basis der Beschreibung grammatischer Fakten beim damaligen Stand der Entwicklung keine strengere einheitliche Grammatiktheorie sein kann. Im Wesentlichen gehen in die Konzeption Ideen der Generativen Grammatik, von Valenztheorien sowie von anderen strukturellen Ansätzen ein. Es wird jedoch Wert darauf gelegt, dass dieses Vorgehen das Hauptanliegen nicht stört, einen möglichst gründlichen Einblick in den Aufbau einer Grammatik zu vermitteln. In einem umfassenden Einführungskapitel wird auch auf die Notwendigkeit einer kommunikativ-pragmatischen Komponente hingewiesen, für die illustrative Beispiele angegeben werden. Eine Besonderheit dieser Grammatik ist die gelegentliche Diskussion alternativer Beschreibungsmöglichkeiten für bestimmte grammatische Erscheinungen. Auf diese Weise sollten besonders Studenten und Forscher auf zur Entstehungszeit der Grammatikbeschreibung noch ungelöste Probleme hingewiesen werden. Die „Grundzüge“ berücksichtigten, mit Ausnahme der Wortbildung, alle Teilbereiche einer Grammatik. In Kapitel 1 werden die in der Darstellung vorausgesetzten Grundlagen vorgestellt. Dieses Kapitel wurde von Karl Erich Heidolph verfasst. Kapitel 2 („Struktur der Wortgruppen“) behandelt den einfachen Satz. Autoren sind Renate Steinitz und Karl Erich Heidolph. Kapitel 3 („Wortklassen und Wortstrukturen“) wurde weitgehend von Walter Flämig ausgearbeitet. Die Abschnitte Pronomen, Adverbien, Präpositionen, Konjunktionen stammen von Isenberg. Ein Novum in der deutschen Grammatikschreibung, zumindest in dieser Ausführlichkeit, ist das von Haftka verfasste Kapitel 4, das Reihenfolgebeziehungen im Satz darstellt. In Kapitel 5 beschreibt Jüttner „Abwandlungen“ in einfachen und zusammengesetzten Sätzen. Hier werden grammatische Erscheinungen behandelt, die nach den Vorstellungen der Transformationsgrammatik mit systematischen Umwandlungen von Tiefenstrukturen („Transformationen“) verbunden sind: Satztypen, Passivsätze, unvollständige Sätze einerseits und andererseits mit Hilfe von Konnektoren oder anderen grammatischen Mitteln verbundene Sätze. Neu ist auch die Einbeziehung einer phonologischen Komponente. In Kapitel 6 behandelt John Pheby die Intonation in deutschen Sätzen, und in Kapitel 7 entwirft Wolfgang Ullrich Wurzel einen Überblick über die wichtigsten Regeln der Phonologie des Deutschen. 15

Heidolph/Flämig/Motsch (Hg.), Grundzüge.

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Die Autoren benötigten knapp fünf Jahre für das fast 1000 Seiten umfassende Handbuch. Zu den Besonderheiten wissenschaftlicher Arbeit in der DDR gehört auch die Tatsache, dass der Verlag infolge eines streng begrenzten Papierkontingents erst nach etwa drei Jahren die Arbeit veröffentlichte. Für politisch wichtiger galt zum Beispiel eine Bismarck-Biographie, die daher der Veröffentlichung der „Grundzüge“ vorgezogen wurde. Solche Entscheidungen wurden von höchsten Parteistellen getroffen und waren praktisch unanfechtbar. Die Konzeption der „Grundzüge“ lag mindestens zwei größeren Arbeiten zugrunde, die in den Folgejahren in der DDR erschienen. Zunächst der neuen (einbändigen) Version der „Kleinen Enzyklopädie Deutsche Sprache“, herausgegeben von Wolfgang Fleischer, Wolfdietrich Hartung, Joachim Schild und Peter Suchsland von 1983, hier besonders den Abschnitten 2.1. „Die Sprache als System“ (Suchsland), 2.2. „Phonologie“ (Wurzel), 2.3. „Morphologie“ (Flämig) und „Syntax“ (Suchsland).16 Wesentlich auf den „Grundzügen“ fußend, erschien dann 1991 auch Walter Flämigs „Grammatik des Deutschen. Einführung in Struktur und Wirkungszusammenhänge. Erarbeitet auf der theoretischen Grundlage der ‚Grundzüge einer deutschen Grammatik‘“.

5. Valenztheoretische Studien in der DDR In der Nachkriegszeit beherrschten zwei konkurrierende Grundkonzepte der grammatischen Struktur von Sätzen Grammatikbeschreibungen und theoretische Diskussionen. Das eine stammte aus den strukturalistischen Schulen in Nordamerika, die „Immediate Constituent Structure Analysis“. Sie verstand das Prinzip der strukturellen Gliederung von Sätzen als eine Gliederung der Satzkonstituenten wie Nomen (N), Verb (V), Adjektiv (A), Präposition (P) in hierarchisch übergeordnete Phrasen-Kategorien wie Nominalphrase (NP), Verbalphrase (VP), Adjektivphrase (AP), Präpositionalphrase (PP). Das andere geht auf Arbeiten des französischen Linguisten Lucien Tesnière zurück, der die Wertigkeit der Verben, ihre Valenz, als Grundlage der Satzstruktur betrachtet und hierarchische Gliederungen ohne die Annahme von Kategorien für Konstituentenstrukturen zu beschreiben versucht.17 Die Idee, von der Wertigkeit der Verben, ihrer Valenz, bei der Satzanalyse auszugehen, war eine radikale Neuerung, deren Konsequenzen nicht hoch genug eingeschätzt werden können. Sie rückt den Aufbau von Sätzen in ein ganz neues Licht und erklärt die Tatsache, dass viele Gramma16 17

Fleischer/Hartung/Schildt/Suchsland (Hg.), Enzyklopädie. Tesnière, Éléments.

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tikforscher dieses Konzept übernahmen.18 In den syntaktischen Analysen der GG wurde dieser Aspekt der Sprachstruktur erst später genauer unter den Gesichtspunkt der Argumentstruktur von Verben beleuchtet. Die beiden Ansätze wurden später von Anhängern der Generativen Grammatik, die Konstituentenstrukturen verwenden, sowie von mathematisch orientierten Anhängern des Dependenz-Prinzips formal ausformuliert und miteinander verglichen. David G. Hays gelangt dabei zu dem Ergebnis, dass die beiden Ansätze schwach äquivalent sind. Es besteht also die Möglichkeit, eine Konstituentenstrukturbeschreibung in eine Dependenzstrukturbeschreibung umzuwandeln. Für den umgekehrten Fall ist das aber nicht ohne spezielle Zusatzangaben möglich.19 Vertreter der automatischen Sprachverarbeitung bevorzugten Abhängigkeitsgrammatiken, da sie einen Zugang zur grammatischen Struktur über Oberflächenstrukturen ermöglicht. Zurückblickend darf wohl behauptet werden, dass der theoretische Ansatz der Generativen Grammatik auf lange Sicht stets umfassender war. Das ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass das Grammatikkonzept wesentlich mehr Zusammenhänge ins Blickfeld rückte als konkurrierende Theorien. Als Konzept wurden Valenzstrukturen in mehr oder weniger strikter Form erforscht. Einen Höhepunkt erreichte Jürgen Kunze mit seiner 1975 vorgelegten „Dependenzgrammatik des Deutschen“.20 Dependenzgrammatiken spielten auch in formal orientierten Richtungen der sowjetischen Linguistik eine größere Rolle.21 Mehr oder weniger isoliert von komplexeren grammatiktheoretischen Zielstellungen fand die Idee der Abhängigkeitsstruktur oder Valenz in viele Grammatikbeschreibungen Eingang.22 Mit der Valenzstruktur befassten sich in der DDR besonders Gerhard Helbig und Wilhelm Bondzio. Helbig war der führende Linguist am Herderinstitut der Karl-Marx-Universität Leipzig. Er unterhielt Kontakte zu allen grammatischen Forschungseinrichtungen der DDR und beteiligte sich federführend an den am Herderinstitut erarbeiteten grammatischen Handbüchern und Lehrmaterialien für den Deutschunterricht für Ausländer. Am Herderinstitut verfassten Gerhard Helbig und Joachim Buscha die „Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht“, die 1972 erschien.23 Eine verkürzte, konzentrierte Form erschien 1974 unter 18 19 20 21 22 23

Eroms, Syntax, S. 79. Hays, Dependency Theory. Kunze, Abhängigkeitsgrammatik. Helbig, Geschichte, S. 205. Brinkmann, Sprache; Erben, Abriß; Helbig/Buscha, Deutsche Grammatik. Helbig/Buscha, Deutsche Grammatik.

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dem Titel „Kurze deutsche Grammatik für Ausländer“.24 Im Mittelpunkt dieser Grammatikdarstellungen standen die „Fügungspotenzen“ der Wortklassen und deren Zusammenwirken bei der Konstituierung des Satzes. Die Beschreibung bemühte sich um die Angabe möglichst expliziter Regeln, da sie sich an Ausländer wandte, die über kein muttersprachliches Sprachgefühl verfügen. Die Grammatikbeschreibungen von Helbig und Buscha fanden in der Auslandsgermanistik reges Interesse und wurden auch bei der Ausbildung von Studenten in Deutschland benutzt.

6. Funktionale Grammatik in der DDR An den Pädagogischen Hochschulen der DDR, Potsdam und Güstrow, entstand eine Richtung der Grammatikschreibung, die sich selbst Funktionale Grammatik nannte. Initiator dieser Richtung war Wilhelm Schmidt. Diese Richtung erklärte sich nicht nur als für die Ausbildung von Deutschlehrern und für die Gestaltung der Lehrpläne an den Schulen der DDR verantwortlich, sie erhob vielmehr auch den Anspruch auf einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der Grammatiktheorie. Schmidt wollte die Schwächen der überkommenen Grammatikschreibung durch eine, wie er meinte, marxistisch fundierte Grammatiktheorie, die zugleich Grundlagen für praktisch orientierte Schulgrammatiken legt, überwinden. In Anlehnung an Georg Friedrich Meier, der aus Bayern in die DDR übergesiedelt war, schien ihm ein Ansatz, der sowohl die Form als auch Inhalt und Funktion sprachlicher Strukturen berücksichtigt, der richtige Weg zu seinem Ziel zu sein.25 Schon Georg Friedrich Meier hatte Inhalt und Form als dialektische Kategorien betrachtet. Der Inhalt (die Bedeutung) ist geformt und die Form (Lautgestalt) ist inhaltsvoll. Dies sei eine untrennbare dialektische Einheit.26 In der Berücksichtigung der Funktion sprachlicher Formen sah Schmidt – ähnlich wie die Prager Schule – eine Möglichkeit, soziale Aspekte der Sprachverwendung in die Grammatikanalyse einzubeziehen. Unter der Funktion eines sprachlichen Mittels verstand Schmidt zunächst dessen Inhalt, d. h. Inhalt, Funktion, sprachliche Bedeutung werden identifiziert. Jedes sprachliche Mittel hat eine funktionale und eine formale Seite. Jede sprachliche Form erfüllt im Rahmen der Aussage eine bestimmte Funktion. Später hat Schmidt erkannt, dass seine Grundbegriffe zu vage 24 25 26

Helbig/Buscha, Kurze deutsche Grammatik. Schmidt, Grundfragen, S. 23–25. Meier, Zero-Problem.

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waren. Er versuchte mehrmals eine Präzisierung, die aber, wie Gerhard Helbig feststellte, immer neue Probleme aufwarf.27 Der sehr global verstandene Begriff Funktion, d. h. der Hauptbegriff der funktionalen Grammatik, musste außerlinguistisch definiert werden und erfüllte damit nicht das allgemein anerkannte Grundprinzip, dass grammatische Begriffe aus der Sprachstruktur selbst abgeleitet werden müssen. Eine Theorie der Grammatik muss grammatische Fakten erfassen. Schmidt antwortete auf solche Kritik mit schwer nachvollziehbaren Gegenargumenten wie „der Bedeutungsbegriff ist in dem weiter gefassten Funktionsbegriff – im dialektischen Sinn – aufgehoben.“28 Tatsächlich gelang es Schmidt und seinen Anhängern nicht, Methoden und theoretische Hintergründe zur exakten Ermittlung der kommunikativen Leistung sprachlicher Mittel vorzulegen. Er räumt auch ein, dass die Funktionale Grammatik nicht auf „Methoden der logischen Analyse und der subjektiven Interpretation“ verzichten könne.29 In der praktischen Beschreibung grammatischer Erscheinungen ist der funktionale Anspruch keineswegs dominierend. Für die Beschreibung innergrammatischer Beziehungen wurden Methoden der strukturellen Linguistik, wie Substitution, Distribution, Transformation, ebenso übernommen wie Glinz’ Weglass-, Verschiebe- und Ersatzprobe. Ein Beispiel für die funktionale Betrachtung ist z. B. die Funktion Befehl. Befehle können durch sehr unterschiedliche Formen ausgedrückt werden, nämlich Imperativsätze, Formen des Infinitivs, des Partizips II, des Konjunktivs, des Futurs II u. a. Umgekehrt kann die Form Präsens die Funktionen Gegenwart, Zukunft, Vergangenheit, generelle Zeit ausdrücken. Dass die morphologische Kategorie Präsens in der deutschen Grammatik mehrere Interpretationen hat, muss jede Grammatikbeschreibung mit innergrammatischen Begriffen ausdrücken können. Im Rahmen der Generativen Grammatik wurde gezeigt, dass wir für eine theoretisch fundierte Erfassung von Kategorien wie Befehl, Frage, Aussage den grammatischen Begriff Satzmodus explizieren müssen, der wiederum mit Fakten zusammenhängt, die in Sprechakttheorien eine Rolle spielen.30 Schmidt fand auch in der Bundesrepublik Anhänger. Seine Kritik an anderen Grammatiken ist zweifellos überzogen und bietet keine ernsthafte Perspektive für eine alternative Grammatiktheorie. Funktionale Betrachtungen sind weder ein Novum noch ein prominent marxistischer Ansatz. Schon in der Prager Schule spielte der Begriff eine wichtige Rolle. Auch in anderen Grammatiken finden wir entsprechende Fragestellungen. So spricht Hennig Brinkmann von einem Modalfeld. In der Transformations27 28 29 30

Helbig, Geschichte, S. 175–177. Schmidt, Zum gegenwärtigen Stand, S. 232. Schmidt, Grundfragen, S. 29. Motsch/Pasch, Handlungen.

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grammatik ergibt sich die Rückführung von Oberflächenstrukturen wie Apposition, Relativsatz, Parenthese auf eine gemeinsame Tiefenstruktur aus innergrammatischen Zusammenhängen, die unter dem Gesichtspunkt Form und Funktion betrachtet werden könnten. Für die Ermittlung solcher Zusammenhänge sind in der Generativen Grammatik aber nicht nur intuitive Urteile zulässig, sondern es gelten strenge Bedingungen für die Ableitung von Oberflächenstrukturen aus einer Tiefenstruktur.31 Später versuchte Michael Alexander Kirkwood Halliday zu verdeutlichen, wie eine funktionale Sprachbetrachtung aufgebaut werden könnte.32 Möglicherweise hatte Schmidt ähnliche Zielstellungen im Auge. Sein Begriff Funktion erreichte jedoch nur Schlagwortcharakter. Mehrere Versuche, den zentralen Begriff seiner Grammatikauffassung zu präzisieren, misslangen. Das hielt ihn nicht davon ab, strukturelle Grammatiken und insbesondere die Generative Grammatik als unmarxistisch zu diffamieren. Er behauptete, diese Grammatikauffassungen isolierten die Sprache von den Sprachträgern und der Sprachgeschichte. In dieser Kritik offenbarte sich ein tiefes Missverständnis der methodologischen Prämissen der Generativen Grammatik, die mit der Idee der modularen Organisation einer Sprache alle mit Sprache im weiteren Sinne verbundenen Aspekte erfasst. Eine komplexe Theorie muss nach dieser Annahme aus relativ selbständigen Teiltheorien oder Modulen bestehen, die in spezifischer Weise aufeinander abgestimmt sind und zusammenwirken.33 Zweifellos ist die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen grammatischen Formen und kommunikativen Bedingungen für deren Gebrauch eine sinnvolle linguistische Aufgabe. Um Korrelationen zwischen grammatischen Formen und kommunikativen Bedingungen für deren Gebrauch zu erforschen, sind aber entwickelte Theorien über Aspekte der Sprachverwendung notwendig, die zwangsläufig soziale Faktoren berücksichtigen müssen. Chomsky interessierte sich in erster Linie für die Prinzipien syntaktischer Strukturen, weil das Fernziel seiner wissenschaftlichen Interessen der Nachweis ist, dass in der Hirnstruktur des Menschen Beschränkungen für den Erwerb geistiger Leistungen vom Format natürlicher Sprachen angelegt sind. Das ist eine in keiner Weise zu beanstandende Hypothese, die nur mit empirischen Argumenten und nicht mit philosophischen oder gar ideologischen widerlegt werden kann. Dass Chomsky in seiner wissenschaftlichen Arbeit wenig Interesse an der Erforschung kommunikativer und sozialer Aspekte des Sprachgebrauchs hatte, bedeutet natürlich nicht, dass er diese Aspekte für irrelevant betrachtete. Viel eher ist

31 32 33

Helbig, Geschichte, S. 179. Halliday, Beiträge. Fodor, Modolarity; Motsch, Aspekte.

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anzunehmen, dass ihn das wissenschaftliche Niveau, auf dem über diese Gesichtspunkte diskutiert wurde, nicht reizte.34

7. Politisch-ideologische Barrieren Ein historischer Blick auf die germanistische Grammatikforschung in der DDR und in der Bundesrepublik darf die administrativen und ideologischen Besonderheiten, die durch die politische Teilung Deutschlands bedingt sind, nicht verdrängen. Einerseits muss anerkannt werden, dass der wissenschaftlichen Forschung in der DDR ein hoher Stellenwert zugemessen wurde. Eine linguistische Forschungseinrichtung wie das „Zentralinstitut für Sprachwissenschaft“ der AdW der DDR mit 220 Mitarbeiten, die im Wesentlichen mit Forschungen befasst waren, gab es wohl nur in der DDR. Andererseits wurden diese fast idealen Möglichkeiten durch das politische System aber auch eingeschränkt. Zu diesem Aspekt wollen wir noch einige Bemerkungen anfügen. Nach einer relativ moderaten Anfangsphase, die durch die vage Zielstellung einer ‚antifaschistisch-demokratischen Ordnung‘ geprägt war, erfolgte die Gründung der DDR. Von nun an erhob die SED den Anspruch auf die führende Rolle im Staat. Dieser Anspruch wurde in einer Verfassungsänderung im Jahre 1968 festgeschrieben. Vom Anfang der fünfziger bis gegen Ende der sechziger Jahre befand sich die Linguistik in der DDR in einer relativ günstigen Situation, nicht zuletzt durch ein Diktum von Josef W. Stalin. In seiner (freilich von dem georgischen Linguisten Č’ik’obava verfassten) Broschüre „Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft“ hatte Stalin gegen ‚vulgärmarxistische‘ Betrachtungen, wie sie der sowjetische Sprachwissenschaftler Marr angestellt hatte, Position bezogen und diktiert, dass die Sprache weder zur (ökonomischen) Basis noch zum (ideologischen) Überbau gehöre, sondern ein System sui generis sei. Die Sachlage änderte sich radikal, als in den sechziger Jahren in Westeuropa der anthropologische Strukturalismus en vogue war und vielen dem Marxismus nahestehenden Intellektuellen als interessantes gesellschaftstheoretisches Modell erschien. Dies stimmte die dogmatischen Parteiideologen, namentlich Kurt Hager, misstrauisch gegen jegliche Art struktureller Analyse, auch in der Linguistik, insbesondere wenn sie mit Aspekten generellerer Fragestellungen, etwa mit der biologischen Fundierung von Sprache verbunden 34

Arbeiten, die sich als Funktionale Grammatiken bezeichnen, sind neben den Arbeiten von Schmidt auch Beiträge von Sommerfeldt, Was verstehen wir unter funktionaler Grammatik?; Sommerfeldt/Schreiber, Wörterbuch der Adjektive; Sommerfeldt/Schreiber, Wörterbuch der Substantive; Sommerfeldt/Starke/Nerius, Einführung.

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war und folglich mit dem Bild des Menschen überhaupt. So setzte eine strikte politische Neuorientierung für die Sprachwissenschaft der DDR ein. Sprachwissenschaft hatte eine Gesellschaftswissenschaft zu sein und nicht bloße Systemlinguistik. Diese Neuorientierung fiel nun ausgerechnet mit der gleichzeitig sich abzeichnenden kommunikativ-pragmatischen Wende in der bundesdeutschen Sprachwissenschaft zusammen, was jetzt den Grammatikern unter uns immerhin partiell als Vorbild vorgehalten wurde. Für die Wissenschaft bedeutete die Neuorientierung eine strikte Kontrolle durch die Politik. Eine Abteilung Wissenschaft beim ZK der SED sorgte für die Durchsetzung von politischen Interessen der Parteiführung. Administrativ waren wissenschaftliche Einrichtungen dem „Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen“, dem „Ministerium für Volksbildung“ sowie der nach sowjetischem Vorbild gegründeten „Akademie der Wissenschaften der DDR“ unterstellt. Zusätzlich gab es Forschungseinrichtungen in Großbetrieben. In diesem Gefüge nahm die AdW eine Sonderstellung ein. Sie hatte den gleichen administrativen Rang wie das „Ministerium für Hochund Fachschulwesen“. Die Erwähnung dieser organisatorischen Struktur ist insofern wichtig, als sie gewisse Unterschiede in den Bedingungen für wissenschaftliche Forschung in den beiden Bereichen erklärt. Abgesehen von einigen ideologischen Kampagnen kann man davon ausgehen, dass sich die AdW der DDR stärker an internationalen Maßstäben orientieren durfte. Das ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass das Profil der AdW der DDR weitgehend von den Naturwissenschaften bestimmt wurde. Während ideologische Maßstäbe und Kampagnen im Hochschulbereich viel heftiger wirken konnten, bewirkte diese administrative Struktur eine erhebliche Abminderung der schädlichen Wirkungen solcher Aktionen. Ausgangspunkt für ideologische Beeinflussung waren in den siebziger Jahren Forderungen, die Arbeitspläne des gesellschaftswissenschaftlichen Forschungsbereichs stärker auf praktische Zielstellungen auszurichten. Zugleich wurde damit verlangt, die theoretischen Grundlagen der Forschungstätigkeit stärker auf den Marxismus-Leninismus zu beziehen. Vernünftig ausgelegt sind das zunächst ja keine böswilligen Ansinnen. In der Praxis konnten solche Forderungen aber benutzt werden, um die theoretischen Schwächen der eigenen Ansätze zu verschleiern, scheinbare Vorteile aus angeblich marxistischen Positionen dieser Ansätze ins Feld zu führen und deren gesellschaftliche Nützlichkeit zu begründen, wie das oben angeführte Beispiel der „Potsdamer Stellungnahme“ zur „Skizze der deutschen Grammatik“ zeigt. Genau genommen war in der orthodoxen Auslegung des Marxismus für Philosophen und höhere Parteifunktionäre klar, dass die Grammatik einer Sprache kein gesellschaftswissenschaftlicher Gegenstand ist. Das hatten sie in oben erwähnter Schrift Stalins gelernt. Deshalb war zumindest

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die Grammatik natürlicher Sprachen allenfalls von marginalem Interesse für marxistische Philosophen. Philosophische Institute, die sich mit Sprachphilosophie im Sinne von Carnap, Wittgenstein, Montague, Grice, Austin und Searle befassten, bildeten eine Ausnahme. Die Ideologiewächter im Parteiapparat übten nur Kritik an einem vagen Begriff vom ‚Strukturalismus‘, der in den Gesellschaftswissenschaften um sich greife (siehe oben). Ideologische Kampagnen konnten also nur auf untergeordneten Ebenen ausgelöst werden. Einige Vertreter der Funktionalen Grammatik, selbst überzeugt davon, einen mit Postulaten der marxistischen Philosophie verbundenen Ansatz gefunden zu haben, nutzten die in den siebziger Jahren entstandene Situation um nachzuweisen, dass die Generative Grammatik eine ‚marxismusfeindliche bürgerliche Theorie der Sprache‘ ist. Hauptangriffspunkt war Chomskys Idee, dass die Grundlagen für den Erwerb von Fähigkeiten vom Format natürlicher Sprachen im Gehirn des Menschen präformiert sind. Eine ganz normale wissenschaftliche Hypothese, die durchaus widerlegt werden kann. An Versuchen hat es nicht gefehlt. Die angeblich marxistische Kritik richtet sich aber an die ideengeschichtliche Berufung Chomskys auf die Annahme ‚eingeborener Ideen‘ von Descartes. Aus trivialmarxistischer Sicht, und auf diesem Niveau bewegte sich die Diskussion, ist das eine idealistische Position die a priori marxistischen Annahmen zur Erkenntnistheorie widerspricht. Hinter solchen Angriffen steckte der Versuch, den Einfluss der Vertreter der Generativen Grammatik mindestens im Hochschulbereich einzuschränken und auf die Gestaltung der Lehrpläne für den Schulunterricht zu unterbinden. Leider war die Stelle des Direktors des Zentralinstituts in dieser Zeit mit Personen besetzt, die die tatsächlichen Ziele der ideologischen Angriffe nicht durchschauten. So ist zu erklären, weshalb unsinnige Angriffe auf die „Skizze“, die „Grundzüge“, die ASG und einzelne Mitarbeiter (besonders Ewald Lang und Manfred Bierwisch) nicht unmittelbar entschieden abgewehrt werden konnten. Bei dieser Gelegenheit muss jedoch hervorgehoben werden, dass die wissenschaftliche Arbeit im Bereich Grammatik und Semantik des „Zentralinstituts für Sprachwissenschaft“ der AdW der DDR keinen dauerhaften Schaden nahm. Dafür sorgten nicht zuletzt der Direktor Werner Bahner und der Parteisekretär Dieter Viehweger. Die Ziele und das Wissenschaftsideal der ASG wurden Mitte der siebziger Jahre von anderen Arbeitsgruppen, besonders unter der Leitung von Manfred Bierwisch, bis zum Ende der DDR weiter verfolgt. Insgesamt gesehen muss wohl festgestellt werden, dass auch das politische Klima in der DDR dazu beigetragen hat, dass sich der Schwerpunkt der auf der GG beruhenden Grammatikforschung in die Bundesrepublik verlagerte.

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Wolfgang Motsch / Peter Suchsland

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Die Generative Grammatik in Ost- und Westdeutschland 1. Vorbemerkungen Von der Antike bis ins 19. Jahrhundert hat die Sprachwissenschaft wenige grundlegende Änderungen erfahren.1 Im 19. Jahrhundert bildete sich die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft heraus, die z. B. die Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der indogermanischen Sprachen erforschte.2 Die darauf aufbauenden Junggrammatiker im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts betrachteten Sprache als naturwissenschaftliches Gebilde.3 Sie verglichen Laut- und Formgestalt einzelner Wortformen in verschiedenen Sprachen, ohne sie jeweils in ein Sprachsystem einzuordnen. Um die Syntax kümmerten sie sich wenig.4 Eine entscheidende Wende bildeten die Vorlesungen von Ferdinand de Saussure an der Universität Genf, die postum 1916 von Bally und Sechehaye als „Cours de Linguistique Générale“ publiziert wurden. Für de Saussure ist Sprache ein System bilateraler Zeichen, deren Bestandteile – signifiant (image acoustique) und signifié (concept) – psychisch sind und eine unauflösbare Einheit bilden. Alle Schulen des Strukturalismus basieren auf Saussures „Cours“. Die Prager Schule entstand in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts.5 Ihr ist die Herausbildung der Phonologie als Subdisziplin der Linguistik zu verdanken: Für Trubetzkoy ist Phonetik die Lautlehre der parole und Phonologie die Lautlehre der langue.6 Zentrale Einheit der Phonologie ist 1 2 3 4 5 6

Ich betrachte die Termini Sprachwissenschaft und Linguistik als synonym. Vgl. Schlegel, Sprache und Weisheit. Vgl. Helbig, Sprachwissenschaft, S. 80. Ausnahmen sind: Paul, Prinzipien; Paul, Grammatik; Behaghel, Syntax. Vgl. Vachek, School. Vgl. Trubetzkoy, Phonologie.

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das Phonem.7 Roman Jakobson führt phonetisch-phonologische Merkmale ein.8 Der Kopenhagener Linguistenkreis wurde 1933 gegründet. Hjelmslev entwickelte als neue Theorie die Glossematik, so genannt nach ihren Einheiten, den Glossemen.9 Aufbauend auf den beiden Seiten des sprachlichen Zeichens bei de Saussure postuliert er eine Ausdrucksebene (die Gesamtheit der Sprachmittel) und eine Inhaltsebene, die Gesamtheit der in einer Sprache ausgedrückten Inhalte. Sprache ist (in beiden Ebenen) Form, nicht Substanz. Hjelmslevs Vorgehensweise ist recht abstrakt. Bech hat sie aufs Deutsche angewandt und dabei äußerst gründlich Sprachfakten beobachtet und analysiert.10 Der amerikanische Strukturalismus speiste sich laut Bierwisch aus der Erforschung der Indianersprachen und dem durch eine positivistische, antimentalistische Haltung gekennzeichneten Behaviorismus.11 Im Behaviorismus wird jedes Verhalten als Reaktion auf einen Reiz erklärt. So verfährt auch Bloomfield im Standardwerk „Language“: (01) S ĺ R

(S = stimulus; R = response)

Er macht seine Vorgehensweise an einem Beispiel klar: Jill hat Hunger, kann aber die Äpfel am Baum nicht erreichen und bittet Jack, ihr einen Apfel zu pflücken. Jack tut das und reicht ihr den Apfel. Ein nicht-sprachlicher Reiz führt zunächst zu einer sprachlichen Reaktion bei Jill, die zu einem sprachlichen Reiz bei Jack führt, der dann eine nicht-sprachliche Reaktion vollführt: (02) S ĺ r … s ĺ R Der Linguist hat es zufolge Bloomfield nur mit r … s zu tun.12 Mit dieser Begründung schließt er die Bedeutung als nicht direkt zugänglichen Gegenstand der Analyse aus. Nach Harris muss der Linguist Äußerungen segmentieren und darauf achten, in welcher Distribution wiederholte Sequenzen vorkommen.13 Das hat der amerikanischen, auf Bloomfield und Harris aufbauenden Linguistik den Namen Distributionalismus eingetragen.

7 8 9 10 11 12 13

Vgl. Ramers, Phonologie. Vgl. Jakobson, Fonéma, S. 608. Fundierter in Jakobson/Fant/Halle (Hg.), Preliminaries. Hjelmslev, Sprogteoriens. Vgl. Bech, Studien. Vgl. Bierwisch, Strukturalismus, S. 100. Vgl. Bloomfield, Language, S. 74. Vgl. Harris, Methods.

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2. Kurzer Abriss der Generativen Grammatik In der Frühphase ist die Generative Grammatik (GG), repräsentiert durch „Syntactic Structures“, noch strukturalistisch geprägt.14 Das zeigt sich in der Übernahme der Konstituentenanalyse, die allerdings durch Transformationsregeln ergänzt wird. Wie im klassischen Strukturalismus spielen auch das Bemühen um Systematizität und häufiger Gebrauch formaler Notationen eine Rolle. Stärker als im Strukturalismus ist jedoch von Anfang an das Bemühen der Generativisten, aus Einzelheiten Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. So sagt Chomsky: „One function of this theory is to provide a general method for selecting a grammar for each language, given a corpus of sentences of this language.“15 Die Sprachauffassung von Chomsky ist stark mathematisch-mengentheoretisch geprägt: „From now on I will consider a language to be a set (finite or infinite) of sentences, each finite in length and constructed out of a finite set of elements.“16 Zentral für Chomsky ist die Grammatizität (grammaticalness) von Sätzen. Der Linguist muss herausfinden, welche Sequenzen grammatisch sind, welche nicht oder weniger grammatisch. In der klassischen Periode der GG, der sog. ‚Standardtheorie‘, beschreibt Chomsky 1965 die Aufgabe des Linguisten in seinem bahnbrechenden Werk „Aspects of the Theory of Syntax“ so: Linguistic theory is concerned primarily with an ideal speaker-listener, in a completely homogeneous speech-community, who knows its language perfectly and is unaffected by such grammatically irrelevant conditions as memory limitations, distractions, shifts of attention and interest, and errors (random or characteristic) in applying his knowledge of the language in actual performance. […] We thus make a fundamental distinction between competence (the speaker-hearers knowledge of his language) and performance (the actual use of language in concrete situations).17

Chomsky sieht als primären Gegenstand der Linguistik nicht mehr eine abstrakte unendliche Satzmenge, sondern die Fähigkeit des Sprechers, Sätze einer Sprache zu bilden und zu verstehen, die er Kompetenz (competence) nennt. Sprache wird jetzt unter kognitivem Aspekt gesehen.18 Der Sprecher (der immer auch gleichzeitig ein Hörer ist) wird als idealer Sprecher-Hörer gesehen, der keinen Entgleisungen, Gedächtnisstörungen usw. unterworfen 14 15 16 17 18

Chomsky, Structures. Ebd., S. 11. Ebd., S. 13. Ebd., S. 3–4. Neisser definiert: „the term ‚cognition‘ refers to all the processes by which the sensory input is transformed, reduced, elaborated, stored, recovered and used [...] even in the absence of relevant stimulation“ (Neiser, Psychology, S. 4).

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ist.19 Hier fordert Chomsky für die Sprachwissenschaft die Untersuchung des Gegenstands unter idealen Bedingungen, frei von Störfaktoren (wie in den Naturwissenschaften). Dabei betont Chomsky, dass es dem Linguisten nicht um das geht, was der Sprecher für seine Sprachkompetenz ausgibt, sondern um das, was sich aus den Äußerungen des Sprechers als dessen Kompetenz erschließen lässt.20 Zur Kompetenz rechnet Chomsky nicht nur die Fähigkeit eines Sprechers, Sätze zu bilden und zu verstehen, sondern auch, ihnen eine Struktur zuzuordnen, bzw. – bei syntaktisch doppeldeutigen Sätzen wie Paul tötete den Mann mit dem Messer – zwei Strukturen. Der Kompetenz stellt Chomsky die Performanz, den Sprachgebrauch, gegenüber. Performanz setzt Kompetenz voraus, hängt aber auch von psychischen, physischen und sozialen Faktoren ab, z. B. vom Gemütszustand des Sprechers und von der Sprechsituation.21 Grammatik lässt sich als Theorie der Kompetenz definieren. Chomsky hält es aber für möglich, auch eine Theorie der Performanz auszuarbeiten.22 Chomsky unterscheidet auf Kompetenz aufbauende Grammatikalität eines Satzes von Akzeptabilität als Performanz-Phänomen.23 Ein grammatischer Satz kann als unakzeptabel empfunden werden, weil er zu lang oder zu verschachtelt ist. Der angeblich aus einem Provinzblatt des 19. Jahrhunderts stammende Satz (03) ist grammatisch, aber kaum akzeptabel, da er das Gedächtnis des Hörers bzw. Lesers überfordert. (03) Derjenige, der denjenigen, der den Pfahl, der auf der Straße, die nach Kulmbach führt, steht, umgestoßen hat, anzeigt, erhält eine Belohnung. Chomsky nimmt an, dass den Grammatiken verschiedener Sprachen eine universelle Grammatik zugrunde liegt, die allen Sprachen gemeinsame Elemente und Prinzipien enthält.24 Universell gilt für Chomsky die Annahme 19

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23 24

Die geläufigste Art solcher Entgleisungen wird im Deutschen Versprecher (engl. slip of the tongue) genannt. Daneben gibt es auch Verscheiber, Verhörer, Verleser usw. (vgl. Freud, Psychopathologie, S.  94–116; Fromkin, Utterances; Fromkin, Speech Errors; Wiedenmann, Versprecher). Wenn man – Martin Luther folgend – den Leuten aufs Maul schaut, stellt man fest, dass sie z. B. lieben als [li:bm] und legen als [le:g1] aussprechen, aber fest davon überzeugt sind, [ľ] in der Endsilbe zu realisieren. Chomsky weist darauf hin, dass Kompetenz und Performanz weitgehend Saussures langue und parole entsprechen, dass Kompetenz jedoch als generativer Prozess gesehen wird (vgl. Chomsky, Structures, S. 4). Aus der Annahme einiger Psycholinguisten, dass sich in experimentellen Untersuchungen nachweisen lasse, dass z. B. Passivsätze (da sie mehr Transformationen durchlaufen als Aktivsätze), eine längere Verarbeitungszeit erfordern, ließen sich keine Performanzmodelle entwickeln, wie sie Chomsky im Sinn hatte. Vgl. Chomsky, Structures, S. 11. Ebd., S. 6.

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einer (abstrakten) Tiefenstruktur, die der Oberflächenstruktur eines Satzes zugrunde liegt. Die Tiefenstruktur ist als Konzept aufzufassen, das dazu dient, syntaktische Phänomene der Oberflächenstruktur bzw. Relationen zwischen syntaktischen Konstruktionen explizit zu machen. Sie ist eine syntaktische, keine semantische Struktur.25 Die Tiefenstruktur entsteht durch die Anwendung sog. Phrasenstruktur-Regeln (PS-Regeln). Aus der Tiefenstruktur werden Oberflächenstrukturen durch Transformationen abgeleitet.26 T-Regeln wandeln einen – durch PS-Regeln generierten – BasisStrukturbaum in einen abgeleiteten Strukturbaum (derived phrase marker) um. Jede T-Regel enthält mindestens eine elementare Transformation. Koutsoudas unterscheidet vier Arten elementarer Transformationen: Adjunktion, Tilgung, Permutation und Substitution.27 So werden in der Passivtransformation NP1 und NP2 permutiert, von wird an NP1 adjungiert und Part(izip) + werd- werden an V adjungiert. In der weiteren Entwicklung spielen Transformationen eine geringere Rolle. So beschreibt Höhle28 das Passiv mit Hilfe von Redundanzregeln im Lexikon. Die Prinzipien-und-Parameter-Theorie löste in den achtziger Jahren die Standardtheorie ab. Der Linguist muss versuchen, sprachliche Komplexität aus einfachen Grundprinzipien abzuleiten. Ein solches Prinzipiensystem findet sich bei Chomsky29 und wurde von Jackendoff30 ausgebaut. Syntaktische Strukturierung beruht auf dem sog. X-bar-Schema: – – –

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Phrasen aller Arten (NP, VP, AP und PP) sind im Wesentlichen gleich strukturiert. Es gibt Zwischenstufen zwischen Phrase und Wort. Auf jeder Stufe gibt es einen Kopf, d. h. eine obligatorische, die Struktur prägende und den Phrasentyp bestimmende Konstituente, sowie fakultative Konstituenten, die dem Kopf zugeordnet sind.

Die Rückführung der Sätze Heute ist es sehr warm, Es ist heute sehr warm, Sehr warm ist es heute und Heute ist sehr warmes Wetter auf die gleiche Tiefenstruktur bei Bünting (Einführung, S. 133) basiert auf dem Irrtum, die Tiefenstruktur sei eine semantische Struktur. Nur die drei ersten Sätze können auf die gleiche Tiefenstruktur zurückgeführt werden, nicht jedoch der letzte Satz mit dem zusätzlichen Lexem Wetter. Zur Tiefenstruktur vgl. die klare und detaillierte Darstellung in Bartsch/Lenerz/Ullmer-Ehrich, Einführung. Transformationen finden sich bei Harris (Discourse Analysis; Co-Occurrence), ja sogar schon in Jespersens „Philosophy“, wo die Sätze The doctor arrived, I saw the doctor arrive und I saw the doctor‘s arrival die identische Aussage the doctor arrived enthalten. Doch wird hier keine Tiefenstruktur als Ausgangsstruktur angenommen. Vgl. Koutsoudas, Grammars. Vgl. Höhle, Syntax. Vgl. Chomsky, Nominalization. Vgl. Jackendoff, X Syntax.

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(04) Schema für X-bar-Regeln (nach Fanselow / Felix)31 Xn ĺ Xm (m = n oder n–1) Auf jeder Stufe gibt es einen Kopf mit einem Index, der gegenüber dem der dominierenden Kategorie um eins vermindert ist (‚n–1‘); zusätzliche Elemente sind durch ‚…‘ angedeutet. Fanselow/Felix beziehen valenz-relevante Ergänzungen sowie Adjunkte in das X-bar-Schema ein.32 Neben den Ergänzungen gibt es freie Angaben (Adjunkte), die in einem losen Verhältnis zum Kopf der Phrase stehen.33 (05) X-bar-Baum (nach Fanselow / Felix)34

 

X'' / \ ơX' / \ X'Ƣ ?  X0ƣ 

ơ 6SH]LÀ]LHUHU Ƣ $GMXQNW ƣ .RPSOHPHQW

Hier sind phrasentypische Spezifizierer oben, dominiert von X'', angesetzt, Adjunkte in der Mitte (dominiert von X'), Valenzkomplemente (Ergänzungen bzw. Argumente) unten, dem Kopf der Phrase benachbart. Da die Zahl der Adjunkte unbegrenzt ist, ist die mittlere Stufe in (05) rekursiv. Ursprünglich fiel der Satz aus diesem Schema heraus, da er als exozentrische (d. h. nicht-endozentrische) Verbindung aus NP und VP aufgefasst wurde. Chomsky sieht auch den Satz als Phrase – mit einem abstrakten Element als Kopf – und bezieht ihn in das X-bar-Schema ein.35 Der einfache Satz S ist eine INFL-Phrase (I''). Ihr Kopf INFL(ection) ist eine funktionale Kategorie, die Kongruenz in S herstellt. Der Satz im weiteren Sinne S‘ hat C(OMP) als Kopf, ebenfalls eine funktionale Kategorie, die in Nebensätzen durch Complementizer (Satzverknüpfer) wie dass oder ob realisiert wird und in Hauptsätzen als ‚Landeplatz‘ für Konstituenten dient, die durch eine To-

31 32

33 34 35

Fanselow/Felix, Sprachtheorie, Bd. 2, S. 54. Den der Chemie entlehnten Terminus Valenz wandte Tesnière auf die Wertigkeit sprachlicher Elemente (vor allem Verben) an: Das Verb schlafen ist einwertig (mit einem Subjekt), lieben zweiwertig (mit Subj. und dir. Obj.), geben dreiwertig (mit Subj., dir. und indir. Objekt) (vgl. Tesnière, Eléments). Vgl. Engel, Syntax; Engel, Grammatik; Jacobs, Kontra Valenz; Vater, Valenzpotenz; Ágel, Valentheorie. Fanselow/Felix, Sprachtheorie, Bd. 2, S. 54. Vgl. Chomsky, Government.

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pikalisierung genannte Transformation in die Erstposition des Satzes kommen.36

3. Die Generative Grammatik in Deutschland Die durch die Naziherrschaft bewirkte Isolierung führte dazu, dass Deutschland von der wissenschaftlichen Entwicklung in anderen Ländern abgeschnitten war.37 Es dauerte lange, bis sich Nachkriegsdeutschland davon erholte und Anschluss an die internationale Entwicklung fand. Dabei spielte die Schweiz (als im Krieg neutrales Land) eine vermittelnde Rolle: Die ersten vom Strukturalismus geprägten deutschsprachigen Werke waren die von zwei Schweizern: Glinz’ „Die Innere Form des Deutschen“ aus dem Jahr 1952 und „Relativsatz, Attribut und Apposition“ von Hansjakob Seiler aus dem Jahr 1960. Mein Buch über das Artikelsystem des Deutschen war stark von Seilers Werk geprägt.38 Gerade als deutsche Linguisten den Strukturalismus entdeckten, trat in den USA die GG ihren Siegeszug an, der bald auch Europa erfasste. Ein Paradox bestand darin, dass die aus den USA stammende GG zuerst in Ostdeutschland, in der damaligen DDR, Fuß fasste, obwohl man sich dort so sehr gegenüber allem Westlichem abschirmte. Kurze Zeit nach der Publikation der ersten strukturalistischen Werke in Westdeutschland erschienen in der DDR schon die ersten generativen Werke. 1961 startete die von Wolfgang Steinitz 1956 gegründete „Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik“ (ASG) an der „Deutschen Akademie der Wissenschaften“ in Ostberlin die Reihe „Studia Grammatica“ (SG).39 Die Werke dieser Reihe – so die 1962 36

37

38 39

Vgl. hierzu und zur GG generell die ausführlichere Darstellung bei Bierwisch, Strukturalismus; Vater, Strukturalismus und Transformationsgrammatik; Vater, Strukturalismus und Generative Grammatik. Vgl. Baumgärtner, Forschungsbericht; Helbig, Geschichte, S.  324–326. Zur Vertreibung deutscher Sprachwissenschaftler jüdischen Glaubens bzw. demokratischer Gesinnung – darunter vieler Strukturalisten – vgl. Maas, Verfolgung. Die Isolierung gegenüber der internationalen Sprachwissenschaft wurde verstärkt durch die Entwicklung rassistisch-nationalistischer Anschauungen, die nach Gardt, Geschichte, S.  301, auf Rassentheorien des 19. Jahrhunderts basieren. Römer zitiert aus Gobineaus „Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“: „Die Rangordnung der Sprachen entspricht der Rangordnung der Rassen“ (Römer, Sprachwissenschaft, S. 133). Vater, Artikelformen. Der Finno-Ugrist Wolfgang Steinitz hat sich auch um die Slavistik (z. B. durch seine „Russische Grammatik“), und die Germanistik verdient gemacht (vgl. Lang, Kohärenz; Vater, Steinitz). Er lud seinen Freund Roman Jakobson nach Ostberlin ein. Jakobson machte die ASG-Mitarbeiter mit strukturalistischen Theorien und Methoden bekannt. Zur ASG vgl. Clément, Grammatik; Bierwisch, Beobachtungen und Wurzel, Geschichte.

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als SG 1 erschienenen „Thesen über die theoretischen Grundlagen einer wissenschaftlichen Grammatik“ (1962) und Monographien von Bierwisch, Hartung, Motsch, Steinitz, Wurzel und Lang – vermittelten neue Erkenntnisse zu zentralen Bereichen der deutschen Grammatik auf Grundlage der GG, bauten neue theoretische Ansätze aus und wurden so richtungweisend für die deutsche und europäische Sprachwissenschaft.40 Eine wichtige Rolle spielten auch die ebenfalls im Akademie-Verlag in Ostberlin erschienenen „Grundzüge einer deutschen Grammatik“ von Heidolph, Flämig, Motsch u. a. aus dem Jahr 1981. Leider wurde die ASG nach dem Tod von Wolfgang Steinitz (1967) von der SED-Bürokratie 1973 aufgelöst; die Mitarbeiter wurden verschiedenen anderen Akademieprojekten zugewiesen. Von der DDR (genauer von Ostberlin) aus sprang der Funke zum Westen über, wobei Dieter Wunderlich (der in Westberlin studierte und regelmäßig an den Montagssitzungen der „Arbeitsgruppe Strukturelle Grammatik“ teilnahm) eine entscheidende Rolle spielte.41 Einen kleinen Beitrag zur Verbreitung der Generativen Grammatik in der Bundesrepublik konnte ich leisten, als ich mit Winfried Boeder und Johannes Meyer-Ingwersen das erste Linguistische Kolloquium – damals noch „Linguistisches Kolloquium zur Generativen Grammatik“ genannt – in Hamburg-Harburg organisierte. Einen Durchbruch bedeutete das „3. Linguistische Kolloquium“ auf Burg Stettenfels, an dem neben anderen deutschen Vertretern der GG wie Werner Abraham, Christian Rohrer und Dieter Wunderlich auch Klaus Baumgärtner – wie ich ein ehemaliger Mitarbeiter der „Deutschen Akademie der Wissenschaften“ in Ostberlin – teilnahm. In den folgenden Jahrzehnten entstanden in der Bundesrepublik Deutschland bedeutende Werke der GG, die auch zu deren Weiterentwicklung beitrugen, z. B. die Arbeiten von Baumgärtner, Wunderlich, Reis, Altmann, Jacobs, Olsen, Grewendorf, Abraham, Wiese.42 Die in der Bundesre40 41

42

Vgl. Bierwisch, Grammatik; Hartung, Sätze; Motsch, Syntax; Steinitz, Adverbialsyntax; Wurzel, Lautstruktur; Lang, Semantik. Außerhalb der ASG, so an den Universitäten der DDR mit Ausnahme der Universität Jena (vgl. Suchsland, Grundlagen), arbeiteten die Linguisten noch überwiegend traditionell oder strukturalistisch (vgl. Bierwisch, Grammatikforschung), doch entwickelten sich auch andere Richtungen wie z. B. die Funktional-kommunikative Sprachbeschreibung, deren theoretische Grundlagen Schmidts „Grundfragen“ und Schmidts u. a. „Sprachbeschreibung“ darlegen. Zudem entstanden einige didaktisch orientierte Grammatiken, die noch heute vor allem im Deutschunterricht für Ausländer benutzt werden wie Helbig/Buschas „Deutsche Grammatik“ und Jungs „Grammatik der deutschen Sprache“. Baumgärtners „Die Struktur des Bedeutungsfeldes“ behandelt semantische Felder, Wunderlich in „Tempus und Zeitreferenz im Deutschen“ die Tempora des Deutschen; Reis integriert in „On Justifying Topological Frames“ topologische Felder (Stellungsfelder) in eine generative Syntax des Deutschen; Altmann behandelt in „Formen der ‚Herausstellung‘ im Deutschen“ die Syntax ‚randständiger‘ (links- oder rechtsversetzter) Konstituenten; Grewendorfs „Aspekte der deutschen Syntax“ bietet eine generative Beschreibung der deutschen Syntax, Wiese eine generative Phonologie des Deutschen mit „The Phonology of German“,

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publik Deutschland führende linguistische Reihe „Linguistische Arbeiten“ (LA) beim Niemeyer-Verlag (Tübingen) machte sich verdient um die Publikation generativer Arbeiten; dort wurden neben den Arbeiten von Reis, Altmann, Kloeke und Jacobs seit den achtziger Jahren auch die Akten der Linguistischen Kolloquien und der Jahrestagungen der „Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft“ (DGfS) veröffentlicht.43 Eine wichtige Rolle spielten auch die in den LA veröffentlichten Proceedings der Kolloquien zur Zeit-, Aspekt- und Quantorenlogik.44 Zur GG des Deutschen erschienen viele bedeutende Publikationen in der Reihe „Studien zur deutschen Grammatik“ (bei Narr, später Stauffenberg in Tübingen).45 Die „Linguistischen Kolloquien“ weiteten sich inhaltlich aus durch Einbeziehung von Bereichen wie Sprachkontakte, Sozio-, Psycho- und Neurolinguistik. Das rührt teilweise daher, dass viele deutsche Linguisten sich von der Grammatiktheorie ab- und sozialen Faktoren der Sprachverwendung zuwandten.46 Doch dank der in Chomsky47 vertretenen (von Lenneberg inspirierten48) biologistischen Sprachauffassung öffnete sich die GG psychologischen, soziologischen und biologischen Themen und Analysemethoden. Beispiele für diese Öffnung sind der 1974 erschienene Sammelband von Kiefer/Perlmutter „Syntax und generative Grammatik“, wo z. B. Manfred Bierwischs „Fehlerlinguistik“ abgedruckt wurde, Marga Reis „Präsuppo-

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Abrahams „Deutsche Syntax im Sprachenvergleich“ eine generative typologische Syntax des Deutschen. Modifikationen der GG finden sich z. B. in Vaters „Dänische Subjekt- und Objektsätze“ und „Towards a Generative Dependency Grammar“, wo eine dependenzielle Tiefenstruktur postuliert wird, in dem von Vennemann herausgegebenen „Silben, Segmente, Akzente“, wo Silben- und Akzentstrukturen auf Grundlage der Nichtlinearen Phonologie analysiert werden (vgl. auch Vennemann, Entwicklungen) und bei „Fokus und Skalen“ von Jacobs zum Fokus bei Gradpartikeln. So Reis, Präsuppositionen; Altmann, Herausstellung; Kloeke, Phonologie; Jacobs, Fokus. Die seit 1966 jährlich stattfindenden Linguistischen Kolloquien bezogen Nachbarländer ein, vgl. z. B. ten Cate/Jordens, Perspektiven; Bald/Sprengel/Viethen, Bereiche; Van de Velde/Vandeweghe, Sprachstruktur; Kohrt/Lenerz, Sprache. Die Jahrestagungen der DGfS spielten eine herausragende Rolle bei der Propagierung der GG und ihrer Anwendung aufs Deutsche; vgl. z. B. Reis/Rosengren, Fragesätze. Vgl. z. B. Rohrer, Papers, und Rohrer, Time. So z. B. Lenerz, Satzglieder; Grewendorf, Aspekte; Hetland, Satzadverbien; Abraham, Syntax; Neef, Wortdesign, und Sammelbände wie Abraham, Erklärende Syntax, und Abraham, Satzglieder. Im deutschsprachigen Bereich gab es von Anfang an Animosität von Seiten einiger traditioneller Linguisten gegenüber der Generativen Grammatik, am schärfsten artikuliert von Korn in „Sprache oder Linguistik?“; vgl. dazu die Richtigstellung „Sprache und Linguistik!“ von Wunderlich. Noch stärker waren Diskriminierungen von Seiten der DDR-Funktionäre, die letztlich zur Auflösung der ASG führten. Hier korrigiert Bierwisch mit „Grammatikforschung in der DDR“ den recht optimistisch geratenen „Rückblick“ auf die DDR-Linguistik bei Helbig. Vgl. Chomsky, Knowledge; Language. Lenneberg, Foundations.

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sitionen und Syntax“, wo die Präsuppositionsthematik mit Hilfe der GG auf pragmatischer Phänomene angewandt wird, und Uhmanns „Grammatische Regeln und konversationelle Strategien“, wo Konversationsanalyse im theoretischen Rahmen der GG behandelt wird. Die Verfasserin beklagt, dass sich die beiden Disziplinen Grammatikforschung und Konversationsanalyse „mit Desinteresse oder Unverständnis“ gegenüberstehen: „die einen Forscher werden pauschal als ‚Strukturalisten‘ oder ‚Formalisten‘, die anderen als ‚Funktionalisten‘ oder ‚Jäger und Sammler‘ bezeichnet.“49 Sie zeigt an Fallstudien, dass sich der Regelbegriff der GG auf die als ,weich‘ verschriene Konversationsanalyse anwenden lässt, und stellt in ihrem Resümee fest, dass „zwei Forschungsstränge, die oft für antagonistisch gehalten werden, nämlich die Grammatikforschung und die Konversationsanalyse, in fruchtbarer Weise miteinander verbunden werden können.“50

4. Zusammenfassung Ich habe skizziert, wie die GG, die vom Strukturalismus die systematische und minutiöse Strukturanalyse geerbt hat, im Laufe der Zeit durch ihre inhärente kognitiv-biologische Neuorientierung und Einflüsse anderer Richtungen eine fruchtbare Weiterentwicklung erfahren hat.51 In Auseinandersetzung mit Grundannahmen und Prinzipien der GG bildeten sich alternative Sprachtheorien wie die Generalized Phrase Structure Grammar und die Lexical-Functional Grammar heraus.52 In beiden Teilen Deutschlands – mit der „Akademie der Wissenschaften“ in Ostberlin als Ausgangspunkt – entstanden nicht nur zahlreiche hervorragende Strukturbeschreibungen des Deutschen, sondern auch theoretische und methodische Neuerungen, die der Sprachforschung neue Impulse gegeben haben. Dabei bildeten sich nicht nur innerhalb der Generativen Grammatik – die hier im Zentrum der Beschreibung steht – neue Anschauungen, Vorgehensweisen und Methoden heraus, sondern auch außerhalb dieser Richtung, so z. B. die Funktional-kommunikative Sprachbeschreibung.53 Auch entstanden auf verschiedenen theoretischen Grundlagen basierende bedeutende didaktisch orientierte Grammatiken.54 Junge Linguistinnen und Linguisten sollten angeregt werden, sich mit der ganzen Vielfalt der theoretischen Ansätze und 49 50 51 52 53 54

Uhmann, Regeln, S. 1 (Fn. 1). Ebd., S. 261. Vgl. Chomsky, Knowledge; Language und Keil, Sprachorgan. Vgl. Sells, Lectures. Vgl. Helbig, Entwicklung, S. 221–228. Vgl. Anm. 41.

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Methoden vertraut zu machen, die in den letzten Jahrzehnten teils aus dem Ausland (besonders aus den USA) übernommen, oft aber auch im deutschen Sprachbereich selbständig ausgebaut wurden. Sie sind es – hoffentlich noch lange – wert, in neuen Sprachuntersuchungen angewendet zu werden.

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Wolfgang Sucharowski

Das Ringen um eine deutsche Grammatik – in West und Ost Das Beispiel inhaltbezogene oder funktionale Grammatik

1. Linguistische Bewusstheit der 68er Wer Ende der sechziger oder am Anfang der siebziger Jahre Germanistik in der BRD studiert hat, wurde weitgehend in deutscher Philologie ausgebildet. Er studierte die älteren Sprachstufen des Deutschen, d. h. er besuchte Kurse in Altnordisch oder Gotisch, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch und setzte sich mit der Literatur seit dem 8. Jahrhundert und vorrangig der des Hochmittelalters auseinander. Sprachwissenschaftlich wurde er dabei mit Grammatiken konfrontiert, die sich mit den historischen Sprachstufen beschäftigten und in erster Linie morpho-phonologische Entwicklungen zu erfassen versuchten. Keine Staatsprüfung der Germanistik war ohne die Beherrschung der Lautentwicklung vorstellbar, während Fragen nach der Entwicklung von Satzgliedstellungen oder gar der Valenz von Verben unbekannt waren. Eine Auseinandersetzung mit der Gegenwartssprache ohne historischen Bezug galt im Rahmen der gymnasialen Ausbildung als defizitär. Die diachrone Perspektive dominierte die synchrone, obwohl diese durchaus auch vorhanden war. Zwei Paradigmen prägten in dieser Zeit die Diskussion an den Universitäten. Es gab die Ansätze der inhaltbezogenen Grammatik und es gab das Paradigma der funktionalen Grammatik, die aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit der functional grammar eines Michael A. K. Halliday oder Joan Bresnan systematisch diskutiert wurde. In der Ausbildung standen Fragen nach der Klassifikation von Wortarten, die traditionelle Satzglied-Lehre oder Probleme der Satzperspektive im Vordergrund. Die neuen Ansätze versprachen eine erweiterte Sicht auf dieselben, weil das traditionelle Konzept wenige Anknüpfungspunkte zum

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Verständnis sprachlichen Verhaltens boten und eher als die Fortsetzung der Tradition lateinischer Grammatiken gesehen wurden. Deren Vermittlungswert für den Schulunterricht wurde mit der Notwendigkeit der Kenntnisse kulturellen Erbes begründet, fand indes keine linguistische Motivation, so dass ihre Wertigkeit sogar für den Grammatikunterricht in Frage gestellt wurde.1 Die Diskussionen gingen dabei sogar soweit, dass grundsätzlich die Notwendigkeit einer Beschäftigung mit Grammatik kritisch gesehen wurde.

2. Neue Konzepte von Grammatik und das synchrone Denken Die neuen Konzepte, wie sie die inhaltbezogene und die funktionale Grammatik versprachen, ließen auf einen anderen Zugang zur Sprache hoffen und legten ein vertiefteres Verstehen ihrer Wirkweise nahe. Wenn die damit verbundenen linguistischen Diskussionen lokal bzw. regional identifiziert werden, dann wird ein Regionalphänomen sichtbar, denn die Vertreter einer inhaltbezogenen Grammatik fanden sich im Westen, so beispielsweise in Bonn, die Repräsentanten der funktionalen Grammatik lassen sich mit dem Osten, und hier wäre ein Ort wie Potsdam zu nennen, verbinden. Vertreter des inhaltbezogenen Ansatzes waren Leo Weisgerber, Hennig Brinkmann oder Hans Gipper, als Vertreter einer funktionalen Sprachwissenschaft wurden Wilhelm Schmidt, Walter Jung oder Wladimir Admoni wahrgenommen. Dabei ist anzumerken, dass eine Schlüsselfigur der inhaltbezogenen Grammatik, Leo Weisgerber, von 1927 bis 1938 in Rostock den Lehrstuhl für Vergleichende Sprachwissenschaft und Sanskrit innehatte.

2.1 Das Paradigma der inhaltbezogenen Grammatik – Grammatik im Westen Das Paradigma der inhaltbezogenen Grammatik geht vom Postulat der Sprache als menschlicher Eigenschaft aus, sie wird einerseits als Kulturphänomen verstanden und andererseits als individueller Besitz. Weisgerber konzeptualisiert Sprache in einem Vier-Ebenen Modell. Das Phänomen Sprache sollte so aus der verengten Perspektive einer ausschließlich historisch-vergleichenden Sichtweise, wie sie bei Franz Bopp (1791–1867) mit den Versuchen zur Systematisierung der Konjugationssysteme vorgestellt wird, befreit werden. Zugleich bestand Skepsis gegenüber der Psychologie der Sprache eines Wilhelm Wundt (1832–1920) oder den Versuchen der 1

Weisgerber, Grammatik im Kreuzfeuer.

Das Ringen um eine deutsche Grammatik – in West und Ost

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Junggrammatiker Hermann Paul (1846–1921), Wilhelm Braune (1850– 1926) u. a., Methoden aus der Naturwissenschaft auf die Sprachforschung zu übertragen. Sprachwissenschaft müsse methodisch offen sein und solle Sprache ausschließlich phänomenologisch betrachten. So entwickelt Weisgerber den Gedanken vom Weltbild der Sprache. Ein solches entsteht, wenn die durch Sprache gebundenen Inhalte und ihre Wirkungen auf die Lebenspraxis zusammen gesehen und beschrieben werden. Eine zentrale Rolle wurde dabei der sogenannten sprachlichen Zwischenwelt und dem muttersprachlichen Weltbild zugewiesen. Sprache wird als eine wirkende Kraft bezeichnet, der eine spezifische Weltsicht inhärent ist, die sich in einer ‚inneren Form‘ materialisiere. Form ist nicht eine Konsequenz des phonologischen oder morpho-syntaktischen Systems, sondern wird als das Ergebnis kulturspezifischer Erfahrungen eingeschätzt. Sprache ist nicht „ein Spiegel der Dinge“, sondern „eine Kraft geistiger Gestaltung“.2 Weisgerber interessieren daher der sprachliche Inhalt einerseits und andererseits seine sprachliche Wirkung auf den Einzelnen, der zugleich Mitglied einer kulturellen Gemeinschaft ist. Ein Beispiel für diese Sichtweise und zugleich viel Stoff für eine kritische Auseinandersetzung bot die These Weisgerbers von der Akkusativierung des Menschen und einer damit verbundenen Sprachkritik am Systemwandel der Sprache. Dabei geht er von der morphologischen Veränderung des Kasus Dativ zum Akkusativ bei einer Reihe von Verben aus.3 Ein solcher sehr weitreichender Wandel trat beispielsweise mit der Produktivität des Paradigmas der be-Verben ein.4 Dieses Wortbildungsmuster erlaubt nämlich Konstruktionen, bei denen inhaltlich betrachtet eine betroffene Person in eine Objektposition oder Zielgröße überführt wird. Der Satz: „Ich schenke ihr Rosen“ wird zu: „Ich beschenke sie mit Rosen“. Dieser Konstruktionswandel wird nun von Weisgerber mit einer Veränderung der Sicht auf den Menschen gleich gesetzt. Wenn der Mensch mit Hilfe einer Dativform erfasst wird, werde er als Sinn gebendes Individuum gedeutet, während er durch die Wahl der Akkusativform zum Gegenstand einer auf ihn einwirkenden Kraft gemacht werde. Menschlich angemessener sei daher der Satz: „Ich küsse ihr auf den Mund“, statt: „Ich küsse sie auf den Mund“.5 Weisgerber entwickelt seine Idee von Sprache mit Hilfe von vier Stufen, indem er zwischen der Lautgestalt, dem Inhaltsbezug, der Leistung und dann dem Wirkungsbezug unterscheidet. Ein sprachliches Zeichen hat dann wie von de Saussure vorgeschlagen die Doppeleigenschaft der Form und des Inhaltes, es hat im Sinne von Bühler Eigenschaften, die sich aus 2 3 4 5

Weisgerber, Stufen, S. 21. Weisgerber, Mensch, S. 193. Ebert, Syntax, S. 53. Weisgerber, Mensch, S. 200.

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dem Gebrauch herleiten, indem es etwas vom anderen fordert und gleichzeitig etwas bei ihm bewirkt. Die Form stellt einen Bezugspunkt dar und wird mit dem genannten Beziehungsgefüge verknüpft. Zwischen Wirklichkeit und Mensch nimmt Weisgerber eine „geistige Zwischenwelt“ an. Sie hat eine Art Übersetzungsfunktion, wie Dinge der Außenwelt ins Bewusstsein gelangen können. Eine Frage ist, wie es zur Bildung einer solchen Zwischenwelt kommt. Der Sprache ordnet er dabei eine konstitutive Rolle zu. Daher müsste der von Weisgerber vorgeschlagene Ausdruck „Weltbild der Sprache“ durch „Weltbild durch die Sprache“ präziser beschrieben werden. Denn das Zusammenwirken von Außenwelt und Innenwelt wird für ihn nur durch die Sprache geleistet. Sie stellt insofern das kollektive Gedächtnis einer Ethnie dar, aus der sie sich selbst kulturell herleitet. Sprache ist ein Spiegelbild eines Volkes.6

2.2 Der Blick nach Osten – die Form-Funktions-Perspektive der Grammatik Der funktionale Ansatz wurde in der westdeutschen Rezeption in hohem Maße durch die Arbeit von Wladimir Admoni beeinflusst. Er versteht die grammatische Form als den verallgemeinerten Bedeutungsgehalt und seine strukturelle – und das ist vornehmlich seine syntaktische – Funktion. Hierbei wird ebenfalls der Inhaltlichkeit sprachlicher Funktionen besonderes Augenmerk gewidmet. Die Formmittel sichern die Einheitlichkeit und Gegliedertheit eines Satzes und seiner Bestandteile und sichern so eine Verbindung zu den einzelnen Redeteilen. Dabei steht die Bedeutungshaltigkeit der Beziehung der Teile zueinander im Vordergrund, was grundsätzlich auch im inhaltbezogenen Ansatz zu beobachten war. Das funktionale Paradigma ist aber umfassender konzipiert, wenn angenommen wird, dass grammatische Relationen in einer Beziehung zu logischen Eigenschaften stünden, womit an die alte schulgrammatische Tradition, wie sie durch Carl Ferdinand Becker (1827) begründet worden ist, angeschlossen wird. Die Konsequenzen unterscheiden sich allerdings deutlich. Gefolgert wird, dass Sprache auf diese Weise einen Zugang zur Begrifflichkeit der Welt und der Begriffe an sich bilde und dadurch das Denken bedinge. Denn wenn Objekte über ihre Begrifflichkeit die Welt ‚widerspiegeln‘, dann sei anzunehmen, dass Sprache daran beteiligt sei. Das geschehe aber nicht dadurch, dass die Sprache mit der Begrifflichkeit gleichsetzt würde. 6

Weisgerber, Stufen, S. 143–145.

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Gerhard Helbig7 sah den Vorschlag von Admoni skeptisch und legte nahe, hier unbedingt zwischen ontologischen Eigenschaften und logischen im Sinne von formal-logisch zu unterscheiden.8 Denn grundlegend ist für diesen Ansatz, dass eine sprachliche Äußerung nicht auf formale Struktureigenschaften reduziert, sondern als Merkmalsbündel beschrieben wird, das logisch-grammatische, kommunikativ-grammatische und strukturellgrammatische Eigenschaften zu erfassen und klassifizieren versucht. Diese werden nun aber nicht aus einem Sprachbewusstsein abgeleitet. Admoni folgt der erkenntnistheoretischen Konstruktion der Widerspiegelung konsequent, wenn er eine sprachliche Zwischenwelt ablehnt. Stattdessen postuliert er so etwas wie eine Parallelität zwischen Sprachstruktur und Wirklichkeit, verbindet diese aber nicht mit der Annahme einer Ähnlichkeit der Strukturen in Sprache und Strukturen der Wirklichkeit. Unabhängig von den erkenntnistheoretischen Grundpositionen Sprache als Reflex auf die Realität oder Sprache als kollektives Gedächtnis kennzeichnet die weitere Diskussion der funktionalen Grammatik ebenso wie das der inhaltbezogenen ein besonderes Interesse an der Beschreibung eines Zusammenhangs zwischen der Inhaltseite der Sprache und einer damit angenommenen Funktionalität, wobei der Begriff Funktion als eine Art Orientierungsgröße bei den verschiedenen Vertretern fungiert und sehr offen fast metaphorisch gebraucht wird. In den Arbeiten von Wilhelm Schmidt, der neben Admoni in der Westrezeption eine wichtige Rolle gespielt hat, wird das besonders deutlich. Er nähert den strukturellen Begriff des Morphems einem bedeutungsfunktionalen Konzept an, wenn er das Morphem als einen elementaren Bedeutungsträger versteht. Der Funktionsbegriff wird im Verlauf der darauf folgenden Diskussionen allmählich ausdifferenzierter, indem er in Anlehnung an Admoni zwischen der logisch-grammatischen, kommunikativgrammatischen und strukturell-grammatischen Funktion zu unterscheiden vorschlägt. Damit soll sichergestellt werden, dass anders als in der inhaltbezogenen Grammatik, wo die Wirklichkeitsdeutung von der sprachlichen Zwischenwelt bedingt wird, die reale Welt einen direkten Einfluss auf die sprachlichen Formen nimmt. Der Versuch einer Rückbindung an die Widerspiegelungstheorie ist unverkennbar. Mit einer solchen Perspektivierung wird aber die Sicht auf die Sprache und ihre Struktur erschwert. Schmidt selbst hatte das erkannt und schlägt daher im Rahmen einer weiteren Entwicklung vor, zwischen Form und Funktion deutlicher zu unterscheiden, so dass grammatische Mittel dazu da sind, eine Struktur formal abzusichern und andererseits die Inhaltlichkeit von der logisch- und kommunikativ-grammatischen Funktion abhängt. 7 8

Helbig, Geschichte, S. 163. Helbig, Funktionsbegriff, S. 283.

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Eine solche Erweiterung präzisiert den Funktionsbegriff indes nur unzureichend. Denn die Frage nach dem Funktionsbegriff müsste bildhaft formuliert mit einer Sprach-Logik und einer Pragma-Grammatik beantwortet werden. Versuche dieser Art hat es tatsächlich gegeben. Freundlich9 hat es versucht und die parallel stattfindenden kategorialgrammatischen Diskussionen, die am konsequentesten die Idee einer Verknüpfung von Sprachstruktur und logischen Strukturen verfolgten10, belegten, dass sprachliche Äußerungen mit logischen Formaten verknüpft Aufschluss über mögliche sprachliche Funktionen aufdeckten. Die Frage nach der Reichweite des Fokus von Partikeln oder die Rolle von Adverbien konnte so präziser beantwortet antwortet werden.11 Aber sie belehrten uns auch, dass sprachliche Formen keine logischen Formeln sind und die Semantik nur sehr bedingt mit den Begriffen der Inhaltlichkeit fassbar ist. Denn wenn eine Funktion im Sinne einer ‚Input-Output-Maschine‘ gedacht würde, wird eine sprachliche Form in die Maschine eingegeben und von dieser nach einer festen Regel mit einem semantischen, pragmatischen, kommunikativen oder logischen Wert wieder ausgegeben. Die Diskussion einer mathematisch nahen Funktionsbeschreibung zeigte nun aber, dass ein sehr komplexes Verhältnis von sprachlichen Formen zu unterschiedlichsten Intentionen im Sprachgebrauch besteht. Das ist mit der bis dahin angedachten Begrifflichkeit der funktionalen Grammatik aber nicht fassbar.

3. Erweiterungsversuche der funktionalen Perspektive 3.1 Öffnung des Funktionsbegriffs Das Grundproblem des Funktionsbegriffs lag in der unausgesprochenen Annahme begründet, es könne einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Form und Funktion geben, was auf ein sehr einfaches Zeichenverständnis zurückzuführen ist. Die Funktionen ließen sich aufgrund einer bestimmbaren Inhaltlichkeit definieren und speziellen Formen zuordnen. Dabei war das damit verbundene Problem durchaus bekannt, dass Formen im Gebrauch sehr unterschiedliche Aufgaben übernehmen können. Schmidt selbst diskutiert diese Schwierigkeit am Beispiel der Befehlshandlung und der morphologischen Form. Die Imperativform ist nicht der einzige Auslö-

9 10 11

Freundlich, Sprachtheorie, S. 44–87. Cresswell, Logics, S. 303–390. Altmann, Gradpartikeln, S. 28–33; Jacobs (Hg.), Informationsstruktur, S. 227–233.

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ser einer solchen Handlung, sondern dem Sprachbenutzer bietet sich eine Vielfalt von Ausdrucksformen, um einen Befehl als Handlung zu realisieren. Diese Schwierigkeiten treten aber nicht nur in den Ansätzen von Schmidt auf. Eine andere Entwicklung des funktionalen Ansatzes lässt sich in diesem Zusammenhang auch im Westen beobachten, wo Walter Flämig und Heinz Hamann ein Konzept vorgeschlagen hatten, beim dem es um den Versuch ging, Ziel geleitet eine Ausrichtung von Erklärung für sprachliche Einheiten zu definieren. Die Form wird dabei als Ausdruck einer Funktion selbst gedeutet. Das hat Konsequenzen für die Perspektive der Beschreibung, denn alle Ansätze bisher setzten bei der Form an und versuchten diese mit Inhalten und dem Gebrauch zu verknüpfen. Hamann formuliert den Unterschied so, dass die Sprachform zum „Menschen als Natur- und Kulturwesen“ führt.12 Der Genitiv ist dann eine Ausdrucksform des Besitzes oder der Zugehörigkeit zu einem Ganzen. Er verortet damit den sprachlichen Ausdruck als eine Funktion der Vorstellung im Zusammenspiel mit dem Weltausschnitt dessen, in dem sich der Einzelne befindet. Das impliziert psychologische Kategorien. Eine bestimmte Art des Denkens erzeugt bestimmte Formen des Ausdrucks, es entsteht das, was Helbig dann eine funktionale Vorstellungsgrammatik nennt.13 Der in der Grammatikdiskussion verwendete Funktionsbegriff wurde durch ein solches Konzept nicht deutlicher. Ein mehr kognitionspsychologisch motivierter Funktionsbegriff wurde so mit der Intentionalität sprachlichen Verhaltens zusammengebracht ohne Kriterien operationalisiert zu haben, die das Generieren solchermaßen behaupteter sprachlicher Ausdrucksformen motivierten. Eine Operationalisierung der Kategorisierung verbessert die Situation allerdings auch nicht zwingend. Die Situation stellt sich nämlich für die inhaltbezogene Grammatik bei Glinz, um einen Vertreter zu nennen, der, was das Operationalisieren von sprachlichen Kategorien anbelangt, am weitesten gegangen ist, nicht anders dar. Er geht von der Annahme aus, es gäbe eine Interpretation, durch die einer sprachlichen Einheit ein bestimmter Inhalt zugewiesen werde. Dabei wird ein Funktionsbegriff, der im Sinne des Funktionierens einer sprachlichen Einheit im Hinblick auf den Satz verstanden wird, und ein Inhaltsbegriff verwendet, der nicht referentiell, sondern im Sinn struktureller Bedeutung angenommen wird. Mehr Klarheit zum Verständnis von Funktion bedeutet das aber nicht. Funktion ist in der ost- und westdeutschen Diskussion ein operationaler Begriff geblieben, der für die Suche nach einer Verbindung von Form und Inhalt stand und als Programm gegen eine morphologische Formalisierung der Sprachbetrachtung gedacht war und wirken sollte. Er ging von 12 13

Hamann, „Funktionale Grammatik“, S. 17. Helbig, Geschichte, S. 190.

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einem Sprachverständnis aus, das eine Zusammengehörigkeit nicht nur von morpho-phonologischen und morpho-syntaktischen Regeln sah, sondern diese in eine deutbare Abhängigkeit zu semantischen, pragmatischen und kommunikativen Faktoren zu stellen versuchte. Funktion wird dabei als ein Versuch verstanden, ein Element aus dem Formeninventar der Sprache auf ein Werteelement aus der Menge des semantischen, onomasiologischen oder pragmatischen Inventars abzubilden. Darin unterschied er sich von Ansätzen, die den Zusammenhang zwischen Lexik und Syntax betonten. Die Entwicklungen in anderen, sehr bald parallel sich entwickelnden Paradigmen wie der der Valenz- und dann der Phrasenstrukturgrammatik hatten aber bereits hinreichend Hinweise darauf gegeben, dass diese Vorstellung einer Funktion zu einfach gedacht war. Die die Strukturen erzeugenden Mechanismen lassen sich nicht auf das Prinzip von Form und ein ihr eineindeutig zuordenbares Element aus der Menge semantischer oder pragmatischer Elemente reduzieren. Bereits der Formbegriff bedürfte einer weiterreichenden Präzisierung, als das traditionelle Grammatiken leisten können. Die inhaltbezogene und die funktionale Grammatik waren traditionelle Grammatiken. Für die weiterführende Theoriebildung in der Sprachbeschreibung können daher beide Konzepte als gescheitert angesehen werden. Der Grund dafür lag aber auch in einer erkenntnistheoretisch beschränkten Sichtweise auf Sprache. Während die inhaltbezogene Grammatik an einer kulturgeschichtlichen konstituierten Sprachauffassung und einem verkappten Sprachdeterminismus der fünfziger Jahre ihre Grenze fand, war die Nähe zur Abbildtheorie der funktionalen Grammatik im Osten eine Barriere, sprachtheoretische Konzepte zu entwickeln, die empirisch begründbar gewesen wären.

3.2 Funktionale Sprachbeschreibung und Weiterentwicklungen Beide Ansätze waren in der anwendungsbezogenen Rezeption jedoch sehr erfolgreich. Das galt für den Lehrbetrieb an den Universitäten und ganz besonders für den Deutschunterricht in der Schule. In der sprachinteressierten Öffentlichkeit war die Frage nach dem inhumanen Akkusativ ein interessanter Diskussionsgegenstand der Sprach- und Stil-Pflege. Kritischer wurde das inneruniversitär gesehen und Zweifel, ob die Wahl eines Objektes in einer Satzkonstruktion Aufschluss über den Sprachbenutzer impliziere, gehörten zu den Diskussionen wie diese Sicht auf die Sprache überhaupt, weil weiterreichende Themen besonders im Bereich des Wortschatzes damit verbunden waren. Zentral war die Wortfeldtheorie davon betroffen.14 14

Trier, Wortschatz; Geckler, Semantik.

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Leuchtete anfangs die neue inhaltsorientierte Grammatikterminologie und die mit ihr verbundene Operationalisierung der Kategorien von Hans Glinz ein, stellte sich bald die Frage, wie mit einer Ausdifferenzierung einer solchen Grammatiksprache beispielsweise in der Schule sinnvoll umzugehen ist. Das Konzept der inhaltbezogenen Grammatik blieb solange attraktiv, wie allgemein über Sprache und die Bedeutungsumfänge einzelner Wörter gesprochen oder Sprachkritik betrieben wurde. Dass sich in der Sprache kulturelles Wissen befindet, scheint plausibel sowie sich auch bestimmte Denkweisen mit Sprache verbinden können. Das Phänomen der AktivPassiv-Transformation als mögliches Stilmittel oder rhetorische Form ist hinreichend bekannt. In dem Moment aber, wo es um die konkrete Analyse sprachlicher Sachstände geht, reduziert sich diese Sichtweise auf eine linguistische Metaphorik. Das Beschreiben der Satzglieder oder Wortarten in einem solchen Konzept ist theoretisch schwer zugänglich zu machen, sobald Generalisierungen anstehen. Das Problem zeigte sich im Übrigen auch bei der Definition von Kasusrollen im Rahmen der Kasustheorie. Der inhumane Akkusativ ist eine linguistisch nicht belegbare These. Das anfänglich heuristisch Wirkende dieser Sicht entpuppte sich zunehmend als anregende Intuition. Die Vorgehensweisen in der funktionalen Grammatik schienen vielversprechender. Sie setzte an den Formen selbst an und blieb so dem traditionellen sprachwissenschaftlichen Denken verwandt. Dort wurden Anknüpfungspunkte gesucht, wie ausgehend von sprachlichen Mitteln etwas allgemein Intentionales bewältigt werden kann. Das beginnt bei den Hinweisen auf Verknüpfungseigenschaften und führt hin bis zu Markierungen von Sprechaktmerkmalen. Auch damit fügte sich der Ansatz, auch wenn er selber das so nicht sah, in eine durchaus schon bestehende Grammatik-Tradition, wie sie bei Hermann Paul (1916) sich in Ansätzen abzuzeichnen begann.15 Die neuen Sichtweisen versprachen in unserer heutigen Terminologie ausgedrückt, propositionale Verhältnisse besser aufzuklären, Phänomene der Tiefenkasus zu veranschaulichen, pragmatische Implikationen zu berücksichtigen und Hinweise auf die Intentionalität sprachlichen Handelns zu explizieren. Gleichzeitig wurde eine integrative Perspektive suggeriert. Dieser Anspruch hatte etwas Verlockendes, weil der sprachliche Ausdruck in ein Netzwerk von Beziehungen gesetzt werden konnte, die Verbindungen zur Kognition und Kommunikation zu installieren versprachen. Er steht als Reaktion auf etwas, das durch einen Wirklichkeitsbezug motiviert ist, er organisiert sich durch die Wahrnehmung der mit ihm verbundenen sprachlichen Ausdrucksformen, er ist Teil einer sprachlichen Handlung und nimmt aufgrund dessen Gestalt an. 15

Paul, Grammatik.

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Sowohl die inhaltbezogene wie auch die funktionale Grammatik glaubten an eine integrierte Theorie zur Sprachbeschreibung, eine Theorie der Sprache und zugleich ihres Gebrauchs. Die Forschung hat indes deutlich gemacht, dass es eine solche Theorie nicht gibt. Wenn das Ideal aber nicht ganz aufgegeben werden soll, kann gefragt werden, ob es so etwas wie einen Theorie-Verbund geben könnte, der zumindest in Teilen dem entspricht, was die Grammatiken der sechziger und siebziger Jahre gesucht hatten. Einen solchen können wir in einer Modellbildung finden, die sich mit der Modellierung der Sprachproduktion und Sprachrezeption auseinander setzt. Wenn das Programm der funktionalen Grammatik mit neueren Modellen zur Sprachproduktion in Beziehung gesetzt wird, dann stellen sich eine Reihe der damals gestellten Fragen in einem ganz neuen Licht dar. Sprachproduktionsmodelle sind Modellierungen, die eine möglichst umfassende Sicht auf Komponenten der Sprachproduktion legen.16 Sie zerlegen dabei den Produktionsprozess in Teilkomponenten, wobei diese Modularisierung nicht ausschließlich und primär von linguistischen Daten her erfolgt, auch wenn diese eine Hypothesen leitende Rolle spielen.17 Es sind Komponenten, die in Abhängigkeit zum Gesamtkonzept entweder modular und autonom gedacht werden oder in den neueren Konzepten teilmodular und interaktiv.18 Sie bearbeiten dann in Abhängigkeit zu anderen Komponenten Teilaufgaben und übergeben die Resultate weiter, bis es zu einer Äußerung kommt.19 In solchen Modellen steht seit Ende der achtziger Jahre die semantische Verarbeitung eines Sprechers im Vordergrund.20 Darin wird erkennbar, worauf sich eine inhaltbezogene Grammatik hätte einlassen müssen. In einzelnen Produktionsmodellen geht die auslösende Aktivität von weiterreichenden kognitiven Systemen aus, die das Bedeutungssystem aktivieren und dann einen Prozess mit einer Reihe von Komponenten bewirken, die spezielle linguistische Teilsysteme bearbeiten können. Dieser Prozess wird als ein Bündel von miteinander interagierenden Systemen vorgestellt.21 Sie verdeutlichen, warum es so schwer ist, Formelemente mit einem Funktionenmodell beschreiben zu wollen. Die Systeme und ihre Teilsysteme dürfen nicht als linear angelegte Abbildfunktionen vorgestellt werden, so dass ein Element mit einem Element der anderen Menge Paare bilden. Es sind komplexe Operationen, die mehr als diesen Typ beinhalten.22 16 17 18 19 20 21 22

Rickheit/Strohner, Modelle, S. 8–16. Butterworth, Constrains; Garrett, Production; Levelt, Speaking, S. 144. Kempen/Hoenkamp, Grammar; Levelt, Models. Jescheniak, Sprachproduktion. Levelt, Words, S. 9. Sternberger, Model. Harley (Hg.), Psychology, S. 219–240.

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Das kognitive System erzeugt vorsprachlich einen Bezug zu pragmatisch wirksamen und semantisch relevanten Vorstellungen. Dieses Verständnis ist neu und steht im Widerspruch zu den inhaltgrammatischen Annahmen der sprachlichen Zwischenwelt. Aus dem vorsprachlichen Raum werden dann Aktivitäten ausgelöst, die den Wortschatz betreffen und dies nicht ohne Einbeziehung syntaktischer Konsequenzen tun können. Hier werden Erinnerungen an funktionalgrammatische Ansätze geweckt. Auf dem Hintergrund einer pragmatischen Intention und einer damit verbundenen semantischen Referenzleistung müssen Wörter identifiziert werden, die dann eine syntaktische Oberfläche erzeugen, welche das Intendierte erfassen soll. Bereits an diesen Stellen der Modellierung wird deutlich, warum eine Theoriebildung im Rahmen der traditionellen funktionalen Grammatik nicht glücken konnte. Es bedarf einer kognitions- und handlungspsychologischen Fundierung und das heißt der Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen. Innerlinguistisch ist das Problem der Interaktion zwischen Lexikon und Syntax zu lösen. Die Lösung setzt eine Theorie eines Lexikons und einer Syntax voraus, die aufeinander bezogen die Sprachproduktion organisieren.23 In der gegenwärtigen linguistischen Diskussion wird ein Konzept erörtert, das als das Zweifunktionenmodell der Sprache beschrieben wird.24 Dieses Modell einer funktionalen (onomasiologischen) Beschreibung geht davon aus, dass zuerst Funktionen definiert werden müssen und dann diesen Strukturen zuzuordnen sind. Das erfolge auf der Basis einer empirisch motivierten Sprachbeschreibung. Als Zweifunktionenmodell wird das Konzept bezeichnet, weil es zwischen einer epistemischen und einer kommunikativen (sozialen) Funktion als Ausgangsfunktionen unterscheidet. Sprachliche Funktionen wie das Referieren, Aussagen, Quantifizieren müssen im Hinblick auf diese zugeordnet werden und bilden dabei eine Hierarchie, über dessen genaue Struktur aber bisher noch nicht genügend bekannt ist. Versucht wird, auf dem Hintergrund der epistemischen Funktionen sprachliche Ausdrucks- und Gebrauchsformen zu erfassen und sie in ihrer Leistung im Hinblick auf die kognitive und kommunikative Leistung zu charakterisieren. Das führt dann zum Etablieren von funktionalen Domänen wie der Apprehension und Nomination, Begriffsmodifikation, Referenz, Raumkonstruktion, Prädikation, Partizipation oder Raumkonstruktion und anderen mehr. Der Bezug zu den kognitionspsychologischen funktionalen Ansätzen ist naheliegend. Ebenfalls ist das Bemühen um eine weiterführende Explikation des Funktionsbegriffs zu konstatieren. Erkenntnisse aus den psycholinguistischen Diskussionen der Sprachproduktion werden an der Art der Do23 24

Givón, Functionalism, S. 29–46. Lehmann, Grammatikographie.

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mänenbildung erkennbar. Die Frage, wie die sprachlichen Ausdrucksmittel und ihre Funktionen eine Verbindung eingehen, wird durch Hinweise beantwortet, dass es eine empirisch fundierbare Typisierung von Gebrauchssituationen gebe. Die Idee lässt sich verkürzt, wie folgt, charakterisieren: Aus dem Set möglicher Funktionen und der endlichen Menge sprachlicher Ausdrucksformen in typischen Situationen kann dann eine Taxonomie abgeleitet werden. Nachdenklich stimmt, dass Erkenntnisse dazu eigentlich nur im Zusammenhang mit Kontexten der Sprach- und Grammatikvermittlung diskutiert werden. Das verweist wieder auf die Ausgangssituation dieses Konzeptes, das seinen Ursprung im Pädagogischen hatte.

3.3 Moderner Sprachunterricht Die funktionale Grammatik war ein Programm, das besonders für das pädagogische Umfeld attraktiv wirkte, weil es das Sensibilisieren für sprachliche Phänomene erlaubte und dabei präziser als der inhaltgrammatische Ansatz die Ausdrucksformen in ihrem Verhältnis zu Sprechsituation betrachtete. Ein ‚Interpretieren‘ sprachlicher Phänomene aus vielfältiger Perspektive wurde damit nahe gelegt und schien besonders in der Schule fruchtbar, wo Sprachbetrachtung noch immer an eng formalen Kategorien orientiert blieb. Daran änderte dann auch die Rezeption der Valenztheorie wenig. Interessant ist die Entwicklung in der Schule und im Deutschunterricht, wo ein vorherrschender sprachdidaktischer Ansatz als funktionale Sprachbetrachtung bezeichnet wird.25 Seine Nähe zur funktionalen Grammatik ist unverkennbar. Denn auch er sucht nach Anknüpfungspunkten in den sprachlichen Ausdrucksmitteln mit dem Sprecherverhalten und seinen Handlungen im kommunikativen Umfeld.26 Er unterscheidet zwischen semantischen, kommunikativen, kontextuellen und situativen Funktionen. Die Mehrdimensionalität der Sprachbetrachtung in der modernen Sprachdidaktik, auch als integrativer Grammatikunterricht bezeichnet27, steht in der Tradition der funktionalen Grammatik. Das gilt auch für die Ansätze zur Grammatikbeschreibung im Rahmen der Sprachvermittlung, wo Deutsch nicht die Primärsprache ist. Die Feldergrammatik ist z. B. ein Konzept, das in der Fremdsprachendidaktik entwickelt worden ist.28 Anders als in den Ansätzen aus den achtziger Jahren, die sich auf das Kommunikative konzentrierten, respektierte dieser Ansatz die kognitiven Grundlagen. Das 25 26 27 28

Einecke, Methodenplanung; Boueke/Hopster (Hg.), Schreiben, S. VIII. Einecke, Fokussieren; Abraham, Blickwechsel. Ulrich, Grammatikunterricht?, S. 4–12. Lübke, Schulgrammatik; Kühn (Hg.), Übungsgrammatiken.

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Erlernen einer Sprache ist vorrangig und die Vermittlung der Sprache wird diesem Ziel untergeordnet.29 Die Feldergrammatik versucht eine Brücke zu schlagen zwischen der Formgrammatik zu einer Ausdrucks- und Inhaltgrammatik. Gemeint ist damit, von einer semasiologisch zu einer onomasiologisch ausgerichteten bzw. von einer Rezeptions- zu einer Produktionsgrammatik zu führen.30 Sie verfolgt dabei einen Weg, der bei der intentional ausgerichteten funktionalen Grammatik ansetzt.31 Sie versucht, die Ausdrucksvielfalt im Hinblick auf typische Gebrauchsformen zu systematisieren und verfolgt dabei ein Ziel, das auch der funktionalen Grammatik nahe stand. Im Unterschied zu den Anfängen der funktionalen Grammatik bestehen heute konkrete Anknüpfungspunkte bei der gegenwärtigen Gesprächsforschung, die eine solche Verflechtung denkbar erscheinen lassen.32 Die Einschätzung der gegenwärtigen Situation verweist aber darauf, dass auch dieser Ansatz weiter Fragen aufwirft, wie das formale Inventar grammatischer Ausdrucksformen mit Funktionen verbunden werden kann, die in der gebrauchsspezifischen Verwendung gesehen werden.33 Die Feldergrammatik als eine Weiterentwicklung der funktionalen Grammatik im Rahmen eines linguodidaktischen Beschreibungsmodells könnte als ein sprachlicher Erfahrungspool charakterisiert werden. Er ist kein Produktionsmodell, auch wenn Bezüge zu einem solchen versucht werden. Der Ansatz exploriert den Sprachgebrauch, indem er Ausdrucksformen in typischen Gebrauchssituationen beschreibt und so Fallbeispiele findet, die sprachliche Intuition erklären helfen. Zu fragen wäre daher an dieser Stelle, ob nicht eine hermeneutisch gedachte Grammatik eine bessere Antwort auf die diskutierten Probleme sein könnte.34

29 30 31 32 33 34

Buscha/Freudenberg-Findeisen, Feldergrammatik, S. 7. Ebd., S. 8. Lübke, Schulgrammatik. Kozmová, Verbalkategorien; Leirbukt (Hg.), Tempus/Temporalität, S.  205–230; Willkop, Grammatik. Kühn (Hg.), Übungsgrammatiken. Jäger, Verstehen, S. 40–42.

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am Germanistischen Institut der Universität Bergen veranstalteten Kolloquium gehalten wurden, Tübingen 2004 (= Eurogermanistik 18). Levelt, Willem J. M.: Speaking. From intention to articulation, Cambridge, Mass. 1989 (= A Bradford book). Levelt, Willem J. M.: Accessing words in speech production. Stages, processes and representations, in: Cognition 42 (1992), S. 1–22. Levelt, Willem J. M.: Models of word production, in: Trends in Cognitive Science 3 (1999), S. 223–232. Lübke, Diethard: Schulgrammatik Deutsch. Vom Beispiel zur Regel, Berlin 2000. Ossner, Jakob: Sprachdidaktik Deutsch. Eine Einführung für Studierende, 2. überarb. Aufl., Paderborn 2008 (=  UTB Standardwissen Lehramt 2807). Paul, Hermann: Deutsche Grammatik, Halle 1916. Premper, Waldfried (Hg.): Dimensionen und Kontinua. Beiträge zu Hansjakob Seilers Universalienforschung., Bochum 2004 (= Diversitas linguarum 4). Redder, Angelika / Rehbein, Jochen (Hg.): Grammatik und mentale Prozesse, Tübingen 1999 (= Stauffenburg Linguistik 7). Rickheit, Gert / Strohner, Hans: Psycholinguistische Modelle der Sprachverarbeitung, in: Rickheit, Gert / Mellies, Rüdiger / Winnecken, Andreas (Hg.): Linguistische Aspekte der Sprachtherapie. Forschung und Intervention bei Sprachstörungen, Opladen 1992 (=  Psycholinguistische Studien), S. 5–20. Schmidt, Wilhelm: Deutsche Sprachkunde. Ein Handbuch für Lehrer und Studierende, Berlin 1959. Schmidt, Wilhelm: Sprachewissen und Sprachekönnen, in: Deutschunterricht 14 (1961), S. 353–360. Sommerfeldt, Karl-Ernst: Was verstehen wir unter funktionaler Grammatik?, in: Deutschunterricht 15 (1962), S. 389–394. Stemberger, Joseph P.: An interactive model of language production, in: Ellis, Andrew W. (Hg.): Progress in the psychology of language, Hillsdale 1985, S. 143–186. Sucharowski, Wolfgang: Kategorialgrammatik und Grammatikunterricht. Elementare Satzmuster, in: Linguistik und Didaktik 9 (1978), S. 109– 128. Sucharowski, Wolfgang: Kategorialgrammatik und Grammatikunterricht. Nominal- und Verbalphrase, in: Linguistik und Didaktik 9 (1978), S. 303–323.

506

Wolfgang Sucharowski

Trier, Jost: Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes. Von den Anfängen bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts, 2. Aufl., unveränderter Nachdruck der Erstauflage 1931, Heidelberg 1973 (= Germanistische Bibliothek Abt. 2, Untersuchungen und Texte 31). Ulrich, Winfried: Wie und wozu Grammatikunterricht?, in: Deutschunterricht 54,1 (2001), S. 4–12. Weisgerber, Leo: Der Mensch im Akkusativ, in: Wirkendes Wort 8 (1957/58), S. 193–205. Weisgerber, Leo: Von den Kräften der deutschen Sprache. Bd. 1: Grundzüge der inhaltbezogenen Grammatik, 3., neu bearb. Aufl., Düsseldorf 1962. Weisgerber, Leo: Grammatik im Kreuzfeuer, in: Moser, Hugo (Hg.): Das Ringen um eine neue deutsche Grammatik. Aufsätze aus drei Jahrzehnten (1929–1959), Darmstadt 1962 (=  Wege der Forschung 25), S. 4–20. Weisgerber, Leo: Die vier Stufen in der Erforschung der Sprachen, Düsseldorf 1963 (= Sprache und Gemeinschaft. Grundlegung 2). Willkop, Eva-Maria: Mit der Grammatik zum eigenen Text. Übungsgrammatiken als Produktionsgrammatiken, in: Kühn, Peter (Hg.): Übungsgrammatiken Deutsch als Fremdsprache. Linguistische Analysen und didaktische Konzepte, Regensburg 2004 (=  Materialien Deutsch als Fremdsprache 66), S. 131–164.

Organisationsformen

Oliver Müller

„Wissenschaftlicher Beirat Germanistik“ und „Zentrale Fachkommission Deutsch“ als Organe der (An-)Leitung / Lenkung / Steuerung der Sektion Germanistik an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen der DDR 1. Einleitung „Wissenschaftlicher Beirat Germanistik“ und „Zentrale Fachkommission Deutsch“ (ZFKD) des Staatssekretariats für Hochschulwesen (SFH) und späteren Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen (MHF) bzw. des Ministeriums für Volksbildung (MfV) waren wichtige institutionelle Einrichtungen der einheitlichen staatlichen Planung und Leitung der Universitäten und Hochschulen und ihrer Sektionen der Germanistik in der DDR. In Vorbereitung seiner Entscheidungen beriet sich der Minister für Hochund Fachschulwesen in der Regel mit den Rektoren und anderen leitenden Mitarbeitern der Hochschulen. Dabei nahmen diese Beratungsorgane auf der Ebene des Ministeriums einen nicht unbedeutenden Platz in der Planung und Lenkung des Hochschulwesens ein. Gleiches galt analog für das Ministerium für Volksbildung. Die so genannte ‚kollektive Beratung‘ wissenschaftlicher Probleme wurde gemeinhin als ein wichtiger Grundsatz der Leitung von Wissenschaft und Bildung angesehen. Sie berührte nicht nur wissenschaftliche Grundfragen, sondern betraf auch das wissenschaftliche Leben in seiner Gesamtheit. Deshalb bestanden auf allen Ebenen des Hochschulwesens wissenschaftliche Beratungsorgane – beim Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen beispielsweise der „Hoch- und Fachschulrat“, der „Rat für akademische Grade“ sowie Wissenschaftliche Beiräte einzelner Fachdisziplinen. Aufgabe dieses Beitrags soll es im Folgenden sein, die Arbeit des „Wissenschaftlichen Beirats Germanistik“ und der „Zentralen Fachkommission

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Deutsch“ etwas näher zu beleuchten. Von besonderem Interesse soll dabei letztendlich die Untersuchung der Beiratsempfehlungen hinsichtlich einer möglichen Beeinflussung der Germanistenausbildung und somit der Germanistik der DDR insgesamt sein. Doch da nach meinen Recherchen bisher kaum Arbeiten vergleichbarer Thematik vorliegen, muss es somit auch ein allererstes Anliegen dieser Untersuchung sein, die institutionelle Ebene zu beschreiben, bevor inhaltliche Fragen näher zu erörtern und einzuordnen sind. Im Vordergrund dieser Betrachtung stehen damit vor allem die personelle Zusammensetzung sowie grundlegende Strukturen der Beiräte und Kommissionen im Beziehungsgeflecht von Staatssekretariat bzw. Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen und Ministerium für Volksbildung und seinen nachgeordneten Einrichtungen. Dabei ist aber auch stets im Blick zu behalten, dass das teilweise doch recht brisante Aktenmaterial in weiten Teilen nur auszugsweise und mitunter lückenhaft zur Verfügung steht, so dass häufig nur punktuelle Aussagen getroffen werden können. Trotzdem muss es ohne Zweifel als Besonderheit angesehen werden, überhaupt an die betreffenden Akten und Protokolle herankommen zu können. Galten sie doch zumeist als interne Verschlusssachen, die ausschließlich dem Dienstgebrauch vorbehalten waren. Anhand dieser Dokumente sollen erste Tendenzen der Beiratsarbeit dargestellt und Autoritäten der Gremien aufgezeigt werden. Die überblickartige Beschreibung der einzelnen Sachverhalte erhebt somit keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie hat überwiegend den Zweck einer inhaltlichen Hinführung, die auf eine weiterführende Auseinandersetzung mit der Thematik abzielt.

2. Wissenschaftliche Beiräte als Beratungsorgane Beim Staatssekretariat für Hochschulwesen – wie auch seinen Folgeorganen, ab 1958 dem Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen (SHF), das 1967 in den Status eines Ministeriums, dem Ministerium für Hochund Fachschulwesen erhoben wurde –, bestand seit etwa 19521 für jede an den Universitäten und Hochschulen vertretene Fachrichtung ein Wissen-

1

Aus einem Beschlussprotokoll der Hauptabteilungsleitersitzung des SFH vom 20.6.1952 geht hervor, dass seit einiger Zeit intensiv über die Bildung Wissenschaftlicher Räte bei den Fachrichtungsleitern nachgedacht wurde. – Vgl. Beschlussprotokoll der Hauptabteilungsleitersitzung, 20.6.1952, in: Bundesarchiv [im Folgenden: BArch] (DR 3 144, I. Schicht), Staatssekretariat für Hochschulwesen, nicht paginiert. Wenn im Folgenden keine Blattfolge angegeben ist, wird nicht mehr gesondert darauf hingewiesen, dass das Dokument unpaginiert ist. Beim Zitieren aus diesem Archivmaterial und den folgenden Archivalien wird die Rechtschreibung des Originals beibehalten; das kann auch Fehler betreffen.

„Wissenschaftlicher Beirat Germanistik“ und „Zentrale Fachkommission Deutsch“

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schaftlicher Beirat (WB).2 Die Wissenschaftlichen Beiräte waren beratende Organe des SFH/SHF/MHF für alle Fragen des betreffenden staatlichen Aufgabenbereichs und bestanden aus Vertretern der jeweiligen Fachgebiete im Bereich der Universitäten und Hochschulen, der Praxis und der staatlichen Verwaltung. Die Mitglieder wurden vom Minister berufen. Laut „DDR-Handbuch“3 waren durchschnittlich zehn Wissenschaftliche Beiräte am SFH bzw. MHF eingerichtet. Nach Einsicht umfangreichen Aktenmaterials im Bundesarchiv ist allerdings davon auszugehen, dass zumindest ab Beginn der siebziger Jahre weitaus mehr Wissenschaftliche Beiräte bestanden haben, so dass 19754, insgesamt betrachtet, von ungefähr dreißig Beiräten auszugehen ist. Im Einzelnen waren das beispielsweise: – – – – –

Wissenschaftlicher Beirat für Orientalistik, Wissenschaftlicher Beirat für Kunst-, Kultur- und Sprachwissenschaften (KKS), Wissenschaftlicher Beirat für Agrarwissenschaften, Wissenschaftlicher Beirat für Asien-, Afrika- und Lateinamerikawissenschaften (AAL), Wissenschaftlicher Beirat für Bodendenkmalpflege.

Ein genaueres Bild über allgemeine Aufgaben und Funktionen der Wissenschaftlichen Beiräte sollen im Folgenden Auszüge einer Vorlage (datiert vom 9.2.1957) mit dem Titel „Richtlinien zur Arbeit der Wissenschaftlichen Beiräte“ helfen zu skizzieren, die in einer Akte der „Dienstbesprechungen des Staatssekretariats – Januar–Juni 1957“5 beim Bundesarchiv einzusehen ist: 1. Aufgaben der Wissenschaftlichen Beiräte a) planmäßige Weiterentwicklung der Zielsetzung der Fachwissenschaften entsprechend den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und ihre Orientierung auf den sozialistischen Aufbau. b) Fragen der Studienplanung, der Vorlesungsprogramme und Probleme der Hochschulmethodik und Studienorganisation; Durchsetzung des Prinzips der

2 3 4

5

Vgl. Zimmermann, DDR-Handbuch, S. 964. Ebd., S. 904. Da Personen mit leitenden Funktionen innerhalb der Wissenschaftlichen Beiräte eine finanzielle Aufwandsentschädigung (1975: Vorsitzende – 250 M mtl./Stellv. – 150 M mtl.) erhielten, existieren dazu auch Unterlagen in den Beständen des Sektors Arbeit und Löhne. Vgl. Vorlage zur Abrechnung für das Jahr 1975, in: BArch (DR 3 B 1344/3), II. Schicht, Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. Vgl. Dienstbesprechungen des Staatssekretariats Januar-Juni 1957, 9.2.1957, in: BArch (DR 3 171), I. Schicht, Staatssekretariat für Hochschulwesen.

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Einheit von Ausbildung und Erziehung und Verbesserung der politisch-ideologischen Erziehung der Studenten. 2. Zusammensetzung der Wissenschaftlichen Beiräte a) Die Wissenschaftlichen Beiräte wurden auf Anordnung des Staatssekretärs gebildet. Er berief auch die Mitglieder. b) Jeder Beirat hatte einen Vorsitzenden, einen Stellvertreter und einen Sekretär. Der Vorsitzende wurde vom Staatssekretär ernannt. c) Die Mitglieder der Wissenschaftlichen Beiräte durften den Titel „Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim SFH“ führen. d) Für die Lösung bestimmter Aufgaben konnte der Vorsitzende Kommissionen einsetzen. In die Kommissionsarbeit sollten vor allem auch Nachwuchskräfte einbezogen werden. 3. Aufgaben des Sekretärs Der Sekretär bereitete die Sitzungen des Wissenschaftlichen Beirats organisatorisch vor und war verantwortlich für das Abfassen des Protokolls und seine Weiterleitung an die Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats sowie an den Staatssekretär für Hochschulwesen. Ihm oblag die Kontrolle der Durchführung der Beschlüsse. 4. Arbeitsweise der Wissenschaftlichen Beiräte und ihre Zusammenarbeit mit dem SFH a) Die Sitzungen der Wissenschaftlichen Beiräte fanden mindestens einmal im Semester statt. b) Dabei nahm der jeweilige Fachreferent des Ministeriums als Vertreter an den Sitzungen teil.

Im Fokus dieser Untersuchung soll nun im Weiteren die Arbeit des WB Germanistik stehen. Und das nicht zuletzt auch deswegen, weil die Germanistik als eines der wichtigsten Fachgebiete im Kanon der Gesellschaftswissenschaften angesehen wurde, deren vordergründigste Aufgabe es sein sollte, einen Beitrag „zur weiteren Erhöhung des Bildungs- und Kulturniveaus der Arbeiterklasse, aller Werktätigen und besonders der Jugend als Bedingung ihrer Persönlichkeitsentwicklung sowie zur Entwicklung der sozialistischen Nationalkultur zu erbringen“.6

6

Zimmermann, DDR-Handbuch, S. 530. Vgl. Parteiprogramm der SED zum IX. Parteitag, Berlin 1976.

„Wissenschaftlicher Beirat Germanistik“ und „Zentrale Fachkommission Deutsch“

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2.1 „Wissenschaftlicher Beirat Germanistik“ Schon kurze Zeit nach Bildung des Staatssekretariats für Hochschulwesen (1951) wurde auch der „Wissenschaftliche Beirat Germanistik“ gegründet. Leider war es trotz intensivster Recherche in alle Richtungen bisher nicht möglich, das genaue Gründungsdatum festzustellen. Wie schon erwähnt, liegen die Sitzungsprotokolle des Beirats nur partiell vor, so dass in der weiteren Untersuchung nur punktuell für bestimmte Zeiträume Aussagen getroffen werden können. Das ist zum Beispiel für die Zeit von 1953 bis 1957 der Fall, da für diese Periode vergleichsweise vollständige Protokollaufzeichnungen gesichtet werden konnten. Für den dann folgenden Zeitraum liegen Arbeit und Entwicklung des Beirats leider noch im Dunkeln und wären wohl im Rahmen weiterer Untersuchungen zu klären. Erst ab Beginn der siebziger Jahre bis hin zum Zusammenbruch des DDR-Systems kann wieder ein genaueres Bild nachskizziert werden. Hinsichtlich des Gründungszeitpunkts des „Wissenschaftlichen Beirats Germanistik“ ist allerdings mit gewisser Sicherheit festzustellen, dass erstmals 1952 auf Initiative des SFH Vorschläge für mögliche Mitglieder eines noch zu gründenden Beirats erarbeitet worden sind. Dazu existiert eine Aktennotiz7 des Referenten im SFH, Herrn Jörn, (Abteilung Philosophische und Theologische Fakultäten an den damaligen Staatssekretär Prof. Dr. Gerhard Harig8), datiert vom 17.10.1952. Hierin schlägt Referent Jörn als wissenschaftliche Beiräte vor: 1) Prof. Dr. Dr. h. c. Theodor Frings, NPT (Leipzig) 2) Prof. Dr. Alfred Kantorowicz (Berlin). Da das Protokoll der zweiten Beiratssitzung vom 20.2.1953 vorliegt, muss die Gründungssitzung entgegen anders lautenden Darstellungen9 zweifellos zwischen Oktober 1952 und Februar 1953 stattgefunden haben. 7 8

9

Vgl. Schreiben von Referent Jörn an Staatssekretär Harig, 17.10.1952, in: BArch (DR 3 4055), I. Schicht, Staatssekretariat für Hochschulwesen. Gerhard Harig war 1951–1957 Erster Staatssekretär für Hochschulwesen der DDR. 1957 kehrte er als Direktor des Karl-Sudhoff-Instituts für Geschichte der Naturwissenschaften und Medizin zurück an die Universität Leipzig. Petra Boden verweist im Zusammenhang mit der Gründung des WB Germanistik auf das Jahr 1951. Vgl. Boden, Lesen aus Leidenschaft, S. 196. Richtig ist meines Erachtens, dass 1951 bereits eine Kommission der Fachrichtungsleiter bestanden haben muss – vgl. Beschlussprotokoll der Hauptabteilungsleitersitzung, 20.6.1952, in: BArch (DR 3 144), I. Schicht, Staatssekretariat für Hochschulwesen –, die sozusagen als eine Art Vorläufer des späteren WB fungiert haben könnte. Das müsste allerdings noch im Rahmen weitergehender Untersuchungen geklärt werden. Anderenorts heißt es wiederum, dass die WB „aus den bis dahin bestehenden Studienplankommissionen gebildet“ worden sind. Vgl. Köhler/Kraus/ Methfessel, Geschichte, S. 51.

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2.2 Funktion und Aufgaben Wie alle anderen Wissenschaftlichen Beiräte hatte auch der WB Germanistik die Aufgabe, zum Zwecke der umfassenden Information und des gelenkten Meinungsaustausches im Vorfeld von Entscheidungen des Staatssekretariats/Ministeriums Vorlagen zu erarbeiten und Hinweise zu fachlichen Fragen seines jeweiligen Wissenschaftsbereichs zu geben. Das waren im Einzelnen Fragen der Studienplanung, der Ausbildung von Diplom-Germanisten, der Deutschlehrerausbildung, der inhaltlichen Gestaltung von Fachtagungen etc. Stellvertretend hierfür sei auf folgendes Aktenblatt mit dem Titel „Vorlage über die Verbesserung der Arbeit des SFH“ verwiesen: Planmäßige Tagungen der wissenschaftlichen Beiräte des Staatssekretariats: In den WB’s sollten die hervorragendsten und erfahrensten Vertreter der wissenschaftlichen Fachgebiete und je nach dem Fachgebiet, ständig oder wechselnd, mit dem Hochschulwesen vertraute Praktiker vertreten sein. Die Tagungen sollen systematisch die Studienpläne, die Erfahrungen in der wissenschaftlichen und politischideologischen Erziehungsarbeit, die Vorlesungsprogramme, die Verbindung der marxistisch-leninistischen wissenschaftlichen Grundausbildung mit der Fachausbildung, der Wissenschaft mit der Praxis, die Forschungsarbeit, die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses, überhaupt die vielfältigen Probleme der Lehr-, Erziehungs- und Forschungsarbeit der Hochschulen, Fakultäten, Fachrichtungen und Fachschulen beraten. Die wissenschaftlichen Beiräte haben im Zusammenhang mit der Ausarbeitung der Studienpläne für Hoch- und Fachschulen ihre Tätigkeit auf die Behandlung der Direktiven der Volkswirtschaftspläne auf ihrem Fachgebiet sowie auf die Überprüfung des Standes und die Entwicklung der Perspektive der jeweiligen Fachwissenschaft und auf die entsprechende Kaderbedarfsplanung zu erstrecken. Dabei ist der Behandlung der neuen Probleme von Wissenschaft und Praxis und der schnellen Überleitung der Forschungsergebnisse in die Lehre und in die Praxis besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Der Verlauf und die Ergebnisse der Beratungen der wissenschaftlichen Beiräte sollen den Sektoren und Abteilungen Gelegenheit geben, tieferen Einblick in die wissenschaftliche Arbeit der Fachgebiete zu gewinnen und zugleich entsprechend der Hauptlinie der Hochschulpolitik des Staatssekretariats Einfluss darauf nehmen.10

Natürlich wurden im Laufe des Bestehens des Wissenschaftlichen Beirats die Arbeitsschwerpunkte regelmäßig konkretisiert und den jeweils aktuellen Problemstellungen angepasst. Hin und wieder kam es auch zu leichten Akzentverschiebungen in der Beratungstätigkeit des Beirats. Doch im Wesentlichen war das Aufgabenfeld von Anfang an klar umrissen und wurde dann nur noch in Form von so genannten Arbeitsprogrammen den jährlich anstehenden Aufgaben und Ereignissen entsprechend spezifiziert. Das stellte sich im Einzelnen etwa so dar, dass – ausgehend von einer Weisung 10

Vgl. Vorlage über die Verbesserung der Arbeit des SFH, ohne Datum, in: BArch (DR 3 173), I. Schicht, Staatssekretariat für Hochschulwesen.

„Wissenschaftlicher Beirat Germanistik“ und „Zentrale Fachkommission Deutsch“

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des Staatssekretärs/Ministers an den jeweiligen (Haupt-)Referenten für Germanistik, der als Verbindungsmann zwischen Staatssekretariat/Ministerium und Wissenschaftlichen Beirat fungierte – die Beiratsmitglieder bestimmte Fragen und Probleme ihrer Arbeit kollektiv berieten, auf deren Grundlage letztendlich Empfehlungen an die Leitung des Staatssekretariats/Ministeriums erarbeitet wurden.

2.3 Personelle Zusammensetzung Ausgehend vom oben bereits erwähnten Vorschlag des Referenten Jörn im SFH, dem Harig zustimmte, ergab sich für den Gründungszeitraum und die unmittelbaren Jahre danach folgendes Bild der Mitglieder- und Funktionsverteilung. Der WB Germanistik bestand zunächst aus zehn Mitgliedern:11 1.) 2.) 3.) 4.) 5.) 6.) 7.) 8.) 9.) 10.)

Prof. Frings (Vorsitzender), Leipzig – Linguistik Prof. Simon (Stellvertreter), Berlin – Ältere deutsche Philologie Prof. Magon, Berlin – Neuere deutsche Literatur Prof. Kantorowicz, Berlin – Neueste deutsche Literatur Prof. Boeckh, Berlin – Neuere deutsche Literatur Prof. Mayer, Leipzig – Neuere und neueste Literatur Prof. Bischoff, Halle – Linguistik Prof. Teuchert12, Rostock – Linguistik Dr. Kirsch, Halle – Neueste Literatur Herr Hiepe, Leipzig – Aspirant13.

Der Referent Jörn fungierte während der ersten Beiratssitzungen sowohl als Vertreter des SFH als auch als Sekretär des Beirats. Im vorliegenden Bericht bemängelt er ein zu stark vertretenes „bürgerliches Element“14 (Frings, 11 12 13 14

Vgl. Jörn, Bericht über die Arbeit des WB Germanistik im Studienjahr 1952/53, 12.6.1953, in: BArch (DR 3 6019), I. Schicht, Staatssekretariat für Hochschulwesen. Prof. Dr. Hermann Teuchert (‚bürgerliches Lager‘) wird 1956 nahe gelegt, seine Mitgliedschaft im WB ruhen zu lassen, da er häufig wegen Krankheit fehlt. Vgl. ebd. Die Aspirantur war ein in der Regel vierjähriges Promotionsstudium, zu dem man delegiert wurde. Mayer bemerkt dazu folgendes: „Aus meiner Kenntnis der bürgerlichen Hochschullehrer kann ich anmerken, dass auch dort ein prinzipienfester Quietismus betrieben wurde. Das waren ältere, in ihrem Fach verdienstvolle Leute, deren Kinder häufig in den Westen gegangen waren. Sie hatten ihren Frieden gemacht. Das Bürgertum in der DDR war alt und ruhebedürftig. Man schaute nach dem Westen, wo die Jüngeren ein neues Leben begonnen hatten. Man besuchte sie und kehrte dann wieder traurig, doch nicht verzweifelt, nach Jena,

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Oliver Müller

Simon, Magon), woran sich innerhalb der untersuchten Folgejahre (bis 1958) auch nicht allzu viel ändern sollte. Im weiteren Verlauf des Berichts charakterisiert Jörn stellenweise die Arbeitseinstellung einzelner Beiratsmitglieder. Der „stets negierende“ Prof. Bischoff, der wortkarge, „aber zuverlässige“ Prof. Kantorowicz sowie der wenigstens zeitweise „wirkungsvoll unterstützende“ Prof. Mayer machten es den Fachreferenten offenbar nicht eben gerade leicht, das gewünschte Beratungsergebnis zu erzielen. Galt es doch zuallererst, die bürgerlich eingestellten Vertreter der Wissenschaft von gesamtgesellschaftlichen Notwendigkeiten der sozialistischen Planung und Leitung zu überzeugen, die für so manchen traditionell geprägten Hochschullehrer und Wissenschaftler häufig nur schwer nachvollziehbar waren. So verursachte beispielsweise die geforderte Erarbeitung von acht Vorlesungsprogrammen, die zum verbindlichen Einsatz in der republikweiten Germanistenausbildung vorgesehen waren, heftige Diskussionen vor dem Hintergrund traditioneller Vorstellungen und Werte wie der Freiheit der Wissenschaft.15 Folgende Einschätzung von Jörn vermag die Arbeit im Beirat näher zu kennzeichnen: Die Zusammenarbeit mit dem Vorsitzenden Prof. Frings ist für den Fachreferenten nicht immer leicht. Hat man aber Frings gewonnen, so hat man auch die bürgerlichen Professoren im Beirat. Prof. Frings geht – ein gutes Arbeitsverhältnis zum Fachreferenten vorausgesetzt – in den wesentlichen Punkten unserer Hochschulpolitik mit.16

Weiterhin kommt zum Ausdruck, dass in vielen wichtigen Fragen seitens des Referenten Jörn „der Weg der einzelnen Vorbesprechung“ gegangen wurde, um von vornherein die anschließende Diskussion in die richtigen Bahnen lenken zu können, was zumeist auch gelang. Immerhin hatte Jörn offensichtlich den Mut zur objektiven Selbsteinschätzung nicht verloren, wenn er selbstkritisch konstatiert, „daß ich (Jörn) nicht in der Lage bin (jedenfalls nicht unvorbereitet) auf gleicher Ebene wissenschaftlich zu diskutieren. Manches Problem hätte sich schneller und überzeugender lösen lassen, wenn man es direkt durch eine wissenschaftli-

15

16

Greifswald oder Freiberg zurück. Walter Ulbricht hatte auch hier seine Verbündeten gesucht und gefunden. Der bedeutende Sprachwissenschaftler und Altgermanist Theodor Frings an der Universität Leipzig war Präsident einer Sächsischen Akademie der Wissenschaften geblieben, obwohl es das Land Sachsen nicht mehr gab. Aber es gab die Sächsische Akademie, weil es den Präsidenten Frings gab. Den wollte Ulbricht nicht kränken. Wenn aufsässige Leipziger Studenten, wohl im Blauhemd und mit dem Parteiabzeichen, in einer Studiensache bei Theodor Frings vorstellig wurden, pflegte er nachlässig, fast träumerisch zu sagen: ‚Darüber muß ich dann eben mit Herrn Ulbricht sprechen.‘“ (Mayer, Turm, S. 146–147) „Frings half, die Widerstände in der Frage der Vorlesungsprogramme zu überwinden, nahm überhaupt zu allen bisher behandelten wichtigen Fragen positiv Stellung.“ Vgl. Jörn, Bericht über die Arbeit des WB Germanistik im Studienjahr 1952/53, 12.6.1953, in: BArch (DR 3 6019), I. Schicht, Staatssekretariat für Hochschulwesen. Ebd.

„Wissenschaftlicher Beirat Germanistik“ und „Zentrale Fachkommission Deutsch“

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che Diskussion hätte klären können; ich mußte es oft durch Taktik, Einzelbesprechungen und Ausspielen der Parteien gegeneinander erreichen. Leider bin ich nicht allein in dieser Lage, sondern mehr oder weniger trifft das auch auf die übrigen Germanisten im Beirat zu (Hiepe, Kirsch, Kantorowicz). Im Sachwissen sind uns die bürgerlichen Professoren weit überlegen.“17 Die personelle Zusammensetzung des Beirats im betrachteten Zeitraum von 1952 bis 1957 ist von einer relativen Kontinuität gekennzeichnet. Allerdings gab es doch Veränderungen in der Funktionsverteilung. So wechselten innerhalb des genannten Zeitraums die Vorsitzenden nicht weniger als viermal: 1.) Prof. Theodor Frings: 1952 – Januar 1954 2.) Prof. Werner Simon: 1954–März 1955 3.) Prof. Leopold Magon: 1955–November 1955 4.) Prof. Hans Mayer: 1955–mind. Juli 1957. Dieser häufige Wechsel im Vorsitz mag unterschiedliche Ursachen haben. Frings beispielsweise schien den turnusmäßigen Beiratssitzungen nicht viel abgewinnen zu können. So glänzte er innerhalb des hier untersuchten Zeitraums auf achtzehn Sitzungen gleich fünfzehn Mal durch Abwesenheit – und das trotz seines temporären Vorsitzes. Allerdings ließ er sich zumeist durch einen seiner Assistenten vertreten, so dass wohl zumindest die Form gewahrt blieb.18 Allerdings bat Frings bereits im Dezember 1953 brieflich beim nunmehr zuständigen Fachreferenten des SFH, Jürgen Bonk in aller Form um die Entbindung von der Funktion des Vorsitzenden bat, da ihn vielfältige wissenschaftliche Projekte und anstehende Publikationen anderweitig beanspruchen und ihn häufig zu Dienstreisen ins Ausland führen würden.19 Als seinen Nachfolger schlägt Frings den bis dato als Stellvertreter fungierenden Prof. Simon vor, der schon allein durch seine Tätigkeit an der HU Berlin und der somit vorhandenen örtlichen Nähe zum SFH für diese Funktion direkt prädestiniert sei. Die von Frings erbetene Entbindung von der Funktion des Vorsitzenden verursachte einigen Wirbel. Auf der Sitzung vom 19.12.195320 forderte der Beirat, „daß Herr Prof. Frings weiterhin Vorsitzender bleibt. Sie (die Mitglieder) sehen in seinem angebotenen Rücktritt eine schwere Schädi17 18

19 20

Ebd. In einer Stellungnahme zur Beiratsarbeit von 1957 wird beklagt: „Prof. Frings lässt sich durch Oberassistenten ständig vertreten.“ Vgl. Stellungnahme zur Beiratsarbeit, 1957, in: BArch (DR 3 6019), I. Schicht, Staatssekretariat für Hochschulwesen. Vgl. Brief von Prof. Frings an Bonk, 10.12.1953, in: BArch (DR 3 6019), I. Schicht, Staatssekretariat für Hochschulwesen. Der 19.12.1953 war übrigens ein Sonnabend – die Beiratssitzungen fanden zumeist sonnabends statt und dauerten durchschnittlich fünf Stunden.

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gung für das Fach. Wie Prof. Simon ausdrücklich betonte, lehnt er jede Mitarbeit ab, wenn Herr Prof. Frings ausscheidet.“21 Auf derselben Sitzung wurde einstimmig beschlossen, den Kreis der Mitglieder um die Herren Professoren Fritz Tschirch (Greifswald), Joachim Müller (Jena)22 und Ernst Hadermann (Halle) zu erweitern. Um eine effektive Arbeit und natürlich auch Kontrolle derselben zu ermöglichen, nahmen an den Beiratssitzungen auch immer Vertreter des SFH teil, die in ihrer Besetzung allerdings ebenso wechselten. War es anfangs noch Referent Jörn, so wurde er schon kurze Zeit später vom Fachreferenten Bonk abgelöst. Aber auch Grunert und Hofmann sind Namen von offiziellen Vertretern des SFH, die in unterschiedlicher Reihenfolge am Sitzungsgeschehen teilhatten. Je nach Wichtigkeit der zu beratenden Fragen nahm mitunter auch der Hauptabteilungsleiter für Germanistik im SFH, Herr Kortum23, an den Sitzungen teil.24 Mit Beschluss vom 2.12.1955 wurde festgelegt, den nach dem Ausscheiden von Prof. Simon durch Prof. Magon kommissarisch geleiteten Vorsitz des Beirats25 mit Prof. Hans Mayer neu zu besetzen (Mayer war kurz zuvor der Nationalpreis verliehen worden.). Auffallend ist weiterhin, dass mit fortschreitendem Bestehen des Beirats die an den Sitzungen teilnehmende Zahl der Vertreter des SFH innerhalb des Untersuchungszeitraums stetig zunahm.26 In den nächstfolgenden Jahren kam es noch zu einigen weiteren personellen Veränderungen, so dass sich entsprechend einer Vorlage vom 21 22 23

24

25

26

Vgl. Bericht über die Sitzung des WB Germanistik, 19.12.1953, in: BArch (DR 3 6019), I. Schicht, Staatssekretariat für Hochschulwesen. Prof. Joachim Müller wird vom Referenten Jörn als „fortschrittlich und sehr gut lenkbar“ eingeschätzt. Vgl. ebd. Hans Kortum wurde 1957 „wegen Schädigung des Ansehens der Partei und der Regierung“ vom Dienst beurlaubt. Vgl. Aktennotiz, ohne Datum, in: BArch (DR 3 171), I. Schicht, Staatssekretariat für Hochschulwesen. Auf der Sitzung am 29.1.1954 wurden bspw. Fragen des Fernstudiums beraten. Deshalb war als sachkundiger Vertreter Herr Oehme von der Abt. Fernstudium der PH Potsdam zugegen. Vgl. Bericht über die Sitzung des WB Germanistik, 29.1.1954, in: BArch (DR 3 6019), I. Schicht, Staatssekretariat für Hochschulwesen. „Prof. Magon weist darauf hin, daß er seit dem Weggang von Prof. Simon den Vorsitz des Beirats ohne offizielle Autorisierung führt, und erklärt andererseits seine Bedenken, selbst den Vorsitz weiterzuführen, da er nicht mehr im Lehrbetrieb steht, wohingegen der Beirat in erster Linie über Angelegenheiten des Lehrbetriebes zu entscheiden habe. Daraufhin schlägt Prof. Müller Prof. Hans Mayer vor, der seinerseits als stellvertretenden Vorsitzenden Prof. Hadermann nominiert. Nach längerer Diskussion werden die beiden Vorgeschlagenen einstimmig gewählt.“ Vgl. Bericht über die Sitzung des WB Germanistik, 2.12.1955, in: BArch (DR 3 6019), I. Schicht, Staatssekretariat für Hochschulwesen. War es anfangs nur ein offizieller Vertreter (Jörn oder Bonk), sind es 1956 schon vier (Kortum, Grunert, Pladies, Hofmann). Vgl. ebd.

„Wissenschaftlicher Beirat Germanistik“ und „Zentrale Fachkommission Deutsch“

519

13.1.195827 folgendes Bild der Zusammensetzung des Wissenschaftlichen Beirats für die Fachrichtung Germanistik bot: Prof. Dr. Mayer

Prof. mit Lehrstuhl

Leipzig

Literaturwiss.

Prof. Dr. Hadermann

Prof. mit Lehrstuhl

Halle

Literaturwiss.

Prof. Dr. Bischoff

Prof. mit Lehrstuhl

Halle

Sprachwiss.

CDU

Prof. Dr. Müller

Prof. mit Lehrstuhl

Jena

Literaturwiss.

NDPD

Prof. Dr. Tschirch

Prof. mit Lehrstuhl

Jena

Sprachwiss.

Prof. Dr. Friederici

Prof. mit Lehrauftrag

Potsdam

Literaturwiss.

SED

Dr. Thalheim28

Wahrnehmungs-Prof. mit vollem Lehrauftrag

Berlin

Literaturwiss.

SED

Epping29

Wahrnehmungs-Prof. mit Lehrstuhl

Rostock

Literaturwiss.

SED

Dr. Geerdts30

Dozent

Greifswald

Literaturwiss.

SED

Dr. Kirsch

W.-Dozent

Halle

Literaturwiss.

SED

Karl

Dozent

IfG31, Berlin

(Sprachwiss.) Literaturwiss.

SED

Neumann

Assistent Aspirant

IfG, Berlin

Sprachwiss.

SED

Gysi32

Direktor des Aufbau-Verlags

Berlin Praxis

Vertreter der

SED

27 28

29

30

31

32

Vgl. Vorlage ohne Titel, 13.1.1958, in: BArch (DR 3 172), I. Schicht, Staatssekretariat für Hochschulwesen. Hans-Günther Thalheim, 1954 Mitbegründer der literaturwissenschaftlichen Zeitschrift „Weimarer Beiträge“ und 1955–1963 deren Chefredakteur war mit der Wahrnehmung einer Professur in Berlin beauftragt. Walter Epping, damals kommissarischer Direktor des Philosophischen Instituts der Universität Rostock und Leiter der „Abteilung für neuere deutsche Literaturgeschichte“ war nicht promoviert und daher lediglich mit der Wahrnemung der Professur in Rostock beauftragt. Vgl. Catalogus Professorum Rostochiensium (Walter Epping), in: http://cpr.uni-rostock.de/ (16.08.2010). Hans-Jürgen Geerdts, ab 1958 Prof. mit Lehrauftrag, ab 1967 Prof. mit Lehrstuhl für „Neuere und neueste dt. Literaturgeschichte“, war später Direktor des Instituts für Dt. Philologie der Universität Greifswald. Auch Verfasser von Romanen und Erzählungen. Das Institut für Gesellschaftswissenschaften ist beim ZK der SED angesiedelt, wurde am 21.12.1951 gegründet und 1976 in die Akademie für Gesellschaftswissenschaften (AfG) umgewandelt; es fungierte als gesellschaftswissenschaftliche Forschungs- und Ausbildungsinstitution des ZK der SED. Vgl. Herbst/Ranke/Winkler, DDR, S. 41–43. Klaus Gysi, 1957–1966 Leiter des „Aufbau-Verlages“.

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Weiterhin fällt auf, dass auch Prof. Kantorowicz tendenziell nicht mehr zum Kreise der auserwählten Fachvertreter der (DDR-)Germanistik zählte; spätestens jedoch seit seiner Flucht vor drohender Verhaftung im August 1957 nach Berlin (West).33 Er weigerte sich Ende 1956, die Ungarn-Resolution des DSV34 zu unterzeichnen, die den dortigen Einsatz sowjetischer Panzer begrüßte. Welche unmittelbaren Konsequenzen Kantorowicz’ Weggang auch auf anderer Ebene nach sich zog, verdeutlicht folgender Auszug eines Briefwechsels zwischen dem Genossen Rebisch35 aus dem Ministerium für Volksbildung und dem Volkseigenen Verlag „Volk und Wissen“ vom 6.11.1957: Ich bitte den Verlag Volk und Wissen zu beauftragen, genau zu untersuchen, inwieweit die parteifeindliche Haltung des Prof. Kantorowicz auch Einfluß auf Verlagserzeugnisse im Rahmen seiner gelegentlichen Mitarbeit genommen hat. […] Wenn die Worte im Allgemeinen auch richtig sind, erscheinen sie nach dem parteifeindlichen Verhalten des Autors als offensichtlicher Ausdruck des Unechten und Unehrlichen. Die inhaltlich an sich richtigen Darstellungen werden durch sein jetzt gegen unsere Republik gerichtetes Auftreten völlig entwertet und müssen jeden Leser befremden. Aus diesem Grunde sollte man diese Werke36 ganz einziehen und die weitere Auslieferung unterbinden.37

Der anhaltende Weggang fachlich versierter Kräfte führte unweigerlich zu immer größeren Engpässen in der Personal- und Berufungspolitik, weil ein von Anfang an knappes Personal zusätzlich durch ‚Republikflucht‘ dezimiert wurde.38 Die Zahl der zu besetzenden Stellen wuchs, die Zahl der qualifizierten Anwärter nahm ab. Ab Mitte der fünfziger Jahre greifen damit wissenschaftsorganisatorische und konzeptionelle Probleme ineinander. Angesichts der Tatsache, dass noch kein hinreichend qualifizierter Nachwuchs 33

34 35 36 37 38

Unmittelbar danach erscheint in der „Neuen Deutschen Literatur“ (NDL) eine Stellungnahme von Schriftstellern: „Alfred Kantorowicz, der sich bis vor kurzem Antifaschist nannte, hat den ehemaligen SA-Mann und gegenwärtigen Bonner Innenminister um Schutz und Bürgerrechte in dem von diesem Schröder ‚gesicherten Teil seines Vaterlandes‘ ersucht. [...] Er fällt damit allen Menschen in den Rücken, die Deutschland vom Alpdruck der Kriegspartei befreien wollen.“ Vgl. ebd., S. 135. „Deutscher Schriftstellerverband“ (DSV) 1952–1973, dann „Schriftstellerverband der DDR“ (SV). Rebisch ist Leiter der Hauptabteilung Unterricht und Erziehung im MfV. Es handelt sich um drei Hefte der Reihe „Schriftsteller der Gegenwart“: Gerhart Hauptmann, Lion Feuchtwanger und Heinrich Mann/Arnold Zweig. Vgl. Brief von Rebisch, 6.11.1957, in: BArch (DR 2 2547), I. Schicht, Ministerium für Volksbildung. Zwischen dem 1.1.1958 und dem 30.9.1959 sind insgesamt 108 Professoren, Dozenten und Assistenten der Universität Leipzig nach West-Berlin und in die Bundesrepublik geflüchtet. Die Uni Leipzig weist damit die höchste Fluchtquote aller Hochschulen der SBZ auf. Vgl. Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen, SBZ von 1959–1960, S. 130.

„Wissenschaftlicher Beirat Germanistik“ und „Zentrale Fachkommission Deutsch“

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zur Verfügung stand, der in die Hochschullehre eingebunden werden konnte, erscheint es verfehlt anzunehmen, dass seitens der staatlichen Behörden oder des ZK eine verschwörerische Vertreibungspolitik gegenüber bürgerlichen Wissenschaftlern stattgefunden hätte. Der ab Mitte der fünfziger Jahre einsetzende und dann bald zum Ritual werdende Mechanismus des Berichteschreibens, der Analysen politischer und ideologischer Situationen an den Universitäten und der ‚Aussprachen mit bürgerlichen Wissenschaftlern‘ hat zunächst eher tatsächlich den Zweck, mit politischer Begründung Wissenschaftler an die DDR zu binden.39 Erst nachdem sich das politische System durch die Ereignisse in Ungarn 1956 massiv unter Rechtfertigungsdruck gesetzt sieht, ändert sich die Strategie. Dass diese Strategie die Hochschulpolitik zunehmend prägte, hat natürlich auch damit zu tun, dass die SED ihre Strukturen ab Mitte der fünfziger Jahre fest innerhalb der Universität verankert hatte, zahlenmäßig viel stärker präsent war und damit die Entscheidungsgewalt sich in den Händen derer zu konzentrieren begann, die schon von Anfang an in den bürgerlichen Professoren Vertreter und Verfechter einer Ideologie sahen, die zum Nationalsozialismus geführt habe.40 Im Muster vergleichbar ist der auch im Beitrag von Gabriele Czech angeführte Fall von Prof. Hans Mayer, der entsprechend der Mitgliederübersicht von 1958 noch zum festen Mitgliederstamm des WB Germanistik gehörte und nunmehr sogar den Vorsitz innehatte. Als er aber 1957 in einem Rundfunkvortrag kritisch zur DDR-Gegenwartsliteratur Stellung nahm und in ihr nicht Spuren des bald zu erwartenden Höhepunktes im ‚Sozialistischen Realismus‘ erkennen wollte, hatte er sich Feinde gemacht. Von nun an musste die Politbürokratie mit dem Widerspruch klarkommen, dass Mayer zwar im Ausland, so lauten einschlägige Berichte,41 die DDR energisch gegen Angriffe verteidigte, sich im Lande aber alle Bevormundungen und Weisungen verbat. Ab Mitte der fünfziger Jahre konnten sich die politischen Pläne zur Umprofilierung der Universitäten auf ein wachsendes 39

40 41

„Die hartnäckige Arbeit des Parteiaktivs […] mit Prof. H. Mayer hatte nach längeren Auseinandersetzungen sichtbare Erfolge in seinem politisch entschiedenerem Auftreten, in seiner deutlichen Solidarisierung und Identifizierung mit unseren jungen marxistischen Kräften. Man sollte zukünftig stärker seine internationalen Verbindungen nutzbar machen und ich durch umsichtige, aber hartnäckige Gespräche zu gemeinsamer Arbeit besser gewinnen. Das gilt besonders für seine Kritik an der reaktionären bürgerlichen Literaturwissenschaft, für seine Kontakte mit westdeutschen Schriftstellern und Wissenschaftlern.“ Vgl. Vorlage ohne Titel und ohne Datum, in: BArch (DR 3 5252), I. Schicht, Staatssekretariat für Hochschulwesen. Siehe dieses Zitat auch bei Czech, in diesem Band; Zitat mit Fußnote 48. Vgl. Boden, Universitätsgermanistik, S. 134. „Prof. Hans Mayer vertrat in seinen Diskussionsbeiträgen eine fortschrittliche Position, die die DDR gut repräsentierte; [...] er hat allerdings die Fiktion von der angeblichen [gesamtdeutschen, O. M.] Einheit der Wissenschaft noch nicht überwunden.“ Vgl. Ideologischwissenschaftliche Einschätzung des II. Internationalen Germanistenkongresses in Kopenhagen 1960, ohne Datum, in: BArch (DR 3 5252), I. Schicht, Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen.

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Potential des wissenschaftlichen Nachwuchses stützen. So seien auch „eindeutige Angriffsdiskussionen“42 gegen Prof. Mayer zu führen. Wie sich die Zusammensetzung und Arbeit des WB Germanistik in den darauf folgenden Jahren entwickelte, ist nach momentanem Stand der Forschung nur zu vermuten und bedarf weiterer Untersuchungen. Die mir zur Verfügung stehenden Unterlagen setzen erst wieder mit dem Jahre 1972 ein. Daraus geht hervor, dass mit Wirkung vom 21.9.1972 als Folgeorgan ein „Wissenschaftlicher Beirat für Kunst-, Kultur- und Sprachwissenschaften“43 gegründet wurde, unter dessen Dach sich nunmehr auch die Germanistik befand. Vorsitzender war fortan und das bis zum Ende der DDR Prof. Claus Träger, Leipzig.

2.4 Versuch einer ersten Analyse und Interpretation vorhandener Protokolle Zur Beschreibung und Rekonstruktion der konkreten inhaltlichen Arbeit des „Wissenschaftlichen Beirats Germanistik“ soll im Folgenden am Beispiel ausgewählter Themen das eigentliche Beratungsgeschehen näher beleuchtet werden.

2.4.1 Fragen der Lehre Eine der ersten und dringlichsten Hauptaufgaben war die inhaltliche Erarbeitung von Studienplänen für die Germanistenausbildung. Um die vom SFH eingeführten einheitlichen Lehrprogramme inhaltlich zu untermauern, wurde mit Nachdruck an der Ausgestaltung der Studienpläne gearbeitet. Das verlief allerdings nicht ohne Probleme. Wie bereits dargestellt, bestand der Beirat zu weiten Teilen aus Vertretern der so genannten „bürgerlichen Plattform“44, die aufgrund des eigenen Wissenschafts- und Lehrverständnisses natürlich andere Schwerpunkte setzen wollten (und häufig auch setzten) als das offizielle Vorgaben des SFH bzw. der „Abteilung Wis42 43

44

Vgl. Czech, in diesem Band, dort siehe Fußnote 43. Vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Kunst-, Kultur- und Sprachwissenschaften, 21.9.1972, in: BArch (DR 3 B 1344/3), II. Schicht, Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen, und die öffentliche Bekanntmachung in: Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen, Das Hochschulwesen, Mitteilung der Redaktion, 12 (1972), S. 375. Vgl. Jörn, Bericht über die Arbeit des WB Germanistik im Studienjahr 1952/53, 12.6.1953, in: BArch (DR 3 6019), I. Schicht, Staatssekretariat für Hochschulwesen.

„Wissenschaftlicher Beirat Germanistik“ und „Zentrale Fachkommission Deutsch“

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senschaften“ des ZK vorsahen. Meinungsstreit war also an der Tagesordnung. Die Fach- und Hauptreferenten des SFH, die den Beiratssitzungen richtunggebend beiwohnten, hatten es oft schwer, ihre selbst berufenen Beiratsmitglieder auf die gewünschte ‚große Linie‘ zu trimmen. Doch galt es, natürlich gerade bei solch perspektivischen Fragen wie der künftigen Germanistenausbildung mitunter einen langen Atem zu haben. Stellvertretend dafür kann die Diskussion um die Erstellung von acht einheitlichen Vorlesungsprogrammen gelten, die im Jahr 1953 geführt wurde. So war es üblich, Grundsätzliches zum Aufbau des Programms und zur Auswahl des Stoffes im Beirat zu besprechen, während die eigentliche Ausarbeitung des Programms zumeist in kleinen Kommissionen stattfand, die dann in der Folge ihre Ergebnisse wiederum dem gesamten Beirat zur Diskussion vorlegten. Genauso verlief auch die Erarbeitung der Vorlesungsprogramme für die Literatur von 1789 bis 1815 bzw. 1815 bis 1830, für die die Professoren Mayer, Müller, Magon und Korff zuständig waren. Hierbei gab es anscheinend keine großen Probleme und man wurde sich schnell einig. Etwas anders verhielt es sich mit dem zu erstellenden Vorlesungsprogramm für die Zeit von 1770 bis 1789. Hierfür war Edith Braemer (bereits 1951 als noch nicht promovierte Lehrbeauftragte an der Uni Jena tätig, 1952 Promotion) verantwortlich und sorgte schon mit ihrem ersten Entwurf für einigen Diskussionsbedarf, so dass gleich eine ganze Kommission mit der Überarbeitung desselben beauftragt wurde, die dafür auch ein knappes halbes Jahr benötigte. Von der Kommissionssitzung, auf der der nunmehr überarbeitete Entwurf von Dr. Braemer zur Diskussion stand, existiert ein Protokoll-Ausschnitt, der im Folgenden wiedergegeben werden soll, denn er steht und spricht für sich selbst. Abt. Phil. und Theol. Fakultäten HR45 Germanistik Hauptabteilungsleiter, Kollegen Wohlgemuth. über Kollegen Fischer. 19.10.1953 Kommissionssitzung am 16.10.1953. Kurze Information: Es nahmen teil: Prof. Dr. Mayer, Leipzig Prof. Dr. Müller, Jena Prof. Dr. Magon, Berlin Frau Dr. Braemer, Jena Hauptreferent Bonk, Berlin.

45

Hauptreferat (HR).

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Zur Debatte stand der Entwurf von Frau Dr. Braemer „Deutsche Literatur von 1770 bis 1789“. Die Diskussion war äußerst hart und prinzipiell. Frau Dr. Braemer vertrat konsequent die marxistische Konzeption. Prof. Dr. Mayer als Hauptwidersacher wollte jede Festlegung auf eine bestimmte Bewertung vermieden sehen. Prof. Dr. Müller schwankte wie ein Rohr im Winde und schlug sich still und geräuschlos auf die Seite des Lautstärkeren. Hatte er in Jena den Braemer-Entwurf durchaus gebilligt, so billigte er hier bedingungslos alles, was Mayer sagte. Prof. Dr. Magon verhielt sich wesentlich neutral, wenngleich auch er – wie konnte es anders sein – mehr zur bürgerlichen Plattform tendierte. Als wissenschaftliche Auseinandersetzung war die Debatte jedoch von außerordentlichem Wert. Als Ergebnis der Debatte wird jedoch ein neuer Entwurf entstehen, der wesentlich neutraler aussehen wird. Etwas anderes war nach Sachlage der Dinge in der Germanistik auch nicht zu erwarten. (Bonk)46

Eine weitere wichtige Frage in den Beratungen des Beirats beschäftigte sich mit der Deutschlehrer-Ausbildung. Hierbei war zu beachten, dass die Lehrerausbildung an den damaligen Pädagogischen Instituten (PI) und späteren Pädagogischen Hochschulen (PH) eigentlich im Zuständigkeitsbereich des Ministeriums für Volksbildung lag, so dass das SFH nicht im Alleingang operieren konnte. Gleiches galt aber auch für das MfV, das für die Bestätigung der jeweiligen Ausbildungsprofile wiederum der Zustimmung des SFH bedurfte. Es ist offensichtlich, dass hier Kompetenzgerangel vorprogrammiert war. Denn auch an den bestehenden Universitäten wurden natürlich Lehrer ausgebildet. Selbstverständlich wollte das MfV hierbei seinen Einfluss geltend zu machen. Dass sich diese Zwistigkeit bereits Mitte der fünfziger Jahre entwickelte, lässt sich ebenfalls mit Hilfe einzelner Sitzungsprotokolle verdeutlichen. So war auf der Beiratssitzung vom 16.4.195547 scheinbar erstmals auch eine Vertreterin des MfV, Frau Schob, zugegen (wenn auch nur zeitweise von 11.40 bis 13.10 Uhr). Ebenfalls anwesend war der Hauptabteilungsleiter im SFH, Dr. Wohlgemuth, der eigens „wegen der Wichtigkeit der zu behandelnden Fragen“48 an der Sitzung teilnahm. Nun wurde schon mehrfach angemerkt, dass Mitte der fünfziger Jahre ein sehr großer Mangel an Fachkräften auf so ziemlich allen Gebieten der Wissenschaft und Technik der noch jungen DDR herrschte; und das nicht nur wie bereits erörtert auf Universitätsebene, sondern gerade auch 46 47 48

Bonk, Bericht über Kommissionssitzung, 19.10.1953, in: BArch (DR 3 6019), I. Schicht, Staatssekretariat für Hochschulwesen. Vgl. Protokoll WB Germanistik, 16.4.1955, in: BArch (DR 3 6019), I. Schicht, Staatssekretariat für Hochschulwesen. Ebd.

„Wissenschaftlicher Beirat Germanistik“ und „Zentrale Fachkommission Deutsch“

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auf Schulebene. Hierbei ist anzumerken, dass zu dieser Zeit Mittelstufenlehrer in der Regel an den Pädagogischen Instituten49 ausgebildet wurden, während Oberstufenlehrer ihr Studium an den Universitäten absolvierten.50 Eine Ausnahme bildete die bis dahin einzige Pädagogische Hochschule, die PH in Potsdam51, die 1951 aus der Brandenburgischen Landeshochschule hervorgegangen war; denn hier konnten aufgrund des Hochschulstatus’ auch zukünftige Oberstufenlehrer studieren. So kam es, dass im Bereich der Germanistik sowohl die traditionelle Germanistenausbildung als auch die Deutschlehrerausbildung für Oberschulen angesiedelt waren. Das führte zu weiteren Komplikationen, da sich gewöhnlich die Mehrzahl der Studenten für die Diplom-Germanistenausbildung einschrieben (was bereits zu Problemen bei der Absolventenvermittlung führte52), andererseits aber ein dringender Bedarf53 an fachlich gut ausgebildeten Deutschlehrern bestand.54 Deshalb wurden nahezu ständig Werbungsveranstaltungen durchgeführt, mit dem Ziel auch noch Germanistik-Studenten höherer Semester auf eine spätere Tätigkeit an der Oberschule zu orientieren. Dabei gab es im Wesentlichen nur ein großes Problem: eine äußerst mangelhafte pädagogische Ausbildung. Frau Schob bestätigte, „daß noch Mängel vorhanden seien und daß eine Verbesserung der Ausbildung notwendig sei. Sie bedauerte, die Einladung 49

50

51 52

53

54

Im Herbst 1953 entstanden die PIs Güstrow, Dresden, Leipzig, Mühlhausen, Erfurt und Halle. Vgl. Wietstruk, Entwicklung, S. 164. Ab 4. August 1955 erhielten die PIs Hochschulcharakter. Vgl. Gesetzblatt der DDR, I (1955), S. 573–574. Lehrer für die Mittelstufe (Klassen 5 bis 8) wurden an PIs und Lehrer für die Oberstufe (Klassen 9 bis 12) an Universitäten ausgebildet. Vgl. Gesetzblatt der DDR, I (1953), S. 728– 729. Die PH Potsdam ist 1951 aus der Brandenburgischen Landeshochschule hervorgegangen. Vgl. Herbst/Ranke/Winkler, DDR, S. 778. „Prof. Bischoff: Warnungen vor den hohen Diplomandenzahlen wurden von uns schon früher vorgebracht, aber nicht beachtet.“ Protokoll WB Germanistik, 16.4.1955, in: BArch (DR 3 6019), I. Schicht, Staatssekretariat für Hochschulwesen. Vom Jahresbeginn 1952 bis Mitte 1956 hatten 8500 Lehrer und Erzieher die DDR verlassen, davon fast 2000 SED-Mitglieder. Etwa 500 hatten den Beruf zugunsten anderer Tätigkeit aufgegeben, waren verstorben oder in den Ruhestand getreten. Nach wie vor bestand Lehrermangel, und an den Schulen ergab sich große organisatorische und pädagogische Instabilität durch ständigen Lehrerwechsel. Vgl. Geißler/Wiegmann, Pädagogik, S. 131. Zur Klärung dieses Problems wurden schnell Entscheidungen herbeigeführt und entsprechende Maßnahmen eingeleitet: „Um in Zukunft einen besseren Einfluß auf die Auswahl der künftigen Oberstufenlehrer und Diplomanden ausüben zu können, […] ist vorgesehen, in Zukunft bei der Immatrikulation nur Oberstufenlehrer einzuschreiben, jedoch mit dem Hinweis, daß nach dem 1. oder 2. Studienjahr für wissenschaftliche Arbeit besonders befähigte Studierende einer entsprechenden Spezialausbildung zuzuführen seien, ohne daß dabei eine Elitebildung angestrebt werden dürfe. Damit wurde erneut die Frage einer pädagogischen Grundausbildung aller Studierenden aufgeworfen.“ Protokoll WB Germanistik, 16.4.1955, in: BArch (DR 3 6019), I. Schicht, Staatssekretariat für Hochschulwesen.

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zu dieser Sitzung, die am 25. März zugestellt worden war, erst gestern erhalten zu haben.“55 Prof. Kantorowicz forderte: „einen dauernden Kontakt mit dem Ministerium für Volksbildung. Er darf sich nicht auf eine Stunde pro Jahr beschränken.“56 Eine scheinbar ständige Angst der Entfernung der Lehrerausbildung von den Universitäten zeigt sich anhand einer so genannten ‚Denkschrift‘, verfasst von Prof. Hadermann im November 1954. Hierin verweist er auf Bestrebungen „zur Änderung des Studienplanes und schildert die besondere Lage der Pädagogischen Hochschule Potsdam mit ihren vom übrigen Hochschulstudium abweichenden Ausbildungsverfahren. Durch die hohen Stundenzahlen der gesellschaftswissenschaftlichen und pädagogischen Grundstudien in den ersten drei Studienjahren kommen die Hauptvorlesungen im vierten Studienjahr zu kurz; die Fachwissenschaft wird dabei überfahren. Hier liegt mangelnde Zusammenarbeit zwischen Staatssekretariat und Volksbildungsministerium vor.“57 In diesem Kontext spielte auch oft die Frage des Zweifachstudiums eine Rolle, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht einheitlich geregelt schien. Deshalb „weist Prof. Kühne“, von 1955 bis 1973 Professor für Neuere deutsche Sprache und Literatur an der WPU Rostock, in der Beiratssitzung vom 22.10.1955 „eindringlich auf das Problem des Zweifachstudiums für Germanisten hin. Er berichtet, dass in Rostock bereits jetzt die Studenten ‚illegal‘ zwei Fächer studieren und somit die Praxis den amtlichen Regelungen vorauseile.“58 Bereits 1951 hatte die Rostocker Universität in einem gesonderten Bericht von Hans-Günther Thalheim, der dort am 17.05.1951 die sprachwissenschaftlichen Institute besuchte, Folgendes attestiert bekommen: Grundsätzliches: a) Im Hinblick auf die ausgezeichnet ausgestatteten sprachwissenschaftlichen Institute der Universität Greifswald erscheint es mir nicht ratsam, die dortige Philosophische Fakultät aufzugeben. Vielmehr bin ich der Ansicht, dass wir die Philosophische Fakultät der Universität Rostock, die katastrophale Arbeitsbedingungen aufzuweisen hat, nach Greifswald verlagern. Evtl. könnte man beide Philosophische Fakultäten bestehen lassen, wenn an jeder der Fakultäten nur einige wenige Fächer richtig ausgebaut werden.

55 56 57 58

Ebd. Ebd. Ernst Hadermann, Denkschrift, 11/1954, in: Protokoll WB Germanistik, 16.4.1955, in: BArch (DR 3 6019), I. Schicht, Staatssekretariat für Hochschulwesen. Kühne, Protokoll WB Germanistik, 22.10.1955, in: BArch (DR 3 6019), I. Schicht, Staatssekretariat für Hochschulwesen.

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b) Die ideologische Rückständigkeit ist in Greifswald zweifellos grösser als in Rostock. Man sollte aber dieses Problem nicht lösen durch die Verlegung der Philosophischen Fakultät nach Rostock, sondern durch die Entsendung von fortschrittlichen Dozenten nach Greifswald. c) Es erscheint mir dringend notwendig, die Kontrollmöglichkeiten in den Instituten der Universitäten Rostock und Greifswald raschestens zu verbessern. Im allgemeinen haben die Studenten an diesen Universitäten ungehinderten Zutritt zu den Bibliotheken und werden auch beim Verlassen der Räume von niemanden [sic] beobachtet.59

2.4.2 Fragen der Forschung Entsprechend der Bedeutung, die der Wissenschaft für den Erweis der Richtigkeit und Überlegenheit des marxistisch-leninistischen-sozialistischen Systems zugesprochen wurde, legte die SED auf eine systemkonforme, gut lenkbare Wissenschaftsorganisation und Wissenschaftsförderung größten Wert. Forschung wurde deshalb organisiert in Akademie-Forschung, Hochschulforschung und Industrieforschung. Der beabsichtigten Zurückdrängung der Forschung an den Hochschulen stand der Ausbau der Forschung an den Akademien gegenüber. Die Forschung erfolgte nach Plänen unterschiedlich hohen Ranges. Sie konnte in zentralen Staatsplänen (sog. ZPThemen, meist unter Parteikontrolle), in Plänen auf Ministeriumsebene (ZM-Themen) oder lediglich in Plänen der Universitäten und Akademien verankert sein.60 Die Forschung der germanistischen Sprach- und Literaturwissenschaft an den Universitäten, Hochschulen und Akademien der DDR wollte man zentral über das Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen planen und koordinieren, um – so die offizielle Argumentation – größtmögliche Effizienz zu erzielen und Doppelarbeit zu vermeiden, aber ganz sicher auch um eine bessere und direktere Kontrolle ausüben zu können. Doch gerade während der Aufbauphase waren wohl so vielfältige und andere wichtige Aufgaben zu erfüllen, dass die Frage der Forschung erst einmal ins Hintertreffen geriet. Zuallererst galt es schließlich Ausbildungsprofile und Studienpläne zu erstellen sowie ein funktionierendes Hochschulwesen aufzubauen, das auf lange Sicht den immensen Bedarf an qualifizierten Fachleuten zu decken vermochte. Daraus resultierend gerieten Professoren wie Dozenten bald an die Grenze ihrer Belastbarkeit. So lautet denn auch ein Tagesordnungspunkt, aus dem auszugsweise zitiert werden soll, auf der 59 60

BArch (DR 4055), I. Schicht, Staatssekretariat für Hochschulwesen. Vgl. Herbst/Ranke/Winkler, DDR.

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Beiratssitzung vom 16.4.1955: „Überlastung der Professoren, Dozenten und Assistenten – Gefährdung der Forschungsarbeit“61: Prof. Müller: Die Erfüllung des Planes läßt keine Möglichkeiten mehr zur Forschung. Wenn wir keine Zeit zu Forschungen haben, geraten wir in Rückstand gegenüber unseren westdeutschen Kollegen. Es handelt sich dabei einfach um die Frage der wissenschaftlichen Ebenbürtigkeit der Germanistik der DDR. Wir müssen die Möglichkeiten haben, ein angreifbares Buch der westdeutschen Germanistik nicht nur zu kritisieren, sondern ein anderes Buch dagegen zu schreiben. Prof. Kantorowicz: Das Zehn-Monate-Studienjahr hat sich zu einem vollen ZwölfMonate-Studienjahr ausgewachsen. Dazu kommen für jeden 30–40 Staatsexamensarbeiten, die durchzusehen und zu zensieren sind, außerdem die Klausuren. In die fünfwöchigen Ferien gehe ich mit 5 Dissertationen und einer Habilitationsschrift, deren Prüfung weit in das neue Studienjahr hineinreichen wird.

Mit fortschreitender Festigung der Machtstrukturen innerhalb der DDR nahmen auch die Versuche zu, Forschung und Wissenschaft in zunehmendem Maße zu instrumentalisieren und fremdzubestimmen. Die SED wirkte bei den Entscheidungen über die Vergabe von Forschungsmitteln maßgeblich mit. Kontrolle und Konzeptionsbewertung der Forschungsprogramme wurde von Wissenschaftlichen Räten (Forschungsrat 1957 gegründet62) ausgeübt. Sie galten insbesondere auch als Instrumente der Partei zur Verwirklichung ihrer Beschlüsse in den Gesellschaftswissenschaften und der Beratung bei politisch-ideologischen Fragen auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus. Doch darf auch hier nicht pauschalisiert werden, da es durchaus auch in solchen Gremien kritische Wissenschaftler gab, die manches gefährdete Forschungsprojekt zu realisieren suchten. Auch um ihre eigenen Forschungsinteressen und -intentionen durchzusetzen, waren die einzelnen Wissenschaftler gezwungen, ihre Arbeit hinsichtlich des Wertes für die sozialistische Gesellschaft zu legitimieren. Dafür gab es im Wesentlichen zwei Begründungsmuster: Zum einen wurde der Nutzen des jeweiligen Forschungsergebnisses für die sozialistische Gesellschaft herausgestellt und/ oder zum andern der ideologische Gewinn, der damit in der internationalen Klassenauseinandersetzung erzielt werden sollte.63 Diese Rechtfertigung bildete häufig freilich nur eine äußere Umrahmung für den ansonsten wissenschaftlich anspruchsvollen Inhalt.

61 62

63

Protokoll WB Germanistik, 16.4.1955, in: BArch (DR 3 6019), I. Schicht, Staatssekretariat für Hochschulwesen. Der Forschungsrat wurde auf Vorschlag der SED durch Beschluss des Ministerrates am 6. Juni 1957 unter Vorsitz von Peter A. Thiessen gebildet. Dem F. wurde ein „Zentrales Amt für Forschung und Technik“ beim Ministerrat zugeordnet. Vgl. Gesetzblatt der DDR I (1957), S. 469–470. Vgl. Herbst/Ranke/Winkler, DDR.

„Wissenschaftlicher Beirat Germanistik“ und „Zentrale Fachkommission Deutsch“

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3. „Zentrale Fachkommission Deutsch“ (ZFKD) Als beratende Organe für Fragen der Lehrerbildung wurden beim Ministerium für Volksbildung höchstwahrscheinlich ab Beginn der sechziger Jahre – differenziert nach Unterrichtsfächern – Zentrale Fachkommissionen eingerichtet. So bestanden beim MfV beispielsweise folgende ZFKs: Zentrale Fachkommission Russisch, Zentrale Fachkommission Kunsterziehung, Zentrale Fachkommission Deutsch, Zentrale Fachkommission Methodik des Unterrichtsfaches Deutsche Sprache und Literatur, Zentrale Fachkommission Geographie. Das Gründungsdatum der ZFK Deutsch ist analog dem Wissenschaftlichen Beirat Germanistik leider auch hier nicht genau zu bestimmen, da sich das nunmehr zur Verfügung stehende Material trotz umfangreichster Recherche weit lückenhafter darstellt als bei den Wissenschaftlichen Beiräten. Selbst durch persönliche Rücksprachen und narrative Interviews mit ehemaligen Mitgliedern der ZFKD war der genaue Gründungszeitpunkt bisher nicht zu ermitteln.64 Zu den Mitgliedern der Zentralen Fachkommissionen zählten Wissenschaftler und Hochschullehrer, die auf ihren jeweiligen Fachgebieten erfolgreich tätig waren. Im Zentrum der Kommissionstätigkeit stand die weitere Verbesserung der Lehrerbildung an den Pädagogischen Hochschulen und Universitäten gemäß den gesellschaftlichen Anforderungen und den Beschlüssen der SED. Da die Universitäten dem Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen unterstellt waren, die inhaltliche Ausgestaltung der Studienpläne aller pädagogischen Fachrichtungen aber in der Verantwortung des Ministeriums für Volksbildung lag, war es notwendig, die Arbeit der Zentralen Fachkommissionen letztendlich bei beiden Ministerien anzusiedeln, so dass durchaus von interministeriellen Kommissionen gesprochen werden kann. Das spiegelt sich auch in der regelmäßigen Teilnahme von Vertretern beider Ministerien an den Leitungssitzungen der ZFK wider. Trotzdem darf nicht übersehen werden, dass die ZFK in erster Linie ein Kind des MfV war und deshalb in ihrer Arbeit auch von der dortigen Hauptabteilung Lehrerbildung65 angeleitet wurde.66 64 65

66

Nicht einmal der letzte Vorsitzende der ZFKD, Prof. Dr. Horst Hartmann, konnte über das Gründungsdatum Aufschluss geben. Anhand des eingesehenen Briefwechsels wird deutlich, dass die Anleitung der ZFKD im Wesentlichen durch Dr. F. Grothe, Prof. Dr. Müller und Dr. J. Hauschke (alle HA-Lehrerbildung) erfolgte. Vgl. BArch (DR 2 1556), II. Schicht, Ministerium für Volksbildung. Bei der Berufung von Professoren an PHs bedurfte das MfV allerdings der Zustimmung des MHF.

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3.1 Funktionen – Aufgaben – Personen Das Hauptarbeitsfeld der „Zentralen Fachkommission Deutsch“ bestand in der ständigen Analyse, Kontrolle und weiteren Verbesserung der Deutschlehrerausbildung, einschließlich der Erstellung neuer Studienpläne und Lehrbücher. Weiterhin war sie zuständig für die Organisation von Weiterbildungsmaßnahmen. Zur Realisierung dieser Aufgaben gliederte sich die ZFKD in zwei unterschiedliche (Fach-)Bereiche und (ähnlich den Wissenschaftlichen Beiräten am MHF) in ständige sowie zeitweilige Arbeitsgruppen zur Lösung spezieller Aufgaben wie zum Beispiel der Entwicklung von Lehrbüchern und Lehrmaterialien. Entsprechend einer Vorlage zur Struktur der ZFK Deutsch aus dem Jahre 1980 ergab sich folgendes Bild der Untergliederung: a) Vorsitzender der ZFKD Sekretär der ZFKD b) Stellvertretender Vorsitzender und Bereichsleiter Sprachwissenschaft 2. Stellvertretender Bereichsleiter Sprachwissenschaft Sekretär für Sprachwissenschaft c) Stellvertretender Vorsitzender und Bereichsleiter Literaturwissenschaft 2. Stellvertretender Bereichsleiter Literaturwissenschaft Sekretär für Literaturwissenschaft. Der Vorsitzende der ZFKD führte die Plenartagungen und -klausuren sowie dreimal im Jahr Leitungssitzungen mit seinen Stellvertretern und deren Sekretären durch. Die Stellvertretenden Vorsitzenden führten die Bereichstagungen und nach Bedarf Arbeitsgruppen, die Klausurtagungen und Weiterbildungsveranstaltungen durchführten. Dabei arbeiteten die Bereiche nach Jahresarbeitsplänen.67 Die Jahresarbeitspläne leiteten sich wiederum aus so genannten Rahmenarbeitsprogrammen ab, die jeweils für die Dauer einer gesamten Amtsperiode (vier Jahre) ausgelegt waren. In ihnen wurden die anstehenden Aufgaben grob umrissen und erste Verantwortlichkeiten festgelegt. Dabei war grundsätzlich von Anweisungen des MfV auszugehen, die ihrerseits auf Beschlüsse des Ministerrates beruhten. Als zeitweise Arbeitsgruppen der ZFKD bestanden zum Beispiel:

67

Vgl. Hartmann, Entwurf – Rahmenarbeitsplan der ZFKD 1980–1983, ohne Datum, in: BArch (DR 2 A 1556), II. Schicht, Ministerium für Volksbildung.

„Wissenschaftlicher Beirat Germanistik“ und „Zentrale Fachkommission Deutsch“

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AG Sprachtheorie

Schippan / Bondzio / Lerchner / Michel

AG Grammatik/ Orthographie/Lexikologie

Sommerfeld / Bondzio / Naumann / Nerius / Starke

AG Stilistik/ Sprachliches Gestalten

Michel / Spiewok / Arndt / Scherzberg

AG Sprachgeschichte

Große / Mettke / Döring / Langner / Schulz

AG Literaturtheorie

Goldhahn / Herden / Hohmann / John / Posdzech.68

Zur Lösung der jeweiligen Aufgaben in den Arbeitsgruppen war es häufig notwendig, neue Mitglieder zu berufen, die dann nur zeitweise der ZFK angehörten (analog der AGs des WB), so dass die allgemeine Mitgliederzusammensetzung doch teilweise stark fluktuierte. Nur auf der Leitungsebene bot sich ein weitaus beständigeres Bild. So gab es während der nahezu dreißig Jahre des Bestehens der ZFK Deutsch nur drei Vorsitzende, von denen bisher allerdings nur zwei namentlich ermittelt werden konnten: Prof. Dr. Wilhelm Schmidt (1965–1975)69 und Prof. Dr. Horst Hartmann (1975–1990)70. In der Amtsperiode von 1983 bis 1986 setzte sich das Leitungsgremium der ZFKD folgendermaßen zusammen: Prof. Dr. Hartmann, PH Potsdam

Vorsitzender

Prof. Dr. Michel, PH Potsdam

Stellv. Vorsitzender u. Bereichsleiter Sprachwiss.

Prof. Dr. Schröder, PH Magdeburg

Bereichsleiter Literaturwissenschaft

Prof. Dr. Bondzio, HUB

Stellv. Bereichsleiter Sprachwissenschaft

68 69

70

Vgl. Vorlage ohne Titel und Datum, in: BArch (DR 3 379), II. Schicht, Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. Prof. Dr. W. Schmidt bittet am 17.5.1975 den Stellv. Minister für Volksbildung, Dr. E. Machacek, ihn von der Funktion des Vorsitzenden der ZFKD zu entbinden und gleichzeitig sein Ausscheiden aus der Fachkommission zu genehmigen, um sich künftig stärker auf seine Aufgaben im Institut für marxistisch-leninistische Sprachtheorie in der Sprachlehrerausbildung, insbesondere auf die Leitung der germanistisch-linguistischen Fachforschung im Bereich der PHs und die eigene Forschungsarbeit konzentrieren zu können. Vgl. Berufungsakte, in: BArch (DR 3 B 15463), Ministerium für Volksbildung. Vgl. Aktennotiz, in: BArch (DR 2 1556), II. Schicht, Ministerium für Volksbildung.

532

Oliver Müller

Prof. Dr. Hermsdorf, HUB

Stellv. Bereichsleiter Literaturwissenschaft

Dr. sc. Kiesant, PH Potsdam

Sekretär der ZFKD

Doz. Dr. Keßler, PH Potsdam

Sekretär des Bereichs Sprachwissenschaft

Dr. Washausen, PH Magdeburg

Sekretär des Bereichs Literaturwissenschaft.71

3.2 Operative Einsätze Wie aus dem Rahmenarbeitsprogramm ersichtlich, waren die operativen Einsätze ein fester Bestandteil der Kommissionsarbeit in der ZFK Deutsch. Der ihnen vom Ministerium für Volksbildung beigemessene Stellenwert lässt sich schon allein an der regen und umfangreichen Berichterstattung über diese Einsätze erkennen. Daher ist es wichtig, Zielstellung und Organisationsweise solcher Einsätze näher zu untersuchen. Die operativen Einsätze der ZFK Deutsch dienten im Allgemeinen als ständiges Mittel zur Überprüfung des Standes der Deutschlehrerausbildung an den Universitäten und Pädagogischen Hochschulen. Mit ihrer Hilfe sollte eine stetige Steigerung der Qualität von Lehre und Erziehung bei der Ausbildung künftiger Fachlehrer gesichert werden. Hinsichtlich ihrer Funktion sind die operativen Einsätze der Zentralen Fachkommissionen am ehesten mit den Hospitationseinsätzen der Fachberater pädagogischer Kreiskabinette auf Schulebene zu vergleichen. Allerdings traten aufgrund der größeren Bedeutung und Tragweite der Einsätze der ZFK hierbei die beratenden Fachkollegen gleich gruppenweise in Erscheinung. Die Einsätze sind sorgfältig vorbereitet und bedurften dabei durchaus einigen Organisationstalents. So wurden den betreffenden Universitäten und Hochschulen die geplanten Kontrollbesuche – denn das genau waren sie letztendlich – schon mehrere Wochen im voraus von der HA Lehrerbildung des MfV angekündigt, damit auch alle notwendigen Maßnahmen wie die Bereitstellung von Unterkünften und die Information der jeweiligen Kollegen eingeleitet werden konnten. Dass die verantwortlichen Sektionsleiter der ausgewählten Einrichtungen zumeist nicht sehr glücklich über derartige Besuche waren, muss wohl nicht weiter ausgeführt werden. Doch offensichtlich verstanden einige von ihnen das auch mit Nachdruck zu zeigen, indem beispielsweise vom MfV angekündigte Einsätze mehrfach verschoben werden mussten, 71

Ebd.

„Wissenschaftlicher Beirat Germanistik“ und „Zentrale Fachkommission Deutsch“

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weil anscheinend einfach keine Unterkünfte zur Verfügung gestellt werden konnten.72

3.2.1 Zur Auswertung der operativen Einsätze Im folgenden Beispiel stand (analog dem Jahresarbeitsplan 1985/86) die Überprüfung der Einführung des neuen Studienplans und die Umsetzung des neuen Lehrprogramms im Mittelpunkt des Hospitationseinsatzes. Dafür wurde neben der MLU Halle die PH „Liselotte Herrmann“ in Güstrow ausgewählt. Der im Weiteren auszugsweise wiedergegebene Bericht vom 6.5.1986 über den operativen Einsatz in Güstrow steht hinsichtlich seiner Form und Struktur stellvertretend für alle anderen ebenfalls vorliegenden Berichte dieser Art und hat somit durchaus Modellcharakter. Der operative Einsatz fand vom 21.4. bis zum 2.5.1986 statt. Teilnehmer waren: Dr. Hauschke, MfV als Leiter Prof. Dr. Hartmann, PH Potsdam Prof. Dr. Nerius, WPU Rostock Doz. Dr. Keßler, PH Potsdam Doz. Dr. Müller-Waldeck, EMAU Greifswald 1. Haltung der Fachrichtung bzw. der Sektion zum Einsatz Die stellvertretenden Sektionsdirektoren, die Wissenschaftssekretärin und die Kollegen der Fachrichtung Germanistik sorgten für eine gute organisatorische und materialmäßige Vorbereitung, waren gesprächsbereit und sicherten eine gute Atmosphäre. […] 2. Arbeitsmethoden der Arbeitsgruppe – 72

Studium der Arbeitspläne der Wissenschaftsbereiche,

Prof. Dr. Hartmann: „Der Sektionsdirektor, Doz. Dr. sc. Mey, hat sich während des gesamten Einsatzes nicht gezeigt. Während er in der ersten Woche wegen eines Reservistendienstes entschuldigt war, kann sein Verhalten in der zweiten Woche – er hat auch an der Abschlußauswertung nicht teilgenommen – nur zu seinem zweimaligem Versuch, den Einsatz wegen angeblich fehlender Quartiere für die Arbeitsgruppenmitglieder zu verhindern, in Beziehung gebracht werden. Es liegt zumindest der Verdacht nahe, daß er als Hochschullehrer für Slawistik-Methodik dem Bereich Germanistik als Sektionsdirektor nicht genügend Aufmerksamkeit widmet.“ Hartmann, Bericht über den operativen Einsatz in der Fachrichtung Germanistik der Sektion Germanistik/Slawistik der PH Güstrow, 6.5.1986 in: BArch (DR 2 A 1554), II. Schicht, Ministerium für Volksbildung.

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Studium der Lehrkonzeptionen,



28 Stunden Hospitation: dabei haben wir mit Ausnahme von drei erkrankten Kollegen alle Lehrkräfte gesehen, die die neuen Lehrprogramme realisieren,



Auswertungsgespräche zu allen Hospitationen,



Teilnahme an drei Beratungen der Wissenschaftsbereiche,



Gespräche mit: dem Rektor, dem Prorektor, dem Prorektor für Erziehung und Bildung, dem Stellv. Sektionsdirektor für Forschung, dem Stellv. Sektionsdirektor für Erziehung und Ausbildung, den beiden Wissenschaftsbereichsleitern, Studentenvertretern des 1. und 2. Studienjahres der Fachkombination, Germanistik/Slawistik.

3. Ergebnisse des Einsatzes 3.1. Sprachwissenschaft Die Arbeit des Wissenschaftsbereichs ist richtig auf eine qualitätsgerechte Umsetzung der neuen Lehrprogramme orientiert, wobei der WBL73 (Prof. Dr. Sommerfeldt) geeignete Qualifizierungsmaßnahmen für seine Mitarbeiter sichert. […] Alle Kollegen lassen ein deutliches Engagement bei der Realisierung ihrer Lehrverpflichtungen erkennen, und es existiert eine gute kollektive Atmosphäre. Allerdings zeigen sich die Kollegen, die nicht mit nach Neubrandenburg gehen, von ihrer fehlenden Perspektive nicht unbeeindruckt.74 […] Kritische Einzelbeobachtungen wurden an Ort und Stelle ausgewertet. Es gibt jedoch keinerlei gewichtige Qualitätseinschränkungen. 3.2. Literaturwissenschaft Auch in diesem Bereich gibt es eine richtige Planorientierung für die Umsetzung der neuen Lehrprogramme, und der Zusammenhang von Qualität der Lehre und Kaderentwicklung wird erkannt. Die Kollegen arbeiten fleißig und einsatzbereit, sind bereit ausfallende Kollegen zu vertreten. Nicht zu übersehen ist allerdings, daß es unter den Mitarbeitern verbreitete Unzufriedenheiten gibt. Sie erwachsen einmal aus der Tatsache, daß 50 % der gegenwärtigen Mitarbeiter nicht mit nach Neubrandenburg gehen werden und z. Z. noch keine klaren Perspektivvorstellungen haben; sie erwachsen zum anderen aus der 73 74

Wissenschaftsbereichsleiter (WB). In Neubrandenburg wurde im Zusammenhang mit den Feiern zum 40. Jahrestag der DDR mit Eröffnung der neuen PH „Edwin Hoernle“ (hierin ging das vormalige PI in Templin auf ) am 3.10.1989 die letzte Hochschulgründung der DDR gefeiert. Die PH bestand allerdings nur knapp zwei Jahre. (Rektoren: Albert Funke 1989–1990, Horst Hartmann 1990–1991), Vgl. Herbst/Ranke/Winkler, DDR, S. 778.

„Wissenschaftlicher Beirat Germanistik“ und „Zentrale Fachkommission Deutsch“

535

fehlenden Kontinuität beim Einsatz in der Lehre, die die Kollegen ständig erneut in die Lage von „Anfängern“ versetzt (z. B. Dr. Falk, Dr. Jonas). Die Lehrkonzeptionen sind sehr gründlich, enthalten allerdings auch vielfach Passagen aus den gedruckten Studienplänen und Lehrprogrammen. Hier könnte Papier gespart werden, was angeblich für die Studienanleitungen, von denen z. Z. jede Gruppe nur zwei Exemplare erhält, fehlt. Die Vorlesungen vermitteln auf Grund ihrer Einstündigkeit keine geschlossenen Stoffeinheiten, sind insgesamt zu wenig informationsintensiv und zu wenig problemorientiert. Die „lesenden Kräfte“ (Dr. sc. Neumann, Dr. Falk) verlassen sich zu sehr auf ein Studium von Sekundärliteratur, für das sie mehrere Hinweise in der Vorlesung geben. Das ist umso illusionärer, als die Studentenvertreter eindeutig signalisiert haben, daß sie bis zum Beginn des Teilstudiums nur einen sehr begrenzten Teil der Primärlektüre laut Kanon absolvieren können, mit Sicherheit also nicht Sekundärliteratur lesen werden. Die Vorlesung zur „Literatur der DDR“ müßte schon von der Konzeption her stärker auf die aktuellen Prozesse orientiert sein. […] Die Seminare sind schon von der Konzeption her zu stofflastig (7 große Werke in 7 Seminaren) und werden bei der Umsetzung zu stark zur Stoffvermittlung und zu wenig zur Fähigkeitsentwicklung verwendet. […] 5. Kaderfragen Dieser Teil des Berichts ist nach Absprache mit dem Rektor der PH Güstrow, Prof. Dr. Lutter75, nur in den Exemplaren für das MfV, den Vorsitzenden der ZFK Deutsch und für den Rektor der PH Güstrow. […] Die Kaderprobleme im Wissenschaftsbereich Literaturwissenschaft haben, bezogen auf die fehlenden drei Hochschullehrer für DDR-Literatur und für Literaturgeschichte, zur Folge, daß es in mehreren Bereichen keine lehrgangsbezogene Forschung und deshalb auch notwendigerweise eine unterentwickelte Problemsicht gibt. Diese Situation wird noch dadurch verschärft, daß kein Mitglied des Wissenschaftsbereichs irgendeinem Rat der Akademien oder einem Forschungsrat angehört, und sie deshalb alle von den aktuellen Wissenschaftsdebatten abgeschnitten sind. […] Als Mitarbeiter werden 1989 in Neubrandenburg Frau Dietrich, Dr. Jonas, Frau Kührt und Frau Poschmann, die Mehrzahl bis dahin promoviert, aus eigenem Aufkommen zur Verfügung stehen. Für die freien vier Stellen gibt es Angebote aus Rostock (Blaudzun, Pankraz), Zwickau (Egler), Potsdam (Mandel) und Magdeburg (Pielarz), so daß die Besetzung mit bis dahin promovierten Kadern möglich sein müßte.

75

Hans Lutter, geb. am 29.04.1928 in Magdeburg, Philosoph, war Hochschullehrer und Gründungsrektor der ehemaligen Pädagogischen Hochschule Güstrow (1972). Vgl.: http:// de.wikipedia.org/wiki/Hans_Lutter (16.08.2010).

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6. Schlußfolgerungen und Empfehlungen […] Das MfV sollte die […] genannten Lösungsvorschläge für Kaderfragen nach Kräften unterstützen […]. Es sollte geprüft werden, ob nicht zumindest Prof. Dr. Pubanz in einen Rat der AfG berufen werden kann, damit wenigstens ein Kanal zur aktuellen Wissenschaftsdiskussion für die germanistische Literaturwissenschaft in Güstrow erschlossen wird. Es ist wichtiger, daß die wenigen dem Ministerium zur Verfügung stehenden Ratsplätze dazu genutzt werden, möglichst alle Einrichtungen an die Diskussionen in der AfG heranzuführen, als das aus wenigen Einrichtungen jeweils mehrere Genossen zu den Räten gehören. […] Der Vorsitzende der ZFK Deutsch erhält in Abstimmung mit dem MfV den Auftrag, die dringende aktuelle Kadersorge in Güstrow durch sozialistische Soforthilfe lösen zu helfen.76 Die ZFK muß gerade im Hinblick auf die kleineren Ausbildungseinrichtungen – für einen regelmäßigen Erfahrungsaustausch zu den einzelnen Lehrgebieten sorgen. Besonders dringend ist die Durchführung der Veranstaltung „Theorie des soz. Realismus“ noch in diesem Semester (Verantw.: Prof. Dr. John) […]. (Prof. Dr. Hartmann)77

Schon anhand dieses einen Protokolls wird deutlich, dass, aufgrund der exponierten Stellung der ZFK am Ministerium für Volksbildung, die im Rahmen der operativen Einsätze getroffenen Empfehlungen schon beinah Beschlusscharakter gehabt zu haben scheinen. Denn entsprechend dem eingesehenen Material, ist häufig selbst in Kaderfragen den ZFK‚Empfehlungen‘ entsprochen worden. Von daher lässt sich ohne Zweifel ableiten, dass die Arbeit der ZFK Deutsch wahrlich nicht ohne Einfluss auf Forschung und Lehre im Bereich der Germanistik an den Hochschuleinrichtungen blieb. In Abstimmung mit ihr wurden Inhalt und Zeitpunkt der Einführung neuer Studienpläne festgelegt, die Schaffung neuer Planstellen zur Forschung geregelt und die Gewinnung von Nachwuchskadern gesteuert. Dabei waren die operativen Einsätze ein wichtiges Mittel der Rückkopplung. Denn hier konnte direkt vor Ort die Lage studiert und wenn nötig Sofortmaßnahmen eingeleitet werden.

76

77

Prof. Dr. Hartmann will zusammen mit seiner Frau, Dr. sc. R. Hartmann (beide PH Potsdam), eine Vorlesung zur Literaturgeschichte, die wegen Kadermangel in Güstrow nicht gehalten werden kann, zeitweise selbst vertreten. Vgl. Hartmann, Bericht über den operativen Einsatz in der Fachrichtung Germanistik der Sektion Germanistik/Slawistik der PH Güstrow, 6.5.1986 in: BArch (DR 2 A 1554), II. Schicht, Ministerium für Volksbildung.

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4. Probleme einer vergleichenden Betrachtung der Arbeit des WB Germanistik und der ZFK Deutsch Ein wirklicher Vergleich der Arbeit des Wissenschaftlichen Beirats Germanistik und der Zentralen Fachkommission Deutsch gestaltet sich nach dem momentanen Forschungsstand sehr schwierig. Es ist zu bedenken, dass das für die Untersuchung zur Verfügung stehende Material teilweise sehr unterschiedlichen Zeitperioden entstammt, was einen Vergleich zusätzlich erschwert. Echte komparative Schlussfolgerungen ließen sich am ehesten ziehen, wenn eine vollständige Institutionengeschichte beider Gremien vorliegen würde. Diese jedoch gilt es erst einmal aufzuarbeiten und zu schreiben. Es ist offensichtlich, dass hier die Forschung noch am Anfang steht und weitere Untersuchungen in Angriff genommen werden müssen, um tatsächlich objektive Einschätzungen treffen zu können. Doch scheint bei alledem klar, dass sowohl der WB Germanistik als auch die ZFK Deutsch als Instrumente ihrer jeweiligen Ministerien, die Aufgabe hatten, gemäß ihrer Richtlinien und Statuten (soweit vorhanden), Hochschul- und Bildungspolitik der DDR nicht nur beratend zu begleiten, sondern im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch zu lenken und praktisch mitzugestalten. Deshalb soll im Folgenden trotz aller erwähnten Unzulänglichkeiten versucht werden, punktuelle Vergleichsmomente herauszustellen:

4.1 Mitglieder Hinsichtlich der personellen Zusammensetzung des WB Germanistik fällt auf, dass zumindest für den untersuchten Zeitraum 1953–1957 bei aller gewünschten Kontinuität eine gewisse Fluktuation – auch gerade auf der Leitungsebene (4 Vorsitzende in 4 Jahren) – doch nicht zu übersehen ist. Das erscheint leicht nachvollziehbar, da in diesen frühen Jahren der DDR kaum eigenes hoch qualifiziertes Personal für solche Funktionen zur Verfügung stand. So musste notgedrungen auf Personen zurückgegriffen werden, die nicht immer frei von Widersprüchen – gerade in ihrer ideologischen Einstellung (Prof. Mayer u. a.) – und zumeist bürgerlicher Herkunft waren. Zwar war man bemüht auch jene Leute von der Richtigkeit des eingeschlagenen gesellschaftlichen Weges zu überzeugen, doch kam es wohl mehr darauf an, den reichen Erfahrungsschatz dieser Wissenschaftler aus Lehre und Forschung sowie das internationale Ansehen und damit verbundene Beziehungen auch ins nichtsozialistische Ausland für den Aufbau und die weitere Entwicklung des neuen Hochschulwesens für den Bereich der Germanistik

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nutzbar zu machen. Zumindest solange bis eine eigene Führungsriege herangebildet werden und in die Schlüsselpositionen nachrücken konnte. Die ZFK Deutsch hingegen – erst später gegründet als der WB Germanistik – hatte auf der Leitungsebene wohl kaum mit Personalproblemen zu kämpfen (3 Vorsitzende in nahezu 30 Jahren). Hier fanden Aspekte wie anhaltende ‚Republikflucht‘ in den fünfziger und sechziger Jahren (Simon, Kantorowicz, Bischoff, Mayer blieben früher oder später alle in der BRD) kaum mehr ihren Niederschlag. Im Laufe der Zeit nahm die Zahl der Mitglieder beider Gremien stetig zu, (was Umstrukturierungen nach sich zog) wobei die ZFKD dem WB rein zahlenmäßig überlegen war. Mit zunehmender Festigung der DDR hatte sich auch eine Schar an Nachwuchskadern herausgebildet, die sich durch große Beständigkeit in ihren Funktionen auszeichnete. Das galt nicht nur für allseits bekannte Phänomene wie Erich Honecker, der 17 Jahre als Staatschef agierte, seine Frau Margot Honecker, die gar 26 Jahre als „Gebieterin der sozialistischen Schulen“78 ihre Bildungspolitik zu verfechten wusste oder Hans-Joachim Böhme, der 19 Jahre das Hoch- und Fachschulwesen leitete, sondern auch auf weit unterer Leitungsebene in den wissenschaftlichen Beratungsorganen. Claus Träger (zunächst WB Kunst-, Kultur- und Sprachwissenschaften; seit 1972 auch Folgeorgan des WB Germanistik) hatte immerhin 17 Jahre den Vorsitz inne und auch Horst Hartmann fungierte 14 Jahre als Oberhaupt der ZFKD. Gewiss wären fast alle vorgenannten noch länger in ihren Funktionen verblieben, wenn es nicht im Herbst 1989 zur friedlichen Revolution gekommen wäre. Denn diese personale Beständigkeit sicherte natürlich auch die gewünschte Kontinuität in der Arbeit dieser Gremien.

4.2 Beratungstätigkeit Die fachliche Anleitung des Wissenschaftlichen Beirats Germanistik bzw. der ZFK Deutsch erfolgte bei den jeweiligen Ministerien, bei denen sie angesiedelt waren. Allerdings war das beim WB Germanistik eindeutiger geregelt als bei der ZFKD. Die Zentrale Fachkommission war zwar ein Kind des MfV, doch das Dickicht der Zuständigkeiten von MHF und MfV lässt sich aufgrund der engen Verflechtung von inhaltlicher und formaler Verantwortlichkeit bei der Gestaltung des Lehrerstudiums schwer durchschauen. Ein wesentlicher Unterschied ist auf alle Fälle darin zu sehen, dass die ZFK stärker zur Zusammenarbeit mit dem MHF verpflichtet war als etwa umgekehrt der WB mit dem MfV. Das schlägt sich schon darin nieder, dass beispielsweise die Erarbeitung neuer Studienpläne zur Deutschlehrer78

Geißler, Suchen, S. 76.

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ausbildung zwar federführend von der ZFK und somit dem MfV betrieben wurde; doch lief ohne das formale Einverständnis des MHF gar nichts. Es empfiehlt sich, in diesem Zusammenhang auch einmal die Studien- und Lehrprogramme für die Ausbildung von Diplomlehrern im Fach Deutsch genauer zu betrachten. Aus dem Deckblatt geht dabei eindeutig hervor, dass immer beide Ministerien das Studienprogramm genehmigen. Doch offenbart ein Blick auf Seite zwei des Studienprogramms von 1969, dass es „von Mitgliedern der Fachkommission Deutsch unter Leitung von Prof. Dr. Schmidt“79 ausgearbeitet wurde, die inhaltliche Verantwortung somit also beim MfV liegt. Im Lehrprogramm von 1982 heißt es im Gegensatz dazu: Das Lehrprogramm wurde von der Zentralen Fachkommission Deutsch beim Ministerium für Volksbildung und [Hervorhebung O.M.] Ministerium für Hochund Fachschulwesen unter Leitung von Prof. Dr. Hartmann ausgearbeitet. Sie wurden nach Diskussion in der ZFKD beim MfV und MHF in der Kommission Lehrerbildung des MfV und MHF verteidigt. (Vorschläge und Hinweise für die weitere Vervollkommnung der Lehrprogramme sind an das MfV, HA Lehrerbildung, zu richten).80

Das verstärkt die Annahme, dass die Zentrale Fachkommission Deutsch im Gegensatz zum Wissenschaftlichen Beirat Germanistik zwar durchaus eine interministerielle Kommission gewesen ist, doch in ihrer Arbeit in erster Linie die Interessen des MfV zu vertreten hatte.

Literaturverzeichnis 1. Quellen Quellenbestände des Bundesarchivs (BArch) BArch DR 2 1556, II. Schicht. BArch DR 2 2547, I. Schicht. BArch DR 2 A 1554, II. Schicht. BArch DR 3 144, I. Schicht. BArch DR 3 171, I. Schicht. 79 80

Vgl. MfV/MHF: Studienprogramm für die Ausbildung der Fachlehrer der allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule im Fach Deutsch, Berlin 1969. Vgl. MfV/MHF: Lehrprogramme für die Ausbildung von Diplomlehrern der allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule im Fach Deutsche Sprache und Literatur an Universitäten und Hochschulen der DDR, Berlin 1982.

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BArch DR 3 172, I. Schicht. BArch DR 3 173, I. Schicht. BArch DR 3 379, II. Schicht. BArch DR 3 4055, I. Schicht. BArch DR 3 5252. BArch DR 3 6019, I. Schicht. BArch DR 3 B 1344/3, II. Schicht. BArch DR 3 B 15463 (Berufungsakte). Andere Quellen Gesetzblatt der DDR, I (1953), S. 728–729. Gesetzblatt der DDR, I (1955), S. 573–574. Gesetzblatt der DDR, I (1957), S. 469–470. Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen: Mitteilungen, in: Das Hochschulwesen 12 (1972), S. 375. Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen (Hg.): Die SBZ von 1959– 1960, Berlin/Bonn 1964. Ministerium für Volksbildung / Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen (Hg.): Studienprogramm für die Ausbildung der Fachlehrer der allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule im Fach Deutsch, Berlin 1969. Ministerium für Volksbildung / Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen (Hg.): Lehrprogramme für die Ausbildung von Diplomlehrern der allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule im Fach Deutsche Sprache und Literatur an Universitäten und Hochschulen der DDR, Berlin 1982. Parteiprogramm der SED zum IX. Parteitag, Berlin 1976.

2. Forschungsliteratur Boden, Petra: Lesen aus Leidenschaft: Joachim Müller, in: Boden, Petra / Dainat, Holger (Hg.): Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert, Berlin 1997 (=LiteraturForschung), S. 193–218.

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Boden, Petra: Universitätsgermanistik in der SBZ / DDR. Personalpolitik und struktureller Wandel 1945–1958, in: Rosenberg, Rainer / Boden, Petra (Hg.): Deutsche Literaturwissenschaft 1945–1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen, Berlin 1997 (=LiteraturForschung), S. 119–159. Geißler, Gert: Suchen und Wenden, in: Hoffmann, Dietrich / Neumann, Karl (Hg.): Erziehung und Erziehungswissenschaft in der BRD und der DDR, Bd. 3, Weinheim 1996, S. 69–81. Geißler, Gert / Wiegmann, Ulrich (Hg.): Pädagogik und Herrschaft in der DDR. Die parteilichen, geheimdienstlichen und vormilitärischen Erziehungsverhältnisse, Frankfurt/Main 1996. Köhler, Roland / Kraus, Aribert / Methfessel, Werner (Hg.): Geschichte des Hochschulwesens der DDR (1945–1961), Berlin 1976. Herbst, Andreas / Ranke, Winfried / Winkler, Jürgen: So funktionierte die DDR, Reinbek 1994. Mayer, Hans: Der Turm von Babel. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik, Frankfurt/Main 1993 (= Suhrkamp Taschenbuch 2174). Wietstruk, Siegfried (Hg.): Entwicklung des Arbeiter-und-Bauern-Staates der DDR 1949–1961, Berlin 1987. Wikipedia.org: http://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Lutter (18.08.2010). Zimmermann, Hartmut (Hg.): DDR-Handbuch, 3. überarb. u. erw. Aufl., Köln 1985.

Matthias Glasow

Die Durchführung der Dritten Hochschulreform an der Philosophischen Fakultät Rostocks 1. Der Weg der Dritten Hochschulreform Das Thema der Dritten Hochschulreform nimmt beim Betrachten der DDR-Wissenschafts- und Universitätsgeschichte auf den ersten Blick keinen großen Platz ein. Doch mit den zurückliegenden und anstehenden Jubiläen der verschiedenen Universitäten auf dem Gebiet der DDR lässt sich eine verstärkte Auseinandersetzung mit diesem Thema ausmachen.1 Für die Rostocker Universität existiert ebenfalls keine zusammenhängende Darstellung nach 19902, dafür bietet aber die im Reformjahr 1969 erschienene Jubiläumsfestschrift zum 550-jährigen Bestehen der Universität Rostock einen guten Überblick.3 Wenn die Universität Rostock im Jahr 2019 ihren 600. Geburtstag begehen wird, dann kann sie auf eine lange und äußerst wechselvolle Geschichte zurückblicken. Auch wenn die DDR-Zeit mit 40 Jahren dabei eine relativ kurze Zeitspanne einnimmt, war sie deshalb nicht weniger relevant. Ganz im Gegenteil, denn besonders in der Ära Walter Ulbrichts, in der sich die drei Hochschulreformen der DDR vollzogen4, wurde das Gesicht der Universität enorm gewandelt. Die hier zu behandelnde Dritte Hochschulreform nahm dabei eine herausgehobene Stellung ein, war sie doch die Ursache für tiefgreifende und nachhaltige Umwälzungen in der DDRHochschullandschaft. Die Anfänge der Reform lassen sich bereits im Jahr 1

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Angeführt seien hier die relativ neuen Publikationen aus den zurückliegenden Jahren wie Krause, Alma Mater Lipsiensis; Lambrecht, Wissenschaftspolitik; Pommerin, Geschichte; Seifert, Veränderungen; Stutz/Kaiser/Hoßfeld, „Universitas litterarum“. Leider findet sich auch in der 1994 erschienenen Festschrift zum 575 jährigen Bestehen der Rostocker Universität keine Darstellung. Das Thema Dritte Hochschulreform wird hier lediglich angerissen. Vgl. Rektor der Universität Rostock, Lehrmeinungen. Geschichte der Universität Rostock 1419–1969. Vgl. dazu den Beitrag Kersten Krügers in diesem Band.

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1961 festmachen: Dieses Jahr stellt nicht nur allgemein eine „einschneidende Zäsur der DDR-Entwicklung“5 dar, sondern brachte auch den ersten entscheidenden Faktor der Reform mit sich, nämlich die Abriegelung der Grenze zu West-Berlin und zur Bundesrepublik im August dieses Jahres. In der „Geschichte der SED“ heißt es dazu, der Mauerbau sei eine „entscheidende Voraussetzung [gewesen], um den Aufbau des Sozialismus nunmehr ohne die direkten ökonomischen und politischen Störeinwirkungen des Imperialismus fortzusetzen. Es begann eine Etappe der Festigung der ökonomischen Grundlagen und der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR.“6 Der Mauerbau war eine Reaktion auf die anhaltende Ausreisewelle, denn besonders die gut ausgebildeten Wissenschaftler, Ärzte, Ingenieure und Facharbeiter, die auf bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Bundesrepublik hofften, verließen die DDR. Mit dem Bau der Mauer konnte den Ausreisenden nun zumindest ein nahezu unüberwindbares Hindernis in den Weg gestellt werden. Zugleich machte sie ein Fortbestehen des Landes und ebenso den planmäßigen Aus- und Aufbau der Wirtschaft und Gesellschaft möglich. Nach dem Mauerbau lockerte sich für einige wenige Jahre der allumfassende kontrollierende Griff der SED, der in alle gesellschaftlichen Bereiche hineinreichte. Doch das Misstrauen gegenüber der eigenen Bevölkerung setzte sich letztlich innerhalb der Partei durch und die Universitäten gerieten verstärkt ins Blickfeld des Staates. Besonders unter den Wissenschaftlern befürchtete die SED reformkommunistische Absichten, zu Recht, gingen doch einige mit ihrer Meinung an die Öffentlichkeit. Bei den Intellektuellen war Robert Havemann einer der bekanntesten Kritiker und zugleich Opfer der anschließenden Repressionswelle gegen Wissenschaftler.7 Die Zustände an den Universitäten und Hochschulen waren der Partei schon lange ein Dorn im Auge, verkörperten doch diese Einrichtungen aus ihrer Sicht noch immer einen Teil des alten Deutschlands, der nicht konform ging mit der Entwicklung des gesellschaftlichen Sozialismus. An den wissenschaftlichen Einrichtungen war der Einfluss der SED noch immer nicht sehr stark, zu autark waren die Fakultäten und Institute. Aus diesem Grund befürchtete die SED nicht nur noch weiter an Boden zu verlieren, sondern das Hauptproblem lag vor allem darin, dass der den Universitäten zugedachte Teil im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformprozess mit den alten Strukturen nicht durchführbar war. Die angedachte Modernisierung der Volkswirtschaft auf technischem und wissenschaftlichem Gebiet und die Gestaltung einer sozialistischen Gesellschaft war vor allem von der Zuarbeit der Hochschulen der DDR abhängig. Ihnen oblag es, die vor5 6 7

Weber, Geschichte, S. 223. Rossmann, Geschichte, S. 420. Vgl. Neubert, Geschichte, S. 141, 222.

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gegebenen Entwicklungs- und Forschungsdirektiven umzusetzen. Es war deshalb nur eine Frage der Zeit, bis sich die Hochschullandschaft ebenfalls gründlichen Veränderungen auszusetzen hatte. Spätestens auf dem VI. Parteitag der SED wurden die Weichen zur Dritten Hochschulreform gestellt. Dass die Dritte Hochschulreform ein Hauptaugenmerk auf die technisch-naturwissenschaftlichen Fächer legte, lässt sich nicht abstreiten. Seit Mitte der fünfziger Jahre war der Staatsführung bekannt, dass die wissenschaftliche und technische Entwicklung ein entscheidender Faktor zur Sicherung des Systems war. Ein Phänomen, das nicht nur in der DDR vorherrschte, sondern weltweit, war die Paarung eines gehörigen Fortschrittsoptimismus mit einer weitläufigen Wissenschaftsgläubigkeit.8 Mit dem 1959 verabschiedeten Siebenjahrplan wurden im Zuge der geforderten Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit den Hoch- und Fachschulen wichtige Aufgaben zugeteilt. Um nicht den Anschluss in der ‚wissenschaftlich-technischen Revolution‘ (WTR) – eines der großen Schlagwörter jener Zeit – zu verpassen und mit dem Weltniveau mithalten zu können, wurden eindeutig mehr Wissenschaftler benötigt. Diese sollten auf dem neuesten Stand der wissenschaftlich-technischen Ausbildung sein. Mitte der fünfziger Jahre begann die Steuerung der Wissenschaft. Die Wissensbestände wurden überprüft, aktualisiert, ggf. neu ausgearbeitet und auf die wirtschaftlichen und politischen Aufgaben ausgerichtet. Wissenschaftspolitik bedeutete vor allem, der „Wissensverwertung politische Filter vorzuschalten“.9 Mit der Übernahme des sowjetischen Wissenschaftsmodells fand die Methodologie der materiellen Dialektik ihren Einzug in den Wissenschaftsbetrieb der DDR. Dazu unterteilte sich die Wissenschaftspolitik künftig in vier Handlungsbereiche: Wirtschaft, Technik, Bildung und Gesundheit. Alle Bereiche hatten neben ihrer jeweiligen fachspezifischen Aufgabenstellung ebenso zur Steigerung des sozialistischen Bewusstseins beizutragen. Institutionell wurden im Zentralkomitee (ZK) die „Abteilung für Wissenschaft und Hochschulen“ (ab 1957 „Abteilung Wissenschaft“) und die „Arbeitsgruppe Forschung und technische Entwicklung“ (ab 1967 „ZK-Abteilung“) geschaffen.10 Der bekannte DDR-Historiker Leo Stern11 beschäftigte sich u. a. mit der Rolle der Gesellschaftswissenschaften im Prozess des gesellschaftlichen 8 9 10 11

Vgl. Steiner, DDR-Wirtschaftsreform, S. 355. Förtsch, Wissenschafts- und Technologiepolitik, S. 20. Vgl. ebd., S. 20–23. Leo Stern, eigentlich Jonas Leib (*1901, †1982). Er emigrierte 1936 in die Sowjetunion, nahm am Spanischen Bürgerkrieg teil und wurde anschließend Geschichtsprofessor in Moskau und Oberstleutnant in der Roten Armee (1942–45). Von 1950 bis 1966 war er ordentlicher Professor für Neuere Geschichte und Geschichte der Arbeiterbewegung an der Universität Halle, 1953–59 auch ihr Rektor. 1950 wurde er Mitglied der SED, 1955 ordentliches Mitglied an der „Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin“, ab 1956 Abteilungs-

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Fortschritts und versuchte den Zusammenhang von Naturwissenschaft und Gesellschaftswissenschaft darzustellen. Die Antwort auf die Frage nach den Ursachen, dem Verlauf, den Peripetien und dem Ergebnis der weltgeschichtlichen Auseinandersetzung der beiden entgegengesetzten Gesellschaftssysteme kann nur von den Gesellschaftswissenschaften her erfolgen [...], der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaft.12

Um die Rolle der Technik und Naturwissenschaft in der wissenschaftlichtechnischen Revolution und in der gesellschaftlichen und ideologischen Übergangsphase überhaupt richtig zu verstehen, sah Stern es als unabdingbar an, dass sich der Naturwissenschaftler mit den Gesellschaftswissenschaften befasste. Schon Friedrich Engels beschäftigte sich mit diesem Problem und klagte über den üblen Einfluss der „schlechten“ Philosophie, wenn sich der Betroffene denn überhaupt jemals mit der Philosophie beschäftigt hatte, denn die „Naturforscher glauben sich von der Philosophie zu befreien, indem sie sie ignorieren und über sie schimpfen.“ Doch auch wenn diese nur geringfügig mit der Philosophie in Berührung gekommen sind, stehen sie trotzdem unter dem Einfluss, oder gar der „Knechtschaft der Philosophie, meist aber der schlechtesten“. Engels führt weiter fort, dass die Naturforscher sich wenden und drehen können, wie sie wollen, doch „sie werden von der Philosophie beherrscht“. Die Frage, die sich lediglich stellt, ist die nach der Art der Philosophie, denn schließlich fristen die Naturforscher „der Philosophie noch ein Scheinleben, indem sie sich mit den Abfällen der alten Metaphysik behelfen. Erst wenn Natur- und Geschichtswissenschaft die Dialektik in sich aufgenommen haben, wird all der philosophische Kram – außer der reinen Lehre vom Denken – überflüssig, verschwindet in der positiven Wissenschaft.“13 Aus der Verbindung von Natur- und Gesellschaftswissenschaft geht die gemeinsame Zielstellung beider Disziplinen hervor, nämlich die „Einheit der wissenschaftlichen Beherrschung der Natur durch den Menschen und die wissenschaftliche Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse“.14 Die Besonderheit der Gesellschaftswissenschaften liegt in der Einwirkung auf das Individuum und damit auf den Primärfaktor der Volkswirtschaft. Mit Hilfe der Lehre vom Marxismus-Leninismus (M-L), der „die untrennbare Einheit von naturwissenschaftlichen, sozialökonomischen und politischen Auffassungen“15 verkörpert, ist es möglich, die gesellschaftliche Entwick-

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leiter am Institut für Geschichte. In den 1950er Jahren war er einer der einflussreichsten Historiker der DDR und arbeitete u. a. die ersten Lehrpläne für den Geschichtsunterricht aus. Stern, Rolle der Gesellschaftswissenschaften, S. 6. Alle Zitate aus: Engels, Dialektik, S. 202–203. Stern, Rolle der Gesellschaftswissenschaften, S. 13. Ebd., S. 12.

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lung zu planen und zu lenken, wobei den Gesellschaftswissenschaften eine entscheidende Rolle bei der Entfaltung von Wirtschaft, Kultur und gesellschaftlichem Leben zukommt. Für diese Arbeit benötigen die Gesellschaftswissenschaften neue Methoden, nämlich die der Naturwissenschaften. Mit diesen sollen exakte Untersuchungen der unterschiedlichsten Facetten des gesellschaftlichen Lebens möglich werden. Die Gesellschaftswissenschaften sorgen ebenso für die theoretischen Grundlagen der wissenschaftlichen Leitung und Organisation in der Produktion, für die sozialistische Erziehung und die Entwicklung eines sozialistischen Bewusstseins sowie für die Weiterbildung der marxistisch-leninistischen Weltanschauung. Die Ergebnisse der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung schlagen sich also […] in der allseitigen Entwicklung des subjektiven Faktors der Produktion, des Menschen, nieder und wirken auf diese spezifische Weise – über das Bewußtsein des Menschen – als Produktivkraft.16

Dies ist aber nur möglich, wenn die Gesellschaftswissenschaften besser koordiniert, auf die Schwerpunkte der Forschung ausgerichtet werden und die verbreiteten „Tendenzen zum Isolationismus, Subjektivismus, Dogmatismus und Sektierertum in den Gesellschaftswissenschaften“17 abgeschafft worden sind. Wie nun weiter die Wissenschaft in eine unmittelbare Produktivkraft umgewandelt werden konnte, stellte u. a. der sowjetische Wissenschaftler Vitalij Žamin vor, der anführte, dass die Wissenschaft nicht als neue subjektive oder gegenständliche neue Produktivkraft anzusehen ist, sondern sie zur unmittelbaren Produktivkraft wird, indem sie „für die Entwicklung aller Elemente der Produktion eine unmittelbare und entscheidende Bedeutung gewinnt und weil die wissenschaftliche Arbeit zu einem notwendigen Bestandteil der produktiven Arbeit wird.“18 Eine Voraussetzung dafür ist, dass die Produktion einen gesellschaftlichen Charakter angenommen hat. Dass in diesem Prozess die Wissenschaft als unmittelbare Produktivkraft betrachtet werden kann, ist Teil der „revolutionären Umwälzung der Gesellschaft“.19 Dieser Prozess beinhaltet dazu die Verstaatlichung der privaten Produktionskapazitäten, die Anwendung der Wissenschaft zur Leitung und Lenkung der Gesellschaft und die Bildung und Erziehung der Menschen, wobei hier noch einmal besonders deutlich die tragende Rolle der Wissenschaften hervortritt, indem sie zu einem bestimmenden Teil des „gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses“20 werden. Die Entwicklung der Dritten Hochschulreform war ein langwieriger Prozess und setzte spätestens mit dem im Januar 1963 abgehaltenen VI. 16 17 18 19 20

Klotz/Rum, Produktivkraft, S. 46. Ebd., S. 15. Žamin, Umwandlung, S. 1272; vgl. ebenso Klotz/Rum, Produktivkraft, S. 30. Berka/Kosing, Wissenschaft, S. 105. Ebd.

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Parteitag der SED ein. Dieser beschäftigte sich intensiv mit der Wissenschaft und ihrer Integration in das Wirtschafts- und Gesellschaftsgefüge. Einer der Grundsteine zum Erreichen der gesetzten Ziele war, dass sich die Universitäten und Hochschulen des Landes in ihrer weiteren Entwicklung auf die gestellten Aufgaben einrichteten. Mit der Einheit von Forschung und Lehre und der Konzentration auf die volkswirtschaftlich am besten verwertbaren Grundlagenforschungen präsentierte man erste Lösungsansätze. Studenten sollten möglichst frühzeitig in die verschiedenen Methoden des wissenschaftlich-produktiven Arbeitens eingeführt werden, um durch umfassende Praxiserfahrungen Einblicke in die Arbeit der sozialistischen Betriebe und Fabriken zu bekommen. Nach dem VI. Parteitag wurde zudem M-L zum Pflichtfach für die Studierenden sämtlicher Fachrichtungen. Die eindringliche ideologische Schulung hatte zur Aufgabe, die jungen Menschen enger an den Sozialismus zu binden und sie für die Ziele und Notwendigkeit dessen verstärkt eintreten zu lassen. Nicht nur die Universität an sich war fest im Gefüge des Sozialismus zu verankern, sondern vor allem die Angehörigen der Bildungseinrichtungen.21 Das Bildungsgesetz von 1965 und die „Prinzipien zur weiteren Entwicklung der Lehre und Forschung“ aus demselben Jahr waren die darauf folgenden Schritte der Hochschulreform. Mit dem „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem“ wurde nicht nur der Gedanke eines einheitlichen Bildungswesens realisiert, „dessen einzelne Stufen vom Kindergarten und der Schule, […] bis zu den Universitäten, Hoch- und Fachschulen aufeinander [abgestimmt]“22 waren, sondern auch der Versuch unternommen, die Aufgaben des Bildungssystems mit denen des Aufbaus des Sozialismus in Übereinstimmung zu bringen sowie gleichzeitig in den jeweiligen Bildungsanstalten sozialistisch bewusst denkende Menschen heranzuziehen.23 Besonders interessant erscheint der Führungsanspruch der Staatspartei, der sich deutlich im Gesetz hervorhob: „Im einheitlichen sozialistischen Bildungssystem verwirklicht sich die leitende kulturell-erzieherische Funktion des sozialistischen Staates“.24 Der die Universitäten betreffende Gesetzesteil behandelte vornehmlich die Prinzipien der Hochschulbildung und ihre Anwendung, grundsätzliche Fragen zur Bewerbung und zur Zulassung zu einem Hochschulstudium, die Gestaltung der Erziehungs- und Ausbildungsprozesse sowie die Rechte und Pflichten bei der aktiven Teilnahme an der Leitung und Planung der Hochschulbildung.25 Ein weiterer Schwerpunkt lag auf der Lösung der wachsenden politisch21 22 23 24 25

Vgl. Ulbricht, Programm, S. 211–212. Ebd., S. 249–250. Vgl. Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem, S. 85. Ebd., S. 86. Vgl. ebd., §§ 52–65.

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ideologischen, wissenschaftlich-technischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aufgaben und der hohen Verantwortung, die die Universitäten dabei zu tragen hatten: „Die Ausbildung an den Universitäten und Hochschulen wird bestimmt von den Erfordernissen der Wissenschaft, der Volksbildung und der Gesellschaft“.26 Die „Prinzipien“ wurden 1965 auf der „Rostocker Ostseewoche“ durch Ulbricht und Professoren der Universität Rostock angeregt und schließlich 1967 auf der IV. Hochschulkonferenz in Berlin verabschiedet. Die Hochschulen der DDR hatten sich an den Anforderungen der Gesellschaft und der Volkswirtschaft zu orientieren. Selbständige Forschung – so denn überhaupt noch vorhanden – sollte durch eine gezielte Bündelung der vorhandenen Ressourcen auf den wissenschaftlich-technischen Fortschritt ersetzt werden. Weitere wichtige Punkte waren die Praxisanbindungen der einzelnen neu zu schaffenden Fachbereiche und die Erziehung der Studenten mittels eines marxistisch-leninistischen Grundlagenstudiums und der intensiven Betreuung durch die FDJ und Hochschullehrer.27 Ernst-Joachim Gießmann, Sekretär für das Hoch- und Fachschulwesen, stellte in seinem Referat auf der IV. Hochschulkonferenz weiterhin die an jeder DDR-Hochschule benötigten drei Klassen von Wissenschaften vor: die Wissenschaften von der belebten Natur, von der unbelebten und die von der Gesellschaft. Zum Grundbestand einer jeden Universität sollten demnach die Disziplinen der marxistischen Philosophie, der politischen Ökonomie, des wissenschaftlichen Sozialismus, der Geschichte der Arbeiterbewegung, der Mathematik, Naturwissenschaften, Fremdsprachen und einige künstlerische Fächer gehören. Ein individuelles Profil für jede Hochschule ergab sich zudem aus der „Erweiterung dieser Grundwissenschaften und der Zuordnung ausgewählter angewandter Wissenschaften“.28 Gießmann ließ dazu selbst verlautbaren: „Bei der Herausbildung des Profils sind die Verbindungen zwischen den Wissenschaftsdisziplinen innerhalb der Hochschulen selbst, die territorialen Verflechtungen zu Betrieben, Einrichtungen und anderen wissenschaftlichen Institutionen besonders zu berücksichtigen und bedeutende wissenschaftliche Traditionen zu fördern.“29 Die „Prinzipien“ galten als Grundlage für die weiteren Reformschritte, welche auf dem VII. Parteitag der SED im April 1967 durchgeführt wurden. Dieser betonte drei Themengebiete besonders ausführlich. Das waren zum einen die Wirtschaft, dann die Wissenschaft und schließlich die Losung vom entwickelten gesellschaftlichen System des Sozialismus. Gegenüber dem VI. Parteitag, in dessen Vordergrund der Aufbau des Sozialismus und die Stär26 27 28 29

Ebd., S. 101. Vgl. Schneider, Konzeption, S. 13–15. Rexin, Entwicklung, S. 109. Gießmann, Aufgaben der Universitäten, S. 39.

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kung des Nationalbewusstseins stand, richtete sich dieser nun besonders auf die gesellschaftliche Entwicklung bis hin zur Vollendung des Sozialismus und auf die Anerkennung der unabänderbaren Existenz der DDR. Die Verflechtungen von Politik, Ökonomie, sozialen, kulturellen und ideologischen Prozessen sollten den Sozialismus der DDR als einen „einheitlichen sozialen Organismus, als entwickelte[s] gesellschaftliche[s] System“ darstellen, wobei das Gesamtsystem auf „wissenschaftlich begründete[n] Prognosen und Perspektiven“ aufbaute.30 Der nun systemtheoretisch begründete Weg zum Sozialismus wurde eingebunden in eine „Evolutionsprogrammatik“31, dessen eines Etappenziel das bereits erwähnte entwickelte gesellschaftliche System des Sozialismus war. Der Sozialismus selbst wurde in der Phase des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus als relativ selbständig betrachtet.32 Die Staatsausgaben für Wissenschaft und Forschung sollten eine Aufwertung erfahren und die Rolle der Universitäten und Hochschulen wurde konkretisiert. Hauptsächlich galt es auf der einen Seite die verstärkte Justierung der Forschung auf die Bedürfnisse der Volkswirtschaft weiterzuführen und andererseits die ideologische Ausrichtung des Studiums und der Weiterbildung zu verstärken. Die Parteiführung war sich einig, dass diese Ziele mit den damalig vorherrschenden Lehrmethoden und -anstalten nicht erreicht werden konnten. Daher forderte Ulbricht in seinem Referat an den VII. Parteitag: Wir brauchen eine neue, der Wissenschaftsentwicklung und dem Strukturwandel der Volkswirtschaft entsprechende Ausbildungsnomenklatur, die zu neuen Bildungsprofilen, Fachrichtungen und zu völlig neuen Profilen und Schwerpunkten ganzer Hochschulen führen wird.33

Die in den Augen der SED veralteten und überholten Arbeitsweisen galt es zu überwinden und durch eine dialektische Denk- und Arbeitsweise zu ersetzen, welche wiederum durch einen „hohen Grad von Wissenschaftlichkeit“34 gekennzeichnet sein sollte. Mit dem VII. Parteitag waren die Weichen in Richtung Hochschulreform in die verschiedensten Richtungen gestellt worden. Zum einen wurde die ideologische Schulung der Studenten und ebenso der Hochschullehrer hervorgehoben. Weiterhin sicherte sich die SED die stärkere Einbindung in die universitären Strukturen. Mit der Bildung von zentralistisch gelenkten Sektionen und der damit verbundenen Abschaffung der traditionellen 30 31 32 33 34

Rossmann, Geschichte, S. 496. Staritz, Geschichte, S. 228. Vgl. insgesamt Schroeder, SED-Staat, S. 182; Weber, Geschichte, S. 256–257; Staritz, Geschichte, S. 228. Ebd., S. 256. Ulbricht, System, S. 63.

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Fakultäten konnte sich die Partei mehr Einfluss innerhalb der Universität aneignen. Die neue Verfassung aus dem Jahre 1968 rundet schließlich das Bild der Reform ab. Auch in ihr wurde die Wichtigkeit von Wissenschaft und Forschung deutlich. So waren diese laut Artikel 17 von nun an „wesentliche Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft und […] durch den Staat allseitig gefördert“, mit dem Ziel, „die Gesellschaft und das Leben der Bürger zu schützen und zu bereichern, die wissenschaftlich-technische Revolution zu meistern sowie den ständigen Fortschritt der sozialistischen Gesellschaft zu gewährleisten.“35 Mit der 16. Sitzung des Staatsrates der DDR am 3. April 1969 wurde schließlich die „Weiterführung der 3. Hochschulreform und die Entwicklung des Hochschulwesens bis 1975“ beschlossen. Die Ergebnisse stellten keine Überraschung dar, sondern waren vielmehr eine Konsolidierung der bis zu diesem Zeitpunkt angesprochenen und geforderten Maßnahmen zur Gestaltung der Hochschulreform. Zum besseren Überblick sollen aber an dieser Stelle noch einmal die wichtigsten Punkte der Dritten Hochschulreform aufgeführt werden: – – – – – – – – – – – – –

Wissenschaft wird Hauptproduktivkraft Einbindung der Hochschulen in die sozialistische Gesellschaft Verflechtung der Hochschulen und der jeweiligen Sektionen mit der Großindustrie, der Landwirtschaft und den Einrichtungen der Akademie der Wissenschaften Einführung und Nutzung der sozialistischen Wissenschaftsorganisation Einheit von Erziehung, Forschung und Lehre Systematische Verbreitung und Vertiefung der Erkenntnisse des M-L Einheit von Aus- und Weiterbildung Entwicklung der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit in Forschung und Lehre Prognostische Arbeit Wissenschaftlich-produktives Studium Verbesserte Einbindung von Frauen in das Studium Neuregulierung der Studienzeit auf zumeist vier Jahre Neues Hochschulleitungssystem von Rektoren, Prorektoren, Sektionsdirektoren und Räten36

Weiterhin findet sich noch einmal der Machtanspruch, den die SED für sich vorsah: 35 36

Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968, S. 67–110. Vgl. insgesamt: Die Weiterführung der 3. Hochschulreform, S. 113–151.

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Die politische Grundlage der erfolgreichen Entwicklung unseres sozialistischen Hochschulwesens waren und sind das enge Bündnis der Arbeiterklasse und der Intelligenz und die Verwirklichung der führenden Rolle der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.37

2. Die Dritte Hochschulreform an der Rostocker Philosophischen Fakultät und in der Germanistik38 Mit der Gründung der „Sektion Sprach- und Literaturwissenschaft“ (SPW) am 15. September 1968 begann auch für die Germanistik eine neue Zeitrechnung an der Universität Rostock. Gemeinsam mit dem Institut für Anglistik, dem Institut für Slawistik und dem Sprachlabor wurde das Germanistische Institut zur neuen Sektion vereinigt. Erster Sektionsdirektor wurde der Germanist und Literaturwissenschaftler Prof. Hans-Joachim Bernhard.39 Die drei Disziplinen bildeten innerhalb der Sektion drei jeweilige Fachbereiche, welche aber keine Leitungsebenen darstellten, sondern vielmehr für fachbereichsspezifische Aufgaben außerhalb der Ausbildung, Erziehung und Forschung zuständig waren. Die Ausbildungsgruppen Grundstudium bzw. Fachstudium stellten die eigentlichen Leitungsebenen der Sektion dar, denen die Hochschullehrer, wissenschaftlichen Mitarbeiter sowie die Nachwuchswissenschaftler aller beteiligten Fachbereiche angehörten. Die Forschungsgruppen wiederum setzten sich aus drei Bereichen zusammen. So gab es jeweils eine Forschungsgruppe für Literaturwissenschaft, für Sprachwissenschaft und für Methodik. Die jeweiligen Fachvertreter der drei Fachbereiche waren Angehörige dieser Forschungsgruppen.40 Die Sektion, an der sich nur Lehramtsstudenten einschreiben konnten, erklärte es sich zum obersten Ziel „klassenbewusste sozialistische Lehrerpersönlichkeiten“ auszubilden, die einen „hochqualifizierten Unterricht in den Fächern Deutsch, Russisch und Englisch erteilen und ihre Aufgaben als Kulturfunktionär voll erfüllen“ könnten.41 Dafür galt es viele Änderungen sowohl in Ausbildung und Erziehung als auch in der Forschung vorzuneh37 38

39 40 41

Ebd., S. 116. Da sämtliche gesichtete Akten des Universitätsarchivs Rostock (UAR) keine Blattzählung haben, wurde in diesem Aufsatz zur besseren Nachvollziehbarkeit die interne Seitenzählung des jeweiligen Dokuments mit angegeben, soweit es mehr als eine Seite umfasst. Zu den Rostocker Professoren vgl. allgemein den Catalogus Professorum Rostochiensium. Vgl. Darstellung der Sektion Sprach- und Literaturwissenschaft, 1968, in: UAR (Sektion Sprach- und Literaturwissenschaft, SPW 2), Sektionsgründung II. Gemeinsame Erklärung der drei Institutsdirektoren (Germanistik, Anglistik, Slawistik) an den Minister für Hoch- und Fachschulwesen, 1968, S.  2, in: UAR (Sektion Sprach- und Literaturwissenschaft, SPW 2), Sektionsgründung II.

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men. Eine wichtige Änderung stellte der einheitliche Stundenplan dar.42 Neu waren beispielsweise gemeinsame Lehrveranstaltungen für alle Studenten der Sektion, die sich mit der Einführung in die moderne Sprach- und Literaturwissenschaft und mit kulturpolitischen Vorlesungen beschäftigten. Im Grundstudium standen vor allem Methoden der literaturwissenschaftlichen Analyse auf dem Lehrplan. Grundkurse für die Analyse von Epik, Dramatik, Lyrik etc. wurden obligatorisch. Die Sprachwissenschaft widmete sich vor allem den Problemen der Gegenwartssprache und diente der Vermittlung von Grundkenntnissen über Struktur und Funktion von Sprache als gesellschaftlichem Kommunikationsmittel.43 In der Literaturwissenschaft sollte ein neues Konsultationssystem zu einem angeleiteten Selbststudium führen, das auf eine selbständige Auseinandersetzung mit Fragen und Problemen abzielte. Ab dem Fachstudium sollten die Studenten über ein System der produktiven Arbeit zum Staatsexamen herangeführt werden. Dieses sollte mittels eines Praktikums und durch Studentenzirkel präzisiert und schließlich an die Forschungsaufgaben der SPW angepasst werden. Im Grundstudium nahmen die Disziplinen außerhalb des Haupt- und Nebenfachs zwischen acht und zehn Wochenstunden ein. Sie beinhalteten die Lehren des M-L, Pädagogik, Psychologie, Sport und den obligatorischen Russischunterricht. Literatur- und sprachwissenschaftliche Themen hielten sich die Waage. Ab dem Fachstudium, das mit dem 5. Semester einsetzte, nahm das Studium des M-L ab und die Methodik nahm einen großen Raum innerhalb der Ausbildung ein. Schulpraktische Übungen standen ebenfalls auf dem Studienplan. Das 7. Fachsemester war nahezu vollständig dafür vogesehen, das Schulpraktikum zu absolvieren. Je nach Fächerkopplung kamen auf den Studenten pro Semester an die 30 Wochenstunden im Grundstudium zusammen, während im Fachstudium die ersten beiden Semester mit durchschnittlich 25 Wochenstunden zu Buche schlugen. Das letzte Semester (8.) hatte im Durchschnitt 11 Stunden. Den fachlich und gesellschaftlich besonders befähigten Studenten standen nach dem Staatsexamen das Spezial- und Forschungsstudium und die damit verbundenen Promotion zur Verfügung. Im Bereich der Forschung auf germanistischem Gebiet galt es, sich auf die wissenschaftspolitischen und erzieherischen Aufgaben zu konzentrieren. Für die Literaturwissenschaft bedeutete dies, sich mit dem „Vorbildcharakter der sozialistischen Nationalliteratur in der Auseinandersetzung mit der imperialistischen Ideologie“ zu befassen und dabei besonders den „Fragen der Rezeption bürgerlich-humanistischer und sozialistischer Traditionen 42

43

Ausführlich in: Vorlage zur Neugestaltung des Ausbildungsablaufs in den Fachbereichen der Sektion „Sprach- und Literaturwissenschaft“, 1968, in: UAR (Sektion Sprach- und Literaturwissenschaft, SPW 2), Sektionsgründung II. Vgl. ausführlich ebd., S. 21–23.

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und der Sowjetliteratur in [der] Literaturgesellschaft“ nachzugehen.44 Für die Sprachwissenschaft wurde die Untersuchung der Struktur der Gegenwartssprache unter besonderer Berücksichtigung der Rationalisierung und Effektivitätssteigerung im Unterricht zum Forschungsschwerpunkt.45 Die Bildung der Sektionen und damit auch der SPW war ein langwieriger Akt und zog sich über einen langen Zeitraum hinweg. Bereits ab Mitte der sechziger Jahre stellte sich vermehrt die Frage nach der Effizienz der einzelnen Fakultäten und Institute an der Rostocker Universität. Für die Bewältigung der WTR und ebenso zur Integration der Hochschulen in das gesellschaftliche System des Sozialismus waren die – aus Parteisicht – überholten Organisationsstrukturen an der Universität nicht mehr geeignet. Um diesen Zustand zu ändern, waren vielerlei Schritte notwendig. Durch neue Studienpläne war auf die höheren Anforderungen an Studenten und an den wissenschaftlichen Nachwuchs einzugehen. Eine ebenso wichtige Rolle spielte die Ausbildung und Erziehung durch die Hochschullehrer, deren Aufgaben vor allem als gesellschaftliche angesehen werden mussten und die damit eine Verantwortung gegenüber dem Aufbau des Sozialismus zu tragen hatten. Für die Arbeit an den Instituten bedeutete dies verstärkt die Frage nach dem Nutzen der dort geleisteten Arbeit. Die Wissenschaftler hatten sich der Aufgabe zu stellen, wie Forschung und Lehre prognostisch und perspektivisch an die jeweiligen Bedürfnisse der Ökonomie, Volksbildung etc. angepasst werden konnten.46 Der im Jahr 1965 vorgestellte „Perspektivplan der Universität Rostock 1965 bis 1970“47 wurde bereits konkret und beschäftigte sich mit einem zukünftigen Gesicht der Philosophischen Fakultät (PHF). An der PHF war die Hauptaufgabe die Ausbildung von Lehrern.48 Insgesamt betrug die Anzahl der Studenten im Jahr 1964 im Direktstudium 594. Diese Zahl sollte sich bis 1970 auf 688 steigern, wobei der Großteil als Lehrer für die 10-klassige Oberschule ausgebildet werden sollte.49 Im Bereich der Forschung lag die Konzentration auf den „Erfordernissen der einzelnen Fachrichtungen, dem Bildungsanliegen der Universität und 44

45

46 47 48

49

Gemeinsame Erklärung der drei Institutsdirektoren (Germanistik, Anglistik, Slawistik) an den Minister für Hoch- und Fachschulwesen, 1968, S.  3, in: UAR (Sektion Sprach- und Literaturwissenschaft, SPW 2), Sektionsgründung II. Vgl. insgesamt Vorschläge über die künftigen profilbestimmenden Forschungsschwerpunkte der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock vom 22.3.1968, S. 4–6, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R 47), Profilierung der Gesellschaftswissenschaften und der Philosophischen Fakultät. Vgl. Geschichte der Universität Rostock 1969, S. 148–149. Vgl. Perspektivplanvorschlag der Universität Rostock [3 Teile], in: UAR (Rektorat 1945– 1990, R933), Perspektivplanvorschlag der Universität Rostock 1956–1970. Bis dato waren an der PHF folgende Fachkopplungen möglich: 1. Deutsch/Französisch; 2. Geschichte/Deutsch; 3. Sport/Deutsch; 4. Sport/Geschichte; 5.  Musik/Deutsch; 6. Russisch/Englisch; 7. Latein/Russisch. Vgl. ebd., Teil 2, S. 34. Vgl. ebd., Teil 2, S. 35.

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den Belangen der Lehrerausbildung“.50 Der Perspektivplan wies zudem auf die Haupttendenz der Forschung innerhalb der PHF hin. Diese legte ihren Schwerpunkt nämlich auf den Bereich der zeitgenössischen Entwicklung. Das beinhaltete für die Pädagogen die ganztägige Bildung und Erziehung, für die Philologen war es die Gegenwartssprache und die Literaturentwicklung der vergangenen Jahre und die Historiker hatten ihre Forschungen bis an die Zeitgeschichte heranzuführen. Alle weiteren Arbeiten innerhalb der Fakultät und in den jeweiligen Instituten mussten mit diesen Schwerpunktaufgaben abgestimmt werden. Der Perspektivplan wurde zum Thema vieler Gesprächs- und Diskussionsrunden. Während des Besuchs Walter Ulbrichts anlässlich der „Ostseewoche“ 1965 an der „Technischen Fakultät“ der Rostocker Universität wurde das Thema Hochschulorganisation ausführlich behandelt. Der damalige Rektor Prof. Dr. Schick erläuterte in einem Referat51 die Notwendigkeit von neuen Lehr- und Forschungsstrukturen. Er bemängelte vor allem den Missstand, dass für die Ausbildung der Studenten – mit Ausnahme der Lehrer – zumeist drei bis vier unterschiedliche Fakultäten notwendig seien und deshalb „[d]urch die Konzentration verwandter Einrichtungen […] wirkliche Forschungsfakultäten geschaffen werden [müssten].“52 Die kleineren Institute verglich er mit „Handwerksbetrieben“, die nicht in der Lage waren, die an sie gestellten Anforderungen im erforderlichen Maß zu erfüllen. Durch den anstehenden Generationswechsel in den Jahren 1970 bis 1975 sprach Schick von einer „einmaligen Gelegenheit“ die neuen Organisationsformen an der Universität durchzusetzen und betonte deshalb: Wir würden klare Richtlinien vom Staatssekretariat begrüßen. Wir werden die Dinge nicht verändern, wenn wir niemanden wehetun. Wir müssen einigen wehetun, damit sie uns zwei Jahre später versichern: Es war doch richtig, die Dinge so zu machen.53

Es ist an dieser Stelle noch einmal hervorzuheben, dass viele Debatten von den „objektiven Erfordernissen der Wissenschaftsentwicklung“54 handelten und die strukturelle Anpassung der Universität die Folge daraus war. Die Diskussionen um das neue Gesicht der Rostocker Universität waren unvermeidbar geworden, denn der Anspruch der Universalität konnte von kaum einer Universität weltweit mehr erhoben werden und es war daher nicht weiter verwunderlich, wenn an einzelnen Universitäten und Fakultäten ent50 51

52 53 54

Ebd., Teil 3, S. 24. Protokoll der außerordentlichen Senatssitzung anlässlich des Besuchs Ulbrichts an der Technischen Fakultät der Universität Rostock am 5. Juli 1965, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R1904), Besuch des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Walter Ulbricht 1965. Ebd., S. 3–4. Ebd., S. 5. Heidorn, Dritte Hochschulreform, S. 41.

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sprechende Fachrichtungen nicht mehr vorhanden waren. Rostocks Rektor Schick betonte auf einer Senatssitzung im Januar 1965 die Möglichkeiten der Hochschullehrerschaft, an den entscheidenden Veränderungen der jeweiligen Hochschule selbst mitzuwirken und diese mitzugestalten. Jedoch setzte er dieses Recht nicht damit gleich, lediglich die Interessen einzelner Institute, Fakultäten oder Universitäten zu betrachten, sondern verwies auf die Gesamtinteressen der Gesellschaft und der Stellung der Hochschulen darin.55 Etwas weiter kam Schick dann auf die Rostocker PHF zu sprechen. Er betonte an dieser Stelle noch einmal die Konzentration auf die Sprachausbildung in den Fächern der Germanistik, Anglistik-Amerikanistik, Ibero-Amerikanistik sowie der Slawistik und sprach der Romanistik und den Resten der Nordistik die Existenzberechtigung in Rostock ab. Gleichzeitig sah er bei einem Verzicht auf die Gründung eines Philosophischen Instituts, welches damals zur Debatte stand, und eines Instituts für Altertumswissenschaften die Möglichkeit, die daraus freiwerdenden Kräfte in den verstärkten Ausbau des Historischen und der philologischen Institute zu legen, um hier wiederum eine qualitativ hochwertige Forschung und Ausbildung zu garantieren. Schick sah die PHF der Zukunft aufgeteilt in vier Abteilungen, nämlich für Philosophie (M-L), Sprachwissenschaften, Geschichtswissenschaften und Pädagogik. Deren Leiter hätten Einfluss zu nehmen auf jede Fakultät der Universität, die eines der jeweiligen Fachgebiete zur Ausbildung ihrer Studenten benötigten.56 Mit den in Kurzform dargestellten Akteneinblicken wird deutlich, dass bereits vor der letzten Phase der Dritten Hochschulreform (1967–69) und vor den Ergebnissen der IV. Hochschulkonferenz, auf der die planmäßige Ausrichtung der Universitäten auf die Volkswirtschaft und Gesellschaft beschlossen wurde, an der Universität Rostock lange in diese Richtung gearbeitet wurde. Allerdings sollte in den folgenden Jahren ein verstärkter Einfluss der zentralen Regierungsstellen auf die Profilierung der Universität erfolgen. Mit der vom Senat im Mai 1967 gegründeten Modellkommission ging die Profilierung der Universität Rostock in ihre entscheidende Phase. Als Reaktion auf die IV. Hochschulkonferenz erhielt die Kommission die Aufgabe, ein Modell zu entwickeln, welches die langfristige Ausrichtung und strukturelle Gestaltung der Universität darstellen sollte. Mit Hilfe statistischer Prognosen, wie u. a. dem Wachstum der Bevölkerung, den Studentenzahlen, der Zahl der Hochschullehrer und weiteren Parametern, sollte dieses Modell zu Stande kommen. Anfang Juni 1967 reichte die Kommission ihren

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Protokoll über die Senatssitzung am Mittwoch, dem 13. Januar 1965, im Konzilzimmer, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R932), Senatskommission für die Ausarbeitung des Perspektivplanes der Universität (unpaginiert), S. 7. Ebd. S. 14.

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ersten Entwurf für die Profilierung der Rostocker Universität ein.57 Darin wurde die grundsätzliche Schwerpunktbildung für die Universität (Seewirtschaft, Landwirtschaft, Volksbildung, Gesundheitswesen) aufgenommen. Im Bereich der Lehrerausbildung sollte sich die Universität mit den beiden anderen nördlichen Hochschulbildungseinrichtungen in Greifswald und Güstrow absprechen, um eine effektive Lehre für alle Fachrichtungen sicher zu stellen. Für die PHF sah die Kommission die Bildung von vier Sektionen innerhalb der Fakultät vor, somit waren hier die Sektionen noch nicht als vorrangige universitäre Strukturelemente vorgesehen. Die Fakultät sollte sich demnach aus den Sektionen Geschichtswissenschaft, Sprachwissenschaften, Lateinamerikawissenschaften und Körpererziehung zusammensetzen. Das Institut für Slawistik sollte in diesem Vorschlag noch an die Universität Greifswald übersiedeln.58 Die Vorschläge der Modellkommission wurden vom Senat angenommen und stimmten mit den Vorstellungen des Staatssekretariats weitestgehend überein. In dem Rundschreiben59 des Staatssekretärs vom 12. Juni 1967 wurde auf die Bildung von Sektionen eingegangen. Diese sollten eine Vereinigung von Instituten und benachbarten Wissenschaftsgebieten unter der Leitung eines Dekans darstellen. Auf der Senatssitzung vom 21. Oktober 1967 sprach der neue Rektor, Prof. Dr. Heidorn, in Bezug auf die Sektionsbildung an, dass diese ohne Verzögerungen durchzuführen, ein fester Termin aber nicht vorgegeben sei.60 Mit dem Jahr 1968 ging die Dritte Hochschulreform in ihre entscheidende Phase. Längst waren noch nicht alle Details geklärt, weder in den Universitäten noch im „Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen“. Bereits am 13. März hatte Prorektor Prof. Dr. Adalbert Dessau den Rückstand in Bezug auf die Profilierung der PHF bemängelt und drängte auf die Erstellung eines Forschungsprofils, welches die zukünftige Sektion in die Aufgabenstellung des Teilsystems Wissenschaft im Gesamtsystem des Sozialismus einordnen sollte.61 Die PHF Rostocks erklärte in ihrem Vorschlag, dass die künftig schwerpunktmäßige Lehrerausbildung an der PHF bis zu 70 Prozent der vorhandenen Kapazitäten binden würde und die Forschungstä-

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Vgl. Entwurf für die Profilierung der Universität Rostock. 9. Juni 1967, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R919), Profilierung der Universität (Wissenschaftsentwicklung). Vgl. ebd., S. 1–3. Vgl. Schreiben des Staatssekretariats vom 12. Juni 1967, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R919), Profilierung der Universität (Wissenschaftsentwicklung). Vgl. Protokoll der Senatssitzung vom 21.10.1967, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R919), Profilierung der Universität (Wissenschaftsentwicklung). Vgl. Protokoll über die Sitzung des Fakultätsrates der Philosophischen Fakultät am 13.3.1968, in: UAR (Philosophische Fakultät 1945–1968, Phil. Fak. 8), Profilierung der Philosophischen Fakultät.

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tigkeit vor allem unter dem „Gesichtspunkt des unmittelbaren Rücklaufs in die Ausbildung gesehen werden“62 müsse. Probleme bei der Durchführung der Reform taten sich aus Sicht der Universitätsleitung und der zentralen Stellen vor allem auf ideologischem Gebiet auf, wo viel Überzeugungsarbeit zu leisten war. Obwohl eine Vielzahl der Hochschullehrer der Reform durchaus nicht ablehnend gegenüberstand, zweifelte doch so mancher am Erhalt des Niveaus der Universität. Einige befürchteten, aus ihr würde eine „Betriebsberufsschule“ werden oder machten sich im Allgemeinen Sorgen um die Verschulung der Hochschule. Wiederum andere zeigten sich besorgt um die technisch-naturwissenschaftliche Akzentuierung des Universitätsprofils. Bedenken persönlicher Natur fanden sich bei den Wissenschaftlern wieder, die ganz einfach um ihre Autorität fürchteten, wenn sie beispielsweise nicht mehr als Institutsdirektoren tätig sein würden. Eine durchaus typische Reaktion auf diese Probleme war die Antwort, dass die entsprechenden Wissenschaftler „offenbar […] die gesellschaftliche Ausgangsposition noch nicht verstanden“ hätten63, weshalb es weiterhin notwendig sei, „alle Angehörigen der Universität mit dem Wesen, Sinn und Ziel der Hochschulreform vertraut zu machen.“64 Rektor Heidorn machte sich in einem Schreiben65 über die Entwicklung der Reform an der Universität Rostock Luft ob der mangelnden Akzeptanz bei einigen Hochschullehrern. Besonders die Institute und die dortige Stellung der Direktoren waren ihm ein Dorn im Auge. Die Institute, die er als „selbständige Kleinbetrieb[e]“ darstellte, oder gar mit „Einzelbauer[n]“ verglich, waren auf Grund ihres „patriarchalisch[en]“ Aufbaus kein Element einer modernen sozialistischen Hochschule. Ein Institutsdirektor hatte zu viel Macht und Einfluss, weil er auf Assistenten und Mitarbeiter zu stark einwirken konnte („auch politisch-ideologisch“) und sie ihm gegenüber abhängig und untergeordnet waren. Zudem konnte er meist das Forschungsprofil seines Instituts bestimmen. Dabei kam eine „bewußte und zielgerichtete klassenmäßige Erziehung im Geiste des Sozialismus“ oftmals viel zu kurz. Deshalb richtete er an diese Adresse folgende Formulierung:

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Vorschläge über die künftigen profilbestimmenden Forschungsschwerpunkte der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock vom 22.3.1968, S. 1, in: UAR (Rektorat 1945– 1990, R 47), Profilierung der Gesellschaftswissenschaften und der Philosophischen Fakultät. Zitate aus: Protokoll der Beratung mit Gen. Prof. Kurt Hager am 30. Mai 1968 an der Universität Rostock über Probleme der Verwirklichung der 3. Hochschulreform an der Universität Rostock, S. 10, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R42), Durchführung der Hochschulreform an der Univ. Rostock. Ebd., S. 26. Thesen zur weiteren sozialistischen Entwicklung an der Universität Rostock (Hochschulreform), o. Datum, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R42), Durchführung der Hochschulreform an der Univ. Rostock).

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Von einigen Professoren wird die Preisgabe bedeutender Positionen, festverwurzelter Standpunkte und manchmal auch einträglicher Pfründe verlangt. Aber wir müssen diese ‚Schallmauer‘ durchbrechen.

Bei der zukünftigen Auswahl des wissenschaftlichen Kaders sollte verstärkt auf eine (im Sinne der Partei) „Befähigung zur Lehr- und Erziehungstätigkeit“ geachtet werden, denn zuvor sei zu oft „primär nach dem forscherischen Vermögen bei einer Berufung“ entschieden worden.66 Betroffene Bereiche machte die Universitätsleitung auch in der PHF aus. Hier müssten noch „einige hemmende ideologische Auffassungen überwunden werden.“67 Als solch hemmende Auffassungen galten beispielsweise: Individualistische Bestrebungen, an die Stelle sachlicher Entscheidungen persönliche Neigungen zu rücken. Nicht der Gesamtzusammenhang der Wissenschaftsund Gesellschaftsentwicklung wird betrachtet, sondern der enge fachspezifische Aspekt. Trotz Zustimmung im Allgemeinen zur sozialistischen Hochschulreform soll das Bestehende erhalten bleiben bzw. notwendige Veränderungen werden hinausgezögert.68

Als Reaktion waren ideologische Klärungsprozesse auf Basis der Parteibeschlüsse angedacht. Bei der Durchsicht der entsprechenden Dokumente fällt immer wieder die Betonung des gesellschaftlichen Aspektes auf. Offenbar stellte es sich stellenweise als schwierig dar, das politische Grundanliegen der Reform deutlich hervorzuheben. So heißt es immer wieder beschwörend in dieser oder ähnlicher Form: Ausgangspunkt für die Hochschulreform ist nicht die wissenschaftlich-technische Revolution, sondern die Integration der Universität in das entwickelte gesellschaftliche System des Sozialismus. […] Im Vordergrund der Durchführung der Hochschulreform stehen […] Fragen [...] der inhaltlichen Veränderung der Ausbildung, Erziehung und Forschung.69

Zudem wurde verstärkt darauf hingewiesen, dass der Prozess der Wissenschaftsentwicklung und der Hochschulreform als ein Teil der „umfassende[n] Klassenauseinandersetzung“70 zu sehen war. Aus diesem Grund wurden be66

67

68 69 70

Alle Zitate aus ebd., S. 1–6; vgl. dazu auch Schreiben vom 1. Staatssekretär und 1. Stellvertreter des Ministers des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen, Böhme, an den Rektor der Universität Rostock vom April 1968, S. 1, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R42), Durchführung der Hochschulreform an der Univ. Rostock. Stand, Probleme und nächste Aufgaben der Verwirklichung der Hochschulreform an der Universität Rostock vom 31.5.1968, S. 12, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R44), Kommission des Rektors zur Ausarbeitung des Entwurfs des Modells einer modernen sozialistischen Universität. Ebd., S. 13. Ebd., S. 3–4. Argumentation. Durchführung der Hochschulreform der DDR. Vom Sektor Hoch- und Fachschulpolitik o. Datum, S. 2, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R42), Durchführung der Hochschulreform an der Univ. Rostock.

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sonders die Gesellschaftswissenschaften aufgefordert ihre „weltanschaulichbewußtseinsbildende Rolle“ deutlicher hervorzuheben und sich intensiver mit den „reaktionären und unwissenschaftlichen Theorien“71 der Bundesrepublik auseinanderzusetzen. Die Dritte Hochschulreform war in ihren Ausmaßen ein groß angelegtes Projekt und gespickt mit Details. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn es in der Durchsetzung der Reform und im universitären Alltag zu Problemen kam, die vorher so gar nicht voraussehbar gewesen waren. Vor allem die Schwerpunktthemen wie Forschung, Ausbildung und Ideologie standen unter besonderer Beobachtung. Für den neuen Perspektivzeitplan der Jahre 1971–75 wurde zum Beispiel von den Gesellschaftswissenschaften eine wachsende Verantwortung verlangt, weshalb ihnen in Rostock eine dementsprechende Förderung zugedacht wurde, damit sie ihren wirksamen Beitrag für die Entwicklung der gesamten Gesellschaftswissenschaften in der DDR leisten konnten. Neben der Schaffung wissenschaftlicher theoretischer Voraussetzungen und Methoden galt als vordergründige Aufgabe, den M-L „zur Grundlage der gesamten Ausbildung, Erziehung, Forschung sowie des geistig-kulturellen Lebens zu machen“.72 Des Weiteren stellte die Intensivierung der Lehrerausbildung eine rationellere und effektivere Gestaltung der Verfahren dar. Dabei war weiterhin auf eine möglichst geringe Zahl von Hauptfächern Wert zu legen (z. B. Mathematik, Biologie, Deutsch, Englisch). Für diese Hauptfächer wiederum war dann eine durchaus große Anzahl von Studenten (80 bis 100 Studenten pro Fach) zuzulassen.73 Für die künftige Ausbildung war zudem eine verstärkte Einheit von Wissenschaft und sozialistischer Ideologie vorgesehen, weshalb in den „Ausbildungsdokumenten politisch-ideologische Zielsetzungen fixiert wurden“.74 Dafür musste die Verbindung von jeweiligem Fachgebiet und M-L hergestellt und Mitarbeiter und Studenten zur Auseinandersetzung mit dem M-L aufgefordert werden. Im Bericht heißt es dazu beispielsweise: Viele Studenten verhalten sich zum ML-Grundlagenstudium wie zu jedem beliebigen anderen Fach. Positiv ist daran, daß sie den Marxismus-Leninismus als selbstverständlichen, notwendigen Bildungsanteil erkennen. Kritisch: Die Besonderheit

71

72 73 74

Niederschrift einer Beratung beim Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen – Arbeitsgruppe Gesellschaftswissenschaftliche Forschung – am 2.5.1968 in Berlin, S.  1, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R42), Durchführung der Hochschulreform an der Univ. Rostock. Vorlage für die Sitzung des Wissenschaftlichen Rates am 16.9.1970, S. 2, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R913), Wissenschaftsentwicklung, Profilierung und Prognose. Vgl. ebd., S. 3–5. Stand der Entwicklung der 3. Hochschulreform an der Universität Rostock, o. Datum (vermutlich 1971), in: UAR (Rektorat 1945–1990, R1916), Beratungen mit Prof. Kurt Hager. Die interne Paginierung ist lückenhaft und unübersichtlich und daher leider nicht für das Zitieren geeignet.

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des Marxismus-Leninismus als wissenschaftliche Ideologie der Arbeiterklasse ist nicht hinreichend bewußt.75

Den zur klassenmäßigen Erziehung verantwortlichen Hochschullehrern war dabei in den vergangenen Monaten ein erhöhtes Verantwortungsbewusstsein zugesprochen worden, jedoch reichte es der Universitätsführung und dem Ministerium nicht, dass sich die Wissenschaftler im „Ergebnis der systematischeren Beschäftigung mit Grundfragen des MarxismusLeninismus“76 in ihrer Klassenposition gefestigt hätten. Sie forderten von ihnen ein weiter verstärktes Engagement hinsichtlich der Vermittlung des M-L in Forschung und Ausbildung. Dieser Ansicht war auch die Universitätsparteileitung (UPL) in ihrer Einschätzung77 der politisch-ideologischen Situation an der Hochschule. Trotz der positiven Anzeichen – die vor allem mit der Weiterbildung auf dem Gebiet des M-L begründet wurden – konnte nicht auf schematisches „Denken und Verhalten der Wissenschaftler geschlossen werden“78, was wiederum zu einer Klage über die mangelnde analytische Auseinandersetzung der Sektionsleitungen mit der politischideologischen Arbeit einherging. In einer Darstellung der geleisteten politisch-ideologischen Aktivität in der Erziehungsarbeit der Hochschullehrer in den jeweiligen Sektionen präsentiert die UPL u. a. das Ergebnis, dass in den naturwissenschaftlichen und technischen Fächern sowie in den Gesellschaftswissenschaften eine deutlich sichtbare Diskrepanz existierte. Die UPL bemängelte deshalb auch die ungenügende Zurechtweisung dieser Missstände und forderte „die Leitung politisch-ideologischer Prozesse, was eine qualifizierte analytische Arbeit voraussetzt, nicht nur verbal, sondern tatsächlich in den Mittelpunkt der Arbeit zu rücken.“79 Eine Analyse der Hochschul- und Wissenschaftsentwicklung der DDR muss immer vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Dimension betrachtet werden. Es ist ebenfalls unabdingbar, die Politisierung der Wissenschaft als ein Prinzip des absoluten Herrschaftsanspruches der SED anzusehen. Diesen Führungsanspruch sicherte sich die Partei mittels der gleichen und ähnlichen Maßnahmen, wie sie es auch in den anderen gesellschaftlichen Bereichen der DDR getan hatte. Das war zum einen durch die personelle Präsenz möglich, die in den Einrichtungen mindestens immer so groß war, dass eine arbeitsfähige Grundorganisation vorhanden sein konn75 76 77

78 79

Ebd. Ebd. Einschätzung der politisch-ideologischen Situation unter den Hochschullehrern und wissenschaftlichen Mitarbeitern, 27.10.1970, in: UAR (Universitätsparteileitung 1946–1989 157), Berichte über die politische Führungstätigkeit der Partei und die politisch-ideologische Situation an der Universität Rostock. Ebd., S. 2. Ebd., S. 6.

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te. Zum anderen sicherte sie sich den Einfluss in den Leitungsebenen, beispielsweise bei den Rektoren, Direktoren etc. Selbst wenn diese Posten nicht durch SED-Leute besetzt waren, wurde durch die bewusste Positionierung von Genossen in den zugeordneten Beratungsinstanzen und besonders im Verwaltungsapparat noch immer die Möglichkeit geschaffen, Einfluss zu nehmen. Durch die Zentralisierung der staatlichen Wissenschaftslenkung und mittels Schulung und Weiterbildung auf dem Gebiet des M-L war es der SED möglich, ihren Leitungsanspruch an den Universitäten auszubauen und zu behaupten.80 Betrachtet man die Entwicklung der Wissenschaft in der DDR, muss immer das Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft im Gesamtzusammenhang und über die Zeit hinweg betrachtet werden. Trotz ihrer Politisierung ist Wissenschaft in der DDR auch als gesellschaftliche Tätigkeit zu begreifen. Die Dritte Hochschulreform war von Anfang an keine reine Bildungsreform oder alleinig wirtschaftlichen Bedürfnissen geschuldet. Ein ebenso wichtiges Motiv war die Erziehung der Menschen – der Wissenschaftler und Studenten. Das gesamte Leben und Arbeiten an den Universitäten und Fachhochschulen wurde einer politischideologisch motivierten Veränderung unterzogen. Alle Einzelheiten waren von nun an unter dem Gesichtspunkt des sozialistischen Gesamtsystems zu lösen. Der Hochschullehrer war kein reiner Vermittler von wissenschaftlichen Erkenntnissen und ein Ausbilder der Studenten, sondern hatte seine Lehr- und Leitungsaufgaben als „politische Führungsfunktion[en zu] betrachten“.81 Insbesondere die neue Generation der DDR-Wissenschaftler, die in der DDR sozialisiert waren, füllte diese Aufgaben auch aus. Ab dem Mauerbau „waren die Wissenschaften in der DDR politisch soweit instrumentalisiert, daß sie auf der gesellschaftstheoretischen Ebene die verbindlichen Vorgaben der Politik nahezu widerspruchslos akzeptierten, wenn auch je individuell nicht unbedingt respektierten.“82 Die Versteifung auf die Lehre vom M-L als untrennbare Einheit von dialektischem und historischem Materialismus war spätestens zum Ende der sechziger Jahre von der Wissenschaft akzeptiert. Dabei traten die SED und ihre Politik als alleinige Hüter der theoretischen Wahrheit auf. Die Wissenschaft hatte dies lediglich theoretisch zu erforschen und letztlich für richtig zu befinden, der SED also eine ständige Legitimation ihrer Politik zu verschaffen. Dass auf Grund der WTR, die nicht ein politisch inszeniertes Ereignis war, sondern eine weltweite Verwissenschaftlichung und folgende Technologisierung in den hochentwickelten Industriegesellschaften, worauf Politik und Wissenschaften lediglich reagieren konnten, eine theoretische 80 81 82

Vgl. Laitko, Wissenschaftspolitik, S. 405–420, hier S. 413–415. Gießmann, S. 309. Burrichter, Weg, S. 22–23.

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Weiterentwicklung auf dem Gebiet des M-L hätte stattfinden müssen, wurde dabei von der SED rigoros bekämpft.83 Die Dritte Hochschulreform, wie sie hier in aller Kürze dargestellt wurde, brachte – trotz ihrer (auch aus heutiger Sicht) teilweise modernen Ansätze, wie dem Praxisbezug, der Rationalisierung von Studiengängen, der Interdisziplinarität etc. – nicht die gewünschten Erfolge. Unter dem Praxisbezug verstand man allzu oft eine eindimensionale und verengte Orientierung des Studiums auf ein eng umrissenes Berufsprofil. Die propagierte Einheit von Forschung und Lehre fand, wenn überhaupt, lediglich in den naturwissenschaftlichen und technischen Fächern statt, während es im Bereich der Gesellschaftswissenschaften eine Auftrennung von Forschung und Lehre gab. Die Gesellschaftswissenschaften wurden zudem der direkten Kontrolle der drei ZK-Institute für Gesellschaftswissenschaften, M-L und für sozialistische Wirtschaftsführung unterstellt. Sie leiteten und koordinierten entsprechende Sektionen an den Hochschulen. Auf diesem Gebiet behielt sich die Partei also eine unmittelbare Kontrolle vor.84 Die Reform hatte sich große Ziele gesteckt – bis auf den hohen Einfluss von Ideologie und Partei konnten diese aber nicht in der erhofften Form umgesetzt werden. Obwohl in ihren Ansätzen keineswegs völlig ohne Aussicht auf Erfolg, machte sich doch eine falsche Dosierung der entsprechenden Reformpunkte bemerkbar. Zudem wirkten sich die ständige Kontrolle der Partei und das innovationshemmende System des demokratischen Zentralismus negativ auf die Entwicklung der Reform und der Universität aus.

83 84

Vgl. ebd., S. 26–29. Vgl. Rexin, Wissenschaftspolitik in der DDR, S. 113.

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Literaturverzeichnis 1. Quellen (UAR = Universitätsarchiv Rostock; wenn die Archivakte keine Seitenoder Blattzählung enthält, entfällt eine entsprechende Angabe) Argumentation. Durchführung der Hochschulreform der DDR. Vom Sektor Hoch- und Fachschulpolitik o. Datum, in: UAR (Rektorat 1945– 1990, R42), Durchführung der Hochschulreform an der Univ. Rostock. Catalogus Professorum Rostochiensium: http://cpr.uni-rostock.de (14.05.2012). Darstellung der Sektion Sprach- und Literaturwissenschaft, 1968, in: UAR (Sektion Sprach- und Literaturwissenschaft, SPW 2), Sektionsgründung II. Einschätzung der politisch-ideologischen Situation unter den Hochschullehrern und wissenschaftlichen Mitarbeitern, 27.10.1970, in: UAR (Universitätsparteileitung 1946–1989 157), Berichte über die politische Führungstätigkeit der Partei und die politisch-ideologische Situation an der Universität Rostock. Entwurf für die Profilierung der Universität Rostock. 9. Juni 1967, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R919), Profilierung der Universität (Wissenschaftsentwicklung). Gemeinsame Erklärung der drei Institutsdirektoren (Germanistik, Anglistik, Slawistik) an den Minister für Hoch- und Fachschulwesen, 1968, in: UAR (Sektion Sprach- und Literaturwissenschaft, SPW 2), Sektionsgründung II. Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem. Vom 25. Februar 1965. Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Teil I, Nr. 6. Gießmann, Ernst-Joachim: Die Aufgaben der Universitäten und Hochschulen im einheitlichen Bildungssystem der sozialistischen Gesellschaft, in: Die Aufgaben der Universitäten und Hochschulen im einheitlichen Bildungssystem der sozialistischen Gesellschaft. IV. Hochschulkonferenz 2. und 3. Februar 1967 in Berlin, Berlin 1967, S. 7–72. Gießmann, Ernst-Joachim: Ziele und Aufgaben der sozialistischen Hochschulreform. Aus dem Beitrag auf der Dresdner Schrittmacherkonferenz, in: Das Hochschulwesen 16, Heft 5 (1968), S. 306–314.

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Niederschrift einer Beratung beim Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen – Arbeitsgruppe Gesellschaftswissenschaftliche Forschung – am 2.5.1968 in Berlin, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R42), Durchführung der Hochschulreform an der Univ. Rostock. Perspektivplanvorschlag der Universität Rostock, in: UAR (Rektorat 1945– 1990, R933), Perspektivplanvorschlag der Universität Rostock 1956– 1970. Protokoll der außerordentlichen Senatssitzung anlässlich des Besuchs Ulbrichts an der Technischen Fakultät der Universität Rostock am 5. Juli 1965, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R1904), Besuch des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Walter Ulbricht 1965. Protokoll der Beratung mit Gen. Prof. Kurt Hager am 30. Mai 1968 an der Universität Rostock über Probleme der Verwirklichung der 3. Hochschulreform an der Universität Rostock, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R42), Durchführung der Hochschulreform an der Univ. Rostock. Protokoll der Senatssitzung vom 21.10.1967, in: UAR (Rektorat 1945– 1990, R919), Profilierung der Universität (Wissenschaftsentwicklung). Protokoll über die Senatssitzung am Mittwoch, dem 13. Januar 1965, im Konzilzimmer, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R932), Senatskommission für die Ausarbeitung des Perspektivplanes der Universität. Protokoll über die Sitzung des Fakultätsrates der Philosophischen Fakultät am 13.3.1968, in: UAR (Philosophische Fakultät 1945–1968, Phil. Fak. 8), Profilierung der Philosophischen Fakultät. Schreiben des Staatssekretariats vom 12. Juni 1967, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R919), Profilierung der Universität (Wissenschaftsentwicklung). Schreiben vom 1. Staatssekretär und 1. Stellvertreter des Ministers des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen, Böhme, an den Rektor der Universität Rostock vom April 1968, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R42), Durchführung der Hochschulreform an der Univ. Rostock. Stand der Entwicklung der 3. Hochschulreform an der Universität Rostock, o. Datum (vermutlich 1971), in: UAR (Rektorat 1945–1990, R1916), Beratungen mit Prof. Kurt Hager. Stand, Probleme und nächste Aufgaben der Verwirklichung der Hochschulreform an der Universität Rostock vom 31.5.1968, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R44), Kommission des Rektors zur Ausarbeitung des Entwurfs des Modells einer modernen sozialistischen Universität. Thesen zur weiteren sozialistischen Entwicklung an der Universität Rostock (Hochschulreform), o. Datum, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R42), Durchführung der Hochschulreform an der Univ. Rostock.

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Ulbricht, Walter: Das Programm des Sozialismus und die geschichtliche Aufgabe der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in: Protokoll der Verhandlungen des VI. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. 15. bis 21. Januar 1963 in der Werner-SeelenbinderHalle zu Berlin, Bd. 1, Berlin 1963, S. 28–250. Ulbricht, Walter: Das neue ökonomische System und der Perspektivplan. Schlußwort auf der 14. Tagung des ZK der SED. 15.–17. Dezember 1966, in: 14. Tagung des ZK der SED. 15.–17.12.1966, Berlin 1967, S. 36–63. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968, in: Ulbrichts Grundgesetz. Die sozialistische Verfassung der DDR, 7. Aufl., Köln 1968, S. 67–110. Vorlage für die Sitzung des Wissenschaftlichen Rates am 16.9.1970, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R913), Wissenschaftsentwicklung, Profilierung und Prognose. Vorlage zur Neugestaltung des Ausbildungsablaufs in den Fachbereichen der Sektion „Sprach- und Literaturwissenschaft“, 1968, in: UAR (Sektion Sprach- und Literaturwissenschaft, SPW 2), Sektionsgründung II. Vorschläge über die künftigen profilbestimmenden Forschungsschwerpunkte der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock vom 22.3.1968, in: UAR (Rektorat 1945–1990, R 47), Profilierung der Gesellschaftswissenschaften und der Philosophischen Fakultät. Die Weiterführung der 3. Hochschulreform und die Entwicklung des Hochschulwesens bis 1975. Beschluß des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik vom 3. April 1969, in: Die Weiterführung der 3. Hochschulreform und die Entwicklung des Hochschulwesens bis 1975. Materialien der 16. Sitzung des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik vom 3. April 1969, Berlin 1969 (= Schriftenreihe des Staatsrates 8), S. 113–151.

2. Forschungsliteratur Berka, Karel / Kosing, Alfred: Die Wissenschaft von der Wissenschaft. Philosophische Probleme der Wissenschaftstheorie, Berlin 1968. Burrichter, Clemens: Auf dem Weg zur „Produktivkraft Wissenschaft“. Essayistische Bemerkungen zu einer wissenschaftstheoretischen Untersuchung im Rahmen einer gesellschaftswissenschaftlichen DDRForschung, in: Burrichter, Clemens / Diesener, Gerald (Hg.): Auf dem

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Weg zur „Produktivkraft Wissenschaft“, Leipzig 2002 (= Beiträge zur DDR-Wissenschaftsgeschichte, Reihe B 1), S. 15–38. Engels, Friedrich: Dialektik der Natur, 6. Aufl., Berlin 1971 (= Bücherei des Marxismus-Leninismus). Förtsch, Eckart: Wissenschafts- und Technologiepolitik in der DDR, in: Hoffmann, Dieter / Macrakis, Kristie (Hg.): Naturwissenschaft und Technik in der DDR, Berlin 1997, S. 17–34. Geschichte der Universität Rostock 1419–1969. Festschrift zur Fünfhundertfünfzig-Jahr-Feier der Universität, Bd. 2, Die Universität von 1945–1969, Berlin 1969. Heidorn, Günter: Die Dritte Hochschulreform – Versuch einer Verbesserung der Leitung und Planung im Hochschulwesen der DDR, in: Krüger, Kersten (Hg.): Die Universität Rostock zwischen Sozialismus und Hochschulerneuerung. Zeitzeugen berichten, Teil 1, Rostock 2007 (= Rostocker Studien zur Universitätsgeschichte 1), S. 40–43. Klotz, Hans / Rum, Klaus: Über die Produktivkraft Wissenschaft, Teil 1, in: Einheit 2 (1963), S. 25–31; Teil 2, in: Einheit 3 (1963), S. 40–49. Krause, Konrad: Alma Mater Lipsiensis. Geschichte der Universität Leipzig von 1409 bis zur Gegenwart, Leipzig 2003. Laitko, Hubert: Wissenschaftspolitik, in: Herbst, Andreas / Stephan, GerdRüdiger / Winkler, Jürgen (Hg.): Die SED. Geschichte, Organisation, Politik. Ein Handbuch, Berlin 1997, S. 405–420. Lambrecht, Wolfgang: Wissenschaftspolitik zwischen Ideologie und Pragmatismus. Die Dritte Hochschulreform (1965–71) am Beispiel der TH Karl-Marx-Stadt, Münster u. a. 2007 (= Internationale Hochschulschriften 496). Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–89, 2. Aufl., Bonn 1997 (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung 346). Pommerin, Reiner: Geschichte der TU Dresden 1828–2003, Köln u. a. 2003 (= 175 Jahre TU Dresden 1). Rektor der Universität Rostock (Hg.): Mögen viele Lehrmeinungen um die eine Wahrheit ringen. 575 Jahre Universität Rostock, Rostock 1994. Rexin, Manfred: Die Entwicklung der Wissenschaftspolitik in der DDR, in: Ludz, Peter Christian (Hg.): Wissenschaft und Gesellschaft in der DDR, 2. Aufl., München 1971, S. 78–121. Rossmann, Gerhard: Geschichte der SED. Abriß, Berlin 1978.

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Annemarie Mieth

Deutschlehrerausbildung an der Karl-Marx-Universität Leipzig: Entwicklungen – Zäsuren – Verluste 1. Da der subjektive Blickwinkel in meinem Beitrag eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen wird, erlaube ich mir, zunächst Folgendes zur Person zu sagen: Ich spreche zu Ihnen als Tochter eines so genannten ‚Altlehrers‘, der 1947 aus englischer Kriegsgefangenschaft kam und seinen Beruf als Elementarlehrer, angeeignet am Seminar Dresden-Plauen, nicht mehr ausüben durfte, einen zweiten, nämlich den des Maurers, erlernte und mich damit zum Arbeiterkind machte, dem somit die Oberschule in Meißen und der Studienplatz in Leipzig problemlos offenstanden. Während er mit Bruchsteinen hantierte und Mauerverbände büffelte, ist mir der Deutschunterricht bei einer sehr engagierten ‚Neulehrerin‘ unvergessen. Sie bat mich oft, meinen Vater nach einem bestimmten Buch, literarischen Text oder ähnlichem zu fragen – dass er ihr das Erbetene immer ganz selbstverständlich lieh, freut mich bis heute. Er selbst war später wieder als Lehrer an einer Berufsschule tätig, unter anderem für das Fach Deutsch. Ebenso selbstverständlich half mein Vater auch mir: bei meinen ersten Unterrichtslektionen im Rahmen der schulpraktischen Ausbildung. Seinen nachdrücklichen Hinweis, jede Unterrichtsstunde müsse schön und lebendig wie ein Kunstwerk sein, nahm ich als seinen Erfahrungswert auf und erkannte erst sehr viel später, dass er aus dem Umkreis der Kunsterziehungsbewegung und der Arbeitsschulpädagogik stammte – von Richard Seyfert, dem zeitweiligen sächsischen Kultusminister und Initiator der akademischen Lehrerbildung in Sachsen, mit der Schrift „Die Unterrichtslektion als Kunstform“ bereits 1916 zur Forderung erhoben. Ich spreche zu Ihnen aber auch als die Frau eines so genannten ‚Neulehrers‘, den ich beim Germanistik- bzw. Deutschlehrerstudium an der Karl-

Deutschlehrerausbildung an der Karl-Marx-Universität Leipzig

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Marx-Universität in Leipzig (KMU) kennengelernt habe; er war seinerzeit der jüngste Neulehrer Sachsens, wollte also den „Versuch des Neubeginns“1 in der SBZ und frühen DDR mitgestalten und hat sich den Weg zum Universitätsstudium über eine Sonderreifeprüfung erworben. (Genauer kennengelernt haben wir uns im „Komitee für gesamtdeutsche Arbeit“ des damaligen Instituts für Germanistik, denn um 1956/57 wurde auch an der Universität Leipzig noch um die Einheit Deutschlands gerungen.)2 Und damit drittens: mein Deutschlehrerstudium von 1954 bis 1959. Das bedeutete zum einen die unbestrittene Dominanz der Fach- gegenüber der Pädagogik-Ausbildung: die Namen Hermann August Korff, Hans Mayer, Eberhard Haufe, Theodor Frings, Elisabeth Karg-Gasterstädt, auch Ernst Bloch, belegen dies hinlänglich – Vorlesungen zum „Geist der Goethezeit“ bei Korff, zur Wortbildungslehre und Syntax bei Frings, allein zwölf Lehrveranstaltungen bei Hans Mayer – zu Problemen der Gegenwartsliteratur, zu Friedrich Schiller, E. T. A. Hoffmann, Bertolt Brecht, zu Goethes „Faust“ usw. – prägten mich und die Mehrzahl meiner Kommilitonen nachhaltig. Wolfgang Brekle, 1955–1960 Lehrerstudent an der KMU und später Professor an der Pädagogischen Hochschule Leipzig, stellt in seinem informativen, aus der Zeitzeugenschaft verfassten Aufsatz über das „Bild des Literaturlehrers in der DDR“ fest: Ein Unterschied zwischen der Ausbildung an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen bestand trotz der Gleichheit der Pläne i. allg. in der andersgearteten Orientierung: dem stärkeren Fachbezug an den Universitäten einerseits und dem stärkeren Bezug auf die Tätigkeit als Lehrer an den pädagogischen Hochschulen andererseits, zumal deren Lehrkräfte oft selbst Lehrer gewesen waren.3

Der bereits erwähnte Versuch des Neubeginns, der nicht nur den radikalen Bruch mit faschistischen Lehrinhalten, sondern auch die behutsame Wiederaufnahme reformpädagogischen Gedankenguts postulierte, hätte auch die universitäre Ausbildung der Deutschlehrerstudenten mitformen können. Denn am Institut für Pädagogik in der Gustav-Freitag-Straße in Leipzig-Connewitz lehrten mit Hugo Müller und Paul Wagner ausgewiesene Reformpädagogen der zwanziger und dreißiger Jahre: Mein Studienbuch weist für das 1. Studienjahr 1954/55 zweistündige Vorlesungen zu „Systematischer Pädagogik“ bei Hugo Müller und für das 3. Studienjahr 1956/57 vierstündige Lehrveranstaltungen zur „Methodik des Deutschunterrichts“ bei Paul Wagner aus. 1 2

3

Vgl. Zimmer, Neubeginn. Prof. Dr. sc. Dr. h.c. Günter Mieth, 1976–1992 ord. Prof. für deutsche Literaturgeschichte an der Karl-Marx-Universität Leipzig, erhielt 1989 die Ehrendoktorwürde der Universität Lyon II Lumières auf Grund seiner Forschungen und seiner Verdienste für die partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen französischen Universitäten (bes. Lyon II, Rennes II und Besançon) und dem Fachbereich Germanistik der KMU Leipzig. Brekle, Bild, S. 164.

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Am Beispiel des Letzten ist mir im Nachhinein allerdings deutlich geworden, dass der reformpädagogisch geprägte Versuch des Neubeginns nach 1945 Mitte der fünfziger Jahre bereits verdrängt wurde und zu den Verlusten der Lehrerausbildung in der frühen DDR gezählt werden muss: Wir Deutschlehrerstudenten erfuhren von Paul Wagner so gut wie nichts über seine zeitgeschichtlich bedeutenden Aktivitäten im Leipziger Lehrerverein, über seine Bemühungen um die Einrichtung von Schülerbüchereien, seine Initiativen im Jugendschriftenausschuss, überhaupt von den reformpädagogischen Grundsätzen kind- und schülergerechten Umgangs mit Sprache und Literatur – etwa von der Prämisse, der Deutschlehrer solle ein „persönliches Verhältnis zwischen Kind und Buch“ herstellen, die „notwendige innere Verbindung zwischen dem Sprachgestalten des Dichters und dem eigenen Sprachschaffen des Kindes“ erkennen und für einen tätigen Deutschunterricht nutzen.4 Erst bei meinen Erkundungen für die Dissertation B (Habilitationsschrift) Mitte der achtziger Jahre, die sich mit der „Einheit von Sprachbildung und Literaturaneignung“ in der Reformpädagogik beschäftigte5, vermochte ich die Ideale und Verdienste meines früheren Deutschmethodik-Professors in ihrer historischen und aktuellen Bedeutung einzuschätzen. Dieses – wie ich mit gebotener Vorsicht formulieren möchte – Defizit ist nicht allein subjektiv begründbar. Vielmehr signalisiert es übergreifende Entwicklungen: so vor allem die gezielt betriebene Rezeption der „Sowjetpädagogik“ in der frühen DDR. Hugo Müller, vor seiner Lehrtätigkeit an der KMU Leipzig Dozent am Institut für (Neu-)Lehrerbildung in Lauba, las dazu als „Professor für Systematische Pädagogik“ – nach meiner Erinnerung ohne wirklich zu überzeugen oder gar mitzureißen. Christine Lost schreibt in ihrer im Jahr 2000 erschienenen akribischen und materialreichen Analyse zu Wandlungen, Wirkungen und Wertungen der Sowjetpädagogik in der Bildungsgeschichte der DDR: „In der SBZ/DDR erreichte ‚Sowjetpädagogik‘ ihre vorrangige Wirksamkeit nach 1948/49 als Lehre und seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre als Prinzipien- und Programmsystem“6. Sie belegt dies u. a. mit dem 1946 von Otto Karstädt vorgelegten Planentwurf für ein „Lehrbuch der Pädagogik“, mit dem dieser – als Arbeitsschulpädagoge bekannt durch die drei Bände „Dem Dichter nach. Schaffende Poesiestunden“ (1925–33) – Positionen der ‚Sowjetschule‘ und der Reformpädagogik gleichermaßen berücksichtigen wollte. Sein Planentwurf wurde jedoch verworfen. Die von Lost herausgearbeiteten weiteren Etappen und Wirkungsweisen erhellen die Brüche, die ich schon andeutete und um die es in meinem 4 5 6

Wagner, Einzelschrift. Mieth, Literatur. Lost, Sowjetpädagogik, S. 27.

Deutschlehrerausbildung an der Karl-Marx-Universität Leipzig

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Beitrag auch in übergreifendem Sinne geht: Nachdem Sowjetpädagogik unmittelbar nach 1945, speziell in der praxisorientierten Neulehrerausbildung, als wesentlicher Bestandteil des antifaschistischen und anti-doktrinären Neubeginns rezipiert und dabei an reformpädagogisches Erbe in der Sowjetunion, besonders das Wirken der Krupskaja, erinnert wurde, vermittelten ab 1948/49 die Pädagogik-Lehrbücher von Jessipow-Gontscharow und Ogorodnikow-Schimbiriew, ein anderes ‚Lehrgebäude‘, das eher als Prüfungs- denn als praxisrelevantes Wissen gelernt wurde. Und vor allem: Bewahrenswertes der Arbeitsschule wurde von Lehrpositionen verdrängt, denen man das Attribut neu und damit den Schein der Unfehlbarkeit verlieh. Aber auch hier gilt das, was Wolfgang Brekle als – mehr oder minder stark ausgeprägte – Divergenz in der Ausbildung der Deutschlehrstudenten betont, nämlich dass die „Veränderungen und die Differenzen zwischen amtlicher Zielstellung [und damit auch ‚amtlich‘ sanktionierter Lehre, A. M.] und der Praxis der Ausbildung“7 in allen Etappen wirksam waren, sowie sehr stark von Personen abhingen – und ich darf noch einmal zu meiner Studienzeit zurückkehren: Im ersten so genannten ‚Kleinen Praktikum‘ an der damaligen Wilhelm-Wander-Schule in Leipzig erhielt ich einen Mentor, der – wie ich auch erst später erfuhr – Reformpädagoge gewesen war und der mich konsequent zu einem schülerzugewandten, nicht am Stoff oder an Lehrplanvorgaben klebenden Deutschunterricht anhielt (das erste Lob erhielt ich von ihm, als ich einmal herzhaft mit der ganzen Klasse zusammen gelacht hatte!). Eine solche – außerordentlich nachhaltige – Theorie-PraxisKonstellation war glücklicherweise nicht selten.

2. Die Einheit oder besser: das Zusammengehen von theoretischer Ausbildung der Deutschlehrerstudenten und der möglichst frühen unterrichtspraktischen Erprobung wurde, wie hinlänglich bekannt, in der DDR konsequent verfolgt. Ich selbst war seit 1972 im Status einer „Lehrerin im Hochschuldienst“ (LHD) am Fachbereich „Methodik des Deutschunterrichts“ der KMU daran beteiligt, füge jetzt also dem dezidiert subjektiven Blickwinkel den deutschmethodischen hinzu. Ehe ich genauer auf den Theorie-Praxis-Bezug eingehe, möchte ich auf ein Grundproblem verweisen, das sowohl die Ausbildung der Deutschlehrerstudenten als auch die Ausbildung der Deutschmethodik (resp. Fachdidaktik Deutsch) als Wissenschaftsdisziplin in der DDR außerordentlich 7

Brekle, Bild, S. 159.

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stark beeinflusste. Dazu hat mir Professorin Brunhilde Schrumpf, seit 1971 Hochschullehrerin am genannten Bereich und – dies ist von zusätzlicher Relevanz – von 1964 bis 1989 geschäftsführende Sekretärin der „Zentralen Fachkommission für Methodik des Deutschunterrichts beim Ministerium für Volksbildung“ (MfV) und beim „Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen“ (MHF) ein aufschlussreiches Gespräch gewährt. Die Perspektive dieser Zeitzeugin bringt Fakten und Wertungen ein, die aus meiner Sicht so unmittelbar nicht zu leisten wären. Zumal der Leiter der Methodikkommission von 1964 bis zu seinem Tod 1987 Joachim Riehme war, Professor für Methodik des Deutschunterrichts an der KMU und u. a. Verfasser des auch in der alten Bundesrepublik erschienenen Lehrbuchs „Probleme und Methoden des Rechtschreibunterrichts“. In der genannten Kommission fanden – ich zitiere Schrumpf – oft „heftige Auseinandersetzungen mit den Vertretern des Ministeriums für Volksbildung und Vertretern der Akademie für Pädagogische Wissenschaften (APW)“ statt, da dieses nachhaltig und folgenreich einen ideologiebetonten, also sozialistischen Einfluss auf die Deutschlehrerausbildung nahm. Wir Fachbereichsmitarbeiter und unsere Deutschlehrerstudenten waren also ‚unmittelbar Betroffene‘, möglicherweise aber auch Nutznießer der heftigen – dank der fachlichen und moralischen Kompetenz vor allem Professor Joachim Riehmes – manches Problem im Vorhinein entschärfenden Auseinandersetzungen.8 Allerdings wäre es naiv anzunehmen, dass sich das Bestreben nach einer primär praxis- und fachbezogenen Sicht der Leipziger (und anderer) Vertreter in der Methodikkommission immer hätte durchsetzen können. Zwei Dokumente beweisen das Gegenteil und seien dazu vergleichend herangezogen: 1.) das „Studienprogramm für die Ausbildung der Lehrer für die Oberstufe der allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule in der Methodik des Faches Deutsche Sprache und Literatur“ von 1966, erarbeitet von Mitgliedern der Studienprogrammkommission unter Leitung von Joachim Riehme, KMU Leipzig, und bestätigt von der „Kommission Lehrerbildung“ des Ministeriums für Volksbildung und des Staatssekretariats für das Hoch- und Fachschulwesen; 2.) das „Studienprogramm für die Ausbildung der Fachlehrer der allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule im Fach Methodik des Unterrichtsfaches Deutsche Sprache und Literatur“ von 1970 (erarbeitet und bestätigt wie der Vorläufer). 8

Mieth, Annemarie: ‚Handlungswissenschaft‘ Deutschmethodik. Nach Protokollen der Zentralen Fachkommission Methodiken des Unterrichtsfaches Deutsche Sprache und Literatur. (Beitrag auf der Tagung der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg „Vom Neuanfang 1945 bis Pisa“, November 2007.)

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Das Dokument von 1966 geht vom Gegenstand der Deutschmethodik aus und betont von Beginn an dessen Zweiteilung in Muttersprach- und Literaturmethodik, leitet davon unterschiedliche Aufgabenstellungen ab und hebt danach „ihre enge Zusammengehörigkeit im Dienste der Erziehung sozialistischer Persönlichkeiten“ hervor. Unter den Zielen und Aufgaben der Ausbildung wird an erster Stelle gefordert, dass „der Studierende gründlich und systematisch mit den Problemen und Aufgaben des Deutschunterrichts“ vertraut gemacht wird und dass er lernen soll, „Gesetzmäßigkeiten in der Unterrichtsführung zu erkennen“, um einen qualifizierten Unterricht erteilen zu können. Am Ende der fachmethodischen Ausbildung soll der Studierende in der Lage sein, „sein methodisches Vorgehen theoretisch zu begründen“, „Vorzüge und Mängel seines Unterrichts“ zu erkennen und so eine sachliche und selbstkritische Einstellung zu seiner Arbeit zu erlangen. Darüber hinaus – und das ist für die Leipziger Federführung besonders aussagekräftig bzw. charakteristisch – sei anzustreben, dass der Studierende durch eigene „wissenschaftlich-produktive Tätigkeit Interesse an der Fachmethodik gewinnt“, die Entwicklung dieser Wissenschaftsdisziplin bewusst verfolgt und „nach Kräften zu deren Vervollkommnung“ beiträgt.9 Diese zupackende, ganz geradlinig auf die Studien- und Lehrqualitäten künftiger Deutschlehrer zugehende Art ist im Dokument von 1970, wenn nicht verlorengegangen, so doch in die zweite Reihe gedrängt. Es heißt dort (S. 4): Die Ziele und Aufgaben der Ausbildung im Fach Methodik des Deutschunterrichts ergeben sich generell aus den gesellschaftlichen Forderungen an die Bildung und Erziehung der jungen Generation in der Deutschen Demokratischen Republik, wie sie im Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in Beschlüssen von Partei und Regierung, in der Verfassung der DDR, im Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem und in anderen bedeutsamen Dokumenten der Partei- und Staatsführung der DDR ihren konkreten Ausdruck finden.

Als seien Zielsetzung und Aufgabenstellung noch nicht genau genug abgesichert, wird weiterhin auf den „Staatsratsbeschluss zur weiteren Durchführung der 3. Hochschulreform“ und der „Konzeption der perspektivischen Entwicklung der Ausbildung von Fachlehrern der allgemeinbildenden Oberschule der DDR für den Zeitraum von 1968 bis 1980“ verwiesen.10 Mit dieser ideologischen Überfrachtung, die – wie wohl auch jetzt noch beim Lesen oder Hören mitzuerleben ist – geradezu zum ‚Überblättern‘ verführt, ist einer der Hauptgegenstände der heftigen Auseinandersetzungen benannt, von denen Brunhilde Schrumpf berichtet und die u. a. von 9

10

Studienprogramm für die Ausbildung der Lehrer für die Oberstufe der allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule in der Methodik des Faches Deutsche Sprache und Literatur. Manuskriptdruck, Volk und Wissen Volkseigener Verlag Berlin 1966, S. 5–6 (alle Zitate). Studienprogramm Methodik des Unterrichtsfaches Deutsche Sprache und Literatur. Manuskriptdruck MfV und MHF Berlin Juni 1970, S. 4.

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Leipziger Seite her im Sinne der eigentlich inhaltlichen Ausgestaltung der Deutschlehrerausbildung auf dem Gebiet der Methodiken geführt wurden. Zur Verdeutlichung des hartnäckigen Ringens um eine qualitativ und quantitativ solide Fachausbildung der Deutschlehrerstudenten sei ein weiteres Dokument herangezogen: Die „Entwicklungskonzeption Muttersprachmethodik und Literaturmethodik“ von 1986, „ausgearbeitet von einer Arbeitsgruppe der ZFK Methodiken: Gerhart Dittmann, Waldemar Freitag, Hartmut Herrmann, Joachim Riehme, Lothar Tille, Johannes Zech.“11 Auf 21 maschinenschriftlichen Druckseiten wird zur „Funktion und Entwicklung der Unterrichtsfächer Muttersprachunterricht und Literaturunterricht im System der sozialistischen Allgemeinbildung“, zum „Problem der Einheit des Faches Deutsche Sprache und Literatur“ und zur „Weiterentwicklung von Muttersprach- und Literaturmethodik“ Entscheidendes festgeschrieben. Obwohl alle drei Problemfelder für die Studien- und Lehrbefähigung zukünftiger Deutschlehrer in der DDR wesentlich waren, gehe ich im Folgenden insbesondere auf das letztgenannte ein. Nach einer äußerst knappen historischen Reminiszenz, bei der es z. B. Reformpädagogik, Arbeitsschulidee, selbständigen Umgang mit Literatur im Gaudigschen Sinne oder ähnlich Konstruktives nicht gibt, geht das Dokument davon aus, dass sich vor allem seit den sechziger Jahren „in der Deutschmethodik der DDR eigenständige Fragestellungen und das Suchen nach selbständigen Lösungen im Sinne der methodischen Theorie“ entwickelt haben. Die nachdrückliche Betonung der Eigenständigkeit bezieht ganz offenbar auch das ein, was Lost im Zusammenhang mit der Aufnahme von Sowjetpädagogik (auch von ihr ist hier nicht die Rede) bzw. von dem Bestreben festgestellt hat, in der DDR eine originale, „neue“ Pädagogik zu etablieren. Der genannte Prozess, so im Dokument von 1986, wurde durch vier wesentliche gesellschaftliche Tendenzen stimuliert, nämlich – – – –

11

die immer höheren Anforderungen an die Entwicklung sozialistischer Persönlichkeiten, die dazu notwendige Effektivierung der muttersprachlichen und literarästhetischen Bildung und Erziehung, die weiterführenden Forschungsergebnisse und Fragestellungen der marxistischen Persönlichkeits- und Tätigkeitstheorie, die Forschungsergebnisse der Fachwissenschaften, mit denen die Deutschmethodiken kooperieren, etwa zum kommunikativen Charakter der Sprache bzw. zur Rezeption. Entwicklungskonzeption Muttersprachmethodik und Literaturmethodik. Maschinenschriftliches Manuskript o.J. [1986], S. 1–21.

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Den entscheidenden Impuls – so wird festgestellt – erfuhr die deutschmethodische Ausbildung der Lehrerstudenten, nachdem sie bis Mitte der sechziger Jahre in vier selbständige Disziplinen – Orthographie-, Grammatik-, Ausdrucks- und Literaturmethodik – gegliedert war, durch den Prozess der Differenzierung und Integration der wissenschaftlichen Lehrgebiete in „zwei selbständige Methodiken“: die Methodik des Muttersprach- und die des Literaturunterrichts. Sie etablierten sich mit allen daraus erwachsenden Konsequenzen (aus meiner damaligen subjektiven Mitarbeiter- bzw. Mittelbau-Sicht auch einengend-negativen) und wurden als „pädagogische Handlungswissenschaften“ begriffen, die eigenverantwortlich für die „Einheit von Lehre und Forschung“, speziell für den entsprechenden „Forschungsvorlauf“ einzustehen hatten: Durch die Germanistikkonzeption des MHF und des MfV bis 1990 wurden die Positionen gesetzt, die notwendigen Forschungskapazitäten zu schaffen, durch zielstrebige Kaderentwicklung in beiden Methodiken die entsprechende Qualität der Lehre zu erreichen, die Hochschullehrer planmäßig zu entwickeln, langfristig Lehrstühle für beide Methodiken an allen Hochschulen und Universitäten einzurichten, um die erforderliche Einheit als wichtigen Grundsatz zu verwirklichen.12

Intensivierung der Kaderentwicklung auf Hochschullehrer- und Mitarbeiterbasis (plus: Schaffen von Stellen!) sowie Intensivierung der fachdidaktischen Forschung mit konsequentem Theorie- Praxis-Bezug auch – und gerade – unter Einbeziehung der Studierenden selbst: dazu soll im Folgenden dritten Problemkreis gesprochen werden.

3. Zunächst zur Qualität der Lehre. Als hauptsächliche Konsequenz aus der „Entwicklungskonzeption“ von 1986 galt – „bei allen Studenten [...] Könnensqualitäten zu gewinnen, um das Bedingungsgefüge des Muttersprachund Literaturunterrichts zu überschauen und erfolgreich im Unterricht bewältigen zu können“.13 Es wurde betont, dass sich diese wissenschaftliche Befähigung nicht in einer Einbahnstraße Uni via Schule festfahren, sondern dass alle Lehrveranstaltungen zwar „die fortschrittliche Praxis“ erfassen, sich zugleich aber in dieser selbst weiterentwickeln und unmittelbar in ihr forschen sollten. Naheliegendes Beispiel für diese Einheit von Lehre, Schulpraxis und Forschung kann die Qualifizierung bzw. Graduierung der wissenschaftlichen Mitarbeiter sein. Ich selbst promovierte – nach siebenjähriger Lehrer12 13

Ebd., S. 9–10. Ebd., S. 13.

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tätigkeit an der EOS Leibniz in Leipzig und einem dreijährigen Auslandseinsatz an der Universität Algier – 1976 zu einem Thema innerhalb des methodisch-lernpsychologischen Forschungsschwerpunktes „Könnensentwicklung“ an der KMU Leipzig: anhand lehrplangebundener epischer Texte der Klassenstufen 9 und 10 (u. a. von Aitmatow, Gorki, Hemingway, Thomas Mann, Seghers, Arnold Zweig) sollte das literarästhetische Wesen des Erzählens, speziell seine Potenzen für eine aktive Rezeption durch die Schüler theoretisch aufgearbeitet und praktisch erprobt werden. Da ein System von Prä-, Haupt- und Posttest an zwei verschiedenen Schulen für methodische Dissertationen unumgänglich war, stellte diese Art der Promotion zugleich eine spezifische Form des Theorie-Praxis-Bezugs sowie der Lehrerweiterbildung dar; denn die Deutschlehrer der entsprechenden Versuchs- und Kontrollklassen waren an der Erprobung beteiligt. Andererseits konnte ich meine Erfahrungen aus der Lehrtätigkeit in Algier mit wissenschaftlichen Erkenntnissen der westdeutschen Germanistik zur Gattungsund Genrespezifik des Epischen gezielt einbringen und schülerbezogen umsetzen – so z. B. die Aussagen Wolfgang Isers zum „impliziten Leser“ (1972), Franz K. Stanzels zu „typischen Formen des Romans“ (1964) oder Eberhard Lämmerts zu den „Bauformen des Erzählens“ (1955). Dass dies auch meine Lehrtätigkeit in Seminaren und schulpraktischen Übungen mitprägte, sei erwähnt. Eine weitere Intensivierung der literaturmethodischen Forschungsarbeit unmittelbar in der Unterrichtspraxis erfolgte mit der Wahl einer ‚Forschungsschule‘, der Polytechnischen Oberschule „Juri Gagarin“ in LeipzigSüd, für die ich – obwohl nur Lehrerin im Hochschuldienst – verantwortlich war. Der erste Forschungsschwerpunkt, den wir – wiederum fast ausschließlich am Beispiel lehrplangebundener Stoffe – verfolgten, bezog sich auf die sprachkünstlerische Gestaltung literarischer Texte sowie deren Potenzen für die aktive, schöpferische Aneignung durch die Schüler, für ihren vorstellungsreichen, kreativen, handelnden Umgang mit Literatur. Dass hierbei sowohl der Ideologisierung von Kunst14 entgegengesteuert als auch reformpädagogisches und kunsterzieherisches Gedankengut eingebracht werden konnte, leuchtet ein. Diese Form zielgerichteter Teilnahme von Kolleginnen und Kollegen der Schulpraxis an der deutschmethodischen Forschung stellte eine besonders intensive, theoretisch anspruchsvolle Form ihrer berufsbezogenen Weiterbildung dar – regelmäßige jährliche Weiterbildung mit erbrachten Nachweisen war ja Bestandteil ihres Ferien-Pflicht-Programms. Als Lehrende traten dabei auch Vertreter der Fachwissenschaften auf (bis heute wirken zum Beispiel die Veranstaltungen von Professor Walfried Hartinger zur un14

Zu diesem Problemkreis vgl. u. a. Jonas, ‚Ideologieschübe‘.

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mittelbaren Gegenwartsliteratur der DDR – und folglich meist nicht lehrplangebundener Texte – nach). Besondere Sorgfalt wurde – und damit beziehe ich mich wieder expressis verbis auf das Gespräch mit Brunhilde Schrumpf – , auf die gezielte Teilnahme von Studenten an der empirischen Forschung in der Praxis resp. an der Erprobung fachdidaktischer Theorie in der Schule gelegt. Nicht nur die so genannten Forschungsstudenten, sondern alle Absolventen, die die Diplomarbeit auf dem Wissenschaftsgebiet Methodiken des Deutschunterrichts schreiben wollten, wurden in das Konzept der jeweiligen universitären Forschungsgruppen einbezogen, erhielten von da ihre Themen, hatten Zwischenberichte abzulegen sowie ihre Arbeiten öffentlich, das heißt unter aktiver Teilnahme der übrigen Absolventen und des gesamten Fachbereichs zu verteidigen. (Es ist müßig, daran zu erinnern, dass die deutschmethodischen Fachbereiche zu DDR-Zeiten ein quantitativ anderes Aussehen hatten, als es heute der Fall ist: Als die Leipziger Pädagogische Hochschule 1990 abgewickelt wurde und die Methodiken an die Universität kamen, reduzierten sich die Stellen von 30 auf vier; seit Mitte der neunziger Jahre sind es – und zwar bis heute – zwei!).15 In Bezug auf die bereichsoffene Verteidigung der Diplomarbeiten weiß ich aus eigener Erfahrung, dass dies in der Regel gehaltvolle, von hohem Verantwortungsbewusstsein und engagiertem Berufsbezug geprägte studentisch-wissenschaftliche Veranstaltungen waren. Ein Herzstück der einphasigen Deutschlehrerausbildung16, an deren Ende rein rechtlich die vollwertige Lehrkraft – ohne einen nochmaligen lernenden Ansatz als Referendar – stand, stellten zweifellos das fünfmonatige ‚Große Schulpraktikum‘ in der zweiten Hälfte des 5. Studienjahres sowie während des Studiums die schulpraktischen Übungen (SPÜ) dar. Letztere galten der zielstrebigen Vereinigung von fachlichem Wissen, methodischer bzw. fachdidaktischer Theorie und pädagogisch-unterrichtlicher Erfahrung. Seit 1966 waren sie für je ein Semester im 3. und im 4. Studienjahr festgeschrieben (an unserem Fachbereich schwelte zeitweilig der Streit, ob die Methodik der Muttersprache den Anfang machen sollte, weil sie ‚leichter‘ zu vermitteln sei als die Literaturmethodik – man einigte sich auf qualitative Gleichrangigkeit, auch wenn man mit der Erstgenannten begann). Die SPÜ, in Gruppen von sechs, maximal acht Studenten, wurden von Methodikern geleitet, nur in Ausnahmefällen von erfahrenen Mentoren, also Lehrkräften in den Schulen; sie begannen mit einer gemeinsamen Hos15 16

Zur Situation der DDR-Germanistik nach 1990 vgl. Weimar, Evaluationskultur. Vgl. dazu Mieth/Seifert, Deutschlehrerausbildung. Bereits 1991 hatte Jörg Schlewitt, bis zu diesem Zeitpunkt „Professor für Methodik des Deutschunterrichts“ (mit Schwerpunkt Literaturmethodik) an der KMU Leipzig, auf dem Augsburger Germanistentag „Zu den kulturpolitischen Rahmenbedingungen der Deutschlehrerausbildung in der ehemaligen DDR“ gesprochen und die Hoffnung geäußert, dass die Vorteile der praxisbezogenen, in sich geschlossenen universitären Lehrerausbildung bewahrt werden könnten.

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pitation in der jeweiligen Klasse und deren Auswertung vorwiegend unter pädagogisch-psychologischen Gesichtspunkten, sowie dem ersten Erfassen des didaktisch-methodischen Vorgehens der Lehrkraft. Unter stärkerem Theoriebezug erfolgte danach eine Demonstrationslektion der jeweiligen Uni-Lehrkraft, wobei es – wie in allen folgenden Übungen – immer auch um das Erörtern von didaktisch-methodischen Varianten und deren Konsequenz für den Unterrichtsverlauf, besonders für die aktive Mitgestaltung des Prozesses durch die Schüler und deren Könnensentwicklung, ging. Die Unterrichtsversuche der Studierenden selbst umfassten eine Konsultation mit schriftlicher Vorbereitung, aus der die lehrplangebundenen Zielstellungen der Stunde, die zeitliche Planung, die stoff- und schüler- bzw. klassenstufenabhängige methodische Struktur, die wesentlichen Impulse bzw. Schritte der Führungstätigkeit des Lehrers, die planbaren könnensund stoffabhängigen Schülertätigkeiten sowie knappe Aussagen zu Unterrichtsmitteln u.ä. hervorgehen mussten. Mitte der achtziger Jahre setzte sich bei uns die Anforderung durch, die Tätigkeit(en) der Schüler vor der des Lehrers ins Auge zu fassen und zu planen – eine nur scheinbar minimale Konsequenz aus dem übergreifenden Bemühen, den selbständigen, kreativ Lernenden zum Angelpunkt der Unterrichtsprozesse zu machen. Aus zahlreichen Konsultationen weiß ich, dass dies tatsächlich keine formale Umstellung im Theorie-Praxis-Denken der Studierenden bleiben musste. Nach der – bei mehr oder minder geringer Aufregung – gehaltenen Unterrichtsstunde erfolgte die Auswertung in der Gruppe, wobei der ‚Delinquent‘ das erste Wort erhielt. Insgesamt kann gesagt werden, dass die Studierenden diese Art von schulpraktischen Übungen sehr schätzten, auch um ihre Eignung für den Lehrerberuf zu überprüfen (die allerdings schon mit der Immatrikulation so gut wie endgültig festgemacht war).

4. Der Situation um 1990 angenähert, schließe ich abrupt. Abwägende Darstellungen der negativen und der positiven Tendenzen, die auf die Deutschlehrerausbildung in der DDR wirkten, liegen verhältnismäßig zahlreich vor; unter dem von mir gewählten Blickwinkel würde ich wie folgt resümieren: 1.) Obwohl die Deutschmethodik an der KMU Leipzig nicht der Pädagogik, sondern der Germanistik zugeordnet war, war sie doppelt unterstellt: unter das „Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen“ einerseits und das „Ministerium für Volksbildung“ (MfV) andererseits. Das

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brachte Konflikte mit sich, die sich – auch wenn sie kaum thematisiert wurden – negativ auf die selbständige, kreative Arbeit auswirken konnten. Was wissenschaftstheoretisch in der Forschung und zum Teil in der Lehre möglich war, stieß bei der unmittelbaren Einflussnahme auf die Schulpraxis auf hemmende Grenzen. (Ich selbst hatte ein äußerst negatives Erlebnis mit Liesel Rumland, Vertreterin des MfV, als ich Texte von Anna Seghers anders als im Lehrplan vorgesehen auswählen und für die allgemein gültigen „Unterrichtshilfen“ aufbereiten wollte: „Da kann doch nicht jeder machen, was er will“, lautete der ärgerliche Bescheid selbst bei einem vergleichsweise so geringen Vorstoß auf Planänderung.) 2.) Kaum zu rütteln war an den politisch-ideologischen Vorgaben des MfV – sie in der Schulpraxis zu unterlaufen oder freier auszulegen erforderte Selbstvertrauen, Können und ein Halt gebendes Umfeld. 3.) Da ich den Vorteil gehabt habe, seit 1992 unter ‚gewendeten‘ Bedingungen als „Professorin für Fachdidaktik Deutsch“ an der Universität Leipzig arbeiten zu können (mein Vater hat sich noch, hochbetagt und schwer krank, über meine Berufung freuen können!), möchte ich auch mit dieser Erfahrung Aussagen machen, und zwar kritische. Ich fürchte, dass die – trotz aller Beschränkung – hohe Wertschätzung der Deutschmethodik in der DDR und ihrer Möglichkeiten, sich als eigenständige Handlungswissenschaft konstruktiv in die Ausbildung der Lehramtstudierenden einzubringen, zu stark beschnitten worden ist. Der enorme Rückgang in der Stellenbesetzung wurde bereits erwähnt; er zeigt auch nur die eine, wenn auch sehr ungut schillernde Seite der Medaille. Denn selbst diese geringen Möglichkeiten werden nicht von allen Lehrenden genutzt, zumindest nicht im Gesamt-Zusammenklang der studentischen Ausbildung und der ihr zugute kommenden fachdidaktischen Forschung. Abschließend würde ich gern das Motto verallgemeinern, unter dem Kollege Ortwin Beisbart von der Universität Bamberg und ich die historische Sektion auf der Tagung „Deutschlehrerbildung im Wandel“ 1996 in Siegen geleitet haben: Es sollte immer um einen konstruktiv-kritischen ‚Blick zurück voraus‘ gehen17 – unbedingt auch wenn es sich um die DDR-Methodik handelt.

17

Beisbart/Mieth: Deutschlehrerbildung, S.8.

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Literaturverzeichnis 1. Quellen Studienprogramm für die Ausbildung der Lehrer für die Oberstufe der allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule in der Methodik des Faches Deutsche Sprache und Literatur. Manuskriptdruck, Volk und Wissen Volkseigener Verlag Berlin 1966. Studienprogramm Methodik des Unterrichtsfaches Deutsche Sprache und Literatur. Manuskriptdruck MfV und MHF Berlin Juni 1970. Entwicklungskonzeption Muttersprachmethodik und Literaturmethodik, ausgearbeitet von einer Arbeitsgruppe der ZFK Methodiken Gerhart Dittmann, Waldemar Freitag, Hartmut Herrmann, Joachim Riehme, Lothar Tille, Johannes Zech. Maschinenschriftliches Manuskript o.J. [1986].

2. Forschungsliteratur Abels, Kurt (Hg.): Deutschunterricht in der DDR 1949–1989. Beiträge zu einem Symposion in der Pädagogischen Hochschule Freiburg, Frankfurt/Main 1992 (= Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts 8). Beisbart, Ortwin / Mieth, Annemarie (Hg.): Deutschlehrerbildung im Wandel. Konzepte und Strukturen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Frankfurt/Main 1999 (= Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts 41). Brekle, Wolfgang: Zum Bild des Literaturlehrers in der DDR, in: Beisbart, Ortwin / Mieth, Annemarie (Hg.): Deutschlehrerbildung im Wandel. Konzepte und Strukturen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Frankfurt/Main 1999 (= Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts 41), S. 159–174. Jonas, Hartmut: ‚Ideologieschübe‘ im Literaturunterricht der DDR – ‚Macbeth‘ als Beispiel, in: Abels, Kurt (Hg.): Deutschunterricht in der DDR 1949–1989, Frankfurt/Main 1992 (= Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts 8), S. 281–294. Lost, Christine: Sowjetpädagogik. Wandlungen, Wirkungen, Wertungen in der Bildungsgeschichte der DDR, Hohengehren 2000.

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Mieth, Annemarie: ‚Handlungswissenschaft‘ Deutschmethodik. Nach Protokollen der Zentralen Fachkommission Methodiken des Unterrichtsfaches Deutsche Sprache und Literatur, in: Czech, Gabriele (Hg.): Vom Neuanfang 1945 bis Pisa [Erscheinungsjahr im Sommer 2012 noch offen]. Mieth, Annemarie: Literatur und Sprache im Deutschunterricht der Reformpädagogik. Eine problemgeschichtliche Untersuchung, Frankfurt/ Main 1994 (= Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts 11). Mieth, Annemarie / Seifert, Marlis: Einphasige Deutschlehrerausbildung in der DDR, in: Mitteilungen des Germanistenverbandes 52, 2–3 (2006), S. 286–289. Schlewitt, Jörg: Zu den kulturpolitischen Rahmenbedingungen der Deutschlehrerausbildung in der ehemaligen DDR, in: Janota, Johannes (Hg.): Germanistik, Deutschunterricht und Kulturpolitik, Tübingen 1993 (= Kultureller Wandel und Germanistik in der Bundesrepublik. Vorträge des Augsburger Germanistentages 4), S. 77–82. Wagner, Paul: Die Einzelschrift im Deutschunterricht, in: Leipziger Volkszeitung. Pädagogische Beilage 1932/1933, Leipzig 1933. Weimar, Klaus: Evaluationskultur als Streitkultur – Versuch, das Verschwinden der DDR-Germanistik zu begreifen oder doch ansatzweise zu beschreiben, in: Mitteilungen des Germanistenverbandes 52, 4 (2005), S. 484–492. Zimmer, Hasko: Zweierlei Neubeginn. Entwicklungsdeterminanten des Deutschunterrichts in Ost und West zwischen 1945 und 1952, in: Abels, Kurt (Hg.): Deutschunterricht in der DDR 1949–1989, Frankfurt/Main 1992 (= Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts 8), S. 23–42.

Anita Krätzner

Kampfauftrag, Friedenssicherung und Verteidigungsbereitschaft Zur Lenkung der studentischen Diskussionen um Mauerbau und Wehrpflicht am Germanistischen Institut der Universität Rostock

1. Einleitung, Forschungsstand Der folgende Beitrag stützt sich auf meine Staatsexamensarbeit1, die ich im Winter des Jahres 2007 vorgelegt habe. Dort werden die Ergebnisse ausführlicher zusammengetragen. Im Folgenden werde ich die wichtigsten Merkmale der Diskussionen um den Mauerbau und Einführung der Wehrpflicht herausstellen und sie in Bezug auf folgende Erkenntnisinteressen untersuchen: Zum einen soll der Beitrag das Verhalten der staatlichen Instanzen während der beiden Diskussionen, die sich im Laufe eines halben Jahres vollzogen, kennzeichnen. Dabei gilt es herauszufinden, in welcher Weise sich die unterschiedlichen Institutionen, das Germanistische Institut, das Dekanat und die Universitätsparteileitung, aktiv in die Debatten um die zwei wichtigen Ereignisse eingebracht haben. Es gilt zudem zu prüfen, wie sich ihr Verhalten veränderte oder während des Verlaufes kontinuierlich blieb. Zum anderen zielt das Interesse auf das Verhalten der Studenten. Welche Argumente brachten sie in die Diskussion ein? Wodurch könnten sie motiviert gewesen sein? Zum Schluss werden die Unterschiede beziehungsweise die Gemeinsamkeiten in der Struktur der Diskussionen und ihrer Verläufe geprüft. Das Thema der Mauerbaudiskussion an der Universität Rostock wurde von einigen Wissenschaftlern bereits erwähnt, jedoch bisher nicht umfassend analysiert und ausgewertet. Thomas Ammer wies bereits in seiner 1

Krätzner, Mauerbau.

Kampfauftrag, Friedenssicherung und Verteidigungsbereitschaft

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Universitätsgeschichte Rostocks von 1969 darauf hin, dass es im Zuge des Mauerbaus zwar zu Beschränkungen der Meinungsäußerungen gekommen sei, dennoch wird diese These nicht von ihm vertieft, da ihm der Zugang zu den Quellen und Archiven verschlossen geblieben sein dürfte und er sich lediglich auf die Aussagen von Zeitzeugen stützen konnte.2 In den Überblicksgeschichten zur DDR wird der Mauerbau als Umbruch immer wieder thematisiert, aber die Auswirkungen lassen sich nicht nur in Bezug auf Begrenzung der Fluchtbewegung und die wirtschaftliche Stabilisierung der DDR betrachten3, sondern, wie auch schon teilweise vorgenommen, als ein Fortschreiten des Prozesses der Militarisierung.4 In diesen Darstellungen werden die Reaktionen auf die Ereignisse an den Hochschulen nicht eingebunden, obwohl die Universitätsangehörigen, die sogenannte „Intelligenz“5, eine propagandawirksame soziale Gruppe bilden. Sie standen nach dem Bau der Berliner Mauer im Fokus öffentlichen Interesses, weil sie sich zu den Maßnahmen der Regierung bekennen mussten. Einige Schriften untersuchen schon die Gruppe der Hochschulangehörigen; als richtungweisend können die Veröffentlichungen von Kowalczuk betrachtet werden. In seiner Darstellung „Geist im Dienste der Macht“ beleuchtet er die besonderen Strukturen der ‚Intelligenz‘ und die Wirkungsmechanismen der Regierung. Zudem geht er auf ausgewählte Konflikte ein, bei denen die Mauerbaudiskussion jedoch eine untergeordnete Rolle spielt.6 In weiteren Darstellungen skizziert er jene Problematik äußerst knapp.7 Andere Veröffentlichungen beziehen sich ebenfalls auf die Universitätsgeschichte und betrachten die besondere Gruppe der Hochschulangehörigen und die Strukturen der Wissenschaftsausübung und -vermittlung in der DDR. Dabei sind vor allem im Rahmen von Jubiläen und deren Vorbereitungen Sammelbände und Monographien entstanden, bei denen die Ereignisse an den Standorten unterschiedlich stark aufgearbeitet worden sind. Die FriedrichSchiller-Universität Jena wurde in der Schrift „Hochschule im Sozialismus“ auf verschiedene Gesichtspunkte hin untersucht. Hier findet sich der bisher einzige Aufsatz zur Mauerbaudiskussion an einer Universität in der DDR.8 Zur Militarisierung an der Universität Jena schreibt Hoffmann und setzt sie in Bezug zur Mauerbaudiskussion.9 Es erschien zudem bereits die Doku2 3 4 5 6 7 8 9

Ammer, Universität, S. 20. Weber, DDR; Ihme-Tuchel, DDR; Bender, „Neue Ostpolitik“; Steininger, Mauerbau. Vgl. Brühl, Militärpolitik; Fingerle, Waffen; Schicketanz, Wehrdienstverweigerung; Bald, Restauration. Kowalczuk, Geist, S. 476. Ebd. Kowalczuk, „Hochschulfront ist Kampffront“; Kowalczuk, Volkserhebung. Preuß, Friedrich-Schiller-Universität Jena. Hoffmann, „Nehmt zum Buch das Gewehr!“

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mentation einer Kampagne gegen den Mathematikprofessor Walter Brödel, der die bundesrepublikanische Staatsbürgerschaft besaß und bis Ende 1961 noch in Jena lehrte.10 Die umfangreiche Quellenstudie von Franziska Preuß stellt jedoch die bei Kluge skizzierten Gründe seiner Entlassung in Frage.11 In Halle erschien zum Thema der Auseinandersetzung um den Mauerbau einzig die Dokumentensammlung Hermann-Josef Rupiepers, die aber noch nicht weitgehend genug die Zusammenhänge, die Diskussionsgrundlage und die Zusammenarbeit der Strukturen deutlich macht, sondern zunächst der Veranschaulichung dient. Die Analyse seiner Quellen würde einen weiteren Schritt zur Aufarbeitung der Problematik bedeuten.12 Die Studien von Steffen Reichert für die Universität Halle setzen erst mit der Betrachtung der Dritten Hochschulreform ein. Dennoch thematisiert er den Einfluss der Universitätsparteileitung auf die Leitungsorgane der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg.13 Der Standort Leipzig wurde hinsichtlich der Mauerbaudiskussion bisher von Ulrike Schuster lediglich in Bezug auf den Kampfauftrag und die Studentenschaft untersucht.14 In den Darstellungen von Hermann-Josef Rupieper15 und Ilko-Sascha Kowalczuk16 wird jedoch die These aufgestellt, dass der Widerstand gegen den 13. August dort und an der HumboldtUniversität am massivsten gewesen sei. Einschlägige Publikationen und eine ausführlich auf diese Fragestellung fokussierte Betrachtung fehlen jedoch.17 Nur Andreas Malycha18 und Ilko-Sascha Kowalczuk19 gehen auf die vielfältigen Diskussionen an der Ost-Berliner Universität ein, dennoch bedarf es noch einer genaueren Untersuchung, da an diesem Standort die Fluchtbewegung der Universitätsangehörigen sehr groß gewesen sei und zur Regulierung zahlreiche Festnahmen stattgefunden haben sollen.20 Die Universitäten Greifswald und Dresden wurden bezüglich dieses Aspektes noch nicht gründlich untersucht. Nur in der Quellensammlung von Rupieper findet sich, wie auch in den Akten des Rostocker Universitätsarchivs, der 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

Kluge, „NATO-Professor“. Auch Kowalczuk geht auf die Umstände, die zur Entlassung des Mathematikprofessors geführt haben, ein. Vgl. Kowalczuk, Geist, S. 475–477. Vgl. Preuß, Friedrich-Schiller-Universität Jena, S. 246. Rupieper, „Es gibt keinen Ausweg für Brandt zum Krieg.“ Reichert, Kontrolle. Schuster, Mut. Rupieper, „Es gibt keinen Ausweg für Brandt zum Krieg“, S. 174. Kowalczuk, Geist, S. 481. Krause, Alma mater Lipsiensis. Malycha, Wissenschaft. Kowalczuk, Volkserhebung. Kowalczuk, Geist, S. 482. Vgl. den Fluchtbericht von Heinz Vater in diesem Band.

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Hinweis, dass der „Kampfauftrag der FDJ“21 und die Diskussionen stattgefunden haben.22 Die Jugendorganisation und deren ‚Kampfauftrag‘ wurden in einschlägigen Publikationen von Marc-Dietrich Ohse23 und Peter Skyba24 behandelt, doch fehlt auch hier der Schwerpunkt der Mauerbaudiskussion.

2. Methode, Quellenkorpus Die im Folgenden beschriebenen Quellentypen bieten eine Fülle an Informationen, die zur Interpretation genutzt werden sollen. Heckmann systematisiert Regeln für die Analyse von Quellen, in denen er die Kenntnis von Sprachmustern und Symbolen voraussetzt.25 Seine beschriebene Herangehensweise im Hinblick auf die hermeneutische Auswertung empirischer Daten soll auch für diesen Beitrag grundlegend sein. Es ergeben sich dennoch hinsichtlich der Methodik verschiedene Herangehensweisen an die unterschiedlichen Quellengruppen:

2.1 Öffentliche Bekundungen Hierzu zählen Dokumente, die für die Veröffentlichung angefertigt wurden. Sie wurden zumeist als Stellungnahmen verfasst und öffentlich ausgehängt, in Universitätszeitungen oder dem „Neuen Deutschland“ veröffentlicht oder als offene Briefe an die Regierung (beispielsweise an Walter Ulbricht) geschickt. Es handelt sich hier um Bekundungen des erzwungenen Konsenses, an deren Unterschriftenpraxis man Formen der (nicht immer freiwilligen) Zustimmung und Verweigerung ablesen kann.26

21 22

23 24 25 26

Der „Kampfauftrag der FDJ“ beinhaltete die breite Zustimmungserklärung des Jugendverbandes zu den Maßnahmen vom 13. August 1961. Rupieper, „Es gibt keinen Ausweg für Brandt zum Krieg“, S. 174. Vgl. Protokoll über die UPL-Sitzung am 20. September 1961, in: Universitätsarchiv Rostock [künftig: UAR] (UPL 58), Sitzungen der Parteileitung der Universität Juli–Dezember 1961. Ohse, Jugend. Skyba, Hoffnungsträger. Vgl. Heckmann, Interpretationsregeln, S. 147. Der offene Brief, der den Studenten in Rostock vorgelegt wurde, erhielt die Aufforderung an alle Studenten, ihn zu unterschreiben. Vgl. Offener Brief an den Staatsratsvorsitzenden, in: UAR (R 132), Aufrufe und Proteste bzw. Beteiligung daran 1959–1963.

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Die konstruierte Öffentlichkeit der DDR kann unter verschiedenen Gesichtspunkten ausgewertet werden,27 denen vorausgesetzt werden muss, dass sich die SED als Staatspartei verstand.

2.2 Akten der BStU28, Informationsberichte, Sachakten Diese drei Aktentypen können aufgrund ihres Entstehungsprozesses ähnlich ausgewertet werden.

2.2.1 Akten der BStU Bisher konnte ich ausschließlich Einsicht in Akten der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit nehmen. Sie dienen vor allem zur Beantwortung der Frage, wie staatliche Instanzen operierten, um die Diskussionen zu kontrollieren. Der Fokus meiner bisherigen Untersuchungen richtete sich bisher auf den gezielten Einsatz von IM (1961 und 1962 wurden diese noch als GI [=Geheime Informanten] bezeichnet). Dennoch können solche Dokumente nur als Ergänzung der Sachakten oder Opferakten dienen.

2.2.2 Informationsberichte Gerade in den sechziger Jahren war es üblich, Informationsberichte zu verfassen. Sie tauchen besonders während der politischen Diskussionen vermehrt auf. Die Institutsdirektoren wurden aufgefordert, im regelmäßigen Rhythmus dem Dekan über besondere Ereignisse und den Verlauf der Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit dem Mauerbau zu berichten. Das Stimmungsbild der Fakultäten wurde zusammengetragen und an den Prorektor für Gesellschaftswissenschaften übermittelt. Dieser formulierte daraus einen Vortrag über die „politisch-ideologische Situation“.29 Alle Do27

28 29

Vgl. Rühle, Entstehung, S. 27. Rühle beruft sich auf unterschiedliche Öffentlichkeitskonzepte und legt sie seinen Ausführungen zugrunde. Sein Datenmaterial ist aber weniger umfangreich, als es in meiner Staatsexamensarbeit war. Deswegen kann dieses Konzept nicht genutzt werden. BStU: Die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. So war die Berichtfolge an der Universität Rostock. Vgl. UAR (UPL 145), Informations-

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kumente dieses Quellentyps weisen eine Besonderheit auf: Sie nennen offen die Namen der Beteiligten der Diskussionen und geben meist wörtliche Zitate wieder (diese wurden offenbar aus dem Gedächtnis verfasst). Das Stimmungsbild lässt sich deshalb für die Forschung recht gut rekonstruieren; dennoch muss auf Befindlichkeiten der Schreiber geachtet werden. Auslassungen, Äußerungen von unbegründeten Verdächtigungen sowie die Wiedergabe von Aussagen nach dem ‚Hörensagen‘ bestimmen diese Aufzeichnungen. Die Informationsberichte sind aber äußerst umfangreich und sollen für die Fragestellung der Arbeit erstmals ausführlich ausgewertet werden. Auch die Staatssicherheit bediente sich dieser offiziellen Dokumente, um Personen ins Visier zu nehmen oder ihre politische Einstellung zu prüfen.30 Die Informationsberichte sind in den Beständen der Universitätsparteileitung, der Universitätsgewerkschaftsleitung, der FDJ-Hochschulgruppenleitung und in den Sachakten der Fakultäten und Institute aufzufinden.

2.2.3 Sachakten Die Sachakten des Rektorats, der Fakultäten und Institute geben einen Einblick in die Umstände, die während des Studienjahres 1961/1962 an den Universitäten herrschten. Verschiedenste Archivalien zu Themen wie Ernteeinsätze, zur Praktikumsbetreuung oder Studentenlisten können herangezogen werden, um die Situation an den Hochschulen zu analysieren. Hier finden sich zum Teil nicht nur Namen der Beteiligten sondern auch Berichte über Diskussionen dieser Zeit.31 Für die Aktengruppe der BStU, der Informationsberichte und der Sachakten entwickeln Engelmann32, Schröter33 und Michael34 geeignete Methoden und weisen auf mögliche Schwierigkeiten im Umgang mit diesem

30 31

32 33 34

berichte der SED-Parteiorganisation der Universität Rostock 1961; UAR (R 682), Informationsberichte der gesellschaftswissenschaftlichen Bereiche 1962–1964; UAR (PHF 9.2.), Philosophische Fakultät. Informations- und Jahresberichte 1962; UAR (PHF 311), Germanistisches Institut. Informationsberichte 1953–1968; UAR (PHF 364), Institut für Anglistik. Informationsberichte 1961–1966. Wird kein Dokument angegeben, bezieht sich der Nachweis auf die gesamte Akte; wird keine Seiten- oder Blattzahl angegeben, ist die Akte unpaginiert. Auszug aus dem Informationsbericht vom 6. September 1961, in: BStU, Zweigstelle Rostock (AIM 2257/78), „IM Rainer“, Band 1, Bl. 68. Vgl. Bericht über die erste Woche des Ernteeinsatzes des 1. Studienjahres Germanistik/Latein in Gustrowerhöfen (Rügen), in: UAR (PHF 315), Germanistisches Institut. Ernteeinsätze 1957–1967. Engelmann, Quellenwert. Schröter, Interesse. Michael, Alternativkultur und Staatssicherheit.

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Quellentyp hin. Es ist zu beachten, dass sich die Berichtsakten durch ihren großen Umfang und den hohen Grad an Schriftlichkeit auszeichnen.35 Gleichzeitig sollte Problembewusstsein hinsichtlich der Fehlerquote der Berichte vorhanden sein.36

2.3 Protokolle der Sitzungen der Parteigremien Zu dieser Gruppe von Quellen gehören die Protokolle des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen, des FDJ-Zentralrates, der Universitätsparteileitungen (UPL) und der Parteigruppen der Fakultäten und Institute. Der Umfang und die Aufzeichnungspraxis sind sehr unterschiedlich. Zumeist sind diese Protokolle im Untersuchungszeitraum vollständig erhalten, dennoch werden nicht immer vollständige Inhalte wiedergegeben. Einige Mitschriften wurden wortwörtlich angefertigt, andere liefern nur Stichpunkte und Ergebnisse. Bei der Auswertung dieses Quellentyps muss diese spezielle Eigenart berücksichtigt werden. Zudem haben Protokolle lediglich offiziellen Charakter. Es lässt sich also nur schwer rekonstruieren, welche Aussagen außerhalb jenes Rahmens getroffen wurden oder ob sich auf bestimmte Protokollformulierungen geeinigt wurde.37

2.4 Jahresberichte Die Jahresberichte der Institute und Fakultäten geben ausführliche Informationen über Forschung und Lehre an den Universitäten der DDR. Die Direktoren waren dazu aufgefordert, nach jedem Studienjahr diese (meist sehr nüchternen) Berichte anzufertigen, die helfen, Struktur und personelle Besetzung der Universitäten zu rekonstruieren.38

35 36 37

38

Engelmann, Quellenwert, S. 24. Schröter, Interesse, S. 40–41. Beispielsweise habe ich in meiner Staatsexamensarbeit Protokolle der Parteileitungssitzungen der UPL und der Parteigruppe Germanistik herangezogen: UAR (UPL 58), Sitzungen der Parteileitung der Universität Juli–Dezember 1961; UAR (UPL 399), Parteigruppe des Instituts für Germanistik 1958–1968. Beispielsweise: Jahresbericht des Germanistischen Instituts der Universität Rostock über das Studienjahr 1961/62, in: UAR (PHF 309), Germanistisches Institut. Jahresberichte 1953– 1965.

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2.5 Zeitzeugeninterviews Gespräche mit ehemaligen Studenten, Mitarbeitern oder Führungskräften können helfen, einen Einblick in die Situation um 1961 zu bekommen. Ebenso geben sie häufig wichtige Hinweise auf zusätzliches Material oder Anregungen zu Bereichen, die bei der Aktenrecherche häufig unbeachtet bleiben würden. Die rückblickende Erinnerung ist zwar durch die eigene Wahrnehmung geprägt, vermittelt aber gerade deshalb ein persönliches und vor allem emotionales Bild des Vergangenen. In Bezug auf Oral History ist die Methode in den letzten Jahren präzisiert worden. Der sensible Umgang sowohl in der Befragung als auch in der Auswertung ist in den Vordergrund der Betrachtungen gestellt worden.39

3. Die Personalstruktur am Germanistischen Institut im Studienjahr 1961/1962 Um die Beteiligten an den Diskussionen zum Mauerbau und zur Wehrpflicht am Germanistischen Institut der Universität Rostock einordnen zu können, werde ich dessen Struktur im Studienjahr 1961/1962 veranschaulichen. Sie lässt sich übrigens aus den Jahresberichten rekonstruieren. Die aufgeführten Personen sind von der Institutsdirektorin Edith Braemer darin verzeichnet worden:40 Abteilung Deutsche Sprache und ältere deutsche Literatur Hans Joachim Gernentz Ilse Rahnenführer Annegret Zdrenka Margot Koliwer Herrmann Kowalke Hans Düwel em. Abteilung Neuere deutsche Literaturgeschichte und allgemeine Literaturwissenschaft Edith Braemer Hans-Joachim Bernhard Manfred Haiduk 39 40

Vgl. hierzu: Bauer, Kontrolle. Vgl. Mrotzek, Interview. Als Grundlage wird hierfür das Analysemodell von Heckmann verwendet. Vgl. Heckmann, Interpretationsregeln, S. 147. Jahresbericht des Germanistischen Instituts der Universität Rostock über das Studienjahr 1961/62, in: UAR (PHF 309), Germanistisches Institut. Jahresberichte 1953–1965.

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Gertrud Schmidt Walter Waldmann Gisela Strandt Walter Epping em. Abteilung Geschichte der deutschen sozialistischen Literatur Erich Kühne Hansjoachim Finze Evelyn Krause Liselotte Malzahn Dieter Posdzech Eva-Maria Burckhardt Abteilung Sprechkunde Walter Trenschel Die Institutsdirektorin Edith Braemer war vom Juli 1961 bis zum November des Jahres erkrankt, so dass die Leitung größtenteils von Erich Kühne übernommen, in einigen Bereichen – so kann es am Rhythmus der Berichterstattung abgelesen werden – aber nicht konsequent vertreten wurde. Für die Betreuung der Studenten waren die Assistenten des Germanistischen Instituts zuständig. Die Leiter der jeweiligen Abteilungen waren Professor Hans Joachim Gernentz, Professorin Edith Braemer und Professor Erich Kühne. Die Parteileitung des Instituts wurde durch Braemer, Kühne, Finze, Burckhardt, Zdrenka und Bernhard übernommen. Gernentz war CDU-Mitglied, Finze Mitglied der Universitätsgewerkschaftsleitung und Manfred Haiduk zu Beginn des Studienjahres 1961/62 als Prorektor für Studienangelegenheiten ernannt worden.41

4. Die Mauerbaudiskussion Nachdem die Berliner Mauer am 13. August 1961 (mitten in den Semesterferien) errichtet wurde, erstellte die Universitätsparteileitung zehn Tage später einen Maßnahmeplan, der die Parteiarbeit regeln sollte. Die inhaltliche Vorgabe war: Im Ergebnis dieser Aussprache ist die Bereitschaft der Studenten zu dokumentieren, die DDR jederzeit zu verteidigen und an der Reservistenausbildung teilzuneh-

41

Jahresbericht des Germanistischen Instituts der Universität Rostock über das Studienjahr 1961/62, in: UAR (PHF 309), Germanistisches Institut. Jahresberichte 1953–1965.

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men, in der Ernte mitzuhelfen und am 17.9.1961 die Stimme den Kandidaten der Nationalen Front zu geben.42

Henning Schleiff, Sekretär der FDJ-Hochschulleitung und Mitglied der Universitätsparteileitung (und von 1975 bis zum 26. März 1990 Oberbürgermeister Rostocks)43 wurde beauftragt, den Brief an Walter Ulbricht zu verfassen und diesen den Studenten vorzulegen.44 Die Vorgaben der Universitätsparteileitung wurden in entsprechender Weise umgesetzt:

4.1 Der offene Brief an Walter Ulbricht Sehr geehrter Herr Vorsitzender des Staatsrates! Lieber Genosse Walter Ulbricht! Der 13. August 1961 war ein schwarzer Tag für die deutschen Militaristen und Revanchisten. Für uns war er ein Tag der Freude und des Aufatmens; wurde doch durch die Maßnahmen unserer Regierung den Kriegsplänen der Adenauer, Strauß und Konsorten ein deutliches Halt entgegengestellt und dem verabscheuungswürdigen Menschenhandeln mit Bürgern der DDR ein Riegel vorgeschoben. Wir Studenten der Universität Rostock stehen fest hinter diesen Maßnahmen, weil sie den Frieden in Deutschland und in der Welt gerettet und unsere geliebte Deutsche Demokratische Republik gestärkt haben. Wir wollen, daß in Westdeutschland Schluß gemacht wird mit Kriegsvorbereitung, Revanchehetze und nazistischen Ungeist. Darum fordern wir den Abschluß eines Friedensvertrages mit den beiden deutschen Staaten noch im Jahre 1961. Wir unterstützen den Vorschlag der Sowjetunion und unserer Regierung, bei der Weigerung der Bundesregierung, den Friedensvertrag nur mit der DDR abzuschließen. Dadurch würde vor der ganzen Welt sichtbar, welcher deutsche Staat der deutsche Friedensstaat ist.

42

43

44

Plan der politischen Massenarbeit an der Universität in der Vorbereitung des Studienjahres 1961/62 und zu den Volkswahlen. (Beschluss der Parteileitung der Universität vom 23.08.1961), in: UAR (UPL 58), Sitzungen der Parteileitung der Universität Juli–Dezember 1961. Diplom-Ingenieur Henning Schleiff absolvierte bis 1960 sein Studium in Rostock, bevor er Leiter der FDJ-Hochschulgruppe wurde. 1959 trat er in die SED ein. Von 1963 bis 1969 war er erster Sekretär der FDJ-Kreisleitung und zudem Mitglied der SED-Kreisleitung in Rostock. Zunächst war er Aspirant am Institut für Gesellschaftswissenschaften, um dann 1974/5 stellvertretender Oberbürgermeister und ab 1975 Oberbürgermeister der Stadt Rostock zu sein. 1990 musste er aufgrund der starken Bürgerproteste von diesem Amt zurücktreten. Vgl. Müller-Enbergs, Schleiff, S. 744. Plan der politischen Massenarbeit an der Universität in der Vorbereitung des Studienjahres 1961/62 und zu den Volkswahlen. (Beschluss der Parteileitung der Universität vom 23.08.1961), in: UAR (UPL 58), Sitzungen der Parteileitung der Universität Juli–Dezember 1961.

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Diesem, unserem Friedensstaat, gehört unser ganzes Vertrauen. Wir haben erkannt, daß es nicht genügt, dieses Vertrauen nur mit Worten auszudrücken, sondern daß es jetzt darauf ankommt, diese Worte durch Taten zu bekräftigen und unsere Republik durch den vollen Einsatz jedes einzelnen zu stärken. Getreu dem Kampfauftrag des Zentralrates der FDJ, aus einem tiefen Gefühl des Hasses gegen unsere Feinde erklären wir FDJler und Studenten der Universität Rostock: 1. Wir Jungen, die noch nicht ihren Ehrendienst in den bewaffneten Organen unserer Republik geleistet haben, verpflichten uns, sofort in die Reihen der Nationalen Volksarmee einzutreten, wenn es unsere Regierung für erforderlich hält. Wir Reservisten erklären, daß es für uns eine Selbstverständlichkeit ist, getreu unserem Schwur zu jeder Zeit unser sozialistisches Vaterland zu schützen und zu verteidigen. Wir Mädchen werden unseren Beitrag zum Schutz der Republik leisten und uns die entsprechenden Fähigkeiten aneignen. Wir Mitglieder des sozialistischen Jugendverbandes betrachten es als eine ehrenvolle Aufgabe in den Ordnungsgruppen der FDJ für Ruhe und Ordnung zu sorgen. 2. Wir werden in den kommenden Wochen in der sozialistischen Produktion jederzeit dort mit anpacken, wo es notwendig ist. In einem mehrwöchigen Soforteinsatz werden die meisten von uns in der sozialistischen Landwirtschaft helfen die Ernte zu bergen und die LPG zu festigen. 3. Die jetzige politische Situation stellt an jeden von uns höchste Anforderungen. Das bedeutet, daß wir unser Studium noch disziplinierter, noch gewissenhafter und mit Einsatz unser[rer] ganzen Kraft durchführen. Wir werden dafür sorgen, daß wir bei Störmanövern der westdeutschen Militaristen nicht auf westdeutsche Lehrbücher angewiesen sind. Persönliche Lehrbücher, die aus Westdeutschland importiert werden, stellen wir unseren Universitätsbibliotheken zur Verfügung. Als Vorbild dienen uns Arbeitsgemeinschaften von Studenten der Medizinischen Fakultät, z. B. des 6. Studienjahres, die unter der Leitung von Professoren Scripten anfertigen und diese an Stelle von Lehrbüchern herausbrachten. 4. Wir bekennen uns zu den Traditionen der Besten der studentischen Jugend Deutschlands, die stets auf der Seite des Fortschritts kämpften. Heute bedeutet das für uns, auf der Seite des Sozialismus zu stehen. Wir werden überall die Wahrheit von der Überlegenheit des Sozialismus, von der Unbesiegbarkeit unserer Arbeiter-und-Bauern-Macht und der Richtigkeit der Politik unserer Regierung vertreten. Die Wahrheit über die Arbeiter-und-Bauern-Macht finden wir nicht bei ihren Feinden. Darum lehnen wir das Hören von kapitalistischen Hetzsendern ab. Wir stellten keine kapitalistischen Sender mehr ein und treten überall wo sie gehört werden, dagegen auf. Das ist ein Ausdruck unseres Verhältnisses zur Arbeiter- undBauern-Macht. Dieses Verhältnis bringen wir auch dadurch zum Ausdruck, daß wir bis zur Normalisierung der Lage in Deutschland keine Privatreisen nach Westdeutschland oder in andere Nato-Staaten unternehmen.

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Wie alle friedliebenden Menschen sind wir erfüllt von tiefer Ehrfurcht vor dem Leben. Wenn aber der Friede in Gefahr ist, werden wir Friede und Glück mit der Waffe in der Hand verteidigen. In den zwanziger Jahren schossen Studenten der Rostocker Universität als Angehöriger der Freikorps auf Arbeiter und Bauern. Heute stehen die Studenten der Universität Rostock treu an der Seite der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten. Mit vorzüglicher Hochachtung! Freundschaft! Studenten der Universität Rostock: A L L E Studenten der Universität Rostock sind aufgerufen, diesen Brief zu unterschreiben.45

Der erste Teil des Briefes fasst die Ereignisse des Augusts 1961 zusammen und drückt die Zustimmung zu den Maßnahmen der DDR-Regierung aus. Daraufhin folgt der zweite Teil des Briefes, der die Bewertungen der Augustereignisse aufgreift und „[g]etreu dem Kampfauftrag des Zentralrates der FDJ, aus einem tiefen Gefühl des Hasses gegen unsere Feinde“ vier Erklärungspunkte abgibt.46 Im ersten Punkt ist eine Forderung des oben genannten „Plans zur Massenarbeit“ verwirklicht. Die männlichen Studenten sollten die Verpflichtung eingehen, ihren Dienst an der Waffe zu leisten. Die Reservisten unterstrichen ihre Verbindlichkeit, für den Schutz des Staates jederzeit zur Verfügung zu stehen. Die weiblichen Studenten leisteten mit ihrer Unterschrift ihre Verpflichtung, sich militärisch weiterbilden zu lassen und alle Mitglieder der FDJ sollten bereit sein, für „Ruhe und Ordnung“ einstehen zu können.47 Im zweiten Punkt sollten die Studenten ihre Verpflichtung eingehen, für die Produktion und die Ernte zu arbeiten, um damit den sozialistischen Staat zu festigen. Damit hielten sie ebenfalls die oben genannte Forderung ein. Der dritte Punkt konzentrierte sich auf die Studiensituation. Im Dienst für die Unabhängigkeit vom westlichen System sollte jeder Student strebsam studieren. Dass man in vielen Disziplinen nicht auf westliche Lehrbücher verzichten konnte, schien der Regierung ein Dorn im Auge zu sein. Deshalb sollten die Studenten nach diesem Bekenntnis ihre westdeutschen Lehrbücher zur Verfügung stellen und dafür Sorge tragen, nicht weiter auf diese angewiesen sein zu müssen.48 45 46 47 48

Offener Brief an den Staatsratsvorsitzenden, in: UAR (R 132), Aufrufe und Proteste bzw. Beteiligung daran 1959–1963. Ebd. Ebd. Ebd.

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Der vierte Punkt drückte vor allem das ideologische Erziehungspotential aus, das sich hinter den Forderungen verbirgt, für den sozialistischen Staat einstehen zu wollen und auf das Hören von westlichen Sendern zu verzichten. Zudem wurde die Frage der Westreisen angesprochen, die bis „zur Normalisierung der Lage in Deutschland“49 von den Studenten nicht mehr vorgenommen werden sollten. Im Abschlussteil wurde bekräftigt, dass die Studenten friedliche Menschen seien, die das Leben achten würden, dennoch aber dazu bereit seien, „Frieden und Glück mit der Waffe in der Hand [zu] verteidigen“50, und dass sie in Verbundenheit zur Arbeiterklasse stehen. Nach der Grußformel folgte der Absender „Studenten der Universität Rostock“ und dann eine Aufforderung an alle Studenten („Alle“ wurde dabei besonders hervorgehoben), dies zu unterschreiben.51 Als Initialzündung für das Abfassen des Briefes wurde in diesem Dokument der Rückgriff auf den „Kampfauftrag des Zentralrats der FDJ“ angeboten. Der Beschluss der Parteileitung blieb unbenannt. Dennoch sollte durch die mächtigste Jugendmassenorganisation der DDR eine Legitimation erfolgen, die deren Mitglieder in die Lage versetzen sollte, dort ihre Unterschrift zu leisten. Vorangegangen war ein Aufruf des Rektors und Schleiffs an die Studenten der Universität Rostock, welcher im Wesentlichen zum Ernteeinsatz und zur Wahl am 17. September aufforderte. Die Maßnahmen vom 13. August finden in diesem Schriftstück keine direkte Erwähnung. Dennoch werden die Friedensabsichten der DDR deutlich gemacht. Dieses Schreiben konnte durch seine Hauptlosungen „Alle Kraft für die weitere Stärkung der Deutschen Demokratischen Republik!“ und „Durch gute Taten wird der deutsche Friedensplan Wirklichkeit!“52 die Studenten auf ihr Bekenntnis zu den Maßnahmen vorbereiten. Widerspruch und andere Meinungen waren dabei nicht nur unerwünscht, sondern blieben in den Planungen völlig unberücksichtigt. Der Brief an Ulbricht wurde den Studenten in den ersten Seminarsitzungen des neuen Semesters vorgelegt. Zwei Wochen später erhielt die FDJ den Auftrag auszuwerten, wer ihn nicht unterschrieben hatte. Fred Birkner, der erste Sekretär der Universitätsparteileitung, hatte klare Vorstellungen über die Konsequenzen, die Verweigerer zu tragen hatten: „Ebenfalls muß weiter mit den Studenten diskutiert werden, auch über den Brief an Gen[ossen] W[alter] Ulbricht. Wer unbelehrbar ist, wird von der Universi49 50 51 52

Ebd. Ebd. Ebd. Aufruf an die Studenten der Universität Rostock vom 24. August 1961, in: UAR (R 132), Aufrufe und Proteste bzw. Beteiligung daran 1959–1963.

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tät entfernt.“53 In Informationsberichten des Germanistischen Instituts der Universität Rostock wurden immer wieder einzelne Aussagen wiedergegeben, die dokumentierten, aus welchen Gründen die Studenten den Brief nicht unterzeichneten. Von insgesamt ca. 270 Studenten unterzeichneten 31 den Brief nicht. 30 davon ließen sich durch gründliche Recherche in den Akten nachweisen. Ihre Argumente finden sich in folgender Tabelle wieder: Name

Studienjahr

Studienrichtung

Gründe/Argumente

Name unbekannt

1. Studienjahr

Germanistik/Latein

unbekannt

A

2. Studienjahr

Germanistik/Anglistik

Militarisierung, westliche Verwandte

B

2. Studienjahr

Germanistik/Anglistik

eventuell westliche Verwandte

C

2. Studienjahr

Germanistik-Diplom

aus Berlin stammend

D

2. Studienjahr

Germanistik-Diplom

aus Berlin stammend

E

2. Studienjahr

Germanistik/Geographie

unbekannt (eventuell Nachteile vom Staat)

H

3. Studienjahr

Germanistik/Anglistik

„Westsenderhören“

O

3. Studienjahr

Germanistik/Anglistik

nicht näher bekannt

19 weitere Studenten Namen nicht näher bekannt

3. Studienjahr

Germanistik/Anglistik

nicht näher bekannt

I

4. Studienjahr

Germanistik/Anglistik

„zu unreif“

J

4. Studienjahr

Germanistik/Anglistik

„zu unreif“

K

4. Studienjahr

Germanistik/Anglistik

„zu unreif“

Unter allen Studenten, auch denen der Germanistik, herrschte die Angst, dass sie, wenn sie den Brief nicht unterschreiben würden, exmatrikuliert 53

Vgl. Protokoll über die UPL-Sitzung am 20. September 1961, in: UAR (UPL 58), Sitzungen der Parteileitung der Universität Juli–Dezember 1961.

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werden könnten.54 Nach dem Bericht des Parteisekretärs Birkner vom 20. September war ihre Furcht nicht unbegründet. Dennoch stellt sich die Frage, ob es wirklich zu Exmatrikulationen in der Germanistik kam, die mit der Unterschriftenverweigerung in Verbindung gebracht werden können, oder welche alternativen Schritte zunächst eingeleitet wurden.55 ‚Politische Massenarbeit‘ scheint das richtige Stichwort zu sein. Zunächst wurde der Brief ohne besondere Agitation den Studenten zum Unterschreiben vorgelegt. Nachdem die Unterschriften ausgewertet waren und sich herausstellte, dass Namen auf der Liste fehlten, wurde zumeist eine persönliche Aussprache mit dem zuständigen FDJ-Sekretär geführt. Dieser versuchte dann in einem ruhigen Gespräch, den Verweigerer der Unterschriften davon zu überzeugen, dass es richtiger wäre, den Brief doch zu unterzeichnen. In den meisten Fällen führte das wohl zum Einlenken der Studenten. Jedoch wurde die Verweigerung aufmerksam registriert.56 Nur zwei Studenten der Germanistik (in der Tabelle mit A und B benannt) unterschrieben den Brief bis zum Ende nicht. Die hauptsächliche Angst der meisten Studenten war, dass die Dokumentation der Verteidigungsbereitschaft zum Schießen der Deutschen gegen die Deutschen führen würde. Diese Angst wird als häufigste Begründung in den Informationsberichten dokumentiert. Die Diskussion verlief, wohl auch durch die Krankheit der Institutsdirektorin Braemer, völlig ungelenkt. Die Betreuer der Seminargruppen konnten zwar Äußerungen aufzeichnen, dennoch organisierten sie keine gemeinsamen Diskussionsrunden, in denen sie auf die Studenten aktiv einwirken konnten. Vielmehr wurden persönliche Gespräche im kleinen Kreis geführt, um sie zum Einlenken zu bewegen. Es ist zudem auffällig, dass die Germanistik keine als Vorbild dienende Erklärung zum Mauerbau abgab, wie es nicht nur die Universitätsparteileitung verlangte, sondern auch durch andere Institute (z. B. das Historisches Institut) und die Philosophische Fakultät geschehen war.57 Die Diskussionen zogen sich bis in den Dezember hinein. Zu Exmatrikulationen kam es in der Germanistik nicht, dennoch wurde bei einem Studenten (Tabelle, Student D) von Erich Kühne der Antrag hierfür gestellt, der sich aber als nicht haltbar erweisen konnte.

54 55 56 57

Informationsbericht der UPL vom 26. September 1961, in: UAR (UPL 145), Informationsberichte der SED-Parteiorganisation der Universität Rostock 1961. Protokoll über die UPL-Sitzung am 20. September 1961, in: UAR (UPL 58), Sitzungen der Parteileitung der Universität Juli–Dezember 1961. Gesprächsprotokoll von D. Ediert in: Krätzner, Mauerbau, S. 128. Erklärung des Rates der Philosophischen Fakultät vom 04. September 1961, in: UAR (PHF 9.1), Informations- und Jahresberichte 1949–1961.

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5. Die Wehrpflichtdiskussion Bereits am gleichen Tag, dem 24. Januar 1962, an dem die Wehrpflicht in der DDR eingeführt wurde, fand eine Universitätsparteileitungssitzung statt. Durch die Kritik an der eigenen Arbeit in Bezug auf die politische Agitation nach dem 13. August 196158 gab es Bestrebungen, die Diskussionen um das Gesetz parteilich zu lenken. Als das Wehrpflichtgesetz verabschiedet wurde, befanden sich die Studenten der Germanistik in ihren Praktika und nicht in der Vorlesungszeit. Ihnen stand jeweils ein Praktikumsbetreuer zur Verfügung, der, laut Protokoll der Parteileitung, die Meinungsäußerungen erfassen und die politischen Gespräche in die angemessenen Bahnen lenken sollte. Zugleich wurden die Assistenten beauftragt, die Diskussionen zu erfassen und in Berichten wiederzugeben. 59 Da aber seitens der Studenten keine schriftliche Bestätigung wie im Brief an Walter Ulbricht zum Mauerbau erfolgen musste, versuchten die abgeneigten Studenten durch Schweigen der Diskussion zu entgehen. Aber auch das passive Verhalten wurde dokumentiert. Durch den Parteiauftrag ließ sich an den regelmäßigen Berichten ablesen, welche Studenten ihre Zustimmung gaben, gegen die Wehrpflicht argumentierten oder schwiegen. Die Lehrenden des Germanistischen Instituts gingen in dieser Diskussion mit positivem Beispiel voran. Die männlichen Mitglieder drückten ihre Zustimmung in einem Brief aus, der an das ‚Schwarze Brett‘ gehängt und in „Der Neuen Universität“, dem Zentralorgan der SED der Universität, abgedruckt wurde.60 Zunächst fällt aber in der Beschreibung der Diskussionen auf, dass vor allem das Gespräch mit den Studenten gesucht wurde, um sie nicht nur anzuhören, sondern sie von der gegenteiligen Meinung zu überzeugen. Die Entscheidung, mit mehreren Personen zum Praktikumsort zu fahren, um die dortige Mitarbeiterin in einem geleiteten Meinungsaustausch zu unterstützen, ist sicher eher ungewöhnlich, beweist aber die große Besorgnis über die vorher in einem Bericht getroffenen Aussagen. Dieser zeigt eine deutliche Ablehnung der Wehrpflicht von allen Mitgliedern der Gruppe Ger58 59

60

Vgl. UAR (UPL 59), Sitzungen der Parteileitung der Universität Januar–Juni 1962. Vgl. UAR (PHF 311), Germanistisches Institut. Informationsberichte 1953–1968. Es ist der Berichterstattung der Philosophischen Fakultät an Wortwahl und Datum abzulesen, dass sie sich zumeist auf die Informationsberichte der jeweiligen Institute stützen, so dass im Nachfolgenden häufig nur die zu Grunde liegenden Darlegungen des Germanistischen und Anglistischen Instituts zitiert werden. Vgl. UAR (PHF 9.2.), Philosophische Fakultät. Informations- und Jahresberichte 1962. Informationsbericht des Germanistischen Instituts vom 30. Januar 1962, in: UAR (PHF 311), Germanistisches Institut. Informationsberichte 1953–1968. Vgl. Bewusste Bereitschaft, in: Die Neue Universität 1 (1962), S. 3.

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manistik/Slawistik des ersten Studienjahres bei ihrem Praktikum im VEG Dudendorf. Die drei Reservisten, die dieser Gruppe angehörten, schwiegen in der Diskussion und äußerten sich, so der Bericht, danach sehr abfällig über die NVA.61 Die Argumente, die diese Gruppe vorbrachte, lassen sich stellvertretend für die Debatte darstellen:

5.1 Auszug aus dem Informationsbericht von Edith Braemer (4. Februar 1962) 1. Die Produktion leidet ohnedies schon an Kadermangel, das wird noch schlimmer werden. Wir werden noch weniger als bisher ökonomisch die westdeutsche Bevölkerung von unserer Überlegenheit überzeugen können. Die Nähseide wäre schon teurer geworden. Wirtschaftliche Überlegenheit wäre für die westdeutsche Bevölkerung viel eindrucksvoller als militärische. 2. Wenn wir durch unsere Stärke die Bundesrepublik davon abhalten wollen, einen Angriffskrieg zu beginnen, wird dort auch stärker aufgerüstet werden. Ein unabsehbares Wettrüsten verstärkt sich immer mehr. 3. Wir haben westdeutsche Wehrdienstgegner ermuntert, bei uns zwingen sie jetzt zum Dienst in der Armee. 4. Die privaten Gründe gegen eine Teilnahme am Wehrdienst müssten berücksichtigt werden, auch wenn diese Gründe falsch sind. (Religiöse Motive usw.) 5. Für Menschen, die westdeutsche Angehörige haben, wäre es sehr schwer, gegen sie einen Krieg zu führen zu sollen. 6. Wenn wir auch hundertmal behaupten, daß wir keinen Krieg führen wollen, so werden Armeen nicht zum Spaß aufgestellt. Allgemeine Wehrpflicht bedeutet den Vorabend eines Krieges – so hätten alte Frauen im Dorf diskutiert und ihnen könnte man nichts entgegenhalten. 7. Die Familien der Eingezogenen erleiden finanzielle Verluste. 8. Unter Bedingung der atomaren Waffen sei die Ausbildung an konventionellen Waffen sinnlos. 9. Wenn wir keine Armee für Westdeutschland wollen, dürfen wir auch keine wollen. Für beide Staaten soll dasselbe gelten. 10. Die Gleichberechtigung der Frau ginge zu weit resp. laufe in falscher Richtung, wenn Frauen im Kriegsfall auch anders als zum Verbinden und dergl. eingezogen werden. Wo gibt es eine Sicherheit, daß sie nicht schießen müssen […]? 11. Die Landwirtschaft käme jetzt schon nicht mehr zurecht, aus Mangel an Menschen. Dieser Mangel wird sich in solchem Maße verstärken, daß wir überhaupt nicht mehr durchkommen. Wenn wir sagten, daß die Stärke der Armee nicht er61

Informationsbericht des Germanistischen Instituts vom 10. Februar 1962, in: UAR (PHF 311), Germanistisches Institut. Informationsberichte 1953–1968.

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höht wird, so ergäbe doch die Erfahrung, daß die Soldaten, die vom Land gekommen sind, nicht mehr dorthin zurückkehren.62

5.2 Ergebnisse der Wehrpflichtdiskussion Auch die beiden Studenten, die sich bis zum Schluss weigerten, den Brief an Walter Ulbricht zu unterschreiben, traten gegen die Wehrpflicht auf. Sie zu überzeugen, gelang auch in den „planmäßig geführten“ Diskussionen nicht, so schildert es die Institutsdirektorin in einem Bericht im März.63 Im Zusammenhang mit der Wehrpflicht wurde auf ein Bekenntnis in Form eines Briefes von den Studenten verzichtet, wodurch die Situation entstand, zwar mit ablehnenden Argumenten konfrontiert zu werden, jedoch keine Vollständigkeit in Hinblick auf Unterschriftenleistung erzielen zu müssen. Demnach wurden im Zuge der Diskussionen in den einzelnen Gruppen eine ausführliche Auswertung und ein gezieltes Nachfragen bei den ‚Problemfällen‘ aus Dudendorf vorgenommen, ob sich die Ablehnung umgewandelt hätte. Dennoch oblag diese Angelegenheit dem Institut und es wurde bis zur Berichterstattung nicht aus dieser Zuständigkeit herausgenommen. In der Universitätsparteileitung wurden auf einer Sitzung vom 24. Januar 1962 zwar die möglicherweise auftretenden Meinungen zur Wehrpflicht erläutert, problematisiert wurde diese Thematik in den folgenden Sitzungen jedoch nicht mehr.64

6. Vergleich der politischen Diskussionen Die Diskussionen um den Mauerbau und die Wehrpflicht unterscheiden sich in ihrem wesentlichen Inhalt nur auf den ersten Blick. Denn man kann wegen des ‚Kampfauftrags‘ der FDJ im Zuge des 13. Augusts 1961 davon ausgehen, dass die Mauerbaudiskussion und vor allem die darin hervorgehobene Erklärung zur Verteidigungsbereitschaft die nachfolgenden Gespräche zum Gesetz der Wehrpflicht vorbereiteten. 62 63 64

Bericht vom 4. Februar 1962, in: UAR (PHF 311), Germanistisches Institut. Informationsberichte 1953–1968. Informationsbericht des Germanistischen Instituts vom 5. März 1962, in: UAR (PHF 311), Germanistisches Institut. Informationsberichte 1953–1968. Vgl. UAR (UPL 59), Sitzungen der Parteileitung der Universität Januar–Juli 1962.

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In dem Brief an Walter Ulbricht wurden die Kriegsabsichten der Bundesrepublik, die durch den Mauerbau abgewendet werden sollten, geschildert und die Notwendigkeit der Sicherung des Friedens nicht nur durch die Schließung der Grenzen, sondern auch durch die Bereitschaft der männlichen Studenten, ihren Dienst an der Waffe zu leisten, betont. Das Helfen bei der Ernte, das Bekenntnis zum vom Westen unabhängigen sozialistischen Staat und der Verzicht auf das Hören von „Westsendern“ fanden zwar ebenfalls in dem Brief an Walter Ulbricht ihre Erwähnung, waren aber nicht die entscheidende Botschaft des Schriftstücks. So zielten die Aussagen zunächst auf die Bereitschaft der Studenten zur Stärkung der DDR-Wirtschaft durch den Ernteeinsatz und den Glauben an die ökonomische Überlegenheit Ostdeutschlands ab. Von Germanistikstudenten sind dazu keine verbalen Äußerungen aufgezeichnet, die diese Punkte anzweifeln würden. Dennoch gab es aber Unterschriftenverweigerer, die nicht bereit waren, die Teilung Berlins durch eine Mauer zu akzeptieren. Außerdem sollte das Hören westdeutschen Rundfunks eingeschränkt werden, um nur die „richtigen“ Stellungnahmen publik werden zu lassen, die im Sinne der DDR-Staatsführung nur durch die ostdeutschen Medien Verbreitung finden konnten. Dabei hatten wohl aber vor allem Germanistikstudenten die Sensibilität einzuschätzen, dass es sich hierbei um eine Form der Zensur handelte, die auch ihre Wahl der Kulturrezeption einschränkte. Der am meisten diskutierte Aspekt des ‚Kampfauftrags‘ war jedoch die darin angesprochene Verteidigungsbereitschaft. Dabei mussten alle Debatten um die Wehrpflicht ersterben, da ein Unterzeichnen des Briefes ein grundsätzliches Einverständnis mit den Wehrplänen der DDR implizierte. Daraus ergeben sich zunächst Unterschiede für den zeitlichen Umfang, in dem sich die unterschiedlichen Diskussionen erstreckt haben. Während der Mauerbau von August bis November 1961 ausführlich besprochen wurde, und somit über drei Monate Thema am Germanistischen Institut und an der Universität im Allgemeinen gewesen ist, wurde die Wehrpflicht nach bisheriger Kenntnis der Aktenlage nur von Ende Januar 1962 bis Anfang März 1962 besprochen. Warum diese Diskussion dann aber nur noch selten Erwähnung fand, liegt wohl hauptsächlich an der Ablösung durch andere Diskussionsgegenstände (das Nationale Dokument oder der XXII. Parteitag der KPdSU), die offensiv von den Institutsmitgliedern eingebracht wurden.65 Die Argumente, die gegen die Verteidigungsbereitschaft und die Wehrpflicht vorgebracht wurden, glichen sich sehr. So war es nicht nur der Widerwille, eine Waffe tragen zu müssen, sondern vielmehr die Angst davor, 65

Informationsbericht des Germanistischen Instituts vom 5. März 1962, in: UAR (PHF 311), Germanistisches Institut. Informationsberichte 1953–1968.

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im Eskalationsfall auch auf Deutsche schießen zu müssen. Auch gab es die Befürchtung, mit der verstärkten Militarisierung aus dem Kalten einen ‚heißen‘ Krieg werden zu lassen. Befürworter der Wehrpflicht gaben jedoch zu Bedenken, dass die NVA nur zur Verteidigung aufgestellt worden sei und ein Krieg daher nur von Westdeutschland ausgehen könne. Dadurch sahen sie auch das Schießen auf Deutsche als gerechtfertigt an. Das Besondere an der gesamten Wehrpflichtdiskussion in beiden deutschen Staaten ist das Verständnis von einer gemeinsamen Nation, das sie miteinander teilten. Insbesondere familiäre oder freundschaftliche Bindungen erzeugten eine starke emotionale Ablehnung eines Krieges von Deutschen gegen Deutsche, obgleich sich alle darüber bewusst waren, dass in ihren Staaten unterschiedliche Weltanschauungen regierten. Die gleichen Argumente wurden zuvor schon in der Debatte um die Einführung der Wehrpflicht in der Bundesrepublik 1956 gebraucht. Interessanterweise hatte sich die DDR damals als Gegner ausgesprochen, eine Position, die auch durch Bertold Brechts Erklärung66 Unterstützung fand. Dieser hatte 1956 einen offenen Brief an den Bundestag geschrieben, indem er sich gegen die Einführung der Wehrpflicht in beiden deutschen Staaten aussprach. Von diesem Standpunkt nun abzuweichen, motivierte das Unverständnis der Studenten.67 Zugleich muss man die Generation dieser Studenten betrachten. Die meisten wurden zwischen 1938 und 1942 geboren und hatten die Schrecken des Zweiten Weltkrieges als Kinder miterlebt. Wenn dies nicht bewusst geschehen war, so hatten sie doch Erinnerungen an die Nachkriegszeit und oftmals den Verlust des Vaters, der im Wehrdienst gefallen war, zu verkraften. Im Hinblick auf die politischen Debatten engagierten sich die Lehrenden des Germanistischen Instituts unterschiedlich stark. In der Mauerbaudiskussion nahmen sie, wahrscheinlich auch durch die Krankheit von Edith Braemer begründet, nur teilweise Einfluss.68 Erst im November konnten sich Aktivitäten zur gezielten politischen Erziehung entwickeln (beispielsweise durch Gernentz und Bernhard). In der Diskussion im Januar waren die Mitglieder des Instituts besser gerüstet. Ihnen war klar, dass man schon zum Mauerbau eine spontane Stellungnahme erwartet hatte, die eine Zustimmung zu den Maßnahmen der Regierung signalisiert hätte. Dies war aber nicht geschehen. Wahrschein66 67 68

Brecht, Offener Brief, S. 1. Informationsbericht des Germanistischen Instituts vom 5. März 1962, in: UAR (PHF 311), Germanistisches Institut. Informationsberichte 1953–1968. Anscheinend hielten sich aber viele Lehrende an den ostdeutschen Universitäten nach dem Mauerbau sowohl mit Zustimmung als auch mit Ablehnung zurück. Deshalb scheint das Beispiel des Germanistischen Instituts auch stellvertretend für die Situationen an den Hochschulen stehen zu können. Vgl. Kowalczuk, Volkserhebung, S. 28.

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lich reagierte das Institut deshalb nach der Einführung der Wehrpflicht so schnell und unterband damit auch Äußerungen, die sich außerhalb dieses verschriftlichten Konsenses bewegten. Sowohl für die Universitätsleitung, die Parteileitung, als auch für die Studenten war klar ersichtlich, dass sich das Kollegium hinter die staatlichen Entscheidungen stellte und von den Studenten das Gleiche verlangte. Ähnlich war dies auch schon in der Stellungnahme zum Mauerbau erfolgt, aber sie wurde nicht vollständig und zudem nicht direkt vom Germanistischen Institut, sondern von mehreren Einrichtungen, unterzeichnet. Durch die schon angesprochene Institutsversammlung, die sofort nach der Einführung des Wehrpflichtgesetzes stattfand, konnte die politische Richtung besser vorgegeben werden. Die Passivität, die man nach dem Mauerbau im Germanistischen Institut noch kritisiert hatte, wurde im Januar 1962 auf institutioneller Ebene überwunden, wohl auch dadurch, dass sich die Lehrenden besser vorbereitet gefühlt haben müssen. Zudem wurden sie auch nicht mitten in den Semesterferien von den weltbewegenden Ereignissen überrollt, wie es am 13. August 1961 der Fall gewesen ist. Im Sommer hatten die Dozenten weniger Möglichkeiten, sich direkt in einer Versammlung zu treffen oder haben diese offenbar nicht ausreichend wahrgenommen. Im Zusammenhang mit der politischen Erziehungsarbeit wurden im Nachklang der Wehrpflichtdiskussion sogar die parteilosen Angehörigen des Germanistischen Instituts gelobt, die durch ihre Passivität in der Mauerbaudiskussion noch in die Kritik geraten waren.

7. Fazit Der Diskurs um die Verteidigungsbereitschaft prägte beide Debatten so stark, dass die Wehrpflichtdiskussion als Weiterführung und als Abschluss der Mauerbaudiskussion angesehen werden kann. Die staatlichen Instanzen lernten aus den Debatten, die sich vor allem an den Brief an Walter Ulbricht anschlossen, und leiteten die Wehrpflichtauseinandersetzungen vom ersten Tag an zielgerichtet. Die Institutsleitung des Germanistischen Instituts war mit der Diskussionsführung beauftragt worden und konnte unter dieser Maßgabe mit Hilfe der genauen Berichterstattung die Argumente präziser gegen die betreffenden Adressaten richten. Dies führte dazu, dass die Studenten zwar nicht überzeugt, aber angehört und erfolgreicher erreicht wurden.

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Literaturverzeichnis 1. Quellen und Archivalien (BStU = Bundesbeauftragte für Stasi-Unterlagen; UAR = Universitätsarchiv Rostock; wenn die Archivakte keine Seiten- oder Blattzählung enthält, entfällt eine entsprechende Angabe) Aufruf an die Studenten der Universität Rostock vom 24. August 1961, in: UAR (R 132), Aufrufe und Proteste bzw. Beteiligung daran 1959–1963. Auszug aus dem Informationsbericht vom 6. September 1961, in: Archiv der BStU, Zweigstelle Rostock (AIM 2257/78), „IM Rainer“, Band 1, Bl. 68. Bericht vom 4. Februar 1962, in: UAR (PHF 311), Germanistisches Institut. Informationsberichte 1953–1968. Bericht über die erste Woche des Ernteeinsatzes des 1. Studienjahres Germanistik/Latein in Gustrowerhöfen (Rügen), in: UAR (PHF 315), Germanistisches Institut. Ernteeinsätze 1957–1967. Brecht, Bertold: Offener Brief an den Bundestag, in: Neues Deutschland, Nr. 158 (4. Juli 1956), S. 1. Erklärung des Rates der Philosophischen Fakultät vom 04. September 1961, in: UAR (PHF 9.1), Philosophische Fakultät. Informations- und Jahresberichte 1949–1961. Informationsbericht des Germanistischen Instituts vom 30. Januar 1962, in: UAR (PHF 311), Germanistisches Institut. Informationsberichte 1953–1968. Informationsbericht des Germanistischen Instituts vom 10. Februar 1962, in: UAR (PHF 311), Germanistisches Institut. Informationsberichte 1953–1968. Informationsbericht des Germanistischen Instituts vom 5. März 1962, in: UAR (PHF 311), Germanistisches Institut. Informationsberichte 1953–1968. Informationsbericht der UPL vom 26. September 1961, in: UAR (UPL 145), Informationsberichte der SED-Parteiorganisation der Universität Rostock 1961. Jahresbericht des Germanistischen Instituts der Universität Rostock über das Studienjahr 1961/62, in: UAR (PHF 309), Germanistisches Institut. Jahresberichte 1953–1965. Offener Brief an den Staatsratsvorsitzenden, in: UAR (R 132), Aufrufe und Proteste bzw. Beteiligung daran 1959–1963.

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Plan der politischen Massenarbeit an der Universität in der Vorbereitung des Studienjahres 1961/62 und zu den Volkswahlen. (Beschluss der Parteileitung der Universität vom 23.08.1961), in: UAR (UPL 58), Sitzungen der Parteileitung der Universität Juli-Dezember 1961. Protokoll über die UPL-Sitzung am 20. September 1961, in: UAR (UPL 58), Sitzungen der Parteileitung der Universität Juli–Dezember 1961. Sitzungsprotokolle, in: UAR (UPL 58), Sitzungen der Parteileitung der Universität Juli–Dezember 1961. UAR (PHF 9.2.), Philosophische Fakultät. Informations- und Jahresberichte 1962. UAR (PHF 364), Institut für Anglistik. Informationsberichte1961–1966. UAR (R 682), Informationsberichte der gesellschaftswissenschaftlichen Bereiche 1962–1964. UAR (UPL 59), Sitzungen der Parteileitung der Universität Januar–Juni 1962. UAR (UPL 399), Parteigruppe des Instituts für Germanistik 1958–1968.

2. Forschungsliteratur Ammer, Thomas: Universität zwischen Demokratie und Diktatur. Ein Beitrag zur Nachkriegsgeschichte der Universität Rostock, Köln 1969. Bald, Detlef: Militärpolitische Restauration – Zur Wehrpflicht im geteilten Deutschland, in: Opitz, Eckardt / Rödiger, Frank S. (Hg.): Allgemeine Wehrpflicht. Geschichte – Probleme – Perspektiven, Bremen 1994, S. 75–87. Bauer, Babett: Kontrolle und Repression. Individuelle Erfahrungen in der DDR (1971–1989). Eine historische Studie und ein methodologischer Beitrag zur Oral History, Göttingen 2006 (= Schriften des HannahArendt-Instituts für Totalitarismusforschung 30) . Bender, Peter: Die „Neue Ostpolitik“ und ihre Folgen. Vom Mauerbau bis zur Vereinigung, 4. Auflage, München 1996 (= Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart 28). Brühl, Reinhard: Zur Militärpolitik der SED – Zwischen Friedensideal und Kriegsapologie, in: Bald, Detlef (Hg.): Die Nationale Volksarmee. Beiträge zum Selbstverständnis und Geschichte des deutschen Militärs von 1945–1990. Baden-Baden 1992 (= Militär und Sozialwissenschaften 10), S. 31–49.

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Die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Hg.): Abkürzungsverzeichnis. Häufig verwendete Abkürzungen und Begriffe des Ministeriums für Staatssicherheit. Zusammengestellt und bearbeitet von Ralf Blum, 8. völlig neu bearb. und erw. Auflage, Bonn 2007. Engelmann, Roger: Zum Quellenwert der Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit, in: Henke, Klaus-Dietmar / Engelmann, Roger (Hg.): Aktenlage. Die Bedeutung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes für die Zeitgeschichtsforschung, Berlin 1995 (= Analysen und Dokumente 1), S. 23–39. Fingerle, Stephan: Waffen in Arbeiterhand? Die Rekrutierung des Offizierkorps der NVA und ihre Vorläufer, Berlin 2001 (= Militärgeschichte der DDR 2). Heckmann, Friedrich: Interpretationsregeln zur Auswertung qualitativer Interviews und sozialwissenschaftlich relevanter ‚Texte‘. Anwendungen der Hermeneutik für die empirische Sozialforschung, in: HoffmeyerZlotnik, Jürgen H.P. (Hg.): Analyse verbaler Daten. Über den Umgang mit qualitativen Daten, Opladen 1992 (= ZUMA-Publikationen), S. 142–167. Hoffmann, Gunther: „Nehmt zum Buch das Gewehr!“ Die Wehrkampagnen von 1952 und 1961 an der Universität Jena, in: Keller, Andreas (Hg.): Alma mater und moderne Gesellschaft. Hochschulpolitische Reformansätze in junger und jüngster Zeit unter besonderer Berücksichtigung von Jenaer Erfahrungen aus den 50er und 60er Jahren, Jena 2004, S. 59–77. Ihme-Tuchel, Beate: Die DDR, Darmstadt 2002 (= Kontroversen um die Geschichte). Kluge, Gerhard: Der „Nato-Professor“ Walter Brödel. Eine Dokumentation. Mit einem Vorwort von Oliver Schmidt, Erfurt 1999 (= Der Landesbeauftragte des Freistaates Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR informiert). Kowalczuk, Ilko-Sascha: Von der Volkserhebung zum Mauerbau. Reaktionen von Hochschulangehörigen auf die Ereignisse in der DDR in den Jahren 1953, 1956 und 1961, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 30–31 (2001), S. 22–30. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Die „Hochschulfront ist Kampffront“. Die SEDParteiorganisationen an den Universitäten und Hochschulen in der SBZ/DDR 1946–1961, in: Horch und Guck 40 (2002), S. 61–77.

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Kowalczuk, Ilko-Sascha: Geist im Dienste der Macht. Hochschulpolitik in der SBZ/DDR 1945 bis 1961, Berlin 2003 (= Forschungen zur DDRGesellschaft). Krätzner, Anita: Mauerbau und Wehrpflicht. Die politischen Diskussionen am Rostocker Germanistischen Institut in den Jahren 1961 und 1962, Rostock 2009 (= Rostocker Studien zur Universitätsgeschichte 7). Krause, Konrad: Alma mater Lipsiensis. Geschichte der Universität Leipzig von 1409 bis zur Gegenwart, Leipzig 2003. Malycha, Andreas (Hg.): Geplante Wissenschaft. Eine Quellenedition zur DDR-Wissenschaftsgeschichte, Leipzig 2003 (= Beiträge zur DDRWissenschaftsgeschichte Reihe A, Dokumente 1). Michael, Klaus: Alternativkultur und Staatssicherheit, in: Henke, KlausDietmar / Engelmann, Roger (Hg.): Aktenlage. Die Bedeutung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes für die Zeitgeschichtsforschung, Berlin 1995 (= Analysen und Dokumente 1), S. 138–149. Mrotzek, Fred: Das zeitgeschichtliche Interview, in: Müller, Werner / Pätzold, Horst (Hg.): Lebensläufe im Schatten der Macht. Zeitzeugeninterviews aus dem Norden der DDR, Schwerin 1998, S. 17–28. Müller-Enbergs, Helmut: Schleiff, Henning, in: Müller-Enbergs, Helmut / Wielgohs, Jan / Hoffmann, Dieter (Hg.): Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Lexikon, Berlin 2000, S. 744. Ohse, Marc-Dietrich: Jugend nach dem Mauerbau. Anpassung, Protest und Eigensinn (DDR 1961–1974), Berlin 2003 (= Forschungen zur DDRGesellschaft). Preuß, Franziska: Die Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Mauerbau 1961. Reaktionen und Auswirkungen, in: Hoßfeld, Uwe / Kaiser, Tobias / Mestrup, Heinz (Hg.): Hochschule im Sozialismus. Studien zur Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena (1945–1990), Bd. 1, Köln / Weimar / Wien 2007, S. 239–266. Reichert, Steffen: Unter Kontrolle. Die Martin-Luther-Universität und das Ministerium für Staatssicherheit 1968–1989, 2 Bände, Halle 2007. Rühle, Ray: Entstehung von politischer Öffentlichkeit in der DDR in den 1980er Jahren am Beispiel von Leipzig, Münster 2003 (= Kommunikationsgeschichte 17). Rupieper, Hermann-Josef (Hg.): „Es gibt keinen Ausweg für Brandt zum Krieg.“ August 1961 an der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg, Halle 2002. Schicketanz, Peter: Wehrdienstverweigerung in der DDR. Nährboden für die Bildung oppositioneller Gruppen, in: Deutschland Archiv 37 (2004), S. 792–800.

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Schröter, Ulrich: Das leitende Interesse des Schreibenden als Bedingungsmerkmal der Verschriftung – Schwierigkeiten bei der Auswertung von MfS-Akten, in: Henke, Klaus-Dietmar / Engelmann, Roger (Hg.): Aktenlage. Die Bedeutung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes für die Zeitgeschichtsforschung, Berlin 1995 (= Analysen und Dokumente 1), S. 40–46. Schuster, Ulrike: Mut zum eigenen Denken? DDR-Studenten und Freie Deutsche Jugend, Berlin 1999 (= Freie Deutsche Jugend 6). Skyba, Peter: Vom Hoffnungsträger zum Sicherheitsrisiko. Jugend in der DDR und Jugendpolitik der SED 1949–1961, Köln 2000 (= Schriften des Hannah-Arendt-Insituts für Totalitarismusforschung 10). Steininger, Rolf: Der Mauerbau. Die Westmächte und Adenauer in der Berlinkrise 1958–1963, München 2001. Weber, Hermann: Die DDR 1945–1990, 3. überarb. und erw. Auflage, München 1996.

Christopher Dietrich

Der doppelte Boden der Satire Ein Studentenkabarett im Visier des Ministeriums für Staatssicherheit

Das Rostocker FDJ-Studentenkabarett „ROhrSTOCK“ gehörte in den achtziger Jahren zur Spitze der DDR-Amateurkabaretts. Heute ist es das dienstälteste Studentenkabarett Deutschlands, für das seit seiner Gründung 1970 weit über 200 angehende Akademiker auf der Bühne gestanden haben. Die Arbeit eines Kabaretts in der DDR kann unter verschiedenen Aspekten untersucht werden.1 Es waren vor allem zwei Zitate langjähriger „ROhrSTOCK“-Mitglieder, die zur Frage nach der Überwachung dieser Gruppe durch die Staatssicherheit führten. Im Jahr 2000 gab „ROhrSTOCK“ eine Chronik zum 30-jährigen Bestehen des Kabaretts heraus, darin heißt es: Die Auftritte zu den X. Weltfestspielen [1973, C. D.] in Berlin bestreitet der „ROhrSTOCK“ ohne seinen Frontmann [...]. Der Anglistik-Student hat sich in den Westen abgesetzt. Seitdem wird das Kabarett bis zur Wende mittelbar und unmittelbar von der Bezirksbehörde des Ministeriums für Staatssicherheit kontaktiert. [...] Am Ende werden es über hundert Informelle Mitarbeiter sein, die aus dem inneren Kreis des Kabaretts bzw. aus seinem Umfeld Berichte liefern.2

Am 12. Januar 2005 sendete der Deutschlandfunk ein Porträt des Kabaretts, in dem der erste künstlerische Leiter und sein Nachfolger auch das Thema Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) berühren: 1

2

Bisher sind dazu drei umfangreichere Untersuchungen erschienen. Zwei Dissertationen beschäftigen sich aus germanistischer Sicht mit der Arbeit mehrerer DDR-Berufskabaretts und betrachten zum Teil auch die kulturpolitischen Rahmenbedingungen: Jacobs, Untersuchungen; Riemann, Kabarett. Sylvia Klötzer legte 2006 eine Monographie vor, in der sie u. a. Zensur- und Verbotsmaßnahmen gegen Kabarettprogramme beschreibt (Klötzer, Satire). Dalk/Ruschke, 30 Jahre, S. 14.

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Sprecherin: Auf der Bühne und im Kino gibt es die Stasi nicht. [...] Das gilt auch für die Kabaretts. Für alle? Nicht alle: 1985 steht beim „ROhrSTOCK“ die Stasi auf der Bühne. Autor der Szene ist Michael Ruschke. Ruschke: Zwei Menschen des ostdeutschen Geheimdienstes. In super Verkleidung, also in Trenchcoat, unauffällig, warten auf einen Herrn des Zentralrates [der Freien Deutschen Jugend (FDJ)], der sich einmal inkognito ins Volk begeben wollte und unterhalten sich darüber. [...] Endeffekt: er kommt auch zurück aus dem Volk, ist aber ziemlich zerrissen. Also sein FDJ-Hemd ist kaputt. Er ist aber sehr erfreut, weil er sagt: ‚Das hätte ich nicht gedacht, die haben mich erkannt!‘ Dalk: Als die Szene begann [...], man konnte eine Stecknadel fallen hören. In einer Mensa, die mit 900 Studenten besetzt war. [...] Und das konnte man alles durchaus machen [...] innerhalb der Universität. Die Frage war immer, es musste ein persönlicher Mut auch da sein, die Grenzen tatsächlich auszuloten.3

Diese Aussagen sollen später genauer untersucht werden. Um die Tätigkeit des MfS aber im Zusammenhang sehen zu können, ist zunächst eine kurze Einführung in die Funktion und institutionelle Einbindung des DDR-Kabaretts im Allgemeinen und des Kabaretts „ROhrSTOCK“ im Besonderen hilfreich.

1. Kulturpolitische Rahmenbedingungen Das politisch-satirische Kabarett gehörte zu den wenigen öffentlichen Räumen der DDR, in denen Kritik an bestehenden Verhältnissen geübt werden konnte. Seit Ende der siebziger Jahre existierten insgesamt zwölf Berufskabaretts in zehn Bezirksstädten der DDR, die entweder als eigenständige Häuser in kommunaler Trägerschaft arbeiteten oder an die jeweiligen Stadttheater angebunden waren.4 Mussten Kabaretts wie die „Distel“ oder die „Leipziger Pfeffermühle“ in der Ära Ulbricht noch regelmäßig freie 3 4

Schlößer, ROhrSTOCK, 21.31–21.33 Uhr. Diese Zahl blieb bis 1990 konstant. Zwar kam nach der Umwandlung des Amateurkabaretts „Die Lachkartenstanzer“ (Karl-Marx-Stadt) in ein Berufsensemble im Jahr 1984 noch ein professionelles Kabarett hinzu, das Kabarett der Konzert- und Gastspieldirektion Neubrandenburg, „Die Flo(h)rettiche“, wurde in den achtziger Jahren jedoch nicht mehr als eigenständiges Ensemble angesehen. Die Zahlen variieren auch leicht in zeitgenössischen Publikationen, insbesondere Presseartikeln, da an Theaterhäuser angeschlossene KabarettEnsemble wie die Erfurter „Arche“, die „Oderhähne“ aus Frankfurt/Oder oder die Rostocker „Umweltschützer“ vor allem in den jeweiligen Gründungsphasen nicht einheitlich als eigenständiges Berufskabarett gewertet oder abgelehnt wurden. Mehrheitlich wurden ab 1984 folgende zwölf Ensembles als Berufskabaretts bezeichnet: „Die Distel“ (Berlin), „Leipziger Pfeffermühle“, „Die Herkuleskeule“ (Dresden), „Kneifzange“ (Kabarett der Nationalen Volksarmee, NVA, Berlin), „Kiebitzensteiner“ (Halle), „Fettnäppchen“ (Gera), „academixer“ (Leipzig), „Kugelblitze“ (Magdeburg), „Oderhähne“ (Frankfurt an der Oder), „Kabarett am Obelisk“ (Potsdam), „Arche“ (Erfurt) und „Die Lachkartenstanzer“ (Karl-Marx-Stadt).

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Plätze im Zuschauerraum verzeichnen, war die Nachfrage seit Mitte der siebziger deutlich höher als das Angebot – bei allen Berufskabaretts gab es Wartezeiten von zwölf Monaten bis zu fünf Jahren für Eintrittskarten.5 Auch die Veranstaltungen zahlreicher Amateurkabaretts waren regelmäßig ausverkauft. Dies galt insbesondere für die 20 bis 30 Spitzengruppen dieser Szene, die häufig über 100 Auftritte pro Jahr erreichten und für Laienverhältnisse teilweise beträchtliche Einnahmen erzielten. Sie wurden gelegentlich auch im Fernsehen der DDR gezeigt, was den professionellen Häusern in den siebziger und achtziger Jahren, von wenigen Ausnahmen abgesehen, versagt blieb. Die Gesamtzahl der Amateurkabaretts lässt sich heute nur schwer bestimmen; schon in zeitgenössischen Publikationen schwankten die Zahlen zwischen 500 und 700.6 Schließlich setzte sich die Zahl von 600 Gruppen in offiziellen Angaben weitgehend durch und wird auch in der Forschungsliteratur häufig angegeben.7 Tatsächlich dürften in den letzten beiden Jahrzehnten der DDR aber höchstens 300 Gruppen zur gleichen Zeit auftrittsfähig gewesen sein.8 Kulturpolitisch galt das Kabarett in der DDR als erwünscht und wurde seit den fünfziger Jahren durch den Staat aufgebaut, organisiert und subventioniert. Zugleich versuchte eine Vielzahl satire- und kabaretttheoretischer Schriften, das Genre im Sinne einer sozialistischen Satire zu positionieren, deren wesentliche Stoßrichtung der Kampf gegen den Klassenfeind 5

6 7

8

Vgl. Konzeption Tage des Kabaretts in Gera 27.9. bis 2.10.1977, S. 2, in: Deutsches Kabarettarchiv, Außenstelle Bernburg (RK/Hh/26), Kabarett-Werkstätten. Wenn eine Archivakte keine Seiten- oder Blattzählung enthält, entfällt im Folgenden eine entsprechende Angabe. – In der Regel war jedoch ein Teil des täglichen Kartenkontingents nicht vorbestellbar, sondern wurde an der Abendkasse verkauft, außerdem wurden Karten bevorzugt an bestimmte Betriebe, Partnerorganisationen o. ä. vergeben. Vgl. Berger, Kabarett, S. 6; Hösch, Kabarett, S. 379–380. Vgl. Schaller, Lachen, S. 27; Berger, Entwicklung, S. 30; Mayer, Kabarett-Marathon, S. 4. Für die Forschungsliteratur nach 1990 vgl. Riemann, Kabarett, S. 46; Jacobs, Berufskabarett, S. 55; Böhnke, Gunter: Ideal, S. 132. In der Tat stellte auch das Zentralhaus für Kulturarbeit 1980 fest: „Nach Angaben der Statistik 1980 gibt es 369 Amateurkabaretts in der DDR. Rechnet man ca. 200 Kabaretts aus dem Bereich der Kinderkabaretts und bewaffneten Organe dazu, ist die Zahl 600 etwa der Erfahrungswert, mit dem das Zentralhaus für Kulturarbeit der DDR und seine Zentrale Arbeitsgemeinschaft Amateurkabarett seit Jahren arbeiten.“ Zentralhaus für Kulturarbeit, Abteilung Künstlerisches Volksschaffen: Entwicklungsstand des Fachgebietes Amateur-Kabarett ausgehend von den Hauptaufgaben bis 1980, S. 1, in: Landesarchiv Berlin (C Rep. 722, 12), Amateurtheater/Amateurkabarett. So erklärte der Vorsitzende der Zentralen Arbeitsgemeinschaft Amateurkabarett, Heinz Billhardt, im Dezember 1987: „Sichten wir zunächst das Geleistete! Die ca. 300 Amateurkabaretts unseres Landes, ich weiß: die Statistik weist etwa 500–600 aus, aber die Statistik ist die eine Seite, die Spielfähigkeit die andere, also die rund über spielfähige Programme verfügenden 300 Amateurkabaretts [sic!] leisten jährlich ca. 9000 Veranstaltungen und bei der bekannt starken Frequentierung unserer Kabarettaufführungen sind das jährlich immerhin 1,5 Millionen Besucher.“ Referat der Fachberatung „Amateurkabarett der DDR“ am 11. und 12. Dezember 1987 in Leipzig, S. 10, in: Landesarchiv Greifswald (Rep. 200, 8.4.1, 11), Bezirkskabinett für Kulturarbeit Rostock, Amateurkabarett.

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sein sollte. Im Hinblick auf die sozialistische Gesellschaft sollte die Satire hingegen nur Einzelerscheinungen thematisieren und noch nicht überwundene Hemmnisse beim Aufbau des Sozialismus kritisieren, keinesfalls aber die gesellschaftlichen Grundlagen, die Arbeiterklasse oder deren führende Vertreter grundsätzlich in Frage stellen dürfen.9 Auch wenn viele Gruppen diese inhaltlichen Vorgaben nur teilweise umsetzten, sind Macht und Satire in der DDR nicht als Gegensatzpaar zu denken. Das öffentlich wirksame politische Kabarett war keine prototypisch widerständische Kunstform, weder im Verständnis der Staats- und Parteiführung noch in der konkreten Ausübung durch die Kabarettisten.10 Umso größer war die Enttäuschung für viele dem Sozialismus wohlgesonnene Kabarettisten, dass sie mit ihren Programmen dennoch immer wieder Probleme bekamen, nicht selten bei Texten, von denen sie es gerade nicht erwartet hatten. Die Grenzen des Erlaubten konnten sich zum Teil in kurzen Zeitabständen verschieben und waren für die meisten Themen ohnehin nicht klar definiert. Genretypische Stilmittel, insbesondere das Prinzip der satirischen Überhöhung, konnten Texten zusätzliche Brisanz verleihen. Selbstverständlich war es aus Sicht der Staats- und Parteiführung notwendig, die Arbeit der Kabaretts zu kontrollieren und gegebenenfalls zu beeinflussen. Eine offizielle Zensur gab es in der DDR jedoch nicht. So existierten weder für die Berufskabaretts noch für die Amateurkollektive verbindliche Vorschriften zur inhaltlichen Überprüfung oder einheitliche Verfahren der Programmabnahme. Bei den Berufskabaretts erfolgte die Kontrolle in der Regel durch die Kommune als Träger und die Stadt- oder Bezirksleitung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Dies führte zu regional unterschiedlichen Freiräumen, so konnte es sogar passieren, dass Programme in einem Bezirk verboten, in anderen aber aufgeführt wurden.11 9

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Vgl. u. a. Baum, Humor; Hohl, Bedeutung; Nelken, Lachen; Neubert, Wandlung – Selbstverständlich gab es über die Jahre Differenzierungen und verschiedene Nuancierungen in der Kabarett- und Satiretheorie, grundlegende Elemente, etwa die Forderung, „Waffe des Klassenkampfes“ zu sein oder nur bereits lösbare Probleme zu thematisieren, wurden jedoch erst in den späten achtziger Jahren von Autoren wie Mathias Wedel oder Wolfgang Schaller öffentlich in Frage gestellt. Vgl. u. a. Wedel/Biskupek, Streitfall. Davon abzugrenzen sind die bisher kaum bekannten Gruppen, die sich den offiziellen Kulturmechanismen entzogen und in kleinen, häufig konspirativen Kreisen auftraten: vgl. Sachse, Nicht mit den Wölfen heulen. Seinen Höhepunkt erlebte diese Problematik bei den 6. Werkstatt-Tagen der Berufskabaretts vom 27. Mai bis 1. Juni 1989 in Magdeburg. Hier zeigten die „Kiebitzensteiner“ aus Halle das Programm „Achtung – fertig – stop!“, eine Überarbeitung des im Jahr zuvor verbotenen „Distel“-Programms „Keine Mündigkeit vorschützen!“ Ebenfalls 1988 hatte der gastgebende Rat des Bezirkes Magdeburg das Programm „Der Fortschritt ist hinter uns her!“ der Magdeburger „Kugelblitze“ untersagt. Trotz massiver Einwände und mit der (schließlich nicht eingehaltenen) Auflage, vier strittige Szenen wegzulassen, konnten die Kabarettisten eine Lesung des Manuskripts während der Werkstatt-Tage durchsetzen. Zu diesem Zeitpunkt

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Bei den Amateuren war die Lage noch unübersichtlicher. In der Regel musste jedes Volkskunstkollektiv und damit auch jedes Laienkabarett an eine Institution, zum Beispiel einen Betrieb oder eine Universität angebunden sein. Diese sog. ‚Träger‘ unterstützten die Gruppen meist finanziell und materiell.12 Außerdem übernahmen sie die politische Verantwortung, für deren Wahrnehmung es jedoch keine verbindlichen Regeln gab. Theoretisch konnten die Träger ihre Kabaretts völlig frei agieren lassen, es war aber genauso möglich, sie ohne größere Formalien aufzulösen. Damit unterschied sich das Ausmaß von Kontrolle und Förderung im Amateurbereich nicht nur regional, sondern sogar innerhalb einer Stadt zum Teil erheblich. Es gab jedoch ein weiteres Kontrollinstrument: das Einstufungsverfahren. Amateurkünstler aller Genres, die außerhalb ihrer Trägerinstitutionen öffentlich tätig sein wollten, mussten sich mindestens alle drei Jahre von einer Fachjury bewerten lassen.13 Bei den Kabaretts wurde diese Einstufung in den meisten Bezirken mit den zweijährlich stattfindenden Leistungsvergleichen verbunden, die ein mehrstufiges Verfahren auf Stadt-/Kreis-, Bezirks- und zentraler Ebene zur Auslese jener etwa fünf bis fünfzehn Gruppen darstellten, die bei den Arbeiterfestspielen auftreten sollten. Ein Kabarett konnte die Grundstufe mit dem Prädikat befriedigend oder gut, die Mittelstufe (gut, sehr gut) oder die Oberstufe (gut, sehr gut, ausgezeichnet) erhalten, außerdem war es möglich, dem Kabarett eine Einstufung zu versagen.14 Von der Einstufung hing auch die Höhe der gesetzlich festgelegten Förderbeträge ab,

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war bereits bekannt, dass mehrere Berufskabaretts anderer Bezirke das Programm für eigene Inszenierungen gekauft hatten. Vgl. Information über die Sitzung der Beratergruppe Kabarett am 24.4.89 zur Vorbereitung der 6. Werkstattage in Magdeburg, Verband der Theaterschaffenden, Sektion Kabarett, S. 4, in: Akademie der Künste (VT 1188), unpaginiert; Information über den Verlauf der 6. Werkstattage der Berufskabaretts der DDR vom 27.5.– 31.5.1989 in Magdeburg, Ministerium für Kultur: in: Akademie der Künste (VT 798). Nahezu jede Einrichtung in der DDR konnte als Träger fungieren, Amateurkabaretts gab es u. a. auch noch an Kultur-, Klub- und Pionierhäusern, Schulen, Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, Krankenhäusern, bei der Deutschen Reichsbahn, der Deutschen Post, bei Einheiten der NVA, der Polizei und sogar beim MfS-Wachregiment „Feliks Dzierzynski“. In der Regel rekrutierten sich die Mitglieder der Amateurgruppen aus den Trägerinstitutionen, gesetzliche Voraussetzung war dies jedoch nicht und so gab es beispielsweise auch Betriebskabaretts, bei denen einige Jahre nach der Gründung kein einziges Mitglied mehr im Trägerbetrieb tätig war. Vgl. Anordnung über die Anerkennung der künstlerischen Qualität und Einstufung der Volkskunstkollektive und Solisten [vom 25. Mai 1971], in: Gesetzblatt der DDR II, Nr. 48, S. 365; Anordnung Nr. 2 über die Anerkennung der künstlerischen Qualität und Einstufung der Volkskunstkollektive und Solisten [vom 21. Juni 1979], in: Gesetzblatt der DDR I, Nr. 20, S. 189. Im Jahr 1984 gab es beispielsweise 39 Amateurkabaretts der Oberstufe, davon acht mit dem Prädikat ausgezeichnet sowie 13 sehr gute und 18 gute Oberstufen-Gruppen. Vgl. Information über den Leistungsvergleich der Amateurkabaretts 1983/84, Zentralhaus für Kulturarbeit der DDR, 7.3.1984, S. 1, in: Deutsches Kabarettarchiv, Außenstelle Bernburg (RK/Hh/17,6), 5. Zentraler Leistungsvergleich 1984.

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die ein Kabarett den Veranstaltern in Rechnung stellen konnte. Die Verweigerung einer Einstufung kam somit einem Auftrittsverbot nahe, da an diese Gruppen keine Gagen oder sonstiger Gelder gezahlt werden durften.15 Die wichtigsten Kriterien für die Bewertung der Kabaretts werden bereits im ersten Punkt der „methodische[n] Hinweise“ für die Fachjurys deutlich: Die Aufführung eines Programms oder einzelner kabarettistischer Darbietungen ist nicht die alleinige Grundlage für eine Einstufung einer Gruppe in die Grund-, Mittel- oder Oberstufe. Dazu sind auch Antworten zu folgenden Fragen erforderlich: Hat sich die Gruppe als Volkskunstkollektiv herausgebildet und leistet sie eine kontinuierliche Arbeit? Vertritt die Gruppe die Grundpositionen des politischen Kabaretts im Sozialismus, und wie ist dies an der Gesamthaltung der Gruppe erkennbar? Ist im vorgeführten Programm sowie im kabarettistischen Spiel eine klare politische Verantwortung gegenüber unseren gesellschaftlichen Bestrebungen zu erkennen?16

Über diese Instrumente hinaus war es auch immer möglich, dass Funktionäre der SED, des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) oder der staatlichen Leitungen von der Trägerinstitution bis zur zentralen Ebene versuchten, in die Arbeit eines Kabaretts einzugreifen. Zugleich wurden Vertreter vieler Amateurkabaretts über Kreis-, Bezirks- und Zentrale Arbeitsgemeinschaften und die Beratergruppe des FDGB in die kulturpolitische Arbeit eingebunden. Gerade die erfolgreichen und republikweit tätigen Gruppen befanden sich so in einem komplexen Netz institutioneller Abhängigkeiten, Partnerschaften und Zugehörigkeiten. Eine perfekte, flächendeckende und vor allem einheitliche Kontrolle konnte damit jedoch nicht erreicht werden, zumal die regionalen Unterschiede auch hier erheblich waren. So erhielten publikumswirksame Amateurgruppen in Bezirken wie Rostock, die kein eigenes Berufskabarett vorweisen konnten, besondere Aufmerksamkeit.17

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Mit Aufkommen einer jugendlichen Subkultur in den siebziger und achtziger Jahren mehrten sich vor allem im Bereich der Rock- und Bluesmusik die Beispiele für ein Unterlaufen dieser Einstufungen, womit sich Künstler und Veranstalter jedoch stets am Rande der Legalität bewegten. Vgl. Rauhut/Kochian (Hg.), Lübben City. Methodische Hinweise für die Arbeitsweise der Jurys bei der Durchführung von Leistungsvergleichen auf dem Gebiet des Amateurkabaretts, Zentralhaus für Kulturarbeit, o.D. [1981], S. 1, in: Landesarchiv Greifswald (Rep. 200, 8.4.1, 11), Amateurkabarett. – Bemerkenswert ist, dass diese Handreichung im Wesentlichen von Amateurkabarettisten verfasst wurde. Zwar wurde am 30.12.1979 nach fast fünfjähriger Vorbereitung das Berufskabarett „Die Umweltschützer“ am Volkstheater Rostock gegründet, es konnte sich aber nie als eigenständiges Ensemble durchsetzen, da es sich letztlich um mit Theaterschauspielern besetzte Kabarett-Inszenierungen handelte, die in ähnlicher Form an vielen Theatern der DDR liefen. Vgl. Plan der Aufgaben 1976 des Volkstheaters Rostock, Volkstheater Rostock, Januar 1976, S. 3, in: Landesarchiv Greifswald (Rep. 200, II, 8.4, 428), Rat des Bezirkes, Abteilung Kultur, Schriftwechsel 1970–80, unpagniert; Otto/Rösler: Kabarettgeschichte, S. 388; Otto, Kabarett, S. 5.

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2. Das Kabarett „ROhrSTOCK“ und die Institutionen „ROhrSTOCK“ wurde, zunächst noch unter dem Namen „K–70“, am 10. Januar 1970 als Kabarett der „Sektion Sprach- und Literaturwissenschaft“ der Universität Rostock gegründet, womit man nicht zuletzt eine Planvorgabe der FDJ-Sektionsleitung erfüllte. Das Gründungsensemble bestand aus sieben Studenten der Sektion und dem damaligen FDJ-Sekretär der Sektion, der die künstlerische Leitung übernahm.18 Aufgrund der Neuordnung der Universität in Sektionen kann „ROhrSTOCK“ also nicht per se dem Fachbereich Germanistik zugeordnet werden, zumal sich die Gruppe selbst schnell nicht mehr als Sektions-, sondern als FDJ-Studentenkabarett der ganzen Universität verstand. Dennoch war der Anteil von GermanistikStudenten im Kabarett am höchsten, zudem waren auch beide künstlerische Leiter Germanisten. Nach der Premiere des ersten Programms im Juni 1970 entwickelte das Kabarett eine kontinuierliche Arbeitsweise; in jedem Jahr wurde mindestens ein neues Programm produziert. Bereits nach kurzer Zeit war „ROhrSTOCK“ überaus populär. Die Aufführungen waren sehr gut besucht, für Premierenkarten gab es bald eine Art Schwarzmarkthandel, Kabarettmitglieder hatten unter den Kommilitonen beinahe einen Prominentenstatus. Bereits im Jahr 1976 erhielt „ROhrSTOCK“ u. a. die Auszeichnung als bestes FDJ-Studentenkabarett der DDR. Bis 1990 hatte das Kabarett über 1.300 Auftritte in der DDR und im sozialistischen Ausland absolviert. Wie ist dieser Erfolg zu erklären? Eine künstlerische und inhaltliche Analyse der insgesamt 30 abendfüllenden Programme kann hier natürlich nicht vorgenommen werden. Allgemein lässt sich sagen, dass „ROhrSTOCK“ als sehr bissiges Kabarett galt. Dabei waren viele Themen im universitären Alltag angelegt oder wurden aus studentischer Perspektive betrachtet. Die Konzentration auf Themengebiete des akademischen Umfeldes und der FDJ ermöglichte scharfe Detail-Kritik, ohne mit den großen politischen Fragen zu kollidieren. Hinzu kam eine publikumswirksame künstlerische Umsetzung. Neben sprachlich ausgefeilten Pointen und anspruchsvollen Texten sparte das Kabarett auch nicht an Klamauk-Elementen, Kalauern und optisch witzigen Szenenideen. Zudem galten die schauspielerische Ensembleleistung und die in vielen Rezensionen gewürdigte Spielfreude als besondere Qualität dieses Kabaretts. Das gelang, obwohl die DarstellerFluktuation enorm war: von den 157 Personen, die bis 1990 mindestens einmal für den „ROhrSTOCK“ auf der Bühne standen, erreichten nur gut 30 Mitglieder über 100 Auftritte.19 18 19

Vgl. Tillner, Arbeit, S. 16 und 19. Vgl. Dalk/Ruschke, 30 Jahre, S. 7 und 16.

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Im Vergleich zu anderen Amateurkabaretts arbeitete „ROhrSTOCK“ eng mit den verantwortlichen Kulturfunktionären an der Universität zusammen. Träger des Kabaretts war die Hochschulgruppenleitung der FDJ (HGL), der Programmkonzeptionen, Zwischenberichte und Textbücher vorzulegen waren. Einige Wochen vor der Premiere wurde das Programm im Rahmen einer Durchlaufprobe von der HGL, der Universitätsleitung und der Universitätsparteileitung abgenommen. Hier wurden ‚Empfehlungen‘ für Streichungen oder Veränderungen ausgesprochen, die diskutiert werden konnten, in letzter Konsequenz aber als verbindlich zu betrachten waren. Gute persönliche Beziehungen zu den Funktionären halfen, den Prozess von Förderung und Kontrolle zu einer Zusammenarbeit zu entwickeln. Dass beispielsweise ausgerechnet der Parteisekretär der Universität mit dem künstlerischen Leiter befreundet war und offiziell als politischer Berater des Kabaretts fungierte, war für „ROhrSTOCK“ ein großer Vorteil. Somit hatte das Verfahren der Programmabnahme für die Kabarettisten zwei Seiten: Einerseits war es ein Akt der Zensur, andererseits standen Universität und HGL danach in der Regel hinter dem Programm und verteidigten die Gruppe mehrfach gegen Angriffe von außen. Dies zeigte sich u. a. im September 1979, als der Gruppe, die seit 1974 in die Oberstufe mit dem Prädikat gut eingestuft war, beim Bezirksleistungsvergleich eine erneute Einstufung verweigert wurde. Die Jury hatte das „ROhrSTOCK“-Programm zum 30. Jahrestag der DDR als „politisch nicht tragbar“ bewertet.20 An der Universität kursierten daraufhin bereits Gerüchte, „ROhrSTOCK“ habe Auftrittsverbot.21 Die Brisanz der Situation zeigt auch eine als streng geheim gekennzeichnete Information der MfS-Hauptabteilung II: Dafür wurde die Auflage erteilt, ihr Programm gründlich zu überdenken und zu überarbeiten und es am 15./16.12.79 auf einem Intensivlehrgang mit den zu delegierenden Gruppen vorzustellen. Da wird dann entschieden, was mit der Gruppe in Zukunft geschieht – ob sie weiterspielen kann oder aufgelöst werden muss.22

Nach einer massiven Intervention der FDJ-HGL sowie der Universitätsparteileitung zugunsten des Kabaretts, in deren Folge sich auch der FDJZentralrat hinter die Studenten stellte, blieb „ROhrSTOCK“ schließlich Kabarett der; von 1983 bis 1989 sogar mit dem Prädikat sehr gut. Weitere Probleme ergaben sich jedoch ab 1982 mit den Delegierungen zu den 20 21 22

Jury-Einschätzung zum Bezirksleistungsvergleich am 29./30. September 1979, o.D., in: UAR (Bestand „ROhrSTOCK“), Programm „30, 30er, am 30sten“, Bd. 13. Das Kabarett durfte jedoch weiterhin auftreten, da die letzte Einstufung im Jahr 1977 erfolgte und für drei Jahre gültig war. Bezirksleistungsvergleich der Amateurkabaretts des Bezirkes Rostock am 29. und 30.9.1979, Information Nr. 2792/79 der HA II, o.D., in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4264/90: „Detlef Hofer“), Teil I, Bd. 1, Bl. 257–258, hier Bl. 258.

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Zentralen Leistungsvergleichen und den Arbeiterfestspielen, denen sich das Kabarett u. a. wegen des erheblichen zusätzlichen Zeitaufwandes entziehen wollte. Für den FDGB, der diese Veranstaltungen als Träger der Volkskunst in der DDR ausrichtete, galt eine solche Haltung als Affront. Dem kurz zuvor noch hoch gelobten Programm „Widerstehen macht Freu(n)de“ fehlte nun plötzlich eine „klare politische Haltung“ und es wurde die Frage aufgeworfen, ob die Universitätsleitung ihrer politischen Verantwortung gerecht würde.23 Diese Konflikte zeigen, wie fragil die Arbeitsgrundlage auch republikweit erfolgreicher Gruppen sein konnte.

3. Das Kabarett „ROhrSTOCK“ und die Staatssicherheit In nahezu allen Bereichen und Institutionen, zu denen „ROhrSTOCK“ in einer Arbeitsbeziehung stand, verfügte die Staatssicherheit über inoffizielle Mitarbeiter, die auch über das Kabarett berichteten.24 Besondere Bedeutung kam dabei den Quellen im universitären Umfeld zu. Zahlreiche Studenten hatten die Aufgabe, den studentischen Freizeitbereich, zu dem auch „ROhrSTOCK“ gezählt wurde, ‚operativ abzusichern‘. So besuchten die IM „Christiane Tietz“25 und „Marina Timmer“26, beide Studentinnen an der „Sektion Sprach- und Literaturwissenschaft“, in den achtziger Jahren regelmäßig Kulturveranstaltungen an der Universität und schätzten sowohl die Aufführungen als auch die Zuschauerreaktionen für das MfS ein. Den Programmen des „ROhrSTOCK“ bescheinigten sie dabei regelmäßig eine weitgehend positive politische Wirkung. Bemerkenswert ist hier allerdings der Fokus des MfS – eine knapp zweiseitige Beschreibung und Analyse des „ROhrSTOCK“-Programms „GeWissenschaft“ durch „Marina Timmer“ fasste ihr Führungsoffizier in einem Satz zusammen: „Dabei kam es zu 23

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Aktennotiz über den Rückzug der Delegierung des Kabaretts ROhrSTOCK vom Zentralen Leistungsvergleich der Amateurkabaretts in Leipzig, FDGB-Bezirksvorstand Rostock, 26.1.1982, in: UAR (Bestand „ROhrSTOCK“), Programm „Widerstehen macht Freu(n) de“, Bd. 16. So u. a. die inoffiziellen Mitarbeiter „Klaus“, Abteilungsleiter im Rostocker Bezirkskabinett für Kulturarbeit und Jurymitglied bei den Leistungsvergleichen und Einstufungen (vgl. Archiv der BStU, Außenstelle Rostock [AIM 0122/91 „Klaus“]); „Klaus Stefan“, Dramaturg am Volkstheater Rostock und Mitglied der Bezirksarbeitsgemeinschaft Kabarett (vgl. Archiv der BStU, Außenstelle Rostock [AIM 0173/91 „Klaus Stefan“]) sowie „Hansen“, künstlerischer Leiter des Rostocker Jugendkabaretts „Klabauterschüler“ und Ehrenmitglied des Kabaretts „ROhrSTOCK“ (vgl. Archiv der BStU, Außenstelle Rostock [AIM 0220/91: „Hansen“]). Vgl. Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4078/90: „Christiane Tietz“). Vgl. Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4092/90: „Marina Timmer“).

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einer kritischen Bewertung der FDJ-Arbeit.“27 Ein weiterer studentischer IM hatte u. a. zu überprüfen, ob das Kabarett in der laufenden Spielsaison von der genehmigten Programmfassung abwich. Diesen Verdacht konnte IM „Falko“ (bis 1986: „Kanüle“) bestätigen und riet zu weiteren Überwachungsmaßnahmen: Es ist unbedingt notwendig, das ganze Programm aufzuzeichnen [...]. Bei Wirksamwerden dieses Programmes wäre eine Falschmobilisierung von Studenten zumindest in Schritten nicht auszuschließen!28

Auch IM unter den Universitätsmitarbeitern waren in unregelmäßigen Abständen mit „ROhrSTOCK“ befasst. Es berichteten Mitglieder der FDJHochschulgruppenleitung, ebenso wie der Direktor für Ausbildung und Erziehung an der Sektion, der später Rektor der Universität und Ehrenmitglied des Kabaretts wurde. Ein Dozent für Deutsch-Methodik, seit 1982 ebenfalls Ehrenmitglied des Kabaretts, schätzte Programme ein.29 Bereits seit 1959 war ein namhafter Böll-Forscher unter dem Decknamen „Echtermeyer“ tätig.30 Im Zusammenhang mit „ROhrSTOCK“ wurde der Professor nur in Ausnahmefällen eingesetzt. So verfasste er für das MfS Gutachten zu Texten des Kabaretts. Jeder der bisher erwähnten inoffiziellen Mitarbeiter hatte mehrere Einsatzrichtungen und war nicht speziell auf „ROhrSTOCK“ angesetzt. Zum Kabarett ging die Berichterstattung meist nicht über Routine-Kontrollen hinaus – kam es aber zu Problemen, die einen erhöhten Informationsbedarf erforderten, standen diese Quellen bereit. Die Anwerbung von „ROhrSTOCK“-Mitgliedern durch die Staatssicherheit setzte im Jahr 1973 und damit erst drei Jahre nach Gründung des Studentenkabaretts ein. Der Auslöser war, wie im Eingangszitat korrekt festgestellt, die Republikflucht des damaligen Frontmannes der Gruppe. Unmittelbar danach nahm die Abteilung XX/3 der MfS-Bezirksverwaltung Rostock Kontakt zu einer Darstellerin auf, die sich kurze Zeit später als IM „Anette“ verpflichtete. Sie sollte zunächst „zielgerichtet zur Aufklärung der Kabarettmitglieder und zur Verfolgung der Reaktionen über die Republikflucht des Forschungsstudenten [...] eingesetzt“ werden.31 Ein knappes Jahr später warb das MfS mit IM „Reinhard“ ein weiteres Mitglied der Gruppe 27 28

29 30 31

Treffbericht, 4.5.1988, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4092/90: „Marina Timmer“), Teil II, Bd. 1, Bl. 464–465, hier Bl. 465. Information zum 13. Klubgeburtstag des „LT-Clubs“ am 9.5.1987, 15.5.1987, Quelle: IMS „Falko“, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4024/90: „Falko“/„Kanüle“), Teil II, Bd. 2, Bl. 195. Vgl. Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AGMS 4034/90). Vgl. Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4242/90: „Echtermeyer“). Vorschlag zur Werbung eines IMS, 10.9.1973, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 2890/76: „Anette“), Teil I, Bd. 1, Bl. 81.

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an, da ihr mittlerweile eine höhere Bedeutung zugemessen wurde: „Das Kabarett kann entscheidend zur politischen Beeinflussung beitragen und ist somit als Schwerpunkt im Verantwortungsbereich zu sehen.“32 Beide IM erfüllten die Erwartungen jedoch nicht. „Anette“ verließ die Gruppe bereits im Frühjahr 1975 und hatte bis dahin nur wenige Monate lang kontinuierlich berichtet.33 „Reinhard“ wiederum enttarnte sich sechs Monate nach seiner Verpflichtung im angetrunkenen Zustand vor vier Kabarettmitgliedern als MfS-Mitarbeiter und wurde damit für die Staatssicherheit nutzlos.34 Schließlich entschied man sich, im März 1975 auch den Gründer und künstlerischen Leiter des Kabaretts als IM „Detlef Hofer“ anzuwerben, zu dem es bereits seit einigen Monaten inoffizielle Kontakte gab.35 Da „Detlef Hofer“ mit dem geflohenen Kabarett-Mitglied befreundet war, hatte man ihn noch vor der endgültigen Verpflichtung auf die in der DDR verbliebene Ehefrau angesetzt. Ihren sofortigen Verdacht, er würde für das MfS arbeiten, konnte „Detlef Hofer“ zerstreuen.36 Trotz zeitweise erheblicher Probleme mit der „Treffdisziplin“ entwickelte sich „Detlef Hofer“ in der Folgezeit zu einer sehr wichtigen Quelle der Abteilung XX/3; die IM-Tätigkeit endete erst 1989.37 Ein Schwerpunkt seiner Berichterstattung war vor allem die sog. ,Wer-ist-wer-Aufklärung‘ des Kabaretts. Gerade aufgrund des schnellen Darstellerwechsels wollte das MfS über die „ROhrSTOCK“-Mitglieder informiert sein. Die meisten von ihnen wurden daher durch den IM eingeschätzt. Für zahlreiche Personen 32

33 34 35 36

37

Bericht über das Bekanntwerden und Begründung der Notwendigkeit der Werbung, 14.6.1974, in: Archiv der BStU, Außenstelle Schwerin (AIM 918/80: „Reinhard“), Teil I, Bd. 1, Bl. 33. Abschlußbericht zum IMS „Anette“, 28.7.1976, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 2890/76: „Anette“), Teil I, Bd. 1, Bl. 81. Abschlußbericht zum IMS „Reinhard“, 29.7.1976, in: Archiv der BStU, Außenstelle Schwerin (AIM 918/80: „Reinhard“), Teil I, Bd. 1, Bl. 85. Vgl. Bericht über die durchgeführte Werbung, 25.3.1975, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4264/90: „Detlef Hofer“), Teil I, Bd. 1, Bl. 64–65. „Ich war anfänglich sehr überrascht, versuchte dann aber diesen Angriff insofern zu parieren, indem ich sagte, daß ich den Eindruck schon seit langem hätte, sie arbeite für die Staatssicherheit, und zwar dann gegen mich. [...] Dieser nicht gerade sehr glückliche Gegenhieb war aber angekommen. [G.] konnte ich dann dazu bringen, daß wir uns per Handschlag dann bestätigten, daß wir beide nicht für die Staatssicherheit arbeiten würden.“ (Bericht [Tonbandabschrift], 10.1.1975, Quelle: IM-Vorlauf „Detlef Hofer“, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock [AIM 4264/90: „Detlef Hofer“], Teil I, Bd. 1, Bl. 75–76) – Hervorhebung durch den Verfasser. Für „Detlef Hofer“ war es außerdem nicht die erste Verpflichtung als inoffizieller Mitarbeiter. Bereits im Dezember 1967 ließ sich der damalige Student als GI (Geheimer Informant) „Sven Klad“ anwerben, entzog sich dann jedoch der Zusammenarbeit, woraufhin der Vorgang archiviert wurde (vgl. Abschlußbericht, 7.4.1969, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock [AIM 4264/90: „Detlef Hofer“], Teil I, Bd. 1, Bl. 154). Den früheren Decknamen „Sven Klad“ nutzte er dann in den neunziger Jahren gelegentlich als Pseudonym bei seiner Tätigkeit als Kulturjournalist (vgl. u. a.: Klad, Widerstehen).

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gab das MfS zudem detailliertere Einzelberichte in Auftrag, die neben der Arbeit im Kabarett, auch Charakterfragen, die politische Einstellung, den Familien- und Freundeskreis und weitere Informationen aus dem Privatleben behandeln sollten. Dabei war der IM keinesfalls bemüht, seine Kabarettkollegen beim MfS anzuschwärzen. Vor allem in den politischen Einschätzungen dominierten die positiven Berichte, zumal er als Leiter selbst für die Aufnahme dieser Personen in das Kabarett verantwortlich war. In seinen mündlichen, auf Tonband gesprochenen Berichten gab er jedoch gewollt oder ungewollt zahlreiche Informationen zu Eheproblemen, Charakterschwächen, Alkoholkonsum, auffälligen Verbindungen und anderen privaten Details verschiedener Kabarettmitglieder preis, die häufig geeignet waren, den Betroffenen zum Nachteil zu gereichen. Selbst der Führungsoffizier vermerkte hierzu: „Der IM neigt zu Redeschwallen u[nd] verliert sich darin.“38 Neben der direkten Personeneinschätzung forderte das MfS auch regelmäßig Berichte zur allgemeinen politisch-ideologischen Lage im Kabarett oder zu Diskussionen über konkrete Themen wie etwa die BiermannAusbürgerung an. Die künstlerische Arbeit blieb hingegen ein Randthema. Zwar sollte „Detlef Hofer“ mehrfach Texte, Programm-Konzeptionen sowie inhaltliche Einschätzungen der „ROhrSTOCK“-Arbeit und damit im Wesentlichen seiner eigenen Tätigkeit vorlegen, jedoch wurde er nur in Ausnahmefällen aufgefordert, zu konkreten Textpassagen Stellung zu nehmen. Stattdessen nutzte das MfS die Erfahrung und die guten Kontakte seiner Quelle für die ‚operative Aufklärung‘ anderer Amateurkabaretts und universitärer Kulturgruppen. Für die Schriftenfahndung der Staatssicherheit verfasste der promovierte Sprachwissenschaftler außerdem linguistische Gutachten zu staatsfeindlichen Schmierereien. Um handschriftliche Texte von Studenten und Mitarbeitern der Universität den jeweiligen Verfassern zuordnen zu können, wurde „Detlef Hofer“ schließlich sogar beauftragt, „ein Modell für die Beschaffung von Vergleichsschriften mit den erforderlichen Legenden“ zu entwickeln.39 Von 1982 bis 1984 erhielt er dafür Geldund Sachzuwendungen im Wert von mehr als 1.500 Mark. Das bedeutete jedoch nicht, dass die Staatssicherheit ihrem IM uneingeschränkt vertraute. Da „Detlef Hofer“ Mitte der siebziger Jahre die einzige Quelle im „ROhr38 39

Treffbericht, 15.4.1984, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4264/90: „Detlef Hofer“), Teil II, Bd. 2, Bl. 334. Treffbericht, 6.12.1983, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4264/90: „Detlef Hofer“), Teil II, Bd. 2, Bl. 291. – Der IM erfand dafür eine Befragung zur Rechtschreibreform, in der die Probanden durch das Verfassen von Beispieltexten mehrere Schriftproben, u. a. in Schreib- und Blockschrift, abgeben sollten. „Detlef Hofer“ erläuterte auch ausführlich, welche Genehmigungen und welche wissenschaftlichen Begründungen nötig wären, um die Echtheit der Untersuchung vorzutäuschen (vgl. Erläuterung zur Befragung [Tonbandabschrift], 17.1.1984, Quelle: „Detlef Hofer“, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock [AIM 4264/90: „Detlef Hofer“], Teil II, Bd. 2, Bl. 309–310). Ob das MfS diese Befragung auch durchführen ließ, ist nicht bekannt.

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STOCK“ war, bemühte man sich massiv um weitere Verpflichtungen. Der Versuch, im Dezember 1976 mit einem langjährigen Mitglied über eine inoffizielle Mitarbeit zu sprechen, scheiterte jedoch ebenso wie die Anwerbung der damaligen studentischen Leiterin des Kabaretts im Juni 1977. Nur zwei Tage nach ihrer endgültigen Weigerung unterschrieb jedoch ein anderer Darsteller eine Verpflichtungserklärung und wählte sich den Decknamen „Walter Schmidt“.40 Seine Aufgabe war es nicht nur, „die ideologische Wirksamkeit der Studentenkabaretts ‚ROhrSTOCK‘ einzuschätzen und rechtzeitig negative Tendenzen zu erkennen und zu verhindern“, sondern auch den künstlerischen Leiter hinsichtlich seiner politischen Zuverlässigkeit zu überprüfen.41 Im Jahr 1979 wurden mit hoher Wahrscheinlichkeit zwei weitere Kabarettmitglieder angeworben, deren Akten jedoch vernichtet sind.42 Tatsächlich überschlugen sich in dieser Zeit die Ereignisse im Kabarett „ROhrSTOCK“ und seinem unmittelbaren Umfeld. So wurde im Mai 1979 einer der Darsteller wegen des Vorwurfs der „staatsfeindlichen Hetze“ verhaftet. Dieser Aktion gingen monatelange Ermittlungen des MfS voraus, für die u. a. auch „Detlef Hofer“ eingesetzt wurde. Er hatte der Staatssicherheit im Februar 1979 berichtet, dass dieses Kabarett-Mitglied angeblich Hakenkreuze auf seine Textblätter gekritzelt und westdeutsche Neofaschisten als „kraftvoll“ bezeichnet hätte. Außerdem sei es bemerkenswert, „mit welch Engagement und innerer Anteilnahme er die Karikierung eines nazistisch aufzutretenden Jugendlichen zu spielen weiß, es kommt der Verdacht auf, daß er hier durchaus innere Sympathien artikuliert.“43 Dieser Vorwurf erscheint sonderbar, denn es war der IM selbst, der diese Szene geschrieben, besetzt und auch inszeniert hatte. Weitere belastende Berichte folgten. Die MfS-Ermittlungen hatten allerdings schon vor der Aufnahme des Verdächtigen in das Kabarett begonnen. Die damit verbundene öffentliche Präsenz machte den Fall nun jedoch besonders brisant. Die Zeit drängte, da die 40

Vgl. Bericht über durchgeführte Werbung, 30.6.1977, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 1561/90: „Walter Schmidt“), Teil I, Bd. 1, Bl. 35–36. 41 Notwendigkeit und Zielstellung, 23.6.1977, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 1561/90: „Walter Schmidt“), Teil I, Bd. 1, Bl. 20. 42 Es handelt sich um GMS/IME (Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit des MfS/Inoffizieller Mitarbeiter im besonderen Einsatz des MfS [IM-Kategorien]) „Sänger“, der von der für Auslandsspionage zuständigen Abteilung XV geführt wurde und offenbar nur in Ausnahmefällen zum „ROhrSTOCK“ berichtete, so z. B. im April 1982. Außerdem um IMS „Petra Schneider“, die vermutlich ab Dezember 1979 für die Abteilung XX der Bezirksverwaltung Rostock tätig war Diese Erkenntnisse ergeben sich aus mehreren MfS-Karteikarten, die auch die Klarnamen enthalten, und aus einigen erhalten gebliebenen Berichten. Da die IM/GMSAkten und damit auch eventuelle Verpflichtungserklärungen fehlen, kann die inoffizielle Mitarbeit der beiden Personen jedoch nicht als zweifelsfrei erwiesen gelten. 43 Bericht (Tonbandabschrift), 14.2.1979, Quelle: „Detlef Hofer“, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4264/90: „Detlef Hofer“), Teil II, Bd. 1, Bl. 122–123.

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Staatssicherheit unter allen Umständen einen Auftritt des Verdächtigen mit „ROhrSTOCK“ beim Nationalen Jugendfestival in Berlin Anfang Juni 1979 verhindern wollte.44 Um ihn nicht zu warnen, sollte er bis zur Verhaftung aber zunächst nicht aus dem Kabarett herausgelöst werden; eine Anweisung, an die sich „Detlef Hofer“ jedoch nicht hielt. Am 11. April 1979, drei Tage nach der Premiere des neuen „ROhrSTOCK“-Programms zum 30. Jahrestag der DDR, in dem der Betroffene eine tragende Rolle gespielt hatte, wurde er aus dem Kabarett ausgeschlossen.45 Am 16. April 1979 stellte die Abteilung IX der MfS-Bezirksverwaltung Rostock fest, dass sich „weder hinsichtlich der objektiven Schwere noch für die subjektive Seite der Verdacht strafbarer Handlungen [...] exakt begründen“ ließe.46 Die Ermittlungen wurden nochmals intensiviert und der Student zwei Wochen später verhaftet. Neben diesem Fall war „Detlef Hofer“ bereits seit mindestens einem Jahr auf einen Rostocker Künstler angesetzt, der u. a. für „ROhrSTOCK“ die Programmhefte illustrierte und gegen den, allerdings nicht aufgrund seiner Tätigkeit für das Kabarett, ebenfalls wegen des Verdachts auf „staatsfeindliche Hetze“ ermittelt wurde. Im Spätsommer 1979 erfolgte schließlich die Festnahme. Fast zeitgleich wurde Anklage gegen den im Mai verhafteten ehemaligen „ROhrSTOCK“-Darsteller erhoben. Im gleichen Monat, am 29./30. September 1979, verweigerte die Jury des Rostocker Bezirksleistungsvergleiches dem Kabarett die Einstufung, ohne dass offiziell ein Bezug zu diesen Vorgängen hergestellt wurde. Es erscheint jedoch naheliegend, dass man keinem Kabarett die Oberstufe bestätigen wollte, dessen einstiger Hauptdarsteller gerade wegen schwerer politischer Vergehen angeklagt war. Nur drei Tage später begann vor dem 1. Strafsenat des Bezirksgerichtes Rostock der Prozess gegen den Studenten, der am 5. Oktober 1979 mit der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe in Höhe von vier Jahren und sechs Monaten wegen „mehrfacher staatsfeindlicher Hetze“ endete.47 Aufgrund einer Amnestie zum 30. Jahrestag der DDR konnte er das Gefängnis noch 1979 wieder verlassen, der Kontakt zum „ROhrSTOCK“ war ihm jedoch untersagt. 44 45 46 47

Aktenvermerk zum OV „Parasit“, 3.4.1979, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AOP 1966/79: „Parasit“), Bd. 1, Bl. 23. Vgl. Bericht (Tonbandabschrift), 19.4.1979, Quelle: „Detlef Hofer“, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4264/90: „Detlef Hofer“), Teil II, Bd. 1, Bl. 146. Stellungnahme zum OV „Parasit“ der Abteilung XX der BV Rostock, 16.4.1979, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AOP 1966/79: „Parasit“), Bd. 1, Bl. 17. Urteil vom 5.10.1979, 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Rostock, Aktenzeichen 211–46–79, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AU/2106/79), Strafakte, Bd. 2, Bl. 81. – Das Landgericht Rostock erklärte diesen Prozess am 4. Dezember 1992 für rechtsstaatswidrig und hob das Urteil unter vollständiger Rehabilitierung des Betroffenen auf. Vgl. Urteil vom 4.12.1992, in: Landgericht Rostock (Aktenzeichen II RRO 350/91).

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Für das Kabarett blieb diese existenzbedrohende Krise in der Zeit danach ohne weitere ernsthafte Folgen. Schon im Frühjahr 1980 wurde die Gruppe anlässlich ihres zehnjährigen Jubiläums wieder offiziell gefeiert und erhielt neben Glückwunschadressen des FDJ-Zentralrates, des Bezirkskabinetts für Kulturarbeit Rostock und der staatlichen Leitung der Universität auch eine Prämie des Ministers für Hoch- und Fachschulwesen. Bis 1985 kamen u. a. noch das „Friedensdiplom des Ministers für Kultur“, der Kulturpreis der Stadt Rostock und der Kunstpreis der FDJ hinzu.48 Nach dem Zentralen Leistungsvergleich 1984 wurde „ROhrSTOCK“ zu den sechs besten Amateurkabaretts der DDR gezählt.49 Die Auftrittszahlen konnten sich in den achtziger Jahren fast verdoppeln. Auch die MfS-Überwachung des Kabaretts konsolidierte sich im zweiten Jahrzehnt seines Bestehens. Zwar hatten alle bisherigen IM mit Ausnahme „Detlef Hofers“ das Kabarett bis 1982 verlassen, mit IM „Willi Ruby“ konnte die Abteilung XX/3 im Februar 1983 jedoch einen inoffiziellen Mitarbeiter übernehmen, der nicht nur bis 1989 kontinuierlich berichtete, sondern auch ab Mitte der achtziger Jahre als neuer künstlerischer Leiter des Kabaretts aufgebaut wurde.50 Seine Hauptaufgabe als IM war die „op[erative] Kontrolle und Aufklärung der Mitglieder des Kabaretts ‚ROhrSTOCK‘“.51 Dabei sind für die ersten Jahren nur wenige und meist positive politische Wertungen in den Personen-Einschätzungen durch „Willi Ruby“ festzustellen, während er sich offensichtlich gleichzeitig bemühte, möglichst viele Informationen zum Umfeld und Leben der jeweiligen Kabarett-Mitglieder zu erarbeiten. Ab Mitte der achtziger Jahre mehrten sich jedoch die Berichte über politisch verdächtige Äußerungen und Einstellungen der Darsteller, auf die der IM zum Teil jahrelang angesetzt war. Zudem forderte die Staatssicherheit nun zunehmend ausführlichere politische Bewertungen sowie inhaltliche Einschätzungen der „ROhrSTOCK“-Programme von „Willi Ruby“ an, der sich zu dieser Zeit neben „Detlef Hofer“ bereits zum Haupttexter des Kabaretts entwickelt hatte. Vorbehalte gegenüber den Programmen seitens des MfS sind für diese Zeit kaum aktenkundig. Zu der von „Willi Ruby“ vorgelegten Konzeption des Programms „GeWissen48 49

50

51

Vgl. Ruschke, Tätigkeit, S. 66. Vgl. Information über den Leistungsvergleich der Amateurkabaretts 1983/84, Zentralhaus für Kulturarbeit der DDR, 7.3.1984, S. 2, in: Deutsches Kabarettarchiv, Außenstelle Bernburg (RK/Hh/17,6), 5. Zentraler Leistungsvergleich 1984. Vgl. Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4086/90: „Willi Ruby“). – „Willi Ruby“ wurde schon als Schüler in seiner Heimatstadt geworben. Mit der Aufnahme seines Studiums in Rostock und dem Eintritt in das Kabarett übernahm ihn die Abteilung XX/3 der Bezirksverwaltung Rostock. Einschätzung der Zusammenarbeit mit dem IMS „Willi Ruby“ im Studienjahr 1983, 6.9.1984, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4086/90: „Willi Ruby“), Teil I, Bd. 1, Bl. 97–98, hier Bl. 97.

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schaft“ (Arbeitstitel: „TEILerfolge“), die eine Auseinandersetzung mit dem Gegensatz zwischen privater und offizieller Meinung ankündigte, notierte ein MfS-Offizier: Gen[osse] Baum! Warum drückst Du Dich vor der Bewertung der Konzeption zum neuen Programm? Ist doch vom Anliegen völlig richtig, diese Probleme der doppelten Moral bewegen uns täglich in der op[erativen] Arbeit.52

Neben dem künstlerischen Leiter und seinem potenziellen Nachfolger verfügte das MfS in den achtziger Jahren noch über eine dritte Quelle im Kabarett: IM/GMS „Dieter Schneider“.53 Gemessen an den Auftrittszahlen bis 1990 stand er mit fast 500 Einsätzen in der Zeit von 1980 bis 1987 an vierter Stelle der Statistik. Ohne die langfristige Perspektive der einzelnen Personen genau vorhersehen zu können, ist es dem MfS also gelungen, mit „Detlef Hofer“ (811 Auftritte), „Willi Ruby“ (510 Auftritte) und „Dieter Schneider“ drei der vier meist eingesetzten Kabarettisten für eine inoffizielle Mitarbeit zu verpflichten.54 Und auch für den musikalischen Leiter der Gruppe, der mit 566 Einsätzen bis 1990 an Platz zwei der Auftrittsstatistik stand, hatte die Staatssicherheit bereits einen IM-Vorlauf angelegt. Er ließ sich jedoch trotz mehrfacher Versuche nicht anwerben.55 „Dieter Schneider“ wiederum war im April 1981 eigentlich für eine spätere Tätigkeit in der Auslandsaufklärung geworben worden; seine Berichte über das Kabarett dienten zunächst nur zur Überprüfung der Ehrlichkeit und Fähigkeiten des IM. Im Oktober 1985 stellte die zuständige Abteilung XV jedoch fest, dass „Dieter Schneider“ zwar „in der bisherigen inoffiziellen Zusammenarbeit eine positive Entwicklung genommen hat“, aber aufgrund seiner familiären und beruflichen Einbindung „für eine IM-Kategorie in Richtung Aufklärung nicht geeignet ist“56. Da „Dieter Schneider“ mittlerweile als kulturpolitischer Mitarbeiter der FDJ-Hochschulgruppenleitung tätig war, übernahm ihn die Abteilung XX der Rostocker MfS-Bezirksverwaltung.57 Damit war in der politisch verantwortlichen Trägerinstitution 52

53 54 55

56 57

Handschriftlicher Zusatz zum Treffbericht vom 11.1.1988, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4086/90: „Willi Ruby“), Teil II, Bd. 1, Bl. 344. – Unterleutnant Baum war zu diesem Zeitpunkt der Führungsoffizier von „Willi Ruby“. Vgl. Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AGMS 4026/90: „Dieter Schneider“). Vgl. Dalk/Ruschke, 30 Jahre, S. 16. – Nur sieben Mitglieder erreichten bis 1990 über 300 Auftritte. Begründung der Notwendigkeit und Zielstellung, 25.3.1983, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 1906/87: „Klaus Wiegand“), Teil I, Bd. 1, Bl. 66; Bericht zum Kontaktgespräch mit „Klaus Wiegand“, 24.4.1986, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 1906/87: „Klaus Wiegand“), Teil I, Bd. 1, Bl. 198. Abschlußbericht, 21.10.1985, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AGMS 4026/90: „Dieter Schneider“), Bd. 1, Bl. 418. Vgl. Festlegung der Einsatzrichtung für den GMS „Dieter Schneider“ für das Semester 86/87, 16.10.1986, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AGMS 4026/90: „Dieter

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des Kabaretts ein „ROhrSTOCK“-Mitglied vertreten und die Staatssicherheit verfügte bei Bedarf über Informationen aus beiden Perspektiven. Mit bis zu drei inoffiziellen Mitarbeitern im Ensemble war die „operative Durchdringung“ der Gruppe, die bei wechselnder Besetzung stets eine Stärke von sieben bis zehn Personen hatte, in den achtziger Jahren aus Sicht des MfS sehr erfolgreich.

4. Resümee Im Bezirk Rostock gab es neben „ROhrSTOCK“ noch weitere Amateurgruppen, die bei Einstufungen mindestens einmal die Oberstufe erhalten hatten, so u. a. die Kabaretts „Seeigel“ (Industriebaukombinat Stralsund), „Schrot und Korn“ (Forschungszentrum für Tierproduktion Rostock-Dummerstorf ), „NEGticker“ (Volkseigener Betrieb [VEB] Nachrichtenelektronik Greifswald) und „Klabauterschüler“ (11. Polytechnische Oberschule [POS] Rostock). In jeder der hier aufgeführten Gruppen war mindestens ein IM der Staatssicherheit tätig.58 Offensichtlich war das MfS auch bemüht, Mitglieder der Leitungsebene zu verpflichten. „ROhrSTOCK“ war jedoch das mit Abstand am stärksten überwachte Kabarett im Bezirk Rostock und das einzige, für das die Bezirksverwaltung des MfS zuständig war. Alle anderen Gruppen wurden durch die jeweiligen Kreisdienststellen ‚bearbeitet‘, die deutlich geringere Kapazitäten hatten. Die Aussage in der „ROhrSTOCK“Chronik, nach der „über hundert Informelle Mitarbeiter [...] aus dem inneren Kreis des Kabaretts bzw. aus seinem Umfeld“59 berichtet hätten, war jedoch deutlich übertrieben – tatsächlich waren es in den knapp 20 Jahren maximal 30 nachweisbare IM. Doch auch dies ist noch eine hohe Zahl, zumal die Staatssicherheit das Studentenkabarett zu keinem Zeitpunkt als politisch negativ oder gar feindlich bewertete. Aufgrund des studienbedingten häufigen Wechsels der Besetzung war es jedoch schwieriger als bei anderen Kabaretts, die Gruppe kontinuierlich unter Kontrolle zu halten. Ständig mussten neue Mitglieder überprüft werden und es verwundert nicht, dass „ROhrSTOCK“ auch immer wieder Studenten anzog, die der herrschenden Politik kritisch gegenüberstanden. Da die offiziellen kulturpolitischen 58

59

Schneider“), Bd. 1, Bl. 449–450. So IMS „Wilhelm Busch“ beim „Seeigel“ (vgl. Archiv der BStU, Außenstelle Rostock [AIM 1222/91: „Wilhelm Busch“]), IMS „Günter Fischer“ bei „Schrot und Korn“ (vgl. Archiv der BStU, Außenstelle Rostock [AIM 60/85: „Günter Fischer“]), IMS „Kurt“ beim Kabarett „NEGticker“ (vgl. Archiv der BStU, Außenstelle Rostock [AIM 136/86: „Kurt“]) und IMS „Hansen“ bei den „Klabauterschülern“ (vgl. Archiv der BStU, Außenstelle Rostock [AIM 0220/91: „Hansen“]). Dalk/Ruschke, 30 Jahre, S. 14.

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Instanzen kaum in die Besetzung und Kaderpolitik der Kabaretts eingreifen konnten, oblag die Überwachung der Gruppenstruktur dem MfS. Die künstlerische Arbeit der Kabarettisten, das bestätigt sich auch im Hinblick auf die anderen Gruppen, hat für die Staatssicherheit im Bezirk Rostock hingegen nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Offenbar vertraute man hier den Kontrollinstrumenten der Kulturpolitik. Im Idealfall sollten negative Kräfte durch die ‚Wer-ist-wer-Aufklärung‘ ohnehin erkannt werden, bevor problematische Texte oder Szenen zur Bühnenreife gelangten. So mischte sich die Staatssicherheit auch beim Kabarett „ROhrSTOCK“ nur in Ausnahmefällen inhaltlich ein, so zum Beispiel im Jahr 1987, als die Gruppe mit dem Programm „Über Schock und Sein“ und der darin enthaltenen Kritik an der universitären Grundausbildung des Marxismus-Leninismus für erhebliche Aufregung gesorgt, beim Bezirksleistungsvergleich aber die Oberstufe sehr gut erhalten hatte. Nachdem mehrere IM Einschätzungen zu dem Programm und den Zuschauerreaktionen verfasst hatten, legte der Leiter der Abteilung XX fest, ein Gespräch mit dem Parteisekretär der Universität zu führen, „mit dem Ziel, überhöhte Darstellungen im Programm zu überarbeiten.“60 Weitere direkte Einflussnahmen auf Programme des Kabaretts sind nicht nachweisbar. Da beide Hauptautoren inoffizielle Mitarbeiter des MfS waren, bestand dazu offenbar keine Notwendigkeit. Dennoch waren auch sie nicht von der Staatssicherheit ferngesteuert, sondern entwickelten ein eigenes künstlerisches Profil. Die Leistung, 30 abendfüllende und zumeist sehr publikumswirksame Programme zu schreiben und zu inszenieren, bleibt trotz der IM-Tätigkeit bestehen. Allerdings haben beide künstlerischen Leiter seit der Wende 1989 zugleich dazu beigetragen, die Legende eines auch für die Staatssicherheit unbequemen Kabaretts aufzubauen. In der eingangs zitierten Deutschlandfunk-Sendung erklärte der „ROhrSTOCK“-Gründer, dass ein persönlicher Mut für die Kabarettarbeit nötig gewesen wäre. Ist diese Aussage also falsch, wenn ein Großteil der von vielen Zuschauern als kritisch und bissig empfundenen Programme schon vor der Aufführung den unausgesprochenen Segen des MfS hatte? Gerade die im Radiobeitrag beschriebene Stasi-Trenchcoat-Szene hatte sich der Autor von seinem Führungsoffizier genehmigen lassen und die Rolle eines der beiden Agenten ausgerechnet mit einem Kabarett-Mitglied besetzt, über dessen „ideologische Probleme“ er in der Folgezeit ausführlich berichtete. Die übergroße Mehrheit der Kabarett-Mitglieder, jene gut 90 Prozent, die nicht für das MfS arbeiteten, wussten von dieser Rückversicherung der Autoren aber natürlich nichts und hatten dennoch den Mut, mit diesen Programmen auf die Bühne zu gehen. Insbesondere bei brisan60

Reaktion zum derzeitig laufenden Programm „Über Schock und Sein“ des Kabaretts „ROhrSTOCK“ der WPU Rostock, 3.11.1987, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4086/90: „Willi Ruby“), Teil II, Bd. 1, Bl. 337–339, hier Bl. 339.

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ten Texten vertrauten sie auf das politische Fingerspitzengefühl der Leiter. Dabei standen den inhaltlichen und künstlerischen Einschränkungen auch viele Freiräume gegenüber. So brachte die Mitgliedschaft in dem populären Kabarett mit den zahlreichen Gastspielreisen durch die DDR und Auftritten im sozialistischen Ausland ein für DDR-Verhältnisse überaus erlebnisreiches und unkonventionelles Leben mit sich. Zugleich war ihre Kabarettarbeit möglicherweise heikler, als sie damals selbst annahmen. Denn die IM „Detlef Hofer“ und „Willi Ruby“ waren zwar bemüht, die Institution „ROhrSTOCK“ zu schützen, dies galt jedoch nicht für jedes Mitglied. Vor allem, wenn politische Äußerungen oder Einstellungen einzelner Studenten so weit abwichen, dass es sich negativ auf das Kabarett auswirken konnte, wurden diese von den IM auch belastet. Dabei war ein inoffizieller Mitarbeiter nicht automatisch vor Maßnahmen des MfS sicher. So wurde auch „Detlef Hofer“ über längere Zeiträume überwacht und stand im Krisenjahr 1979 wegen einiger widersprüchlicher Berichte kurz davor, selbst ins Visier der Staatssicherheit zu geraten. Das MfS wiederum nutzte „ROhrSTOCK“ auch für seine eigenen Zwecke: Das Image als kritische und respektlose Künstler schuf einen Vertrauensbonus und brachte die inoffiziellen Mitarbeiter des Kabaretts leichter in ähnliche Kreise. So berichteten nahezu alle IM auch über weitere Personen aus dem universitären Umfeld. Diese Maßnahmen des MfS müssen für die Überwachung der DDRKabaretts nicht typisch gewesen sein. Bisherige Untersuchungen deuten daraufhin, dass es hier ebenso starke regionale und möglicherweise sogar individuelle Unterschiede gab wie bei den offiziellen Kontrollmechanismen. So warnte ein Oberleutnant der MfS-Bezirksverwaltung Magdeburg vor der Eröffnung des dortigen Berufskabaretts „Kugelblitze“: „Ein Kabarett hat ideale Möglichkeiten, polit[isch]-feindliche Auffassungen, künstlerisch verbrämt, unterhalb der Schwelle strafbarer Handlungen zu popularisieren.“61 Für das Kabarett „ROhrSTOCK“ erinnerte sich ein ehemaliger Offizier der Rostocker Staatssicherheit im Zeitzeugengespräch an eine etwas andere Sichtweise: Man konnte es ja auch so sehen: Wenn ich die kritischen Leute auf einem Haufen habe, aber Bescheid weiß, was da vor sich geht, dann sind sie für mich ungefährlich. Und bei „ROhrSTOCK“ verfügten wir über gute Informationen.62

61 62

Hauptberufl[ich] besetztes, ständiges Kabarett in Magdeburg, 31.8.1976, in: Archiv der BStU, Außenstelle Magdeburg (Abt. XX, Nr. 3816), Bl. 3–4, hier Bl. 4. Zusammenfassung des Zeitzeugengespräches vom 7.2.2006, in: Dietrich, Schild, S. 166– 167, hier S. 166.

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Literaturverzeichnis 1. Quellen und Archivalien (BStU = Bundesbeauftragte für Stasi-Unterlagen; UAR = Universitätsarchiv Rostock; wenn die Archivakte keine Seiten- oder Blattzählung enthält, entfällt eine entsprechende Angabe) Abschlußbericht zum IMS „Anette“, 28.7.1976, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 2890/76: „Anette“), Teil I, Bd. 1, Bl. 81. Abschlußbericht zum IMS „Reinhard“, 29.7.1976, in: Archiv der BStU, Außenstelle Schwerin (AIM 918/80: „Reinhard“), Teil I, Bd. 1, Bl. 85. Abschlußbericht, 21.10.1985, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AGMS 4026/90: „Dieter Schneider“), Bd. 1, Bl. 418. Abschlußbericht, 7.4.1969, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4264/90: „Detlef Hofer“), Teil I, Bd. 1, Bl. 154. Aktennotiz über den Rückzug der Delegierung des Kabaretts ROhrSTOCK vom Zentralen Leistungsvergleich der Amateurkabaretts in Leipzig, FDGB-Bezirksvorstand Rostock, 26.1.1982, in: UAR (Bestand „ROhrSTOCK“), Programm „Widerstehen macht Freu(n)de“, Bd. 16. Aktenvermerk zum OV „Parasit“, 3.4.1979, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AOP 1966/79: „Parasit“), Bd. 1, Bl. 23. Anordnung Nr. 2 über die Anerkennung der künstlerischen Qualität und Einstufung der Volkskunstkollektive und Solisten (21. Juni 1979), in: Gesetzblatt der DDR I, Nr. 20, S. 189. Anordnung über die Anerkennung der künstlerischen Qualität und Einstufung der Volkskunstkollektive und Solisten (25.5.1971), in: Gesetzblatt der DDR II, Nr. 48, S. 365. Archiv der BStU, Außenstelle Rostock, (AGMS 4034/90: „Gerrit“). Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 0060/85: „Günter Fischer“). Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 0122/91: „Klaus“). Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 0136/86: „Kurt“). Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 0173/91: „Klaus Stefan“). Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 0220/91: „Hansen“). Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 1222/91: „Wilhelm Busch“). Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4078/90: „Christiane Tietz“). Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4242/90: „Echtermeyer“)

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Begründung der Notwendigkeit und Zielstellung, 25.3.1983, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 1906/87: „Klaus Wiegand“), Teil I, Bd. 1, Bl. 66. Bericht (Tonbandabschrift), 10.1.1975, Quelle: IM-Vorlauf „Detlef Hofer“, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4264/90: „Detlef Hofer“), Teil I, Bd. 1, Bl. 75–76. Bericht (Tonbandabschrift), 14.2.1979, Quelle: „Detlef Hofer“, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4264/90: „Detlef Hofer“), Teil II, Bd. 1, Bl. 122–123. Bericht (Tonbandabschrift), 19.4.1979, Quelle: „Detlef Hofer“, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4264/90: „Detlef Hofer“), Teil II, Bd. 1, Bl. 146. Bericht über das Bekanntwerden und Begründung der Notwendigkeit der Werbung, 14.6.1974, in: Archiv der BStU, Außenstelle Schwerin (AIM 918/80: „Reinhard“), Teil I, Bd. 1, Bl. 33. Bericht über die durchgeführte Werbung, 25.3.1975, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4264/90: „Detlef Hofer“), Teil I, Bd. 1, Bl. 64–65. Bericht über durchgeführte Werbung, 30.6.1977, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 1561/90: „Walter Schmidt“), Teil I, Bd. 1, Bl. 35–36. Bericht zum Kontaktgespräch mit „Klaus Wiegand“, 24.4.1986, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 1906/87: „Klaus Wiegand“), Teil I, Bd. 1, Bl. 198. Bezirksleistungsvergleich der Amateurkabaretts des Bezirkes Rostock am 29. und 30.9.1979, Information Nr. 2792/79 der HA II, o.D., in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4264/90: „Detlef Hofer“), Teil I, Bd. 1, Bl. 257–258, hier Bl. 258. Einschätzung der Zusammenarbeit mit dem IMS „Willi Ruby“ im Studienjahr 1983, 6.9.1984, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4086/90: „Willi Ruby“), Teil I, Bd. 1, Bl. 97–98. Erläuterung zur Befragung (Tonbandabschrift), 17.1.1984, Quelle: „Detlef Hofer“, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4264/90: „Detlef Hofer“), Teil II, Bd. 2, Bl. 309–310. Festlegung der Einsatzrichtung für den GMS „Dieter Schneider“ für das Semester 86/87, 16.10.1986, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AGMS 4026/90: „Dieter Schneider“), Bd. 1, Bl. 449–450. Hauptberufl[ich] besetztes, ständiges Kabarett in Magdeburg, 31.8.1976, in: BStU, Außenstelle Magdeburg (Abt. XX, Nr. 3816), Bl. 3–4.

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Information über den Leistungsvergleich der Amateurkabaretts 1983/84, Zentralhaus für Kulturarbeit der DDR, 7.3.1984, in: Deutsches Kabarettarchiv, Außenstelle Bernburg (RK/Hh/17,6), 5. Zentraler Leistungsvergleich 1984. Information über den Verlauf der 6. Werkstattage der Berufskabaretts der DDR vom 27.5.–31.5.1989 in Magdeburg, Ministerium für Kultur, Akademie der Künste: in: Akademie der Künste (VT 798). Information über die Sitzung der Beratergruppe Kabarett am 24.4.89 zur Vorbereitung der 6. Werkstattage in Magdeburg, Verband der Theaterschaffenden, Sektion Kabarett, in: Akademie der Künste (VT 1188). Information zum 13. Klubgeburtstag des „LT-Clubs“ am 9.5.1987, 15.5.1987, Quelle: IMS „Falko“, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4024/90: „Falko“/„Kanüle“), Teil II, Bd. 2, Bl. 195. Jury-Einschätzung zum Bezirksleistungsvergleich am 29./30. September 1979, o.D., in: UAR (Bestand „ROhrSTOCK“), Programm „30, 30er, am 30sten“, Bd. 13. Klad, Sven: Widerstehen macht Freude. ROhrSTOCK – Deutschlands dienstältestes Studentenkabarett feiert im Januar 25-jähriges Bühnenjubiläum, in: Mecks 1 (1995), S. 22–23. Konzeption Tage des Kabaretts in Gera, 27.9. bis 2.10.1977, in: Deutsches Kabarettarchiv, Außenstelle Bernburg (RK/Hh/26), Kabarett-Werkstätten. Methodische Hinweise für die Arbeitsweise der Jurys bei der Durchführung von Leistungsvergleichen auf dem Gebiet des Amateurkabaretts, Zentralhaus für Kulturarbeit, o.D. [1981], in: Landesarchiv Greifswald (Rep. 200, 8.4.1, 11), Amateurkabarett. Notwendigkeit und Zielstellung, 23.6.1977, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 1561/90: „Walter Schmidt“), Teil I, Bd. 1, Bl. 20. Plan der Aufgaben 1976 des Volkstheaters Rostock, Volkstheater Rostock, Januar 1976, in: Landesarchiv Greifswald (Rep. 200, II, 8.4, 428), Rat des Bezirkes, Abteilung Kultur, Schriftwechsel 1970–80. Reaktion zum derzeitig laufenden Programm „Über Schock und Sein“ des Kabaretts „ROhrSTOCK“ der WPU Rostock, 3.11.1987, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4086/90: „Willi Ruby“), Teil II, Bd. 1, Bl. 337–339. Referat der Fachberatung „Amateurkabarett der DDR“ am 11. und 12. Dezember 1987 in Leipzig, in: Landesarchiv Greifswald (Rep. 200, 8.4.1, 11), Amateurkabarett. Ruschke, Michael: Die kulturpolitische Tätigkeit des FDJ-Studentenkabaretts „ROhrSTOCK“ der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock im

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Zeitraum von Januar 1980 bis Januar 1985 – Schlußfolgerungen für die Tätigkeit von FDJ-Studentenkabaretts, unveröffentl. Dipl. masch., Rostock 1986, in: UAR (Bestand „ROhrSTOCK“). Schlößer, Frank: „Einmal ROhrSTOCK, immer ROhrSTOCK. Das Studentenkabarett in Rostock feiert seinen 35. Geburtstag“, in: Deutschlandfunk, Querköpfe, 12.1.2005, 21.05–22.00 Uhr. Stellungnahme zum OV „Parasit“ der Abteilung XX der BV Rostock, 16.4.1979, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AOP 1966/79: „Parasit“), Bd. 1, Bl. 17. Tillner, Harald: Zur kulturpolitischen Arbeit des FDJ-Studentenkabaretts „ROhrSTOCK“ der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock im Zeitraum von Januar 1970 bis Januar 1980, unveröffentl. Dipl. masch., Rostock 1981, in: UAR (Bestand „ROhrSTOCK“). Treffbericht, 15.4.1984, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4264/90: „Detlef Hofer“), Teil II, Bd. 2, Bl. 334. Treffbericht, 4.5.1988, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4092/90: „Marina Timmer“), Teil II, Bd. 1, Bl. 464–465. Treffbericht, 6.12.1983, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 4264/90: „Detlef Hofer“), Teil II, Bd. 2, Bl. 291. Urteil vom 4.12.1992, in: Landgericht Rostock (Aktenzeichen II RRO 350/91). Urteil vom 5.10.1979, 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Rostock, Aktenzeichen 211–46–79, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AU/2106/79), Strafakte, Bd. 2, Bl. 81. Vorschlag zur Werbung eines IMS, 10.9.1973, in: Archiv der BStU, Außenstelle Rostock (AIM 2890/76: „Anette“), Teil I, Bd. 1, Bl. 81. Zentralhaus für Kulturarbeit, Abteilung Künstlerisches Volksschaffen: Entwicklungsstand des Fachgebietes Amateur-Kabarett ausgehend von den Hauptaufgaben bis 1980, in: Landesarchiv Berlin (C Rep. 722, 12), Amateurtheater/Amateurkabarett.

2. Forschungsliteratur Baum, Georgina: Humor und Satire in der bürgerlichen Ästhetik. Zur Kritik ihres apologetischen Charakters, Berlin 1959 (= Germanistische Studien 3).

Der doppelte Boden der Satire

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Berger, Manfred: Kabarett nach vorn. Zu einigen Problemen der KabarettBewegung, Berlin 1966. Berger, Manfred: Zur Entwicklung des Amateurkabaretts in der DDR, Leipzig 1980 (= Zentralhaus-Publikation). Böhnke, Gunter: Ideal und Intensiwirklichkeit [sic]. 1964 ... Bau auf, Bau auf, in: Hoerning, Hanskarl / Pfeifer, Harald (Hg.): Dürfen die denn das – 75 Jahre Kabarett in Leipzig, Leipzig 1996. Dalk, Wolfgang / Ruschke, Michael: 30 Jahre Kabarett ROhrSTOCK, Rostock 2000. Dietrich, Christopher: Schild, Schwert und Satire. Das Kabarett ROhrSTOCK und die Staatssicherheit, Rostock 2006 (= Diktaturen in Deutschland 2). Hohl, Max: Die Bedeutung und die Aufgabe der Kabarett-/Agitpropgruppen in der Deutschen Demokratischen Republik, Leipzig 1962. Hösch, Rudolf: Kabarett von gestern und heute nach zeitgenössischen Berichten, Texten und Erinnerungen, Bd. 1–2, Bd. 1:  1900–1933, Bd. 2: 1933–1970, Berlin 1967–1972. Jacobs, Dietmar: Untersuchungen zum DDR-Berufskabarett der Ära Honecker, Frankfurt/Main [u. a.] 1996 (= Kölner Studien zur Literaturwissenschaft 8). Zugl. Diss. masch., Köln 1996. Klötzer, Sylvia: Satire und Macht. Film, Zeitung, Kabarett in der DDR, Köln 2006 (= Zeithistorische Studien 30). Mayer, Manfred: Und wieder Kabarett-Marathon. 5. Leistungsvergleich der Amateurkabaretts, in: Unterhaltungskunst 4 (1983), S. 4–5. Nelken, Peter: Lachen will gelernt sein. Ein ziemlich ernsthaftes Buch über Humor und Satire, Berlin 1963. Neubert, Werner: Die Wandlung des Juvenal. Satire zwischen gestern und morgen, Berlin 1966. Zugl. Diss. masch., Berlin 1965. Otto, Rainer: Kabarett. Bemerkungen zu einer Situation, in: Unterhaltungskunst 10 (1983), S. 4–5. Otto, Rainer / Rösler, Walter: Kabarettgeschichte. Abriß des deutschsprachigen Kabaretts, 2. Aufl., Berlin 1981 (= Taschenbuch der Künste). Rauhut, Michael / Kochian, Thomas (Hg.): Bye bye, Lübben City. Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR, Berlin 2004. Riemann, Brigitte: Das Kabarett der DDR: „...eine Untergrundorganisation mit hohen staatlichen Auszeichnungen...?“ Gratwanderungen zwischen sozialistischem Ideal und Alltag (1949–1999), Münster 2001 (= Zeit und Text 17). Zugl.: Diss. masch., Münster 2000.

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Christopher Dietrich

Sachse, Christian: Nicht mit den Wölfen heulen ... Erste Sätze über widerständiges Kabarett in der DDR, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat 12 (2002), S. 35–55. Schaller, Wolfgang: Lachen und lachen lassen. Gedanken nach dem III. Zentralen Leistungsvergleich der Amateurkabaretts, in: Unterhaltungskunst 5 (1980), S. 26–27. Wedel, Mathias / Biskupek, Matthias: Streitfall „Satire“. Essay, Leipzig 1988.

Gabriele Czech

Die DDR auf dem II. Internationalen Germanistenkongress in Kopenhagen 1960 als Fallbeispiel für internationale Kontakte/Auslandskontakte 1. Der Frage, wie an die Geschichte der Germanistik in der DDR heranzugehen ist, schließt zweifelsohne methodologische, historische sowie institutionelle und personelle Perspektiven ein. Dabei sind Verläufe und Vorgänge zu benennen und zu rekonstruieren, ebenso Differenzen wie zugleich Interferenzen von wissenschaftlichem und politischem Diskurs, von Herrschafts- und Fachdiskurs, Paradigmen und Paradigmenwechsel und nicht zuletzt Rolle und Bedeutung der Institutionen und Personen in internen und externen Kontexten. Zu fragen ist nach Entsprechungen, Vernetzungen und nach Differenzen von autoritärem System und Autorität von Wissenschaft. Diesbezüglich ist der Bedarf an Aufklärung indes nach wie vor nicht gering.1 Der folgende Beitrag will am Beispiel des II. Internationalen Germanistenkongresses einen solchen Vorgang beschreiben. Er ordnet sich in diesem Sinne in das seit längerem am Institut für Germanistik der Magdeburger Otto-von-Guericke-Universität bestehende Forschungsprojekt „Wissenschaftsgeschichte der Germanistik“ ein, das ein wichtiger Bestandteil des Universitätsforschungsschwerpunktes „Gesellschaftliche Transformation als Epochenumbruch“ ist. Forschungsergebnisse dazu wurden bereits auf unterschiedlichen wissenschaftlichen Tagungen und Fachkolloquien vorgestellt und diskutiert, so auf der Konferenz „Ästhetische Theorie in der DDR 1949–1990“ (1999), den Tagungen „Wissenschaft und Systemveränderung: Rezeptionsforschung in Ost und West – eine konvergente Ent1

Vgl. Schandera, Aspekte, S. 25.

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Gabriele Czech

wicklung?“ (2000), „Individuum und kollektive Norm im Literaturunterricht der DDR“ (2001), der internationalen Fachtagung „Germanistik und Deutschlehrerausbildung in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart“ (2004) sowie auf der Konferenz „Vom Neuanfang 1945 bis PISA. Befunde und Herausforderungen in Politik, Wissenschaft und Schule – am Beispiel von Germanistik und Deutschunterricht“ (2007).2 Im Zentrum aller wissenschaftlichen Unternehmungen stand dabei immer auch das Verhältnis von Herrschaft – Individuum – Bildung/Erziehung, Politik und Wissenschaft. So lassen unsere sich am Modell der Mehrfachperspektivierung3 orientierenden, mehrjährigen Untersuchungen tiefere Einblicke in ein System zu, in dem sowohl Wissenschaft als auch Bildung und Erziehung in den Dienst permanenter Herrschaftssicherung genommen wurden, umgekehrt sich Staatsgewalt vonnöten erwies, um die wissenschaftspolitischen Strukturen sowie Bildungs- und Erziehungsverhältnisse, in denen sich auch Individuationsprozesse bewegten, anhaltend zu beherrschen. Davon ausgehend lenkt dieser Beitrag den Blick auf ein bislang nach wie vor wenig beachtetes Themenfeld, dass es, nicht zuletzt aufgrund der im Ergebnis der Wende zugänglichen Archivalien, hier näher zu untersuchen gilt, das allerdings zugleich weiterer Erforschung im Kontext einer historisch-kritischen Aufarbeitung von vierzig Jahren DDR-Wissenschaftspolitik bedarf.

2. Die Teilnahme von Germanisten aus der DDR auf dem II. Internationalen Germanistenkongress, der vom 21. bis 27. August 1960 in Kopenhagen stattfand, sowie die hier vor allem mit Hilfe von Archivalien nachzuzeichnenden Vorgänge und Reaktionen in bzw. seitens der DDR können angemessen nur betrachtet werden unter Einbeziehung der Situation, in der sich die Germanistik in der DDR, respektive die germanistische Literaturwissenschaft, worauf sich dieser Beitrag vor allem bezieht, um 1960 befand. Diese Situation lässt sich – hier jedoch nur skizzenhaft – wie folgt beschreiben. Der in den fünfziger Jahren bei den an die Stelle der ‚bürgerlichen Professoren‘ getretenen Germanisten immer deutlicher werdende Bruch mit den weltanschaulichen Grundlagen und der Wissenschaftsauffassung der 2

3

Vorträge und Forschungsergebnisse zu den genannten Fachtagungen sind in entsprechenden Tagungsbänden dokumentiert: Henckmann/Schandera, Ästhetische Theorie; Adam/Dainat/Schandera, Wissenschaft; Czech, „Geteilter“ deutscher Himmel?; Czech, Germanistik. Zu diesem Beitrag, für den hier vorliegenden Band erweitert und überarbeitet, vgl. auch Czech/Müller, DDR. Vgl. zu diesem Problemfeld z. B. Höppner, Mehrfachperspektivierung.

Die DDR auf dem II. Internationalen Germanistenkongress in Kopenhagen

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deutschen Geistesgeschichte setzt sich bis in die sechziger Jahre fort.4 Diesen Prozess lenkten bereits germanistische Literaturwissenschaftler wie Hans Mayer und Gerhard Scholz, indem sie, „Philologie, Literaturgeschichte und Soziologie sinnvoll miteinander“ koordiniert wissen wollten und entsprechend dafür plädierten.5 Maßgeblich vollzog sich diese Entwicklung seit 1945 unter dem Eindruck der Arbeiten von Georg Lukács, die insgesamt auf die Kunsttheorie und Kulturpolitik in der frühen DDR einen erheblichen Einfluss ausübten. In seiner Ästhetik und Literaturtheorie, seiner Literaturgeschichtskonzeption sah man eine marxistische Alternative zur kompromittierten bürgerlichen Geisteskultur sowie zu dem sich im westlichen Teil Deutschlands etablierenden Konzept der Werkimmanenz. Die Erarbeitung einer neuen, marxistischen Literaturtheorie und eines entsprechenden Literaturgeschichtsbildes gewann in diesem Kontext zunehmend an Bedeutung.6 In diese Entwicklung gehören die Einwände gegen eine Etablierung einer vergleichenden Literaturwissenschaft, der man ihres internationalen Ansatzes wegen Kosmopolitismus7 vorwarf und somit so genannten Auswüchsen bürgerlicher bzw. spätkapitalistischer Kultur zuordnete. In der Folge kam es dadurch zu einer theoretisch-methodologischen Verengung und zur „Abkopplung“ der literaturwissenschaftlichen Germanistik „von allen modernen Theoriebildungen seit dem russischen Formalismus“.8 Erst ab Mitte der sechziger Jahre kommt es nach Rainer Rosenbergs Einschätzung zu Versuchen, „den Anschluss an sie wiederzugewinnen“ – ein Prozess, der „zunächst innerhalb der marxistischen Theoriediskussion“ stand und „durch die neomarxistischen Strömungen in der kritischen Germanistik der Bundesrepublik befördert“ wurde.9 Von politischer Seite aus war das Ziel der hier skizzenhaft beschriebenen Entwicklung eine ideologische Instrumentalisierung der Germanistik und ihre Umfunktionierung in eine „Leitungs- und Erziehungswissenschaft“. Bereits auf einer Beratung der Abteilung Wissenschaft beim Zentralkomitee der SED am 24. September 1957 wird die der Germanistik zugedachte Aufgabe deutlich und gefordert, „einen Perspektivplan für die Germanistik 4

5 6 7

8 9

Rosenberg, Geschichte, S. 19; vgl. zur Literaturwissenschaft in der ehemaligen DDR auch: Rosenberg, Begründung; Vgl. Rosenberg, Verhandlungen, hier insbesondere das Kapitel IV: Zur Literaturwissenschaft in der DDR, S. 271–343; Boden, „Es geht ums Ganze!“. Jelenski, Germanistische Fachkonferenz, S.  405; vgl. auch: Boden, „Es geht ums Ganze!“ S. 250–251. Vgl. Rosenberg, Geschichte, S. 20. „Der Kosmopolitismus“, so u. a. bei Abusch, als „die Ideologie der Heimatlosigkeit und Wurzellosigkeit dient real der geistigen Marshallisierung und der Zerstörung unserer nationalen Kultur.“, in: Abusch, Fragen. Rosenberg, Geschichte, S. 22. Ebd.

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Gabriele Czech

auszuarbeiten, der u. a. die Rolle der Germanistik beim Aufbau des Sozialismus, ihre Rolle in unserer Kulturpolitik darlegt“.10 Im gleichen Jahr stellt man auf einer Beratung der Redaktion der Zeitschrift „Weimarer Beiträge“ fest, dass nun, nachdem die „Wissenschaftler vom alten Schlag, die im Zentrum der Germanistik standen“, ausgeschieden seien, jetzt „eine kleinbürgerliche Richtung“ die „Hauptrolle“ spiele, und daneben „eine starke Front von Parteikadern“ heranwachse, „die nun“, so die Forderung, „endlich Ton angeben“ müsse.11 Das offene Benennen der politischen Intentionen bezüglich der Germanistik löste allerdings deren Probleme in keiner Weise. Zum einen fehlte es 1960 nach wie vor an einer ausgearbeiteten marxistischen Literaturwissenschaft, zumal man sich ab 1956 nicht mehr explizit auf die Arbeiten von Lukács beziehen konnte,12 der nach dem Ungarn-Aufstand in der DDR wegen seiner Tätigkeit in der Regierung Nagy zur Unperson erklärt wurde. Zum anderen hatte sich die personelle Situation in der Germanistik deutlich zugespitzt, bis 1958 waren 17 Germanistiklehrstühle verwaist, ihre Inhaber sowie zahlreiche Assistenten hatten die DDR verlassen. Die Zahl derjenigen, die der DDR den Rücken kehrten, erhöhte sich in der Folgezeit.13 Fehlendes Personal und dadurch notwendige Qualifizierungen sowie deutlich erhöhte Lehrbelastungen erschwerten insbesondere die Ausarbeitung einer 10

11 12 13

Zusammengefasstes Protokoll der Beratung am 24.9.1957, in: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv [im Folgenden: SAPMO] (DY 30/ IV 2/9.04/225), Abteilung Wissenschaften, Bl. 489–499, Bl. 498. Beim Zitieren aus diesem Archivmaterial und den folgenden Archivalien wird die Rechtschreibung des Originals beibehalten; das kann auch Fehler betreffen. Ebd., Bl. 489. Vgl. Boden, „Es geht ums Ganze!“, S. 253. Allein zwischen 01.01.1958 und 30.09.1959 sind beispielsweise insgesamt 108 Professoren, Dozenten und Assistenten der Universität Leipzig nach West-Berlin und in die Bundesrepublik geflüchtet. Die Uni Leipzig weist damit die höchste Fluchtquote aller Hochschulen der DDR in diesem Zeitraum auf. Vgl. Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen, SBZ von 1959–1960, S. 130. Vgl. Kowalczuk, Legitimation, S. 327. Die Fluchtbewegung bei Studierenden an den dem damaligen Staatssekretariat unterstellten Universitäten und Hochschulen sei in diesem Zusammenhang ebenfalls erwähnt, auch wenn sie natürlich nicht allein die Germanistik, sondern alle Studienrichtungen erfasst. Diesbezüglich wurden genaue Analysen erstellt. So flüchteten z. B. im 1. Quartal 1961 insgesamt 250 Studierende in die Bundesrepublik oder nach West-Berlin. Für das 2. Quartal 1961 verzeichnet die Analyse laut Archivale 178 Studierende. Die „Minderung der Republikflucht um 28% gegenüber dem I. Quartal“ erklärt man sich damit, dass wegen der „Prüfungen“, der „Praktika und (der) Einsätze“ eine „exakte Kontrolle über die Anwesenheit aller Studierenden [...] in diesem Zeitraum nicht gegeben“ sei. „Erst mit Beginn des neuen Studienjahres (September) erhalten die Prorektorate für Studienangelegenheiten eine Übersicht, wodurch eventuelle Nachträge möglich sind.“ Republikfluchten von Studierenden der Universitäten, 14.7.61, Hoch- und Fachschulen im I. und II. Quartal 1961, in: Bundesarchiv [im Folgenden: BArch] (DR 3 5900 I. Schicht), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen, nicht paginiert. Wenn im Folgenden keine Blattfolge angegeben ist, so wird dies nicht mehr gesondert benannt.

Die DDR auf dem II. Internationalen Germanistenkongress in Kopenhagen

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marxistischen Literaturwissenschaft14. Hans Mayer verließ die DDR 1963. Er hatte 1960 noch am II. Internationalen Germanistenkongress in Kopenhagen teilgenommen bzw., wie es wohl die politische Führung der DDR sah, die DDR und ihren Anspruch auf internationale, hier wissenschaftliche Anerkennung vertreten. Um diese Anerkennung und zugleich offensives Vertreten der Politik der DDR auf internationalem Parkett vor allem ging es bei Reisen von Wissenschaftlern in die Bundesrepublik Deutschland und in das so genannte nichtsozialistische Ausland und ihre Teilnahme an wissenschaftlichen Tagungen und Konferenzen. Nach den „Richtlinien“ für die Gestaltung entsprechender Beziehungen im „Bereich der Wissenschaft und Kultur“ galt die „Verpflichtung, [...] zur Stärkung des Ansehens und der Autorität“ der DDR „durch aktives politisches, wissenschaftliches bzw. künstlerisches Auftreten beizutragen.“15 In diesen Kontext – ungeachtet der Probleme, die wohl vielmehr als Teil auf dem Weg hin zu einer „neuen Germanistik“ gesehen wurden – ist auch die Teilnahme von Germanisten aus der DDR auf dem II. Internationalen Germanistenkongress in Kopenhagen 1960 einzuordnen. Diesen sah man zudem in einer politisch günstigen Situation angesiedelt. So heißt es im Vorfeld des Kongresses etwa in einer Vorlage aus dem Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen zur Teilnahme von Wissenschaftlern aus der DDR an diesem Kongress: Wir werden davon auszugehen haben, dass der Kongress in einer Situation internationaler Entspannung, der zunehmenden Isolierung der westdeutschen Verschärfungs- und Vorherrschaftspolitik, des wachsenden Ansehens unserer Friedenspolitik stattfindet. Besonders für den baltischen Raum gilt die Politik unserer Regierung, die Ostsee zum Meer des Friedens zu machen. Unter diesen Bedingungen hat unsere Hochschulgermanistik die Pflicht, überzeugend den realen Humanismus unserer Wissenschaft darzulegen: Den Bruch mit dem Chauvinismus und Faschismus, mit dem Fideismus in der Hochschulgermanistik der DDR. Das Anknüpfen und Fortführen der großen humanistischen Traditionen. Die wissenschaftliche Stärke, den demokratischen und völkerverbindenden Charakter der marxistischen Wissenschaft.16 14 15

16

Vgl. Boden, „Es geht ums Ganze!“, S. 253. Richtlinien für die Gestaltung der Arbeit im Bereich der Wissenschaft und Kultur der DDR nach Westdeutschland sowie nach Westberlin, Entwurf, ohne Datum, in: SAPMO (DY 30/ IV A 2/9.04), Abteilung Wissenschaften. Vorliegend als Archivale war nur der Entwurf für diese ‚Richtlinien‘, nicht vorliegend Richtlinien für das so genannte nichtsozialistische Ausland, es kann aber wohl mit einiger Sicherheit angenommen werden, dass diese Richtlinien in Kraft getreten sind sowie, dass diese bzw. ähnliche Richtlinien gleichfalls für das ‚nichtsozialistische‘ Ausland galten. Hier bedarf es jedenfalls weiterer Recherchen. Vorlage zur Teilnahme von Wissenschaftlern aus der DDR am II. Internationalen Germanistenkongreß August 1960 in Kopenhagen, ohne Datum, in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. Da der Vorlage ein Zeitplan (bzw. ein Plan der „Maßnahmen“) anhängt, der terminlich am 6. Mai beginnt, ist davon auszugehen, dass die Vorlage im ersten Quartal des Jahres 1960 erstellt wurde. Aus dem Zeitplan geht hervor,

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Welche Bedeutung internationalen Kongressen wie diesem in Kopenhagen beigemessen wurde, belegen die intensiven Vorbereitungen darauf und weitere entsprechende Aussagen von politischer und wissenschaftspolitischer Seite. In einem Schreiben des Sektors Philosophische Fakultäten des Staatssekretariats für das Hoch- und Fachschulwesen vom 08. Dezember 1959 an den Vizepräsidenten der „Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin“ wird u. a. gefordert, die Internationale Germanistenvereinigung (IVG) und ihre Tagung in Kopenhagen „als eine Gelegenheit“ zu nutzen, „um unseren Einfluss zu verstärken“ und „darüber hinaus Sorge zu tragen, dass die Germanisten der sozialistischen Länder dort als Mitglieder bzw. Tagungsteilnehmer angemessen vertreten sind“17. In einem weiteren Schreiben vom 08. Dezember 1959 wird betont, dass sich „besonders auf den internationalen Tagungen [...] gute Möglichkeiten“ ergeben, „wissenschaftliche Verbindungen anzuknüpfen“ und eine Mitgliedschaft in dem Verband Gelegenheiten bieten kann, „den marxistischen Einfluss maximal und unmittelbar geltend zu machen“.18 Einige Wochen vor dem Kongress hebt die gleiche Stelle in Verbindung mit einer Leitungsvorlage über das Auftreten der DDR-Germanisten auf dem Kopenhagener Kongress nochmals nachdrücklich hervor, dass wir der Teilnahme von DDR-Germanisten an diesem Kongreß eine besonders große Bedeutung beimessen, da das Bild, daß sich die anderen Länder von Deutschland machen, wesentlich von den Germanisten der betreffenden Länder abhängt. Das wirkungsvolle Auftreten einer angemessenen Gruppe von Wissenschaftlern kann also das Ansehen unserer Wissenschaft besonders deswegen erhöhen, weil wir das Heimatland dieser Wissenschaft sind. Wir erwarten davon unmittelbare Auswirkungen auf die Publizistik des nichtsozialistischen Auslandes [...] Unser Auftreten wird zu einem unmittelbar politischen Ereignis, besonders im Sinne unserer Politik, die Ostsee zum Meer des Friedens zu machen.19

17

18

19

dass sich ein „Komitee der DDR zum II. Internation. Germanistenkongreß“ konstituiert, der „Abschluß der vorbereitenden Diskussionen Anfang Juli“ geplant ist, die „Koordination mit Kultur- und Außenministerium“ bis zum 20. Mai erfolgen soll. Eine Zusammenkunft der gesamten Delegation war danach für den 20. August (allerdings in der Archivale mit Fragezeichen versehen) vorgesehen. Schreiben des Sektors Philosophische Fakultäten an die Deutsche Akademie der Wissenschaften, Berlin, Vizepräsident Prof. Dr. W. Steinitz (8.12.1959), in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. Sektor Philosophische Fakultäten, Internationaler Germanistenkongreß August 1960 in Kopenhagen (8.12.1959), in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. Sektor philosophische Fakultäten/ Sektor Ausland/ Dr. Wagner: II. Internationaler Germanistenkongreß in Kopenhagen (9.5.1960), in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hochund Fachschulwesen.

Die DDR auf dem II. Internationalen Germanistenkongress in Kopenhagen

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3. Der II. Internationale Germanistenkongress, der mit einem Grußwort des Präsidenten der Königlichen Dänischen Akademie, dem bekannten Atomphysiker Niels Bohr, eröffnet wurde, hatte 477 Teilnehmer aus nahezu 30 Staaten. Mit insgesamt 43 Kongressteilnehmern war die DDR zahlenmäßig gut vertreten; die Zahl der anwesenden bundesdeutschen Germanisten war bislang nicht zu ermitteln.20 Neben allen organisatorischen21 wie inhaltlichen Fragen der Vorbereitung22 einer Teilnahme der DDR am Germanistenkongress in Kopenhagen 20 21

22

Vgl. Röther, Germanistenverbände, S. 361. Der Plan der „Maßnahmen“ bezüglich der Vorbereitung des Germanistenkongresses sah wie folgt aus (Layout nach Dokument): „1. Der Entwurf wird im Sektor SHF (gemeint ist das Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen), in der Abteilung ZK (gemeint ist: Zentralkomitee), im Beirat (gemeint ist: Wissenschaftlicher Beirat für Germanistik) und in der Akademie (es ist anzunehmen, dass es sich hier um die Akademie der Wissenschaften handelt) beraten, endgültig formuliert, der Abteilung ZK zur Bestätigung vorgelegt sowie dem Staatssekretär. T. 6. Mai T. 13. Mai 2. Der Teilnehmerkreis wird vorausgewählt und vorbehaltlich der devisenmäßigen Realisierung, vom Komitee beraten und der Abteilung ZK zur Bestätigung vorgelegt. T. 6. Mai 15. Mai 21. Mai 3. Es konstituiert sich ein „Komitee der DDR zum II. Intern. Germanistenkongress“. Zusammensetzung und Vorsitz in den gleichen Gremien wie unter 1.) vorberaten, Mayer und Steinitz befragen und durch Staatssekretär und Akademie-Präsident beauftragen. 15. Mai Erste Sitzung 14. Mai 4. Das Komitee verfährt, wie unter D (der Textteil D der Vorlage zur Teilnahme von Wissenschaftlern aus der DDR am Germanistenkongress) dargelegt. Abschluß der vorbreitenden Diskussion Anfang Juli Koordination mit Kultur- und Außenministerium 13. Mai Festlegungen 20. Mai 5. Frage der Mitgliedschaft 1. Juni der Vertretung in den führenden Gremien 1. Juli“ Dieser Maßnahmeplan befindet sich in: Vorlage zur Teilnahme von Wissenschaftlern aus der DDR am II. Internationalen Germanistenkongreß August 1960 in Kopenhagen, ohne Datum, in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. – Neben diesem Maßmahmeplan gab es laut Archivale noch einen Plan der „Maßnahmen zur Vorbereitung des Kongresses Kopenhagen“. Daraus geht u. a. hervor, dass das „Auftreten“ der Delegation besprochen werden sollte, die „Vorberatung der Referate und Diskussionsbeiträge“, die Besprechung in der Parteigruppe geplant waren und eine Zusammenkunft der gesamten Delegation für den 20. August (am 21.August begann der Kongress!), allerdings in der Archivale mit Fragezeichen versehen, vorgesehen war. So darf in diesen auch wirtschaftlich angespannten Zeiten die finanzielle Dimension der

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stand die Frage der Teilnehmer selbst im Mittelpunkt der Planung. Schließlich mussten geeignete Vertreter benannt und als Mitglieder der „Internationalen Vereinigung für Germanistik“ (IVG)23 registriert sowie Referate angemeldet werden, die auch der wissenschaftspolitischen Intention entsprachen. Das hieß zugleich, solche Wissenschaftler zu wählen, die – in ihrer bisherigen Tätigkeit zur Stärkung des Ansehens der DDR beigetragen haben und fest mit unserem Arbeiter-und-Bauern-Staat verbunden sind; – aktiv die Politik der DDR vertreten und überzeugend darlegen; – ich bereits politisch bewährt haben und in der Lage sind, sich in komplizierten politischen Situationen richtig zu verhalten; – konsequent [...] gegen Ansätze einer Diskriminierung auftreten.24

Auf Grund der vorhandenen Personalstruktur wurde eine ‚gesunde‘ Mischung zwischen bewährten Professoren und jung-marxistischem Nachwuchs angestrebt. Nach einiger Zeit der Diskussion und Verständigung auf administrativer Ebene – alle vorgeschlagenen Wissenschaftler mussten durch das Zentralkomitee der SED namentlich bestätigt werden – zeichnete sich anhand der eingesehenen Aktenbefunde folgender, so genannter ‚minimaler‘ Teilnehmerkreis ab: Prof. Dr. Erben, Prof. Dr. Scholz, Dr. Diersen, Dr. Haase, Dr. Kaufmann, Dr. Thalheim, Dr. Wagner (Berlin)

23

24

Kongressteilnahme nicht gänzlich außer Acht gelassen werden. Demgemäß teilte „das Reisebüro der DDR [...] mit, daß es zwar bereit wäre, die Reise zu organisieren, aber keine dänische Valuta zur Verfügung hätte. [...] [N]ach meiner Rechnung kommt bei einem Tagessatz von 42,- bzw. 36,50 DM und einer Tagungsdauer von 7 Tagen eine Summe von 7.000,- DM in dänischer Valuta heraus, wozu noch die Tagungsgebühr von 56 bzw. 84 dkr. pro Teilnehmer kommt. Die politische Bedeutung der Tagung muß diesen Valuta-Aufwand rechtfertigen. Ich teile informierend mit, daß einige Wissenschaftler [...] den Wunsch geäußert haben, ihre Frau mitnehmen zu können. Vielleicht läßt sich das durch eine geringfügige Erhöhung der Tagegelder erreichen, falls man überhaupt daran denken kann.“ Sektor philosophische Fakultäten/Sektor Ausland, in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. Die IVG, gegründet 1951 auf dem Kongress der Féderation des Langues et Litteratures Modernes in Florenz, veranstaltet in einem regelmäßigen Turnus von 5 Jahren Internationale Germanistenkongresse, die größtenteils unter einem spezifischen Generalthema stehen. Der I. Internationale Germanistenkongress fand 1955 in Rom mit 192 Germanisten aus 24 Staaten statt (auch die DDR war auf dem Kongress vertreten, die Zahl der Teilnehmer war jedoch bislang nicht zu ermitteln), die in 2 Sektionen 35 Referate hielten. Zum Vergleich: Am 9. Internationalen Germanistenkongress in Vancouver 1995 nahmen 630 Germanisten teil (die Zahl der Kongressteilnehmer war jedoch noch wesentlich höher) und bestritten 610 Referate. Vgl. Batts, Fünfzig Jahre IVG. Richtlinien für die Gestaltung der Arbeit im Bereich der Wissenschaft und Kultur der DDR nach Westdeutschland sowie nach Westberlin, Entwurf, ohne Datum, in: SAPMO (DY 30/ IV A 2/9.04), Abteilung Wissenschaften.

Die DDR auf dem II. Internationalen Germanistenkongress in Kopenhagen

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Prof. Dr. Baetke, Prof. Dr. Frings, Prof. Dr. Mayer, Dr. Streller, Dr. Walter (Leipzig) Prof. Dr. Emmel,25 Prof. Dr. Geerdts, Dr. Spiewok, Dr. Kress (Greifswald) Prof. Dr. Braemer, Dr. Gernentz (Rostock) Prof. Dr. Hadermann (Halle) Prof. Dr. Müller (Jena) Prof. Dr. Friederici (Potsdam) Dr. Reuschel (Dresden). Von diesen meldeten nachfolgend aufgeführte Wissenschaftler folgende Einzelreferate an: Braemer, Edith: Emmel, Hildegard: Erben, Johannes: Geerdts, Hans Jürgen: Gernentz, Hans Joachim: Haase, Horst: Kaufmann, Hans: Müller, Joachim: 25

Zur Theorie des Romanverfalls Die Darstellung des Gerichts bei Hofmannsthal, Kafka und Brecht Über den Ausklang des Mittelhochdeutschen Aufklärerische Symbolgestaltung bei Goethe und Thomas Mann Konrad von Würzburg, Charakter und Bedeutung seiner Dichtung Sterben und Tod in der späten Lyrik Johannes R. Bechers Verfall oder Neubeginn des Dramas beim frühen Brecht Die literarische Situation 1932

Wie verstrickt und perfide sich Wissenschaftspolitik vor dem Hintergrund deutsch-deutscher Teilung – wenn auch nur im Kleinen, so doch international – beinahe in anekdotischer Weise auswirken konnte, zeigt sich am Beispiel Hildegard Emmels: War sie bei der planmäßig wohldurchdachten Kongressvorbereitung der Teilnehmerauswahl 1959 noch eine ‚sichere‘ Kandidatin, so hatte sie zum Zeitpunkt des Germanistenkongresses 1960 in Kopenhagen selbst bereits die innerdeutschen Fronten gewechselt und konnte somit zwar trotzdem am Kongress teilnehmen und ihren Wissenschaftlerkollegen von einst begegnen, jedoch nicht mehr als Delegierte der DDR. „Die westdeutschen Wissenschaftler verhielten sich reserviert gegenüber den als Marxisten bekannten Teilnehmern unserer Delegation. [...] Ferner hatte die Anwesenheit von republikflüchtigen ehemaligen Greifswalder Wissenschaftlern, wie Frau Prof. Dr. Emmel, einen nachteiligen Einfluß auf die Berührung von westdeutschen Wissenschaftlern und uns.“ Bericht über die Teilnahme von Dr. Bruno Kress, mit der Wahrnehmung einer Professur beauftragt, und Dozent Dr. Horst Bien, vom Nordischen Institut der Universität Greifswald am II. Internationalen Germanistenkongreß in Kopenhagen, 21. bis 27. August 1960 (21.10.60), in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen.

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Gabriele Czech

Reuschel, Helga:

Gedichtreihen und Dichterleben in der isländischen Saga. Die so zusammengesetzte und schließlich insgesamt 43 Personen zählende DDR-Delegation verfügte mit Hans Mayer und Leopold Magon über zwei Delegationsleiter sowie über eine eigene Parteigruppenleitung, die bereits kurz nach der Ankunft in Kopenhagen vor ihre erste Zerreißprobe gestellt wurde. Vor dem Kongressgebäude, das die Staatsflaggen aller teilnehmenden Länder schmückten, suchte man die Flagge der DDR vergebens. Damit war der gewiss nachvollziehbare, aber dennoch in der Folge groteske Züge annehmende Auslöser einer Kongress-Posse gegeben, die trotz der über 15 Monate währenden sorgfältigsten Tagungsvorbereitung durch die DDR wahrlich nicht eingeplant war. Um der Authentizität gerecht zu werden, sei sie so, wie sie sich aktengemäß bei der Lektüre darbot, im Folgenden auszugsweise wiedergegeben. Das Hissen der Staatsflaggen aller Teilnehmerländer mit Ausnahme der Staatsflagge der DDR, wurde von uns als eine Provokation gewertet. Die Genossen der Delegation suchten sofort nach Beginn der Konferenz die Leitungsmitglieder der Delegation, Herrn Prof. Magon und Herrn Prof. H. Mayer, auf, um mit ihnen Schritte des Protestes zu beraten. Herr Prof. Magon lehnte jede Diskussion und darüber hinaus jede Leitungstätigkeit ab. Herr Prof. Mayer vertrat den Standpunkt, es sei verständlich, daß die Kongreßleitung nur die Fahne der Bundesrepublik zeige, da Dänemark wohl mit der Bundesrepublik, aber nicht mit der DDR diplomatische Beziehungen unterhalte. Im übrigen sei es nicht Angelegenheit der Germanisten, sich in diese Dinge einzumischen, zumal bei einem Protest man die Kongreßleitung in eine unmögliche Situation bringe. Auf unsere Gegenargumente hin lehnte Prof. Mayer jede weitere Diskussion mit dem Bemerken ab, man solle ihn endlich mit solchen „Kindereien“ in Ruhe lassen. Da zur gleichen Zeit die westdeutsche Botschaft in Kopenhagen allen Mitgliedern unserer Delegation Einladungen zu einem Empfang übermittelte, und Herr Prof. Magon zu verstehen gab, daß er dieser Einladung Folge leisten würde, konzentrierten wir zunächst unsere politische Arbeit auf die Verhinderung dieser Herausforderung. Das war nötig, da von einem Teil unserer Delegation nicht klar war, ob sie nicht ebenfalls der westdeutschen Einladung folgen würden, zumal Prof. Mayer das jedem Mitglied anheimstellte und einem „Druck“ der Delegationsleitung in dieser Frage widersprach. Wir nahmen zur gleichen Zeit eine Kranzniederlegung unserer Delegation am Denkmal der dänischen Widerstandskämpfer gegen den Faschismus vor, um allen Mitgliedern unserer Delegation zu erleichtern, die Grundfrage unseres nationalen Kampfes zu erkennen. Es muß als Erfolg gewertet werden, daß alle Mitglieder unserer Delegation sich an der Kranzniederlegung beteiligten und auf den Empfang der westdeutschen Botschaft verzichteten. Inzwischen hatte unser Parteiaktiv einen Genossen beauftragt, beim Präsidenten der IVG, Prof. Hammerich, gegen die Diskriminierung unseres Staates in der Flaggenfrage zu intervenieren, darüber hinaus wurden alle Genossen beauftragt, mit den Parteilosen über die Flaggenfrage im Zusammenhang mit dem Grundwiderspruch in Deutschland zu diskutieren. Als Prof. Mayer von unserer eigenmächtigen Intervention beim Präsidenten der IVG erfuhr, rief er aus Protest gegen unser

Die DDR auf dem II. Internationalen Germanistenkongress in Kopenhagen

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„Intrigenspiel“ die Delegation zusammen. Im Ergebnis dieser Diskussion wurde Prof. Mayer von der Delegation beauftragt, zusammen mit Prof. Magon beim Präsidenten der IVG gegen die Herabsetzung der Würde unseres Staates mündlich zu protestieren. Nach diesem mündlichen Protest erklärten sich Prof. Mayer und Prof. Magon auch mit dem nächsten Schritt einverstanden, zumal inzwischen eine gleichlautende Empfehlung unseres Außenministeriums vorlag; beide unterzeichneten einen schriftlichen Protest an den neuen Präsidenten der IVG. Die Tatsache, daß mit einem Teil unserer Delegation um die politischen Grundfragen unserer Zeit sehr hartnäckig gerungen werden mußte und daß einige parteilose Wissenschaftler erst nach mehr oder weniger starkem Zögern die notwendigen politischen Schritte mitging[en], widerspiegelt die Situation in einem Teil unserer Germanistik.26

4. Kaum zurück vom II. Internationalen Germanistenkongress in Kopenhagen mussten, wie allgemein üblich in der DDR, „eine gründliche Auswertung“27 und Einschätzungen zum Kongress und zu seiner Atmosphäre dort, zu den Referaten und den Teilnehmern angefertigt werden. Ziel dieser Auswertungen war es, „geeignete Schlussfolgerungen für die weitere Arbeit zu ziehen“28 und künftige Germanistikkongresse bzw. generell internationale Tagungen im Sinne der marxistischen Ideologie, der Anerkennung der DDR, ihrer Politik und Wissenschaft intensiver und effektiver vorzubereiten und zu nutzen, um im internationalen Maßstab entsprechend Geltung zu erlangen. In den ausgewerteten Materialien bzw. Archivalien lassen sich diesbezüglich folgende wesentliche Einschätzungen des Kongresses ausmachen: Die Entsendung der für den Kongress ausgewählten DDR-Germanisten wurde übereinstimmend als Erfolg vor allem dahingehend gewertet, dass, so in dem Bericht der Teilnehmer an dem Kongress von der Universität Greifswald, „der Hauptgewinn unserer Teilnahme an diesem Kongreß [...] in der Gewinnung neuer Kontakte“29 lag und, so in der „Ideologisch-wis26

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Ideologisch-wissenschaftliche Einschätzung des II. Internationalen Germanisten-Kongresses in Kopenhagen, ohne Datum, in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. Richtlinien für die Gestaltung der Arbeit im Bereich der Wissenschaft und Kultur der DDR nach Westdeutschland sowie nach Westberlin, ohne Datum, in: SAPMO (DY 30/IV A 2/9.04), Abteilung Wissenschaften. Richtlinien für die Gestaltung der Arbeit im Bereich der Wissenschaft und Kultur der DDR nach Westdeutschland sowie nach Westberlin, ohne Datum, in: SAPMO (DY 30/IV A 2/9.04), Abteilung Wissenschaften. Bericht über die Teilnahme von Dr. Bruno Kress und Dozent Dr. Horst Bien, in: BArch (DR

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senschaftlichen Einschätzung des II. Internationalen Germanisten-Kongresses“, „die IVG [...] ein Forum der internationalen Kontaktaufnahme und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung im Sinne unserer nationalen Grundkonzeption“30 sei. Als besonders bedeutsam betont der Bericht aus Greifswald zudem die Kontakte zu „Wissenschaftlern aus den nordischen Ländern und zu Nordisten anderer Länder“, wobei „das politische Gespräch über die [...] Ziele und Aufgaben des Nordischen Instituts und darüber hinaus über die Politik und das Leben in der DDR von besonderer Wichtigkeit“ war. Zugleich bedauert man, dass „einige repräsentative Vertreter der DDR-Delegation“ ihre „alte(n) Beziehungen zu westdeutschen und skandinavischen Wissenschaftlern“ nicht entsprechend genutzt hätten, „uns mit Fachkollegen aus Westdeutschland und dem Ausland bekanntzumachen, woran das auch immer gelegen haben mag“.31 Das Rahmenthema des Kopenhagener Kongresses „Spätzeiten und Spätzeitlichkeit“32, das Horst Bien auf Veranlassung von Werner Kohlschmidt (Bern) auswählte – dieser hatte inzwischen das Amt des als Vizepräsidenten zurückgetretenen Richard Alewyn übernommen –, stößt auf heftige Kritik; ebenso dessen einleitendes Hauptreferat zum Thema „Die Problematik der Spätzeitlichkeit“. Die Thematik orientiere auf die „Behandlung absterbender und verfallender Elemente in der Geschichte der Sprache und Literatur“, auf „Mystizismus, Dekadenz und Skeptizismus“. Dies aber sei unwissenschaftlich und unhistorisch, weil jeder Spätzeit zugleich Aufsteigendes, Fortschrittliches, Neues innewohne. „Der Kongreß“, so die Einschätzung, „sollte [...] dadurch gezwungen werden, zur Propaganda der imperialistischen Pessimismus- und Untergangsstimmung beizutragen“.33 Als positiv stellte man heraus, dass sich die Mehrheit der Referenten nicht an der Thematik orientiert habe „oder es nicht oder nicht ausschließlich im Sinne der Veranstalter behandelte“ und dass „ein großer Teil der Teilnehmer [...] dieses Thema als problematisch und für die wissenschaftliche Diskussion unbefriedigend und unergiebig“ empfunden habe.34 30 31 32 33

34

3 5252), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. Einschätzung des II. Internationalen Germanistik-Kongresses in Kopenhagen, ohne Datum, in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. Bericht über die Teilnahme von Dr. Bruno Kress und Doz. Dr. Horst Bien, in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. Kohlschmidt, Spätzeiten. Einschätzung des II. Internationalen Germanistik-Kongresses in Kopenhagen, ohne Datum, in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. Zu gleichen und ähnlichen Wertungen kommt Horst Haase in seinem Bericht über den Kongress. Vgl. dazu: Haase, Der Zweite Internationale Germanistenkongress. Einschätzung des II. Internationalen Germanistik-Kongresses in Kopenhagen, ohne Datum, in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. Als problematisch bewertet auch der westdeutsche Germanist Hugo Moser das Generalthema der Tagung, seine Wertung hebt sich jedoch von derjenigen ab, die in der Ideologisch-wissenschaftlichen Ein-

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Die Leitung der IVG, so die Einschätzung weiter, „wird von einem militanten, reaktionären Kreis (v. a. durch Prof. Dr. L. L. Hammerich, und den Berner Prof. Dr. W. Kohlschmidt) politisch beherrscht, der versucht, die IVG und ihre Kongresse als Plattform zur Verbreitung ihrer vorwiegend klerikal-reaktionären Ideen auszunutzen“. Hieran schließt sich der Vorwurf an, dass die westdeutsche „Reaktion“ über diesen Kreis versuche, ihre Linie in der IVG durchzusetzen. Hervorgehoben wird dabei, dass einerseits die „Mehrzahl der ausländischen Kongreßteilnehmer gegen einen westdeutschen Führungsanspruch innerhalb der IVG gestimmt“ und es andererseits „spürbar“ gewesen sei, dass „die Mehrheit der Kongreßteilnehmer es nicht wünschte, ‚innerdeutsche Streitigkeiten‘ auf dem Kongreß austragen zu helfen“35. Obwohl aus dem Kreis der ostdeutschen Kongressteilnehmer bereits Johannes Erben von der „Akademie der Wissenschaften“ ein Hauptreferat zum Thema „Ausklang des Mittelhochdeutschen“ gehalten hatte, wurden immerhin noch vier Einzelreferate von Teilnehmern aus der DDR zugelassen und darüber hinaus einige der eingereichten Vorschläge für Einzelreferate als Zusammenfassung in den Kongressmaterialien abgedruckt.36 Trotzdem kritisierte man, dass eine Verlesung der nur gedruckten Referate abgelehnt worden war. Das „Präsidium der Internationalen Vereinigung für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft“, so in dem Bericht von Hans Jürgen Geerdts (Professor an der Universität Greifswald), habe, wie bereits von Staatssekretär Girnus37 mitgeteilt, „von formalen organisatorischen Mitteln Gebrauch gemacht, um die Referate marxistischer Wissenschaftler der Deutschen Demokratischen Republik zu unterdrücken“.38 In der Ideologisch-wissenschaftlichen Einschätzung des Kongresses heißt es dazu:

35 36 37

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schätzung vertreten wird; so heißt es bei ihm, dass der Begriff „Spätzeitlichkeit“ „problematisch“ sei , da dieser „ohne Einschränkung in seiner ganzen Weite gefasst wurde“, obwohl er „Verschiedenes meinen“ kann und „in den einzelnen Vorträgen auch Verschiedenes“ meinte. Weiter bei ihm u. a.: „Der Begriff kann objektiv oder als Bewusstseinsphänomen verstanden werden, und er kann auf den Einzelnen wie auf Kollektiverscheinungen – menschliche Gruppen, geistige Epochen, dichterische Darstellungsformen und Stilperioden – bezogen werden. [...] Angesicht der Weite und Mehrdeutigkeit des Begriffs „Spätzeit“ und „Spätzeitlichkeit“ vor allem in einem kollektiven Sinn [...] verwundert es nicht, daß die erstrebte Geschlossenheit der Vorträge nicht voll erreicht wurde [...], ja, dass manche Referate nur sehr lose mit dem Hauptthema verbunden waren oder sich rasch davon entfernten.“ Moser, Spätzeiten, S. 377, 379. Ebd. Die Einzelreferate hielten: Joachim Müller (Jena), Hans Joachim Gernentz (Rostock), Leopold Magon (Berlin), Helga Reuschel (Dresden). Wilhelm Girnus war von 1957–1962 Staatssekretär im Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen der DDR, bevor er von 1964–1981 als Chefredakteur der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ wirkte. Vgl. Müller-Enbergs/Wielgoh/Hoffmann, Wer war wer in der DDR?, S. 255. Kurzer Bericht über die Teilnahme am II. Internationalen Germanisten-Kongreß vom 21.8.–

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Da die eingereichten Referate aller Parteimitglieder der Delegation der DDR von der Kongreßleitung nicht zur Verlesung zugelassen wurden, war es nicht möglich, die der Themenstellung zugrundeliegende Konzeption zentral und umfassend zu kritisieren und durch eine richtige Konzeption zu ersetzen.39

Die von den Germanisten der DDR gehaltenen Referate schätzte man bis auf das von der Teilnehmerin aus Dresden40 als „wissenschaftlich gut fundiert“ ein, sie „ragten über das durchschnittliche Niveau des Kongresses hinaus, auch wenn bürgerliche Positionen vertreten wurden“ und „fanden die Anerkennung der Mehrheit der Kongreß-Teilnehmer“. Allerdings wurden „ausgeprägt fortschrittliche Tendenzen“ weitestgehend vermisst. Diese „zeichneten sich“ lediglich „in den Referaten von Müller und Gernentz ab“, wobei „letzterer [...] deswegen von den führenden westdeutschen Wissenschaftlern kritisiert“ wurde. Im Weiteren lassen die die marxistische Orientierung bzw. Ausrichtung betreffenden abschließenden Bemerkungen zu den Referaten nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig: „Mit Ausnahme von Gernentz, der sich um eine historisch-materialistische Plattform bemühte“, so das Urteil, „wurden marxistische Positionen in den Referaten der DDR-Vertreter nicht herausgearbeitet“.41 Neben der Einschätzung der Referate wird der Diskussion auf dem Kongress breiter Raum gewidmet. Man bemängelt die allgemein geringen Möglichkeiten zur Diskussion und betont, dass „die Planung der Veranstaltungsfolge als auch die Diskussionsleitung, die nur einmal in den Händen der DDR-Delegation lag, [...] einen echten wissenschaftlichen Meinungsstreit und die ideologische Auseinandersetzung“ behinderten und „z. T. [...] DDR-Vertretern das Wort verweigert“ worden sei.42 Dass „dennoch [...] ein Teil der DDR-Hochschulgermanisten in die Diskussion“ eingegriffen habe, beurteilt man positiv und hebt hier besonders Hans Mayers Haltung

39 40

41 42

27.8.1960 in Kopenhagen (14. Okt. 1960), in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hochund Fachschulwesen. Einschätzung des II. Internationalen Germanistik-Kongresses in Kopenhagen, ohne Datum, in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. „[Helga] Reuschel (Dresden), die befremdlicherweise vom Ministerium für Verkehr delegiert worden war und zur Delegationsleitung keine Verbindung hatte, hielt ein Einzelreferat, das wissenschaftlich unzureichend war.“ Vgl. ebd. Ebd. So heißt es in dem Bericht von Bruno Kress und Horst Bien: „Auf dem Kongreß wurde vielfach versucht, die Teilnehmer aus der DDR und anderen sozialistischen Ländern als zweitrangig zu behandeln. Das kam u. a. dadurch zum Ausdruck, daß die Staatsflagge der DDR trotz unserer Proteste nicht gezeigt wurde, daß marxistische Referate abgelehnt wurden und daß man Diskussionsrednern aus der DDR unfreundlich das Wort abschnitt.“ Aber auch: „In Gesprächen mit Kollegen aus dem kapitalistischem Ausland konnten wir feststellen, daß sie auch mit solchen diskriminierenden Maßnahmen uns gegenüber nicht einverstanden waren.“ Bericht über die Teilnahme von Dr. B. Kress und Dozent Dr. Horst Bien, in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen.

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in den Diskussionen hervor, die man jedoch zugleich kritisch sieht. Dieser „vertrat in seinen Diskussionsbeiträgen eine fortschrittliche Position, die die DDR gut repräsentierte; er blieb allerdings in der Defensive und hat die Fiktion von der angeblichen [gesamtdeutschen] Einheit der Wissenschaft noch nicht überwunden“.43 Überhaupt sei es „nur in Ansätzen“ gelungen, eine „marxistische Konzeption“ vorzutragen und „nicht alle Möglichkeiten der Diskussion“ seien „in vollem Maße ausgenutzt“ worden. Die Ursachen dafür seien zu suchen „in der mangelnden Klarheit über die Einheit von Politik und Wissenschaft sowie in einer starken Unsicherheit in der Diskussion mit den bürgerlichen Wissenschaftlern“, vor allem aber „in der völlig ungenügenden Einschätzung des gegenwärtigen Entwicklungsstandes und der Tendenzen in der bürgerlichen Germanistik, vor allem Westdeutschlands, sowie in der daraus resultierenden Unklarheit über die einzuschlagende Taktik gegenüber den einzelnen Gruppierungen“. In diesem Zusammenhang kritisiert man die Parteigruppe und das Parteiaktiv der Delegation, die es nicht richtig verstanden haben, neben der politischen Arbeit auf die wissenschaftlichen Aufgaben zu orientieren und „die Festlegungen streng zu kontrollieren“.44

5. Es müsse, so urteilt Geerdts abschließend in seinem Bericht über die Kopenhagener Tagung, „in Zukunft bei internationalen Zusammenkünften von unserer Seite aus eine zweifellos gründlichere Vorbereitung getroffen 43

44

Ab Mitte bis Ende der fünfziger Jahre begannen sich die Entscheidungsgewalten mehrheitlich in den Händen derer zu konzentrieren, die schon von Anbeginn an in den bürgerlichen Professoren Vertreter und Verfechter einer Ideologie sahen, die zum Nationalsozialismus geführt hatte. Außerdem konnten sich zunehmend die politischen Pläne zur Umprofilierung der Universitäten auf ein wachsendes Potential an marxistisch orientiertem, wissenschaftlichem Nachwuchs stützen. So wurde u. a. entsprechend eines Vorschlagpapiers mit dem Titel „Zur Verstärkung der ideologisch-theoretischen Arbeit auf dem Gebiet der Literaturwissenschaft“ (1957) empfohlen, die Hauptkritik der ‚bürgerlichen‘ Literaturwissenschaft an einzelnen ihrer Vertreter festzumachen. Dementsprechend seien auch „eindeutige Angriffsdiskussionen“ gegen Prof. Mayer zu führen. Hans Mayer hatte sich bereits 1957 in einem Rundfunkvortrag kritisch zur DDR-Gegenwartsliteratur geäußert und in ihr nicht Spuren des bald zu erwartenden Höhepunktes des Sozialistischen Realismus erkennen wollen und sich somit Feinde gemacht. Obwohl er kurz darauf öffentlich und auf Beschluss der SED angegriffen wurde, blieb er davon scheinbar unberührt. Von nun an musste die Politbürokratie mit dem Widerspruch klarkommen, dass Hans Mayer zwar im Ausland die DDR energisch gegen Angriffe verteidigte, sich im Lande aber alle Bevormundungen und Weisungen verbat. Vgl. Boden, Universitätsgermanistik, S. 134; vgl. auch: Thalheim, Bemerkungen. Einschätzung des II. Internationalen Germanistik-Kongresses in Kopenhagen, ohne Datum, in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen.

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werden“.45 Die Auswertungen des Kopenhagener Germanistenkongresses blieben folgerichtig nicht ohne Schlussfolgerungen. So wird in der „Einschätzung des II. Internationalen Germanistik-Kongresses in Kopenhagen“ u. a. verlangt, „die Erfahrungen von Kopenhagen [...] für alle folgenden internationalen Kongresse nutzbar“ zu machen und vor allem künftig „den marxistischen Kräften qualitativ den bestimmenden Einfluß“ zu sichern und zu garantieren. Gefordert wird, dass „eine wirksame politische Führungstätigkeit auch während des Kongresses ausgeübt werde“ und eine entsprechende politisch-ideologische Vorbereitung dieser Leitungstätigkeit erfolge. Eine sorgfältige Vorbereitung aber habe das Bewusstsein zu wecken, dass „die Mitarbeit den Grundwiderspruch in Deutschland lösen helfen muß“. Als wichtige Lehre des Kongresses erkennt man, „dass die jüngeren marxistischen Germanisten der DDR differenzierter, zielsicher gegen die bürgerlichen Auffassungen zu polemisieren lernen müssen. Das erfordert eine systematische, zielstrebige und konkrete Analyse der verschiedenen Gruppen innerhalb der Germanistik [...]. Diese Auseinandersetzung muß in die tägliche Forschungs- und Lehrtätigkeit eingehen [...]. Das Auftreten unserer Germanisten und die Ergebnisse weisen darauf hin, dass ein stärkerer internationaler Einfluß, eine größere Geltung unserer wissenschaftlichen Arbeit äußerst ernster Anstrengungen bedarf, die von allen staatlichen und Parteileitungen zu unterstützen sind“.46 In Hinsicht auf das Verhältnis zur IVG und den nächsten Kongreß (Amsterdam 1965) werden rechtzeitige Kontakte mit der holländischen Germanistik gefordert, um mit entsprechenden Vorschlägen an die Leitung „dafür zu sorgen, dass man auf die Vorbereitung und Gestaltung des Kongresses in geeigneter Form einwirkt“.47 Verwiesen wird auf die Rolle der Partei, mit Blick zum einen auf Hans Mayer, zum anderen auf die „Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin“: Die hartnäckige Arbeit des Parteiaktivs [...] mit Prof. H. Mayer hatte nach längeren Auseinandersetzungen sichtbare Erfolge in seinem politisch entschiedenerem Auftreten, in seiner deutlichen Solidarisierung und Identifizierung mit unseren jungen marxistischen Kräften. Man sollte zukünftig stärker seine internationalen Verbindungen nutzbar machen und ihn durch umsichtige, aber hartnäckige Gespräche zu gemeinsamer Arbeit besser gewinnen. Das gilt besonders für seine Kritik an der reaktionären bürgerlichen Literaturwissenschaft, für seine Kontakte mit westdeutschen Schriftstellern und Wissenschaftlern.48 45

46 47 48

Kurzer Bericht über die Teilnahme am II. Internationalen Germanistenkongreß, vom 21.8.– 27.8.1960 in Kopenhagen (14.Okt. 1960), in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hochund Fachschulwesen. Einschätzung des II. Internationalen Germanistik-Kongresses in Kopenhagen, ohne Datum, in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. Ebd. Ebd.

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Und zur Akademie heißt es: Das Auftreten unserer Delegation, die inneren Auseinandersetzungen weisen auf die schwache politische Position der Partei innerhalb der Akademie hin. Die Partei muß ihre besondere Aufmerksamkeit darauf verwenden, die Verhältnisse zugunsten der fortschrittlichen Kräfte zu verändern.49

Wohl mit der Absicht, die Kontrolle auch über publizistische Aktivitäten bezüglich der Kopenhagener Tagung zu behalten, wird in den Schlussfolgerungen akribisch festgehalten, wie und von wem die Tagung auszuwerten sei: Publizistisch wird die Tagung durch einen ND-Artikel Prof. Mayers, durch zwei Rundfunkgespräche Dr. Kaufmanns und Dr. Haases (Radio DDR und Deutschlandsender), durch einen Forum-Artikel Günter Dahlkes, einen Sonntag-Artikel Gerd Hillesheims, sowie durch einen Tagungsbericht Dr. Haases in den Weimarer Beiträgen ausgewertet.50

6. Der selektive Blick auf die Vorgänge und Reaktionen in der DDR um den II. Internationalen Germanistenkongress wirft die Frage nach den Kriterien dafür auf. Die Vorgänge um den Kongress dürften exemplarisch für die Bemühungen der DDR stehen, auf dem internationalen Parkett nicht nur präsent zu sein, sondern dieses als Podium für marxistisch-leninistisches Gedankengut zu nutzen, um internationale und deutsch-deutsche Entwicklungen im gewünschten ideologischen Sinne zu beeinflussen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang zum einen die bereits benannte politische Atmosphäre, die zum damaligen Zeitpunkt trotz der anhaltenden BerlinKrise politisch noch als relativ entspannt angesehen wurde, was insbesondere auf das Verhältnis zu den skandinavischen Ländern zutraf. Insofern schien wohl der Kongress zu diesem Zeitpunkt und zudem in einem skandinavischen Land für einen ‚DDR-Auftritt‘ als besonders geeignet. Zum anderen ist die wissenschaftspolitische Ebene einzubeziehen. Diese ist, hinsichtlich der Situation der Germanistik in der DDR durchaus ambivalent. Einerseits brauchte man für die gewünschte Anerkennung die ‚bürgerlichen‘ Professoren auch und gerade auf solchen Tagungen, um wissenschaftlicher Kontakte im internationalen Rahmen zu knüpfen. Andererseits ‚störten‘ sie. Sie ließen sich mit ihrem entsprechend traditionellen Wissenschaftsverständnis nicht oder nur begrenzt oder unter Widerspruch politisch-ideologisch 49 50

Ebd. Ebd.

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instrumentalisieren. Das Ziel, auch auf dem Kopenhagener Kongress, über die bürgerlichen Professoren internationale wissenschaftliche Kontakte aufzunehmen, wurde nicht bzw. nur bedingt erreicht. Das wird in dem Greifswalder Bericht ausdrücklich beklagt: „Es ist bedauerlich, dass Herr Professor Dr. Magon aus Berlin, einer der beiden Leiter unserer Delegation, kaum Gelegenheit nahm, uns mit Fachkollegen aus Westdeutschland und dem Ausland bekanntzumachen“.51 Die Vorgänge um den Kongress erhellen zugleich die Frage nach der Autorität von Wissenschaft, „die unter den Bedingungen eines autoritären Systems und – erweitert – von Geschichte der Wissenschaft unter den Bedingungen der Diktatur [...] ein Besonderes im Hinblick auf das Allgemeine des Zusammenhangs von Wissenschaft und Herrschaft, von Wissenschaft und Ideologie“ ist.52 Diesen Bedingungen und dem Zusammenhang von Wissenschaft und Herrschaft ist zwar gerade mit Blick auf internationale Wissenschaftsbeziehungen noch genauer nachzugehen. Doch wird auf der politischen und auf der wissenschaftspolitischen Ebene am Beispiel der Kopenhagener Tagung bereits die in der Folge eintretende Abschottung der DDR deutlich. Zugleich heißt das: Die Mauer warf auch für die Germanistik in der DDR bereits ihre Schatten voraus.

51 52

Bericht über die Teilnahme von Dr. Bruno Kress und Dozent Dr. Horst Bien, in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. Schandera, Aspekte, S.  35; vgl. dazu ebenfalls: Schandera, Diktaturenvergleich; Höppner, Mehrfachperspektivierung, S. 632.

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Literaturverzeichnis 1. Quellen (Barch = Bundesarchiv Berlin; SAPMO = Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv) Bericht über die Teilnahme von Dr. Bruno Kress, mit der Wahrnehmung einer Professur beauftragt, und Dr. Hans Bien, vom Nordischen Institut der Universität Greifswald am II. Internationalen Germanistenkongreß in Kopenhagen, 21. Bis 27. August 1960 (21.10.60), in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. Ideologisch-wissenschaftliche Einschätzung des II. Internationalen Germanisten-Kongresses in Kopenhagen, ohne Datum, in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. Kurzer Bericht über die Teilnahme am II. Internationalen GermanistenKongreß vom 21.8.–27.8.1960 in Kopenhagen (14. Okt. 1960), in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. Republikfluchten von Studierenden der Universitäten, Hoch- und Fachschulen im I. und II. Quartal 1961, in: BArch (DR 3 5252 I. Schicht), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. Richtlinien für die Gestaltung der Arbeit im Bereich der Wissenschaft und Kultur der DDR nach Westdeutschland sowie nach Westberlin. Entwurf, ohne Datum, in: SAPMO (DY 30/IV A 2/9.04), Abteilung Wissenschaften. Schreiben des Sektors Philosophische Fakultäten an die Deutsche Akademie der Wissenschaften, Berlin, Vizepräsident Prof. Dr. W. Steinitz (8.12.1959), in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. Sektor Philosophische Fakultäten, Internationaler Germanistenkongreß August 1960 in Kopenhagen (8.12.1959), in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hoch und Fachschulwesen. Sektor philosophische Fakultäten / Sektor Ausland / Dr. Wagner: II. Internationaler Germanistenkongreß in Kopenhagen (9.5.1960), in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. Vorlage zur Teilnahme von Wissenschaftlern aus der DDR am II. Internationalen Germanistenkongreß August 1960 in Kopenhagen, ohne Datum, in: BArch (DR 3 5252), Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen.

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Zusammengefasstes Protokoll der Beratung am 24.9.1957, in: SAPMO (DY 30/IV 2/9.04/225), Abteilung Wissenschaften, Bl. 489–499.

2. Forschungsliteratur Abusch, Alexander: Aktuelle Fragen unserer Kulturpolitik, Berlin 1959, in: Schubbe, Elimar (Hg.): Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED, Bd. 1 (1946–1970), Stuttgart 1972, Dokument 135, S. 140–151. Adam, Wolfgang / Dainat, Holger / Schandera, Gunter (Hg.): Wissenschaft und Systemveränderung: Rezeptionsforschung in Ost und West – eine konvergente Entwicklung? Heidelberg 2003 (= Beihefte zum Euphorion 44). Batts, Michael S.: Fünfzig Jahre IVG: Die Geschichte der Internationalen Vereinigung für Germanische Sprach- und Literaturwissenschaft 1951– 2000, Wien 2000. Boden, Petra: „Es geht ums Ganze!“ Vergleichende Beobachtungen zur germanistischen Literaturwissenschaft in beiden deutschen Staaten 1945– 1989, in: Euphorion 91 (1997), S. 247–275. Boden, Petra: Universitätsgermanistik in der SBZ / DDR. Personalpolitik und struktureller Wandel 1945–1958, in: Rosenberg, Rainer / Boden, Petra (Hg.): Deutsche Literaturwissenschaft 1945–1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen, Berlin 1997 (= LiteraturForschung), S. 119–159. Boden, Petra / Rosenberg, Rainer (Hg.): Deutsche Literaturwissenschaft in der DDR 1945–1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen, Berlin 1997 (= LiteraturForschung). Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen (Hg.): Die SBZ von 1959– 1960, Berlin / Bonn 1964. Czech, Gabriele / Müller, Oliver: Die DDR auf dem II. Internationalen Germanistenkongress in Kopenhagen 1960, in: Timmermann, Heiner (Hg.): Die DDR in Europa. Zwischen Isolation und Öffnung, Münster 2005 (= Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen 140), S. 419–435. Czech, Gabriele / Müller, Oliver (Hg.): „Geteilter“ deutscher Himmel? Zum Literaturunterricht in Deutschland in Ost und West von 1945 bis zur Gegenwart, Frankfurt/Main 2007 (= Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts 59).

Die DDR auf dem II. Internationalen Germanistenkongress in Kopenhagen

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Haase, Horst: Der Zweite Internationale Germanistenkongress in Kopenhagen (21.–27. August 1960), in: Weimarer Beiträge 7 (1961), S. 157– 162. Henckmann, Wolfhart / Schandera, Gunter (Hg.): Ästhetische Theorie in der DDR 1949 bis 1990. Beiträge zu ihrer Geschichte, Berlin 2001. Höppner, Wolfgang: Mehrfachperspektivierung versus Ideologiekritik. Ein Diskussionsbeitrag zur Methodik der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, in: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 5 (1995), S.  624– 633. Jelenski, Manfred: Germanistische Fachkonferenz in Leipzig, in: Forum 2 (1948), S. 405–406. Kohlschmidt, Werner (Hg.): Spätzeiten und Spätzeitlichkeit. Vorträge, gehalten auf dem II. Internationalen Germanistenkongreß 1960 in Kopenhagen, Bern / München 1962. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Legitimation eines neuen Staates. Parteiarbeiter an die Front, Berlin 1997 (= Forschungen der DDR-Gesellschaft). Moser, Hugo: Spätzeiten der Dichtung und der Sprache. Zum Generalthema des II. Internationalen Germanistenkongresses in Kopenhagen (21.–27.August 1960). Grundsätzliches und Altgermanistisches, in: Wirkendes Wort 10 (1960), S. 376–380. Müller-Enbergs, Helmut / Wielgoh, Jans / Hoffmann, Dieter (Hg.): Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Lexikon, Bonn 2000. Rosenberg, Rainer: Zur Geschichte der Literaturwissenschaft in der DDR, in: Drews, Jörg / Lehmann, Christian (Hg.): Dialog ohne Grenzen. Beiträge zum Bielefelder Kolloquium zur Lage von Linguistik und Literaturwissenschaft in der ehemaligen DDR, Bielefeld 1991 (= Bielefelder Schriften zur Linguistik und Literaturwissenschaft 1), S. 11–35. Rosenberg, Rainer: Zur Begründung der marxistischen Literaturwissenschaft in der DDR, in: Boden, Petra / Rosenberg, Rainer (Hg.): Deutsche Literaturwissenschaft 1945–1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen, Berlin 1997 (= LiteraturForschung), S. 203–240. Rosenberg, Rainer: Verhandlungen des Literaturbegriffs. Studien zu Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft, Berlin 2003 (= LiteraturForschung). Röther, Klaus: Die Germanistenverbände und ihre Tagungen. Ein Beitrag zur germanistischen Organisations- und Wissenschaftsgeschichte, Köln 1980 (= Pahl-Rugenstein-Hochschulschriften, Gesellschafts- und Naturwissenschaften: Serie Literatur und Geschichte 42). Schandera, Gunter: Aspekte der Rezeptionsästhetik in der DDR. Zum Problem der Beschreibung des Verhältnisses von Wissenschaft und politi-

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scher Diktatur, in: Henckmann, Wolfhardt / Schandera, Gunter (Hg.): Ästhetische Theorie in der DDR 1949 bis 1990. Beiträge zu ihrer Geschichte, Berlin 2001, S. 25–36. Schandera, Gunter: Diktaturenvergleich: Die politische Steuerung der literaturwissenschaftlichen Germanistik im Nationalsozialismus und in der DDR, in: Dainat, Holger / Danneberg, Lutz (Hg.): Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus, Tübingen 2003 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 99), S. 440–466. Thalheim, Hans-Günther: Kritische Bemerkungen zu den Literaturauffassungen Georg Lukács’ und Hans Mayers, in: Weimarer Beiträge 6, 2 (1958), S. 138–171.

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Versuche der Behörden und der Germanistiklektoren aus der DDR, auf die polnische Germanistik einzuwirken Der Fall der Warschauer Germanistik

Die Warschauer Germanistik nahm im Jahre 1916 ihren Anfang, als der damalige Generalgouverneur Hans Hartwig von Beseler die Warschauer Universität neu gründete. Anstatt in Russisch konnte nun in Polnisch unterrichtet werden, abgesehen von der Germanistik, die von einem Deutschen geleitet wurde. Nach Beendigung der deutschen Besatzung im November 1918 konnte Zygmunt Łempicki 1919 zum Ordinarius für Germanistik an der Warschauer Universität berufen werden. Er gehörte zu den wenigen, nicht in Deutschland  wirkenden Germanisten, die international bekannt waren, u. a. verfasste er mehrere Artikel für das „Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte“. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs allerdings wurden in Polen nur noch Volksschulen geduldet, sonst durfte es keinen Unterricht mehr geben. Łempicki, ein großer Freund der deutschen Kultur, aber grundsätzlich ein Gegner des NS-Regimes,1 wurde 1943 verhaftet und ins KZ Auschwitz gebracht, wo er verstarb; wahrscheinlich hielt er die Strapazen psychisch und physisch nicht aus. Er war 57 Jahre alt. Nach dem Krieg waren die polnischen Machthaber nicht bereit, in Warschau die Germanistik neu zu eröffnen. Es hieß, man werde in der Hauptstadt nicht die Kultur des Feindes lehren. Eigenartigerweise war dies in den Städten Posen und Breslau möglich. Wahrscheinlich sollte damit unterstrichen werden, dass es sich 1

Łempicki hatte mehrmals das Dritte Reich bereist und war auch bei Empfängen von offiziellen Gästen aus Deutschland anwesend, so dass man zeitweise den Eindruck haben konnte, dass er das Naziregime anerkannt habe. Über Łempickis Wirken in Bezug auf das Dritte Reich sowie als Wissenschaftler vgl. u. a. Sauerland, Łempicki, sowie die Ausführungen Maria Gierlaks in: Gierlaks, Deutschunterricht (insbesondere S.  125–155) und Zygmunt Łempicki, Intelektualista okresu międzywojennego [Ein Intellektueller der Zwischenkriegszeit], hg. und eingeleitet von Barbara Surowska, Warszawa 2002.

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um alte polnische Kulturzentren handle. Schließlich entschloss man sich im Hochschulministerium endlich, eine Germanistik in Warschau einzurichten. Sie wurde 1960 eröffnet. Als Hochschuldozenten, die den Lehrstuhl hätten leiten können, kamen in Frage: Dr. Florian Witczuk, ein Schüler von Łempicki, Dr. habil. Emil Adler, Herderspezialist, Mitarbeiter von Adam Schaff am „Institut für Philosophie“, und Dr. habil. Elida Maria Szarota, die sich 1956 über Lessings „Laokoon“ an der Humboldt-Universität habilitiert hatte. Sie hatte die umfassendste akademische Ausbildung.2 Zur Verwunderung der Warschauer Gebildetenkreise wurde jedoch ein Germanist aus der DDR zum Lehrstuhlleiter berufen: Thomas Höhle aus Halle, ein Mann aus der Flakhelfergeneration, wie es sofort bissig hieß. Er hatte gerade sein absolut linientreues Buch über Franz Mehring vorgelegt. Dessen voller Titel lautete: „Franz Mehring. Sein Weg zum Marxismus“, erschienen 1956 und erweitert mit einer Auswahl aus den frühen Schriften 1958.3 Er erwies sich als ein recht leutseliger Mann, der seine Vorlesungen anhand der „Erläuterungen zur deutschen Literatur, hg. v. Kollektiv für Literaturgeschichte im volkseigenen Verlag Volk und Wissen Berlin unter der Leitung von Klaus Gysi, Bd. 1–4, Berlin 1956–1958; 1967“ mit viel Rhetorik vortrug sowie ein nicht besonders anspruchsvolles Seminar erst über Arnold Zweig und dann über Bertolt Brecht abhielt. Von seiner ursprünglichen Sozialisierung in Göttingen bei Kurt May und später bei Hans Mayer in Leipzig merkte man nichts. Hätte es nicht Szarota gegeben, deren Vorstellungen vom Studium dem entsprachen, was sie während ihres Studiums in Paris bei Albert Thibaudet, in Genf und v. a. in Frankfurt am Main zu Beginn der dreißiger Jahre erlebt hatte, als dort Karl Reinhardt, Walter F. Otto und ihr Doktorvater Erhard Lommatzsch lehrten,4 wäre das Niveau der Warschauer Germanistik das eines guten Gymnasiums gewesen. Es ist bis heute ein Rätsel, warum das Ministerium diese Wahl getroffen hatte. Die erste Interpretation war, dass es sich nicht entscheiden konnte, wen auswählen: Witczuk, Adler oder Szarota? 2 3

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Siehe hierzu auch meinen Artikel: Sauerland, Symbiosen. Für mich war es ein Ärgernis, weil Höhle dort im Vorwort gegen Thesen meines Vaters Kurt Sauerland, die aus einem unzugänglichen Archiv stammten, in einem damals üblichen Parteiton polemisierte, oder besser meinen Vater heruntermachte. Die Thesen selber wollte er weder mir noch meiner Mutter zur Verfügung stellen. Aber das nur am Rande. Mein Vater war bis zum Machtantritt Hitlers Chefredakteur des „Roten Aufbaus“. Er emigrierte nach Paris, von wo aus er sich nach Moskau in die Komintern berufen ließ. Er wurde recht schnell Opfer der Säuberungen. Die Verhaftung erfolgte am 15. Mai 1937, am 22. März 1938 wurde er vom Militärtribunal des Obersten Gerichts der UdSSR wegen „Teilnahme an konterrevolutionärer terroristischer Tätigkeit“ zum Tode verurteilt und am gleichen Tag in Moskau erschossen. Bei den Thesen handelte es sich um eine Verteidigungsschrift gegen die Kritik, die kommunistische Genossen an dem von ihm 1932 verfassten Buch „Der dialektische Materialismus“ übten. Sie schloss 1934 ihr Studium mit einer Dissertation zu Gautier de Coincy bei Erhard Lommatzsch im Fach Romanistik ab.

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Witczuk war Schüler des als bürgerlich verschrienen Łempicki, von dem es (zu Recht) hieß, dass er ein Piłsudski-Anhänger gewesen sei.5 Noch dazu habe Łempicki, so hieß es, mit den Deutschen kollaboriert, dies war jedoch eine reine Unterstellung. Ein Schüler, ein Deutscher in der Warschauer Besatzungsbehörde, hatte ihm geholfen, wieder frei zu kommen, als er zum ersten Mal verhaftet worden war. Gegen Witczuk sprach auch der Umstand, dass die einflussreiche Polonistin Stefania Skwarczyńska aus Łódź ihm seine im Folgenden knapp wiedergegebenen Ausführungen über Kleist nicht verzeihen konnte. Dem Dichter, erklärte Witczuk in einem Lehrbuch über das deutsche Theater und Drama im 19. Jahrhundert, sei es nie gelungen, der Mentalität seiner Klasse zu entfliehen. Die sporadisch hie und da unternommenen Versuche, ihn als einen fortschrittlichen Junker zu rehabilitieren, seien ein Missverständnis. Für Lukács’ zum Teil interessante Bemerkungen über Kleists Gefühlswelt scheint Witczuk keinen Sinn gehabt zu haben. Ihm geht es in seinem Lehrbuch, wenn man von den Inhaltsbeschreibungen absieht, v. a. um die ideologische Wirkung von Kleist. Es sei nicht verwunderlich, konstatiert er, dass dessen Dramen „Der Prinz von Homburg“ und die „Hermannsschlacht“ im Dritten Reich wahre Triumphe gefeiert haben. „Die formalen Vorzüge seiner Dramentechnik, die einen unwiderstehlichen Einfluß auf spätere deutsche Schriftsteller ausübten, sollten uns nicht darüber hinwegsehen lassen“, betont Witczuk, dass die Probleme nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben, die Handlungen der Dramenfiguren künstlich motiviert sind und alles von einer „reaktionären Ideologie“ getragen wird.6 Witczuk hatte sehr wenig veröffentlicht, hatte aber für den Weiterbestand der germanistischen Bibliothek gesorgt und liebte offenbar den Unterricht, obwohl er eigenwillig war und sich mit neueren Tendenzen in der Germanistik nicht mehr beschäftigt hatte. Emil Adler war mehr Philosophiehistoriker als Germanist. Er stammte aus einer jüdischen Familie, vor dem Krieg hatte er sich der Kommunistischen Partei angeschlossen, bei Kriegsausbruch saß er im Gefängnis. Er soll sich dann im Kampf gegen die Wehrmacht hervorgetan haben. Seine jüdischen Wurzeln verbarg er vor uns, man erkannte sie nur daran, dass er immer wieder gern auf Maimonides zu sprechen kam. Jiddisch muss ihm noch geläufig gewesen sein. Einen regelrecht antisemitischen Nachruf auf ihn hat Józef Wiktorowicz in seinem Abriss der Warschauer Germanistik 5

6

In den fünfziger und sechziger Jahren wurde offiziell vom Diktator Piłsudski gesprochen, es fehlte nicht an Versuchen, ihn als einen faschistoiden Herrscher darzustellen, als wäre er ein Vertreter der radikalen Rechte gewesen. Diese gewann erst nach seinem Tod im Mai 1935 an Boden. Vgl. Witczuk, Teatr, S.  50. Ich nehme an, dass Witczuk das Buch spätestens 1955 zum Druck vorgelegt hatte, d. h. vor dem XX. Parteitag der KPdSU im Frühjahr 1956. Ehe in jenen Zeiten etwas als Lehrbuch gedruckt wurde, musste das Manuskript zumeist mehrmals begutachtet werden.

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verfasst.7 Ich habe in dem Periodikum „Geschichte der Germanistik. Mitteilungen“ dazu Stellung genommen.8 Warum Elida Maria Szarota, die wissenschaftlich alle überragte, nicht Leiterin werden konnte, lässt sich nur erraten. Sie gehörte wie Emil Adler der Partei an (Witczuk war übrigens parteilos), war vom 15.09.1940 bis zum 03.04.1941 im berüchtigten Pawiak-Gefängnis (dass sie dort wieder herauskam, kann im Ministerium gegen sie gesprochen haben). Ihren Mann, Rafał Blüth, hatten die Deutschen im November 1939 erschossen. Er war vom jüdischen Glauben zum Katholizismus übergetreten und hatte dann als ein bekannter Reformkatholik in Warschau gewirkt. Szarotas Eltern mütterlicherseits waren Deutsche in Schlesien, ihre Mutter, Eleonore Kalkowska, war ursprünglich eine polnisch schreibende Schriftstellerin, ehe sie in den zwanziger Jahren zum Deutschen überwechselte.9 Der Vater wirkte in der Zweiten Polnischen Republik als Publizist und Diplomat. In den Nachkriegsjahren gab Szarota erst Lehrbücher für Französisch und danach für Deutsch heraus. Zu einer Marxistin eignete sie sich nicht, obwohl sie in ihrem „Laokoon“-Buch bemüht war, Sätze zu formulieren, die dem offiziellen Sprachgebrauch entsprachen. Diese drei akademischen Lehrer wurden kurzum dadurch ausgestochen, dass irgendwelche Behörden der Volksrepublik Polen (VR Polen) in Absprache mit DDR-Behörden Thomas Höhle einsetzten, der seit 1951 auf der Gewerkschaftshochschule „Fritz Heckert“ in Bernau bei Berlin unterrichtete. Als er von den DDR-Behörden nach Warschau berufen werden sollte, wurde ihm eiligst ein Professorentitel verliehen, was in Warschau natürlich nicht unbekannt blieb. Es hieß, dass bereits 1959 der germanistische Lehrstuhl eröffnet werden sollte, aber man habe in der DDR wenigstens einige Monate abwarten müssen, um nicht allzu unseriös zu wirken. Im Internet10 kann man erfahren, dass Höhle damals mit 33 Jahren einer der jüngsten Professoren in der DDR war. Er habilitierte sich übrigens erst 1978. Seine Aufgabe war es, zu garantieren, dass die DDR Einfluss auf die Weiterentwicklung der Warschauer Germanistik nehmen konnte. Wichtig war hierbei auch die Zusammenarbeit mit dem DDR-Kulturzentrum, gegen die sich die kontaktfreudigste unter den drei Germanisten, Elida Maria Szarota, nicht wehrte. Im Gegenteil, sie fand Treffen mit DDR-Schriftstel7 8 9

10

Wiktorowicz, Geschichte. Sauerland, Adler. Siehe hierzu Budke/Schulze, Schriftstellerinnen, S. 206–207. Erinnerungen von Elida Maria Szarota an ihre Mutter wurden zusammen mit deren Gedichten und Pressestimmen zu ihr veröffentlicht in: Szarota, Elida Maria: Eleonora Kalkowska: Wiersze / Gedichte; Pożegnanie z moją matką i Niemcami / Abschied von meiner Mutter und von Deutschland, in: Slaska, Eva Maria/Gieysztor, Stefan (Hg.): Poetki z ciemności / Dichterinnen aus dem Dunkel, Berlin 1995 (= WIR. Edycja Literacka 2), S. 199–224. http://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Höhle (letzter Zugriff: 4.8.2011).

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lern äußerst nützlich und reizvoll, wenngleich ihre Reaktionen nicht immer dem Geschmack der Leitung des Zentrums entsprachen. So lachte sie über die angebliche Wiederentdeckung der Romantik durch Anna Seghers und andere oder über den Stolz, dass eine Christa Wolf die Rückblende für die Literatur gleichsam entdeckt habe. Altbekanntes wurde als das Allerneueste verkauft.11 Die Leitung des Warschauer Germanistischen Lehrstuhls hatte Höhle allerdings nur zwei Jahre inne, von 1961 bis 1963, zuvor gab es einen Kurator, den Polonisten Eugeniusz Sawrymowicz, der von Germanistik wenig verstand. Nach dem Abgang von Höhle im Jahr 1963, übernahm dieser die Leitung erneut. Als nächster DDR-Germanist kam Hans Joachim Gernentz, der sich 1960 über Formen und Funktionen der direkten Rede und der Redeszenen in der deutschen Dichtung von 1100 bis 1250 habilitiert hatte und 1961 ordentlicher Professor für deutsche Sprachwissenschaften in Rostock geworden war. Er brachte uns v. a. mittelalterliche Literatur in einer Vorlesung und in Übungen nahe. Hierbei eröffnete er uns eine völlig neue Welt. Ich war damals Student des vierten Studienjahres. Wahrscheinlich hatte die polnische Seite, d. h. die genannten drei Warschauer Germanisten, gemeint, dass man einen Mittelalterforscher und Sprachwissenschaftler brauche. Damals herrschte noch die Tendenz vor, die gesamte Literaturgeschichte abzudecken. Szarota war für Barock, Romantik und die Literatur um die Jahrhundertwende zuständig, Adler v. a. für die Aufklärung, Witczuk für Klassik und Realismus des 19. Jahrhunderts. 1968 wurde in Leipzig die Germanistenkommission DDR-VR Polen ins Leben gerufen.12 Gründungsmitglieder waren die Professoren Rudolf Große, Thomas Höhle, Günther Desselmann und Gerhard Helbig sowie die Doktoren Dietrich Herrde und Ernst Schubert von Seiten der DDR, die Professoren Władisław Zabrocki, Aleksander Szulc, Jan Chodera und Stefan Kubica aus Polen, genauer aus Posen. Die Kommission bekam die zusätzliche Bezeichnung: beratendes Fachorgan beim Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen der DDR (MHF). Bereits 1969 organisierte sie zusammen mit dem Warschauer Lehrstuhl eine Konferenz zum Thema „Deutsch-polnische Beziehungen in der Literatur“. In den Akten des DDR-Hochschulministeriums heißt es, es handle sich um die erstmalige Zusammenführung von polnischen und DDR-Wissenschaftlern nach dem Krieg in einem solch großen Rahmen. Über 100 Teilnehmer soll es gegeben haben, was wohl eine leichte Übertreibung ist. Es gab gleich am ersten Tag einen Eklat. Professor 11

12

Die Diskussionen um die DDR-Literatur mit Szarota und ihren Schülern bzw. Schülerinnen waren insofern schwierig, weil sie sich auch in ganz anderen intellektuellen Kreisen bewegten, in denen über die modernsten Erscheinungen, wie das absurde Theater oder den Strukturalismus frei debattiert wurde. Der sozialistische Realismus, im Polnischen socrealizm genannt, war in Polen seit 1956 verpönt. Siehe hierzu Sauerland, Germanistik.

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Walter Dietze hatte Szarota, die eines der Einleitungsreferate hielt, scharf angegriffen. Ich hatte sie, nicht nur als ihr Schüler, sondern aus Überzeugung verteidigt. Am nächsten Tag war mein Referat über Łempicki in einer Sektion angesetzt. Die Sektionsleitung hatte Walter Dietze inne. Ich war also auf einen noch härteren Angriff gefasst. Doch siehe da, Dietze erklärte, ich hätte die Anwesenden mit meinen Ausführungen auf die Schulbank gesetzt. Was war geschehen? Dietze war am Vorabend in der DDR-Botschaft darauf hingewiesen worden, dass es nicht angehe, die polnischen Germanisten zu kritisieren, wo man sie doch für die DDR einnehmen wolle. Und er nahm die Belehrung sofort an! Zu dieser Zeit, nämlich seit 1965, existierte in Warschau bereits ein österreichisches Kulturinstitut, das durch den Aufstieg der österreichischen Literatur in jenen Jahren eine ernsthafte Konkurrenz für die DDR-Kulturarbeit darstellte. Szarota und ihre Schüler waren dort überaus aktiv. Das DDR-Kulturzentrum stellte sich dieser Konkurrenz nach Jahren in einer geschickten Weise: Es verlagerte seine Aktivitäten v. a. auf die Schullehrer, die im Kulturprogramm der Österreicher als Ansprechpartner nicht vorgesehen waren. Die DDR-Lektoren an den Hochschulen konnten verständlicherweise an anderen, vorrangig an den kleineren Universitäten einen viel größeren Einfluss als in der Hauptstadt gewinnen. Hinzu kam, dass das DDR-Hochschulministerium, wie mir Klaus Hermsdorf einmal sagte, bei seiner Lektorenauswahl immer mehr berücksichtigte, dass es der jeweilige DDR-Vertreter in Warschau mit uns in wissenschaftlicher Hinsicht nicht leicht haben wird. Hermsdorf war der angenehmste Kollege in den siebziger Jahren. Klug und schelmisch. Wir waren bis zu seinem Tode im Jahre 2006 miteinander befreundet. Als Feind des Sozialismus sollte ich jedoch erst Ende 1980 qualifiziert werden. Der höchste Ideologe, Kurt Hager,13 schrieb in einem Bericht an die entsprechende Stelle im Zentralkomitee (ZK) der SED über das Bild, das die Germanisten in Polen von der DDR hatten, und über die Situation der polnischen Germanistik: 1. In der DDR werde angeblich die faschistische Vergangenheit nicht bewältigt. 2. Im Vergleich zu den BRD-Deutschen seien die DDR-Deutschen politisch gefährlicher, weil sie zu enge Bindungen an die Sowjetunion haben. Kennzeichnend ist auch die Atmosphäre und der Verlauf einer Konferenz, die das Institut für Germanistik in Warschau anläßlich seiner Gründung durchführte. Weder der Rektor der Universität noch der Institutsdirektor noch der Leiter der Abteilung Literaturwissenschaft (Dozent Dr. Sauerland) unternahmen während ihrer Eröffnungsvorträge den Versuch, den immerhin nicht unerheblichen Beitrag der DDR-Germanisten an der Entwicklung des Instituts in entsprechender Weise zu 13

Kurt Hager war zu jener Zeit auch Mitglied des Staatsrates und Mitglied des Nationalen Verteidigungsrates. Er galt im SED-Politbüro als der oberste Kulturverantwortliche.

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würdigen. Während auf die enge Zusammenarbeit zwischen dem Institut und dem österreichischen Kulturzentrum eingegangen wurde, fiel zur langjährigen Zusammenarbeit mit dem Deutschlektorat am KIZ14 Warschau kein würdigendes Wort. Besondere Aufmerksamkeit schenkte Dr. Sauerland den Publikationen und Forschungsergebnissen des Instituts, die sich mit österreichischer und BRD-Literatur befaßten. Kennzeichnend ist auch, daß Dr. Sauerland – Mitglied von Solidarnosc – sich für die „Rehabilitierung“ von Literaturwissenschaftlern des Instituts aussprach, die im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1968 in die BRD bzw. in die Schweiz emigriert waren. Er setzte sich für die Herausgabe und Popularisierung ihrer wissenschaftlichen Arbeiten ein. Zur Person von Dr. Sauerland: Dr. S. siedelte 1956 aus der DDR in die VRP über und nahm die polnische Staatsbürgerschaft an. Sein Vater war Mitglied der KPD. Im August dieses Jahres erhielt Dr. Sauerland auf dem Germanistenkongreß in Basel die höchste Stimmenzahl aller Vorstandsmitglieder und ist Mitglied des Vorstandes der Internationalen Vereinigung für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft (IVG). Sauerland vertritt die während einer Veranstaltung mit dem Direktor des Berliner Brechtzentrums – Werner Hecht – in Warschau geäußerte Auffassung, daß die DDR die faschistische Vergangenheit noch nicht bewältigt habe. Er engagiert sich stark für die Herausgabe der Blechtrommel von Grass in der VR Polen.15

Diese Informationen mussten u. a. von DDR-Lektoren in Polen stammen, abgesehen von einem besonderen Bericht, den Werner Hecht weitergeleitet hatte. Er war zusammen mit Roman Szydłowski, der in der Parteizeitung „Trybuna Ludu“ Feuilletonchef war und einst von Brecht die Übersetzungsrechte für Polen bekommen hatte, bei einem Treffen im „Germanistischen Institut“ Ende November 1980 anwesend. In meinem Tagebuch hatte ich über dieses Treffen Folgendes geschrieben: Warschau, den 27.11.1980: Brechtdiskussion. W. Hecht kam mit Frau und zwei Mitarbeitern, um den Studenten etwas über Brecht heute zu erzählen. Er war sehr dogmatisch: ‚Wer Brecht kritisiert, kritisiert den Marxismus‘. Für Brecht sein, heißt fortschrittlich sein, gegen ihn = reaktionär etc. Die Arturo-Ui-Aufführung sei damals so inszeniert worden, weil man noch wußte, was Faschismus ist, später hätte man ihn nicht mehr auf diese Weise spielen können. Szydłowski war anwesend. Er machte Zwischenrufe wie etwa: Brecht könne uns auch einiges sagen, gerade zu den streikenden Arbeitern. Der Ui sei damals wunderschön gespielt worden, er habe etwas von Shakespeare und etwas vom Kabarett, man habe aber nur das letztere gespielt und die Macbeth-Szene weggelassen. Ich forderte, man solle einmal Brechts kritisches Verhältnis zur DDR darlegen und erzählte hierüber einiges, u. a. ‚Wenn die Partei über das Volk unzufrieden ist, solle sie sich ein anderes wählen‘. Hierauf Szydłowski, das treffe auch auf unsere heutige Situation zu. Hecht versuchte einzulenken und ging auf den Streit zwischen den Brecht- und den Erpen14 15

KIZ = Kultur- und Informationszentrum. Kurt Hager: Zur Situation in der polnischen Germanistik. Information für das Sekretariat des ZK, Berlin, 24.12.1980, in: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR (SAPMO) im Bundesarchiv (SAPMO-BArch DY 30 J IV 2/9.04/18).

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beckanhängern ein, meinte aber, Stanisławski lasse sich mit Brecht vereinbaren. Er erwähnte Turandot! Barbara Surowska sprach von den langweiligen Brechtaufführungen im Berliner Ensemble.

Im Jahre 1981 nahmen die Angriffe gegen jene zu, die sich in Solidarnocz engagierten. Es war klar, dass DDR-Bürger, die in Polen wirkten oder auch nur dort zu Besuch waren, zu Hause zu berichten hatten. Ich hatte aber nicht angenommen, dass man sich an so hoher Stelle für einzelne polnische Germanisten interessieren würde. In den achtziger Jahren, nach Einführung des sogenannten Kriegszustands durch Wojciech Jaruzelski und seine Anhänger, kühlten die gegenseitigen Beziehungen verständlicherweise ab, aber trotz alledem brach die Zusammenarbeit zwischen den Literaturwissenschaftlern des „Germanistischen Instituts“ der Humboldt-Universität und der Warschauer Universität nicht zusammen. Es kam sogar zur Herausgabe zweier gemeinsamer Bände: „Parallelen und Kontraste. Studien zu literarischen Wechselbeziehungen in Europa zwischen 1750 und 1850“ (hg. von Hans-Dietrich Dahnke in Zusammenarbeit mit Alexander S. Dmitrijew, Peter Müller und Tadeusz Namowicz, Berlin 1983) und „Literatur zwischen Revolution und Restauration. Studien zu literarischen Wechselbeziehungen in Europa zwischen 1789 u. 1835“ (hg. von Siegfried Streller in Zusammenarbeit mit Tadeusz Namowicz, Berlin 1989), die beide im Aufbau Verlag erschienen. Das Verhalten der DDR-Lektoren dem Jaruzelski-Regime gegenüber gestaltete sich unterschiedlich. Einer bewunderte Jaruzelski dafür, wie er es verstanden hatte, die nach seiner Meinung von Haus aus undisziplinierten Polen zum Gehorsam zu zwingen, ein anderer, äußerst sympathischer Lektor bat mich, ihm nichts darüber zu erzählen, was sich in Polen ,unterirdisch‘ tue. Es ist schwer einzuschätzen, wie wirkungsvoll die Versuche von Seiten der DDR-Behörden waren, auf die polnische Germanistik Einfluss zu nehmen. Man darf sie keineswegs bagatellisieren, nur weil in der VR Polen eine größere geistige Freiheit herrschte. Es gab nicht wenige Germanisten in Polen, denen die Weise, wie in der DDR Literatur ,realistisch‘ interpretiert wurde, überaus entsprach. Und der recht geringe Kontakt mit westlichen Wissenschaftlern und v. a. der Umstand, dass kaum jemand in die westlichen Debatten eingebunden war, zeitigte selbstverständlich negative Folgen.

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Literaturverzeichnis 1. Quellen und Archivalien Hager, Kurt: Zur Situation in der polnischen Germanistik. Information für das Sekretariat des ZK, Berlin, 24.12.1980, in: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR (SAPMO) im Bundesarchiv (SAPMO-BArch DY 30 J IV 2/9.04/18). Łempicki, Zygmunt: Intelektualista okresu międzywojennego [Ein Intellektueller der Zwischenkriegszeit], hg. und eingeleitet von Barbara Surowska, Warszawa 2002. Szarota, Elida Maria: Eleonora Kalkowska: Wiersze / Gedichte; Pożegnanie z moją matką i Niemcami / Abschied von meiner Mutter und von Deutschland, in: Slaska, Eva Maria / Gieysztor, Stefan (Hg.): Poetki z ciemności. / Dichterinnen aus dem Dunkel, Berlin 1995 (= WIR. Edycja Literacka 2), S. 199–224.

2. Forschungsliteratur Budke, Petra / Schulze, Jutta: Schriftstellerinnen in Berlin 1871–1945. Ein Lexikon zu Leben und Werk, Berlin 1995. Gierlaks, Maria: Deutschunterricht und Politik. Das Deutschlandbild in den Lehrbüchern für Deutsch als Fremdsprache in Polen (1933–1945) vor dem Hintergrund der deutsch-polnischen Beziehungen, Toruń 2003. Sauerland, Karol: Der polnische Germanist Emil Adler, charakterisiert von Józef Wiktorowicz, in: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 29/30 (2006), S. 5–8. Sauerland, Karol: Die polnische Germanistik in Akten der DDR-Behörden, in: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen (2005), S. 31–48. Sauerland, Karol: Deutsch-polnische Symbiosen? (Samuel Gottlieb Linde, Tadeusz Zieliński, Elida Maria Szarota, Ludwig Zimmerer), in: Weber, Matthias (Hg.): Deutschlands Osten – Polens Westen. Vergleichende Studien zur geschichtlichen Landeskunde, Frankfurt am Main u. a. 2001, S. 195–206. Sauerland, Karol: Zygmunt Łempicki, in: Deutsch-Polnisches Jahrbuch der Germanistik (1993), S. 125–150.

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Wiktorowicz, Józef: Geschichte der Germanistik an der Universität Warschau (1917–2004), in: Studia Niemcoznawcze (Studien zur Deutschkunde) 29 (2005), S. 13–30. Witczuk, Florian: Teatr i dramat niemiecki XIX wieku. (= Das deutsche Theater und Drama des 19. Jahrhunderts), Teil 1, Warschau 1957.

Günter Krause

Universitätspartnerschaften zwischen Frankreich und der DDR Erfahrungen, Aspekte, Horizonte

Titel dienen nicht zuletzt der Erwartungsproduktion und eröffnen so dem Text eine Vielzahl von Möglichkeiten, die vornehmlich Werbung, Rhetorik und Literatur konsequent auszunutzen bzw. auszuloten versuchen. Dieser Reiz des Titels als Ausdruck einer Lust am Text ist den historischen Wissenschaften dem Vernehmen nach eher fremd (um nicht zu sagen: suspekt) und so habe ich im obigen versucht, dieser Versuchung zu widerstehen, wodurch er mir persönlich allerdings andererseits irgendwie ‚fremd‘ erscheint. Dies hat sicher einmal damit zu tun, dass ich mich auf dem Terrain der Literatur, wenn auch bei weitem nicht immer, so doch eher zu Hause fühle; darüber hinaus gilt es aber einen zweiten Faktor zu berücksichtigen, nämlich meinen ‚Zwitter-Status‘ als französischer Beamter und deutscher Staatsbürger. Im Jahre 1985 hat mich der „Deutsche Akademische Austauschdienst“ (DAAD) auf eine Assistenten-Stelle an die Université de Savoie in Chambéry vermittelt und zwei Jahre später dann für vier Jahre auf eine Lektorenstelle an die Universität Nizza, die partnerschaftlich mit der Universität Jena verbunden war. Aus dieser Zeit, also von 1987 bis 1991, stammen meine Erfahrungen mit Universitätspartnerschaften zwischen Frankreich und der DDR. Nach Abschluss meiner DAAD-Mission bin ich 1991 an die Universität Nantes auf eine „Maître-de-conférences“-Stelle berufen und zwei Jahre später auf Lebenszeit verbeamtet worden. Sofort nach meiner Ankunft im Westen Frankreichs erlebte ich hier dann noch die letzte Universitätspartnerschaft zwischen Frankreich und der DDR und die erste zwischen Frankreich und der neuen Bundesrepublik, nämlich diejenige zwischen Nantes und Rostock, für die ich seit vier Jahren als Nantaiser Europa-Beauftragter auch direkt zuständig bin. Im Jahre 1992/93 habe ich darüber hinaus als Institutsleiter der Germanistischen Abteilung in Nantes auch noch eine der

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Günter Krause

sieben Lektoren-Stellen, die der französische Präsident François Mitterand noch wenige Wochen vor dem Mauerfall in einem Kulturabkommen mit der DDR vereinbart hatte, nach Nantes holen können. Vor diesem Hintergrund möchte ich mich nun langsam dem Thema meines Vortrags nähern, das sofort mit einer weiteren Komplikation aufwartet: Der klassische Einstieg über eine Vorstellung und Diskussion des aktuellen Forschungsstands wird dadurch verwehrt, dass Forschungen zu diesem Komplex eben gerade erst begonnen haben und so etwas wie ‚Resultate‘ noch nicht vorliegen. Soeben hat die „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“, der Rainer Eppelmann vorsteht, meinen Kollegen Ulrich Pfeil von der Universität „Jean Monnet“ in Saint-Etienne damit beauftragt, den französischen Teil des Projekts „Vademecum DDR-Forschung“ zu übernehmen, der auch zu unserem Thema weiteren Aufschluss verspricht. Zuvor haben sich schon andere Staaten an diesem Projekt beteiligt: Bulgarien, England, Ungarn, die skandinavischen Länder, Polen, Rumänien und die Tschechische Republik. Vor kurzem ist eine erste Publikation in englischer Sprache erschienen.1 Angesichts dieses zumindest doppelten Handicaps (meiner persönlichen Fremdheit auf dem Gebiete historischer Forschung und der Forschungssituation bezüglich des angekündigten Themas) bleibt den folgenden Ausführungen nichts anderes, als für sich lediglich den Status einer Skizze sowie denjenigen eines ersten Orientierungsversuchs zu reklamieren. Ausgehen möchte ich bei meinen Überlegungen von einem Phänomen, dem wir unter anderem auch mit einiger Regelmäßigkeit bei der Interpretation von Literatur begegnen, nämlich der Mythologie der Himmelsrichtungen. Spätestens seit der römischen Antike, insbesondere dann aber seit der Eroberung des amerikanischen Kontinents liegen für Europäer die unbegrenzten Möglichkeiten im Westen.2 Daneben wird der Norden vorzugsweise mit Attributen wie „kühl“, „rational“ und „reich“ belegt, der Süden erscheint in erster Linie als „warmherzig“, „warm“ und „arm“.3 Der Osten war sehr lange das, was den Europäern am fernsten lag und das Fremdeste unter allen Anderen repräsentierte; aus diesem Grunde gab er den idealen Hintergrund sowohl für alle möglichen abstoßenden Horror-Phantasien, als auch für äußerst anziehende (manchmal auch „anzügliche“) exotische Szenarien ab.4 Mythologien sind normalerweise eher sehr resistent gegen historisch-politische Veränderungen und so hat auch der Osten seine alt1 2 3

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Barker/Wieczorek, Vademecum Research in Great Britain and Ireland on the GDR. Vgl. hierzu z. B. Jantz, Amerika; Jantz, Myth; Todorov, La Conquête; Krause, Le reflet. Dass es eine direkte mytho-logische Verbindung zwischen solchen Attributen (insbesondere dem Verhältnis von Herz / Gefühl und Seele / Ökonomie) gibt, zeigt z. B. Manfred Frank am Beispiel der Metapher des „kalten Herzens“ in: Frank, Das kalte Herz. Genau hiermit spielt z. B. Goethes „West-östlicher Divan“ gleich auf mehreren Ebenen und in mehrfacher Hinsicht.

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hergebrachte Bedeutung für Europa nie ganz verloren; aber Geschichte und Politik haben dennoch einige signifikante Modifikationen bewirkt: nach 1945 rückte der Osten bis in die Mitte Deutschlands vor und verlor mit der Entfernung vor allem auch deutlich an anziehender Exotik für die dortige Bevölkerung – etwas, das für Frankreich nicht in gleicher Weise zutrifft. Selbst West-Deutschland liegt, von Frankreich aus betrachtet, im Osten – oder im Norden; Frankreich, von Deutschland aus betrachtet, dagegen im Westen – oder im Süden. Meiner Ansicht nach sind hieran für unser Thema zwei Dinge von besonderem Interesse: 1. Dadurch dass der Osten aus bundesrepublikanischer Perspektive nach 1945 primär als unexotisch-bedrohlich erschien (und bis heute häufig noch erscheint), gab er einem vehementen Anti-Kommunismus5 die Richtung vor, dessen Spuren bis in die Gegenwart reichen: Noch Ende 2007/ Anfang 2008 ist Oskar Lafontaine im ZDF-Magazin „Berlin direkt“ von dem Moderator Hans-Peter Frey ganz unverhohlen mit der größten Selbstverständlichkeit gefragt worden, wie er dazu käme, an den Gedenkveranstaltungen zur Ermordung von Rosa Luxemburg6 und Karl Liebknecht 5

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Eigentlich sollte es sich von selbst verstehen, aber für den Fall der Fälle: „Anti-Kommunismus“ meint keine kritische Einstellung gegenüber dem Kommunismus, sondern seine unkritische Verdammung. Immerhin sollte nicht vergessen werden, dass Rosa Luxemburg auch für die anti-autoritäre Linke in der alten Bundesrepublik die Inkarnation eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz darstellte. Der Film „Rosa Luxemburg“ (1985) von Margarethe von Trotta darf durchaus als Versuch einer Denkmal-Setzung im Westen verstanden werden. Etwas, das auch hier ganz sicher besser in Frankreich als in der alten Bundesrepublik gelang: 1986 bekommt Barbara Sukowa den großen Preis der Jury für ihre Rolle der Rosa Luxemburg (in Margarethe von Trottas Film) bei den Filmfestspielen in Cannes zugesprochen. – Für Rosa Luxemburg selbst war, wie sie in einem Brief vom 15. Januar 1917 aus dem Gefängnis an Sophie Liebknecht schreibt, Korsika so etwas wie der Inbegriff des „gelobten Landes“: „Sonitschka, wissen Sie noch, was wir uns vorgenommen haben, wenn der Krieg vorbei ist? Eine Reise zusammen nach dem Süden. Und wir tun das! Ich weiß, Sie träumen davon, mit mir nach Italien zu gehen, das Ihnen das Höchste ist. Ich plane hingegen, Sie nach Korsika zu schleppen. Das ist noch mehr als Italien. Dort vergisst man Europa, wenigstens das moderne Europa. Denken Sie sich eine breite, heroische Landschaft mit strengen Konturen der Berge und Täler, oben nichts als kahle Felskuppen von edlem Grau, unten üppige Oliven, Lorbeerkirschen und uralte Kastanienbäume. Und über allem eine vorweltliche Stille – keine Menschenstimme, kein Vogelruf, nur ein Flüsschen schlickert irgendwo zwischen Steinen, oder in der Höhe raunt zwischen Felsklippen der Wind – noch derselbe, der Odysseus’ Segel schwellte. Und was Sie an Menschen treffen, stimmt genau zur Landschaft. Plötzlich erscheint zum Beispiel hinter einer Biegung des Bergpfades eine Karawane – die Korsen gehen immer hintereinander in gestreckter Karawane, nicht im Haufen wie unsere Bauern. Vorne läuft gewöhnlich ein Hund, dann schreitet langsam etwa eine Ziege oder ein mit Säcken voller Kastanien beladenes Eselchen, dann folgt ein großes Maultier, auf dem eine Frau im Profil zum Tiere mit gerade herabhängenden Beinen sitzt, ein Kind in den Armen; sie sitzt hoch aufgerichtet, schlank wie eine Zypresse, unbeweglich; daneben schreitet ein bärtiger Mann in ruhiger, fester Haltung, beide schweigend. Sie würden schwören: es ist die Heilige Familie. Und solche Szenen treffen Sie dort auf jedem Schritt. Ich war jedes Mal so ergriffen, dass ich unwillkürlich in die Knie sinken wollte, wie ich’s immer vor vollendeter Schönheit muss. Dort ist noch

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teilzunehmen. Auch wenn diese Veranstaltungen ganz zweifellos Bestandteil der positiven Selbst-Inszenierung des DDR-Regimes waren, bleibt die Ermordung der beiden Gründer der Kommunistischen Partei in Deutschland trotzdem immer noch Symbol der Zerstörung der Weimarer Republik, der ersten Demokratie in Deutschland (Ost und West). Natürlich gibt es Anti-Kommunismus auch in Frankreich, aber hier ist er fast ausschließlich auf die extreme Rechte beschränkt – und selbst die geht sehr wohldosiert damit um. In der Bundesrepublik dagegen reicht selbiger bis weit in die SPD hinein. Dieser Unterschied erklärt sich selbstverständlich zum einen aus dem unterschiedlichen Verhältnis Frankreichs und Deutschlands zum Kommunismus allgemein (worauf ich gleich noch näher eingehen werde), andererseits sollten in diesem Kontext mythologisch-emotionale Komponenten nicht unterschätzt werden. 2. Scheint mir die Mythologie der Himmelsrichtungen auch ein Erklärungsmodell für die Beantwortung der Frage abzugeben, warum politisch einflussreiche Verbündete der DDR bis heute kaum im Westen, also z. B. in Frankreich vermutet werden. Ein Umstand, der dem Willen zur Repräsentation bilateraler Harmonie auf beiden Seiten wahrscheinlich sehr entgegenkommt und wohl als ein Produkt dessen anzusehen ist, was man Realpolitik nennt. Gegen Ende der achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts erscheint in der Bundesrepublik eine ganze Reihe von Büchern, die sich mehr oder weniger kritisch mit Frankreich auseinandersetzen und ein breites Publikum anvisieren. Es scheint der Zeitpunkt gekommen, jenseits von Erbfeind-Ideologie und Aussöhnungs-Pathos eine politisch-ökonomisch-kulturelle Bestandsaufnahme zu machen, die allerdings trotz alledem den Rahmen des Politisch-Korrekten nicht allzu sehr strapaziert. Angefangen von Lothar Baiers „Firma Frankreich – eine Betriebsbesichtigung“ (1988)7, über Ulrich Wickerts „Frankreich – die wunderbare Illusion“ (1989)8 bis hin zu Karl-Heinz Götzes „Französische Affairen“ (1993)9, worin er insbesondere auch seine Erfahrungen als DAAD-Lektor in Nizza, wo er mein unmittelbarer Vorgänger war, verarbeitet hat, versuchen mehr oder weniger persönlich Betroffene, den Mythos Frankreich mit Beschreibungen und Analysen französischer Realität zu konfrontieren. Die bundesrepublikanische Öffentlichkeit beeindruckt das allerdings wenig, für sie gilt nach wie vor: the west is the best. Und man kommt nicht umhin

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die Bibel lebendig und die Antike. Wir müssen hin, und so wie ich’s getan: zu Fuß die ganze Insel durchqueren, jede Nacht an einem anderen Ort ruhen, jeden Sonnenaufgang schon im Wandern begrüßen. Lockt Sie das? Ich wäre glücklich, Ihnen diese Welt vorzuführen, ma petite reine!“ (Luxemburg, Briefe, S. 19–21.) Baier, Firma. Wickert, Frankreich. Götze, Affairen.

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einzugestehen, dass sich auf dieser Grundlage die deutsch-französischen Beziehungen bis heute bemerkenswert gut entwickelt haben. Man sieht: Unser Thema, das auf den ersten Blick lediglich von historischer und lokaler Bedeutung scheint, behandelt in Wirklichkeit eine ‚Dreiecks-Geschichte‘, die einmal durchaus auch exotisch-erotische Komponenten enthält und schon von daher nicht ganz unheikel ist, was zum anderen noch dadurch potenziert wird, dass es historisch-politisch unaufgearbeitete Felder aktueller Gegenwart umfasst. Als Beispiel hierfür mag ein Fall gelten, der vor einigen Jahren in universitären Kreisen etwas höhere Wellen geschlagen hat, nämlich derjenige des Greifswalder Alt-Germanisten Spiewok, der nach seiner Abwicklung mit nachhaltiger Hilfe seiner Kollegin Buschinger aus Amiens versucht hat, eine Professoren-Stelle in Frankreich zu bekommen. Verhindert wurde dies schließlich von Kollegen aus dem Westen der neuen Bundesrepublik, die sich hierfür ganz besonders auch die erotisch-exotische Dimension dieser deutsch-französischen Beziehung zunutze machten. Damit nun aber endgültig zum angekündigten Versuch einer Skizze zum Thema „Universitäts-Partnerschaften zwischen Frankreich und der DDR“. Zunächst ist wichtig festzuhalten, dass sie von beiden Partnern gewollt wurden und im Folgenden werde ich versuchen, zu erklären, warum dies – von französischer Seite aus – der Fall war. Als Eckpunkte meiner Überlegungen hierzu dienen vor allem vier Problemfelder: 1. die Rolle der Kommunistischen Partei Frankreichs PCF im eigenen Lande 2. das Verhältnis von kommunistischer Partei und Gewerkschaften 3. die Bedeutung von Parteien und Gewerkschaften im französischen Universitätssystem 4. die Aktivitäten des Vereins „France – RDA“/„Frankreich – DDR“ Außer zu den beiden letzten Punkten gibt es zu diesen Themen in Frankreich natürlich eine überaus reichhaltige Literatur10, auf die ich hier im Einzelnen nicht eingehen kann. Aber schon auf den ersten Blick fällt auf, wie wenig die Universität selbst Forschungsgegenstand in diesem historischpolitischen Feld ist. Was nun die Rolle der kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) im eigenen Lande betrifft, so ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sie bis auf 10

Hier nur eine kleine, mehr oder weniger willkürliche Auswahl, die durch die Präsenz dieser Werke in der Universitätsbibliothek von Nantes zustande gekommen ist: Lavabre, Histoire; Lavau, Parti Communiste; Pudal, Prendre Parti; Verdès-Leroux, Le réveil; Matonti, Intellectuels communistes; Verdès-Leroux, Service du Parti; Régin/Wolikow (Hg.), Á l’épreuve de l’Etat; Régin/Wolikow (Hg.), Á l’épreuve de l’histoire; Mouriaux, Syndicalisme; Policar, Syndicalisme.

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den heutigen Tag mit einem klassisch-kommunistischen Programm präsent ist. Dies dürfte in Europa wohl einzigartig sein und selbst weltweit eine Rarität. Auch der Umstand, dass die Spitzenkandidatin der PCF, MarieGeorge Buffet, bei den Präsidentschaftswahlen 2007 nur noch etwa 1,8% der Wählerstimmen erhalten hat, hat hieran nichts verändert. Aus diesem phänomenalen Umstand sollte allerdings nicht voreilig der Schluss auf die generelle Bedeutungslosigkeit der Partei gezogen werden. Vielmehr ist es bei Wahlen über Jahrzehnte für die PCF eher auf und ab gegangen, bevor dann irgendwann zwischen 1968 (dem Einmarsch der Warschauer-PaktStaaten in die Tschechoslowakei und der Studentenbewegung) und 1978 (der Auflösung des Links-Bündnisses, das seit 1972 bestand) der unaufhaltsame Abstieg begann. 1932, zwölf Jahre nach ihrer Gründung, hatte die PCF bei den Parlamentswahlen nur knapp 10% der Stimmen erhalten. 1946 waren es 28,6% der abgegebenen Wählerstimmen und 21,9% der eingeschriebenen Wähler, die für sie votiert hatten – also etwa jeder vierte Franzose. Charles de Gaulle berief in sein erstes Nachkriegskabinett gleich mehrere kommunistische Minister. Der PCF war es gelungen, sich als Inkarnation der Basis anti-faschistischer Résistance zu profilieren, wobei sie u. a. auch in vielen Regionen von historischen Pogrom-Erfahrungen, wie z. B. den Hugenotten-Verfolgungen, profitieren konnte. Man sieht hier sehr deutlich, dass kommunistische Parteien ganz allgemein nie von einer einzigen Interessensgruppe, etwa dem Proletariat, getragen werden, sondern von Konstellationen, die historisch-politische Dimensionen genauso einschließen wie das kollektive Gedächtnis. Die Geschichte der italienischen Kommunistischen Partei beginnt um 1900 mit Konflikten zwischen abhängigen Kleinbauern und Großgrundbesitzern, die Geschichte der französischen PCF verrät Spuren der Religionskriege. Die ersten großen Erfolge der PCF nach dem 2. Weltkrieg verblassen dann allerdings sehr schnell, da die Partei bis 1956 immer mehr nur noch als Außenstelle der großen Schwester-Partei in Moskau wahrgenommen wird. Der Tod Stalins erlaubt ihr eine stärkere Fokussierung auf die nationale französische Politik, in der Charles de Gaulle aber eigentlich alle für sie wichtigen Positionen bereits besetzt hielt: eine von den USA unabhängige nationale Politik, die eine größtmögliche Öffnung gen Osten ermöglichte sowie eine relativ erfolgreiche Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Wahlen von 1958 waren für die PCF ein Debakel, sie verlor etwa 1,5 Millionen Wählerstimmen und begann nun nach neuen Perspektiven Ausschau zu halten. Ab 1962 versucht man es mit einer Annäherung an die Sozialisten, die bei Wahlen bis dato immer hinter den Kommunisten zurücklagen, und 1972, ein Jahr nach dem „congrès d’Epinay“, dem Parteitag von Epinay, auf dem François Mitterand die Sozialisten neu formiert hatte, kam es dann zu

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einem offiziellen Bündnis. Hiervon profitierten zunächst durchaus beide Parteien, aber bald immer mehr nur noch die Sozialisten, sodass es 1978 schon wieder zum Bruch kam. Als 1981 François Mitterand zum Präsidenten gewählt wurde, geschah dies ohne die offizielle Unterstützung durch Georges Marchais, den Generalsekretär und starken Mann der PCF. Die Schwierigkeiten der PCF hatten allerdings schon vorher begonnen: Der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei von 1968 diskreditierte den Kommunismus ganz allgemein sehr nachhaltig, die antiautoritäre Studenten- und Arbeiter-Bewegung, die schlecht zum Führungsstil der PCF passt, das Erstarken der Sozialistischen Partei (PS) sowie die Entstehung neuer Parteien links von der PCF, die sich Studenten, Arbeitern und Intellektuellen als Alternative anboten, eine zunehmende Loslösung der Gewerkschaften von den Parteien – all das kostete die PCF zunehmend Wählerstimmen. In diesem Zusammenhang ist auch das Verhältnis der Intellektuellen und Künstler zur PCF ein überaus interessantes Kapitel französischer Geschichte, das diejenige von legendären Zeitschriften wie „Les Temps Modernes“ oder „La Nouvelle Critique“ einschließt. In unserem Kontext scheint mir aber vor allem wichtig, darauf hinzuweisen, dass Intellektuelle und Künstler nicht nur, aber auch in Frankreich normalerweise sehr wenig mit der Universität zu tun haben und ihrerseits vom akademischen Lager nicht selten eher angefeindet werden. Das politische Engagement zahlreicher Intellektueller und Künstler in der Kommunistischen Partei Frankreichs, das mit Picasso und Aragon nach dem 2. Weltkrieg begann, hat sicherlich dazu beigetragen, dass auch eine institutionelle Zusammenarbeit zwischen Frankreich und der DDR allgemein als durchaus akzeptabel galt – aber mehr auch nicht. Damit zurück zur Geschichte der PCF: Bis 1978 gelingt es der Partei trotz alledem bei Parlamentswahlen immer noch um die 20% der Wählerstimmen für sich zu gewinnen, wobei allerdings berücksichtigt werden muss, dass die Wahlbeteiligung von Wahl zu Wahl immer weiter zurückging, was den realen Rückgang der Anhängerschaft der PCF zunächst noch kaschierte. Ab 1978 ging es dann aber ganz offensichtlich nur noch abwärts bei Wahlen – bis zu den 1,8% bei den Präsidentschaftswahlen vom letzten Jahr. Noch unter François Mitterand hatte es kommunistische Minister gegeben und bis heute halten sich einige wenige kommunistische Bürgermeister, aber insgesamt lebt die Partei aktuell eigentlich nur noch von einer Art historischem Respekt der Franzosen. In meinem Global-Überblick über die Geschichte der PCF bin ich bereits kurz auf ihr Verhältnis zu den Gewerkschaften eingegangen, das möchte ich nun etwas konkretisieren und mich dabei besonders auf beider Rolle an den französischen Universitäten konzentrieren. Zunächst teilt die

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Gewerkschaftsbewegung in Frankreich in etwas abgemildertem Ausmaße das Schicksal der Kommunistischen Partei: Waren 1975 noch 18,5% der Beschäftigten Mitglied einer Gewerkschaft, sind es heute nur noch knapp 8%. Diese Tendenz gilt auch für den Öffentlichen Dienst in Frankreich allgemein und für die Universitäten im Besonderen. Trotzdem sei angemerkt, dass die Wahlen zu den diversen Universitätsgremien im laufenden Jahr 2008, die eigentlich eine präsidial-geführte, autonome Universität nach privatwirtschaftlichem Modell befördern sollten, ein sehr deutliches Erstarken der Gewerkschaftslisten nach sich gezogen haben. An fast allen Universitäten stellen diese zumindest eine starke Opposition, an einigen verfügen sie sogar über die Mehrheit und stellen den Präsidenten. An der alt-ehrwürdigen Sorbonne (Paris IV) haben die Gewerkschaftslisten den Rücktritt des konservativen Universitätspräsidenten Jean-Robert Pitte (seines Zeichens Geograph) erzwungen – was in Frankreich eine nicht zu unterschätzende Symbolwirkung hat.11 Die französische Gewerkschaftsbewegung beginnt an den Schulen und Hochschulen, die hier traditionell sehr eng verbunden sind, nach dem 1. Weltkrieg mit korporatistischen Vereinen, von denen sich einige nach dem 2. Weltkrieg in Gewerkschaften mit politisch-revolutionärer Programmatik verwandeln und so zunächst auch eng mit der PCF verbunden sind. Hauptträger sind nach 1945 Lehrer und Hochschulassistenten. In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts steigen die Studentenzahlen in Frankreich sehr schnell an, was nicht zuletzt einer der Gründe für die Studentenunruhen im Mai 1968 ist, und in der Folge entstehen viele neue Universitäten in der Provinz, an denen zunächst häufig Lehrer aus dem lokalen und regionalen Umfeld unterrichten, denen sich so plötzlich die Perspektive einer Universitätskarriere eröffnet. Hier entwickeln sich Lebensläufe, die von der schulischen Laufbahn, über eine universitäre Assistenten-Stelle bis hin zum Hochschulprofessor deutlich von Partei und Gewerkschaft mitgeprägt werden. Letztere verfügen beide über gut gegliederte und effiziente Strukturen und ihre Mitglieder über ein ausgeprägtes praktisch-politisches Bewusstsein, beides zusammen sorgt dafür, dass die entsprechenden Personen relativ schnell in zentralen Universitätsgremien wiederzufinden sind, z. B. in den Berufungskommissionen, den Fakultätsräten und den Verwaltungsräten der Universitäten. Solche Kommissions- und Rats-Aktivitäten öffnen dann auch die Türen für solche auf nationaler Ebene, insbesondere dem CNU („Conseil National des Universités“), der für Berufungs- und Beförderungsfragen zuständig ist. Dieses Engagement beschleunigt und verstärkt die Präsenz von „politisch links-orientierten“12 Hochschullehrern 11 12

Vgl. z. B. de Saint Vincent, Pitte; Renaut, Politisation; Rollot, Loi. Der Ausdruck „politisch links-orientiert“ wird hier als Etikett für verschiedene Richtungen und Strömungen verwendet, die allgemein dem linken politischen Spektrum zugeordnet

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enorm, sodass sehr schnell zumindest einzelne Fachbereiche – hier sind insbesondere die Soziologie und die Germanistik zu nennen – an einigen Universitäten deutlich politisch links dominiert sind. – An dieser Stelle will ich nicht unerwähnt lassen, dass man von hierher auch gut versteht, dass insbesondere in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bundesdeutsche Lehrer, die Probleme mit dem Berufsverbot bekommen haben, nicht selten eine Anstellung an französischen Schulen und Hochschulen gesucht haben, teils durchaus auch unter Mitwirkung des DAAD. Ab den späten sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts finden sich dann insbesondere unter den französischen Hochschul-Germanisten immer mehr Kollegen, die versuchen, Kontakte zu DDR-Universitäten zu knüpfen und die dort mit offenen Armen empfangen werden. Schließlich ist es, soweit mir bekannt, zu insgesamt sieben Partnerschaften zwischen französischen und DDR-Universitäten gekommen, die der einen oder anderen Alma Mater in der Provinz, ich denke hier z. B. an Besançon, durchaus ihren Stempel aufgedrückt haben. Der stete Niedergang der Kommunistischen Partei Frankreichs und die Desillusionierung vieler Linker relativ schnell nach dem Wahlerfolg von François Mitterand 1981 initiieren dann eine zunehmende Distanzierungsbewegung der Gewerkschaften von den Parteien, sodass spätestens seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine eindeutigen politische Zuordnung der Gewerkschaften praktisch kaum mehr möglich ist. Sie sind sehr stark wieder zu Interessensverbänden geworden, die mit einem allgemein-human-sozial-linken Anspruch ihre Klientel vertreten. Sehr häufig waren es die linken Gewerkschaften, die gegen Schulund Universitätsreformen sozialistischer Minister Sturm gelaufen sind; und es ist ihnen auch immer wieder gelungen, hierfür weite Bevölkerungsteile zu mobilisieren und so die entsprechenden Projekte zu Fall zu bringen. Als ich 1987 an die Universität Nizza kam, wurde mir die Partnerschaft mit Jena, die auf germanistischer Ebene sehr gut funktionierte, von meinen französischen Kollegen schon als eine Art Relikt aus guter alter Zeit präsentiert, auf das man eher aus Gründen der Nostalgie nicht gerne verzichten wollte. Konkret beinhaltete diese Partnerschaft vor allem drei Dinge: 1. ein DDR-Lektorat in der Germanistik 2. einen regelmäßigen Dozenten-Austausch 3. Studienreisen von Studenten und Dozenten Das DDR-Lektorat wurde als Pendant zum DAAD-Lektorat im Sinne politischer Ausgewogenheit gesehen und aus diesem Grunde wurde sehr darauf geachtet, dass beide Lektoren in allen Studienjahren im Rahmen des Landeskunde-Unterrichts, der in Frankreich fester Bestandteil der Gerwerden. Auf eine genauere Analyse muss hier verzichtet werden.

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manistik ist, „ihr“ Deutschland vorstellen konnten. Der DDR-Lektor, auf den ich bei meiner Ankunft als DAAD-Lektor stieß, war ein älterer Herr, den man kurz vor seiner Pensionierung zusammen mit seiner Ehefrau (was eher unüblich war), aber „natürlich“ ohne ihre Kinder hierher geschickt hatte, nachdem er zuvor längere Zeit an einer Universität in Vietnam tätig gewesen war. Dieser Kollege hat sich in jeder Hinsicht wirklich die allergrößte Mühe gegeben, die DDR als human, offen und tolerant zu (re-) präsentieren, um so noch nachhaltiger und überzeugender die Missetaten des Kapitalismus allgemein, aber insbesondere desjenigen in der BRD, in aller Schärfe geißeln zu können. Allerdings mit dem Erfolg, dass er auf alle, einschließlich der Studenten, wirkte wie die eher liebenswürdige Karikatur eines SED-treuen Staatsdieners. Er begrüßte mich an der Universität Nizza mit der Bemerkung, dass es DDR-Lektoren eigentlich verboten sei, mit der BRD-Konkurrenz zu reden, aber daran, dass er dies tue, könne ich ja schon sehr deutlich sehen, wie locker so etwas in Ost-Berlin gesehen werde. Ich habe dann sogar seine Wohnung in Nizza übernommen, was etliche meiner Kollegen sehr überraschte und zu der Frage veranlasste, ob ich denn keine Angst hätte, dass diese über und über mit Abhörgeräten gespickt sei. Richtig hieran ist sicherlich, dass die Überwachung ihrer Lektoren für die DDR ein Problem war. Einige meiner Kollegen spekulierten in diesem Zusammenhang vor allem über die Rolle der Freundes-Gesellschaft „France – RDA“/ „Frankreich – DDR“, bei deren Mitgliedern DDR-Lektoren während ihres Frankreich-Aufenthalts häufig zur Untermiete wohnten. Letzteres war für die Betroffenen schon deshalb sehr vorteilhaft, weil jeder DDR-Lektor sein französisches Gehalt beim DDR-Oberlektor in Paris abliefern musste – die DDR brauchte dringend Devisen – und nur einen Teil hiervon zur Bestreitung des Lebensunterhalts zurückerstattet bekam. Der letzte DDROberlektor soll angeblich auch noch nach dem Ende der DDR die Abgabe der Gehälter von seinen Genossinnen und Genossen gefordert haben – und zwar mit dem Hinweis darauf, dass die DDR-Universitäten erst drei Monate nach der offiziellen Wiedervereinigung durch ihren Beitritt zum DAAD zu bundesdeutschen Universitäten wurden. Besagtem Oberlektor, den ich als externes Mitglied einer Berufungskommission sehr viel später auch persönlich kennen gelernt habe, ist es dann übrigens gelungen, nicht weit von Nantes eine Stelle als verbeamteter Hochschullehrer zu bekommen, wo er auch vor etwa drei Jahren pensioniert wurde. DDR-Lektoren hatten nicht nur die Auflage, nicht mit BRD-Lektoren, bzw. -Bürgern ganz allgemein, zu kommunizieren, sie hatten auch das Territorium der alten Bundesrepublik striktestens zu meiden. Wenn eine Bahn-Durchfahrt unumgänglich war, waren Zwischen-Aufenthalte beim Klassenfeind verboten. Einer der DDR-Lektoren in Nizza, nämlich Günter Nooke, der heute ein nicht ganz unbedeutender CDU-Politiker ist, wurde

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bei seiner Ankunft aus Nizza in der DDR mit einer Kuckucksuhr aus dem Schwarzwald erwischt, was ihm enorme Schwierigkeiten einbrachte und seine Mission an der Côte d’Azur sofort beendete. Kurz vor dem Fall der Mauer versuchte die DDR zunehmend jüngere Lektoren nach Frankreich zu entsenden und in der Übergangszeit unmittelbar nach dem Mauerfall auffälligerweise häufig Leute, die eng mit der evangelischen Kirche verbunden waren und nicht unbedingt einen Stasi-Hintergrund hatten. Meinem Eindruck nach hat die DDR ihren Lektoren – und zwar allen, egal ob mit oder ohne Stasi-Mitgliedschaft – nach der Öffnung der Mauer praktisch keine Hindernisse mehr in den Weg gelegt, wenn diese versuchten, irgendwie irgendwo anders als in der DDR beruflich oder sonst wie unterzukommen. Bei den französischen Studenten waren DDR-Lektoren allgemein sehr beliebt, weil sie – nicht zuletzt aus ideologischen Gründen – sehr stark die Tendenz hatten, extrem gute Noten zu geben. Dies ist nicht von allen französischen Kollegen goutiert worden und in einem sehr verschulten System, in dem Noten, Versetzung oder Nicht-Versetzung auch an der Universität eine sehr große Rolle spielen, ist ein solches Verhalten letztlich auch wirklich sehr ambivalent und führte häufig dazu, dass DDR-Lektoren, trotz ihrer Beliebtheit, auch bei Studenten selten wirklich „fachlich respektiert“ wurden, wenn ich einmal so sagen darf. Regelmäßig wurden kleinere Studenten-Gruppen aus Nizza nach Jena eingeladen und 1989 – zu den 200-Jahr-Feiern der Französischen Revolution in der DDR – bekamen einige wenige sogar einen etwas längeren Aufenthalt von den Gastgebern finanziert. Zu diesen Feierlichkeiten wurden auch einige Kollegen aus Nizza zu Vorträgen eingeladen. Visa- und Finanzierungsprobleme erschwerten die Mobilität in die andere Richtung zwar nicht ganz unerheblich, dennoch kamen immer wieder Jenenser Kollegen, wie z. B. der Goethe-Spezialist Heinz Hamm, nach Nizza. Etliche meiner französischen Kollegen, die in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts studierten, haben die DDR wiederholt besucht und manchmal sogar einen Teil ihrer Ausbildung, als Student, Lehrer oder Hochschullehrer, in der DDR verbracht. Diejenigen, die ich kennen gelernt habe, haben hieran nur die besten Erinnerungen: Überall waren sie willkommen und man begegnete ihnen mit Respekt, Neugier und Aufgeschlossenheit. Ihre Vorträge wurden nicht zensiert und sie selbst als Fach-Autorität und Freund aufgenommen. Dass all’ dies sicher nicht ganz ohne Kalkül geschah, war dabei allen durchaus sehr klar. Die Generation, die auf dem geschilderten historisch-politischen Hintergrund versuchte, engere Bande zwischen Frankreich und der DDR zu knüpfen, ist zu einem großen Teil schon seit einigen (wenigen) Jahren im Ruhestand und die letzten werden ihnen in den nächsten zwei bis drei Jahren folgen. Auch

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nach dem Mauerfall haben sie dafür gesorgt, dass Geschichte und Kultur der DDR nicht ganz aus den Lehrplänen verschwanden; überdies haben sie (heute noch relativ) junge Lehrer und Forscher mit entsprechenden Themenschwerpunkten ausgebildet. Trotz alledem verblasst die DDR auch an französischen Hochschulen zunehmend, selbst dort, wo sie einmal sehr präsent war und erscheint eigentlich nur noch als historisches Phänomen.

Literaturverzeichnis Baier, Lothar: Firma Frankreich. Eine Betriebsbesichtigung, Berlin 1988 (= Wagenbachs Taschenbücherei 155). Barker, Peter / Wieczorek, John: Vademecum Research in Great Britain and Ireland on the GDR, the Division of Germany an Post-Unification Germany, hg. v. der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin 2008. Frank, Manfred (Hg.): Das kalte Herz. Texte der Romantik, Frankfurt/ Main / Leipzig 2005. Götze, Karl-Heinz: Französische Affairen. Ansichten von Frankreich, Frankfurt/Main 1993 (= Fischer 12475). Jantz, Harold: Amerika im deutschen Dichten und Denken, in: Stammler, Wolfgang (Hg.): Deutsche Philologie im Aufriss, 2. überarb. Aufl., Berlin 1969, Spalte 311. Jantz, Harold: The Myth about America. Origins and Extensions, in: Ritter, Alexander (Hg.): Deutschlands literarisches Amerika-Bild, Hildesheim / New York 1977 (= Germanistische Texte und Studien 4), S. 37–49. Krause, Günter: Le reflet de l’‚américanisation‘ de la R.F.A. par la culture pop dans la littérature allemande des années 1966–1975, in: Barbe, Jean-Paul (Hg.): Mémoire des Empires. Empire de la Mémoire, Nantes 1994, S. 195–205 Lavabre, Marie-Claire: Histoire, Mémoire et Politique: le cas du parti communiste français, Staatsexam. masch., Paris 1992. Lavau, Georges: A quoi sert le Parti Communiste Français?, Fayard 1981 (= L’espace du politique). Luxemburg, Rosa: Briefe aus dem Gefängnis, 13. Aufl., Berlin 1986. Matonti, Frédérique: Intellectuels communistes, Paris 2005. Mouriaux, René: Le syndicalisme en France, 5. Aufl., Paris 2005.

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Policar, Alain: Le syndicalisme enseignant. Une exigence civique, in: Le Snesup. Mensuel du Syndicat National de l’Enseignement Supérieur 563 (März 2008) [= Sondernummer des offiziellen Organs der Lehrer-Gewerkschaft „Snesup“ zur Gewerkschaftsbewegung im Bereich von Lehre und Forschung (unpaginiert)]. Pudal, Bernard: Prendre Parti. Pour une sociologie historique de PCF, Paris 1989. Régin, Tania / Wolikow, Serge (Hg.): Á l’épreuve de l’Etat. Les syndicalismes en Europe, Paris 2002 (=éditions Syllepse). Régin, Tania / Wolikow, Serge (Hg.): Á l’épreuve de l’histoire. Les syndicalismes en Europe, Paris 2002 (=éditions Syllepse). Renaut, Alain: Politisation malsaine à l’université, in: Le Monde (1.4.2008), S. 19. Rollot, Cathérine: La loi sur l’autonomie des universités engendre des situations de blocage, in: Le Monde (13.5.2008), S. 11. de Saint Vincent, Bertrand: Pitte. L’homme qui dénonce la mainmise de la gauche sur l’Université, in: Le Figaro (13.5.2008), S. 16. Todorov, Tzvetan: La Conquête de l’Amérique. La question de l’autre, Paris 1982. Verdès-Leroux, Jeannine: Au Service du Parti. Le parti communiste, les intellectuels et la culture (1944–1956), Paris 1983. Verdès-Leroux, Jeannine: Le réveil des somnambules. Le parti communiste, les intellectuels et la culture (1956–1985), Paris 1987. Wickert, Ulrich: Frankreich. Die wunderbare Illusion, Hamburg 1989.

Personenregister Adler, Emil 656, 657, 658, 659, 663 Admoni, Wladimir G. 339, 349, 357, 358, 451, 490, 492, 493, 502 Agricola, Erhard 48, 56, 369, 370, 382, 383, 399, 411, 414, 451 Alewyn, Richard 644 Allmeroth, Heinrich 121 Arndt, Erwin 10, 20, 171, 531 Arnold, Günter 190–191, 576, 656 Arnold, Robert Franz 417 Aschenberg, Heidi 417, 424 Augst, Gerhard 387, 396 Austin, John Langshaw 465 Bach, Adolf 170 Baer, Dieter 391 Baesecke, Georg 70, 145, 152, 153, 161, 167 Bahner, Werner 48, 51, 52, 53, 237, 392, 412, 465 Baier, Lothar 668, 676 Barschel, Bernd 155 Baudusch, Renate 389, 391 Baufeld, Christa 175, 444 Baumgärtner, Klaus 454, 476, 477, 480 Bayer, Josef 453 Becher, Johannes R. 2, 6, 186, 220, 641 Becker, Henrik 10, 144, 146, 147–149, 151, 161, 162, 164, 399–400, 411, 451 Beckmann, Bernhard 44

Beckmann-Schikorra, Ursula 318, 321, 322 Behaghel, Otto 448, 470, 481, 502 Beißner, Friedrich 144, 194 Beneš, Eduard 397, 451 Bensing, Manfred 179 Bentzinger, Rudolf 2, 11, 14, 15, 21, 44, 53, 151, 160, 163, 167, 168, 172, 174, 175, 176, 180, 181, 182, 183, 429 Berezin, Fjodor M. 420, 424 Bergmann, Rolf 395, 396 Bernhard, Hans-Joachim 15, 122, 123, 124, 127, 128, 130, 132, 136, 138, 551, 589, 590, 601 Beseler, Hans Hartwig von 655 Biermann, Wolf 224, 254, 263, 264, 619 Bierwisch, Manfred 12, 19, 48, 53, 59, 60–61, 65, 156, 164, 391, 396, 450, 452–455, 465, 466, 471, 476, 477, 478, 481 Birkner, Fred 594, 596 Bischoff, Karl 70, 97, 156, 161, 168, 515, 516, 519, 525, 538 Bloch, Ernst 235, 569 Blumenthal, Lieselotte 52, 53, 186, 194, 196, 206 Blüth, Rafał 658 Böck, Dorothea 3, 7, 21, 86, 87, 174, 182, 230, 242, 247, 250, 266 Boden, Petra 3, 7, 18, 21, 22, 25, 29, 53, 70, 71, 73, 74, 79, 80, 86, 87,

Personenregister

89, 90, 147, 151, 159, 164, 166, 174, 182, 219, 228, 230, 231, 233, 235, 238, 242, 246, 247, 249, 250, 266, 267, 270, 273, 274, 275, 292, 293, 311, 513, 521, 540, 541, 635, 636, 637, 647, 652, 653 Boeters, Max 149, 156, 164 Bohr, Niels 639 Bondzio, Wilhelm 450, 459, 466, 531 Boor, Helmut de 156 Braemer, Edith 1, 3, 81, 84, 133, 135, 523–524, 589–590, 596, 598–599, 601, 641 Brandt, Helmut 144 Bräuer, Rolf 148, 162, 174, 175, 177 Braune, Wilhelm 167, 170, 491 Braun, Anne 320, 322 Braun, Volker 78, 239, 258, 259, 263 Brecht, Bertolt 2, 6, 79, 84, 85, 88, 120, 121, 123–124, 130, 135, 186, 205, 244, 275, 286, 287, 290, 291, 297, 569, 601, 603, 641, 656, 661–662 Brecht, Walther 417, 424 Brekle, Wolfgang 569, 571, 580 Brinkmann, Hennig 144, 162, 166, 448, 459, 461, 466, 490, 502 Brödel, Walter 584, 605 Buffet, Marie-George 670 Burow, Alexander I. 299, 300, 309 Buscha, Joachim 16, 450, 459, 460, 467, 477, 483, 501, 502 Buschinger, Danielle 161, 164, 176, 184, 669 Bütow, Wilfried 300, 301, 302, 306, 308, 311, 316, 322, 324, 327, 328, 330, 332, 334, 335, 336 Carnap, Rudolf 465 Castle, Eduard 417 Chodera, Jan 659 Chomsky, Noam 9, 12, 19, 59, 60, 65, 66, 448, 449, 452–455, 462, 465,

679

466, 472–475, 478, 479, 481, 482, 484 Č’ik’obava, Arnold 463 Conrad, Rudi 453 Dahl, Eva-Sophie 94, 95, 437, 442 Dahnke, Hans-Dietrich 201, 202, 326, 335, 662 Dalk, Wolfgang 608, 609, 614, 623, 624, 631 Descartes, René 465 Dessau, Adalbert 180, 556 Desselmann, Günther 659 Dietze, Walter 84, 151, 201, 202, 660 Dmitrijew, Alexander S. 662 Donath, Joachim 431, 439, 446 Drefahl, Günther 155, 162 Dückert, Joachim 44, 54, 349, 358, 370, 383, 399, 412 Dürrenmatt, Friedrich 121, 129, 136 Ehrlich, Lothar 22, 75, 88, 208, 220, 228, 292 Eis, Gerhard 131, 170 Emmel, Hildegard 3, 5, 71, 80, 91, 94–95, 102–114, 115, 116, 117, 118, 149, 168, 256, 641 Endermann, Heinz 144, 152, 164 Engelberg, Ernst 235 Engels, Friedrich 9, 11, 13, 26, 45, 48, 76, 190, 244, 245, 291, 309, 325, 335, 341, 361, 545, 566 Epping, Walter 91, 94–95, 102–114, 117, 118, 519, 590 Erben, Johannes 71, 169, 448, 451, 459, 466, 503, 640, 641, 645 Erb, Ewald 157, 159 Eriksson, Göran 132 Erlich, Victor 419, 424 Eroms, Hans-Werner 423, 424, 459, 466 Ewald, Petra 391

680

Personenregister

Fadeeva, Galina 416, 424 Faulseit, Dieter 400, 401, 412 Feudel, Günter 51, 54, 341, 342, 343, 345, 353, 358, 359, 361, 362, 390, 446 Finze, Hansjoachim 590 Firle, Marga 403, 408, 412 Fix, Ulla 5, 9, 386, 398, 399, 403, 408, 412, 422, 424, 436, 437, 440, 442 Flach, Willy 187, 189, 208 Flämig, Walter 12, 13, 18, 66, 97 (?), 455–458, 466, 467, 468, 477, 483, 495, 503 Fleischer, Wolfgang 10, 20, 47, 56, 153, 162, 163, 341, 358, 389, 396, 404, 405–407, 409, 412, 442, 458, 466 Friedrich, Bodo 312, 322, 391 Frings, Theodor 6, 9, 44, 46, 54, 70– 72, 74, 144, 145, 156, 160, 169, 171, 180, 200, 218, 235, 338, 341, 342, 344, 359, 362, 389, 390, 433, 436, 443, 445, 446, 447, 450, 513, 515–518, 569, 641 Frisch, Max 120, 121 Fühmann, Franz 157, 224, 259, 286, 287, 292, 293 Fuhrmann, Elisabeth 314, 322 Gabler, Birgit 391 Geerdts, Hans Jürgen 8, 19, 81, 112, 214, 226, 253, 256–257, 265, 324, 335, 519, 641, 645, 647 Germann, Dietrich 143, 164, 165, 195, 206 Gernentz, Hans Joachim 157, 159, 172, 174, 175, 176, 178, 437, 443, 589, 590, 601, 641, 645, 646, 659 Gießmann, Ernst-Joachim 548, 561, 563 Girnus, Wilhelm 2, 3, 77, 78, 79, 89, 143, 150, 151, 162, 168, 215, 645

Gläser, Rosemarie 403, 412, 413 Glinz, Hans 449, 451, 461, 476, 483, 495, 497, 503 Goethe, Johann Wolfgang von 14, 48, 72, 75, 76, 77, 79, 88, 104, 112, 118, 167, 174, 182, 185, 186, 187, 188, 189, 190, 191, 193, 194, 195, 198, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 214, 218, 221, 224, 226, 228, 241, 246, 325, 569, 641, 666, 675 Goldammer, Peter 201, 214–216, 224, 226, 227 Görner, Herbert 368, 370, 383 Götz, Heinrich 144, 160, 162 Grass, Günter 79, 661 Greiner, Martin 70, 200, 261, 263, 273 Grice, Paul 465 Griewank, Karl 146 Große, Rudolf 170, 178, 183, 427, 432, 436, 437, 440, 442, 443, 444, 445, 446, 447, 531, 659 Grumach, Ernst 186, 189, 206 Guchmann, Maria Moiseeva 10, 11, 153, 179, 337–362 Gysi, Klaus 296, 306, 519, 656 Haase, Horst 8, 20, 214, 253, 255, 256–257, 265, 287, 290, 640, 641, 644, 649, 653 Hacks, Peter 78, 224, 259 Hadermann, Ernst 97, 119, 518, 519, 526, 641 Haftka, Brigitta 455, 456, 457 Hager, Kurt 78, 92, 105, 113, 116, 117, 151, 159, 463, 557, 559, 564, 660, 661, 663 Hahn, Karl-Heinz 187–188, 190–195, 200, 206, 207 Haiduk, Manfred 15, 19, 120–139, 589, 590 Halliday, Michael A. K. 432, 443, 462,

Personenregister

467, 489, 503 Halpern, Julius 109, 116 Hämel, Josef 149 Hamm, Heinz 675 Hansen-Löve, Aage Ansgar 419, 424 Harig, Gerhard 111, 112, 115, 513, 515 Harris, Zellig S. 452, 471, 474, 483 Hartke, Werner 48, 93, 101, 108, 111, 116, 117 Härtl, Heinz 202, 205 Hartmann, Horst 529, 530, 531, 533– 536, 538, 539 Hartung, Günter 83, 277, 290, 291 Hartung, Harald 261, 263, 265 Hartung, Wolfdietrich 10, 20, 56, 59, 60, 66, 431, 432, 440, 441, 444, 445, 451, 452, 453, 455, 458, 466, 467, 477, 483 Hartwig, Alfred 298, 299, 301, 302, 307 Haufe, Eberhard 195, 200, 206, 569 Hauptmann, Elisabeth 122 Hays, David G. 459, 467 Hecht, Werner 661 Heidolph, Karl Erich 12, 19, 59, 61, 66, 451, 452, 455, 456, 457, 467, 477, 483 Heidorn, Günther 127, 137, 554, 556, 557, 566 Heinemann, Wolfgang 160, 175 Heinmann, Margot 441, 444 Heinrich, Gerda 226, 242, 246 Helbig, Gerhard 2, 10–11, 13, 15, 16, 18, 19, 20, 369, 384, 450, 459–460, 461, 462, 467, 470, 476, 477, 478, 479, 483, 493, 495, 504, 659 Heller, Klaus 391 Helm, Dagmar 180 Herberg, Dieter 9, 14, 49, 51, 364, 365, 382, 384, 385, 391, 396 Herder, Johann Gottfried 84, 188,

681

190, 200, 202, 207, 212, 325, 656 Hermlin, Stephan 2, 224 Hermsdorf, Klaus 532, 660 Herrde, Dietrich 659 Herrmann-Winter, Renate 431, 437, 438, 444 Heukenkamp, Rudolf 224, 255, 265, 291 Hillich, Reinhard 253, 256, 257, 265 Hjelmslev, Louis 452, 471, 483 Hochhuth, Rolf 121, 136 Hockett, Charles 452 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 216, 228, 287, 569 Hoffmann, Michael 403, 408, 413, 423, 424 Hoffmann, Werner 176, 184 Hofrichter, Werner 391 Höhle, Thomas 97, 119, 291, 656, 658, 659 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 123, 128, 130, 193, 194, 325 Holtzhauer, Helmut 76–77, 78, 88, 113, 118, 186–204, 205, 207 Honecker, Erich 33, 34, 208, 228, 258, 264, 292, 538, 631 Honecker, Margot 538 Höppner, Joachim 48 Hoyer, Siegfried 177, 179 Huch, Ricarda 146 Ihlenburg, Karl-Heinz 159, 162 Isačenko, Alexander V. 46, 48, 62 Isenberg, Horst 452, 455, 456, 457 Ising, Erika 52, 54, 56, 57, 397, 418, 425, 431, 444 Ising, Gerhard 48, 171, 180, 442, 444, 445, 447 Jacobi, Johannes 127 Jakobson, Roman O. 60, 409, 419, 424, 453, 471, 476, 484

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Personenregister

Jaruzelski, Wojciech 662 Jaspers, Karl 16–17, 19 Jensen, Hans Detlef 9, 45, 54, 56, 94 John, Helmut 289, 290, 413, 531, 536 Johnson, Uwe 156, 164 Jörn (Fachreferent) 513, 515, 516, 518, 522 Jüling, Karl 329, 331, 332, 335 Jung, Walter 451, 467, 477, 484, 490 Jüttner, Fritz 455, 456, 457 Kafka, Franz 79, 80, 123, 130, 641 Kagan, Moisej S. 284, 290 Kalkowska, Eleonore 658, 663 Kantorowicz, Alfred 72, 73, 74, 75, 97, 98, 513, 515, 516, 517, 520, 526, 528, 538 Kaufmann, Hans 2, 5, 8, 19, 84–87, 88, 151, 200, 214, 327, 336, 640, 641, 649 Kempcke, Günter 366, 368, 370, 373, 375, 380, 382, 383, 384, 385 Kettmann, Gerhard 169, 346, 347, 349, 358, 360, 361, 389 Klappenbach, Ruth 26, 46, 48, 133, 136, 372, 373, 374, 375, 382, 384, 385, 386, 389, 390, 399, 413, 452 Kleist, Heinrich von 210–229, 321, 325, 657 Klemperer, Victor 417, 424 Kliche, Dieter 20, 158, 165, 214, 227, 232, 233, 243, 246, 249, 253, 254– 255, 266, 270, 273, 276, 284, 288, 291 Klingberg, Lothar 313, 321, 322 Koch, Hans 83, 84, 88, 256, 286, 290, 292, 300, 309 Köhler, Reinhold 211, 226 Kohlschmidt, Werner 425, 644, 645, 653 Korff, Hermann August 5, 70, 71, 74, 145, 200, 218, 235, 236, 245, 523,

569 Kortum, Hans 97, 111, 115, 518 Kößling, Gerhard 174 Krahl, Siegfried 400, 413 Kramer, Günter 156 Krauss, Werner 2, 7, 20, 81, 82, 85, 156, 232, 234, 235, 236, 237, 244, 246, 270, 273, 275, 276, 277, 278, 282, 283, 284, 285, 290, 291 Krech, Eva-Maria 384 Krolop, Regina 175 Krysin, Leonid P. 419, 424 Kubica, Stefan 659 Kühne, Erich 81, 111, 116, 256, 257, 265, 526, 590, 596 Kühn, Gudrun 400, 401, 412 Kunert, Günter 215, 216, 224, 226, 258, 259, 263 Kunisch, Hermann 70, 71, 73 Kunze, Jürgen 449, 459, 467 Kurella, Alfred 2, 274, 291 Kurz, Josef 400, 413 Lang, Ewald 59, 60, 66, 452, 453, 455, 465, 467, 476, 477, 481, 484 Langner, Helmut 390, 428, 435, 445, 531 Laube, Adolf 177 Lees, Robert 452, 453 Lehmann, Dolly 455 Leistner, Bernd 215, 223–224, 226, 228 Leistner, Maria-Verena 241, 246 Leitzmann, Albert 167, 171 Lemke, Lisa 251, 254, 256, 257, 265 Lemmer, Manfred 155, 157, 165, 174, 177 Łempicki, Zygmunt 655, 656, 657, 660, 663 Lenin, Wladimir Iljitsch 1, 158, 212, 276, 286, 291, 309, 313, 325 Lenk, Werner 171, 177

Personenregister

Lerchner, Gotthard 10, 20, 232, 281, 300, 301, 309, 352, 353, 361, 399, 403, 404, 407, 408, 413, 414, 436, 445, 531 Lessing, Gotthold Ephraim 73, 191, 297, 298, 324, 325, 329, 330, 331, 332, 335, 656 Liebknecht, Karl 365, 384, 667 Liliencron, Rochus von 143 Lindgren, Kaj Brynolf 451 Litzmann, Berthold 144, 162 Ljubimova, Natalja V. 416, 424 Loeper, Heidrun 212, 213 Lommatzsch, Erhard 656 Lomnitzer, Helmut 181 Luck, Herbert 122 Ludwig, Klaus-Dieter 9, 14, 51, 380, 386, 399, 414, 431 Lukács, Georg 3, 5, 7, 83, 85, 88, 90, 111, 198, 216, 217, 218, 220, 221, 222, 226, 227, 233, 234, 236, 243, 244, 270, 272, 274, 275, 277, 287, 291, 296, 309, 635, 636, 654, 657 Lunatscharski, Anatoli 211 Luxemburg, Rosa 667, 668, 676 Magon, Leopold 70, 73, 74, 97, 98, 515, 516, 517, 518, 523, 524, 642, 643, 645, 650 Mai, Gunther 208, 220, 228, 287, 292 Malige-Klappenbach, Helene 54, 372, 373, 377, 382, 385, 386, 413 Marchais, Georges 671 Markov, Walter 235 Markschies, Hans 156 Markwardt, Bruno 70, 112, 220 Marnette, Hans 297, 298, 299, 300, 307, 314 Marr, Nikolaj Javkovlevič 463 Marx, Karl 1, 9, 11, 13, 26, 45, 48, 76, 124, 154, 156, 190, 232, 241, 244, 245, 246, 282, 290, 291, 296, 309,

683

335, 361 Masser, Achim 156 Mater, Erich 48, 57, 368, 385, 542, 566, 673 Mattausch, Josef 48, 189, 207 Mayer, Hans 6, 7, 72, 73, 74–75, 79, 81, 83, 84, 88, 90, 159, 198, 218, 221, 223, 227, 229, 235–237, 515– 519, 521–522, 523–524, 537, 538, 541, 569, 635, 637, 639, 640–643, 646–649, 654, 656 May, Kurt 656 Mehring, Franz 211, 216, 220, 222, 234, 656 Meier, Georg Friedrich 48, 163, 167, 290, 291, 460, 467 Meinhold, Gottfried 391 Mettke, Heinz 10, 18, 147, 151, 152, 153, 155, 156, 157, 159, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 170, 171, 174, 176, 178, 183, 531 Meyer-Benfey, Heinrich 212, 227 Meyer, Conrad Ferdinand 194, 417, 424 Michel, Georg 10, 20, 404, 405–407, 409, 412, 413, 414, 531 Mickel, Karl 18, 224, 259 Minor, Jakob 417 Mittenzwei, Werner 1–4, 6–7, 20, 84, 85–87, 88, 89, 231, 244, 246, 252, 265, 275, 287, 292 Möller, Anneliese 391 Möller, Georg 400, 401, 414 Montague, Richard 465 Motsch, Wolfgang 9, 10, 11, 12, 13, 19, 20, 48, 51, 59, 60, 66, 451, 452–455, 457, 461, 462, 467, 468, 477, 483, 485 Müller, Joachim 5, 71, 79–80, 84–86, 87, 89, 92, 97, 147, 148, 150, 159, 164, 166, 198, 218, 227, 256, 518, 519, 523, 524, 528, 529, 540, 641,

684

Personenregister

645, 646 Müller, Klaus 48, 361 Nake, Eva 125, 136 Namowicz, Tadeusz 662 Naumann, Horst 436, 445, 531 Naumann, Manfred 2, 4, 20, 85, 89, 235, 250, 266, 275, 276, 277, 282, 284, 288, 290, 291, 300, 309, 333, 336 Nerius, Dieter 9, 10, 13, 14, 20, 51, 52, 55, 390, 391, 393, 394, 395, 396, 397, 431, 463, 468, 531, 533 Neubert, Albrecht 427, 432, 442, 443, 445, 447 Neumann, Werner 10, 11–12, 19, 20, 51, 54, 55, 149, 375, 401, 414, 432, 433, 445, 451, 455, 519, 535 Neuner, Gerhart 299, 311, 313, 315, 322 Nooke, Günter 674 Oellers, Norbert 185, 196, 197, 206, 208 Opitz, Roland 232, 239, 247 Otto, Regine 202 Pallus, Walter 256, 257, 265 Pasch, Renate 455, 461, 468 Paul, Hermann 160, 167, 170, 470, 485, 491, 497, 505 Pavlov, Vladimir M. 349, 361 Pensel, Franzjosef 177, 180 Perten, Hanns Anselm 120–131, 134, 136, 137, 138, 139 Petersen, Julius 150, 206 Peter, Klaus 233–234, 238, 247 Pfeil, Ulrich 666 Pflugk, Gernot 315, 318 Pheby, John 455, 456, 457 Pieck, Wilhelm 146 Piłsudski, Józef 657

Piscator, Erwin 121 Pischel, Joseph 4, 255, 265 Plechanow, Georgij W. 296, 309 Plenzdorf, Ulrich 78, 224, 259, 262 Poethe, Hannelore 422, 424 Polivanov, Evgenij D. 420, 424 Porsch, Peter 431, 437, 440, 445, 446 Propp, Vladimir J. 419, 424 Protze, Helmut 56, 160, 171, 179 Raabe, Paul 189, 204, 208 Rahnenführer, Ilse 391, 589 Richter, Hans 8, 19, 86, 89, 214 Richter, Karin 212, 227 Riehme, Joachim 390, 391, 572, 574, 580 Riesel, Elise 9, 47, 55, 402, 404, 405, 414, 416–423, 424, 425 Römer, Ruth 64, 476, 486 Rommel, Gabriele 241, 242, 243, 246 Rönisch, Siegfried 212 Rosenberg, Rainer 5, 21, 22, 25, 80, 82, 87, 89, 90, 147, 151, 164, 211, 228, 232, 233, 236, 239, 243, 246, 247, 249, 250, 254, 255, 256, 266, 267, 269, 270, 271, 273, 274, 277, 279, 293, 303, 304, 311, 325, 328, 336, 541, 635, 652, 653 Rosenfeld, Hans Friedrich 70, 146, 151, 156, 168, 256 Rosenkranz, Heinz 433–434, 435, 446 Rückert, Heinrich 143 Rüdiger, Bernd 179 Rudolph, Johanna 220, 225 Rühle, Günther 120, 134 Rumland, Liesel 300, 301, 303, 304, 307, 308, 319, 323, 579 Rupp, Heinz 156, 394 Ruschke, Michael 608, 609, 614, 622, 623, 624, 629, 631 Růžička, Rudolf 453

Personenregister

Saadhoff, Jens 2, 3, 25, 70, 83, 84, 89, 211, 215, 216, 218, 222, 224, 225, 228, 231, 234, 235, 237, 243, 247, 249, 250, 267, 301, 311 Sandig, Barbara 404, 405, 407, 415, 422, 425 Sauerland, Kurt 15, 655, 656, 658, 659, 660, 661, 663 Sawrymowicz, Eugeniusz 659 Schädlich, Hans-Joachim 391 Schaff, Adam 656 Scharnhorst, Jürgen 5, 9, 43–58, 385, 389, 390, 391, 393, 395, 397, 399, 409, 415, 418, 422, 423, 425, 430, 431 Scheel, Heinrich 235, 392 Scheibe, Siegfried 194, 201 Schendels, Eugenia 47, 55, 405, 414, 421, 425 Schenkel, Wolfgang 369, 384, 467 Schick, Rudolf 554, 555 Schieb, Gabriele 159, 160, 163, 171– 174, 181, 183, 361 Schildt, Joachim 52, 53, 153, 346, 349, 353, 354, 359, 360, 361, 362, 439, 446, 458, 466 Schiller, Dieter 261 Schiller, Johann Christoph Friedrich von 14, 72, 76, 148, 149, 185, 186, 187, 193, 195, 196, 197, 198, 202, 205, 206, 207, 208, 214, 218, 226, 227, 297, 321, 325, 569 Schirmer, Karl-Heinz 156 Schleiff, Henning 591, 594, 606 Schlenstedt, Dieter 20, 232, 250, 255, 256, 260, 263, 265, 266, 274, 276, 284, 291, 293, 295, 296, 301, 309, 334, 336 Schmidt, Franz 48 Schmidt, Heide 403, 415 Schmidt, Wilhelm 5, 12–13, 48, 170, 300, 307, 451, 456, 460–462, 463,

685

468, 477, 486, 490, 493–495, 505, 531, 539 Schmidt-Wiegand, Ruth 156 Schmitt, Ludwig Erich 45, 57, 156, 167, 341, 359 Schneider, Ferdinand Josef 70 Schober, Rita 301, 309 Scholz, Gerhard 1, 2, 3, 5, 7, 23, 72– 73, 75–76, 81, 82, 84, 88, 147, 151, 165, 186, 199, 635, 640 Schönfeld, Helmut 427, 428, 430, 431, 434–435, 436, 439, 440, 444, 445, 446 Schreiber, Herbert 370, 385, 463, 468 Schreinert, Gerhard 390, 391 Schröbler, Ingeborg 156, 167 Schröder, Walter Johannes 105, 156 Schröder, Werner 156, 168 Schubert, Ernst 659 Schütz, Wolfgang 152, 163 Schwarz, Christiane 431, 432, 444 Schwerte, Hans (Hans Ernst Schneider) 156 Searle, John Rogers 465 Seghers, Anna 2, 220, 259, 576, 579, 659 Seidler, Herbert 409, 420, 425 Seiler, Hansjakob 476, 486, 504, 505 Semenjuk, Natalja N. 11, 337, 346, 347, 348, 349, 351, 354, 356, 360, 361, 362 Sievers, Eduard 143, 144, 149, 156, 165, 169 Simon, Werner 63, 71, 515, 516, 517, 518, 538 Sitta, Horst 345, 362 Šklovskij, Viktor B. 419 Skwarczyńska, Stefania 657 Sommer, Dietrich 301, 309 Sommerfeldt, Karl-Ernst 13, 56, 370, 385, 463, 468, 505, 534 Spangenberg, Karl 433, 434, 436, 440,

686

Personenregister

446, 447 Spiewok, Wolfgang 157, 158, 160, 161, 164, 166, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 183, 184, 400, 404, 415, 531, 641, 669 Spitzer, Leo 402, 409, 415, 418, 424, 425 Spriewald, Ingeborg 84, 179 Stalin, Josef W. 61, 71, 81, 88, 101, 463, 464, 670 Starke, Günter 13, 407, 412, 451, 463, 467, 468, 531 Steinbach, Daniel 417, 426 Steinberg, Willi 171 Steinitz, Renate 59, 66, 452, 453, 455, 456, 457, 468, 477, 486 Steinitz, Wolfgang 5, 7, 9, 13, 24, 26, 44, 45, 46, 54, 55, 57, 59–61, 62, 66, 133, 136, 372–375, 377, 384, 386, 389, 390, 399, 413, 449, 450, 476, 477, 485, 486, 487, 638, 639, 651 Stern, Leo 51, 57, 544, 545, 567 Steube, Anita 402, 415, 453 Stock, Eberhard 62, 391 Stolpe, Heinz, 83, 84 Stolte, Heinz 70, 71, 73, 74, 145, 146, 166 Störmer, Uta 181, 232, 236, 247 Streitberg, Max 149 Streller, Siegfried 7, 8, 19, 84, 214, 215, 216, 220, 221, 222, 223, 224, 226, 227, 229, 641, 662 Striedter, Jurij 419, 425 Suchsland, Peter 9, 11, 12, 13, 19, 51, 60, 390, 448, 451, 453, 458, 466, 468, 477, 486 Surowska, Barbara 655, 662, 663 Szarota, Elida Maria 656, 658, 659, 660, 663 Szulc, Aleksander 659 Szydłowski, Roman 661

Taege, Friedrich 315, 323 Tellenbach, Elke 46, 48, 57 Tesnière, Lucien 448, 458, 468, 475, 486 Teuchert, Hermann 5, 9, 44, 45, 53, 57, 58, 70, 93, 94–95, 99, 108– 110, 117, 515 Thalheim, Hans-Günther 8, 19, 75, 76, 83, 90, 106, 199, 214, 217–219, 222, 223, 225, 227, 519, 526, 640, 647, 654 Theil, Hans-Joachim 130, 167, 182 Thibaudet, Albert 656 Thierse, Wolfgang 158, 165, 214, 227, 232, 233, 243, 246, 249, 253, 254– 255, 266, 270, 273, 284, 288, 291 Thurm, Brigitte 129, 132, 133, 134, 136, 137 Tito, Josip Broz 61 Tomaševskij, Boris V. 419 Träger, Claus 8, 19, 83, 84, 151, 158, 214, 230–247, 522, 538 Trampe, Wolfgang 131–132, 136 Trubetzkoj, Nikolaj S. 46, 419, 470, 486 Tschirch, Fritz 5, 70, 97, 112, 144, 147, 148, 149–151, 153, 156, 162, 164, 168, 169, 184, 518, 519 Tynjanov, Jurij N. 419 Uesseler, Manfred 427, 447 Ulbricht, Elisabeth 144 Ulbricht, Walter 75, 88, 126, 165, 199, 219, 258, 264, 516, 542, 547, 548, 549, 554, 564, 565, 585, 591, 594, 597, 599, 600, 602, 609 Unseld, Siegfried 121, 129, 135 Ušakov, Dmitrij N. 372, 385 Vachek, Josef 58, 388, 389, 393, 397, 470, 487 Vater, Heinz 6, 9, 11, 26, 59–67, 403,

Personenregister

451, 452, 454, 468, 470, 475, 476, 478, 487, 584 Viehweger, Dieter 10, 20, 49, 52, 53, 413, 414, 431, 447, 455, 465 Vinokur, Grigorij O. 339, 419, 420, 424, 426 Voegt, Hedwig 81, 84 Vossler, Karl 2, 417, 424 Wachwitz, Elke 304, 308, 321 Wagner, Albert Malte 72, 73, 146, 153, 162, 165 Wagner, Frank 113, 114, 115, 116, 638, 640, 651 Wagner, Paul 569, 570, 581 Wapnewski, Peter 146, 163 Weber, Horst 436, 437, 442, 447 Weber, Peter 232 Weck, Helmut 314, 322 Wegele, Franz Xaver 143 Weigel, Helene 122 Weisgerber, Leo 60, 67, 449, 451, 468, 490–492, 506 Weiss, Peter 14, 15, 19, 120–139 Werner, Hans-Georg 9, 20, 214, 232– 233, 244, 272, 277, 278–283, 284, 288, 289, 291, 292, 300–301, 309, 310, 408, 413 Wertheim, Ursula 1, 4, 8, 19, 81, 214 Wesle, Carl 70, 145–146, 147, 153, 162, 163, 165

687

Wiese, Benno von 79, 196 Wiese, Joachim 439, 440, 447 Wiesinger, Peter 417, 426, 438 Wiktorowicz, Józef 657, 658, 663, 664 Williams, Tennessee 121 Winkler, Emil 417, 418, 426 Witczuk, Florian 656, 657, 658, 659, 664 Wittgenstein, Ludwig 465 Witt, Hubert 176 Wolf, Christa 78, 224, 258, 259, 263, 266, 659 Wolf, Friedrich 2, 220 Wolf, Gerhard 224 Wunderlich, Dieter 453, 477, 478, 488 Wurzel, Wolfgang Ullrich 12, 59, 60, 67, 452, 453, 454, 456, 457, 458, 468, 469, 476, 477, 488 Yos, Gabriele 422, 424 Zabrocki, Władisław 659 Žamin, Vitalij Alekseewič 546, 567 Zarncke, Friedrich 143 Ziechert, Lothar 295, 296, 297, 308 Zimmermann, Ilse 455 Žirmunskij, Viktor M. 338, 339, 340, 362, 419, 426 Zucker, Friedrich 146 Zweig, Arnold 2, 220, 520, 576, 656