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German Pages 208 Year 2017
Marcus S. Kleiner, Thomas Wilke (Hg.) Populäre Wissenschaftskulissen
Popkulturen | Band 2
Die Reihe Popkukturen wird herausgegeben von Marcus S. Kleiner und Ramón Reichert.
Marcus S. Kleiner, Thomas Wilke (Hg.)
Populäre Wissenschaftskulissen Über Wissenschaftsformate in Populären Medienkulturen
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Inhalt
WISSENSCHAFTSPOPULARISIERUNG / POPULÄRWISSENSCHAFT Wissenschaftspopularisierung und populäre Wissensmedien Dorit Müller | 9
WISSENSCHAFTSGESCHICHTE / GESCHICHTSWISSEN Urbanisierung, Medialisierung und Popularisierung von Wissensordnungen Die Berliner Urania-Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts Thomas Wilke | 31 Science Celebrities als Ikonen des Knowledge Gossip Von Heinz Habers Walt Disney-Science zu Richard Dawkins Pop Science-Writing Patricia A. Gwozdz | 61
FERNSEHWISSENSCHAFT / WISSENSCHAFTSFERNSEHEN Philosophie im Fernsehen / Philosophie des Fernsehens Metamorphosen philosophischen Wissens im Fernsehformat Precht Marcus S. Kleiner | 99 Multivariate Wissensorganisation Zur Popularisierung medizinischen Wissens zwischen Wissenschaft und Populärkultur Sven Stollfuß | 129
NETZWISSEN / WISSENSNETZE Folksonomies Wissensaggregate im Social Net Ramón Reichert | 167 Hyperreal Virtuality Filmische Ästhetiken in Propagandavideos des Islamischen Staates Marcus Stiglegger | 185 Autorinnen und Autoren | 203
Wissenschaftspopularisierung / Populärwissenschaft
Wissenschaftspopularisierung und populäre Wissensmedien DORIT MÜLLER
G ESCHICHTE Wer sich mit der Geschichte der Wissenschaftspopularisierung auseinandersetzt, kommt an der Zäsur 1800 nicht vorbei. Zwar existieren bereits seit der Antike Formen populärwissenschaftlicher Literatur, die im Zuge der wissenschaftlichen Revolution im 16. und 17. Jahrhundert eine Ausdifferenzierung erfahren1, doch beginnt der eigentliche Aufstieg im frühen 19. Jahrhundert, als die Wissenschaftspopularisierung ihre Präsentationsformen einem breiten Publikum anpasst (vgl. Schwarz 1999, 89f.). In dieser Zeit wird es nicht nur üblich, von populärer Sprache und populären Vorträgen zu sprechen.2 1805 erscheint auch die erste deutschsprachige Theorie der Popularität (Greiling 1805). Der Text stellt eine Art didaktischer Unterweisung in Hinsicht auf Anordnung, Sprache und Verständlichkeit vorgetragener Sachverhalte dar. Während Popularität hier auf das Predigen und die Volksaufklärung bezogen bleibt, rückt sie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts unaufhaltsam in die Nähe der (Natur-)Wissenschaft. Der Ausdruck
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Zur Kontroverse um die Zuschreibung „wissenschaftliche Revolution“ und zu den Auswirkungen der Verwissenschaftlichung im 17. Jahrhundert auf die Popularisierungsbemühungen (vgl. Verdicchio 2010, 27-29).
2
Vgl. zur Begriffsgeschichte des Populären im deutschsprachigen Raum (Daum 1998, 33-41).
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„populär“3 etabliert sich als geläufige Bezeichnung für „gemeinfassliche“ naturkundliche Buch- und Zeitschriftenliteratur. In Wörterbüchern und Lexika, Vereinsnamen und Publikationstiteln setzt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schließlich die Wortverbindung „populärwissenschaftlich“ durch.4 Sie eignet sich sowohl für die literarische Selbstbezeichnung als auch zur Markierung bestimmter Schriften, thematischer Genres und Darstellungsformen, welche dem Anspruch folgen, naturkundliche und technische Wissensbestände an ein breites Publikum zu vermitteln. Das sich rasch erweiternde Spektrum der Wissensgegenstände demonstrieren Buch- und Zeitschriftentitel wie Populäre Himmelskunde, Physikalische und chemische Unterhaltungen, Allgemeine Kunde des Tierreichs oder Die Popularisierung der Elektrifizierung. Neben naturkundliche treten zunehmend medizinisch-hygienische, philosophische und kulturhistorische Themen. Auch die medialen Verfahren und Techniken, mit deren Hilfe Wissen an die breite Öffentlichkeit kommuniziert wird, differenzieren sich aus. Noch bevor der publizistische Markt um 1850 explodiert, übernehmen populäre Vorträge und Formen öffentlichen Experimentierens populärwissenschaftliche Aufgaben. Bereits 1799 wird auf Bestreben des Experimentalphysikers und Erfinders Benjamin Thompson in London die Royal Institution gegründet, welche sich zum Ziel setzt „Wissen zu verbreiten“, die „Einführung nützlicher mechanischer Erfindungen und Verbesserungen zu erleichtern“ und die „Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse auf die allgemeinen Lebenszwecke“ zu lehren (zit. nach Bernal 1961, 383). Seit den 1820er Jahren entwickelt sich die Einrichtung zum beliebten Schauplatz nicht nur populärwissenschaftlicher Darbietungen, sondern auch zum Ort, an dem Wissenschaftler wie Humphry Davy oder Michael Faraday ihre Experimente durchführen. Wissenschaft und Populärwissenschaft teilen sich hier noch gemeinsame Schauplätze und Aufgaben (vgl. Orland/Brecht 1999, 7.). Überhaupt bilden Aufführungs- und Ausstellungsmedien neben der Schrift die zentralen Präsentationsformen von populärem Wissen im 19. Jahrhundert. Seit der Jahrhundertmitte werden in Europa Naturkunde-,
3
Zum zeitgenössischen Verwendungszusammenhang des Begriffes populär als „dem Volk verständlich und ihm bestimmt“ bzw. „leutselig, in Volkssitte eingehend, der Welt gefällig“ (vgl. Pierer 1831, 587).
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Eine der ersten Verwendungen findet sich bei Reclam 1857.
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Völkerkunde- und Nationalmuseen, Zoologische und Botanische Gärten, Aquarien und Sternwarten mit dem Ziel der breitenwirksamen Wissensvermittlung eröffnet (vgl. u.a. Kretschmann 2006). Weltausstellungen bieten nach 1851 einem bürgerlichen Massenpublikum unterhaltsame Einblicke in naturwissenschaftlich-technische Neuerungen, wobei sich visuelle, auditive und performative Medien zunehmend verflechten und die „Wissensschau“ zum Event machen (vgl. Schwarz 2009). In der 1888 gegründeten Urania, dem Berliner Pendant zur Royal Institution, konnten in den 1890er Jahren 760 Zuschauer in einem komfortabel eingerichteten Theatersaal Platz nehmen und auf der Bühne Mondreisen und Naturereignisse verfolgen oder Ansichten von entlegenen Gegenden der Welt bewundern. Eingesetzt wurde modernste Bühnentechnik – angefangen von aufwendiger Dekoration über Wandelbilder bis zu Beleuchtungseffekten, die durch den Gebrauch von neunhundert farbigen Glühbirnen und ein komplexes Schaltsystem erzielt wurden (vgl. Bendt 1896). Nach 1900 kommt es zu einem signifikanten Anstieg audio-visueller Formen der Wissenspräsentation. Die Kinematografie und später auch das Fernsehen übernehmen wichtige Bereiche der Wissenspopularisierung, ohne jedoch die eingeführten Medien und Darstellungsformen (Zeitschrift, Projektionsvortrag, Ausstellung und Sachbuch) vollständig abzulösen. Die 1918 in Berlin gegründete Kulturabteilung der Ufa überschwemmt bis in die 1940er Jahre hinein den Filmmarkt mit „Lehrfilmen auf allen Gebieten des Unterrichts und der Wissenschaft, der Volksbildung und der Volkswohlfahrt, des Handwerks und der Technik“ (zit. nach Kreimeier 2005, 71.). Noch bis 1970 können ‚Kulturfilmer der ersten Stunde‘ wie Hans Cürlis ihre populärwissenschaftlichen Filme für die DEFA, für den Westberliner Kulturfilmmarkt sowie für verschiedene Fernsehformate (z.B. für das ZDF-Magazin Mosaik) produzieren (vgl. Müller 2006, 154.). In den 1960er und 1970er Jahren liefert der deutsche Physiker und Schriftsteller Heinz Haber zahlreiche wissenschaftliche Dokumentarsendungen an ARD und ZDF und wird Deutschlands erster ‚Fernseh-Professor‘. Im Laufe der Zeit vervielfacht sich die Anzahl der Sender und das Angebot an Wissensformaten im Fernsehen. Im Jahr 2005 füllen sie bereits rund zehneinhalb Stunden des täglichen Fernsehprogramms (Opitz 2007). Auch die privaten Sender entdecken die Wissensmagazine als Quotenbringer. Je nach Schwerpunkt erklären sie Alltagsphänomene oder berichten über Neues aus Wissenschaft, Natur, Technik, Medizin und Gesellschaft. Zahlreiche Quiz- und Wissensshows fragen Wissen
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ab, „Science-Shows“ erkunden mit prominenten Gästen Alltagsrätsel oder geben mit Experimenten Einblicke in Wissenszusammenhänge. Zeitgleich expandiert das World Wide Web zum massentauglichen Medium und stellt Formate bereit, in denen sich Wissenskommunikation vollzieht. OnlineLexika, Wissenschafts-Blogs, Podcasts, Foto- und Video-Sharing-Portale, Tags und Feeds, Beiträge in Foren und Social Communities ermöglichen nicht nur einen scheinbar unbegrenzten Zugang zum wissenschaftlichen Wissen, sondern stellen auch Plattformen zur breiten Beteiligung an Wissensprozessen bereit. Wie ist angesichts dieser ‚Erfolgsgeschichte‘ populärer Wissensformen eine bis heute anhaltende Skepsis gegenüber Wissenschaftspopularisierung zu erklären? Einen der Gründe scheinen noch immer die spezifischen Ausprägungen des populärwissenschaftlichen Bildungsbereichs im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu liefern. In seiner Untersuchung zur Wissenschaftspopularisierung im deutschsprachigen Raum zwischen 1848 und 1914 konstatiert Andreas Daum, dass trotz thematischer und darstellerischer Vielfalt der populärwissenschaftliche Zugang zu den Wissensobjekten relativ konstant bleibt. Er bestehe vornehmlich in der „Beharrungskraft naturphilosophischen Denkens“ sowie einer „Faszination für die Ganzheitsidee“ in der Nachfolge Alexander von Humboldts und weise „ausgeprägte Neigungen zur Moralisierung und Ästhetisierung“ auf (Daum 1998, 29). Diese spezifische Ausprägung ist es unter anderem, die um 1870 eine strikte Trennung von populärer Wissenschaft und sogenannter Fachwissenschaft auf den Plan ruft.5 Der vor allem in Deutschland kaum überbrückbare Dualismus zwischen Wissenschaft und Populärwissenschaft zeigt sich beispielsweise in den meist abwertend gebrauchten Bezeichnungen der Akteure des populärwissenschaftlichen Marktes als „Popularisierer“ und „Mode-Fach-Popularisatoren“.6 Deren Tun war nach damaliger Auffassung allein darauf beschränkt, das in den „akademischen Elfenbeintürmen, Laboratorien und
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Zeitschriften wie z.B. Der Naturhistoriker (1879-1886) führen die Trennung der Bereiche „Populär-Wissenschaftliches“ und „Fachwissenschaftliches“ ein. Publizisten des populärwissenschaftlichen Feldes wie Ernst Haeckel beginnen damit, ihre eigenen Arbeiten in diese Rubriken getrennt einzuordnen (vgl. Daum 1998, 38).
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Schwarz (1999, 39) weist den Dualismus bzw. die negative Konnotation des Populärwissenschaftlichen auch für den englischsprachigen Raum nach.
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Schreibstuben“ produzierte Wissen über die Welt an ein Laienpublikum zu tragen, es „aufzuklären, zu belehren, fortzubilden, zu informieren“ (Orland/Brecht 1999, 4) oder, im Jargon der Zeit gesprochen, „das Volk emporzuheben“.7 Gegen diese Art der ‚Volksveredlung‘ polemisierte bereits Goethe im Jahr 1828.8 Im späten 19. Jahrhundert sollte die Polemik ein fester Topos der Debatte über Populärwissenschaft werden. Im Unterschied zu einer vermeintlich ernsthaften und institutionalisierten Beschäftigung mit Forschungsobjekten wurde ihr der Makel des Trivialen und allzu Simplen angeheftet. Trotz signifikanter Zäsuren im Bereich der Medienkulturen und einem Strukturwandel hin zu einer massendemokratischen Öffentlichkeit bestimmen diese pejorativen Zuschreibungen das Reden über populäre Wissensvermittlung auch noch im 20. Jahrhundert (Weingart 2001, 233f.). Ein weiterer Grund für die ambivalente Wahrnehmung von Popularisierungsbemühungen liegt in der Vorstellung wissenschaftlicher und politischer Instanzen, dass „Wissenschaft unbeeinflusst von der Öffentlichkeit Wissen produziert, welches dann von Mediatoren übersetzt und von einem Laienpublikum rezipiert wird“ (Verdicchio 2010, 36.). Noch jüngere Popularisierungsbemühungen, die seit 1985 unter der Bezeichnung Public Understanding of Science firmieren, zielten darauf, den Bürgern wissenschaftliche Fakten zu vermitteln, damit diese besser informiert Entscheidungen treffen können und vor pseudo-wissenschaftlichen Ideen geschützt werden (vgl. The Royal Society 1985, 10.). Dass diese Art der Wissenschaftskommunikation keine nennenswerten Früchte trägt, wurde um die Jahrtausendwende bemerkt,9 worauf neue integrative Ansätze, die eher auf Dialog, denn auf Vermittlung setzen, gefordert und eingeführt wurden (vgl. Verdic-
7
Popularität beruht auf der „Fähigkeit, Begriffe [...] in verständlicher Sprache und klarer Anordnung darzulegen“ und dürfe „nicht zur Trivialität und Seichtigkeit herabsinken, da sie sonst ihren Zweck, das Volk emporzuheben, verfehlen würde (vgl. Meyer 1866, 110).
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Gespräch mit Eckermann vom 11. Oktober 1828: „Meine Sachen können nicht popular werden; wer daran denkt und dafür strebt, ist in einem Irrtum“ (zit. nach Mandelkow 1980, 30).
9
So z.B. das vom House of Lords des Britischen Parlaments verabschiedete Statement Science and Society vom 23.2.2000. Vgl. http://www.publications. parliament.uk/pa/ld199900/ldselect/ldsctech/38/3802.htm (zuletzt aufgerufen am 19.08.2017).
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chio 2010, 39f.). Angesichts dieses Umdenkens konstatieren Beobachter, dass die Berichterstattung über Wissenschaft heute stärker in den Massenmedien thematisiert werde, sich pluralisiert habe und kontroverser geworden sei.10
B ESCHREIBUNGSMODELLE
UND
F ORSCHUNGSFELDER
Lange Zeit verhinderte der mit Wertungen besetzte Dualismus zwischen Wissenschaft und Populärwissenschaft die unvoreingenommene historiographische Aufarbeitung des komplexen Prozesses der Wissenszirkulation zwischen Expertenkulturen und Öffentlichkeit. So dominierten zunächst Beschreibungsmodelle, in denen Wissenschaftspopularisierung als hierarchisch verlaufender und einseitig ausgerichteter Transfer von den Experten zu den Laien aufgefasst wurde. Zudem wurde Popularisierung mit der Vermittlung naturkundlicher Themen gleichgesetzt. Religiöse, philosophische oder kulturelle Wissensbestände gerieten kaum in den Blick und wenn, dann mit dem Ziel, den Zusammenhang von Wissen und Ästhetik in der Literatur aufzudecken (vgl. Gebhardt 1984/Fick 1993) oder einen Beitrag zur Geschichte der Volksaufklärung zu leisten (vgl. u.a. Böning 1990). Es ist dem Band von Terry Shinns und Richard Whitley zu verdanken, dass seit Mitte der 1980er Jahre neue Zugangsformen zur Popularisierungsgeschichte erprobt werden, die Rückkopplungsprozesse zwischen Wissensproduzenten, Kommunikatoren und Öffentlichkeit betonen (vgl. Shinn/ Whitley 1985). Die dort versammelten Beiträge machen u.a. darauf aufmerksam, dass Popularisierung immer auch im Prozess der Wissensproduktion stattfindet, z.B. weil Wissenschaftler ihre Spezialkenntnisse anderen Akteuren veranschaulichen müssen und weil im Prozess der Popularisierung an ein nichtspezialisiertes Publikum Formen neuen Wissens hervorgebracht werden: „Non-specialist audiences thus are not always passive recipients of scientific knowledge in the contemporary, differentiated sciences but can be significant actors in in-
10 Vgl. Schäfer 2007, 31-34. Er kritisiert allerdings, dass bei diesen Annahmen nicht nach Wissensbereichen sondiert werde und dass keine Erklärungen für den Anstieg der Medialisierung bestimmter Wissensbereiche gegeben werden.
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tellectual development so that popularisation often has a direct impact upon what research is done, how it is done and how it is interpreted.“ (Whitley 1985, 4)
Das in dem Begriff der „Popularisierung“ virulente Zwei-Phasen-Modell (Wissensproduktion im wissenschaftlichen Umfeld – Transport der Information in den außerwissenschaftlichen Bereich zur Verringerung des Wissensgefälles) wird hinterfragt und die statische Rolle der Kommunikationsteilnehmer aufgebrochen. Der Neuansatz macht sich auch in der Suche nach alternativen Begriffsbildungen bemerkbar. An die Stelle von Studien zur Popularisierung oder popularisation treten solche zur Expository Science und Wissensmedialisierung, zum Populären Wissen oder zur Inszenierten Wissenschaft (vgl. Shinn/Whitley 1985; Reichert 2007; Boden/ Müller 2009; Samida 2011). Die Titel verweisen auf eine veränderte Fragestellung, die sich stärker dem Konstruktionscharakter und den Formen des präsentierten Wissens zuwendet statt allein seiner Funktionalisierung nachzugehen. Auch in Studien, die den Popularisierungsbegriff beibehalten, wird an einer Erweiterung des Popularisierungs-Modells gearbeitet. Es geht nicht mehr ausschließlich um die allgemeinverständliche und publikumswirksame Verbreitung naturwissenschaftlichen Wissens, sondern auch um kulturund alltagsgeschichtliche, religiöse und andere identitätsstiftende Voraussetzungen wie auch medientechnische Entwicklungen, die als Bedingungen der Rezeption und zugleich Produktion popularisierten Wissens einbezogen werden (vgl. etwa Kretschmann 2003). Geschichtswissenschaftliche Studien fragen nicht mehr „nach dem Erfolg oder Mißerfolg der Popularisierung in der Verbreitung konkreter wissenschaftlicher Inhalte“, sondern nach „Einschätzungen, Reaktionen und Denkmuster“ (Schwarz 1999, 102), die den Aushandlungen dessen, was Popularisierung ist und was sie bewirken soll, zugrunde liegen. Die historische Anthropologie hingegen stellt sich zur Aufgabe, die „Prozesse der Reproduktion, Vervielfältigung und Vermehrung von Wissen und Dingen, sowie deren Auswirkungen auf menschliche Selbstverständnisse und Subjektivierungsweisen zu erklären“ (Palatschek/Tanner 2008, 1). Zudem wird ein erweitertes Konzept des Wissenstransfers bestimmend. Popularisierung erscheint nicht mehr als ein Prozess, der komplexes wissenschaftliches Wissen in manipulationsstrategischer Absicht simplifiziert, sondern als ein Vorgang, in dem sich Transformationen und Neuordnungen
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des Wissens als eine Interferenz zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit beschreiben lassen. Neuere Studien untersuchen nun, „inwiefern der populärwissenschaftliche Kommunikationsraum selbst eigene Wissenstransformationen und -entwürfe hervorbrachte“ (Daum 1998, 26). Entscheidend wird, „ob Popularisierung nachträglich an einen bereits existierenden Wissensstand anschließt oder ob die Generierung von Wissen grundsätzlich auf Vermittlungsprozesse angewiesen ist, die denjenigen der Popularisierung nahestehen“ (Azzouni 2013, 294). Diese Ausweitung lenkt die Aufmerksamkeit stärker auf die Ermöglichungsbedingungen der Wissensproduktion und damit einerseits auf Prozesse der „Medialisierung“ des Wissens und andererseits auf die „Wissenskulturen“, in denen massenmediale Popularisierung jeweils stattfindet.11 Die Kopplung zwischen Wissenschaft und Massenmedien wird in Modellen der „Medialisierung“, wie sie vor allem Peter Weingart ausgearbeitet hat, als Tauschverhältnis konzipiert, bei dem einerseits Wissenschaft als Mediengegenstand das Bedürfnis der Massenmedien nach Aktuellem und Neuem befriedige, anderseits die Massenmedien von der Wissenschaft aus Gründen der öffentlichen Legitimation funktionalisiert werden (Weingart 2003, 113ff.). Das Modell wissenschaftlicher Wissenskulturen konzentriert sich hingegen auf den in diversen Wissenschaftsbereichen unterschiedlich ausgeprägten Bedarf an Kopplungen zwischen Wissenschaft und massenmedialer Öffentlichkeit (vgl. Schäfer 2007, 42-55). Mit der Ablösung des hierarchischen Modells lassen sich demnach zwei markante Zäsuren der Popularisierungsforschung beobachten: eine Neukonzeptualisierung und Ausweitung des Wissensbegriffes und die Frage nach den (massen-)medialen Bedingungen von Wissensverbreitung. Die Geschichte der Wissenspopularisierung wird zunehmend als Mediengeschichte des Wissens interessant, wobei sowohl das Spektrum der untersuchten Wissensgebiete und Wissenskulturen als auch das der Medientechniken sukzessive erweitert wird. Neben vertiefenden Einzelstudien zu den klassischen Naturwissenschaften (Popularisierung der Geographie und Astronomie, der Physik und Chemie, der Tier- und Pflanzenkunde, der Medizin und Psychologie) treten wissenshistorische Untersuchungen zur literari-
11 Diese beiden Beschreibungsmodelle gehören zu den aktuellen Ansätzen sozialwissenschaftlicher Auseinandersetzung mit gegenwartsbezogener Wissenschaftsberichterstattung (vgl. Schäfer 2007, 25).
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schen Vermittlung von archäologischen Praktiken, zu Geschichtssendungen im Fernsehen, zur Hygieneaufklärung in Werbetexten oder zur massenmedialen Popularisierung des Religiösen (vgl. Thums 2011; Fischer 2008; Wegmann 2009; Hannig 2009). Schaut man sich zusätzlich die meist deskriptiv angelegten Studien zur aktuellen Wissenschaftsberichterstattung an, so differenziert sich das Wissensfeld noch weiter aus. Hier finden sich zunehmend Arbeiten zur Popularisierung von Stammzellforschung, zum Klonen, zu DNA-basierten Identitätsanalysen, zur Genom-Forschung und Soziobiologie und zur Biotechnologie an Tieren. Das untersuchte Wissensspektrum erscheint breit gestreut, gruppiert sich allerdings tendenziell um kontroverse Themen oder solche, die in einem engeren Bezug zum Alltag der Rezipienten stehen. Augenfällig wird dies auch durch die Dauerpräsenz von Themen mit alltagsweltlichen Bezügen wie Klimaforschung, Gesundheit und Umweltrisiken. Hinzu kommt die Ausrichtung aktueller Studien auf die wissensvermittelnden Funktionen unterschiedlicher „Kommunikationskanäle“ wie Printmedien, Museum, Film, Fernsehen, Internet, Computerspiel, Comic und Briefmarke (vgl. Schäfer 2007, 35f.). Statt von einem Wissensgefälle zwischen wissenschaftlichem und populärem Wissen auszugehen, betonen viele der neueren wissenshistorischen Untersuchungen die konstitutiven Wechselbeziehungen zwischen beiden Bereichen und verstehen populäre Wissenskommunikation als ein Feld, auf dem sich unterschiedliche Diskurse so miteinander verknüpfen und überlagern, dass eine Art Wissensneuformierung stattfindet. Deren Beschaffenheit kann nun nicht mehr allein als Intention personeller und institutioneller Wissensakteure gefasst werden, sondern unterliegt vor allem auch der medialen Eigenlogik der gewählten Artikulationsformen. Vorherrschend ist die Auffassung, dass Wissen an materielle Speicherung und Zirkulation, an konkrete Formen der Inszenierung, Darstellung und Vermittlung gebunden ist. Die Herausbildung neuer Medien und daraus resultierende Verschiebungen im Mediensystem bewirken so immer auch einschneidende Modifizierungen der Wissenskonstitution, die wiederum auf mediale Bedingungen zurückwirken können (vgl. Müller 2009, 37-50). Diese Prozesse werden in jüngeren kulturwissenschaftlichen Studien an unterschiedlichen Medienformaten eingehend untersucht. Sie arbeiten beispielsweise heraus, dass auditive, visuelle und performative Medien bereits im 19. Jahrhundert verflochten wurden und wie Visualisierung, Dynamisierung und Dramatisierung ausgestellter Wissensobjekte auf Weltausstellun-
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gen die Wissensvermittlung in ein Schauspiel verwandeln, in das die Zuschauer aktiv eingreifen und somit den Wissensprozess selbst steuern konnten (vgl. Schwarz 2009). Ein Großteil der Forschung beschäftigt sich mit der aufkommenden illustrierten Massenpresse des 19. Jahrhunderts und verfolgt, wie „die Erfindung der Schnellpresse, neue Verfahren der industriellen Papierherstellung und die Möglichkeit, Text und Bild in einem Druckvorgang zu verbinden [...] den Charakter von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften als Leitmedien der Wissensorganisation“ verändern (vgl. Pompe 2005).
Ein weiteres zentrales Forschungsfeld bildet die Zirkulation von Wissenschaftsbildern zwischen innerwissenschaftlichen, alltagsweltlichen und künstlerischen Verwendungskontexten. Wie Untersuchungen zeigen, können Wissenschaftsbilder in den künstlerischen Kontext versetzt und dort in ein Netz aus Bezügen zu anderen Bildern und Praktiken der Lebenswelt mit alternativen Wissensformen gelangen. Wissenschaftliche Innovationen oder künstlerische Kreativität kann auch durch „produktives Missverstehen der Informationen in Wissenschaftsbildern“ entstehen (Hüppauf/Weingart 2009, 17). Die Studien machen auch deutlich, dass die digitalen Bildtechniken einen neuen Zugang zum Wissenschaftsbild erfordern, der nicht mehr mit Begriffen der „Evidenz des Faktischen“ auskommt, sondern digitale Computerbilder als „Simulakra, Produkte technischer Manipulationen ohne Original“ zu adressieren hat und davon ausgehen muss, dass bildgebende Verfahren Wissenschaftsbilder herstellen, „die zum Entstehen einer Wirklichkeit beitragen, die es ohne diese Bilder gar nicht gäbe“ (ebd., 28-30). Etwa zeitgleich mit der Medienausrichtung der sozialwissenschaftlichen, historischen und kulturwissenschaftlichen Popularisierungsforschung wendet sich die Medienwissenschaft den Wissensformaten in populären Medienkulturen zu.
P OPULÄRE M EDIENKULTUREN
UND
W ISSENSFORMATE
Vor der Jahrtausendwende konzentrieren sich die meisten medienwissenschaftlichen Studien zunächst auf die klassischen ‚bürgerlichen‘ Printmedien und Museen. Audiovisuelle Medien des 20. Jahrhunderts (Radio,
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Film, Internet) bleiben ausgeklammert.12 Dieser Zuschnitt scheint mit einem eingeengten Begriff von Öffentlichkeit verknüpft zu sein, der nur diejenigen Medien adressiert, „die im Zusammenhang mit der Herstellung der politischen Öffentlichkeit im 18. und 19. Jahrhundert standen“ (Verdicchio 2010, 42). Dieser Einschränkung begegnen neuere soziologische Konzepte, die Popularisierung in eine gesellschaftstheoretische Perspektive einbetten. In Anlehnung an systemtheoretische Begriffsbildungen wird das Populäre als kommunikationstheoretische Kategorie modelliert, die den Blick auf das gesamte Spektrum medial geformter Ausdrucksformen lenkt. So sieht Urs Stäheli (2005, 160) die Aufgabe populärer Kommunikation darin, die Inklusion eines Außen in ein Funktionssystem attraktiv zu machen. Diese Aufgabe übernimmt sie zum einen durch ihre „Hyper-Konnektivität“, d.h. durch „das ganze Ensemble theatraler und inszenatorischer Mittel sowie Techniken der Popularisierung“, zum anderen durch ihre „Affektivität“ im Sinne einer Aktivierung körperlicher Ressourcen (z.B. Ekel oder Lust), welche die Affizierung mit einem (Wissens-)Objekt unterstützen oder auch verhindern können. Das Produktive an diesem Modell ist, dass das Populäre nicht als eigenes Funktionssystem gedacht wird, sondern in allen Systemen auftritt und deshalb auch nicht Resultat gezielter Eingriffe eines Funktionssystems sein kann. Auch wenn Stäheli (ebd., 164) betont, dass sich das Populäre nicht auf das Mediensystem reduzieren lasse, so ist dieses weite Konzept für eine dezidiert medienwissenschaftliche Position durchaus anschlussfähig. Sie sieht ihren Einsatz darin, „unter den diversen an populärer Kommunikation beteiligten Konstitutionsleistungen spezifisch den Anteil der Medien herauszuarbeiten“ (Ruchatz 2009, 103). Medien der Popularisierung zu beobachten heißt in diesem Setting jedoch nicht, sich auf die Funktionalisierung einzelner Medien im Popularisierungsprozess zu konzentrieren, sondern auf das, was dazukommt – auf neue Bildtechniken, Erzählweisen, Rhetoriken, Adressierungsformen und Sinnlichkeiten. Wichtig ist dabei auch der Blick auf die internen Konkurrenzen innerhalb hybrider Medien, welche offenlegen können, welcher Eigenwert den Einzelmedien bei der Wissensvermittlung jeweils zugesprochen wird und dass „Medieneinsatz auch als Wis-
12 Selbst wegweisende Studien wie Bucchis Science and the Media von 1998 beschränken sich in ihren Fallstudien auf die Analyse von Zeitungsberichten.
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senseinsatz, als operative Umsetzung von Wissen über Medien“ zu begreifen ist (ebd., 118).13 Insbesondere schließen Filmstudien zur Genese und Vermittlung wissenschaftlichen Wissens an den von Stäheli konzipierten Begriff des Populären an. Sie bezeichnen Filme aufgrund ihrer medialen Eigenschaften für die Herstellung von hyperkonnektiven und affektiven semantischen Formen als besonders geeignet, da diese „per Definition immer schon polysem“ sind und „über ein großes und erprobtes Repertoire spektakulärer inszenatorischer Mittel“ verfügen (Verdicchio 2010, 60). Filmische Repräsentationen werden deshalb wichtiger „Bestandteil der Strategien zur Durchsetzung, Stabilisierung und Legitimation wissenschaftlichen Wissens“ (Reichert 2007, 24), was nicht bedeutet, dass sie nicht selbst am Wissensprozess beteiligt sind bzw. diesen zum Teil erst ermöglichen. Mit ‚filmischem Wissen‘ sind dabei nicht nur durch die Technik des Films zur Anschauung gebrachte Wissensprozesse gemeint. Darunter fällt auch „filmförmiges Wissen“, das Denkmodelle bereitstellt, die jenseits filmischer Apparaturen Bedeutung erlangen sowie „Wissen über Film“, das durch selbstreflexive Verfahren erzeugt wird (vgl. Hediger/Fahle/Sommer 2011, 13f.). Da der Film mit anderen diskursiven und medialen Instanzen Verbindungen eingeht, können daraus neue Wissensfelder und Wissensgegenstände hervorgehen oder bestehendes Wissen erweitert werden. Filme schließen an andere Wissensformen an, zitieren und diskutieren sie, tradieren oder unterlaufen sie (vgl. Pause 2014, 14f.). Insofern die Kinematographie ihren Entstehungsort gleichermaßen in wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Zusammenhängen hat, ist sie prädestiniert dafür, Wissenschaft und populäre Medienkulturen in wechselseitigen Austausch zu versetzen. In dieser Eigenschaft übernimmt sie je nach Genrezuschnitt und Wissensformat vielfältige epistemische Funktionen: Filmische Settings sind im wissenschaftlichen Bereich Teil experimenteller Versuchsanordnungen, formatieren und modifizieren so Wissensprozesse nach filmtechnischer Logik (Reichert 2009, 195-200). Unterrichts- und Kulturfilme füllen wissenschaftliche Unbestimmtheiten der Forschungsfilme durch Tricktechnik und Blickführung aus, verdichten langwierige Abläufe, machen diese zum Teil erst sichtbar und stellen dabei ihr
13 Ruchatz belegt diese These am Beispiel des Projektionsvortrags im 19. Jahrhundert.
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Wissen über kinematografische Verfahren aus (vgl. Wurm 2009). Spielfilme trainieren Sehgewohnheiten und tragen zur Kanonisierung und Akzeptanz von Wissensbeständen bei, indem sie wissenschaftliche Aufnahmen narrativ mit der Alltagspraxis der Zuschauer verflechten oder durch Einführung von Wissenschaftlerfiguren emotionale Zugänge schaffen (vgl. Müller 2011, 323-328). Umgekehrt können im Wissenschaftsfilm entwickelte Filmtechniken wie Zeitlupe und Zeitraffer, die bestimmte Wissensprozesse überhaupt erst sichtbar machen, in populären Filmformaten zu ästhetischen Konzepten werden. In dem Maße, in dem die Übergänge zwischen den Wissensformaten des Films als fließend wahrgenommen werden, in dem Maße gerät auch die strikte Trennung zwischen Wissenschaft und Wissenschaftspopularisierung in die Kritik. Populäres und wissenschaftliches Wissen, so die zunehmend übereinstimmende Ansicht, sind als Effekte eines permanenten Prozesses der Übersetzung und der Transformation seit der Entstehung des Films zu betrachten. Dies gilt umso mehr für das Zeitalter der Digitalisierung, in der sich der angestammte Ort des Kinos zu verflüchtigen beginnt, in der Mobiltelefone die Funktion von Tonfilmkameras übernehmen, Laptops zu semi-professionellen Schneidetischen werden und YouTube als Plattform dient, auf der jeder ein Publikum finden kann. In der Fernsehforschung scheint der Trend anders zu liegen. Hier bedienen noch jüngste Studien das tradierte hierarchische Modell einer Weitergabe wissenschaftlichen Wissens an eine breite Öffentlichkeit. Das Fernsehen wird explizit als „Mittler“ zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit angesprochen. Die Untersuchungsfragen richten sich entsprechend auf Informationsgehalt, Verständlichkeit, Themenspektrum, Dramaturgie und Inszenierung von Wissensinhalten in Nachrichtensendungen, Wissenschaftsfilmen, Dokus und Magazinen wie BBC Exklusiv, Abenteuer Wissen, Quarks & Co, Ozon, Planet Wissen etc. (Kowalewski 2009; Milde 2009; Seiler 2009). Teils geht es hier um die Qualität und Optimierung von Wissenschaftskommunikation, teils um die „Routinen massenmedialer Praxis“ und die Muster „figurativer Darstellung“ von Wissenschaft (Hellermann 2015, 9). Wissenschaft und Populärkultur werden als getrennte Funktionssysteme gegenübergestellt, wobei populärem Wissen als Teil des Mediensystems Funktionen (Erzählen, Interpretieren, Ludisieren) zugesprochen werden, die für die Inklusion von Wissenschaft in die Populärkultur verantwortlich sind (ebd., 534).
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Dieser auf Wissenschaftsvermittlung ausgerichteten Fernsehforschung stehen Arbeiten gegenüber, die Fernsehen als Ort der Produktion genuin filmischen Wissens reflektieren. Insbesondere die Quality TV-Serien, die seit Ende der 1990er Jahre den amerikanischen und europäischen Markt überfluten, bringen die Frage auf, wie serielle Fernsehformate aufgrund ihrer spezifischen medialen Rahmung filmisches Wissen (über sich selbst, aber auch über gesellschaftliche und wissenschaftliche Themen) konfigurieren (vgl. Braidt 2011). Ein Großteil der Studien bescheinigt dem cinematic television, dass es ‚Denkweisen‘ bereitstelle, selbstreflexiv sei, auf komplex erzählende Weise kontroverse Wissensthemen verhandle und Medienwissen vermittele, indem es eingeführte Film- und Literaturgenre (Science Fiction, Horror, Seifenoper) zitiere, kombiniere und aktualisiere (vgl. Blanchet 2010). Fernsehwissen ist hier nicht an ein Übertragungskonzept gebunden, das zwischen Funktionssystemen vermittelt. Vielmehr wird die serielle Wissensproduktion als genuin filmische Denk- und Reflexionsweise gefasst, die alternative Wissens- und Erkenntnisformen hervorbringt und dadurch kulturelle und gesellschaftliche Konventionen aufbricht (vgl. dazu die Beiträge in Kleiner/Wilke 2015). Als ein neuerdings intensiv erforschtes Untersuchungsfeld der Wissenskommunikation zählt nicht zuletzt das Internet. Zuständig dafür fühlen sich u.a. die Critical Code Studies. Sie beschäftigen sich mit der kulturellen Rolle digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien, vor allem mit der Bedeutung kollektiver Prozesse im Internet für die „Herausbildung sozialer Formationen und Figuren des Wissens“ (Reichert 2013, 10f.). In den Studien zur digitalen Wissenskonstitution geht es insbesondere um die Überprüfung der vielfach formulierten These, dass das Web 2.0 als neues Leitmedium einer ‚digitalen Wissensgesellschaft‘ zu einer Demokratisierung des gesellschaftlichen Wissensdiskurses beiträgt. Dazu haben sich bekanntlich unterschiedliche Positionen herausgebildet. Eine optimistische Variante will die Grundlagen eines neuen konsensualen Modells erkennen, in dem Wissen Resultat eines gleichberechtigten Dialogs und deshalb situativ, subjektiv und variabel sei. In diesem Modell sei auch das Expertentum kein institutionelles mehr, sondern flexibel und veränderbar (Pscheida 2010, 450). Allein die (noch) nicht vollzogene Assimilation der Nutzer an die Erfordernisse und Möglichkeiten des Internets würden den Durchbruch demokratischer Wissenskommunikation verhindern, welche über Wissensformate wie die Online-Enzyklopädie Wikipedia und andere Lernforen er-
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folgen könnte (vgl. Giesecke 2005). Entgegengesetzte Positionen interpretieren zwar die digitalen Kommunikationstechnologien als Ermöglichungsmacht kollektiver Wissenspraktiken, verweisen aber auf implementierte ‚One-to-many-Strukturen‘. Die Suggestion einer „Macht der Vielen“ bleibe in den gängigen Client-Server-Netzwerken auf die Benutzerschnittstelle der sogenannten Präsentationsschicht reduziert; es bestehe keine „Einsicht in die Logikschicht“, die Verarbeitungsmechanismen und übergreifende Anwendungslogik umfasse (Reichert 2013, 182). Wissenskommunikation scheint auch hier in verdeckter Weise hierarchisiert zu bleiben. Außerdem lasse sich der Wissensbegriff kaum konkretisieren, da „das soziale Wissen der digitalen Kollektivsubjekte als ein extrem volatiles und aggregatähnliches Wissen“ in Erscheinung trete, „das kein diskursives Zentrum erzeugt und einem empirischen Umherirren gleicht [Hervorhebung im Original]“ (ebd., 184). An die Stelle kollektiv formulierter Einsichten oder Erkenntnisse treten Bilder von Netzgemeinschaften, die Gruppenidentität beschwören, indem sie an eingeführte Diskurse und Bildbestände anschließen. Eine medienwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Wissensprozessen in Sozialen Netzwerkmedien wird sich auch damit intensiv zu befassen haben. Von Wissenspopularisierung und Wissensvermittlung kann in Hinsicht auf digitale Medienkulturen mit ihren kollektiven Formen der Kommunikation allerdings kaum mehr die Rede sein. Das Verhältnis von Technologie, Kollektivbildung und Wissenskonstitution bedarf anderer Kategorien und Zugangsweisen, die die Offenheit des Digitalisierungsprozesses berücksichtigen und von deterministischer Prägung frei sein sollten. Dass wissenschaftliche Begriffsbildungen und Zugänge grundsätzlich integrativ und beweglich sein sollten, hat die hier skizzierte Forschungsgeschichte der Wissenspopularisierung hinreichend belegt.
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Wissenschaftsgeschichte / Geschichtswissen
Urbanisierung, Medialisierung und Popularisierung von Wissensordnungen Die Berliner Urania-Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts T HOMAS W ILKE Zu den wirklich vorhandenen und vermeidbaren Uebelständen [...] gehören, wie mir scheint, in erster Linie Mängel der Ausdrucksweise der Wissenschaft selber, welche in den weiten Kreisen des Lebens erschwerend und verstimmend wirken. WILHELM FOERSTER (1888), DIREKTOR DER KÖNIGLICHEN STERNWARTE
E INLEITUNG Mitte des 19. Jahrhunderts tritt Wissenschaft – insbesondere die Naturwissenschaften – aus ihrem tendenziell abgeschlossenen Diskursfeld heraus und öffnet sich einem breiteren Publikum. Das steht im engen Zusammenhang mit dem einsetzenden Prozess der Verstädterung durch die Industrialisierung, dem Wachsen der Universitäten, dem katalysatorischen Effekt wissenschaftlicher Erfindungen auf die Wirtschaft und dem Erstarken des Bür-
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gertums.1 Damit verändert sich die Wahrnehmung von Wissenschaft, indem sie zu einem kulturellen Phänomen wird, das heißt, sie ist eingebettet in kulturelle Zusammenhänge und erfährt ihre Relevanz aus der Bedeutungszuschreibung gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Prozesse. Mit dieser Verschiebung einher geht die weitere begriffliche Auseinandersetzung um die Popularisierung von Wissenschaft an sich sowie der gleichzeitigen Öffnung der Wissenschaft vermittels verschiedener Unterhaltungsangebote und neuer Orte, wie sie sich in den wissenschaftlichen Vereinen als Hybridräume der Popularisierung manifestieren. In Bezug auf Forscherdrang, Neugier, Teilhabe an Wissen und Erkenntnissen beinhaltet das einen wechselseitigen Vergesellschaftungsprozess von Laien und Wissenschaft, wie ihn bereits zitierter Wilhelm Förster (1888, 27) programmatisch in der Zeitschrift Himmel und Erde konstatierte: „Ein noch am wenigsten angebautes grosses Gebiet der Thätigkeit für eine Zeitschrift, welche die Freude an der Natur-Erkenntniss [sic!] verbreiten helfen will, besteht endlich in der massvollen Gegenwirkung gegen all dasjenige, was sowohl innerhalb der Wissenschaft als innerhalb der weiten Kreise, die an ihren Ergebnissen theilnehmen, dem Gedeihen und der Wirksamkeit jener vorerwähnten echten und reinen Frohgefühle hinderlich ist. [...] Die Laienwelt nimmt eifrigsten Antheil gerade an solchen Problemen der Erkenntniss [sic!], welche die schwierigsten und höchsten sind. Wäre die strenge Naturforschung nicht ganz andere Wege gegangen als dieses Laien-Interesse, und hätte sie nicht schrittweise zuerst die einfachsten und unscheinbarsten Aufgaben zu lösen gesucht, so gäbe es überhaupt noch keine solide Grundlage des Natur-Erkennens.“
Diese Zeitschrift gehörte zu einer Gesellschaft, die sich in Berlin im März 1888 gründete und sich gemäß ihres Statuts „die Verbreitung der Freude an der Naturerkenntniss“ (Meyer 1892, 1) zum Ziel machte. Professionalisierte Naturbetrachtung wird im 19. Jahrhundert nicht nur historisiert, sondern erzählbar: Wissenschaft, die ihre Erkenntnisse aus der Natur bezieht, stellt diese ereignishaft in einen Handlungs- und Kommunikationszusammen-
1
Zur Situation der Universitäten und der Forschung in Deutschland vgl. Nipperdey (1990, 568-691), zum Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin: Goschler (2000); zur Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert: Daum (1998).
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hang. Diese Zusammenhänge verbleiben nicht mehr in einem Fachdiskurs, sondern werden einem sich formierenden (Laien-)Publikum geöffnet. Die Frage ist nun, in welcher Form Natur erzählt wird und wer sie erzählt. Im Folgenden werden Wechselverhältnisse von Aufführung, Präsentation, Transformation und Vermittlung der jeweiligen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse im Kontext der Urania aufgezeigt und damit nach dem Charakter des Transfer von Wissenschaft in eine nichtwissenschaftliche Öffentlichkeit gefragt. Das Grundmotiv der Urania war ein Bildungsanspruch, der sich jedoch nur mit in-formierenden Unterhaltungsangeboten umsetzen ließ und als Aktiengesellschaft noch andere Interessen zu bedienen hatte. Dadurch entstand ein komplementäres Spannungsverhältnis, das die Kommunikationsweise, die Funktion, die ästhetische Gestaltung und die Sozialität der Institution ‚Urania‘ betraf. Nicht nur bestehende Medien in die je eigenen notwendigen Popularisierungsstrategien einzubinden, sondern zugleich neue Präsentationsformen zu schaffen und mit ihnen bildungspraktisch Wissen zu kommunizieren, gehörte zu den Wesensmerkmalen der Urania. Die erfolgreiche Indienstnahme des Theaters oder später des Films zeigten die Hinwendung zu populärkulturellen Medialisierungen. In der Adressierung wissenschaftlicher Erkenntnisse an ein nichtwissenschaftliches Publikum kommt es zu einer Verdopplung von Wirklichkeit, wenn nicht gar zu einer Simulation, die auf Wiederholung angelegt sein muss, um die entsprechende Breitenwirkung erzielen zu können. Im Vordergrund stehen damit Aspekte der (Re-)Präsentation von Naturwissenschaft in einem solch neu konzipierten Ensemble. Die historisch konvergierende Entwicklung basiert auf einem triadischen Wechselverhältnis: Erstens ermöglicht das wissenschaftliche Theater der Urania mit ihren spezifischen Techniken einen neuen Erlebnisraum, zweitens gestattet die offensive Möglichkeit des Experimentierens neue Erfahrungen für den Besucher und drittens lässt die praktische Überprüfung naturwissenschaftlicher Theorie und die Zeitschrift Himmel und Erde ein Reflektieren und Diffundieren des Erlebten und Erfahrenen zu. Dieses Zusammenspiel ist qualitativ und quantitativ völlig neu im Vergleich zu den bestehenden Institutionalisierungen der Zeit, seien es Sternwarten, wissenschaftliche Vereine oder Zeitschriften, die eigenständig Themen generieren.
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G EORDNETES W ISSEN DER W ISSENSCHAFT UND P OPULARISIERUNG VON W ISSEN FÜR L AIEN Daum (1998, 25f.) betrachtet wissenschaftshistorisch und bezogen auf das 19. Jahrhundert ‚Popularisierung‘ als einen „Kollektivbegriff“, der eine „Vielzahl von Prozessen begrifflich bündelt“, indem er diesem „ein breites Ensemble an außerakademischen Kommunikations-, Darstellungs- und Themenformen“ zuordnet. Dieser Vermittlungsvorgang orientiert sich an der akademischen Erkenntnisproduktion und ist zugleich publikumsbezogen adressiert: „Popularisierung [...] läßt sich auf einer abstrakten Ebene definieren als eine spezifische Form der Wissensvermittlung und -präsentation, d.h. den über sprachliche Manifestation oder Organisation und soziale Handlungen vermittelten Versuch bzw. Prozeß, aus den Naturwissenschaften stammende Inhalte sowie Fragen der Analyse von Naturphänomen öffentlich an ein Publikum, das nicht im Zentrum der Wissensproduktion steht, weiterzugeben oder in eigenständiger Form naturkundliche Themen diesem Publikum zu präsentieren.“2
Die Urania verstand sich selbst explizit als einen Mittler zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, in der Extrapolation ist es die Vermittlung zwischen Expertentum und Laientum: „Unsere junge Urania, welche schnell in weiteren Kreisen, auch im fernen Auslande bekannt geworden ist, und es sich ja zur Aufgabe gemacht hat, zwischen dem wissensdurstigen Laienpublikum und der strengen Wissenschaft zu vermitteln, ist in dieser Hinsicht ganz besonders exponirt.“ (Meyer 1889, 561) Diese Mittlerposition praktizierte sie einerseits innerhalb terminierter Veranstaltungen in dem neu
2
Ebd., 28. Daum plädiert in diesem Zusammenhang für den Begriff der „Wissenspräsentation“ bzw. idealtypisch der „Populärwissenschaft“ unter dem „Primat des Publikumsbezugs und unter der Maßgabe öffentlicher Vermittelbarkeit“: „Die populärwissenschaftliche Praxis reduziert die Komplexität wissenschaftlicher Argumentation und orientiert sie auf außerakademische Erfahrungen hin, etwa auf physikalische Erscheinungen im Alltag oder Erlebnisse bei der privaten Tierhaltung.“ Zur weiteren facettenreichen Herleitung und weitläufigen Einordnung von Popularität, Popularisierung und Populärwissenschaft vgl. Daum (1998, 33ff.).
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errichteten Urania-Gebäude und andererseits vermittels der bereits erwähnten Monatsschrift Himmel und Erde. Wissenschaftskommunikation unterstellt intentional einen Transfer aus wissenschaftlichen Kontexten in andere bzw. nichtwissenschaftliche Kontexte. Damit einher geht ein Prozess der Übersetzung aus einer Wissenschaftssprache in eine – zumindest meist – nichtwissenschaftliche Sprache.3 Es ist dabei jeweils eine Frage der Medialität, der spezifischen Publika sowie deren Adressierung. Begriffliche Problembereiche und deren Verknüpfung sind nahezu selbstevident: Durch die Auseinandersetzung mit der Popularisierung von Wissen und von Wissenschaft, mit sich neu konfigurierenden und konfligierenden Wissensordnungen sowie mit einer sich formierenden und sich ausdifferenzierenden Öffentlichkeit. Wissenschaft artikuliert sich lange vor dem 19. Jahrhundert und dieser nicht abgeschlossene, historisch tendenziell indifferente und nicht immer auf Verständlichkeit abzielende Prozess inkludiert epochal unterschiedliche Publika, Öffentlichkeiten und Medialitäten (vgl. Bonfadelli et al. 2016; Daum 1998). Mit Bezug auf Reinhart Koselleck vollzieht Daum eine umfangreiche begriffsgeschichtliche Rekonstruktion von Popularisierung und Populärwissenschaft in Deutschland, indem er facettenreich die kategorialen Aspekte wie „[d]ie verdichtete Wandlung und Anreicherung eines Ausdrucks seit dem späten 18. Jahrhundert, eine Demokratisierung durch die Ausdehnung des Anwendungsbereichs und die Loslösung von standesspezifischen Ausdrucksfeldern, schließlich die Ideologisierbarkeit“ (1998, 41) nachweisen kann. In
3
Ein Zitat von B. Weinstein (1893, 314f.) aus der Urania-Zeitschrift, das in seinem Gehalt nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat und dabei zugleich stark wertend auftritt: „Einen Wissenszweig populär darzustellen, heißt: nicht dem Publikum die interessanten Ergebnisse mitteilen, sondern die betreffenden Lehren und die gewonnenen Erkenntnisse in verständlicher Sprache vorführen, daß ein Überblick über das Wesen der betreffenden Wissenschaft gewonnen wird und über ihre Bedeutung für geistiges und praktisches Leben. Gegen diese Forderung wird ganz außerordentlich oft und viel gesündigt. Es erscheinen jahraus jahrein populäre Abhandlungen und Bücher, deren Inhalt fast wertlos ist, und die sogar oft genug Anlaß zur Verbreitung ganz schiefer Ansichten und selbst falscher Behauptungen geben. Es scheint, als ob manche ihre Hauptaufgabe bei der Verfassung eines populären Werkes darin sehen, mit möglichst vielen Worten möglichst wenig zu sagen.“
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einer populärwissenschaftlichen Praxis wird ganz allgemein deutlich, dass sich „die Komplexität wissenschaftlicher Argumentation [reduziert]“ und sie sich „auf außerakademische Erfahrungen hin [orientiert], etwa auf physikalische Erscheinungen im Alltag“ (ebd.). Diese Praxis überwindet „tendenziell die Entgegensetzungen von Wissenschaftlichkeit und Fiktionalität, begrifflichem Denken und erfahrungsbezogener Wahrnehmung“ (ebd. 28). Das passiert nicht irgendwo, sondern an sich dafür etablierenden urbanen Orten wie etwa in den ab Mitte des 19. Jahrhunderts immer häufiger in Erscheinung tretenden wissenschaftlichen Vereinen und Gesellschaften (vgl. Golscher 2000). Derartige Orte lassen sich als eine sich formierende Arena öffentlicher Kommunikation begreifen – zumindest als eine neue Bühne für neue Themen – die einen sich vollziehenden Öffentlichkeitswandel mit Gesellschaftswandel verbindet. Folgt man Jim McGuigans (2005, 435) Vorschlag eines sich wandelnden Verständnisses des Öffentlichkeitsbegriffes, so lässt sich das bottom up auf eine sich wandelnde Kultur übertragen: „In the late modern world, the cultural public sphere is not confined to a republic of letters – the 18th century’s literary public sphere – and ,serious‘ art, classical, modern or for that matter, postmodern. It includes the various channels and circuits of masspopular-culture and entertainment, the routinely mediated aesthetics and emotional reflections on how we live and imagine the good life. The concept of a cultural public sphere refers to the articulation of politics, public and personal, as a contested terrain through affective (aesthetic and emotional) modes of communication. […] Images of the good life and expectations of what can be got out of this life are mediated mundanely through entertainment and popular media discourses.“
Indem sich die Naturwissenschaft am Ende des 19. Jahrhunderts als integraler Bestandteil der industrialisierten Moderne verstand – man berücksichtige nur den Stellenwert der Elektrizität, der Chemie und Verkehrstechnik – lässt sich über die affektiven ‚modes of communication‘ relativ schnell ein Wandel nicht nur des wandelnden Öffentlichkeits- sondern auch des Kulturbegriffs herleiten.4 Dieser benötigt neue Bühnen, die den sich verän-
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Ein in diesem Kontext weiterführendes integrales und handlungsorientierendes Begriffsverständnis von Kultur im Zusammenhang mit dem Wachstum der „Wissensökonomie“ (Fritz Machlup) findet sich bei Felix Stalder (2016, 16f.), der im Wesentlichen mit Kultur „all jene Prozesse bezeichnet, in denen soziale
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dernden (kommunikativen) Alltag ästhetisch, emotional, kognitiv mithin medial veranschaulichen und nachvollziehbar machen. Die Urania lässt sich in ihrem Gesamtprogramm als eine Bühne begreifen: Sie konstituiert durch Inszenierung und Anordnung sich wandelnde Unterhaltungsformen und Wissensformate, bedingt durch neue Medien wie dem Panorama, dem Phonographen, der Photographie oder dem Diorama.5 Diese bildenden Unterhaltungsformen sind verbunden mit neuen Rezeptionsweisen und kommunikativen Anschlüssen, die wiederum der Selbstvergewisserung nicht mehr nur des Bürgertums, sondern durch den Gedanken der Volks- und Erwachsenenbildung auch des Proletariats erlaubten.6 „Die Arbeiter besetzten zwei bis drei Vorstellungen jeden Sonntag allein mit ihren Vereinen. Das waren immer meine andächtigsten Zuhörer“, reflektierte Wilhelm Meyer, „zu denen ich auch am liebsten sprach“ (1908, 72). Für die Arbeiter und andere interessierte Schichten staffelte die Urania den Eintrittspreis
Bedeutung, also die normative Dimension der Existenz, durch singuläre oder kollektive Handlungen explizit oder implizit verhandelt und realisiert wird. Bedeutung manifestiert sich aber nicht nur in Zeichen und Symbolen, sondern die sie hervorbringenden und von ihr inspirierten Praktiken verdichten sich in Artefakten, Institutionen und Lebenswelten. [...] Durch Materialisierung und Wiederholung wird Bedeutung als Anspruch wie als Realität, sichtbar, wirksam und verhandelbar. Menschen können sich unterstützend, ablehnend oder indifferent dazu verhalten.“ 5
Hans-Otto Hügel (1993, 130) beschreibt über die changierende Rezeptionshaltung zwischen Ernst und Unernst von Unterhaltungsangeboten zugleich den Freiraum der Unterhaltungsrezeption, die „(fast) jedes Maß an Konzentration und Interesse [erlaube]“, im Gegensatz zur Unbedingtheit der Kunstrezeption. Dabei komme es nicht auf das richtige Verstehen an, sondern auf Teilhabe (vgl. ebd.).
6
Wilhelm Filla (2009, 48f.) sieht bereits am Ende des 19. Jahrhunderts die moderne Volksbildung im Zeichen der Internationalisierung und charakterisiert sie wie folgt: eine Kontinuität im Bildungsangebot über größere Zeiträume hinweg, die Institutionalisierung durch die rechtliche Form des Vereins, die Loslösung von Einzelpersonen, das Durchsetzen längerer Veranstaltungen, das Heranführen an das Selbststudium, dem Bau eigener Räumlichkeiten für derartige Bildungsangebote und dem Aufbau einer Bildungsinfrastruktur in Form von Bibliotheken zur Unterstützung der Bildungsarbeit sowie Laboratorien.
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und schuf so einen niedrigschwelligen Zugang zu Bildungsangeboten.7 Mit den sogenannten dekorativen Vorträgen des wissenschaftlichen Theaters und anderen Veranstaltungen schuf sie zugleich ein institutionalisiertes Anreizsystem für das sich formierende und tendenziell egalitäre Publikum. Das war breitenwirksam: „Abends aber werden in diesem Theater gegen ein nach den Plätzen abgestuftes Entrée Vorstellungen besonderer Art gegeben, wie sie für Berlin ganz neu sind und auch sonst nur vorübergehend einmal in Wien veranstaltet wurden, wo sie das allgemeinste Interesse erregten. Es sind das wissenschaftliche Vorträge, welche von eigenartigen experimentellen und dekorativen Veranstaltungen begleitet werden, während zugleich durch die maschinelle Kunst der Theater-Technik die Bilder sich in der selben Weise vor den Augen der Zuschauer verwandeln, wie auch in der Natur die dargestellten Phänomene vorüberziehen würden.“ (Meyer, zit. nach Ebel/ Lührs, 1988, 24)
Die wissenschaftlich abgesicherte (Wieder-)Verzauberung des Publikums intendierte eine durch die Reproduktion von Naturvorgängen scheinbar beherrschbare und erklärbare Natur. Die nachweisbare und selbst in Anspruch genommene schnelle Reaktion der Urania auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse zeigt ein Wechselverhältnis in Bezug auf die Erweiterung des Wissens im Rahmen gelehrter Tätigkeit und der Popularisierung wissenschaftlicher Neuerungen: Die Entdeckung der Röntgen-Strahlen sowie des Radiums oder der Schillingsche Vortrag Tierleben in der Wildnis sorgten jeweils für einen entsprechenden Besucherandrang und die Erhöhung der Vortragsangebote. Dies fügt sich in das von Silvana Tschopp bereits für das 18. Jahrhundert konstatierte Wechselverhältnis: „Verbreitet werden könne nur, was zunächst als Wissen generiert wurde, eine breite Verankerung von Wissen in der Bevölkerung wiederum liefere wichtige Impulse für jene forschende Tätigkeit, der sich neues Wissen verdankt.“ (Tschopp 2004, 471) Und so verstand sich die Urania nicht nur als Katalysator bei der Verbreiterung von Naturerkenntnissen, sondern auch als Impulsgeber für keinesfalls privilegierte Erkenntnisse:
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So gab es Studententickets, Schülergutscheine, Familienkarten, 1893 waren es mit fallender Tendenz 4016 Stück, und Freikarten.
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„Zur Erkenntniss [sic!] gehört Denk-A r b e i t, und der Verbreitung der Erkenntniss [sic!] selber können daher nur solche Veranstaltungen unmittelbar dienen, welche mehr oder minder systematisch in pädagogischem Sinne zu der bezüglichen geistigen Arbeit anleiten, sei es der organisirte Unterricht von seinen Anfängen bis in seine höchsten idealsten Zweige, sei es der freie Selbstunterricht mit Hülfe der Litteratur von den strengsten Lehrbüchern bis zu den populärsten Lehrdarstellungen.“ (Foerster 1888, 19, Herv. i. O.)
Foerster gibt damit einen wichtigen Hinweis zum Selbstverständnis der Urania-Bildungsangebote für den Selbstbildungsprozess des Besuchers: Erkenntnis an sich ist nichts Schlechtes, doch ist sie nicht voraussetzungsfrei. Sie benötigt entsprechende Instrumentarien und Befähigungen, um als Denkarbeit auch entsprechende Ergebnisse zutage fördern zu können. Wenn auch Denkarbeit eher der wissenschaftlichen Berufscharakteristik zugeordnet wird, so kann die Urania über entsprechend aufbereitete Angebote, in letztlich abgeschwächter Form, dies auch dem Urania-Besucher ermöglichen. Als Institution beteiligt sie sich damit an einer spezifischen Wissensproduktion, die nicht einfach Erkenntnisse der Wissenschaft übernimmt, sondern diese mit Denk-, Einstellungs- und Verhaltensmustern verknüpft und so durch die spezifischen Angebote in neue Kommunikationsund Handlungszusammenhänge überführt.8
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In der konsequenten Weiterführung lässt sich so der Handlungsbereich der Urania als eine Repräsentation von Wissensordnungen begreifen, die für eine spezifische Wissenskultur steht. Diese bestimmt Hans Jörg Sandkühler (2009, 76) „aufgrund ihrer Besonderheiten [als] unterscheidbare, systemisch verfasste, holistisch (ganzheitlich) zu rekonstruierende Ensemble epistemischer und praktischer Kontexte, die bei der Entstehung und in der Dynamik von Wissen wirksam sind und Geltungsansprüche und Standards der Rechtfertigung von Wissen bestimmen. In sie eingeschlossen ist ein ganz bestimmter epistemischer Habitus, bestimmte Evidenzen, Perspektiven und weltbildabhängige Präsuppositionen, bestimmte Überzeugungen, eigensinnige sprachliche, semiotische und semantische Üblichkeiten, besondere Auffassungen zu möglichen epistemischen Zielsetzungen, Fragen, Problemlösungen, kulturspezifischen Praktiken und Techniken und in diesem Kontext anerkannte Werte, Normen und Regeln.“ Durch die gesellschaftliche Einbettung entstehen wiederum neue Wissensordnungen resp. kulturelles Wissen, wie es Olaf Breidbach (2008) eindrücklich ausführt.
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D AS P ROGRAMM
DER
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In ihrer historiographischen Herleitung stellt sich die Urania in die Tradition Alexander von Humboldts, der als Gegenentwurf zum philosophischen Universitäts- und Bildungskonzept seines Bruders in seinen SingakademieVorträgen ab 1827 ein naturwissenschaftlich geprägtes Verständnis von Welt propagierte.9 Diese belehrenden Vorträge richteten sich in ihrer Volkstümlichkeit an ein vornehmlich nichtwissenschaftliches Publikum, ebenso gewährte eine ab 1835 in Betrieb genommene und von Preußen unterstützte Berliner Sternwarte einem Laienpublikum Zugang zur Himmelssicht. Das bedeutet keinesfalls, dass dieses Laienpublikum nicht elitär war; es war nur nicht Teil des wissenschaftlichen Diskurses. Parallel dazu gründen sich insbesondere in der nachrevolutionären Zeit deutschlandweit Institutionen der Volksbildung und Erwachsenenbildung, allen voran ab 1859 die Humboldt-Vereine, das Freie Deutsche Hochstift und die Gesellschaft zur Verbreitung der Volksbildung (vgl. Daum 1998, 168ff.). Bestehend aus der ersten Volkssternwarte, einer umfangreichen Dauerausstellung, die die Besucher aktiv zum Experimentieren einlud, und einem wissenschaftlichen Theater, entwickelte sich die Urania-Gesellschaft nach ihrer Eröffnung im Juli 1889 rasch zu einem Berliner Publikumsmagneten. Das unzweifelhaft attraktive und neuartige Programm verknüpfte die Urania selbst mit einem Anspruch „zur Hebung der allgemeinen Bildung“, den sie als eine „sozialpolitische Aufgabe“ betrachtete: „Nur der Wissende würdigt, wie eng die Grenzen menschlichen Daseins und menschlichen Könnens gezogen sind. [...] Niemand wird ohne innerliche Erbauung aus einem guten, seinem Verständnis angepaßten naturwissenschaftlichen Vortrage scheiden. Deshalb kann sich die Urania als ethisches Bildungsmittel getrost jeder
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In der räumlichen Beschränkung der Taubenstraße kommt die selektive Begründung sehr deutlich zum Tragen: „[...] und einige Wissenszweige der Naturwissenschaft herausgreifen, von denen anzunehmen war, daß sie für die Praxis des Lebens Bedeutung besitzen und wenigstens in der didaktischen Anordnung etwas Eigenartiges darbieten. Ein solcher Wissenszweig ist die Physik, im speziellen die heute auf einer hohen Stufe stehende Elektrotechnik.“ (Schwahn 1913, 23).
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Stätte klassischer künstlerischer Darbietungen ebenbürtig fühlen.“ (Schwahn 1913, 55f.)
Das Urania-Programm lässt sich als ein umfassendes und umfangreiches Veranstaltungskonzept begreifen, das den Wissbegierigen und Neugierigen zwingt, einen dafür vorgesehenen und extra dafür gebauten – und somit inszenierten – Ort aufzusuchen. Ort, Programm und Zeitschrift werden im Zusammenspiel als eine sich konstituierende Wissensordnung begriffen, die bestehende (divergente) Ordnungen integriert, reproduziert, reflektiert und somit modifiziert. Zum 25-jährigen Jubiläum der Urania reflektierte 1913 der damalige Direktor Dr. Paul Schwahn in der Festschrift, dass das wissenschaftliche „Theater nach der materiellen Seite hin der Stützpunkt des ganzen UraniaUnternehmens“ sei und die durch die Urania gegebenen Möglichkeiten „im Ausruhen von der Berufsarbeit genießend zu lernen, dazu dienen, erfolgreich der geistigen Verflachung entgegen zu wirken“ (Schwahn 1913, 33, 55). Dabei ließ er offen, ob es ausschließlich die Neugier sei, die Interessierte aller Gesellschaftsschichten erst in die Berliner Invalidenstraße und dann in die Taubenstraße lockte: „Wir konnten hinsichtlich unserer Darbietungen in diesem Theater nicht immer den Gesichtspunkt der Belehrung ausschließlich in den Vordergrund stellen, sondern mußten dem Umstande Rechnung tragen, daß der tagsüber vielseitig beschäftigte und geistig in Anspruch genommene Berliner in den Abendstunden der Erholung nachgeht, d. h. angenehm unterhalten oder im besten Fall spielend über naturwissenschaftliche Dinge unterrichtet zu werden wünscht.“ (Ebd., hier 55)
Der recht schnell spürbare Erfolg der Urania drückte sich in Zahlen aus: Die nach der Muse Urania benannte Gesellschaft hatte bereits ein Jahr nach Eröffnung an 360 Tagen geöffnet, sie verzeichnete knapp 91 000 Besucher und veranstaltete 99 wissenschaftliche und 306 dekorative Vorträge, Tendenz insgesamt steigend.10 In der Folge tourte die Gesellschaft sowohl in
10 1896 wurde in der Taubenstraße ein weiteres Gebäude in Betrieb genommen, das als Hauptgebäude fungierte. Insgesamt war es zwar kleiner, jedoch fasst der Theatersaal 700 Personen, in der Invalidenstraße waren es 400. So trug man der wachsenden Nachfrage Rechnung. Die Besucherzahlen erreichten 1904/1905
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Deutschland als auch weltweit mit ihren besten Vorträgen und bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges gründeten sich zahlreiche weitere UraniaGesellschaften, unter anderem in Wien, Graz, Budapest, Magdeburg, Jena und Prag (vgl. Becker 2011). Die Urania, als eine sich selbst tragende (Aktien-)Gesellschaft und als adressierbarer Ort, zeigte in einer besonderen Weise eine Popularisierung von (Natur-)Wissenschaft, indem sie in der Kommunikation von Wissenschaft neue Artikulationsformen und Aneignungsweisen schuf. Als Aktiengesellschaft war sie ihren Aktionären verpflichtet und stand so im Konflikt mit einer bildungsorientierten Ausrichtung auf das Gemeinwohl.11 In ihrer historischen Erscheinung fiel sie in der Planung und Verwirklichung mit der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt zusammen, die 1887 unter der Präsidentschaft von Hermann Helmholtz ihre Arbeit aufnahm. Dieses Zusammenfallen der beiden Gründungen war alles andere als zufällig: Durch die Physikalisch-Technische Reichsanstalt wurde auf der einen Seite „die naturwissenschaftliche Forschung außerhalb der Universität intensiviert, auf der anderen Seite in der Urania die Popularisierung der Naturwissenschaften auf eigene Füße gestellt“ (Daum 1998, 178). Der Gründungsmythos ist bereits vielfach reproduziert worden, nicht nur in der UraniaZeitschrift Himmel und Erde, sondern auch in späteren Darstellungen. Dieser bezieht sich im Wesentlichen stets auf drei Aspekte: erstens konnte die seit 1835 existierende Berliner Sternwarte aufgrund der großen Besucheranzahl nicht mehr im eigentlichen Sinne forschend arbeiten, dann traf sich 1887 der renommierte Berliner Astronom Wilhelm Foerster mit dem Wis-
eine Spitze von insgesamt gut 222 000. In dem Jahr veranstaltete die Urania insgesamt 823 Vorträge: im Theatersaal (597), im Hörsaal (120) und in der Sternwarte (106). Die auffallend starke Zunahme wurde mit den Vorträgen über das kürzlich zuvor entdeckte Radium und die Schillingschen Vorträge über das „Tierleben in der Wildnis“ begründet (vgl. Schwahn 1913, 44). 11 Die Gründung als AG war keineswegs ungewöhnlich, so praktizierte das erfolgreich bereits der Berliner Zoologische Garten seit 1844. Das brachte neben der gesellschaftlichen Verankerung innerhalb des städtischen Bildungs- und Besitzbürgertums auch den notwendigen finanziellen Rückhalt. Und so war neben den industriellen Hauptaktionären Werner und Wilhelm Siemens auch das Berliner Wirtschaftsbürgertum stark involviert (vgl. Ueber die Entwickelung und die Ziele der Gesellschaft Urania 1888, 6ff.).
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senschaftsjournalisten und Literaten Wilhelm Meyer, um Ziele und Projekte zu besprechen. Schließlich veröffentlichte Wilhelm Foerster im September 1887 nach diesem Treffen einen Aufruf zur Gründung einer „öffentlichen, teleskopischen, spektroskopischen und mikroskopischen Schaustätte zugleich zur Vorführung optischer und elektrischer Experimente sowie zu mannigfachen naturwissenschaftlichen Erläuterungen durch Wort und Bild endlich als Ausstellungsort für einschlägige Instrumente und Apparate dienend.“
In diesem Gründungsaufruf kommt die geplante Multifunktionalität des Ortes zum Tragen: Schaustätte, Vorführungs- und Ausstellungsort sowie Bildungsort durch wissenschaftliche Erläuterungen. Die Reaktion auf diesen Aufruf war in Berlin eine bereitwillige finanzielle Unterstützung durch Zeichnung von Aktienkapital, insbesondere durch Werner von Siemens (vgl. hierzu Hess 1969, Daum 1998, Wolfschmidt 2002, Becker 2011). Zu den drei Aspekten des Gründungsmythos’ gesellte sich noch ein weiterer, der zumindest für die Zeitgenossen augenfällig war: Berlin entwickelte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur urbanen Metropole durch „ihr[en] Reichtum an materiellen und kulturellen Ressourcen, ihre ethnische, soziale und kulturelle Diversität und ihre Einbindung in ein Netzwerk, das heißt, ihre Beziehung zum Umland, zum Nationalstaat und zu anderen Metropolen, durch die sie selbst erst zur Metropole wird“ (Becker, Niedbalski 2011, 9). Jemand wie Wilhelm Foerster dachte in diesem Zusammenhang „für eine Stadt wie Berlin sofort an eine Ausführung in größerem Style“, um „dem Publikum Lehrreiches und Anziehendes aus dem Reich der messenden und experimentierenden Naturwissenschaften darzubieten und dadurch nicht sowohl eine oberflächliche Wißbegierde zu befriedigen, als das Interesse weiterer Kreise an einer tieferen Kenntniß der Dinge und im Gefolge derselben wahre Einsicht zu fördern.“ (Foerster zit. nach Ebel/Lührs 1988, 31)
Passend dazu formulierte auch Meyer: „Es ist die für Massenbesuch besonders geeignete Vervollkommnung der Einrichtungen zu ersinnen, dabei aber niemals die Grundlage wissenschaftlicher Solidität und Kritik zu ver-
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lassen.“ (Ebd.)12 Mit dieser Basis gründete sich am 3. März 1888 die Aktiengesellschaft, das neuerrichtete Gebäude in der Invalidenstraße öffnete für die Öffentlichkeit am 2. Juli 1889 und man residierte dort bis 1896, bis die Räumlichkeiten zu klein wurden und die Urania in die Taubenstraße umzog. Die Verortung der Urania in der Stadt und die architektonischen Besonderheiten des Baus sind für Meyer Anlass gewesen, sich bereits 1888 noch prospektiv und 1889 dann konstatierend über die inhaltlichen und architektonischen Verbindungen in längeren Essays zu äußern. Relevant für den hier vorgestellten Zusammenhang bleibt die Benennung des von der Gesellschaft ins Auge gefassten Horizonts: Neben der Astronomie-Abteilung, zu der die Sternwarte gehörte, und dem wissenschaftlichen Theater etablierte die Urania drei weitere Abteilungen: die Physikabteilung, zu der die Themenbereiche der Mechanik, Akustik, Elektrizität, des Magnetismus, der Optik und der Phonograph zählten, die mikroskopisch-biologische Abteilung und eine Ausstellung von Präzisionsmechanik. Als sechste Abteilung wurde die Redaktion der monatlichen Zeitschrift Himmel und Erde angeführt und damit eine gewisse Eigenständigkeit postuliert. Geradezu programmatisch hieß sie Illustrirte populäre Monatsschrift im Untertitel und publizierte neben den gelehrten Abhandlungen auch zahlreiche erklärende und illustrierende Bilder zu den unterschiedlichsten Gegenständen.
12 Wilhelm Foerster (1888, 24) adressierte die Angebote der Urania etwas pathetisch an die „allerverschiedensten Vorbildungsstufen und Geistesbedürfnisse“: „Und zwar gilt dies für die von dem grossen und sogenannten SonntagsPublikum beginnend, welches blossen Lehr-Vorträgen naturwissenschaftlicher Art notorisch so abgeneigt ist, und welches nun in dem wissenschaftlichen Theater zunächst mit Bild- und Licht-Wirkungen ergreifender oder anmuthiger Art, bald unter diskretester, bald unter spannendster rednerischer Erläuterung unvermerkt in den Reichtum der Natur-Erkenntnisse eingeführt wird, bis hinauf zu den Schülern der höheren Schulen sowie zu der Lehrerschaft derselben, welcher letzteren in unsern Einrichtungen der Jungbrunnen zu zwanglosesten Erfrischung und Fortbildung ihrer naturwissenschaftlichen Orientierung geboten werden kann, und bis zu den vielen einsam arbeitenden Freunden der NaturErkenntniss, denen bisher die Mittel und Wege fehlten, zu allen den Veranschaulichungen zu gelangen, nach denen ihre eifrigen Studien hindrängten, und aus denen sie die entscheidensten Förderungen ihres Selbstunterrichtes schöpfen werden.“
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Zentraler Gegenstand beispielsweise des ersten Heftes waren – neben einem grundlegenden Artikel über die Ziele der Popularisierung der Naturwissenschaft und damit der Funktion der Zeitschrift – Essays über Beobachtungen der Marsoberfläche, vor dem Hintergrund der Sonnenfinsternis vom 19. August 1887 einen Essay über historische Sonnenfinsternisse, Aufgaben der Photometrie des Himmels, die norwegische NordmeerExpedition oder zu Theorien der Gewitter-Elektrizität. Im Feuilleton des ersten und zweiten Heftes gab es Raum für das Selbstverständnis und Programm der Urania. Die Zeitschrift war ebenso der Ort, an dem die Angelegenheiten der Gesellschaft veröffentlicht wurden: die Protokolle der ordentlichen Generalversammlung, Rechenschaftsberichte oder die Offenlegung der Bilanzen. Darüber hinaus annoncierten Verlage ihre Neuerscheinungen, oft auch publizierte Vorträge von Wilhelm Meyer, Uhrmacher ihre Präzisions-Zeitmesser oder die Waffenfabrik Georg Knaak ihre „Garantirt Eingeschossene[n]“ Revolver. Die thematische Breite der Zeitschrift – von der aufkommenden Straßenbahn und der Temperatur der Sonne, von der drahtlosen Telegraphie bis zur Funktionsweise der Schallplatte – zeigte sich nicht nur im Abdruck von Vorträgen der Urania. Vielmehr war die sich abzeichnende Symbiose zwischen Ökonomie und Wissenschaft in den Heften offenkundig, beispielsweise durch Abhandlungen über die Stahlfabrikation, über die chemische Reinheit von Wein und anderen Flüssigkeiten, über die Präzisionsmechanik, im Weiteren die Fälschung von Nahrungsmitteln oder die Zuckerfabrikation, die in den Ausstellungsräumen experimentell veranschaulicht wurde.13 Das betraf im Weiteren ebenso die Ausstellung von Maschinenmodellen und Wilhelm Meyer (1889, 36) begeisterte sich in seiner Beschreibung an den Elektro-Magneten und der Elektrizität:
13 Zur Unterfütterung dieser zeitgenössisch-reflektierten Urania-Perspektive sei hier stellvertretend ein Beispiel genannt: „Die deutsche Präcisions-Mechanik, welche in den letzten Jahrzenten die allerwichtigsten Fortschritte zu verzeichnen hat, bedarf durchaus einer solchen Heimstätte, in welcher der weite Umfang ihrer sinnreichen Erfindungen und minutiösen Ausführungen im Ueberblicke dargestellt werden kann. Diese Ausstellung [...] wird unstreitig von segenbringender Rückwirkung auf diesen Industriezweig sein, in dessen Gebieten menschlicher Scharfsinn und Erfindungsgeist bereits so grosse Triumphe gefeiert haben.“ (Meyer 1889, 37).
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„Und nun weiter die magnetische und elektrische Abtheilung, wo riesige ElektroMagnete ihre mysteriöse Kraft über den Raum ausbreiten und die Elektrizität, die geschmeidige, ätherisch-glanzerfüllte Fee herrscht, die unsichtbar alles mit der unüberwindlichen Macht ihres Feuergeistes durchdringt und die Gedanken der Menschen verbrüdernd über alle Lande und den brausenden Ocean hin zum grossen Weltconcerte zusammenklingen lässt! Das elektrische Licht, welches ohnedies alle Räume des Urania-Gebäudes erhellt, wird hier über seine Entstehung das eigene Licht verbreiten. Die chemischen Wirkungen des elektrischen Stromes, die Elektrolyse, Galvanoplastik, deren Produkten wir überall im täglichen Leben begegnen, werden hier Jedem verständlich erklärt.“
Die Zeitschrift beschränkte ihren angesprochenen Leserkreis keineswegs auf die Fachwelt, sondern adressierte sehr deutlich fachwissenschaftliche Erkenntisse an ein kulturell interessiertes Publikum: Wissenschaft als integraler Bestandteil eines breiteren Kultur- und Gesellschaftsverständnisses. Sie machte es sich – im Rückblick zum 25-jährigen Jubiläum – zur Aufgabe, „die Errungenschaften der Naturforschung [...] sodann aber auch biologische Fragen, soweit sie ein allgemeines, zur Entwicklung eines einheitlichen Weltbildes in Beziehung stehendes Interesse bieten, in zusammenfassenden allgemeinverständlichen Abhandlungen zu verbreiten. In dieser Hinsicht bildet sie also eine Ergänzung und Erweiterung des Programms der Urania, indem sie nicht, wie das Institut selbst, auf eine lokale Wirksamkeit beschränkt ist, sondern ihre Mitarbeiter und ihren Leserkreis in der ganzen Kulturwelt sucht.“ (Schwahn 1913, 52)
Im Gegensatz zu einer distanzierten musealen Präsentation von ausstellungsfähigen Stücken zeigte sich das von Eugen Goldstein eingeführte „System der Selbstbelehrung“ bei physikalischen Experimenten als innovativ, insbesondere bei elektrischen und elektrotechnischen Erfindungen. Schwahn lobte es als „praktische[s] Lehrbuch, das an Stelle komplizierter Zeichnungen und weitschweifiger Erklärungen die eigene Anschauung setzt“ und die „eigenhändige Betätigung“ demzufolge „viel intensiver [wirke] als das Lesestudium“ (Schwahn 1913, 57). Dieses System besäße gegenüber dem Vortrag den Vorteil, „daß der Lernende durch die eigene Handhabung der Apparatur in ihre Konstruktion besser einzudringen ver-
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mag, und daß ihm ermöglicht wird, das Experiment so oft und so lange zu wiederholen, bis er es in Ursache und Wirkung begriffen hat“ (ebd.): „Wir haben es in der Urania zuerst gewagt, die sonst in allen Museen und Ausstellungen streng befolgte Regel, welche die Berührung der Gegenstände verbietet, in gewissen Sinne zu beseitigen. Es sind an den Instrumenten betreffende Stellen, elektrische Knöpfe etc. bezeichnet, welche man berühren darf, um dadurch den Apparat in Thätigkeit zu setzen.“ (Meyer 1890, 234)
Eine der bemerkenswerten Attraktionen der Urania-Gesellschaft in der Anfangszeit waren die beiden von Thomas A. Edison überlassenen Phonographen nach seinem auf Einladung von Werner von Siemens erfolgten Berliner Besuch im September 1889 (vgl. Wilke 2010, 2013). Edison stellte, von der Pariser Weltausstellung kommend, der Urania-Gesellschaft seinen Improved Phonograph vor, der nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die kaiserliche Familie und das Berliner Bürgertum bei einer extra dafür einberufenen Veranstaltung begeisterte. Es ist heute nur noch schwer vorstellbar, dass die reproduzierbare Aufzeichnung der menschlichen Stimme, der Musik oder von Umweltgeräuschen etwas Außeralltägliches war. Und doch konnte die Urania sich als erste Gesellschaft im Besitz zweier Phonographen rühmen, „die eine besondere Anziehungskraft im akustischen Kabinett [...] ausübten“ (Schwahn 1913, 17, zur ausführlichen Beschreibung vgl. Meyer 1890, 131ff.). Das lag unter anderem daran, dass die Urania für circa ein Viertel Jahr die einzigen Besitzer in Berlin waren, die einen Phonographen öffentlich ausstellten und zugänglich machten. Der Phonograph war mit einem Aufpreis von 20 Pfennig pro Person zugänglich, allerdings täglich nur in der Zeit von fünf bis sechs Uhr, ähnlich wie das sich ebenfalls in der Rotunde befindliche elektrophonische Klavier. Damit verbanden sich auch praktische Probleme, denn wie auf der Plattform der Sternwarte konnte hier stets nur eine begrenzte Anzahl an Zuhörern in den „Genuss“ einer akustischen Aufnahme kommen. Aufgrund der wenigen anschließbaren Hörschläuche war die Hörerzahl begrenzt. Um „einen ruhigen Genuss des wunderbaren Instruments zu gewähren“, hatte die Urania „besondere sogenannte phonographisch-telephonische Musikaufführungen an bestimmten Abenden gegen erhöhten Eintrittspreis eingerichtet“ (Meyer 1890, 238). Noch ehe die Ethnologie an den Phonographen als wissenschaftliches Instrument denken konnte, dachte man “in der
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That an die Anlage einer Art phonographischen Archivs für interessante Musikwerke oder für Sprachaufnahmen“ (ebd.). Der 1892 eigens veröffentlichte Illustrirte Leitfaden veranschaulichte die Notwendigkeit, handlungsleitendes Orientierungswissen dem Publikum zur Verfügung zu stellen. Alle bereits in der Zeitschrift beschriebenen sechs Abteilungen erhielten eine detaillierte Beschreibung hinsichtlich des technischen Bestands, ihrer Aktualität und ihrer experiementellen und somit erfahrungsbezogenen Möglichkeiten. Er gab eine klare zeitliche Rahmung für den Besuch der Urania, wenn man beispielsweise das Vergnügen einer Opernübertragung per Telefon haben wollte (Meyer 1892, 6). Denn auch dies gehörte zum Programm der Urania, zumindest zeitgleich für jeweils zwölf Hörer: Vom königlichen Opernhaus übertrugen zwei Mikrofone, die rechts und links der Bühne aufgestellt waren, den Ton der Vorstellung mittels vier Drähten direkt in die Urania, wo sie „durch 12 Hörtelephone in solcher Weise [geleitet wurden], daß man mit dem rechten Ohre die auf der rechten, mit dem linken die auf der linken Seite der Bühne erzeugten Töne hört“ (ebd., 135). Bemerkenswert ist hier also nicht nur die stereophone Übertragungstechnik, sondern die technische Umsetzung eines räumlichen Hörens, das einen natürlichen Höreindruck reproduzieren sollte. Damit einher geht die Vorstellung, eine visuell ausgerichtete Bühnenaufführung auf die akustische Übertragung zu reduzieren – das kommt der Liquidierung des Aufführungsortes gleich und stellt neue Anforderungen an die Vorstellungskraft des Hörers. Diese wird zudem doppelt angesprochen, in Bezug auf das Geschehen auf der Bühne sowie in Bezug auf das rein akustische Verstehen. Denn die Übertragungsqualität war keinesfalls optimal; auch die Mikrofontechnik stand noch am Anfang ihrer Entwicklung. Das versinnbildlicht der anschließende Satz des Leitfadens für die Opernübertragung: „Textbücher, deren Gebrauch sehr zu empfehlen ist, stehen unentgeltlich zur Verfügung“ (ebd.). Die durchaus gemachte und artikulierte Enttäuschung von Besuchern über die Himmelsbeobachtungen reflektierte auch schon die Urania und versuchte Abhilfe zu schaffen (vgl. mit Bezug auf Meyer s. Becker 2011, 288f.). Dafür kam die Photographie gelegen, denn sie ermöglichte eine umfassende Dokumentation der Himmelsbewegungen und diese ließen sich wiederum narrativ konzentrieren und aufmerksamkeitsökonomisch lenken. Eigens dafür wurde ein Fotoarchiv mit mehr als 700 Bildern geschaffen, das den Besuchern in einem Raum neben der Sternwarte den Himmel über
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Berlin erklärbar machte. Bei schlechter Sicht wich man auf die Photographien aus. Über die Photographie hinaus waren die Bewegungsphotographie sowie die Farbphotographie ein Thema und fanden in vielen Vorträgen nicht nur als illustrierendes Beiwerk Anwendung, sondern waren ein eigener Vortragsgegenstand, der sich zudem in der Zeitschrift wiederfand (vgl. zusammenfassend Schwahn 1913, 38). Edward Muybridge selbst war ein referierender Gast der Urania. Als einen attraktiven und lohnenswerten Nebenzweig der Photographie begriff die Urania recht früh die Kinematographie, die sie „für die Zwecke des Unterrichts und der Jugendbildung“ integrieren wollte, um in erster Linie dem „Mißbrauch dieser an sich so schönen Erfindung“ als einer „ernsten Gefahr“ (Schwahn, ebd.) vorzubeugen. „Diese Gefahr kann nur dadurch abgewendet werden, daß einerseits die Behörden strenge Maßnahmen gegen den Schmutzfilm treffen, um wenigstens die Jugend vor dem verderblichen und verrohenden Einfluß mancher der sogenannten Lichtspieltheater zu bewahren, und daß andererseits alle Mittel in Bewegung gesetzt werden, um den an sich höchst schätzenswerten Kinematographen in den Dienst gesunder Unterhaltung und Belehrung zu stellen. Soweit dies auf naturwissenschaftlichem gebiet, namentlich auf dem Gebiet der Biologie und Technik erreichbar ist, hat die Urania weder Kosten noch Mühen gescheut, Gutes zu schaffen. Wir freuen uns, hier mitteilen zu können, daß unsere darauf hinzielenden Bemühungen beim hohen Kultusministerium Anerkennung und Unterstützung gefunden haben.“ (Ebd.)
Neben diesem pädagogischen Impetus nutzte die Urania die Kinematographie tatsächlich zu Filmvorführungen, insbesondere aus dem Bereich des Tierlebens zur Illustration, sowie aus dem Bereich der Hygiene zur Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten. Hierfür sah sie in der Kinematographie das geeignetste Mittel zur populären Verbreitung von hygienischem Wissen. Bemerkenswert ist die hier implizit getroffene Abgrenzung mit dem Hinweis auf eine „gesunde Unterhaltung und Belehrung“ und die gleichzeitige Forderung nach behördlicher Regelung, die demnach einer Selbstregulierung des Marktes nicht vertraute. Einen ausgewiesenen Schau- und Attraktionswert für die Besucher hatte die umfangreiche Beleuchtung des Gebäudes und die damit zusammenhängende umfassende Elektrifizierung aller Bereiche und Abteilungen, die der Illustrirte Leitfaden als „Kraftquellen“ detailliert beschrieb (Meyer 1892, 164f.).
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Die wenigen bislang vorliegenden Darstellungen zur Urania stellen relativ schnell das wissenschaftliche Theater als einen Markenkern heraus, ein Umstand, den die Urania in ihren eigenen Darstellungen beförderte (vgl. Becker 2011). Unbestritten handelte es sich hierbei um ein bemerkenswertes und stark nachgefragtes Novum, das zudem in eine urbane Unterhaltungs- und Vergnügungskultur14 eingebettet ist: In den ersten zwanzig Jahren besuchen jährlich bis zu 220 000 Besucher bis zu 800 stattfindende Vorträge. Den Hauptteil – im Vergleich zu den im Hörsaal angebotenen wissenschaftlichen Vorträgen – nehmen die Vorträge im Theatersaal im Verhältnis von bis zu 5:1 ein. Dennoch ist dies nicht über die reine Quantität, sondern nur in seinem Zusammenspiel zu begreifen. Mit der spezifischen Anordnung wird nicht einfach nur das bürgerliche Theater in seiner Struktur übernommen, sondern Naturwissenschaft präsentiert sich nun auf der Bühne in einem festgesteckten Zeitrahmen, mit einer zum Teil offen gelegte innere Dramaturgie (vgl. hierzu Leonhard 2007, 88). Der die Bilderlandschaft begleitende Vortragstext kam von der seitlich aufgestellten Kanzel, der Redner figurierte als übergeordneter Erzähler aus dem Off. Text und Bild produzierten konvergierende Perspektiven und gingen dabei – alle verfügbaren Techniken nutzend – in der Wahrnehmung des Besuchers eine Verbindung ein. Wilhelm Meyer startete mit seinen gestalteten Vorträgen in Berlin nicht bei Null. Bereits 1884 inszenierte er in Wien erfolgreich Schauvorträge Von der Erde bis zum Mond und die Geschichte der Urwelt. In Berlin inszenierte er wesentlich umfassender eine auf Reproduktion und mit ästhetischen Effekten versehene „künstliche Naturwelt“ (Daum 1998, 180): „Sonnen- und Mondfinsternisse, Sternschnuppenschauer, riesige Kometen [...] ziehen hier, in ihren wechselnden Phasen lebendig dargestellt, inmitten malerischer
14 Becker, Niedbalski (2011, 14f.) subsumieren unter Vergnügens- und Unterhaltungskultur der Metropole sieben Charakteristika: Die Summe aller ästhetischen Zerstreuungsangebote, eine breite Publikumsansprache, kommerzielle Ausrichtung, ein egalitärer Zugang, eine umfassende Verfügbarkeit und Sichtbarkeit, die zeitgenössische Auseinandersetzung um Sinn und Unsinn sowie der politische Gehalt des scheinbar Unpolitischen.
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Landschaften des Erdballs am Auge des Betrachters vorüber und erwecken die Begier, diese angestauten Erscheinungen [...] in ihrer natürlichen Entstehung begreifen zu lernen. Begleitende Vorträge, denen diese decorativen Darstellungen als glanzvolle Illustration von plastisch natürlichster Wirkung beigesellt werden, geben eine erste noch völlig skizzenhafte Andeutung zur Erklärung der mit dem Auge des wissenschaftlich durchgebildeten Künstlers gesehenen Naturereignisse.“ (Meyer 1889, 279)
Meyers Betonung des Natürlichen in der Darstellung und Inszenierung stellt letztlich das Narrativ einer Deckungsgleichheit mit der Natur dar. Die kaum kaschierte Absicht tritt hier überdeutlich zutage: Dem reizhungrigen Großstadtmenschen werden die unterschiedlichsten Naturvorgänge augenscheinlich gemacht und damit nachvollziehbar, erzählbar, dramatisierbar, historisierbar und beherrschbar, kurzum wird „die Natur selbst in genrehaften Szenen zum Bühnenschauspiel erhoben“ (Daum 1998, 181). Die charakteristischen Merkmale des wissenschaftlichen Theaters sieht Kristin Becker (2011, 284) in der „Verbindung von Naturwissenschaft und theatraler Repräsentation“, dem „gesteigerten Einsatz von Effekten, Bühnentechnologie und Elektrizität“ sowie in dem „Bekenntnis zu Visualität, Illusion, Unterhaltung und Spektakel“. Diese lassen sich erkennen, folgt man den detaillierten Beschreibungen der Urania-Hauptakteure: „Beim Eintritt in die Sternenwarte gelangen wir zunächst in einen verfinsterten Raum, wo man uns bittet, Platz zu nehmen, um diejenigen Wunder des Himmels, welche in natura im Allgemeinen nur abends gezeigt werden können, in möglichst naturgetreuen und eindrucksvollen Nachbildungen mit Hilfe mächtiger Lichtwirkungen zu betrachten. Glänzende Stern-Haufen, die wie eine diamanten-Saat glitzern und flimmern, Nebelflecke, in ihrem mattglänzenden Licht, das aus unermeßlichen Fernen herleuchtend in geheimnisvollen Formen uns von der weltschöpferischen Kraft des Universums erzählt, Doppelsterne [...], kurz alles Schöne und Sehenswerthe, das der weite Himmel bietet, stellt sich hier der bequemen Beschauung zu jeder Tageszeit dar. Erläuternde Vorträge begleiten die Darstellungen, welche, etwa jedes Mal eine halbe Stunde in Anspruch nehmend, von Stunde zu Stunde wiederholt werden, während die vorzuführenden Objekte je nach Jahreszeit derart wechseln, daß vorzugsweise diejenigen in Nachbildungen gezeigt werden, die abends am Himmel sichtbar sind.“ (Meyer, zit. nach Ebel/Lührs 1988, 22)
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Das Publikum konnte durch den frühzeitig populär propagierten Anspruch der Urania eine Erwartungshaltung für sich reklamieren, die prospektiv das (Bildungs-)Erlebnis disziplinierend vorformte, das eigene Wissensniveau profilierte sowie den erhofften Distinktionsgewinn mit sich trug. Und bei alledem stand das unterhaltende Moment keinesfalls im Hintergrund. Das Theater war auch außerhalb der Vorträge am Tage zugänglich, „wo auf stets offener Bühne ein Diorama ausgestellt ist, das irgend eine interessante Natur-Szenerie darstellt“ (Meyer, zit. nach Ebel/Lührs, 1988, 23): „Von Zeit zu Zeit, nach 8 oder 14 Tagen oder einem Monat, je nachdem sich das Bedürfnis herausstellt, wechseln diese durch die Kunst der Dekorationsmalerei hervorgebrachten, von wissenschaftlicher Seite inspirierten Darstellungen: einmal eine Polar-Landschaft, über der sich die wundersamen Strahlen und Falten des Nordlichtes ausspannen; ein anderes Mal ein weites Wüsten-Gebiet mit den bekannten Luftspiegelungen oder der Moment, in welchem während einer Sonnen-Finsterniß bedrückende Schatten sich über die beängstigte Erde hinlagern und der geheimnißvolle Glanz der Corona, die die schwarz am gewitterdüstern Himmel hängende Sonnenscheibe umgibt, oder endlich eine vorsinthflutliche Landschaft mag den Beschauern ein Phantasie-Gebilde von der eigenartigen Natur-Entwicklung längst verflossener Schöpfungs-Perioden geben.“ (Ebd.)
Gleichwohl waren die dekorativ-szenischen Vorträge – trotz des Erfolgs beim Publikum – innerhalb der Urania nicht ohne Kritik. Denn es kam zwischen Foerster und Meyer zu widerstreitenden Ansichten in der populären Wissensdarstellung, zumal die hinzukommenden Inszenierungen der dekorativen Vorträge durch teure Bühnenausstattungen, Regiekosten für das Theaterpersonal sowie für die Beleuchtung das Budget über Gebühr strapazierten (vgl. ebd. ff.).15 Meyer formulierte das rückblickend in seinen Erinnerungen 1908 und konnte seine Verbitterung über den intellektuellen Wi-
15 1902 wechselte man den mit dem Vortrag „Frühlingstage an der Riviera“ vom szenischen zu künstlerisch ausgestatteten Projektionsvorträgen, die „eine freiere Beweglichkeit und viel größere Abwechslung [gestatteten] und schließlich auch technisch auf einen so hohen Stand der Vollendung gebracht und durch künstlerische Farbgestaltung so wirksam gestaltet werden [konnten], daß sie für die dekorativen Darbietungen wohl als willkommener Ersatz gelten dürften“ (Schwahn 1913, 34f).
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derstreit der Wissens(re-)präsentation kaum verbergen. Zugleich machte er auf ein noch heute aktuelles Problem im Diskurs der Popularisierung, der Kommunikation und Mediatisierung von Wissen(-schaft) aufmerksam: „Ein populärwissenschaftlicher Vortrag? Nein, der ist immer noch zu lehrreich, er will nur zum Verstande sprechen; die sogenannten populären Vorträge waren in gerechten Mißkredit beim Publikum gekommen. Der Drang zur Belehrung auch in dieser Form war zwar sehr groß gewesen, aber es hatten sich in Deutschland meist Unberufene daran gemacht, ihn zu befriedigen. Diese Unberufenen setzten sich aus zwei diametral gegenüber stehenden Klassen zusammen: [...] die zu wenig Wissenden und die zu viel Wissenden. Die zu viel Wissenden waren unsere gelehrten deutschen Professoren, die meinen, ein Vortrag sei allgemeinverständlich, wenn er nur keine Fachausdrücke enthält. Es gibt in der ganzen Welt keinen schlechteren Vortragenden als den deutschen Gelehrten, und das hat seinen Grund in der vorzüglichen Eigenschaft desselben: der unbedingten Gründlichkeit. Gründlichkeit und Langeweile sind aber zwei nahe Verwandte. Von einer gelehrten Abhandlung, die die Wissenschaft fördern soll, verlangt man ja nicht, daß sie auch interessant zu lesen sei, obgleich dies auch nicht schaden kann.“ (Meyer 1908, 74f.)
Unabhängig der hier kritisierten universitären Vortragsqualität, die als eine Offerte einer in seiner Ehre verletzten Persönlichkeit gelesen werden kann, initiierte die Urania ab 1896 in der Taubenstraße systematisch zusammenhängende Vortragsreihen sowie auch wissenschaftliche Einzelvorträge (vgl. Schwahn 1913, 31f.). Adressiert waren diese nicht nur an ein wissenschaftliches bzw. ein wissenschaftlich interessiertes Publikum, sondern eben auch an Gewerbetreibende, Beamte und Lehrerkreise. Für die Mitglieder des Vereins Deutscher Maschineningenieure gab es Vortragszyklen über die neuesten Fortschritte der Elektrotechnik. Im Wechselverhältnis produzierte die Ausdifferenzierung des Angebots auch die Ausdifferenzierung des Publikums. Die Urania konnte aufgrund ihrer besonderen Stellung sehr schnell auf aktuelle Themen mit entsprechenden Vorträgen reagieren, so richtete sie ihre Aufmerksamkeit um die Jahrhundertwende auf die sehr dynamische Polarforschung, ebenso auf die Vulkankatastrophe von Martinique, das Erdbeben in San Franzisco, auf den Vesuvausbruch 1906 oder den Durchgang der Erde durch den Schweif des Halleyschen Kometen 1910. Diese thematische Offenheit hatte ganz klar eine zielgerichtete Publikumsorientierung: Die Urania suchte nach publikumswirksamen Themen bzw. The-
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men, die sich publikumswirksam aufbereiten ließen, um ihre Finanzierung zu gewährleisten. Dass dies nicht so einfach war, zeigte die 1913 angekündigte Umwandlung der Urania von der Aktiengesellschaft in einen gemeinnützigen Verein. Die thematische und institutionelle Offenheit beförderte zugleich noch ein ganz anderes Problem, das über die Zeitschrift Himmel & Erde zu einem Abgrenzungsdiskurs führte: das Problem der Halbbildung.16 Da die Urania als Institution keine akademischen Einlasshürden aufstellen konnte, wurde sie zu einem beliebten Adressaten von Freizeit-Entdeckern und „Halbgebildeten“, die der Urania, nachdem sie an anderen Stellen abgewiesen wurden, nun ihre Ergüsse, Entdeckungen und Auslassungen zusandten. Urania-Direktor Meyer (1889, 562) sah darin die Ambivalenz zwischen angestoßenen (Selbst-)Bildungsprozessen und dem Umgang mit den daraus resultierenden und nicht immer wirklich zu greifenden Ergebnissen. Gleichwohl blieb er in seinem kritischen Plädoyer positiv gestimmt: „Es muß unumwunden zugestanden werden, daß diese Verwirrung zum grossen Theil die Folge der popularisierenden Bestrebungen unserer Zeit ist, und wir müssen uns vorläufig damit trösten, daß wir diese Plagegeister, welche wir nicht wieder loszuwerden vermögen, selbst heraufbeschworen haben. Wir haben dies aber gewiß nicht frivol gethan, wie der Zauberlehrling, sondern mit dem vollen Bewußtsein, daß es noch viel schlimmer werden würde, wenn gar nichts in dieser Richtung geschähe. Und kein Zweifel ist doch wohl dagegen zu erheben, daß die Menschheit in Zukunft alles Heil von der allgemeineren Verbreitung volleren Wissens, in der volleren Beherrschung der unerschöpflichen Natur durch den Menschen und der damit eng verbundenen volleren Beherrschung des Menschen durch sich selbst zu erwarten hat. Hierdurch allein werden jene Ueberhebungen nachhaltig zu bekämpfen sein.“ (Ebd.)
Da Halbwissen „ja unser aller Schicksal“ sei, könne es nur darum gehen, „in immer größeren Umfange Volks-Bildungsanstalten der zugänglichsten Art“ zu schaffen, um wissenschaftlich Denken zu erlernen, Methoden anzuwenden und um schließlich „die ergänzende Seite der Bildung, die Verfeinerung der Sitten, Mitempfindung und ruhige Selbstbeherrschung“ (ebd., 567) zu fördern und zu festigen. Dass dies im Rückblick nur als utopische
16 Unter anderem auch in der kritischen Auseinandersetzung zeitgenössischer populärwissenschaftlicher Literatur.
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Formulierung gelesen werden kann und mit Blick auf heute in seiner Breitenwirkung nur partiell realisiert ist, scheint als schicksalhafte Ironie der menschlichen Wiederkehr des immer Gleichen.
F AZIT Der Beitrag beschäftigte sich mit der Berliner Urania-Gesellschaft und ihren programmatisch zu verstehenden Popularisierungsstrategien wissenschaftlicher Naturerkenntnisse. Mit der Integration neuer Medien, wie dem Phonographen, der Photographie und der Kinematographie wirkte die Urania progressiv als neuer Inszenierungsraum innerhalb einer urbanen Unterhaltungskultur der wachsenden Metropole Berlin. Gleichzeitig erhöhte sich die Attraktivität des durchaus dichten Angebots über die populären und dekorativen Vorträge des wissenschaftlichen Theaters, der Möglichkeit des Experimentierens für das Publikum und die technische Ausstattung der astronomischen Abteilung. In einer historisch neuen Quantität und Qualität kommunizierte die Urania über die hauseigene Verschränkung und dem Ineinandergreifen der unterschiedlichen Wissens- und Bildungsangebote naturwissenschaftliche Erkenntnisse einem breiten und nicht spezialisierten Publikum unterschiedlichster Provenienz und Milieus: Vor Ort und über die regelmäßig erscheinende Zeitschrift Himmel & Erde. Ihren Nutzen und die sich daraus ableitende Bedeutung für die Wissenschaft und die Popularisierung von Natur-Erkenntnissen stufte die Urania selbst als ganz wesentlich ein, und zwar hier noch einmal zusammenfassend mit den Worten des Direktors Meyer: „durch die lebendige, befruchtende Anregung, welche sie in jene weiten Schichten eines grossen Laienpublikums streuen werden, aus dem oft genug grosse Männer erwachsen sind, deren glühendes Interesse für die Naturforschung und deren durchdringender Erfindungsgeist ihre Keime und erste Nahrung keineswegs auf hohen Akademien gefunden haben. [...] Wenn es neben der vielseitigen Freude an der Naturbetrachtung und der hohen Erquickung, welche die Befriedigung der Wißbegierde auch in den einfachsten Gemüthern erweckt, den Institutionen der Urania gelingen wird, [...] einige Samenkörner auf fruchtbaren Boden auszustreuen, dass sie in selbsständiger Schaffenskraft segenbringend aufkeimen, so ist unsere schönste Aufgabe erfüllt.“ (Meyer 1889, 39)
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Bei jeder Präsentation von Wissen geht es nicht nur um die kommunikative und mediale Konstruktion sowie den epochal verschiedenen Formen von Erfahrung, die damit verknüpft sind, sondern auch um die mit der Konstruktion verbundenen Bereiche der kommunikativen Aneignung, medialer Transformation, subjektiver und kollektiver Erinnerung und sowie Reflexion von Wissen. Die Urania stand vor der Frage, wie sie nicht nur ein potentielles Publikum generieren, sondern dieses auch erreichen konnte. Der Naturalismus des Theaters flankierte die Theatralisierung der Natur, eine ästhetische Präsentationsstrategie ermöglichte eine emotionale Wahrnehmung beim Publikum. Die Erfahrung und die Erinnerung von Wissen lassen sich stark von einer Kontextualisierung, der sinnlichen Wahrnehmung und einer narrativen Struktur leiten. Begreift man das Angebot der Urania additiv lediglich als eines von vielen Unterhaltungsangeboten am Ende des 19. Jahrhunderts, so wird man weder dem Anspruch der Gesellschaft gerecht, noch erfasst man die Tragweite dessen, was sich über die Urania formierte. Die Aufbereitung und Präsentation, sowie die Aneignung naturwissenschaftlichen Wissens – an durchschnittlich 360 Tagen im Jahr – standen in einem neuen Kontext von Konvergenz bereits existenter Medien, von Unterhaltungsformaten und dem selbständigen Experimentieren des Publikums vor Ort. Dieses Zusammenspiel greift nicht nur einen sich formierenden populärkulturellen Bildungsgedanken auf, sondern forciert ihn. Getragen wird dieser Gedanke durch die Anpassung von Inhalten an mediale Eigenlogiken: Naturvorgänge auf der Theaterbühne erfahren eine verdichtende Dramatisierung, akustische Opernübertragungen entkoppeln den ursprünglichen Raum von der Aufführung, optische, elektrische, mechanische Geräte erweitern kausal den Zugang zu einer sich ändernden Welt. Als experimentell verankerter Erfahrungszusammenhang wird ein naturwissenschaftlich geprägter Erlebniszusammenhang gefestigt. Die drei genannten Bereiche – das wissenschaftliche Theater, die Experimentierräume und die Zeitschrift – vereinte die Urania bedeutungsgenerierend an einem Ort, der zugleich über sich selbst hinauswies. Versteht man dies als ein Ensemble spezifischer Medientechniken, so lässt sich daraus schlussfolgern, dass dies sowohl die Wahrnehmung von Zeit und Raum als auch Zeit und Raum an sich verändert. Nicht nur die Schemata des Wissens, der Weltwahrnehmung und der Erfahrung werden durch Medientechniken konfiguriert, sondern sie haben im Anschluss an Marcus S. Kleiner
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(2006, 94. Herv. i. O.) „eine konstitutiv in-formierende Bedeutung“. Das „System der Selbstbelehrung“ stellt heute einen substantiellen Grundstein der Museumspädagogik dar, die Nachhaltigkeit von selbst gewonnenen Erkenntnissen über Experimente ist belegt und unwidersprochen. Die Grenzen der Popularisierung naturwissenschaftlichen Wissens erweitern sich heute mit Kameratechniken, neuen digitalen Bildauflösungen und exponentieller Angebotsdiversivikation. Und so geht es mit Blick auf die hier beschriebenen Kommunikationszusammenhänge um Artikulations- und Partizipationsmöglichkeiten der Urania-Gesellschaft zugleich eben auch um solche der Naturwissenschaft. Der gesellschaftliche Wandel Ende des 19. Jahrhunderts offenbarte sich unter anderem in der breiten Akzeptanz der Urania durch alle Gesellschaftsschichten hindurch und ließ sich nicht nur auf die erfolgreiche Nachfrage der Bildungs- und Unterhaltungsangebote durch das Publikum reduzieren. Die Urania verbuchte ein zusätzliches Sozialprestige durch den Besuch des Kaisers und der kaiserlichen Familie und bedeutender Referenten. Ebenso zeigte sich durch prominente Unterstützer wie Werner von Siemens – als einem der Hauptgeldgeber – eine wirtschaftliche Akzeptanz, die neben der Vergesellschaftung von Wissenschaft auch eine Kommerzialisierung wissenschaftlichen Wissens in den Handlungshorizont einbringt. Deutlich wurde das unter anderem durch die Fassadengestaltung des Urania-Gebäudes in der Taubenstraße, die fünf große Büsten zierte, nämlich Kepler, Kopernikus, Humboldt, Helmholtz und eben: Siemens. Der Stuck des Abbildes verpflichtete. Und wenn es der Urania darum ging, „niemals Hypothetisches und Fragliches als Wirkliches und Thatsächliches der Anschauung darzubieten“ (Meyer, zit. nach Ebel/Lührs, 1988, 23), dann suchte sie in ihrem publikumswirksamen Agieren gleichwohl noch die Akzeptanz der Naturwissenschaft, die sich bis auf wenige Ausnahmen wie Helmholtz oder Du BoisReymond einer solchen Popularisierung gegenüber eher zurückhaltend verhielt. So bleibt die Wahrhaftigkeit oder der „Wille zur Wahrheit“ (Michel Foucault) innerhalb von sich vergesellschaftenden Wissenschaften im System einer industriellen Unterhaltungsproduktion stets auch Referenzpunkt, der ein Bildungsangebot nicht nur ermöglichen, sondern institutionell und damit populär verankern will und kann. Wie sich das über die Zäsur des Ersten Weltkriegs und des wirtschaftlichen Niedergangs der Urania bis zum Verkauf 1928 auswirkte, ist noch ein offenes Kapitel.
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Science Celebrities als Ikonen des Knowledge Gossip Von Heinz Habers Walt Disney-Science zu Richard Dawkins Pop Science-Writing P ATRICIA A. G WOZDZ
P OPULÄR / W ISSENSCHAFT : P ERSPEKTIVEN DER F ORSCHUNG Populäre Wissenschaft, Populärwissenschaft und Wissenschaftspopularisierung – alle drei Begriffe scheinen ein und dasselbe zu bezeichnen: Wissenschaft wird in die Alltagssprache übersetzt. Ich beziehe mich hier auf die Begriffsdefinition von Stäheli (2005, 164), der das ästhetische Konzept des Populären systemtheoretisch erweitert hat. Er spricht vom Populären als einer „Logik des Parasitären“, die sich als Beobachtungsinstanz höheren Grades in andere Funktionssysteme einniste, ihre Autopoeisis beobachte und verändere, indem sie sie spektakularisiere. Dies führe schließlich zu einer Vervielfältigung der parasitär inflationierten Systeme, die sich in eine Pluralität von Subsystemen aufspalteten. Stäheli plädiert daher für eine „Komparatistik des Populären“, die vergleichend die Unterschiedlichkeiten dieser Subsysteme erforscht. Das Populäre sei immer an „systemspezifischen Inklusionsprozessen“ beteiligt, die mit Hilfe der „Hyper-Konnektivität“ (Allgemeinverständlichkeit) und „Affektivität“ (Lösung semantischer Grenzkonflikte) bewirkt werden (ebd., 160ff.). Das Zusammenspiel von „Hyper-Konnektivität“ und „Affektivität“
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stelle einen Bezug zu einem kommunikativen Außen her, das schließlich publikationsunterscheidend sei. Das Populäre sei so ständig an einem „unabschließbaren Universalisierungsprozess beteiligt“, dass es ein Publikum von einem Nicht-Publikum trenne. Zwei Wissenskontinente, zwei unterschiedliche, soziokulturell geprägte Sprachen werden durch das Archipel interdiskursiver Prozesse (vgl. Link 1990, 2005) unter dem Label populär zusammengebracht. Dabei bezeugen gerade Wissenschaftshistoriker und -linguisten, dass auf der Ebene der sprachhistorischen Prozesse zwischen Wissenschaft und Populärwissenschaft ein weitaus komplexeres Verhältnis besteht als zunächst angenommen. In der wissenschaftslinguistischen Fachsprachenforschung ist längst ersichtlich geworden, dass es zwar immer noch Erzähl-, Metaphern- und IchTabus gibt, diese jedoch gerade in Research Reports wenig oder kaum beachtet werden. Stattdessen wird die komplexe Hinterbühne des wissenschaftlichen Betriebs ausgeblendet, während auf der Vorderbühne eine einzige Stimme in der Monologizität ihres Diskurses eine kohärente Argumentation diktiert (vgl. Hilgartner 2000). Diese rhetorische Praxis wurde von Wortführern wie Medawar (1961, 1981) abgelehnt und in Radiobeiträgen und Essays stark kritisiert. Sein Ziel war es, das Scientific Paper wieder an das Modell des Gelehrten-Briefwechsel früherer Jahrhunderte anzunähern, um einen autobiographisch-erzählenden Schreibstil zu generieren, der die Objekte der Forschung mit dem Subjekt des Forschens verbindet. Es sei gerade der neue Stil des Scientific Paper, der als Fälschung wissenschaftlicher Praxis ausgewiesen werden müsste, weil er die sozialen Bedingungen des Forschens ausblende (vgl. Di Trocchio 2006; Latour/Woolgar 1986). „Transferwissenschaft“ (vgl. Antos 2001) und „Verständlichkeitsforschung“ (vgl. Niederhauser) ergründen nun diese Komplexität aus einem transdisziplinären Verbund von Soziologen, Psychologen, Philosophen, Kommunikations-, Medien- und Sprachwissenschaftlern. Es war Fleck (1980, 149f., 152), der als erster Wissenschaftshistoriker darauf hingewiesen hat, dass zwischen Wissenschaft und Populärwissenschaft eine „intrakollektive Abhängigkeit“ besteht, die dem Wissenschaftler von großem Nutzen sein kann. Fleck geht von einer inkludierenden Bewegung des Populären aus, sodass jede sprachliche Mitteilung innerhalb der akademischen Grenzen der (Natur-)Wissenschaften diese bereits popularisiere, weil sie diese ins Exoterische ausdehne: Die Trennung zwischen beiden sprachli-
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chen und sozialen Sphären hat sich erst im Laufe der Institutionsgeschichte der einzelnen Disziplinen und ihrem Verhältnis zur Ausdifferenzierung der einzelnen Fachsprachen vollzogen. Pörksen (1986, 69f.) setzt die Geschichte der Popularisierung der Wissenschaften mit der Übersetzung des Lateinischen in die jeweiligen Nationalsprachen ein. Mit dem Begriff der ‚vulgarisation‘ sei eben jener Prozess gemeint, der die Gelehrtensprache in die Sprache des ‚vulgus‘ übersetzte, das heißt zunächst in die Sprache des jeweiligen Volkes. Daher mag es wohl kaum verwundern, wenn Newton oder Galileo als erste Initiatoren dieser transnationalen Bewegung in der Wissenschaftsgeschichte nicht nur als Diskursväter eines neuen naturwissenschaftlichen Paradigmas auftreten, sondern auch als Akteure der Popularisierung. Die Vulgarisierung bzw. Popularisierung des Gelehrtenlateins in Richtung auf eine nationalsprachlich orientierte Wissenschaftssprache habe sich in langwierigen Ablösungsprozessen vollzogen. Unter „Populär-Stil“ versteht Pörksen daher eine graduelle, durchaus geregelte Abweichung von wissenschaftssprachlichen Normen des Traktats, der Untersuchung und des Scientific Paper, das bereits im 17. Jahrhundert durch die Institution der Royal Society normiert worden ist. Durch die ersten transnationalen Werke vom Lateinischen in die Nationalsprache geriet die nationale Wissenschaftssprache in eine gefährliche Nähe zu diesem „Populär-Stil“, während der Gelehrte sich gleichzeitig durch die Verwendung zweier Codes – Umgangs- und Wissenschaftssprache – als „wissenschaftlicher Schriftsteller“ konstituieren musste. Aus der gespaltenen Rolle des „zwittrigen Gelehrten“ entstünden „schielende Begriffe“ (ebd., 70). Im Laufe des 20. Jahrhunderts tritt jedoch eine verstärkte Professionalisierung der Popularisierung ein, die dazu führt, dass Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander betrachtet werden (Schirrmacher/ Nikolow 2007). Der kritische Blick der Autoren fokussiert auf die „Populärkultur der Naturwissenschaften“, die zu Unrecht als Verfallsgeschichte des Wissens erzählt werde. Eine Wende des monokausalen Denkens könne nur dadurch eingeleitet werden, dass man die Wissenschaftskommunikation von der Öffentlichkeit her denke, weil sich gerade durch die Professionalisierung der Medien die Öffentlichkeit in immer weitere Teilöffentlichkeiten ausdifferenziere (ebd., 22). Während aus der luhmannschen Perspektive die Öffentlichkeit als fiktiver instrumenteller Kommunikationsraum konstruiert werde, könne man aus der bourdieuschen Sichtweise die Öffentlichkeit als
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Projektion von Kräftefeldern und historisch gewordenen Prozess verstehen, bedingt durch eine Konstruktion politischer Felder in ihrer medialisierten Form. Im Zusammenschluss dieser beiden Konzepte wird die Genese der „Wissenschaftspopularisierung“ als eine „Wissenschaft im öffentlichen Raum“ begriffen und daraufhin analysiert. Ausgangspunkt ist die wechselseitige Symbiose von Fachwissenschaft und breiter Öffentlichkeit, wobei jedoch die Wissensvermittlung als top-down-Prozess und die Zielvorgaben als bottom-up angesehen werden. Dementsprechend werden die unterschiedlichen Öffentlichkeiten in folgendes Stufenmodell gegliedert: (1) Fachwissenschaft, (2) Fachkreise außerhalb des engeren Fachgebietes, (3) Fachöffentlichkeit, (4) gebildete/interessierte Öffentlichkeit, (5) gelegentlich interessierte Öffentlichkeit und schließlich (5) die breite Öffentlichkeit. Die Autoren betonen jedoch, dass nur wenige bis gar keine etablierten Forscher dem Ruf der Popularisierung gefolgt sind, da die „Transaktionskosten“ der jeweiligen Kapitalsorten zu groß gewesen seien (Schirrmacher/ Thoms 2007, 97ff.). Den Verlustängsten in Bezug auf die Reputation und den Einfluss im akademischen Feld wollte sich kein Wissenschaftler freiwillig aussetzen. Die Geschichte der Wissenschaftspopularisierung im Deutschland des 20. Jahrhunderts wurde daher v.a. von großen Verlagshäusern und ihren Herausgebern nachhaltig mitbestimmt und geprägt, die bis heute zu den wichtigsten Akteuren des populärwissenschaftlichen Feldes gehören. Diese These lässt sich aus der Geschichte des deutschen Buchhandels ableiten.1 An der Verlagsgeschichte Ullsteins, der sich amerikanische Werbestrategien bei der Vermarktung der populärwissenschaftlichen Bücher zu eigen machte (Füssel 2012, 58ff.), lässt sich diese Entwicklung besonders exemplarisch nachverfolgen. Die Verlagsgeschichte von Julius und Ferdinand Springer, die akademisch-wissenschaftliche Literatur verlegten und zum führenden internationalen Wissenschaftsverlag avancierten, repräsentiert hingegen den Kampf gegen derartige kommerzielle Vermarktungsstrategien, obwohl sie sich mit ihrer Reihe Verständliche Forschung (1927) in
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Ich beziehe mich hier auf die mehrbändige Ausgabe der Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Band 2/Teil 2, Weimarer Republik 1918-1933, herausgegeben im Auftrag der Historischen Kommission von Ernst Fischer und Stephan Füssel, Berlin/New York 2012.
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das Feld der Populärwissenschaft vorwagten (Voges 2012, 246ff.). Bis heute hat der Verlag ein merkwürdig angespanntes Verhältnis zu dem Begriff der Populärwissenschaft oder Popularisierung. Das NaWik, das Nationale Institut für Wissenschaftskommunikation in Karlsruhe, wird als erstes seiner Art in Deutschland von Carsten Könneker, dem Chefredakteur von Spektrum Wissenschaft, geleitet. Könneker ist nicht nur Wissenschaftlicher Direktor, sondern auch Dozent am Institut und vereint darüber hinaus in seiner akademischen Laufbahn als Physiker und Literaturwissenschaftler die Two-Cultures auch als Professor. In einer Diskussionsrunde bei einer Tagung in Karlsruhe zur Wissenschaftskommunikation, Utopien und Technikzukünfte (2012) wurde nach seinem kurzen Vortrag über die neue Aufgabe des „kecken“ und kritischen Wissenschaftsjournalisten gesprochen, wobei der Chefredakteur ausdrücklich betont hat, dass Spektrum Wissenschaft nichts mit dem Wort „populär“ zu tun habe. Spektrum Wissenschaft hätte eben nichts mit populärwissenschaftlichen Zeitschriften wie P.M. History zu tun. Spektrum Wissenschaft stehe für seriöse Wissenschaftsvermittlung. Diese Form der bedachten Rhetorik, die das Wort Pop oder populär strategisch vermeidet, kann als ein Indiz dafür genommen werden, dass dem Begriff der Populärwissenschaft anscheinend immer noch etwas Unseriöses, Verfälschendes und Minderwertiges anhaftet, mit dem man nicht in Berührung kommen will. Das NaWik ist eine Disziplinierungsmacht, ein institutionelles Dispositiv, das Populärwissenschaft als Interdiskurs zum fachwissenschaftlichen Diskurs umfunktionalisiert, um in zwei sozialen Feldern gleichzeitig zu agieren: Das Institut liefert durch seine Ausbildungswege den Verlagen diejenigen Wissenschaftsautoren, die später unter ihrem Dach publizieren und durch ihre Preise (Holzbrinck-Preis für Wissenschaftskommunikation) die eigenen Produkte (Buch, Autoren) weihen, um ihren symbolischen wie ökonomischen Wert zu steigern. Bei diesem Prozess setzt das Dispositiv darauf, alles Populäre in den Verständlichen Wissenschaften durchzustreichen und durch den vermeintlich verständlicheren und neutraleren Begriff der Vermittlung zu ersetzen. Dabei ist gerade dieser sowohl aus kognitivpsychologischer als auch literaturwissenschaftlich-hermeneutischer oder gar narratologischer Perspektive weitaus erklärungsbedürftiger als ihr Namensvetter der Popularisierung. Mittlerweile hat sich jedoch gerade durch die Konkurrenz anderer Medien wie dem Radio, Kino und dem Fernsehen im Gegensatz zum Printme-
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dium einiges geändert. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind naturwissenschaftliche Nerds sogar innerhalb der Popkultur durch neuere USamerikanischen Serien wie The Big Bang Theory (Chuck Lorre 2007) salonfähig. Wissenschaft ist nach der Historisierung und Popularisierung ihrer Wissensbestände tatsächlich Teil der „Popkultur“ geworden. Ich orientiere mich hier an der Begriffsgeschichte und Definition des Populären und des Pop, die Hecken (2009, 52) eingeführt hat. Hecken datiert die moderne Ausformung des Pop auf den Zeitraum zwischen 1955 und 1964 und unterscheidet sie insofern von den kollektiven Ausformungen der Volkskultur, als dass nun von Spezialisten für ein Publikum erdachte Kulturwaren industriell produziert und massenmedial verbreitet werden. Anstatt den Pop-Begriff begriffsgeschichtlich festzuschreiben, plädiert er dafür, den Beginn einer neuen Geschichte des Pop-Begriffs in wissenschaftlichen Zusammenhängen zu entwickeln (ebd., 463). Daher sei es zunächst wichtig, die Begriffe der popular culture und des pop nicht synonym zu verwenden. Der Kulturwissenschaftler müsse sich dessen bewusst sein, dass das Konzept des Pop nicht einfach unter den großen „respektableren Klang der beiden Worte“ popular culture subsumierbar sei. Dies sei eine Tendenz, die besonders von „vielen Cultural Studies-Verfechtern hergestellten Bezug der popular culture zu widerständigen Subkulturen, kleinen alltäglichen Verweigerungen und zu einer möglichen antihegemonialen Koalition der Subalternen“, verteidigt werde (ebd., 461). Pethes (2013, 102) bringt in seinem Essay die Begriffe des Wissens und des Pop zusammen und versucht, gemeinsame Berührungspunkte zwischen Populärwissenschaft und Popkultur auszumachen. Dabei verweist er in der historischen Rückverlängerung der Geschichte des Wissen auf die anatomischen Theater der Aufklärung, die magnetischen Hypnosen und Séancen, die als spekuläre Experimente die Massen anzogen und begeisterten (ebd., 104). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sei es schließlich das Kino gewesen, das der Mad-Scientist-Figur einen neuen „thrill“ gegeben hätte, wie z.B. in der Figur des Dr. Caligari. Das Medium Kino mache durch seine „optische Beeinflussung“ sich selbst zum Medium im spiritistischen Sinne, das man heutzutage als Medienwirkungsforschung zur akademischen Subdisziplin erhoben habe (ebd., 105). Zwischen Wissenschaft und Popkultur seien „spezifische Rückkopplungsschleifen“ zu beobachten, die sich v.a. in Verschwörungstheorien äußern würden. Dennoch scheint Pethes hier einerseits zwischen Wissenschaft und Popkultur, andererseits zwischen Populärwis-
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senschaft und Popkultur unterscheiden zu wollen, obwohl er diese Trennung theoretisch nicht weiter ausführt. Der Zwischenraum bleibt klärungsbedürftig, para- und pseudowissenschaftliche Sujets der Popkultur hätten eben wenig mit popularisierender Vermittlung zu tun. Stattdessen signalisiere gerade die „Popularität von Verschwörungstheorien“, dass sie die „wachsende Kontingenz und Unübersichtlichkeit der Welt durch die Identifikation eines bislang verborgenen Zentrums, das doch noch als Steuerungsinstanz fungiert“, kompensierten (ebd.). In diesem Sinne, so Pethes (ebd., 106), könne man Popkultur als eine „Art Seismograph für strukturelle Defizienzerfahrungen und kollektive Ängste“ begreifen, obwohl gerade explorative, subversive und dysfunktionale Momente hier kaum zur Geltung kommen. Viel entscheidender bei Fernsehproduktion wie der Big Bang Theory oder Breaking Bad sei allerdings, dass Wissenschaftler in der Beraterfunktion der Serien agieren und für die Richtigkeit des verwendeten, kommunizierten und dargestellten Wissens zuständig sind. Pethes (ebd., 109) kommentiert diese Entwicklungen wie folgt: „Die Wissenschaft leiht Hollywood ihre Expertise, während die entsprechend fundierten Blockbuster ein öffentliches Bewusstsein für die Relevanz ihrer Grundlagenforschung schaffen“. Auf diese Weise gewännen die Filme an Realismus und die Wissenschaften an Attraktivität. Ein Indiz für diese Annahme findet man in einer Episode von The Big Bang Theory, in der Sheldon (Jim Parsons) und die Neurowissenschaftlerin Amy (Mayiam Bialik) einer Lesung des Physikers und String-Theoretikers Brian Greene zu seinem neuen Popular Science Book The Hidden Reality (2011) beiwohnen (Chuck Lorre, The Big Bang Theory, 4.20 – The Herb Garden Germination, Reg. Anthony Joseph Rich, Erstausstrahlung 7. April 2011, USA). Aus dem Gespräch zwischen Sheldon und seiner Freundin wird ersichtlich, dass sie diese Lesung als „dummes“ Freizeitangebot wahrnehmen, um von ihrer eigenen naturwissenschaftlich-intellektuellen Tätigkeit zu entspannen. Während der Science Celebrity2 seinen Vortrag hält,
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Dieser Begriff hat sich in der Forschungsliteratur noch nicht durchgesetzt. Dennoch kursieren verschiedene Variationen dieses Begriffs im Meme-Pool des World Wide Web, die es hier zu erwähnen gilt, zumal es bereits einen Wikipedia-Eintrag gibt, der auf eine neue gebräuchliche Begriffskonstruktion für den naturwissenschaftlichen Medienintellektuellen hinweist: (http://en.wikipedia. org/wiki/Scientific_celebrity). Pethes (2013, 108) hält fest, dass diese Begriffs-
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kommentiert Sheldon abfällig die Strategien des Popularisierens eines Physikers, der sich lieber mit etwas Nützlicherem beschäftigen sollte (Sheldon: „The way we hear how he dums down and vulgarizes for the crowd. You may actually believe you are in a comedy club“ – The Herb Garden Germiantion 4.20, 00:35). Nachdem Greene dem Publikum erklärt, dass sein Buch keinerlei mathematisch-physikalische Vorkenntnisse voraussetze und es trotzdem unglaublich neue Erkenntnisse liefere, die jeder verstehen könne, entgegnet Sheldon im Flüsterton zu seiner Nachbarin: „hysterical“. Popularisieren wird mit hysterischem Wahnsinn des Wissenschaftlers verglichen. Schließlich hält es Sheldon nicht mehr aus, dieser Hysterie des Popularisierens zuzuhören. Er erhebt sich von seinem Stuhl und stellt eine Frage: Sheldon: „Dr. Greene, question?“ Greene: „Yes?“ Sheldon: „You’ve dedicated your life’s work educating the general public about complex scientific ideas.“ Greene: „Yes, in part.“ Sheldon: „Have you ever considered to try something useful? Perhaps reading to the Alderley?“ Greene: „Excuse me?“ Sheldon: „I mean not your books, something they might enjoy. (Pause) I kid of course, I’m big fan!“ (The Herb Garden Germination 4.20, 1:45-2:15)
In diesem kurzen Einspieler, mit dem die Episode einsetzt, werden gleich mehrere Ebenen zwischen Wissenschaft, Populärwissenschaft und Popkultur thematisiert und auf einer übergeordneten Ebene selbstreflexiv zusammengeführt. Man könnte hier von einer selbstreferentiellen Bezugnahme sprechen und zwar in dem Sinne, als dass in einem populären Fernsehformat, das durch den Zusammenschnitt der Subkultur von sexuell unbefriedigten, Comic lesenden, Computer zockenden Nerds und Dialogen, die auf naturwissenschaftliche Sachverhalte wie die Physik, die Neuro- und die Bio-
schöpfungen als Indiz dafür genommen werden können, dass zwar nicht die Wissenschaft als solches, wohl aber Wissenschaftler als „Pop-Phänomen“ mit „Starstatus“ wie der Physiker Stephen Hawking betrachtet werden können.
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wissenschaften verweisen, Populärwissenschaft und ihre Akteure einer vermeintlichen Kritik unterzogen werden. Mehr noch: Populärwissenschaft im Medium des Populären wird von popkulturellen Elementen solange zersetzt, folglich ent-popularisiert, bis das Lachen des Publikums auf den wahren Kern seiner rezeptionsästhetischen Wirkung stößt. Worüber lacht das Publikum? Das Lachen kann hier nur auf etwas referieren, das sich außerhalb dieser Szene abspielt, im Genre-Gedächtnis des Zuschauers: Wissenschaft als Gegenstand einer popularisierenden Vermittlung ist gesellschaftlich betrachtet nutzlos, eine Praxis öffentlichen Gelächters. Andererseits pervertiert das Lachen in eine selbstkritische Distanzierung zum eigenen Fernsehgenuss, die man beim Konsumieren der Serie erfährt, denn auch sie arrangiert sich über Zitate aus der Physik in passenden und unpassenden Kontexten, die zu Lacheffekten führen. Sheldon wird in vielen Situationen selbst zum Popularisierer von Wissen, und zwar nicht nur physikalischen Wissens, sondern zum Popularisierer von Popkultur (Comics, Computerspiele), wobei er sich beim Popularisieren über die Unkenntnis und die Ignoranz des (meist weiblichen) Laien lustig macht. Dies zeige, so folgert Pethes (2013, 110) in seinem kurzen Kommentar, dass die Physik alleine keinesfalls lustig sei, sondern des situativen Rahmens bedürfe, „den die Show für sie kreiert, um ‚pop‘ zu werden“. Daher könne die Show auf die Vermittlung physikalischer Inhalte nicht reduziert werden, genauso wie die Inhalte nicht bloß als Vermittlungsinstanz des Rahmens interpretiert werden dürften. Tatsächlich sieht er in der Serie eine „Komplexitätssteigerung“ am Werk, „indem sie komplexes Wissen aus seinem standardisierten Kommunikationszusammenhang herauslösen und in einen anderen [...] Kontext einspeisen“ (ebd., 111). Pethes verwendet hier den Ausdruck des ‚komplexen Wissens‘ in Bezug auf die Physik, ich würde jedoch behaupten, die Serie zielt gerade darauf ab, Wissenschaft als eine alltägliche Lebenspraxis zu begreifen, in die man gleichsam hineingeboren, d.h. sozialisiert werden muss, um in ihr überleben zu können, während die alltägliche Lebenspraxis verwissenschaftlicht wird, um auf die Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen hinzuweisen. ‚Komplexität‘ emergiert in jenen Dialogen, in denen Alltags- und Wissenschaftssprache in ein friktionales Verhältnis zueinander treten und ihre wechselseitige Unübersetzbarkeit im Effekt des Lachens in Szene setzen. In der eben beschriebenen Szene mit Brian Greene wird zudem deutlich, dass Wissenschaftler, die
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nicht mehr im akademischen Feld tätig sind, sondern sich im Feld der kulturellen Massenproduktion bewegen, einer double-bind Situation ausgesetzt sind. Sie werden zu medial inszenierten Figuren einer offenen, inkludierenden Wissenschaft, die der Maxime huldigt: Wissenschaft um der Gesellschaft willen, während auf der anderen Seite Vertreter der geschlossenen, exkludierenden Wissenschaft, also Akteure, die als praktizierende Wissenschaftler tätig sind, davon ausgehen, dass diese Öffnung nur durch starke Reglementierungsmechanismen gewährleistet werden kann. Dieser Streit zwischen den Zwei-Kulturen innerhalb der Naturwissenschaften wird seit den 1920er Jahren durch die Ausdifferenzierung, Institutionalisierung und Professionalisierung des Wissenschaftsjournalismus v.a. zunächst in England und den USA verstärkt und zum eigentlichen Drehund Angelpunkt der Debatten um die offenen Grenzen des wissenschaftlich-akademischen Feldes gemacht. Denn spätestens mit der Ausbildung professioneller Wissenschaftsjournalisten, die sich einzig und allein auf ihre Aufgabe der Science News konzentrieren und ihre Schreibskills trainieren konnten, positionierten sie sich im Feld der kulturellen Massenproduktion des Zeitschriften- und Buchmarktes und traten in Konkurrenz zu den akademischen Popularisieren, die vielleicht eine größere autoritäre Sprechwirksamkeit hatten, legitimiert durch ihr wissenschaftliches oder institutionelles Kapital, dennoch auf eins verzichten mussten: die Zeit, sich ausschließlich der Popularisierung und damit der Ausbildung besonderer Schreibtechniken der Verständlichen Wissenschaft zu widmen. Auf den Rückzug der praktizierenden Wissenschaftler aus der Öffentlichkeit um 1900 wird von verschiedenen Wissenschaftshistorikern hingewiesen.3 Je mehr die akademischen Institutionen, die Populärwissenschaft innerhalb ih-
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Siehe hierzu Sarasin (2001) und Fox (2012) für Beobachtungen des Rückzugs in Frankreich, Bowler (2009) dokumentiert ein ähnliches Rückzugsverhalten für Großbritannien, Burnham (1987) für die USA und Daum (1998) für Deutschland. Neuere historische Arbeiten zur Wissenschaftspopularisierung im 20. Jahrhundert belegen allerdings, dass es sich nicht um einen Rückzug handelte, sondern um eine Latenzphase der medialen Neuorientierung, die durch das Aufkommen des Geschichtenerzählens und der Berichterstattung im Radio und dem neuen Medium des Films eine strukturelle Umorientierung verlangte, um sich vom Leitmedium des Buch- und Zeitschriftendrucks zu lösen und neue Formen der Popularisierung zu mobilisieren (vgl. LaFollette 2008, 2013).
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res Diskurses und Feldes duldeten, große, prestigeträchtige Lehrstühle errichteten und eine wissenschaftspolitische Agenda schrieben, desto mehr Wissenschaftler wagten sich in das weite Feld der kulturellen Massenproduktion vor. Es entstand eine neue Avantgarde von Popularisatoren. Der „Popular Science Boom“ (Broks 2006, 89f.) der neueren Wissenschaftsautoren wird mit Stephen Hawkins A Brief History of Time (1988) eingeleitet, obwohl bereits zur selben Zeit ein anderer Wissenschaftler mit dem Physiker gleichauf war und ihn sogar übertraf.4 Die Rede ist von dem Evolutionsbiologen Richard Dawkins.
T HE S CIENTIST AS C ELEBRITY : R ICHARD D AWKINS UND DAS G ENRE DES P OPULAR S CIENCE W RITING In der oben zitierten Szene aus The Big Bang Theory gibt es zwischen Sheldon und Amy gleich mehrere Anspielungen auf den Diskurs der Populärwissenschaft und ihre Akteure. Amy berichtet Sheldon von einer möglichen Trennung ihrer beiden Freunde. Sheldon möchte diesen „gossip“ gar nicht erst hören. Amy betont jedoch, dass „gossip“ ein wesentlicher Faktor der Evolution des menschlichen Gehirns sei und verweist dabei auf den Anthropologen und Evolutionsbiologen Robin Dunbar, der in seinem Popular Science Book Grooming, Gossip and the Evolution of Language (1996) diese These aufgestellt hat. Was sagt uns diese Szene? Eine mögliche Antwort wäre: Science about Gossip makes Gossip as Science! Folglich könnte man an dieser Stelle die Vermutung aufstellen, dass naturwissenschaftliches Wissen zum Gossip Talk geworden ist, zum Knowledge Gossip. Im Folgenden sollen zwei Akteure des naturwissenschaftlich-akademischen Feldes näher beleuchtet werden, die sich zu Ikonen dieses Genres emporgeschrieben bzw. getalked haben, wobei ebenso ein kurzer Vergleich der beiden Medien Film/Fernsehen und Printmedium angestrebt werden soll, da gerade die Wahl des Mediums die Botschaft des Popularisierens bestimmt.
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Richard Dawkins Erstpublikation Selfish Gene (1976) erreichte von 1990 bis 2002 einen Citation Index von 1696 und das nicht nur in dem Bereich Popular Science, sondern als wissenschaftstheoretische Arbeit in der Evolutionary Psychology (Cassidy 2005, 130). Im Vergleich dazu erreichte Stephen Hawkings Bestseller A Brief History of Time nur einen Index von 296.
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Bei dem Evolutionsbiologen Richard Dawkins ist das soziale Shifting zwischen dem akademischen Feld und dem Feld der kulturellen Massenproduktion besonders gut zu beobachten. Das Shifting lässt sich als eines zwischen Rückzug und Expansion beschreiben, beruhend auf dem niedrigen „Schwundrisiko“ seiner Kapitalsorte und der damit zusammenhängenden Etablierung als „Diskursivitätsbegründer“ (Foucault 2003) im Subfeld der erweiterten, akademischen Wissensproduktion (vgl. Gwozdz 2016). Der Ethologe rangierte vor nicht allzu langer Zeit auf dem dritten Platz der Weltrangliste der Intellektuellen.5 Immer noch gehört der „Medienintellektuelle“ (vgl. Möbius 2010, 39, 42) zu den sichtbarsten und vermeintlich erfolgreichsten Wissenschaftsautoren von John Brockmans „Third Culture“-Elite (vgl. Gwozdz 2016). Mittlerweile fügt sich das Bild eines SelfMade-Science-Promi, der durch seine erst kürzlich erschienene Autobiographie An Appetite for Wonder. The Making of a Scientist (Dawkins 2013) sein Lebenswerk als Populärwissenschaftler (vorläufig) abgeschlossen hat. Dawkins startete seine wissenschaftliche Karriere im akademischen Feld von Oxbridge unter seinem damaligen Doktorvater und dem späteren Nobelpreisträger für Medizin und Physiologie Niko Tinbergen. Tinbergen, Freund von Konrad Lorenz und Mitbegründer der Ethologie als eigenständige Disziplin innerhalb der Biologie, hatte damit gleich zwei unterschiedliche Schüler unter seine Fittiche genommen: Dawkins auf der einen Seite und Desmond Morris auf der anderen.6 Es war zunächst auch letzterer, der
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Das globale Ranking of Public Intellectuals initiiert vom Prospect Magazine in Großbritannien und durchgeführt in Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Polit-Magazin Foreign Policy verzeichnet Richard Dawkins 2005 auf Platz 3 der Gesamtliste und 2013 auf Platz 1. Von 2005 bis 2013 rangierte er immer unter den Top 20 der Public Intellectuals.
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Mit Desmond Morris und Konrad Lorenz setzt in den 1960er Jahren das Ende der Naturgeschichte als wissenschaftliche Disziplin ein und der populäre Aufstieg des ethologischen Genres der Tiergeschichten. Edward O. Wilson beschreibt in seinem disziplinenbegründenden Lehrbuch diese „popular books“ als Werke, die in einem großartigen Stil geschrieben worden seien und voller Vitalität steckten („great style and vigor“) (Wilson 1976, 551). Konrad Lorenz Instinkt- und Triebbegriff wird in seine Lehrbuchterminologie aufgenommen. Niko Tinbergen hingegen distanzierte sich von Lorenz und Morris, da ihre Bücher zu spekulativ gewesen seien (Burkhardt Jr. 2005, 440). Tinbergen verwies zwar in
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als erster die schützende Sphäre des universitären Feldes verließ, um sich sowohl im Feld der surrealistischen Künstler Großbritanniens als auch in jenem der kulturellen Massenproduktion mit Büchern und unterschiedlichen Fernsehformaten über die Tierwelt zu positionieren. Gleichzeitig veröffentlichte Morris Unmengen an wissenschaftlichen Aufsätzen in akademischen Fachjournalen. Richard Dawkins hingegen hatte es als Nachzügler weitaus schwerer. Noch bevor er genug symbolisches Kapital als seriöser Forscher in Form von Scientific Papern veröffentlichen konnte, begann er damit, spekulative Ideen über den theoretischen Zusammenschluss von Genetik und biologischer Verhaltensforschung in die Wege zu leiten (s. Dawkins 1976; Brockmann/Grafen/Dawkins 1979; Dawkins/Brockmann 1980). Während Dawkins an seinem „Klassiker“ The Selfish Gene (1976) schrieb, veröffentlichte der Zoologe und Ameisenforscher Edward O. Wilson auf der anderen Seite des Atlantiks in Harvard sein Lehrbuch Sociobiology (1975), in dem er nicht nur die Entstehung einer neuen Disziplin ausrief, sondern eine Metatheorie des Egoistischen Gens begründen wollte, die die Natural Sciences mit den Humanities und Social Science verbinden sollte. Dawkins verweist auf Wilson, distanziert sich jedoch im gleichen Atemzug von seiner spekulativen Idee des Selfish Gene (Segerstrale 2001). Während Wilson eine neue Disziplin begründen wollte, die sich von der Tinbergen-Lorenz-Schule unterschied, ging es Dawkins um weitaus andere Ambitionen. Festzuhalten ist, dass The Selfish Gene mit einem internationalen Publikationsradius von knapp 28 übersetzten Sprachen, mehreren Auflagen bis zur Classical Edition und einer Festschrift für Richard Dawkins
seinen Vorlesungen auf Lorenz und Morris, dennoch mahnte er seine Studenten, Erklärungshypothesen des tierischen Verhaltens auf menschliche Verhaltensweisen zu übertragen. Lorenz korrigierte seinen Kollegen, da er mit Desmond Morris nicht verwechselt werden wollte (ebd., 441). In Sachen öffentlicher Wissenschaft und Popularisierung eigener Theorien hatten Lorenz und Tinbergen unterschiedliche Vorstellungen, dennoch blieben sie durch eine sehr lange und intensive Freundschaft über ihre Disziplin hinaus miteinander verbunden. Für ihre Forschung erhielten sie 1973 zusammen mit Karl von Frisch den Nobelpreis für Medizin und Physiologie. Mit dieser Preisverleihung ging eine Ära zu Ende, denn ein ähnlicher Höhepunkt dieser unscharfen und jungen Disziplin sollte nie wieder erreicht werden (ebd., 446).
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die Publikationslandschaft anderer Popular Science Books – außer vielleicht Cosmos von Carl Sagan und A Brief History of Time von Stephen Hawking – überragt.7 Und das nicht nur im Feld kultureller Massenproduktion. Dawkins eigentümlicher, metaphorischer Sprachgebrauch des Selfish Gene wurde für fachsprachliche Zwecke verwendet und wird bis heute in Lehrbüchern zur Verhaltensbiologie herangezogen, um Verhaltensmuster zu beschreiben und mögliche Erklärungshypothesen zu entwickeln. The Selfish Gene galt in Harvard sogar als neuartiges Lehrbuch, als Weiterführung von Wilsons Sociobiology, obwohl sich in späteren Debatten Dawkins immer weiter von der genetisch-deterministischen Weltsicht der Biologen in Harvard distanzierte (Segerstrale 2001, 80ff.). Das Buch war zunächst nicht in dem Sinne populär, als dass es mit einem Mal zum Verkaufsschlager avancierte. Es entwickelte sich eher stetig und beharrlich zum Longseller. Dawkins selbst verwendet nicht den Begriff popular, um sein Buch zu schreiben, sondern verweist in seinem Vorwort zur ersten Auflage von 1976, dass es zum Genre der „science fiction“ gehöre. Folglich ordnet er das Genre des Popular Science Writing einem Genre der Populärkultur zu. Was er im Folgenden präsentiere, seien „entertaining speculations“ und zugleich gibt er zu bedenken, dass die Inhalte, die dort präsentiert werden, „stranger than fiction“ seien. Sein Buch lese sich zwar wie Science Fiction, dennoch sei es nichts Fiktives, das er dort verhandle, sondern „truth“. Für die wissenschaftlichen Wahrheiten, die ihn in Erstaunen versetzen, steht er mit seinem eigenen Namen ein: „We are survival machines – robot vehicles blindly programmed to preserve the selfish molecules known as genes. This is a truth which still fills me with astonishment. Though I have known it for years, I never seem to get fully used to it. One of my
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Die Festschrift How a scientist changed the way we think (2006) erschien in der Oxford University Press und wurde von seinen Schülern Alan Grafen und Mark Ridley herausgegeben. Unterschiedliche Akteure aus den Naturwissenschaften, der Philosophie und der Literatur feiern den Evolutionsbiologen als Ausnahmedenker. Er wird als großartiger Interpret naturwissenschaftlichen Denkens gelobt. Dennoch seien seine Texte keine Form der Vulgarisation. Seine Texte begründeten vielmehr eine neue Wissenschaft („genuine creator of new science“) (ebd., 30).
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hopes is that I may have some success in astonishing others.“ (Dawkins 2006, Preface)
Die starke Emotionalisierung des Wissensstoffes soll dem Leser suggerieren, dass wissenschaftliches Forschen die intellektuelle Neugier befriedigt und Lust am Wissen des Forschers evoziert. Die impliziten Leser, die vom Autor konstruiert werden, verteilen sich auf drei unterschiedliche Zielgruppen: den „layman“, den „expert“ und den „student“. Mit diesen drei Gruppen gehen drei unterschiedliche Intentionen einher: Für den „layman“ wird Biologie in eine „mystery story“ verwandelt, mit der Erklärung „for a mystery story is exactly what biology is“ (ebd.); für den Kollegen und fachwissenschaftlichen Experten, sollen die „entertaining speculations“ als Ideengeber für neue Hypothesen dienen, „a new way of looking at familiar ideas perhaps; even stimulation of new ideas of his own“; für den Studenten schließlich solle es als didaktisches Lehrbuch dienen, um experimentelle Fachliteratur und ihren Jargon leichter nachvollziehen zu können. Anders beispielsweise als das naturwissenschaftliche Sachbuch in Deutschland wird das Popular Science Writing als Einführungsliteratur in das Denken der Natural Sciences gebraucht und zum Teil als solches rezipiert. Francis Crick (1998) verwendete den Begriff „selfish gene“ als theorieleitendes Framework seiner Neurobiologie.8 In der Fachzeitschrift Jour-
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Francis Crick zitiert in seiner eigenen autobiographischen Stellungnahme zur Entdeckung der DNA mit dem Titel What Mad Pursuit. A Personal View of Scientific Discovery (1988), dass Richard Dawkins Buch zum festen LehrbuchKanon der Biologie zählen müsste, da dort die evolutionsbiologische Orthodoxie festgehalten worden sei. Er wird als großer Wissenschaftsautor gerühmt. Crick wird zum Sprachrohr und Popularisierer von Dawkins und überträgt seine Metaphorik auf eigene molekularbiologische Spekulationen, indem er die sogenannte „Junk DNA“, jener Teilabschnitt des Genoms, der keinerlei Informationen codiert, als „Selfish DNA“ bezeichnet (ebd., 147). Des Weiteren ist festzuhalten, dass selbst die akademischen Verlagshäuser vor der Publikation einer solchen unscharfen Semantik in der theoretischen Biologie nicht zurückschrecken. So erschien in der Ko-Autorschaft von Robert Trivers und Austin Burts das Lehrbuch Genes in Conflict. The Biology of Selfish Genetic Elements (2006) in der Harvard University Press, sodass auch hier der Diskursivitätsbegründung von Dawkins weiterhin Vorschub geleistet wird.
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nal of Biology and Philosophy gehört er zum festen Kanon der biophilosophischen Terminologie (s. Laland 2004; Dawkins 2004; Noble 2006, 2008). Wenn man diese Prozesse im Kontext der Disziplingeschichte der Biologie als Experimentalwissenschaft im 20. Jahrhundert verortet, wird überdies sehr schnell ersichtlich, dass der fachsprachliche Diskurs sehr viele semantische Freiräume bot, in denen sich unterschiedliche fachsprachliche Soziobzw. Idiolekte der einzelnen Schulen und Subdisziplinen einnisten konnten, um sich inflationär auszubreiten (vgl. Rheinberger 2006). Auf diese Weise konnte sich eine Disziplin wie die Evolutionary Psychology in den 1990er Jahren ihren Weg durch das interdisziplinäre Gitter der Biologie und Psychologie bahnen (vgl. Cassidy 2005; Linke 2007; Jones/Elcock 2001).9 Bei der Beschreibung und Erklärung genotypischer Effekte auf phänotypische Erscheinungsweisen – ob nun rein körperlicher oder verhaltenspsychologischer Natur – ging Dawkins über das bloß Beobachtbare hinaus, indem er fragiles Wissen der Molekularbiologie mit ethologischen Beschreibungsmustern, sprich den argumentativen Erzählweisen tierischen Verhaltens, das über physiologische Merkmale beobachtbar ist, kombiniert. Während die Verhaltensbiologen aus Harvard eine multifaktorale Beziehung zwischen Umwelt und Organismus verhandelten (Ökologie, Biogeographie etc.), fokussierte man sich in Oxbridge auf die kleinsten Elemente der Vererbung (Segerstrale ebd., 155). Dawkins war letzterer verpflichtet und richtete seine Theorie dementsprechend auch auf diese hin aus. Die Problematik seines Sprachgebrauchs liegt allerdings darin, dass er den Begriff des „selfish gene“ zwar seinen Vorgängern Georges Williams und Edward Wilson (vgl. Williams 1966; vgl. Wilson 1976) entlehnt, ihn aber vollständig resemantisiert, um sich besser von ihnen unterscheiden zu können und auf dem Markt der Ideen sichtbarer zu werden. Entscheidend ist, dass er den Begriff nicht als Äquivalent einer biochemischen bzw. biophysikalischen Entität verwendet, das heißt sein Begriff referiert nicht auf die DNA, sondern auf eine philosophisch-spekulative Entität, die er als „replicator“ bezeichnet, die kleinste, unteilbare Einheit, die Träger phänotypischer Information ist.
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Eine ausführliche Analyse des populären Subfeldes der Akteure der Evolutionary Psychology (David Buss, Robert Wright, Steven Pinker) innerhalb der akademischen Wissensproduktion findet sich auch bei Gwozdz (2016, 570-607).
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Seine Überlegungen stützt er auf die damalige Fachsprache seiner Zeit, die in den Fachjournalen diskutiert worden ist (s. zu den einzelnen nationalen epistemischen Stilen in der Biologie Sapp 1987). Weil aber noch nichts definiert war und Handbücher der Molekularbiologie erst noch im Entstehen waren, nutzte Dawkins das weite Feld interdiskursiver Relationen zwischen den einzelnen Soziolekten der scientific community, um sein eigenes Begriffsgebäude zu konstruieren. Die Anthropomorphisierung der Sprache der Gene, die „gene’s eye view of nature“, und der Vergleich zwischen menschlichem und tierischem Verhalten solle nicht dazu motivieren, moralische Werturteile auf Basis biologischer Prozesse zu fällen. Diese Vergleiche dienten nur der Anschaulichkeit der „biology of selfishness and altruism“, die aus der Perspektive der kalkulierenden Gene zu betrachten sei, wenn man Erklärungshypothesen dieses Verhaltens anstrebe. In seinen unklaren Definitionsversuchen beschreibt er das „selfish gene“ als ein Molekül, das zwar der DNA verwandt sei („modern descendants“), sich jedoch von diesem unterscheide (Dawkins 2006, 16). Das „selfish gene“ wird als „replicator“ umschrieben, dessen einziges Ziel es ist, sich zu vermehren, das heißt kopiert zu werden. Seine Überlebensfähigkeit steigert er durch den schützenden Organismus – egal ob Tier, Mensch, Pflanze, Virus –, die „survival machines“ (ebd., 20). Erst in den späteren Kapiteln identifiziert er seinen „replicator“ mit der DNA, die eine „genetic unit“ enthält, die kopiertreu („copying-fidelity“) und langlebig („longevity“) ist. Obwohl er sich hier an der Fachliteratur von Seymore Benzer (vgl. Benzer 1957) orientiert und die Problematik bei den Transkriptionsvorgängen bespricht, will er über das bloß Feststellbare der Genetik hinaus. Er definiert: „The gene is the basic unit of selfishness“ (Dawkins ebd., 36), wobei der Egoismus hier nicht auf eine Verhaltensstrategie des Phänotyps referiert – was tatsächlich durch diese Schreibweise den Lesern suggeriert wird –, sondern auf die Strategie der Gene: Es ist der Egoismus der Gene, der bestimmte Verhaltensstrategien wahrscheinlicher macht als andere. „The survival of the fittest“ referiert daher nicht nur auf die Fortpflanzungsfähigkeit einer Spezies, sondern auf die Stabilität bestimmter Verhaltensweisen, die sich durchsetzen und andere verdrängen. Daher hätte auch der Titel des Buches lauten können: „defining a gene as a little bit of chromosome which potentially lasts for many generations“ (ebd., 33). Treue, Langlebigkeit und Fortpflanzungsfähigkeit sind die drei Kriterien zur Auswahl der Slots auf dem Chromosom, um die unterschiedliche, egoistische
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„gene units“ konkurrierend und kooperierend kämpfen. Resultat dieses Wettbewerbs sind „evolutionary stable strategies“, ein Begriff von John Maynard-Smith, auf den Dawkins zurückgreift, um sich in das bereits bestehende Denkkollektiv der Oxbridge Evolutionsbiologen einzuschreiben und es entscheidend mitzubestimmen. Der gemeinsame Soziolekt orientiert sich an der Gleichschaltung von ökonomischen und biologischen Prozessen – ein Erbe der Diskursivitätsbegründer des 19. Jahrhunderts (Darwin, Spencer) – der folgendermaßen zusammengefasst werden kann: Die Natur wird zum ökologischen Staatshaushalt, die Organismen zu konkurrierenden und kooperierenden Unternehmern, die beruhend auf dem intuitiv mathematischen Kalkül ihrer Gene unter einer Vielzahl von alternativen Verhaltensstrategien die stabilste auswählen, um ihr Überleben zu sichern. Die Selektion bezieht sich dabei nicht auf das einzelne Individuum oder die Gruppe.10 Die Einheit der Selektion bleibt die Ebene der „genetic units“. In seinem Nachfolgeprojekt The Extended Phenotype (1989) zieht er sich aus dem Geschäft der Popularisierung zurück und permutiert zum strengen Selbstkritiker seiner anthropomorphischen Prosa. Der Rezipientenkreis schrumpft auf die eingeweihte Expertenkultur der Biologen, denen das Wissen, das präsentiert wird, nicht fremd ist. Seine inszenierten „TeilAutorfiguren“ (vgl. hierzu Steiner 2009) treten als Rechtfertigungs- und Legitimationsinstanzen in der Stimme eines verantwortungsbewussten Wissenschaftlers auf, um sich für die Missverständnisse, die sein erstes Buch hervorgerufen hat, zu entschuldigen. Die Interpretationsspielräume seien zu groß gewesen, weil er seine Analogien nicht genügend erklärt habe. Dem wolle er nun mit seinem zweiten Buch abhelfen. Als Sprachrohr seines Denkkollektivs verweist er auf zahlreiche neue Studien in der Feldforschung der Verhaltensbiologen und versucht durch eine kritische Lektüre von Edward O. Wilsons preisgekröntem Essay On Human Nature, den genetischen Determinismus der Harvard-Schule auszuhebeln. Eine linearkausale Wirkungsrelation von Genen und Verhaltensmustern anzunehmen,
10 Der Kontrahent in diesem Streit der evolutionsbiologischen Theorien ist Stephen Jay Gould, der in seinem tausendseitigen Werk Structure of Evolutionary Theory (2002) die Geschichte dieser Debatten als Wissenschaftshistoriker, -kritiker und -philosoph thematisiert und sich gegen das eingleisige Modell von Dawkins zur Wehr setzt (vgl. auch Sterelny 2007).
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wird als falsch ausgewiesen. Man müsse stattdessen eine multifaktorale Wechselbeziehung voraussetzen (Dawkins 1999, 13). Trotz der vorgebrachten Kritik an dem eigenen Erklärungsmodell und demjenigen der Ethologen aus Harvard, die er nun in einer entschärften Rhetorik des anthropomorphen Gens präsentiert und sich daher mehr auf Fallbeispiele aus der Feldforschung konzentriert als auf theoretische Spekulationen hypothetischer Natur, hält Dawkins fest, dass es keine Theorie gebe, die mit seiner wettbewerbsfähig sei. Je populärer die Themen der Verhaltensbiologie durch die sogenannten „TV ecologists“ in den BBC-Reportagen werden – Dawkins verwendet hier den Begriff der „pop ecology“ –, desto stärker müssten die Forscher des akademischen Feldes gegen die „poetry of webs and networks“ (ebd., 237) angehen, denn sie vermittelten ein falsches Bild der ökologischen Wechselbeziehungen. Das Popular Science Writing wird hier also als Waffe im Kampf gegen eine zu starke Popularisierung biologischen Wissens im Fernsehen genutzt. Die Gutenberg-Galaxis schlägt zurück gegen die magischen Kanäle des neuen Mediums. Ein Proliferationseffekt tritt ein: das ältere Popularisierungsmedium gewinnt an Ansehen und kann sich aufgrund der neuen medialen Popularisierungsformate stärker von ihnen unterscheiden und profilieren. Das Buch wird zur ultimativen kritischen Instanz für die Pop Science im Fernsehen. Mittlerweile ist der erste Kanonisierungsprozess der neueren Popular Science Books abgeschlossen und Richard Dawkins hat sich als Leitfigur dieses Prozesses zum Ende seiner akademischen Karriere als Lehrstuhlinhaber für Public Understanding of Science (1995-2008) mit der Anthologie The Oxford Book of Popular Science Writing (2008) installiert.11 In seinem Vorwort preist er Charles Simonyi, nach dem der Lehr-
11 Nach Climbing Mount Improbable (1996) und Unweaving the Rainbow (1998), das erste Popuar Science Book, mit dem er sich explizit in die Third Culture von John Brockman einschreibt (Dawkins 1998, xiii), begann er 2003 mit seiner erschienenen Anthologie A Devil’s Chaplain: Selected Writings, Reflections on Hope, Lies, Science and Love eine Kanonisierung seines eigenen Werks in Gang zu setzen und finalisierte das Kanonisierungsprojekt rechtzeitig zur Emeritierung mit der Anthologie The Oxford Book of Modern Science Writing (2008), das er Charles Simonyi, dem Gründer des Lehrstuhls für PUSH und seinem akademischen Gönner, widmete. Die Heiligsprechung, die Dawkins von Si-
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stuhl in Oxford benannt wurde, als „Playboy of the Scientific World“ (Dawkins 2008, xviii) und erschafft damit gleichzeitig jene hybride Wissenschaftlerfigur, die mit den Mad Scientists aus der Science Fiction Literatur nichts mehr gemein hat: den Science Celebrity, dessen Popularität an der medialen Sichtbarkeit seines Erfolges gemessen wird. Alles, was nun in gedruckter Form durch die selektierenden und synthetisierenden Hände des Evolutionsbiologen geht, wird heiliggesprochen. Die kommerziell erfolgreichsten Autoren installieren durch den symbolischen Wert ihres Eigennamens eigene Konsekrationsinstanzen, um weitere Nachfolger in das Pantheon der Popular Science Classics aufzunehmen. Der Carl Sagan Award und der Richard Dawkins Award sind hierfür beispielhaft, obschon nicht die einzigen, die ihren Auserwählten internationale Aufmerksamkeit garantieren.12 Mit der Preisverleihungsstruktur, den sozialen Akten der akademischen (Chairman) und außer-akademischen
monyi erfahren hat, wird nun durch die Hegemonie eines Popular Science Kanons erwidert, nachdem Dawkins’ Werk durch verschiedene Konsekrationsinstanzen (Preise) honoriert wurde (u.a. der Michael Faraday Award der Royal Society sowie die Silbermedaille der Zoological Society of London, den Nakayama Award for Achievement in Human Science, den International Cosmos Prize und den Kistler Prize). Zuletzt wurde er 2007 für The God Delusion (2007) mit dem Galaxy British Book Award ausgezeichnet und vom Reader’s Digest zum Author of the Year gekürt, das sein intellektuelles Prestige im populärwissenschaftlichen Feld besiegelte. 12 Die höchste Konsektrationsinstanz für das Popular Science Writing ist der Pulitzer Preis für General Non Fiction, der seit 1917 verliehen wird, der Science Journalism Award, der von AAAS seit 1945 verliehen wird, hinzu kommt der Science Communication von dem American Institute of Physics (1968), der IEEE-USA Award for Distinguished Contributions Fruthering Public Unterstanding of the Profession, sowie der Carl Sagan Award for the Public Understanding of Science (1993) und der National Award of Scientific Writing. In Großbritannien gibt es neben dem Royal Society Price for Science Books, der wohl der prestigeträchtigste Preis auf nationaler Ebene ist, den Michael Faraday Prize seit 1986, den Welcome Trust Science Writing Price, der von den beiden angesehensten Tageszeitungen, The Guardian und The Observer, verliehen wird, schließlich noch den Max Perutz Science Writing Award, der vom Medical Research Council verliehen wird.
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(Fernsehen, Taschenbuch, Gründung eigener non-profit Organisationen z.B. Richard Dawkins Foudation for Reason and Science) Weihe garantiert sich Dawkins eine treue Anhängerschaft, die den Repräsentanten an die Stelle des Repräsentierten setzt. Im 19. Jahrhundert war die Aufklärung gleichbedeutend mit dem Namen Immanuel Kants. Im 21. Jahrhundert scheint der Gedanke des „enlightment“ nicht von den Lehrstühlen der Philosophie zu stammen, auch wenn prominente Geisteswissenschaftler in die Medienlandschaft ausrücken, um zum sichtbaren Symbol dieser Bewegung zu werden. Genauso wie im 19. Jahrhundert Popularisierung und Aufklärung gleichsam zu Synonymen wurden, kann man auch heute noch festhalten, dass beide Begriffe wechselseitig aufeinander bezogen werden – und das von den unterschiedlichsten Akteuren ob in Print- oder Fernsehformaten. Dennoch besitzt das Buch immer noch einen stärkeren Bildungsauftrag als das digitale Bild aus dem LED- oder Plasmabildschirm. Besonders das Genre des angloamerikanischen Popular Science Writing hat im Vergleich zum naturwissenschaftlichen Sachbuch deutscher Provenienz oder der Vulgarisation Scientific aus Frankreich eine ganz eigene Entwicklung durchgemacht und sich damit als eigenständiges Genre im Bereich der General Non-Fiction etablieren können. Obwohl es zwischen diesen nationalen Genres sehr viele gemeinsame Schnittpunkte gibt, die alle auf essayistischen Schreibweisen beruhen bzw. diese jahrhundertelang tradierte Schreibpraxis für sich in Anspruch nehmen, habe ich an anderer Stelle nachweisen können, dass es wesentliche Unterschiede gibt, die v.a. auf den unterschiedlichen wissenschaftlichen Rezeptions- und Produktionskulturen innerhalb des akademischen Feldes beruhen. Das heißt: Im angloamerikanischen Raum bedeutet „popular“ in der Genrebezeichnung Popular Science Writing nicht, das Bestseller-Kriterium zu erfüllen, das v.a. auf ökonomische Gewinne zielt, auch verweist es nicht ausschließlich auf eine Verständlichmachung von naturwissenschaftlichem Wissen aus den Laboratorien und der Feldforschung an eine fachfremde interessierte Öffentlichkeit, stattdessen muss es als theoriebildendes Verfahren spekulativen Philosophierens verstanden werden, das von der unterhaltenden Spekulation zu einem Pool für experimentell verifizierbare Hypothesen voranschreitet (vgl. Varghese/Abraham 2004). Dawkins als „logothet“ (Barthes 1986, 7ff.) hat seinem spezifischen „Soziolekt“ (Zima 1995, 65, 73) Dauer verliehen und zwar durch die Un-
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nachgiebigkeit, seine „Unermüdlichkeit“ trotz aller Kritik an seinem repetitiven Mantra des „Cui bono?“ festzuhalten und stets in einer Wiederholungsschleife die ewig wiederkehrende Antwort zu diktieren: „the genes“. Das macht seine rhetorische Stärke aus: trotz der kritischen Polyphonie der Stimmen im Fußnotentext und Endnotenapparat stets „die Wiederholung des gebieterischen Monologs“ (Blanchot zit. nach Barthes 2005, 163) aufs Neue in Gang zu bringen, und zwar selbst dann noch, wenn er zum Kritiker seiner selbst wird. In der amerikanischen Literaturforschung wird das Popular Science Writing als eigenes selbstständiges Genre wahrgenommen und dezidiert von anderen literarischen Produktionsgütern abgegrenzt, auch wenn ihre Autoren sich gerne mit großen kanonischen Autoren der Literaturgeschichte vergleichen oder ihre Bücher in die Nähe zu fiktionaler Erzählliteratur stellen.13 Murdok MacRae hat bereits Anfang der 1990er Jahre den Begriff der „literature of science“ bzw. des „popular scientific writing“ geprägt, um hervorzuheben, „the term suggests a particular way of asking questions about the field popular science writing. The Term also indicates that […] popular texts […] are open to as full range of contemporary interpretive techniques as any other works of literature. Finally, it emphasizes that the literature of science must be read not as mere popular transmission of superior of scientific knowledge but as sophisticated production of knowledge in its own right.“ (MacRae 1990, 10f.)
Das Popular Science Writing der Verhaltensbiologen (Morris, Dawkins, Lorenz) und später der Akteure der Evolutionary Psychology (Buss, Pinker, Wright, Blackmore) erzählt hauptsächlich von Aggression, Altruismus, sexueller Reproduktion, der Evolution des Geschlechtstriebs, dem familiären
13 Der amerikanische Neurologe Oliver Sacks beispielsweise verwendet ein intertextuelles Netzwerk zu Autoren wie Friedrich Nietzsche, Arthur Schopenhauer, Thomas Mann und Sigmund Freud, um seinen eigenen Texten den Stempel literaturhistorischer Klassiker aufzudrücken. Der Molekularbiologe James Watson rät hingegen seinen Lesern und zukünftigen Autoren des Popular Science Writing, dass sie ihren Schreibstil an Autoren wie Charles Dickens oder Truman Capote schulen müssten, um ihrer Prosa den Anstrich des Lebendigen zu verleihen.
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und sozialen Zusammenleben, aber auch vom Genozid und Vergewaltigung aus ethologischen und ethnografischen Studien. Experimentelle Studien tierischen Verhaltens werden zu Animal Tales synthetisiert und mit autobiographischen Anekdoten umrahmt (v.a. bei Konrad Lorenz und Adolf Portman). Bei Dawkins, Morris und Wilson ist eine derartige Autobiographisierung des Erzählstils – zumindest in den ersten Werken – nicht anzutreffen. Bei den deutschen Ethologen entsteht hingegen das Bild eines naturalistischen Forschers als Tierliebhaber: eine postromantische Figur des 19. Jahrhunderts, die bei den Oxford-Ethologen ganz klar entromantisierende Züge trägt. Der fachsprachliche Diskurs der Verhaltensbiologie, besonders von denjenigen Autoren, die hier Erwähnung finden, hatte seit seinem Entstehen starke anthropomorphe Züge, die in den Scientific Papern durch Interpunktion und Hervorhebung explizit gekennzeichnet sind, um die Übersetzungsleistung den Lesern bewusst vor Augen zu führen. In den Popular Science Books verschwindet dieses Explizitmachen des Metaphorischen, Vagen und Ungeklärten zugunsten eines grand récit der Evolution menschlicher Verhaltensmuster. Die Entstehung des Popular Science Writing, seine Qualität und Quantität, ist von den Akteuren in ihren jeweiligen akademischen Feldern und ihren Bewegungsspielräumen und dem damit zusammenhängenden Kapitalsortentransfer abhängig. Daher ist die Struktur des Feldes heute von seiner Genese nicht zu trennen. Die Vererbungsstrategien kulturellen Kapitals reichen hier von der Intellektuellenfamilien Thomas Henry Huxleys (über Julian Huxley und Aldous Huxley) zur Position Richard Dawkins als Lehrstuhlinhaber des Public Understanding of Science. Dawkins ist der rechtmäßige Nachfolger von Thomas Henry Huxley, dessen intellektuelle Biographie vom Popularisator, zum Wissenschaftsund Bildungspolitiker, zum wissenschaftlich anerkannten Biologen, umgekehrt verlief: vom Populärwissenschaftlichen zum Wissenschaftlichen. Er ging als Ausnahmefigur in die Chroniken der Popularisatoren ein.14 Huxley stand für eine Leerstelle im akademisch-universitären System, die er als historischer Wegbereiter des Lehrstuhls für Public Understanding of Science nach und nach ausfüllte. Nun ist er zum akademischen Schutzwall für Dawkins und seine Nachfolger geworden. Er wurde für Angriffe immun
14 Zur Geschichte der Populärwissenschaft im 19. Jahrhundert in England und den einzelnen Akteuren der nationalen Wissenschaftsgeschichte siehe hierzu Lightman (2007).
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und griff doch selbst immer wieder gerne andere Biologen an. Er befand sich in zwei sozialen Räumen gleichzeitig: der Sphäre des ÖffentlichProfanen und der Sphäre des Universitär-Sakralen, seiner Alma Mater, deren institutionelle Mauern durch ihren symbolischen Wert überragend groß waren. Dahinter saß der Souverän: Geheiligt und unantastbar und doch profan, populär, spektakulär – eine Figur des öffentlichen Lebens, ein Märtyrer des akademischen Feldes, der sein wissenschaftliches Kapital aufs Spiel setzt, um moralisches Kapital und intellektuelles Prestige zu akkumulieren, und zwar kraft des konsumierenden Tourismus im Reich des Wissens, das als „enlightment“ etikettiert und verkauft wird. Dawkins hat selbst einmal seine Lage wie folgt kommentiert: „I’d rather go to my grave having been Watson or Crick than having discovered a wonderful way of explaining things to people. But if the discovery you’re talking about is an ordinary, run-of-the-mill discovery of the sort being made in laboratories around the world every day, you feel: Well, if I hadn’t done this, somebody else would have, pretty soon. So if you have a gift for reaching hundreds of thousands – millions – of people and enlightening them, I think doing that runs a close second to making a really great discovery like Watson and Crick.“ (Dawkins zit. n. Luey 2010, 89)
An dieser Stelle sollte das verächtliche Grinsen des Literaturwissenschaftlers unterdrückt werden, denn obgleich die meisten deutschen Gelehrten (!), sprich Wissenschaftler des Geistes, Dawkins weder als profitablen Untersuchungsgegenstand würdigen noch als seriösen Wissenschaftler ernst nehmen würden, muss man gestehen, dass er und seine zahlreichen Schüler, wie der analytische Philosoph Daniel Dennett, etwas geschafft haben, wovon die meisten Geisteswissenschaftler nur träumen können: sich vom Stand der akademischen Masse in den Stand öffentlicher Klasse emporgeschrieben zu haben!
T HE D ISNEYFICATION OF S CIENCE : H EINZ H ABERS TV-P OP -S CIENCE IN
DEN
USA
Unterschiedliche Medien können sich in der Popularisierung auch gegenseitig beeinflussen und ihren ökonomischen wie symbolischen Wert stei-
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gern. Dabei heißt es nicht, sich nur auf ein Medium zu konzentrieren, sondern unterschiedliche Medienformate miteinander interagieren zu lassen, um den bestmöglichen Effekt einer verständlichen Vermittlung zu erzielen. Nach dem Zweiten Weltkrieg und inmitten der Big Science Initiative der nationalen Wissenschaftspolitik wurde diese Prämisse gerade in Bezug auf die Physik zum entscheidenden Motor einer neuen Agenda der Wissenschaftspopularisierung. Der private Bildschirm in den Wohnzimmern der US-amerikanischen Mittelstandsgesellschaft ist zum neuen Vermittlungsorgan wissenschaftlichen Wissens instrumentalisiert worden. LaFollette (2013, 5) weist in seiner historischen Studie zur Wissenschaftspopularisierung des 20. Jahrhunderts in den USA darauf hin, dass seit 1945 das Wort „television“ nicht mehr bloß ein technologisches Möbelstück bezeichnet, sondern Inhalt, Kontext, Kultur, Industrie, Erfahrung, und v.a. „validation of importance“. Die Wissenschaft entdeckte das Fernsehen als neuen potentiellen Kandidaten für öffentlichkeitswirksame Wissenschafts- und Wissensvermittlung. Dies beruhte zwar auf Gegenseitigkeit, doch waren sich die Fernsehproduzenten sehr schnell einig, dass Wissenschaft durch das audio-visuelle Format anders popularisiert werden musste als bisher, um mit Programmen wie „game shows“ und „comedies“ kompetitiv zu sein. Aus dieser Forderung entstand ein hybrides Wissenschaftsbild, in dem der Experte als weiser Lehrer, Entdecker, Eroberer und Celebrity aufsteigt. Aus dieser Montage unterschiedlicher Konfigurationen der wissenschaftlichen Inhalte und ihrer Präsentations- wie Repräsentationsfiguren resultierte eine Wissenschaft transformiert in eine „entertaining illusion“ (ebd., 7). Dementsprechend konnte der Wissenschaftler in jede Figur übersetzt werden, die die Produzenten ersannen. So geschehen 1945 in einem Artikel von Walt Disney mit dem Titel „Mickey as Professor“, erschienen im Public Opinion Quaterly. Bildung wurde in das Gewand von Animation und Dramatisierung gekleidet. Mit diesem Format, so LaFollette (ebd., 41), konnten die menschlichen Bildschirm-Professoren nicht mithalten: „Entertainment programs incorporating natural history, physics, medicine, and space, including many produced by or influenced by Disney, soon became television’s principal vehicle for communicating about science, for better or for worse.“
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Besonders das strategisch inszenierte „Edutainment“ Walt Disneys ließ erkennen, dass der Wettbewerbsdruck zwischen den einzelnen Medienformaten (Trick-, Spiel-, Dokumentarfilm, Buch, Comic) nicht einem strikten Substitutionsverfahren folgt, indem das eine Medium das andere verdrängt, sondern eher noch zu einer stärkeren Interaktion der Medien führt. Dieses Changieren und Montieren unterschiedlicher Zeichensysteme zeichnete die filmische Signatur Walt Disneys aus, obwohl bereits in frühen Wissenschaftssendungen mit Mickey Mouse metafiktionale Elemente eingesetzt wurden, um dem Zuschauer vor Augen zu führen, wie mittels des Kinematographischen die neuen audio-visuellen Bilder der Natur entstehen (LaFollette 2013, 48). Dennoch: Die Anthropomorphisierung und Fiktionalisierung der Natur wurde stets von einer moralischen Haltung zum Gezeigten begleitet, die kaum wegzuleugnen ist. So entstand aus einer Welt der Zufälle und des menschlichen Irrtums ein „environmental stewardship, which emphasized domination and control, punctuated by sentimentalized wonder, as the approporiate relationship between humans and other species“ (ebd.). Disney vermittelte ein widersprüchliches Bild der Wissenschaft und das nicht nur durch das Gewebe aus Animation und realen Handlungs- und Experimentierräumen, sondern gerade dadurch, dass der Wissenschaftler einzig und allein dazu da ist, als Figur der Authentizität des vermittelten Wissens zu fungieren. Jegliche Referenz auf wissenschaftliches Wissen erfolgt nur als Projektion des bereits Gewussten, das die Alltagswelt des Zuschauers bereits durchströmt, und nicht als Ergebnis systematischer Forschung (ebd. 49). Die intermediale Montage von Dokumentar- und Trickfilm Walt Disneys Our Friend the Atom (1957), der von dem deutschen Physiker und Popularisator Prof. Dr. Heinz Haber moderiert worden ist, zeigt diese Interaktion besonders gut. Der „Herr der Bildschirme“ (vgl. Lessing 2007)15, wie
15 Obwohl Heinz Haber zunächst nur in den USA auf den Bildschirmen erschien, wurde er bald darauf von deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten als Moderator verschiedener populäre Wissenschaftsformate engagiert. Darunter die 1968 ausgestrahlte Wissenschafts-Serie „Was sucht der Mensch im Weltall?“, die im BR-Fernsehen gezeigt worden ist. Das Aufnahmestudio war hierbei Schulzimmer, Labor und Bühne zugleich. Mittels filmischer Mittel wie dem Jump-Cut und der Überblendung mehrerer Kameraperspektiven wurden physikalische Sachverhalte wie die Entfernung von Sternen im Weltall veranschau-
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er seit Mitte der 1960er Jahre in Deutschland genannt worden ist, hatte zunächst bei Walt Disney als wissenschaftlicher Sachverständiger die Abteilung für Wissenschaftspopularisierung geführt. Disney hatte vier unterschiedliche Formate eingeführt, um sich den Bedürfnissen der bürgerlichen Fernsehkultur anzupassen oder vielmehr diese entscheidend mitzuprägen: Dazu gehörten „Tomorrowland“, um die Phantasien der Zukunft zu befriedigen, „Frontierland“, um die Geschichte der Vergangenheit des Landes in Erinnerung zu rufen, „Adventureland“, um die menschliche Neugierde nach neuen Entdeckungen zu befriedigen, und schließlich „Fantasyland“, um die Lust am Erzählen selbst zu tradieren. Our Friend the Atom gehört in die erste Filmkategorie, vermischt sich jedoch gleichzeitig mit dem „Adventureland“: Entdeckungen in der Wissenschaft werden als Abenteuererzählung verkauft, aus denen die Träume der Zukunft gemacht werden. Größen der Wissenschaftsgeschichte werden zugleich zum Kolumbus der Schönen Neuen Welt der nuklearen Macht und zu Napoleon, dem Eroberer und Beherrscher dieser Macht. Zunächst tritt Walt Disney selbst als erster Erzähler der Geschichte auf. Die Introduction beginnt mit einem kurzen Zeichentrick-Einspieler von Jules Vernes Science Fiction Opus 20.000 Meilen unter dem Meer. Es ertönt Disneys Stimme aus dem Off. Schließlich mündet das gezeichnete Objekt, der Nautilus, in eine reale Aufnahme eines U-Boots, das an der Meeresoberfläche beim Auftau-
licht. Experimente mit dem Medium oder besser gesagt mit der maschinellen Apparatur, die selbst physikalischen und chemischen Gesetzen gehorcht, simulierten physikalische Experimente. Der Moderator agiert damit als Erzähler, Kommentator, Zeichner und Experimentator zugleich. In der ersten Episode bekundet Heinz Haber: „Ein Modell ist immer besser als eine Zeichnung“. Kurz darauf begibt er sich zu seiner experimentellen Vorrichtung und vollführt, wie der Physik-Lehrer, einfachste Vorgehensweisen bei der Simulation astrophysischer Phänomene. Heinz Haber war natürlich nicht der einzige FernsehProfessor. Der Wissenschaftsjournalismus im Abendprogramm, der sich v.a. an Erwachsene richtete und sich mit vielen Alltagsproblemen auseinandersetzte, wandte sich weltbewegenderen Themen wie der Raumfahrt zu, für die nicht nur Heinz Haber zuständig war, sondern ebenso der Fernseh-Astronom Rudolf Kühn. In dieser frühen Geschichte des neueren Fernseh-Wissenschaftsjournalismus spricht Knut Hickthier von dem „Gestus einer Vermittlung eines epochalen Aufbruchs“ (Hickethier 1998, 162).
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chen explodiert. Nun erscheint die erste Figur des weisen alten Erzählers, der fact & fiction in eins fallen lässt: „Fiction often has a way of becoming fact.“ Er kommentiert die beiden unterschiedlichen Zeichensysteme, die durch den Schnitt in Analogie zueinander treten. Bereits in der ersten Sequenz entsteht somit eine Montage von irrealer, gezeichneter Animation einer fiktiven Geschichte und realer, filmischer Momentaufnahme eines zerstörten U-Boots. Dieses Tableau aus unterschiedlichen real/irrealen Zeichensystemen wird zum Instrument, um die angestrebte Metamorphose von Adventureund Tomorowland, von Science in Fiction und Fiction in Science, zu vervollständigen. Der Gegenstand, über den jedoch eigentlich gesprochen werden soll, ist die Atomenergie, die Macht der kleinsten Teilchen, ein „subject everybody wants to understand“, so der Kommentar des weisen Erzählers. Bereits hier wird dem Zuschauer ein Bedürfnis indoktriniert („wants“), das eigentlich „should“ heißen sollte, bedenkt man den ethischen Imperativ, mit dem die Sendereihe endet und die bereits in dem gleichnamigen Buch zur Geltung kommt. Printmedium und visuelles Medien werden hier nicht als Konkurrenz-, sondern Ergänzungsprodukte angeboten. Der Film wird zur Promotion des Buches, das Buch wird zur Promotion des Films. Aus ökonomischer Sicht gibt es keine Verlustängste. Im Zentrum steht auch hier das populärwissenschaftliche Buch über die Geschichte der Physik, das zum verfilmten Objekt der Kamera wird, die mit dem ShoulderShot den Erzähler beim Erzählen begleitet. Heinz Haber löst Disney ab und beginnt seiner medialen Natur gemäß zu handeln: „We are storytellers. So we combine the tools of our trade with the knowledge of experts“ (Our Friend the Atom, Disneyland Season 3, Episode 14, Reg. Hamilton Luske, Prod. Ward Kimball, Erstausstrahlung 23. Januar 1957, 3:59). Die Erzählung, die den zyklisch-argumentativen Rahmen der Wissenserzählung bildet und gleichzeitig als narrative Analogie dient, ist das Gleichnis The Fisherman and the Jinni, eine von vielen Geschichten Sherazades aus 1001 Nacht: Der Fischer, der eine Wunderlampe aus dem Meer fischt und einen Jinni befreit, der ihm drei Wünsche gewährt. Der Erzähler löst die Analogie auf: Der Physiker („we are the fisherman“) stellt jenen Fischer dar, der aus der Wunderlampe („uranium“) den Jinni („radioactivity“) befreit, der für das menschliche Auge unsichtbar tief im Wunder-Gestein eingeschlossen ist. Das Netz wird in das Unbekannte hinausgeworfen „in search for knowledge“. Damit wird die Wissensge-
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schichte zur Knowledge-Fairytale umgemünzt und der Erzähler wird zum Vorleser. Das Buch verwandelt sich in bewegte Animation, während die Stimme des Erzählers die Bilder unter dem Diktum „seeing is believing“ diskursiviert – von der Antike bis zur Gegenwart, von der ersten Atomtheorie Demokrits über das Teleskop und Mikroskop (hier wird das KameraAuge selbst zum visuellen Instrument der „hidden beauty“) zur Entdeckung der Radioaktivität. Die Popularisierung der Wissensgeschichte durch die Zentrierung auf einige wenige Persönlichkeiten wird zusätzlich durch einen amerikanischausländischen Akzent der einzelnen Personen unterstützt. Die Stimmen aus der (meist europäischen) Vergangenheit tönen bis in die Gegenwart. Alltäglich Dinge auf dem Schreibtisch und im Studio werden zu Demonstrationsobjekten von Atomverbünden (Bleistift, Geld, Glas, Ringe, Papier), die das gezeichnete Comic illustriert. Irreales wird wieder in Reales übersetzt und umgekehrt. Das Studio wird damit räumlich aufgeteilt: in Bühne, Labor und Schulzimmer. Der Erzähler wird zum Experimentator im Fernseh-Labor. Der gezeichnete Trickfilm dient hierbei bereits als Vorstufe digitaler Computersimulationen, wie man sie bereits auf dem Infotainment-Sektor von Welt der Wunder und Galileo kennt. Heinz Haber demonstriert beim Erhitzen von Wasser in einem Glaskolben die Funktionsweise der Dampfmaschine, die zur maschinellen Bewegungskraft führte und damit die industrielle Revolution einläutete. Im Close-Up geht die reale Flamme des Bunsenbrenners in eine Trickfilm-Flamme über. Die Molekülverbindungen des kochenden Wassers werden mit kleinsten, blubbernden Bläschen abstrahiert. Das graphische Zeichensystem macht das Unsichtbare sichtbar, kraft visueller Abstraktion und Animation. Schließlich stoppt der Erzähler bei der Entdeckung des leuchtenden Radiums („shock the foundations of science“). Im Bild erscheint ein kleiner, blau leuchtender Stein, der Funken in alle Richtungen des Bildes sprüht. Das Bild suggeriert eine Nähe zu einer Art moderner Alchemie. Haber erklärt, wie die (zufällige) Entdeckung, dass Atome gespaltet werden können, das physikalische Weltbild veränderte. Das unteilbare Atom war in einen Nukleus mit elektrisch aufgeladenen Protonen und nicht-elektrischen Neutronen teilbar, die von einem zirkulierenden Mantel von Elektronen umgeben waren. Das Atom war ein „tiny solar system“, das Haber mit den Satz „how amazing nature is“ kommentiert. Mikro- und Makrokosmos werden in der Spitze des Bleistifts, die der Er-
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zähler in seinen Händen hält, kurzgeschlossen: „There is a whole universe in the tip of a pencil“ (Our Friend the Atom, 27:57). Die ersten Atomspaltungsversuche werden zum Analogon der Öffnung der Wunderlampe, um die Macht der Radioaktivität zu befreien. Als Modell dient eine Mausefalle mit Ping Pong Bällen, die im Studio-Labor die Kettenreaktion der Neutronen erklären soll, die sich beim Spaltungsvorgang verdoppeln und dadurch neue Spaltungsvorgänge in Gang setzen. Das Trickfilmbild löst sich in eine Graphik auf der Tafel auf, die sich wiederum in das Modell-Experiment der Mausefalle auflöst. Mittels der Slow-Motion – die Kameratechnik wird hier selbst noch einmal zum Experimentiermedium – wird dieser Vorgang entschleunigt, um die Kraft dieser Reaktion zu kontrollieren. Hier kommt schließlich der Kernreaktor ins Spiel, um die Atomenergie nutzbar zu machen. Mittels eines Match-Cuts zwischen realer Demonstration, Zeichentrick und schließlich dokumentarischer Aufnahme einer Atombombenexplosion werden „good“ und „bad atoms“ (vgl. Weart 1989; Spencer 1989) mittels einer realen/irrealen Zeichenmontage ineinander aufgelöst. Die Montage mehrerer Zeichenebenen lässt das UnwirklichImaginäre wirklich werden und das Wirkliche imaginär. Der Jinni aus der Wunderlampe wurde befreit und verwandelt sich in die aufsteigende Rauchwolke des atomaren Riesenpilzes. Hier entsteht aus der Verschaltung verschiedener semiotischer Systeme ein visuelles Konstrukt aus imaginär-phantastischen und real-dokumentarischen Bildern, während die Stimme aus dem Off kommentiert: „Jinni was freed“ und zugleich entsteht „a fearful thread“ (Our Friend the Atom, 36:56), ein kulturelles, wissenschaftspolitisches Monstrum, das der Menschheit als Fernsehgemeinschaft vor den Bildschirmen, Freiheit und Untergang gleichzeitig prophezeit. Die Montage verschiedener Atombombenexplosionen potenziert sich. Doch das Wissens-Märchen hat ein Happy Ending. Der „enemy“ wurde zum „friend“, der dem Fischer drei Wünsche zur Verfügung stellt, und diese Möglichkeit sollte weise genutzt werden, so der Erzähler, der nun affirmativ für Pro-Atomkraft-Politik wirbt. Die Wunderlampe bleibt ein Wunder, ein Wunder der sauberen, stillen und massenhaft vorhandenen Energie, die von der lauten und schmutzigen Öl- und Kohleenergie absieht. Das ist der erste Wunsch, den sich die Menschheit und die Wissenschaftler wünschen sollten. Der zweite Wunsch beinhaltet „Food & Health“, die Abschaffung globalen Hungersnöte, indem Radioaktivität für
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Tiernahrung und Pflanzendünger verwendet wird, um ihre Produktivität zu steigern. Im Gesundheitssystem diene die Radioaktivität sowohl der Herstellung von Medikamenten als auch zur Sichtbarmachung körperlicher Leiden und zur Bekämpfung von Krebs (die „cobalt bomb“ wird hier beschrieben als „friendly bomb“). Zu guter Letzt der dritte Wunsch, der alle drei Wünsche normalerweise aufhebt, wenn man der Erzählung folgt. Hier jedoch kehrt der Erzähler um: der letzte Wunsch mündet nicht in „creation and destruction“, sondern darin, dass Jinni für immer unser Freund bleiben soll (Our friend the Atom, 47:02). Der ethische Imperativ „make wise use“ mündet in einer Hypostase der freundlichen Radioaktivität als promethische Figur, die als übergroße Gestalt über den Globus gebeugt durch ihre magische Berührung („magic touch“) ihre wissenschaftlich-technologischen Gaben über dem gesamten Erdball verteilt („gifts of science to all mankind“). Die Disneyfication of Physics kommt hier zu einem glorreichen Happy Ending der Knowledge-Fairytale durch die beruhigende Stimme, die experimentierende Hand und das vertrauenswürdige Gesicht des Erzählers als Magier des Wortes. Walt Disneys Pro-Science-Technology-Propaganda verrät, dass sich die Traumindustrie von der Regierung nur allzu leicht instrumentalisieren ließ. Natürlich aus guten ökonomischen Gründen für die Filmindustrie und aus symbolischen, sprich ideologischen Gründen für die Regierenden. In den 1950er Jahren stand jegliche Form der Nutzung von Atomenergie unter dem offiziellen Banner des „Atoms for Peace“, das ebenso von lokalen Lehrerverbünden wie von privaten Haushalten unterstützt worden war, um ihren Kindern nicht nur ein Wissen von der Atomenergie zu vermitteln, sondern sie in eine jubelnde, affirmative Stimmung („good cheer“) zu versetzen. Der Historiker Spencer R. Weart verweist sogar darauf, dass Cartoons wie A for Atom oder Our Friend the Atom ihren Teil hierzu geleistet hätten. Er zitiert aus einem Zeitzeugnis der 1950er Jahre, dem Essay eines Zweitklässlers, indem es heißt: „Good Atoms. Everything is made of atoms. When we learn more about how valuable these atoms are, people will be very happy [...] the businessman will have machines and better things to sell. Everybody will be happier.“ (Zit. n. Weart 1989, 169)
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Bildung permutiert qua Bildschirmflimmern von ineinander verschachtelten, hybriden Zeichenmontagen zur bloßen „instruction“. Was bleibt, ist das magische, blaue Leuchten des radioaktiven Steins der Weisen, das auf der Netzhaut des hypnotisierten Zuschauers die Utopie einer Brave New World einbrennt und damit die ideologische Verblendung vollendet. Blind und an den Fernsehsessel gefesselt bleibt nur die vertrauenswürdige Stimme aus dem Off: der Experte, der uns den Weg aus der Dunkelheit, der Schattenwelt der audio-visuellen Trugbilder, hinaus weist ans helle Tageslicht der Sonne, zu dem Urbild des medio-visuellen Seins.
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Fernsehwissenschaft / Wissenschaftsfernsehen
Philosophie im Fernsehen / Philosophie des Fernsehens Metamorphosen philosophischen Wissens im Fernsehformat Precht M ARCUS S. K LEINER
E INLEITUNG Populäre Kulturen werden als kommerzialisierte und industriell produzierte (Massen-)Unterhaltungskulturen aufgefasst, wobei zwischen Unterhaltung als Kommunikationsweise, als Funktion der Massenmedien, als soziale Institution und als ästhetische Kategorie unterschieden werden kann (vgl. Hügel 2003b, 74; Hügel 2007, 13-57).1 Als Unterhaltungskulturen tragen
1
Zur Unterscheidung verschiedener Konzepte Populärer Kultur vgl. u.a. die Beiträge in Hügel (2003a); Hecken (2007); Guins/Cruz (2008). John Storey (1997, 6ff.) stellt sechs grundlegende Funktionen der populären Kultur heraus: (1) Populäre Kultur ist bei einer großen Zahl der Gesellschaftsmitglieder beliebt und wird von ihnen als Unterhaltungskultur massenhaft konsumiert bzw. rezipiert. (2) Populäre Kultur ist Kultur ohne hochkulturelle Elemente. (3) Populäre Kultur wird industriell produziert und massenmedial vermittelt für den (stereotypen, manipulativen, verdummenden) Massenkonsum. (4) Populäre Kultur kommt aus dem Volk. (5) Populäre Kultur ist widerständig (Subkultur) und kritisiert die hegemoniale (Hoch-)Kultur. Gleichzeitig kann sie aber wiederum hegemonial werden, etwa in Form der kulturindustriell-entfremdenden Aneignung von er-
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sie die Signatur der Wiederholung und Verdopplung von Wirklichkeit. Sie erscheinen als (Medien-)Kulturen der Redundanz. Distanz und Reflexivität, Grundformen wissenschaftlicher Forschungspraxis, werden hingegen nicht als Charakteristika Populärer Kulturen betrachtet. Im Unterschied zur Wissenschaft haben sich Populäre Kulturen nicht von der Wissenschaft distanziert. Vielmehr gehören Wissens- und Wissenschaftspopularisierungen seit der Formierung von Populären Kulturen ab Mitte des 19 Jh. zum festen Ensemble ihrer Formate, Produktionen, Serien und Figurenkonstellationen.2 Die exemplarische Diskussion der Funktion und Bedeutung von Populären Kulturen hinsichtlich des Komplementärverhältnisses von Wissen/
folgreichen Subkulturen, wie etwa dem Punk. (6) Populäre Kultur weist die Trennung zwischen hoher und populärer Kultur zurück. Ergänzen müsste man: (7) Im Unterschied zur Hochkultur verfolgt die populäre Kultur kein übergeordnetes soziales und ästhetisches Ziel. Diese Auffassung fasst zahlreiche prominente Positionen zur Populären Kultur, die seit den 1960er Jahren im angloamerikanischen Raum vertreten werden, zusammen (vgl. u.a. Swingewood 1977, 107; Grossberg/Wartella/Whitney 1998, 37). 2
Die Epoche des Populären beginnt ab Mitte des 19. Jahrhunderts, ist ein kultureller Zusammenhang moderner Gesellschaften und wird durch die Verbürgerlichung der Unterhaltung bestimmt (vgl. Hügel 2003a, 3 u. 6).: „Solange feste soziale, kirchliche und ständische Ordnungen vorherrschen, geht den kulturellen Phänomenen jener Deutungsspielraum ab, der für ,Populäre Kultur‘ charakteristisch ist. […] Ohne Rezeptionsfreiheit, verstanden sowohl als Freiheit, das zu Rezipierende auszuwählen, als auch den Bedeutungs- und Anwendungsprozess mitzubestimmen – also ohne ein bestimmtes Maß an bürgerlichen Freiheiten –, gibt es keine ,Populäre Kultur‘ .“ An anderer Stelle ergänzt Hügel (2003c, 81): „Historizität der Unterhaltung bedeutet […] aber nicht nur, dass sie über andere soziale Institutionen (v.a. solche der Medien) am geschichtlichen Prozess beteiligt ist, sondern dass sie selbst eine eigene institutionelle Tradition ausbildet. Und es ist die von dieser Tradition gestiftete Kultur, die wir als populär bezeichnen“ (vgl. hierzu das Phasenmodell zur Entwicklungsgeschichte der Populären Kultur von 1850 bis 2000 in Hügel 2007, 92f.; vgl. zur Begriffs- und Diskursgeschichte des Wortes „populär“ Hügel 2003c; 2007, 95-109; Kleiner 2017).
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Wissenschaft und Wissens-/Wissenschaftspopularisierung3; deren synergetischen Beziehungen; die Eigenlogik sich wandelnder Medienformate und Präsentationsformen sowie ihrer Einschreibung in den Prozess der Wissenskonstitution ist aus diesem Grund bisher kaum geführt worden. Einen produktiven Unterschied machen in diesem Kontext die Cultural Studies, weil sie Populäre Kulturen immer (auch) als Wissenskulturen aufgefasst und hinsichtlich der Aneignungen ihrer Wissensvermittlungen analysiert haben. Das Gleiche gilt für die populärkulturelle In-Formierung von Wissen, die Produktion sowie Vermittlung von populärem Wissen und das hieraus resultierende Performativ-Werden von Wissenschaften in Populären (Medien-)Kulturen sowie ihre medienbedingten Transformationen und soziokulturellen Auswirkungen. Die historische und theoretische Bestimmung des (sozialen und ästhetischen) Eigensinns populärkultureller Wissensformen und Wissensproduktionen sowie die Auseinandersetzung mit ihren Akteuren, Kulissen, Medien und Formen sind daher (auch) in Studien zur Wissen(schafts)popularisierung unterrepräsentiert.4 Zudem bleibt die Frage nach dem Bildungser-
3
Unter Popularisierung verstehe ich mit Blaseio/Pompe/Ruchatz (2005b, 9) allgemein den Versuch, „bei einem im wesentlichen unspezifischen Publikum über besondere Formen der Darbietung eine möglichst breite Annahme von Aussagen zu erreichen. Und populär sind diejenigen, denen es gelingt, auf allgemeine Akzeptanz zu stoßen“. Den Begriff Popularisierung verwende ich nicht normativ und hierarchisierend. Populäres Wissen ist daher kein „Ergebnis einer Transformation wissenschaftlichen Wissens, sondern Resultat eines komplexen Prozesses der Herstellung und des Aneignens von Wissen, der durch alltagsweltliche, religiöse und mentale Voraussetzungen und Aushandlungen, durch explizite und implizite Wissensformen bestimmt ist“ (Boden/Müller 2009, 8).
4
Zwei Ausnahmen stellen die Sammelbände „Popularisierung und Popularität“ (Blaseio/Pompe/Ruchatz 2005) sowie „Populäres Wissen im medialen Wandel seit 1850“ (Boden/Müller 2009) dar. Allerdings markieren und diskutieren die Autor/innen in beiden Kontexten nicht die Eigenständigkeit Populärer Kulturen in den von ihnen beschriebenen populären Projekten der Wissens-/Wissenschaftspopularisierung. Popularisierung bezieht sich in diesen Bänden zumeist auf die Verwendung von populären Medien der Zeit (Dia-Vortrag, Literatur, Radio, Film etc.); auf populäre Ereignisse und interaktive Erlebniswelten (etwa
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folg populärkultureller Wissens-/Wissenschaftspopularisierungen größtenteils unbeantwortet.5 Mein Beitrag befasst sich vor diesem Hintergrund mit der FernsehTalkshow als populärkulturellem Format der Wissens- und Wissenschaftspopularisierung. Der Fokus meiner Überlegungen liegt auf der wenig populären philosophischen Fernsehtalkshow. Dieses unpopuläre Format wird von – im wissenschaftlichen und journalistischen Kontext sowie im öffentlichem Bewusstsein – (relativ) populären Personen moderiert. Bei den Talkgästen handelt es sich ebenfalls um bekannte(re) Persönlichkeiten. Diese Unpopularität des Formats soll durch die Popularität der diskutierenden Personen kompensiert werden. Die Popularität von Themen ist im
die Weltausstellung) und auf die Idee der strategischen Popularisierung von Themen, Produkten und Personen (z.B. Kosmetik-Produkte und Hygiene-Diskurse oder Markenpersönlichkeiten), um größere Reichweite bzw. Bekanntheit zu erreichen. 5
Boden und Müller (2009, 7f.) weisen in diesem Kontext auf die veränderte Wahrnehmung von Wissens-/Wissenschaftspopularisierungen seit Mitte der 1980er Jahre hin: „Frühe Beschreibungsmodelle, in denen Wissenspopularisierung als mehr oder weniger hierarchisch verlaufender und einseitig ausgerichteter Transfer zwischen Experten und Laien aufgefasst wurde, treten zunehmend hinter Konzepten zurück, die Rückkopplungsprozesse zwischen Wissensproduzenten, Kommunikatoren und Öffentlichkeit betonen. Sie legen einen neuen Begriff der Popularisierung zugrunde, der nicht mehr ausschließlich die allgemeinverständliche und publikumswirksame Verbreitung (natur-)wissenschaft-lichen Wissens in den Blick nimmt, sondern kultur- und alltagsgeschichtliche, religiöse und andere identitätsstiftende Voraussetzungen als Bedingungen der Rezeption und zugleich Produktion dieses Wissens einbezieht. Auf diese Weise erscheint Popularisierung nicht mehr als ein Prozess, der komplexes wissenschaftliches Wissen in manipulationsstrategischer Absicht simplifiziert, sondern als ein Vorgang, in dem sich Transformationen und Neuordnungen des Wissens als eine Interferenz zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit beschreiben lassen.“ Vgl. in diesem Kontext auch die Beiträge in Ohlendorf/Reichart/Schmidt-chen (2015) und Mrozek/Geisthövel/Danyel (2014). In beiden Bänden werden die Begriffe Populär/Pop sowie Populärkultur/Popkultur undifferenziert synonym verwendet (vgl. zur Differenzierung dieser beiden Begriffspaare Kleiner 2008, 2017; sowie die Beiträge in Kleiner/Hecken 2017).
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Vergleich hierzu sekundär. Mit populären Fernsehtalkshows verbindet die philosophischen Fernsehgespräche, das sie ebensowenig ergebnisorientiert sind. In diesem Spannungfeld von Popularität und Unpopularität formiert sich die Wissens- und Wissenschaftspopularisierung dieses populärkulturellen Formats. Am Beispiel der ZDF-Philosophie-Talkshow „Precht“ werde ich das Thema der Wissens- und Wissenschaftspopularisierung diskutieren. In diesem Kontext wird die Differenz zwischen Popularität und Unpopularität bzw. zwischen richtiger Philosophie und Nicht-Philosophie selbst reflektiert – und zwar in den Formaten und durch die Formate. Bezeichnenderweise kritisiert Peter Sloterdijk6, dessen philosophische TV-Dialoge als esoterisch bezeichnet werden können, seinen TV-Nachfoler Richard David Precht als exoterischen, nicht-philosophischen, sondern journalistischen „Popularisator“ philosophischen Denkens. Im Gegensatz zu Precht, ohne beim Zeitpunkt der Aussage selbst schon eine Sendung von ihm gesehen zu haben, stellt Solterdijks Moderationspartner Rüdiger Safranski heraus, dass das „Philosophische Quartett“ ein Ort war, an dem Fernsehen und Philosophie bestmöglich zusammengedacht werden konnten und dadurch philosophisch miteinander in einen Dialog traten: „Es ging uns um eine bestimmte Kommunikationsform, darum, die Gäste ausreden zu lassen und Hysterie zu dämpfen. Es ging darum, ein Klima zu schaffen, das man als philosophisch bezeichnen könnte, eine Art Verlangsamung, ein NachDenken eben. Da hockten vier Leute herum und unterhielten sich ungezwungen, nicht unterbrochen durch Einspielungen aller Art. So etwas gibt es ja kaum noch. Heute blicken sie als Gast, wenn sie etwas komplizierter formulieren, sofort in die nervös flackernden Augen des Moderators. Wenn Sloterdijk die Sendung mit einer nicht enden wollenden, anspruchsvollen Ausführung begann, wusste doch jeder Gast: Das darf ich auch. Bei uns war die Angst, dass da jemand wegzappen könnte, einfach nicht erlaubt.“7
6
http://www.zeit.de/2012/20/Interview-Sloterdijk-Safranski (zuletzt aufgerufen am 15.08.2017).
7
Ebd., vgl. hierzu auch die beiden Fernsehvorträge von Pierre Bourdieu (1998), „die am 18. März 1996 im Rahmen einer Reihe vom Collège de France produzierter und vom Privatsender Paris Première im Mai 1996 ausgestrahlter Kurse entstanden“ (ebd., 9). Hiermit übt Bourdieu Fernsehkritik im Fernsehen, indem er durch eine selbstbestimmte Produktion auf alle konventionellen Inszenie-
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Im Fokus meiner Analyse stehen die intermediale Konkurrenz von Mündlichkeit (Philosophie im Fernsehen) und Bild (Philosophie des Fernsehens) sowie das Verhältnis von Abstraktion (Mündlichkeit) und Konkretion (Bild). Das Erkenntnisinteresse wird durch zwei Fragen geleitet: (1) Welche Metamorphosen philosophischen Wissens können durch ihre fernsehmediale Inszenierung beobachtet werden (Philosophie im Fernsehen)? (2) Führt die kommunikative und visuelle Inszenierung philosophischen Wissens im Fernsehen zu eigensinnigen philosophischen Formen und Formaten (Philosophie des Fernsehens)? Ich beginne mit einer Skizze der Bedeutung des Dialogs als grundlegendem Medium der Philosophie (Kap. 2). Daran anschließend werde ich die Philosophie des Fernsehens anhand der beiden Konzepte des „Televisive[n] Denken[s]“ (Engel/Fahle 2006b, 7) und der „Televisualität“ (Caldwell 1995; vgl. Fahle 2006; Engell 2012, 49-55) kurz rekonstruieren (Kap. 3). Dies schafft die Grundlage, um das Fernsehformat „Precht“ als Beispiel
rungslogiken und Dramaturgien des Fernsehens verzichtet, um so die manipulativen Produktionsbedingungen des Fernsehens aufzudecken. Auch in diesem Fernsehexperiment bilden Popularität und Unpopularität ein spannungsreiches Interdependenzgeflecht: Bourdieu möchte für seine Fernsehkritik eine breitere Öffentlichkeit und nicht nur wie gewöhnlich die Hochschulöffentlichkeit ansprechen, verzichtet hierbei aber auf alle dazu relevanten populären Inszenierungstechniken des Fernsehens, um eine entfremdete Rezeptionssituation zu erzeugen. Aus der daraus resultierenden Distanz zum Rezeptionsgegenstand soll bestenfalls eine kritische Reflexion über die Produktion von Sichtbarkeit und von fernsehmedialen Diskursen initiiert werden. Darüber hinaus kann auf die Diskurs-Hörbücher im Supposé-Verlag verwiesen werden: so z.B. „2 x 2 = Grün“ (Heinz von Förster) oder „Faktor X. Das Ding und die Leere“ (Slavoj Zižek). Populäre Medien werden für (relativ) unpopuläre Wissenspräsentationen genutzt, die sich aber in den entsprechenden Wissenschaftsszenen wiederum als populär erweisen. Es findet hierbei letztlich aber kein Einlassen auf die Eigensinnigkeit von Wissens- und Wissenschaftspopularisierungen im Medium Fernsehen sowie Hörbuch statt, ebenso wenig eine instruktive mediale Transformation wissenschaftlicher Wissensproduktion. Das Populär-Mediale wird hierbei als Mittel und die Popularisierung als Zweck betrachtet.
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für Philosophie im Fernsehen zu analysieren (Kap. 4). Abschließen werde ich meine Ausführungen darauf aufbauend mit der Diskussion der beiden folgenden Fragen: In welchem Verhältnis stehen die Philosophie im Fernsehen und die Philosophie des Fernsehens? Muss der Diskurs zur Philosophie des Fernsehens durch die Philosophie im Fernsehen modifiziert werden (Kap. 5)?
P HILOSOPHISCHE D ENKFORM / D IALOG Der Dialog, von gr. dialogos ,Gespräch‘, stellt in der griechischen und römischen Antike die Grundform philosophischen Denkens dar und ist zugleich das wesentliche Medium des Philosophierens.8 Seit Sokrates und Platon geht es in philosophischen Dialogen um „die Entwicklung einer Meinung zur Wahrheit“ (Horster 2008, 112) ohne Zuhilfenahme der Anschaulichkeit. Der Dialog dient zur sachlichen Klärung eines Begriffs oder eines Themas. Durch Rede und Gegenrede, Analyse und Synthese von Begriffen, Bildung von Hypothesen und die Überprüfung von Thesen an Antithesen wird die Darstellung philosophischer Probleme anschaulich gemacht. Die Dialektik ist hierbei die Erkenntnismethode. Die sokratisch-platonischen Dialoge besitzen darüber hinaus das Ziel, eine moralische Haltung im theoretischen Dialog auszubilden: „Die Menschen sollten fähig werden, mit anderen zu kommunizieren und ihre eigene Meinung zu korrigieren. Dialogprinzip ist also die Anerkennung der
8
Hösle (2006, 32) differenziert zwischen Dialog und Gespräch wie folgt: „,Dialog‘ bezeichne ein literarisches Genre, ,Gespräch‘ eine direkte soziale Interaktion.“ Das literarische Genre des philosophischen Dialogs „spiegelt bzw. transformiert“, so Hösle (ebd., 8), „ein reales Phänomen, den philosophischen Austausch zwischen verschiedenen Menschen. Dieser Austausch gehört [...] wesentlich zur Praxis des Philosophierens [...].“ Philosophisches Denken ist, wie Schnädelbach (1989, 24) betont, immer dialogisch: „In der Reflexion, d.h. dem Denken des Denkens, dem Nachdenken über das Gedachte, der Thematisierung unserer Thematisierungsweisen usf., übernimmt man stets abwechselnd die Rolle von Proponent und Opponent; man macht sich selbst Einwände, um sie nach Möglichkeit zu entkräften oder seine Überzeugungen mit Gründen zu ändern.“
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Gleichwertigkeit und das Ernstnehmen aller Gesprächspartner“ (ebd.). Die entscheidenden Dialogprinzipien sind Gleichberechtigung und Gleichheit. Im Unterschied zu den Sophisten geht es nicht um die unbedingte Durchsetzung der eigene Meinung, indem man durch geschickte Redekunst seinen Gesprächspartner überredet – Sophisten sind aus dieser Perspektive primär Wortkünstler und keine Philosophen. Aus der Perspektive von Sokrates und Platon stehen bei den Sophisten geschwätzige Scheinweisheiten im Vordergrund und nicht der Wahrheitsanspruch einer Aussage. Hierbei wird die Bedeutung der Sophisten hinsichtlich der aufklärerischen Popularisierung des philosophischen Denkens ausgeblendet. Die moderne Philosophie hat den Begriff der Dialogphilosophie hervorgebracht.9 Martin Buber hat die Dialogphilosophie grundlegend in seinem Hauptwerk „Ich und Du“ (1923/2008) entwickelt. Ein intersubjektiv gelingender Dialog ist für Buber nur durch die wechselseitige Anerkennung des Dialogpartners als Menschen, dem ich vertrauen kann, möglich. Nur hierbei handelt es sich um eine wirkliche Begegnung, in der man für den anderen in seiner Individualität bedeutsam ist. Diese menschliche Beziehung zueinander ist für Buber entscheidender als die argumentative Verständigung. Nur so kann man, auch bei subjektiven Differenzen in der Begegnung, im dialogischen Denken und Handeln zueinander finden. Einen Dialog führt man darüber hinaus, so Buber, nicht nur sprachlich, sondern auch durch „Beobachtung“, „Betrachtung“ und „Innewerdung“. Die Inszenierung dieser Art von dialogischer Beziehung und Anerkennung zwischen Precht und seinem jeweiligen Gast ist entscheidend für die Rezeption des philosophischen Dialogs und seine Bewertung durch die Zuschauer. Noch eine andere Position der modernen Dialogphilosophie hilft bei der philosophischen Einordnung der Fernsehdialoge von „Precht“: das Konzept der „Dialogik“ von Goldschmidt (1948/1993), in dessen Zentrum die produktive Bedeutung des Widerspruchs im dialogischen Denken steht. Hiermit formuliert Goldschmidt eine Kritik an der Dialektik als erkenntnisleitende Methode in den sokratisch-platonischen Dialogen: „Wo ein Widerspruch laut wird, dort, meint man, sei etwas falsch, statt zu begreifen, dass dort, wo kein Widerspruch vorliegt, etwas falsch sein muss“ (ebd., 15). Für Goldschmidt ist entscheidend, dass sich widersprechende Standpunkte aus-
9
Vgl. v.a. Martin Buber (1923/2008); Ferdinand Ebner (1921/2009); Franz Rosenzweig (1921/1988); Hermann Levin Goldschmidt (1948/1993).
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zuhalten und in ihrer gleichberechtigten Bedeutung anzuerkennen sind. Nur so kann die Anerkennungssituation jeden Gegenübers im Dialog verwirklicht werden. Philosophische Dialoge finden insgesamt an der Grenze von Expertenund Laienpublikum statt und können als erste mediale Form philosophischer Wissenspopularisierung bezeichnet werden. In der Gegenwartsphilosophie ist das Genre des philosophischen Dialogs hingegen bedeutungslos geworden, wie Hösle (2006, 3) betont. In der Mediengegenwart des deutschen Fernsehens wird Philosophie10 gleichwohl fast ausschließlich in Dialogform präsentiert – und ist gefordert, sich auf die spezifische Medialität des Fernsehens, seine Inszenierungslogiken, auf seine, so es sie geben sollte, Philosophie eigensinnig einzulassen.11
P HILOSOPHIE DES F ERNSEHENS / T ELEVISIVES D ENKEN UND T ELEVISUALITÄT Das Fernsehen hat, wie Engell und Fahle (2006b, 7) betonen, „seine eigene Philosophie“12. Darunter verstehen sie eine besondere „Form des Denkens,
10 Neben der Sendung „Precht“ können exemplarisch die beiden Sendungen „Sternstunde Philosophie“ (SRF Kultur Gesprächsreihe, 3sat) oder das ARTEMagazin „Philosophie“ genannt werden. 11 Interessanterweise sind im Unterschied zu seinen philosophischen Fernsehdialogen, die keine sonderlich bemerkenswerten Einschaltquoten erzielen oder besonders relevante Anschlusskommunikationen erzeugen, die publizistischen Tätigkeiten von Precht bedeutend erfolgreicher. In diesem Feld funktioniert die philosophische Wissenspopularisierung effektiver und nachhaltiger. 12 Es geht mir in diesem Kapitel lediglich um eine knappe Skizze der Grundgedanken der Philosophie des Fernsehens wie sie von Engell und Fahle (2006a, 2006b) beschrieben wird, um diese mit Blick auf das Fernsehformat „Precht“ von der Philosophie im Fernsehen heuristisch zu unterscheiden. Darüber hinaus soll in Anlehnung an die hier rekonstruierten Bausteine einer Philosophie des Fernsehens gefragt werden, ob man das Fernsehformat „Precht“ auch als Beispiel für die Philosophie des Fernsehens fungieren kann und nicht ausschließlich Philosophie im Fernsehen repräsentiert, gerade mit Blick auf die spezifische Performanz der Bildstile des Fernsehformats „Precht“.
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die das Fernsehen […] praktiziert und wir mit ihm“ (ebd.). Diese Denkform bezeichnen sie als „televisive[s] Denken“ (ebd.), in dessen Zentrum die Auseinandersetzung mit dem Fernsehen als Medium des schaltbaren Bilds steht: „Philosophie des Fernsehens […] wäre […] der Beitrag, den das Fernsehen zu seiner eigenen Konstitution leistet, oder anders: der – nicht-begriffliche – Begriff, den das Fernsehen von sich selbst hat und der – nicht-diskursive – Diskurs, in den das Fernsehen sich selbst operationalisiert und fortschreibt.“ (Ebd., 7ff.)
Die Philosophie des Fernsehens wird anhand der drei Leitbegriffe Bild, Ereignis13 und Serie14 (vgl. zu Letzterem Cavell 2001) entfaltet, „in denen das Fernsehen sich sehen lässt, sich ereignet und auf sich zurückweist“ (Engell/Fahle 2006b, 11). Die Perspektive einer Philosophie des Fernsehens, wie sie von Engell und Fahle (2006b, 14) rekonstruiert wird, wendet ihren medienphilosophischen Blick vom (herkömmlichen) Verständnis des Fernsehens im Rahmen der Bedeutungsproduktion sowie Wissensvermittlung ab. Vielmehr fokussieren sich die Autoren auf die Auseinandersetzung mit der Eigensinnlichkeit des Fernsehbildes, auf die Reflexion der eigenen
13 Das Ereignis ist der zweite, zeitbezogene Leitbegriff der Philosophie des Fernsehens: „Es hat zunehmend den Bildern vom Ereignis die ereignishaften Bilder zur Seite gestellt, also solche, die ihrerseits vorübergehend sind, genauer: die ihren Charakter als vorübergehende reflektieren. Die Bilder des Fernsehens sind nicht nur an- und abschaltbar, an- und abwählbar; sondern nur als schalt- und wählbare sind sie überhaupt Bilder. [...] Das Fernsehen begreift sich [...] nicht mehr [...] über das (andauernde, sichtbare) Bild selbst als vielmehr über die ereignisförmige Differenz zwischen den Bildern, die es wiederum als Bild organisiert und reflektiert“ (ebd., 15). 14 Die Organisation und Ordnung sowie den Zusammenhang und -halt des Fernsehens beschreiben Engell und Fahle (ebd., 17) mit der Zeitfigur der Serie: „Im Konzept der Serie [...] denkt das Fernsehen über die Wiederholung als notwendige Strukturgebung im Reich der Ereignis gewordenen Bilder nach, das das Fernsehen ist. Serien verknüpfen nicht nur Ereignisse nach bestimmten Schemata miteinander, machen sie dadurch erwartbar und erinnerbar und verleihen den Ereignisketten eine je spezifische Identität, sondern sie reflektieren diese Verknüpfungen und Varianten, machen sie sichtbar.“
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Sichtbarkeit und des Sichtbaren durch das Fernsehbild und auf die Abgrenzung des Fernsehbildes zu anderen Bildtypen: „Das Bild ist die Form, in der das Fernsehen seine eigene Sinnlichkeit als Visualität [...] zunächst organisiert und dann reflektiert. Im Fernsehbild wird die Wahrnehmung des Fernsehens ihrerseits wahrnehmbar“ (ebd., 12). Ein instruktives Beispiel für eine so verstandene medienphilosophische Reflexion des Fernsehbildes stellt Caldwell (1995) mit seinen Untersuchungen zur Televisualität dar, der das televisive Bilduniversum als Performanz von Bildstilen begreift, die sich als Prozesse visueller Performanz darstellen bzw. als ein Interferieren verschiedener Bildstile. Caldwell entwickelt seine Überlegungen mit Blick auf die Transformationen im USamerikanischen Fernsehen seit den späten 1970er Jahren bis in die frühen 1990er Jahre. Diese Veränderungen führten dazu, dass ein visueller Stil in den Mittelpunkt der Fernsehproduktion rückt. Die Sender und Sendungen erhalten durch neue, eigensinnige Bildgestaltungen bzw. durch einen neuen charakteristischen Look der Fernsehbilder eine visuelle Identität – durch neue Technologien der Bilderzeugung und -bearbeitung (z.B. digitale Videotechnologie oder AVID-Technologie).15 Dieser neue televisuelle Look soll Zuschauer beeindrucken und binden bzw. neue Publika für ein neues Fernsehen finden. Das Fernsehbild bzw. sein charakteristischer Look werden nicht mehr als Rahmen, Illustration oder Bote von Inhalten, Themen, Texten und Ideen betrachtet, ebenso wenig wird das Fernsehen im Kontext der Dichotomien von Form und Inhalt oder Medium und Botschaft beschrieben. Die Fernsehsender zeichnen sich vielmehr durch „einen je spezifischen visuellen Stil aus […] [und] Stil [wird] zum eigentlichen Signifikat des Fernsehens [Hervorhebung im Original]“ (Engell 2012, 52). Das Fernsehen beginnt hierbei, sich selbst sichtbar zu machen und dadurch „selbst eine Praxis der Theoretisierung [Hervorhebung im Original]“ (ebd., 51f.) auszubilden.
15 Die leitenden televisuellen Technologie sind für Caldwell (1995): Videoausspielung, Motion Control, elektronischer und nicht-linearer Schnitt, digitale Effekte, neues Filmmaterial (T-Korn) und Rank-Cintel.
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„Precht“ ist eine philosophische Talkshow, die im ZDF seit dem 02. September 2012 in unregelmäßiger Folge am späten Sonntagabend ausgestrahlt und auf 3sat wiederholt wird. Bis zum 21. Mai 2017 wurden 31 Folgen gesendet. Der Gast- und Namensgeber der Sendung ist der im deutschsprachigen Raum populäre Philosoph und erfolgreiche Publizist Richard David Precht. In jeder Folge diskutiert er mit einem prominenten Gast aus Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft oder Politik fünfundvierzig Minuten lang ein aktuelles Thema der Gegenwartsgesellschaft und sucht nach originellen sowie pragmatischen Erkenntnissen zu grundlegenden Fragen des menschlichen Lebens. Diskutiert wurde bisher u.a. über Bildung, Freiheit, Gerechtigkeit, Geld, Arbeit, Europa, Big Data, Heimatliebe und Fremdenhass oder Krieg und Frieden. Die Sendung wird redaktionell von Werner von Bergen betreut, der als Fernsehjournalist und leitender Redakteur in der Hauptredaktion Kultur und Wissenschaft des ZDF tätig ist, und in einem Berliner Filmstudio vom Regisseur und Fernsehautor Gero von Boehm produziert. Das Ziel der Sendung besteht darin, „die Philosophie im Dialog mit anderen Disziplinen zurückzuführen zu ihrer eigentlichen Aufgabe: die Probleme der Menschen in ihrem Alltag zu verstehen und nach einer Lösung zu streben“.16 Das ZDF setzt mit „Precht“ als direkter Nachfolgesendung der im Jahr des Sendestarts eingestellten philosophischen Talk- bzw. Dialogshows „nachtstudio“ (1997-2012, Gastgeber und Moderator: Volker Panzer) und „Das Philosophische Quartett“ (2002-2012, Gastgeber und Moderatoren: Peter Solterdijk und Rüdiger Safranski) weiterhin auf Philosophie im Fernsehen.17 Diese drei Sendungen stehen in der Tradition der puristischen Literatursendung „Das Literarische Quartett“ (ursprünglich 1988-2001, Gastgeber und Moderatoren, hinzu kam jeweils ein Gastkritiker: Marcel Reich-Ranicki,
16 Vgl. http://www.intersciencefilm.de/produktionen/precht.html (zuletzt aufgerufen am 08.08.2017). 17 In allen drei Philosophiesendungen werden stets, so rudimentär auch immer, die vier Grundfragen der Philosophie (Wissen/Tun/Hoffen/Mensch) adressiert. Dies dient einerseits als der Selbstidentifikation als Philosophie bzw. Philosoph, ist aber andererseits zugleich unter den Bedingungen des Fernsehens häufig das Einfallstor der Banalisierung philosophischen Wissens.
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Hellmuth Karasek, Sigrid Löffler): Worte gegen die fernsehmediale Bilderflut, das war das Credo dieser Sendungen und ist es bedingt auch weiterhin bei „Precht“. Gerade dadurch konnte das ZDF zur populären Wissensproduktion beitragen, wie der ehemalige Leiter der ZDF-Hauptredaktion Kultur und Wissenschaft, Peter Arens, betont: „Für viele unserer Zuschauer war das laute Nachdenken, sind die häufig überraschenden Einblicke und manchmal provozierenden Ausblicke am späten Sonntagabend zum wertvollen und anregenden Wochenausklang im Fernsehen geworden.“18 Die Fernsehsendung „Precht“ erhielt bereits kurz nach ihrem Sendestart den „Deutschen Fernsehpreis 2013“ in der Kategorie „Besondere Leistungen“.19 Die Juryvorsitzende Christiane Ruff betonte, dass „Richard David Precht mit seinen aufregenden und anregenden Gesprächen schon im ersten Sendejahr die deutsche Fernsehlandschaft“ bereichert.20
18 http://www.intersciencefilm.de/produktionen/detail/article/precht-1.html (zuletzt aufgerufen am 08.08.2017). 19 Vgl. http://www.deutscher-fernsehpreis.de/archiv/archiv-2013/preistraeger-2013 (zuletzt aufgerufen am 08.08.2017). 20 http://www.presseportal.de/pm/7840/2564413 (zuletzt aufgerufen am 08.08. 2017). Im Gegensatz zu dieser Auszeichnung gibt es von akademischer Seite aus kaum eine (öffentliche) Anerkennung als bemerkenswerte Form der Philosophie im Fernsehen oder der Philosophie des Fernsehens. Die journalistische Auseinandersetzung mit „Precht“ wurde in den ersten beiden Jahren nach dem Sendestart zumeist von hämischer und despektierlicher Kritikwollust bestimmt: „Leichter denken mit Richard David Precht. [...] Er liebt die Philosophie. Aber nicht hart geschüttelt, sondern weichgerührt für’s breite Publikum. Wie Hochgeistiges zum Softdrink wird, das kann man jetzt im ZDF nachvollziehen. [...] Da erklingen Weisheiten wie: Kinder sind keine Fässer, die man mit Wissen abfüllt. Oder: Das Bildungssystem ist keine Plantage, in der ein Obstgärtner alles auf gleich trimmen kann. So reden Coaches“ (Marc Reichwein am 02.09.2012 in der WELT). „Precht macht dumm“ (Maximilian Probst am 03.09.2012 in ZEIT ONLINE). „Bildungsprotzer im Lichterkranz“ (Joachim Huber am 08.04.2013 in DER TAGESSPIEGEL). Nach 2013 ist diese starke Sendungskritik zurückgegangen. Die Sendung wurde insgesamt positiver aufgenommen. Mittlerweile löst „Precht“ keine bemerkenswerten journalistischen Debatten mehr aus. Auch hier steht die Sendung in der Tradition mit den anderen beiden ZDF-
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Als gestalterisches Merkmal der Sendung dient ihr Look – dessen Adresse die Philosophie des Fernsehens ist. Mit diesem spezifischen „Precht“Look wird das Ziel verfolgt, nicht nur diskursiv und durch die Persönlichkeit Richard David Precht21, sondern auch visuell ein spezifisches „Precht“Publikum herzustellen: In der nächtlich wirkenden Studioatmosphäre fokussiert sich alles auf das Gespräch von Precht und seinen Gästen. Ein Publikum gibt es nicht. Die mäandernden hellen und dunklen Leuchtkreise, die auf dem schwarzen Bildhintergrund während der gesamten Sendungen erscheinen, erinnern an den abstrakten Kurzfilm „An Optical Poem“ von Oskar Fischinger aus dem Jahr 1938, den er für die Filmproduktions- und verleihgesellschaft MGM drehte und in dem er sich schon zu Beginn des Tonfilms Gedanken über die Verbindung von Musik und visuellen Effekten macht. Für „An Optical Poem“ hat Fischinger die „Ungarische Rhapsodie
Philosophiesendungen „nachtstudio“ und „Das philosophische Quartett“, die außerhalb von vereinzelten Feuilleton-Reaktionen, keinen bemerkenswerten Einfluss auf die öffentliche Diskussion in Deutschland genommen haben. In Deutschland ist Philosophie im Fernsehen fast ausschließlich ein Feuilletonthema. 21 Das ZDF betreibt in diesem Kontext, hier repräsentiert durch Peter Arens, einen strategischen Personenkult und versteht sich auch als mitverantwortlich für den großen publizistischen Erfolg von Precht: „,Precht‘ kommt! Das ZDF freut sich auf Richard David Precht, den Philosophen, der wie kein Zweiter in Deutschland das Modell des bürgernahen, sichtbaren, engagierten Intellektuellen etabliert hat, wie die ZEIT einmal attestierte. Ein junger homme de lettres, öffentlich und öffentlichkeitswirksam, so wie es ihn allenfalls in den angelsächsischen, hispanischen oder französischsprachigen Kulturen gibt. Ein Denker mit Abstand zum akademischen Elfenbeinturm, ein eminenter Erzähler, ein nimmersatter Weltenbummler in den Gefilden der abendländischen Philosophie, der so anschaulich und vergnüglich über die schwierigsten Fragen unseres Lebens schreibt, dass seine Werke zu phänomenalen Auflagenhöhen kamen und kommen. Anfangs übrigens nicht ganz ohne hilfreiche Unterstützung aus dem ZDF. Es war Elke Heidenreich, die 2008 in ihrer Sendung ,Lesen!‘ Prechts Buch mit dem zum geflügelten Wort gewordenen Titel ,Wer bin ich und wenn ja, wie viele?‘ einer großen Öffentlichkeit als ,unverzichtbar‘ angepriesen und damit fast über Nacht zu einem Longseller gemacht hat“ (http://www.intersciencefilm.de/ produktionen/detail/article/precht-1.html zuletzt aufgerufen am 09.08.2017).
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Nr. 2“ von Franz List verwendet. Eine Rhapsodie passte als musikalische Form zur experimentellen Form des abstrakten Kurzfilms, um die Beziehungen und Hierarchien zwischen dem auditiven und visuellen Rhythmus zu erproben, denn die musikalischen Themen einer Rhapsodie stehen nicht in unmittelbarer Beziehung zueinander.22 Zum Look von „Precht“ gehört v.a. die Studioatmosphäre, die wesentlich durch den Einsatz von Licht hergestellt wird: „Licht ist [...] ein Prototyp einer Erzeugenden von Atmosphären“ (Böhme 2013, 139) und das wichtigste Mittel zur Inszenierung des Raumes. Böhme (ebd., 135) unterscheidet in seiner Auseinandersetzung mit der Herstellung von Atmosphären zwischen Licht und Helle, denn „die Erfahrung des Lichts als solchem“ ist die „Helligkeit“, die nicht mit einer Lichtquelle gleichzusetzen ist: Es „ist nicht ein Sehen von etwas, sondern quasi ein Sehen schlechthin“ (ebd., 147). Das Wahrnehmen der „Helle ist die Grunderfahrung des Sehens“ (ebd., 150). Abstufungen der Helle bestimmen die Weisen der Raumwahrnehmung und unser „Gefühl, im Raum zu sein“ (ebd., 152). Für die Inszenierungskunst von Räumen ist die Helle als Gestaltungsmittel dazu da, Dinge auf bestimmte Art und Weise zu zeigen. In der Fernsehsendung „Precht“ wird die Beleuchtungskunst, zusammen mit der Nahaufnahme, zum wesentlichen Mittel der Herstellung der spezifischen televisuellen Studio- bzw. „Precht“atmosphäre. Zur Kontrastierung von hell (Vordergrund, Gesprächsraum) und dunkel (Hintergrund, Kulisse) werden in der Fernsehsendung beide Gesprächspartner an einem Tisch platziert, der von zahlreichen niedrig gehängten Rundlampen eingekreist wird, die als Spots den intimen Gesprächsort markieren und mit dem Tisch, der als runder Leuchtkegel erscheint, korrespondieren. Hierdurch wird der Eindruck erzeugt, dass das Gespräch im Licht der Erkenntnis stattfindet und eine, überspitzt formuliert, Erkenntnislichtung hervorbringt. Der helle Kreisfokus der Lampen und des Tisches stehen in Opposition zum schwarzen Hintergrund und den auf diesem mäandernden dunkleren Leuchtkreisen. Durch diesen Einsatz von verschiedenen Formen der Helligkeit und Dunkelheit wird ein eigensinniger televisueller
22 Zudem erinnern die mäandernden hellen und dunklen Leuchtkreise in der Sendung „Precht“ an Walter Rottmann, der im „Lichtspiel Opus 1“ aus dem Jahr 1921 organische Figuren nach der Musik von Max Butting tanzen ließ bzw. filmisch abstrakte Ornamente in Bewegung inszenierte.
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Raum (Philosophie des Fernsehens) erzeugt, in dem im Fernsehbild die Wahrnehmung des Fernsehens als Performanz von Bildstilen wahrnehmbar wird, und zugleich ein Aufmerksamkeitsraum geschaffen, der die Wahrnehmung von der Philosophie im Fernsehen ermöglicht. Die Nahaufnahmen erzeugen zudem den Eindruck von Intimität, weil der Zuschauer durch sie an die Gesprächspartner herangeführt wird und das Gefühl erhalten soll, mit den Gesprächspartner einerseits immer auf Augenhöhe, also indirekt in die Diskussion involviert zu sein23 bzw. das Denken und Reden der Gesprächspartner live zu erleben – die Fernsehdialoge selbst. Im Vorspann wird Precht entsprechend im Studio sitzend beim Denken und Schreiben vor der Sendung gezeigt. Dieser Vorspann endet mit einem auffordernden-autoritären Blick von Precht in die Kamera und der zeitversetzten Einblendung der einzelnen Worte des jeweiligen Sendungsthemas. Anschließend befindet sich der Zuschauer direkt in der Studiosituation, in der Precht hektisch eine kurze und aufgeregte Anmoderation in die Kamera spricht. Gelassenheit und Muße, die etwa für sokratisch-platonische Dialoge konstitutiv sind, fehlen bei „Precht“/Precht mit Blick auf die Sendezeit (fünfundvierzig Minuten) und hinsichtlich des Sendungsbewusstseins der beiden Gesprächspartner, die sich kaum zum Denken, (Nach-)Fragen oder Zweifeln Zeit lassen, sondern sekundenschnell ihre (vorbereiteten) Thesen präsentieren. Die Nahaufnahmen beim Gespräch sollen zudem den Eindruck von Authentizität und Aufrichtigkeit erzeugen: Die Zuschauer können beiden Gesprächspartnern permanent ins Gesicht sehen.24 Dieser Eindruck wird durch das Hin- und Herschwenken der Kamera bei den Nahaufnahmen erzielt, ebenso wie durch die Einblendung von Halbtotalen, um zu zeigen, dass die beiden Gesprächspartner sich fast kontinuierlich ansehen, auch wenn der andere redet, und mit höchster Aufmerksamkeit am Gespräch teilhaben und dem anderen zumeist demonstrativ durch Kopfnicken zustimmen.
23 Allerdings bleiben die Zuschauer bei den philosophischen Fernseh-Dialogen, ebenso wie die Leser bei philosophischen (Text-)Dialogen, nur Beobachter. 24 Auffallend ist in diesem Kontext die rhetorische Typographie des Sendungstitels „Precht“: Precht ist echt, aber das Echte ist im Sendungstitel „Precht“ in der Schieflage.
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Grundlegend für die von Precht und seinem jeweiligen Gast aufgezeichnet-inszenierte Philosophie im Fernsehen ist das Performativwerden der Anerkennungssituation. Das ist gleichermaßen entscheidend für die in diesem Format inszenierte Philosophie des Fernsehens – mit Blick auf die Bilder der wechselseitigen Beobachtung, Betrachtung und Innewerdung.25 Kamera, Licht und Schnitt eröffnen einen parallel stattfindenden Dialog ohne sprachliche Zeichen, der entscheidend ist für die Produktion des philosophischen Fernsehdialogs und seine anschließende Rezeption durch die Zuschauer. Interessant hierbei ist, dass dieses Nicht-Sprachliche (Bilder von Dialogen als Bild-Dialoge) letztlich zur Bedingung der Möglichkeit für die Rezeption des Sprachlichen (konkrete Dialoge) wird. Ausnahmen hiervon stellen die wenigen Situationen dar, in denen die Gesprächsteilnehmer, v.a. aber Precht selbst, zur Seite schauen und in sich hinein denken bzw. die Zuschauer sie beim lauten Denken beobachten können. Die Nahaufnahmen werden so zur Produktion des Bildes von der Vorstellung der Intimität eines Dialogs, an dem man als beobachtender Zuschauer unmittelbar teilnimmt. Dieser Eindruck des intimen Involviertseins der Zuschauer wird durch die starke Inszenierung der Mimik und Gestik der Gesprächspartner ermöglicht, als wolle man auf Béla Balázs’ (2001, 16ff.) Beschreibung des „sichtbaren Menschen“ zurückweisen, auch wenn jener sich nur auf den Stummfilm bezog: „Seine Gebärden [die des Menschen der visuellen Kultur] bedeuten [...] unmittelbar sein irrationelles Selbst, und was sich auf seinem Gesicht und in seinen Bewegungen ausdrückt, kommt von einer Schichte der Seele, die Worte niemals ans Licht fördern können. Hier wird der Geist unmittelbar zum Körper, wortlos, sichtbar. [...] Der Film ist es, der den unter Begriffen und Worten verschütteten Menschen wieder zu unmittelbarer Sichtbarkeit hervorheben wird.“
Diese eigensinnige und ausdrucksstarke „Televisualität“ (Caldwell 1995) der Fernsehsendung „Precht“ muss im Kontext allgemeiner fernsehästheti-
25 Die Nähe der Fernsehdialoge von „Precht“ zur Dialogphilosophie von Martin Buber (1923/2008) wird hierbei ebenso deutlich wie zu den sokratisch-platonischen Dialoge, für die die Anerkennung der Gleichwertigkeit und das Ernstnehmen aller Gesprächspartner konstitutiv ist.
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scher Veränderungen betrachtet werden, wie sie von Stauff (2014, 314) rekonstruiert werden: „Mit einer Vervielfältigung und Ausdifferenzierung der technischen Verbreitungswege und mit einer Flexibilisierung und Individualisierung des Zugriffs auf die zahlreicher werdenden Programme adressiert das Fernsehen immer weniger eine anonyme (und möglichst breite) Zuschauerschaft; stattdessen werden durch unterschiedliche Genres, Themen und Stile verschiedene Zielgruppen definiert. Dies hat zur Folge, dass die unterschiedlichen Sendungen auch stärker differenziert werden und einen sofort wiedererkennbaren ,look‘ erhalten. Fernsehsendungen erlangen nicht zuletzt durch Anlehnung an filmische Inszenierungsformen oder durch Einsatz von (digitalen) Grafiken eine Identität, die sie aus dem Flow der Programme herauslöst und zugleich das (sub-)kulturelle Wissen bestimmter Zuschauergruppen aufgreift.“
Nicht nur der Look der Sendung soll zur ästhetischen Aufmerksamkeitsbindung und Markenbildung beitragen, sondern auch die Titelmusik. Der hierzu verwendete Song „XOXO“26 vom deutschen Rapper Casper feat. Thees Uhlmann27, der 2011 auf seinem gleichnamigen Album beim Label „Four Music (Sony Music)“ erschienen ist, wird im Intro von einer Computerstimme („election establish“) und von computerisierten Selektions- und Schaltgeräuschen eingeleitet und im Outro hiervon mit dem Satz „election aborted“ beendet. Diese selbstreflexive Rahmung der Sendung verweist darauf, dass man weniger davon ausgeht, im linearen Fernsehen gesehen zu werden, sondern vielmehr nicht-linear auf second screens in der ZDFMediathek. Auch hierdurch soll die Individualisierung der Fernsehnutzung im Allgemeinen und der Sendungsrezeption im Speziellen erhöht werden.28
26 „XOXO“ steht im Netzjargon bei Emails, WhatsApp, SMS oder Chats für „Kuss (,X‘) und Umarmung (,O‘)“. 27 Thees Uhlmann ist ein populärer deutscher Musiker (Sänger von „Tomte“, Solokünstler) und Buchautor. 28 Auch dies entspricht den allgemeinen fernsehmedialen Entwicklungen der letzten Jahre: „Die zeitliche Entkopplung von Programmstruktur und Flow wird dabei durch neue Formen crossmedialer Ordnungssysteme kompensiert, die einen audience flow zwischen verschiedenen Geräten und Plattformen ermöglichen. [...] Die Individualisierung des Zugriffs wird begleitet von der Re-Sozialisierung des Fernsehschauens durch sogenanntes ,Social TV‘: Während das Fernsehen
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Die Titelmusik erklingt nur akustisch. Inhaltliche Bezüge zwischen dem Song und der Sendung bestehen nur latent: u.a. Drogen und Depression, als Beispiele für aktuelle gesellschaftliche Themen; oder die zerbrechliche Intensität einer Intimbeziehung. Die Interpretationswollust sollte hier allerdings nicht überreizt werden, denn als Selektionsgründe können auch schlicht der Musikgeschmack der Redaktion und des Gastgebers fungieren sowie der Versuch, mit einem populären Künstler und einem catchy Song bzw. einem Ohrwurm, ein neues Fernsehformat zu popularisieren und dem populären Song-Gedächtnis hinzuzufügen sowie die Sendung „Precht“ (auch) für eine jüngere Zielgruppe attraktiv erscheinen zu lassen. Ein konkreter Bezugspunkt zwischen Song und Sendung besteht allerdings in einer Hinsicht: die Pippi-Langstrumpf-Philosophie der alternativen Wirklichkeitsperspektiven und utopischen bzw. anarchistischen Wirklichkeitsumgestaltungen: „Und immer wieder diese süßen Endorphine-Schübe / Fliegen über den Dingen / Leben die Lieder, die wir lieben / Die Pläne, die wir schmieden / Ungenau, jung und dumm / Wir malen uns die Welt in kuntergraudunkelbunt.“ (Casper feat. Thees Uhlmann, XOXO)
Die Beurteilung, ob Precht und seine Gäste diesen inhaltlich Anspruch einlösen, d.h. alternative, unerwartete oder originelle Wirklichkeitsperspektiven herausarbeiten, und das von Precht formulierte Ziel der Sendung erreicht wird, also Lösungsangebote für die gegenwärtigen Alltagsprobleme der Menschen zu formulieren, ist nicht Gegenstand meiner Überlegungen. Vielmehr geht es mir abschließend um die Diskussion der fernsehmedialen Umsetzung der spezifischen Gesprächsform von „Precht“: Sind die Gespräche bei „Precht“ fernsehgerechte Formen eins philosophischen Dialogs?
mit seiner Liveness sowohl die Inhalte als auch die Rhythmen der Social-MediaKommunikation erheblich mitstrukturiert, so integrieren Fernsehsendungen immer häufiger Verfahren, die eine zur Fernsehrezeption parallel laufende Nutzung von Social Media motivieren und strukturieren. Tablets und Mobiltelefone werden so zum second screen – einem den Fernsehschirm ergänzenden und technisch sowie thematisch mit diesem verbundenen zweiten Display [Hervorhebungen im Original]“ (Stauff 2014, 315).
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Die Fernsehdialoge von „Precht“ kommen ohne die performative Dialektik des philosophischen Dialogs aus und inszenieren einen philosophischen Dialog ohne Dialogizität. Es findet keine Entwicklung einer Meinung zu einer konkreten Position statt – stellvertretend für das, was in sokratischplatonischen Dialogen als Wahrheit bezeichnet wird –, sondern es wird zumeist ein wortgewaltiger Crash-Kurs zu den jeweils zur Diskussion stehenden Themen präsentiert, fokussiert auf die bereits mehr oder weniger bekannten Thesen der Gesprächspartner. Der Sound bzw. der Klang des Gesagten erscheint dabei häufig wichtiger als das Gesagte. Darüber hinaus ergibt sich keine überraschende Argumentationskonstellation, weil sich die beiden Gesprächspartner zumeist einig sind. Die Gespräche bei „Precht“ sind daher äußerst selbstbezüglich. Entsprechend finden weder kontroverse Diskussionen noch Erläuterung bzw. Problematisierung der vorgestellten Thesen statt, aber auch keine sachlich-explikativen Klärungen der verwendeten Leitbegriffe. Es gibt nur vereinzelt Rückbezüge in die Philosophiegeschichte, die aber nicht konkret kontextualisiert werden und so eher wie ein Namedropping oder die Ausstellung der eigenen philosophischen Gelehrsamkeit wirken, wodurch sie eine intellektuelle Alibifunktion erhalten. Der Dialog als Gesprächsform dient bei „Precht“ nicht zur sachlichen Klärung eines Begriffs oder eines Themas. Die Sendungsthemen werden nicht, wie es für die Darstellung philosophischer Probleme in Dialogen üblich ist, durch Rede und Gegenrede, Analyse und Synthese von Begriffen, Bildung von Hypothesen und die Überprüfung von Thesen an Antithesen anschaulich gemacht. Hingegen dominieren in allen Folgen der Fernsehsendung zumeist starke und plakative Formulierungen wie z.B. die folgenden: „Zukunft spielt keine Rolle mehr“, „radikale Gegenwartsbezogenheit von Politik“ oder „Diktatur der Gegenwart“ (Harald Welzer in der Sendung vom 08.09.2013 zum Thema „Politik ohne Plan – Wer denkt die Zukunft?“)29; „Wir konnten nichts gegen das Böse tun.“ (Ferdinand von Schirach in der Sendung vom 03.11.2013 zum Thema „Das Böse im Menschen“) oder „Haben wir eigentlich eine Willensfreiheit, und gibt es überhaupt Schuldfähigkeit?“ (Richard
29 Vgl. https://www.zdf.de/gesellschaft/precht/zitate-von-harald-welzer-und-precht -100.html (zuletzt aufgerufen am 15.08.2017).
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David Precht, ebd.)30; „Ich glaube, dass Deutschland die beste Mitte Europas hat.“ (Nikolaus Blome in der Sendung von 05.02.2017 zum Thema „Verlust der Mitte – Wohin driftet unsere Gesellschaft?“) oder „Und ich glaube, das die große Herausforderung, auf die wir zukommen, ist, Wohlstand für alle möglicherweise nicht mehr auf der Basis von Arbeit für alle zu ermöglichen. Wenn wir das hinkriegen, haben wir vielleicht eine Chance, das, was uns heute in der Mitte wichtig ist, auch in der zukünftigen Gesellschaft halten zu können“ (Richard David Precht ebd.)31. Diese dramatische Thesenakrobatik intendiert die Durchsetzung der eigenen bzw. gemeinsamen Meinungen, indem man durch geschickte Redekunst seinen Gesprächspartner überredet. Die Adresse dieser rhetorischen Stilistik stellen aber größtenteils die Zuschauer dar, die hierdurch eingeladen werden, sich von den präsentieren Meinungen überreden zu lassen. Das Weiterdenken bleibt somit ausschließlicher Gegenstand der individuellen Ereignisrezeption und ihrer potentiellen (lebensweltlichen oder professionellen) Fortführung. Eine vom ZDF initiierte öffentliche Feedback-Kultur zur Sendung in den sozialen Medien, die eine Art kollektives Weiterdenken oder gemeinsames diskutieren der in den Sendungen vorgestellten Thesen ermöglicht, gibt es nicht – ebenso wenig einen von den Zuschauern eingerichteten Blog zur Sendung. Aus der Perspektive von Sokrates und Platon könnte man Precht und seine Gesprächpartner insofern auch als Sophisten bezeichnen, weil in der Sendung „Precht“ eine dramatische Wort- und Thesenakrobatik im Vordergrund steht und nicht der Wahrheitsanspruch einer Aussage. Die Gespräche bei „Precht“ zeichnen sich zudem häufig wie die sokratisch-platonischen Dialoge durch die Bildung einer moralischen Haltung aus: „Wenn wir jetzt nichts ändern, wird es unser Land bald nicht mehr geben“ (Gerald Hüther in der Sendung vom 02.09.2013 zum Thema „Skandal Schule – Macht Lernen dumm?“).32 Oder: „Tja, eigentlich ist Nicht-Wählen keine Möglichkeit. Aber Wählen unter den gegenwärtigen Bedingungen
30 https://www.zdf.de/gesellschaft/precht/zitate-von-precht-und-schirach-100.html (zuletzt aufgerufen am 15.08.2017). 31 https://www.zdf.de/gesellschaft/precht/precht-166.html (zuletzt aufgerufen am 15.08.2017). 32 Vgl. https://www.zdf.de/gesellschaft/precht/zitate-von-harald-welzer-und-precht -100.html (zuletzt aufgerufen am 15.08.2017).
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auch nicht“ (Richard David Precht in der Sendung vom 08.09.2013 zum Thema „Politik ohne Plan – Wer denkt die Zukunft?“). Im Gegensatz zu einer dialogischen Erarbeitung von unterschiedlichen Perspektiven oder des Zueinanderfindens im Denken nach einer kontroversen und differenzierten Diskussion, bleiben am Ende der Gespräche zumeist Merksätze (im Gedächtnis der Zuschauer) übrig – nur zu wenigen Folgen hat das ZDF diese Merksätze auf der „Precht“-Website dokumentiert. Als Beispiel hierfür können die Merksätze aus der Sendung vom 08.09.2013 zum Thema „Politik ohne Plan – Wer denkt die Zukunft?“ aufgeführt werden. Dieses Thema diskutiert Richard David Precht mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer: HARALD WELZER: „Alle westlichen Gesellschaften sind in einer Situation angekommen, wo Zukunft keine Rolle mehr spielt, sondern wo es nur noch um die Restauration, um die Aufrechterhaltung eines brüchig gewordenen Status quo geht. Das heißt eine radikale Gegenwartsbezogenheit von Politik, man könnte beinahe sagen die Diktatur der Gegenwart, das Verschwinden von Zukunft – und das ist etwas, das in sich Demokratie gefährdend ist.“ RICHARD DAVID PRECHT: „Wir leben in einer Gesellschaft, in der das Netz so fest gezogen ist, dass, wenn sie irgendeine Veränderung machen wollen, sie sofort Lobbys auf die Füße treten. [...] Wir leben in einer Aufregungsdemokratie – durch die Massenmedien –, in der der am längsten lebt, der sich am wenigsten aufregt, sondern möglichst unbeteiligt – wie Angela Merkel zum Beispiel – durch alles hindurch geht.“33
Ein weiteres Beispiel für diese Philosophie der Merksätze stellt die Sendung vom 07.09.2014 zum Thema „Big Data – Wer kontrolliert die digitalen Supermächte?“ dar, in der Precht mit dem Journalisten Gabor Steingart diskutiert: GABOR STEINGART: „Es gehört zum aufklärerischen Charakter dieser Diskussion über die Macht von Daten und Daten sammelnden Firmen dazu, dass man sich selbst Zeugnis ablegt über die Janusköpfigkeit dieser Veranstaltung: Dass man in der Tat
33 Vgl. https://www.zdf.de/gesellschaft/precht/zitate-von-harald-welzer-und-precht -100.html (zuletzt aufgerufen am 14.08.2017).
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Bequemlichkeit bekommt und dafür Daten und damit produktähnliche Bestandteile liefert.“ RICHARD DAVID PRECHT: „Wenn es die Normalität ist, dass ich alle Daten zur Verfügung stelle und meine Persönlichkeit transparent mache, dann wird ja jeder, der das nicht macht, verdächtig [...] Dazu passt auch, dass Google-Chef Eric Schmidt gesagt hat: ,Wenn Du nicht willst, dass wir etwas über Dich wissen, dann tue es am besten erst gar nicht.‘“34
Durch diese plakative Philosophie der Merksätze entsteht an der Stelle von philosophischer Erkenntnis ein Meinungskarussell bzw. -klima. Die Demonstration und Zitation von (philosophischem) Wissen findet hierbei journalistisch medien-reflexiv statt und wird vom medienpraktischen Wissen um die erfolgreiche sowie Adressaten-gerechte Ökonomie der Aufmerksamkeit bestimmt. „Precht“ präsentiert das philosophische Denken als eine Art televisueller PowerPointPräsentation: P(rechts) P(opuläres) P(laudern) und eben keine (dialogische) Philosophie im Fernsehen bzw. kein Philosophieren im Fernsehen. Genau darin besteht der performative Selbstwiderspruch der Sendung. Im Gegensatz zu den beiden anderen ZDF-Philosophiesendungen „nachtstudio“ und „Das Philosophische Quartett“, die sich durch einen Fetisch der Komplexität ausgezeichnet haben, dominiert bei „Precht“ scheinbar das Pathos des Allgemeinen und Allgemeinverständlichen. Gleichwohl wird die Sendung durch ein Diktat des Individuellen bestimmt, d.h. durch die Performativität von ICH-Positionen und ICH-Botschaften der beiden Gesprächspartner, die nur ein latent sendungsbezogenes WIR bilden und sich dabei eher um individuelle Aufmerksamkeit als um kollektive Anschlussfähigkeit bemühen. Die philosophische Popularisierung von Wissen und die Philosophie als Adresse der Sendung werden so letztlich zu einer Fernseh-Sackgasse, in die der Bestseller-Autor Precht mit dem Medium Buch nicht zu geraten scheint.
34 Vgl. https://www.zdf.de/gesellschaft/precht/zitate-von-steingart-und-precht-100. html (zuletzt abgerufen am 14.08.2017).
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F AZIT An der Fernsehsendung „Precht“ wird deutlich, dass Philosophiesendungen im Fernsehen immer die Frage formulieren, ob Philosophie überhaupt eine fernsehgerechte und populäre Angelegenheit ist, die auf fernsehmediale Vermittlung drängt. Philosophie im Fernsehen wird in Deutschland zumeist als philosophische Talkshow präsentiert, die den Dialog als Medium der philosophischen Wissenspopularisierung wählt, ohne dabei aber letztlich dialogisch im philosophischen Sinne zu sein. Dies gilt auch für die anderen beiden ZDF-Philosophiesendungen „nachtstudio“ und „Das Philosophische Quartett“, die zwar etwas dialogischer, aber letztlich doch zumeist monologisch waren. Das Fernsehen deckt hierbei unmittelbar den nicht fernsehkompetenten Gestus des Philosophierens bzw. der Philosophie als Inszenierung auf und setzt der philosophischen Wissenspopularisierung mediale Grenzen. Tiefgreifende Metamorphosen philosophischen Wissens durch die fernsehmediale Inszenierung von Philosophie fanden mit Blick auf die deutschen und deutschsprachigen Philosophiesendungen bisher nicht statt. Der Dialog ist anscheinend nicht das adäquate Medium, um philosophische Gedanken im Fernsehen zu präsentieren und zu popularisieren. Hingegen könnte die von „Precht“ präsentierte televisuelle PowerPointPräsentation philosophischen Denkens, trotz der vorausgehenden Kritik, einen neuen Raum für die Philosophie im Fernsehen öffnen, der für die beiden anderen ZDF-Philosophiesendungen „nachtstudio“ und „Das Philosophische Quartett“ nicht vorstellbar war.35 Die nicht-dialogische und nicht-lineare Aneinanderreihung von plakativ-wortgewaltigen Formulierungen sowie Thesen bzw. das assoziative Denken von Precht und seinen Gesprächspartnern ist fernsehmedial anschlussfähiger und einprägsamer als die komplexe dialogische Entwicklung von philosophischen Argumentationen. Diese plakative Popularisierung kann als unterhaltsame oder herausfordernde Einladungen verstanden werden, die eklektisch populär-philosophischen Wis-
35 Ganz vergleichbar geht das Arte-Magazin „Philosophie“ (seit 2008) vor, das vom französischen Philosophen Raphaël Enthoven produziert und moderiert wird.
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sens- und Meinungsfragmente weiterzudenken36 oder in die eigenen Argumentationen zu den jeweiligen Themen zu integrieren – vergleichbar den politischen Talkshows im Fernsehen. Im Fernsehformat „Precht“ fungiert das Fernsehen als ein kulturelles Forum der Unterhaltung und Wissensvermittlung (vgl. Newcomb/Hirsch 1983), vorausgesetzt, man lässt sich darauf ein. Die Fernsehgespräche in der Sendung „Precht“ können zudem als eine eigensinnige Form televisueller Essayistik beschrieben werden. Das Fernsehen kann hier ein „privilegierte[r] Ort der populären, interdiskursiven Wissensproduktion [sein]: Das Fernsehen greift selektiv auf die verschiedensten Wissensbestände und Ansichten einer Gesellschaft zu und übersetzt diese – auch angesichts der Unbekanntheit des Publikums – meist in allgemein verständliche und prägnante Bilder und Narrative“ (Stauff 2014, 310). Philosophie im Fernsehen braucht daher mit Blick auf „Precht“ den aktiven Zuschauer, der sich konkret für die Personenkonstellationen und Themendramaturgien interessiert. Nur so erhalten die Sendungen einen Unterhaltungswert, ohne den das Fernsehen – in doppelter Hinsicht – nicht sendet. Auf den ersten Blick hat das Fernsehformat „Precht“ nichts mit der von Engell und Fahle (2006b) skizzierten Philosophie des Fernsehens zu tun. Richard David Precht diskutiert als Moderator mit seinen jeweiligen Gästen. Sein spezifisches Sendungsformat definiert die Kommunikationsregeln, die Möglichkeiten ihrer Varianz und ihrer seriellen Fortsetzung. „Precht“ ist so ein Beispiel für Philosophie im Fernsehen. Hierbei nutzt Richard David Precht die fernsehmediale Öffentlichkeit zur Bedeutungsproduktion und zur Inszenierung des philosophischen Dialogs – mit dem Effekt einer unterhaltend-unterhaltsamen Kommunikationsaufführung und Wissensvermittlung. Die performative Stilistik von Precht und seinen Gästen dominieren hierbei die Gesprächsführung. Insofern spielt die Anschlussfähigkeit des Gesagten nur eine untergeordnete Rolle und wird v.a. durch die demonstrative Darstellung von Persönlichkeit, Habitus, Stil und intellektuellem Kapital erzeugt.37 Die diskutierten Themen spielen in der öffentlichen
36 Hierzu werden etwa zu einigen Sendungen spezifischen Lesetipps angeboten: https://www.zdf.de/gesellschaft/precht/precht-166.html (zuletzt aufgerufen am 16.08.2017). 37 Die Ausstellung und häufig diskutierte Attraktivität der Person Richard David Precht ist eine Strategie der Führung und Verführung, die von den Produzenten
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Auseinandersetzung mit den jeweiligen Themen kaum eine Rolle. Zudem münden diese Fernsehdialoge (zumeist) nicht in einem Konsens oder einer Synthese des Gesagten, sondern verbleiben ergebnisoffen oder enden mit der Ausstellung von Uneinigkeit (seriell bedingte Variation). Die Serialität dieser Performativität und Stilistik der Rede und Gegenrede sowie der Persönlichkeitsmerkmale führt in den einzelnen Sendungen zu einer hohen inszenatorischen sowie kommunikativen Redundanz, die v.a. durch das Sendungsformat erzeugt wird (seriell bedingte Wiederholung). Gleichzeitig besteht in dieser Formatgrenze des Fernsehtalks eine große Variabilität an Kommunikationsmöglichkeiten. Das Format „Precht“ formatiert so den Fernsehtalk bzw. „der Programmcharakter des Fernsehens führt zur Formatierung aller Inhalte“ (Stauff 2014, 310). Zugleich versuchen sich Precht und seine Gäste in ihren Fernsehgesprächen dieser Formatierung zu entziehen, indem sie dem gewöhnlichen Fernsehtalk eine höhere kommunikative und intellektuelle Komplexität gegenüberstellen, um damit das herkömmliche Format des Fernsehtalks bedingt zu subvertieren (seriell bedingte Variation). Die Auseinandersetzung mit der Philosophie im Fernsehens und der Philosophie des Fernsehens führt, wenn man beide Aspekte aufeinander bezieht, zur folgenden Frage: Kann man mit Blick auf den Dialog als Erkenntnismedium der Philosophie eine Philosophie des Fernsehens entwerfen, ohne Reflexion der grundlegenden Medialität des Philosophierens, also von Rede und Sprache bzw. der Mündlichkeit? Die aus der Perspektive der
und professionellen Rezipienten (etwa Journalisten) gleichermaßen (positiv sowie kritisch) genutzt wird. Hierdurch soll eine unmittelbare kommunikative Anschlussfähigkeit erzeugt werden, auch wenn man den geführten philosophischen Diskursen nicht folgen kann, sich nicht wirklich für diese interessiert oder die Sendung gar nicht sieht. Das Ziel besteht darin, die Medienmarke Richard David Precht aufmerksamkeitsökonomisch erfolgreich in den öffentlichen Diskurs zu bringen bzw. dessen öffentliche Bekanntheit weiter auszubauen. Gleichzeitig dient diese Adressierung häufig auch zur Diskreditierung der Person Richard David Precht als Show-Philosoph bei und zur Abwertung der Sendung als pseudo-philosophisch. Zumeist sind also weder die Inhalte noch das Medium Fernsehen Gegenstand der Auseinandersetzung mit dem Format „Precht“, sondern primär die Person Richard David Precht. Für eine Auseinandersetzung im Kontext der Philosophie des Fernsehens erscheint „Precht“ daher nicht relevant.
PHILOSOPHIE IM FERNSEHEN / PHILOSOPHIE DES FERNSEHENS | 125
Philosophie des Fernsehens resultierende kategorische Ausblendung der Mündlichkeit und die daran anschließende ausschließliche Fokussierung auf das Fernsehbild erscheint eindimensional und theoretisch bemüht. Das Fernsehen ist im Unterschied zum Film ein konstitutiv redendberedetes Medium und nicht nur ein Medium des schaltbaren Bildes, das sich wesentlich durch die Performanz von Bildstilen auszeichnet. Insofern muss bei der Philosophie des Fernsehens auch die eigensinnliche und eigensinnige Mündlichkeit des Fernsehens, als eine mit dem Bild gleichwertige und gleichgewichtige, explizit Betrachtung finden. Die Mündlichkeit des Fernsehens ist, ebenso wie seine Visualität, grundlegend zu unterscheiden von der des Films oder des Radios. Sie ist eine fernsehmediale Eigensinnigkeit, die nicht von einer techno-ästhetischen Perspektive auf das Fernsehen ignoriert werden bzw. zu einem allgemeinen Wesenszug jedweder medialen Mündlichkeit verklärt werden darf. Darüber hinaus sind die von Engell und Fahle (2006b) herausgestellten Leitbegriffe der Philosophie des Fernsehens, v.a. die Begriffe Ereignis und Serie, auch geeignet, um die spezifische fernsehmediale Mündlichkeit zu begreifen. Diese Begriffe sind daher weder hinreichend noch notwendig exklusive Analysebegriffe des Fernsehbildes. Darüber hinaus leistet die von mir beschriebene visuelle Inszenierung philosophischen Wissens, also die „Televisualität“ der Fernsehesendung „Precht“, einen Beitrag zu eigensinnigen philosophischen Formen und Formaten der Philosophie des Fernsehens. Die Philosophie des Fernsehens wie sie von Engell (2012), Fahle (2006) und Engell/Fahle (2006b) rekonstruiert wird scheitert mit Blick auf die Fernsehsendung „Precht“ daran, dass sie konstitutiv die Mündlichkeit ausblendet und sie nicht als gleichbedeutend mit der Bildlichkeit des Fernsehens zusammendenkt. Irritierend ist hierbei die voraussetzungslose Selbstverständlichkeit, mit der dieser Vorrang eingeführt und ohne einen begründenden Vergleich legitimiert wird. Es handelt sich hierbei um einen performativen Selbstwiderspruch, einem Grundproblem der Philosophie im Herzen der (deutschen) Fernseh- und Medienphilosophie.
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Multivariate Wissensorganisation Zur Popularisierung medizinischen Wissens zwischen Wissenschaft und Populärkultur S VEN S TOLLFUSS
E INLEITUNG Ist vom Verhältnis zwischen medizinisch-wissenschaftlichem Wissen und Massenmedien die Rede, versteht man darunter meistens die massenmediale Vermittlung komplexer wissenschaftlicher Erkenntnisse an eine nichtwissenschaftliche Öffentlichkeit in ‚allgemeinverständlicher‘ Form: vulgo Wissenschaftspopularisierung. Dabei fällt Medien im sogenannten canonical account (Bucchi 1996, 376ff., vgl. auch Hilgartner 1990) im Wesentlichen die wohl wenig fesselnde Aufgabe zu, lediglich bestehendes Wissen zu bestätigen; mithin Redundanzen zu produzieren. Jede Intervention durch Akteure des außerwissenschaftlichen, massenmedialen Betriebs (i.d.R. Journalisten) über das Maß einer „‚appropriate simplification‘“ (Hilgartner 1990, 519) hinaus wird als Tatsachenverdrehung abgestraft. Dass populäre Medien jedoch selbst qualitativ und nachhaltig auf wissenschaftliche Wissensprozesse einwirken (können), wird im eindimensional argumentierenden canonical account konsequent negiert. Diese simplifizierende Sichtweise ist bereits mehrfach kritisiert und in dem Versuch verabschiedet worden, ein dem reziproken Verhältnis von Wissenschaft und dem popular stage (vgl. Shinn/Cloitre 1985, 47ff.) angemesseneres Modell zu entwerfen (vgl. v.a. Shinn/Cloitre 1985; Bucchi 1996; Weingart 2005). Allerdings reflektieren diese Überlegungen (1) die Dynamik und Eigenlogik populärer
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Medien sowie insbesondere (2) die erkenntnistheoretischen Verschränkungen von Wissenschaft und Populärkultur in Hinblick auf die Prozessierung von (wissenschaftlichem) Wissen nur sehr unzureichend, wenn sie im Wesentlichen auf Kommunikationsprozesse und -praktiken abheben, die sich recht einseitig auf Akteure (WissenschaftlerInnen) in massenmedialen Kommunikationsräumen konzentrieren (vornehmlich Magazine und wissenschaftsjournalistische Zeitungsartikel oder auch populärwissenschaftliche Fernsehbeiträge). Obwohl die entsprechenden Modelle in ihren theoretischen Anlagen durchaus einen größeren Spielraum für die Herangehensweise an populäre Medien und deren Einfluss auf wissenschaftliche Wissensprozesse anbieten, bleibt dabei gerade der Bereich fiktionaler Medienerzählungen eigentümlich unterbelichtet.1 Wenn aber Popularisierung wissenschaftlichen Wissens keine Einbahnstraße (aus der Wissenschaft in die Massenmedien) darstellt, sondern nach einem multiperspektivischen, multivariaten Prinzip Wissen in und zwischen Wissenschaft und dem popular stage organisiert ist2, dann ist die Beteiligung populärer Medien an der Prozessierung wissenschaftlichen Wissens in einem weite(re)n Verständnis zu begreifen. Anhand der Zirkulation und Verarbeitung von medizinischem Wissen über das virtuelle Körperinnere zwischen Wissenschaft und Populärkultur wird nun im Folgenden nachzuzeichnen sein, wie gerade Ressourcen populärkultureller Praxis auf medizinwissenschaftliche „Denkkollektive“ und
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Obwohl die Bedeutung fiktionaler Formate – allen voran des (Hollywood-) Spielfilms – für ein public understanding of science mittlerweile auch erörtert wird (vgl. u.a. Pansegrau 2009; Weingart 2003; Kirby 2003), konzentriert sich die Diskussion bislang im Wesentlichen auf das Darstellungsspektrum fiktionaler Erzählungen und die damit verbunden Fragen (1) nach der Genauigkeit der Repräsentation von Wissenschaft/lerInnen sowie (2) den Auswirkungen auf ein öffentliches Image von Wissenschaft und WissenschaftlerInnen.
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Wenn von multivariater Wissensorganisation die Rede ist – also von einer essentiellen Verschränkung (hier von Medizin und populären Medien), der damit verbundenen Interaktion der entsprechenden Akteure (in und zwischen Wissenschaft und Massenmedien) sowie letztlich als unmittelbare Konsequenz daraus eine notwendige wechselseitige erkenntnistheoretische Durchdringung beider Bereiche –, folge ich im Grundsatz der Denkrichtung von Bucchi (1996) im Anschluss an Shinn/Cloitre (1985) und Hilgartner (1990).
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„Denkstile“ (Fleck 1935/1980) einwirken und so wissenschaftliches Wissen nachhaltig beeinflussen. Der Text gliedert sich dabei in drei Teile. Zunächst wird die virtuelle Endoskopie als Fallbeispiel dienen, anhand dessen die wechselseitige Verschränkung von Medizin und populärer Medienkultur innerhalb des Diskurses der digitalen 3D-endoskopischen Animation (insbesondere in den 1990er und beginnenden 2000er Jahren) skizziert werden soll. Über die Metapher des „fliegenden Chirurgen“ (Gugerli 2002) wird dabei eine Referenzkette in und zwischen Medizin und Populärkultur konstruiert, die das Wissen über das virtuelle Körperinnere überhaupt erst stabilisieren konnte: vom Film über Computerspiele bis hin zu populären und auch (aber nicht ausschließlich) populärwissenschaftlichen Fernsehproduktionen. Im Anschluss daran werden die Erkenntnisse aus dem ersten Unterkapitel ins Verhältnis gesetzt zu den Konzepten (1) der „Medialisierung von Wissenschaft“ (Weingart 2005), (2) der „multi-level multivariate perspective“ (Bucchi 1996) und (3) mit dem Vorschlag von Populärkultur als „spezifischer Wissenskultur“ (Wilke 2012). Aus der Zusammenschau dieser Ansätze wird so eine multivariate Wissensorganisation des virtuellen Körperinneren sinnfällig, die Medizin und Populärkultur unmittelbar medienepistemologisch miteinander verschränkt (vgl. zu meinen Ausführungen Stollfuß 2014, 125-162).
D IE
FANTASTISCHEN R EISEN FLIEGENDER C HIRURGEN Als sich die virtuelle Endoskopie in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts als Verfahren in der Medizin zu etablieren begann, sahen sich Mediziner mit einer paradoxen Situation konfrontiert. Zum einen wandte man sich dem neuen Verfahren zusehends als einer Alternative in der nichtinvasiven Diagnostik zu. Zum anderen hatte diese Alternative ein massives Darstellungsproblem. Die Neuartigkeit der digitalen endoskopischen 3DBildgebung war doch mit einer „Präzedenzlosigkeit der Seherfahrung“ (Gugerli 2002, 254) verbunden, die die Notwendigkeit eines Referenzrahmens nach sich zog, um das Präzedenzlose in etwas Erfassbares umzuwandeln. Hierfür nahm man kontinuierlich Bezüge vornehmlich auf den Spielfilm, das Fernsehen und das Computerspiel vor, die somit als Stabilisatoren für die Medizin und insbesondere für das Wissen des virtuellen Körpers er-
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heblich von Bedeutung sind. Um den ‚fly-through‘ des „Dr. Cyber“ (Sanides 1995, o.S.) in seiner wissenschaftlichen Auffassung als nachvollziehbare Strategie einer zukunftsweisenden Medizin durchzusetzen, musste also zunächst das Nadelöhr des Populären durchquert werden, um aus der virtuellen Nullperspektivität prekärer Bilder sukzessive Evidenz zu generieren. Auf diese Weise wird der Chirurg nicht nur zum Piloten einer „imaginären Späherkapsel“ (Meinzer 1993, 56.), sondern auch zum Designer jener neuartigen Visualisierungen aus dem Inneren eines menschlichen Körpers, die zwar aus „der verwirrenden Vielfalt computer-tomographischer und ähnlicher Daten“ gewonnen, dennoch „unmittelbar einleuchtende und aufschlußreiche Bilder“ (ebd.) zu sein versprechen. Die Szenarien, die den Diskurs um die virtuelle Endoskopie sowohl in Wissenschaft als auch in der öffentlichen Berichterstattung umspannten, ähneln sich dabei in bemerkenswerter Weise. Für Hans-Peter Meinzer, Abteilungsleiter für medizinische und biologische Informatik am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg, beginnt der chirurgische Eingriff zunächst am Computerbildschirm. „Bevor der Chirurg eine komplizierte Operation im Brustraum vornimmt“, so der exemplarische Anwendungsfall, „setzt er sich an einen Bildschirm und fliegt gleichsam durch den Körper des Patienten“ (ebd.). In diesem Moment wird eine Erzählung in Gang gesetzt, wie sie im Kontext populärer Medien nicht hätte besser umgesetzt werden können. Aus dem Untersuchungsraum, so scheint es, wird nun ein hochtechnologisiertes Navigationszentrum nach dem Vorbild avancierter Flugsimulatoren. Der Chirurg als Pilot bestimmt dabei nicht nur die Blickrichtung, auch der virtualisierte Körperraum zeigt sich buchstäblich widerstandslos gegenüber dem „gesprochene[n] Wort an den Computer“ (ebd.). Der Körper des Patienten in seiner grenzenlosen digitalen Performance avanciert zur vermeintlich vollständig permeablen Datenstruktur, auf die das „in den Körper eingeschleuste Auge“ (Kröger 2000, 15) des Diagnostikers unmittelbar Zugriff haben soll. „Der Mediziner möchte aus dem Bild, das ihm der Computer zeigt, auf den ersten Blick einen räumlichen Eindruck von der dargestellten Körperregion gewinnen. Er will, daß sich der Gegenstand seines Interesses – beispielsweise ein Tumor – deutlich von seiner Umgebung abhebt; und er will diesen Gegenstand von allen Seiten betrachten können, um eine möglichst umfassende Vorstellung zu gewinnen.“ (Meinzer 1993, 58)
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Die Manifestation dieser neuen Bildformen und die Imagination ihrer Beherrschbarkeit überführen ein medizinisches Machtnarrativ in die direkte Kommunikation zwischen Arzt und Computer. Der Mediziner verlangt unmittelbare Plausibilität vom bewegten Bild, die ihm der Computer sichtbar rechnet, um in der 360 Grad Perspektive eine vollständige Vorstellung zu erlangen. Der Zirkelschluss von Sehen und Wissen (vgl. Siegel 2007, 36) avanciert zu einer diffizilen „Komplizenschaft“ von Auge, Hand und Computerbildschirm als „versatiles Interface“ (Borck 2001, 383). Diese Komplizenschaft geht einher mit der Aktualisierung und zugleich Veränderung eines – wie Foucault für den klinischen Blick in Bezug auf die „Totalität des Sichtbaren“ und „Gesamtstruktur des Aussagbaren“ (Foucault 2005, 128) bereits konstatierte – prekären Gleichgewichts „zwischen dem Wort und dem Schauspiel“ (ebd., 129). Denn die „restlose Umsetzbarkeit des Sichtbaren ins Aussagbare war in der Klinik eher eine Forderung und ein Grenzwert als ein ursprüngliches Prinzip. Die totale Beschreibbarkeit bleibt ein ferner Horizont; sie ist eher der Traum eines Denkens als eine begriffliche Basis“ (ebd., 130). Dieser „Traum eines Denkens“ nun stellt sich verändert auch im Imaginationsraum der Möglichkeitsbedingungen für die virtuelle Endoskopie dar. Das zeigt sich in der wechselseitigen Relation von postulierter Sichtbarkeitspräzision infolge der 360 Grad Perspektive im ‚fly-through‘ durch den Datenraum – der als Körperraum sichtbar zur artifiziellen Aufführung gelangt – und einer umfänglichen Erfassung zwischen Sehen, Befehlen und Beschreiben (vgl. auch Hesse/Männer 1997; Höhne 1999). Vergleichsweise faszinierte Beiträge lassen sich auch in der Medienberichterstattung finden. So berichtet etwa die Journalistin Silvia Sanides im Jahr 1995 von revolutionären Technologien in der modernen Medizin und der Operation von Patienten im „Cyberspace“ (Sanides 1995, o.S.). Eingeleitet wird der Artikel reichlich dramatisch mit dem Fall einer Notfallpatientin mit Hirnblutungen im Mainzer Universitätsklinikum. Statt „der Patientin sofort den Schädel zu öffnen“, so Sanides doch recht unglücklich brachial, „treffen sich die Chirurgen zu einer ungewöhnlichen Generalprobe“, in der „[d]ie Maus […] zum Skalpell [wird]“ (ebd.). Denn die OP wird zunächst mittels einer dreidimensionalen Simulation des Gehirns der Patientin durchgeführt, um – mit den Worten Meinzers – eine „umfassende Vorstellung zu gewinnen“ (Meinzer 1993, 58). Erst im Anschluss erfolgt die eigentliche chirurgische Operation: „Während des Eingriffs blickt Ulrikes
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Chirurg stets durch ein hochauflösendes Mikroskop, das von dem datengefütterten Roboter über das Operationsfeld gesteuert wird. Schritt für Schritt navigiert ihn dieser automatisch durch den in der Simulation trainierten Eingriff – präzise zu der Stelle, wo er das geplatzte Gefäß abklemmen muß“ (Sanides 1995, o.S.). Mediziner, Informatiker und Journalisten haben, so deutet es sich an, eine gemeinsame Sprache gefunden: die Sprache der Populärkultur (wie sich noch deutlicher zeigen wird). Mit den neuen Möglichkeiten in der modernen, virtuellen Medizin wird ein Referenzrahmen aufgespannt, innerhalb dessen Aspekte vermischt werden, die vermeintlich nicht zusammen gehören: Wissenschaft und Fiktion. Dass sich eine so enthusiastische Rhetorik gerade in den 1990er Jahren auszubreiten begann, ist auch dem Aufkommen des Visible Human Project (1994) geschuldet. Das mit diesem Projekt verbundene Versprechen eines Aufbruchs in ein neues Zeitalter kommt in einer ähnlich euphorischen Rede daher, wie beispielsweise auf der Website „G-Netz. Das Gesundheitsnetzwerk“ nachgelesen werden kann: „Ein lang gehegter Traum der Wissenschaftler wird am Beginn eines neuen Jahrhunderts endlich wahr – die 3-dimensionale-Reise durch den Menschen. Nicht als Fiktion mit animierten Bildern, sondern realisiert mit Hilfe von echten Daten. Eine neue Ära in der Medizin hat begonnen. Gefährliche Operationen können am Computer anhand der echten Daten des Patienten simuliert werden – nicht am flachen Bildschirm, sondern räumlich in 3D. Medizinstudenten lernen den Aufbau des menschlichen Körpers anhand von dreidimensionalen Modellen und nicht mehr aus herkömmlichen Lehrbüchern. Ärzte, die Tausende von Kilometern voneinander entfernt sind, blicken gemeinsam in das Innere eines Patienten. Dank moderner Technik ist vieles heute bereits Realität.“3
Fiktion, bislang Motor visionärer Strategien zur technologisch gestützten 360 Grad Entdeckung des menschlichen Körperinneren – so die Aussage des Zitats –, avanciert zur wissenschaftlichen Tatsache. Auch wenn das Visible Human Projekt mittlerweile als überholt gelten kann (vgl. auch Reiche 2011, 21), ist dessen Präsenz als digitaler Navigationsraum zum Ende des 20. Jahrhunderts insofern von technikhistorischer und vor allem medienkultureller Relevanz, da sich hier – genau wie in den frühen Texten zur
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Anonym: 3D-Reise Mensch, o.J.
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virtuellen Endoskopie – ein Wissensregime der Informatisierung zu etablieren begann, dessen medienepistemologische Konfiguration bewusst als Zäsur digitaler Medien verstanden wurde: „For digital medical image information, the spectrum of physical and computer science methods available to acquire, process, analyze, convert, scale, enhance, fuse, distribute and transmit information can be applied in ways that permit diagnostic and therapeutic capabilities beyond current human physical abilities and possibilities. This is the promise of the Information Age.“ (Robb 2000, 136)
Dabei hat gerade das Visible Human Project, so Richard A. Robb, massiv die Entwicklungsarbeit von 3D-Visualisierungsverfahren begünstigt.4 Das Versprechen des Informationszeitalters – das zunächst als enorme Leistung elektronischer Datenprozessierung und digitaler Vernetzung in Medizin und Wissenschaft begriffen wird – benötigt allerdings im Fall der virtuellen Endoskopie für das, was auf der Oberfläche sichtbar wird, eine Strategie der schrittweisen Evidenzkonstruktion. Die Probleme, die in den 1990er Jahren gerade mit den noch verhältnismäßig schwachen Rechenleistungen verbunden waren (die allerdings auch heute mit moderner Technik noch nicht überwunden sind), erschwerten jedoch nicht alleine den Aufbau und das Durchsetzen plausibler, verallgemeinerbarer Deutungsmuster und damit eines Interpretations(spiel)raums, der AnwenderInnen eine gewisse Sicherheit in der Diagnose liefern konnte. Die ‚Flexibilität des Blicks‘ und die mit der virtuellen Endoskopie verbundenen visuellen „options that are not possible with real endoscopy“ (ebd., 135), die als das Mehrwertversprechen virtueller endoskopischer Verfahren lanciert wurden, galt es in eine fassbare Darstellungslogik zu übersetzen. Und da die tatsächliche visuelle Genauigkeit der virtuellen Endoskopie noch lange nicht den Grad erreicht hatte, wie dies für den regulären klinischen Gebrauch erforderlich gewesen wäre (vgl. ebd., 145), setzte man sich an die Erstellung einer Vision für das neue 3D-Bildgebungsverfahren, die das erkenntnistheoretische Programm nachhaltig bestimmen wird. In diesem Verlauf begann sich ein Bild- und Blick-
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Vgl. ebd., 135: „The VHD is being used by an ever increasing number of investigators to develop, test, and compare 3D visualization and image processing methods, and to evaluate the effectiveness of these methods, including endoscopic simulation, for eventual applications in clinical diagnosis and therapy.“
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regime zu etablieren, das auf die Hybridisierung von Wissenschaft und Populärkultur setzt.
F ANTASTIC V OYAGE (USA 1966) Den „Räumliche[n] Bilder[n] des Körperinneren“ (Meinzer 1993), „Realistische[n] Reisen durch den menschlichen Körper“ (Hesse/Männer 1997), „Phantastische[n] Reisen durch den menschlichen Körper“ (Höhne 1999) und „real fantastic voyage[s] into the inner sanctum of the human body“ (Robb 2000, 149) liegen eine ganze Reihe an populärkulturellen Referenzen zugrunde. Ihren Anfang nehmen diese aber bei Richard Fleischers USamerikanischen Spielfilm Fantastic Voyage aus dem Jahr 1966, in dem eine Crew aus Wissenschaftlern und einer Wissenschaftlerin in einem miniaturisierten U-Boot in die Halsschlagader des Patientenkörpers injiziert wird, um diesen auf einer waghalsigen Mission durch das Innere des Körpers das Leben zu retten. Obwohl es sich bei diesem Film gerade nicht um einen Wissenschaftsfilm handelt, aus dem medizinische Erkenntnisse hinsichtlich unterschiedlicher Prozesse im Inneren des menschlichen Körpers gewonnen werden könnten, markiert Fantastic Voyage gerade angesichts seiner Visualisierungsstrategien einen wichtigen Stellenwert zur Setzung von nachvollziehbaren Wahrnehmungsparametern.5 Das Körperinnere tritt als außergewöhnlich und ehrfurchtgebietend zugleich auf, das jedoch sogleich erobert, erklärt und nachvollziehbar gemacht werden muss: „We stand in the middle of infinity, between outer and inner space. And there is no limit to either. I never imagined it could be anything like this. No, I always thought it was nothing but red. Only to the
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Kim Sawchuk (2000, 11) etwa hält mit Blick auf die Repräsentationsstrategien des Körpers zwischen medizinischer und populärer Kultur hierzu fest: „Fantastic Voyage is a key text because it incorporates the essential aesthetic features typical of biotourism. First, it involves the transposition of scale, turning the miniature into the gigantic. Second, it transforms anatomy into a space, more significantly a type of landscape with analogous geographic features which can then be ‚mapped‘. Third, it narrates this voyage in allegorical terms as a journey from light into darkness. Fourth, like most biotourist narratives Fantastic Voyage invokes the pictorial and rhetoric of the sublime.“
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naked eye. Those corpuscles carrying oxygen give the stream its colour“6, wie es im Film heißt. Gemäß Kim Sawchuks Ansatz eines ‚biotourism‘ wird das Körperinnere als geografisch abgesteckte, organisierte Landschaften entworfen, die es mit den Augen abzutasten und die es als „never purely natural phenomena“ (Sawchuk 2000, 14) bezüglich veränderter (geo-) politischer und ökonomischer als auch technologiestrategischer und -epistemologischer Implikationen zu verstehen gilt. Das Körperinnere wird als modernes Schlachtfeld inszeniert, dem augenscheinlich nur mit avancierter Technik beizukommen ist, um den Körper schließlich zu besetzen7. Dabei orientiert sich der Film an vorhandenen Mustern (audio-)visueller Darstellungen einer Eroberung neuer bzw. fremder Welten, die sich im Wesentlichen am Repräsentationsrepertoire der Weltraumreise orientieren bzw. an der Mondlandung als eines der großen gesellschaftspolitischen Themen des 20. Jahrhunderts. Das Körperinnere tritt als der noch unentdeckte (Welt)Raum in Erscheinung, den es mit einem Fluggerät in militärischem Manöver zu bezwingen gilt, während sich außerhalb des Patientenkörpers Wissenschaftler und das Militär im Kontrollraum klobige Apparaturen und Karten anschauen. Der Körper des Sterbenden ist in ein Kontrolldispositiv eingezwängt, in dem der Blick in den Körper, in seiner ästhetischendoskopischen Konstruiertheit, und der Blick auf den Körper, dem astronomischen Blick auf fremde Planten vergleichbar, konvergieren. Dabei wird ein Bild- und Blickregime akzentuiert, das in seiner Hybridität zwischen Wissenschafts- und Populärkultur bereits in den Aufnahmen des schwedischen Wissenschaftsfotografen und -filmemachers Lennart Nilsson vorzufinden ist, dessen Embryonen/Föten – veröffentlicht im US-amerikanischen Magazin Life im Jahr 1965 – große mediale Aufmerksamkeit erfuhren.8 Das im selben Jahr veröffentlichte und im Jahr 1966 – in dem Jahr al-
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Dialog zwischen Dr. Duval (Arthur Kennedy), Grant (Stephen Boyd) und Cora (Raquel Welch), Fantastic Voyage (1966), DVD-Version aus dem Jahr 2005, Twentieth Century Fox Home Entertainment: Min: 38:00–38:25.
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Im Film heißt es nicht umsonst „Men is the centre of the universe“ (Dr. Duval, Min. 38.00). Zu den kolonialistischen Implikationen der Darstellung von Körperinnenwelten in ihrer historischen Genese siehe u.a. Sawday (1995).
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Der Artikel „Drama of Life Before Birth“ wurde parallel auch in großen europäischen Zeitschriften (wie Sunday Times, Stern und Paris Match) publiziert (vgl. Bryld/Lykke 2009, 80).
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so, in dem auch Fantastic Voyage in die Kinos kam – ins Englische übersetzte Buch A Child Is Born: The Drama of Life Before Birth bildete den Auftakt zu einer Reihe einflussreicher Publikationen wie auch Fernsehdokumentationen Nilssons über die Vorgänge im Körperinneren, denen immer schon die Verschränkung von Wissenschaft und Populärkultur inhärent war (s. auch Stollfuß 2011). Nilssons Aufnahmen lancierten international schnell zu „Ikonen“ bzw. „diskursverändernden“ Darstellungen (Haraway 1995, 62f. u. 195), da sie als ästhetisierte Produkte eines mehr oder minder ‚unbekannten Anderen‘ propagiert wurden. Bereits im Vorwort der 1965 veröffentlichten Life Ausgabe wird der „strangely beautiful and scientifically unique color essay“ kommentiert mit: „This is like the first look at the back side of the moon.“9 Die metaphorische Kopplung des Fötus im Körperinneren mit dem Astronauten im Weltraum ist zu der Zeit angesichts der massenmedialen Präsenz des Apollo-Programms der NASA zur ersten bemannten Mondlandung keineswegs zufällig.10 Dementsprechend weist auch Donna Haraway darauf hin: „The fetus and the planet earth are sibling seed worlds in technoscience. If NASA photographs of the blue, cloud-swathed whole earth are icons for the emergence of global, national and local struggles over a recent natural-technical object of knowledge called the environment, then the ubiquitous images of glowing, freefloating, human fetus condense and intensify struggles over an equally new and disruptive technoscientific object of knowledge, namely ‚life itself‘. […] Both the
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Nach Angabe des Editors stammt dieser Kommentar wohl von einem der führenden schwedischen Gynäkologen (vg. Hunt 1965, 3).
10 So heißt es auch in einem Artikel des Journals der Royal Photographic Society retrospektiv: „In the same decade that Neil Armstrong first walked on the moon, uttering the immortal line, ‚One small Step for man; one giant leap for mankind‘, with the 1965 publication of his photo essay, The Drama of Life Before Birth, Lennart Nilsson HonFRPS [Honorary Fellow of the Royal Photographic Society] was taking us in the other direction: to the very origins of human life itself, a pioneering study that continues to this day“ (vgl. Anonym 2008, 150). Dass die unbemannten Raumsonden „Voyager I“ und „Voyager II“ wohl jeweils Aufnahmen aus Nilssons Buch A Child is Born an Bord hatten, darf an dieser Stelle anekdotisch vermerkt werden (vgl. ebd., 155).
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whole earth and the fetus owe their existence as public objects to visualizing technologies.“ (Haraway 1997, 23)
Dabei handelt es sich mithin um dieselbe territoriale Markierung des Körperinneren in Relation zum Weltraum, wie sie im Fall von Fantastic Voyage auftaucht.11 Die mit den Bildern verbundenen Wissens- und Machtdispositive – bei Nilssons umher schwebendem „kosmische[n] Fötus“ (Haraway 1995, 61), aber auch bei dem einige Jahre später fiktional in Erscheinung tretenden sogenannten „Astralfötus“ (vgl. Kirchmann 1993, 133) in Stanley Kubricks Kinofilm 2001: A Space Odyssey (USA 1968), in den Nilssons Darstellung sehr wahrscheinlich als Referenz eingegangen ist (vgl. Nohr 2010) – sind angesichts der sozio- und geopolitischen, ökonomischen sowie technikstrategischen Implikationen durchaus vergleichbar mit den Inszenierungsweisen in Fantastic Voyage, und auch übergreifend im Kontext der internationalen öffentlichen Debatten12 in Anbetracht der technologischen Entwicklungen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahren zu verstehen. Nilssons Aufnahmen werden im wachsenden Diskurs um die Virtualisierung der modernen Medizin und digitalen Einblicke in den menschlichen Körper ebenfalls immer wieder aufgeführt (vgl. Gugerli 2002, 265; Orland 2008). Aber namentlich hat Fantastic Voyage zweifellos feste Beschreibungskategorien geprägt, die sich nicht nur in weitere populärkulturelle, sondern auch und gerade medizinische Darstellungen eingeschrieben ha-
11 Wobei es im Umfeld der populärwissenschaftlichen Bilder der menschliche (tote) ‚Fötus‘ im ‚Mutterleib‘ ist, der in Anverwandlung kriegsmetaphorischer Darstellungsweisen im Sinne eines ‚war inside the body‘ beschrieben wird. Zum Körperinneren als „Schlachtfeld“ (vgl. exemplarisch Haraway 1995, 62f.). Angesichts der nachhaltig prägenden Funktion von Nilssons Darstellungen als visuelle Kommunikationsformen in öffentlichen Diskursen sind sie insbesondere aus feministischer Perspektive vor dem Hintergrund einer Gender motivierten Bildpolitik kritisiert worden (vgl. hierzu u.a. Duden 1991, bes. 22-35; Haraway 1997; Bryld/Lykke 2009). 12 Gerade der astronomische Blick auf die Erde ist doch eingespannt in gewaltige globale Machtdispositive und zieht nicht zuletzt ein aufkeimendes ökologisches Gewissen (namentlich ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts) nach sich – im wissenschaftlichen wie im öffentlichen Raum (vgl. u.a. Adelmann/Stauff 1997; Krewani 2010).
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ben. „In 1966 the movie Fantastic Voyage gave its viewers an imagined glimpse of a future in which operations without knives and scars would be common surgical practice“, so auch José van Dijck. Und weiter schreibt sie mit Blick auf die virtuelle Endoskopie: „Thirty-five years later, it is not just film-makers who nurse the fantasy of experts traveling in a body, removing life-threatening tumors and escaping through natural openings. Medicine has generated its own futurologists, and it should come as no surprise that all too frequently the medical imagination is fed by the same mixture of projection and extrapolation that inspires and used to inspire Hollywood directors. In the past decade, surgeons and medical experts have publicly prophesied how more advanced computer techniques will upgrade our current potential to visualize, travel inside and fix a diseased body.“ (Van Dijck 2005, 74)
So nimmt es nicht Wunder, dass sich dann auch Jahrzehnte später Computerwissenschaftler wie Richard Robb dezidiert auf Fleischers Film beziehen, um die noch zu experimentierenden Formen und Funktionen virtueller Endoskopie – die hier übrigens mit den Datensätzen des Visible Human Project durchgespielt werden, das hinsichtlich seiner Visualisierungsweisen selbst in Bezug zu Fleischers Film zu setzen ist (vgl. Reiche 2002, 77ff.) – in verständliche visionäre Bilder zu übersetzen: „Although there has been speculation about VE capabilities since the early 1970s, as dramatized in the science fiction movie ‚Fantastic Voyage‘, the recent availability of the Visible Human Datasets (VHD) from the National Library of Medicine […], coupled with the development of computer algorithms, to accurately and rapidly render high resolution images in 3D and perform fly-throughs, instead of inserting long instruments (endoscopes of any kind) into a patient, has provided modern realization of these capabilities. The VHD provides a rich opportunity to help advance this important new methodology from theory to practice.“ (Robb 2000, 133-134)
Die Daten des Visible Human Projects, die Robb in seinen eigenen Arbeiten verwendet, werden durch die unmittelbare Referenz auf Fantastic Voyage (vgl. auch ebd., 138 u. 149) zu einem visuellen Gebinde aus Wissenschaft und Populärkultur zusammengefädelt, das postwendend als „real fantastic voyage“ in das Körperinnere des Menschen zu nobilitieren sich anbieten sollte (ebd., 149). Die Vision eines Benutzers, der sich „in das Da-
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tenvolumen“ eines Organs „versetzen und von dort die Funktionsfähigkeit […] in perspektivischer Darstellung“ studieren kann, wie es auch Jürgen Hesse und Reinhard Männer einige Jahre zuvor formulierten (Hesse/Männer 1997, 124), findet sich in Robbs Arbeiten als unmittelbar grafisch in die Animationsanwendungen übersetzt, wobei bewusst mit der visuellen Symbolpolitik von Fantastic Voyage operiert wird.13 Dementsprechend hält auch der Wissenschafts- und Technikhistoriker David Gugerli fest: „Der viskursive Rückgriff auf vertraute Seherfahrungen bediente sich in keineswegs zufälliger Weise tradierter Deutungsmuster. Die Referenzrahmen dieser visuellen Semantik lösten vielmehr eine ganze Reihe von fundamentalen Problemen, die mit der Präzedenzlosigkeit der virtuellen Seherfahrungen eng verbunden waren. Besonders auffällig ist die Referenz auf Richard Fleischers Film Fantastic Voyage, der 1966 angelaufen war. […] Fantastic Voyage ist spätestens gegen Ende der 1980erJahre zu einem Topos, zu einem stabilen diskursiven Versatzstück geworden, auf das in sehr vielfältiger Weise und problemlos Bezug genommen werden konnte, von Medizinern, Informatikern, Journalisten, Patienten, Ingenieuren [Hervorhebung im Original].“ (Gugerli 2002, 265-266)
Für den endoskopischen Blick als Konstrukt aus (vornehmlich digitalen) Techniken der Sichtbarmachung, medizinischer Praxis und kultureller Aneignung – in konstitutiver wechselseitiger Verflochtenheit von Medizin und Populärkultur – avanciert Fantastic Voyage im Kontext der Repräsentati-
13 Noch einmal deutlicher wird dies in der Diskussion verschiedener Display-/ Anwendungsmodi für die von Robb vorgestellte Vision virtueller Endoskopie. Vgl. Robb (2000, 138): „The user interface to a VE system varies depending on the display mode. In real-time simulations […], the user wears a head-mounted display or special stereo glasses and manipulates the 3D image with various feedbacks and 3D input devices. This interface is immersive and responsive online, and places the user inside the visualization domain (vis-à-vis ‚Fantastic Voyage‘). In cine or video path tracking, the interface is generally a computer workstation screen and pointing device that the user employs outside of the visualization domain to control replay of pre-determined fly-throughs. These displays can also be rendered and replayed on video tape, CD-roms or other multimedia devices [Hervorhebung im Original].“
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onsstrategien zu einer epistemologischen Blaupause, die die Wissensprozesse des virtuellen Körperinneren nachhaltig bestimmt. Neben Fleischers Spielfilm jedoch gab und gibt es noch weitere referenzielle Bausteine, die die Entwicklungsdynamik der virtuellen Endoskopie beeinflusst haben.
S IMULATOREN , G AMES
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Die Informatisierung von Medizin und Wissenschaft führt spätestens in den 1990er Jahren zu einer rasanten Ausbreitung der Arbeit an Computersimulationen für unterschiedlichste Einsatzgebiete. Ingenieure vermögen mithilfe von Computersoftware Wartungsarbeiten durchzuführen, Architekten erstellen dreidimensionale Wohnraumlösungen zum Vorab-Bestaunen am Computerbildschirm, Soldaten üben militärische Taktiken in virtuellen Umgebungen, Chirurgen und Ärzte in Ausbildung trainieren medizinische Eingriffe am Patienten zunächst am Simulator und ganze Handlungsabläufe in Kliniken sollen mit sogenannten Krankenhaussimulatoren auf ihre Schwachstellen überprüft werden. Die Erstversorgung verletzter Soldaten in einem Kampfgebiet wird in kombinierten militärisch-medizinischen virtuellen Trainingsumgebungen geprobt und Piloten schulen ihre Fertigkeiten an Flugsimulatoren. Dabei scheint gerade die Flugsimulation für die Kombination von spielerischem Spaß und der Forderung nach Genauigkeit im virtuellen Echtzeit-Flug zu stehen (vgl. Di Fusco 1997).14 Folglich ist es kein Zufall, dass der Chirurg und der Pilot in einer ganzen Reihe von Texten miteinander verschmelzen und so die virtuelle Endoskopie als neues Verfahren mit der Flugsimulation als bereits bekannte Anwendung metaphorisch kurzgeschlossen wird. Der Chirurg als Pilot, wie Meinzer vorgibt, der mit einem Steuerknüppel ausgerüstet im Körperinneren seine Bahnen zieht und die Herzklappen überprüft, während „das Herz ruhig vor sich hin schlägt“ (Meinzer 1993, 56) oder, wie sich auch Hesser und Männer später auszudrücken pflegen, „mit einem Joystick […] gewissermaßen um den Kopf herum und durch ihn durch fahren kann“ (Hesser/Männer 1997, 121), greift auf den Flugsimulator als Sinnbild für die „Simulation als Simulation“, wie Martin Seel (1996, 45) schreibt, zurück. In der virtuellen Tour
14 So ist es auch kein Zufall, dass sich Seel (1996, 45f.) bei seinen ästhetischen Überlegungen zu digitalen Medien gerade den Flugsimulator als Exempel wählt.
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durch Organe und Hohlräume zieht man mit der Referenz auf den Flight Simulator die Entdeckungsreise im Sinne des Films Fantastic Voyage und die aktive Intervention durch den Operateur als Entdecker zusammen.15 Durch die Nutzung avancierter Medientechniken übersetzt sich dieses (Be-) Deutungsmuster in die anbrechende neue Epoche der „Information Society“ (Castells 2010) und die ‚imperiale Eroberung‘ wird unmittelbar positiv gewendet als Versprechen einer noch sichereren Operationsroutine.16 „Wer sich heute in ein Verkehrsflugzeug setzt“, so der Neurochirurg Norbert Hüwel, „könne ganz sicher sein, daß der Pilot alle Eventualitäten schon im Flugsimulator durchgespielt hat“ (zitiert nach Sanides 1995, o.S.). In dieser Analogie habe man dann auch die Praktiken im Kontext der virtuellen Endoskopie zu verstehen. Die Vorstellung von der Leichtigkeit der Navigation durch die neuen 3D-Welten, in die sich „Cybernauten in Weiß“ (ebd.) oder die neue Generation „Nintendo Chirurgen“ (zitiert nach Berndt 2000, 160), wie sie der Neurochirurg Volker Urban beschreibt, zur Untersuchung der Organe hineinversetzen und durch einfache Befehle – ein „gesprochenes Wort an den Computer genügt“ (Meinzer 1993, 56) – Körperteile verschwinden oder hinzufügen lassen können, stellt des Weiteren – zumal über die nicht selten vorgebrachte Idee alltags- bzw. operationstauglicher Head-Mounted Displays (vgl. Robb 2000, 137ff.; Satava 1998) und der vollständigen Immersion in virtuelle Welten des Körperinneren – eine markante Verbindung zu der im Jahr 1987 gestarteten und bis ins Jahr 1994 erfolgreich gelaufenen Serie Star Trek: The Next Generation (ST: TNG) her. Das Novum einer 360 Grad virtuellen Fiktionslandschaft als grid einer elektronischen Rechenmaschine präsentiert sich in ST: TNG in Form des
15 Das „Vordringen der Mediziner in bisher unerschlossene Bereiche“, so Zwierlein (2005, 185) „wurde nicht selten mit der imperialen Eroberung unbekannter Landstriche gleichgesetzt und trug zum wachsenden Ansehen des Berufsstandes bei.“ 16 So heißt es z.B. in einem Artikel in der New York Times im Jahr 1996 (Junnarkar 1996, o.S.): „Much like virtual-reality programs that allow a military pilot to practice flying a billion-dollar jet without leaving the ground, or an architect’s prospective clients to stroll through a beach-front house before the ground is broken, or game lovers to enter a fantasy world for video combat with monsters or aliens, Compass lets surgeons plan the safest, least invasive route to a tumor before the scalpel even touches the patient.“
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erstmals demonstrierten Holodecks. Das Ideal eines „mathematical wonderlands“ (Schröter 2004, 220ff.) zirkuliert ebenso in den Diskursen um die virtuelle Endoskopie und einer augmented reality surgery, wenn sich der Operateur in der modernen virtuellen Medizin „[ü]ber die VR-Brille […] in den Körper des Patienten beamen und jede Aktion, die er mit dem Lenkgriffel ausführt, beobachten kann“, so Ralf Däinghaus, seinerzeit Mitarbeiter am Fraunhofer Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (zitiert nach Sanides 1995, o.S., eigene Hervorhebung). „Such images are amusing fantasies“, schreibt Tim Lenoir. Und dennoch: „They are also reminders that we are becoming immersed in a growing repertoire of computer-based media for creating, distributing, and interacting with digitized versions of the world“ (Lenoir 2000, 289). Die präzedenzlose neue Bildlichkeit der virtuellen Seherfahrung in der digitalen 3DEndoskopie kann doch überhaupt erst durch den Verweis auf Populärkultur – nicht nur innerhalb der Wissenschaft und der gerade interdisziplinären Forschungsarbeit zwischen Medizinern und Informatikern, sondern auch in den diskursiven Verflechtungen zwischen Medizin, (Computer-)Wissenschaft und Öffentlichkeit – nachvollziehbar gemacht werden. Das Geflecht aus moderner Medizin, Informatik und Unterhaltungsindustrie – „including Pixar, Silicon Graphics, and Nintendo“ (ebd., 308) –, das auf der organisatorischen und medientechnologischen ‚Rückseite‘ der Arbeiten an der digitalen Endoskopie zusammengezogen wird, „have made the use of imaging technology in science and medicine possible on a scale and at a pace that would not otherwise be imaginable“ (ebd.). Zumal nicht nur Hard- und Software zwischen Industrie und akademischer Welt zirkulierten – „the people have circulated too“, wie Lenoir ausführt (ebd., 304).17 Auf der ‚Vorderseite‘ des visuellen Designs nun findet dieses Geflecht sein unmittelbares Korrelat in der „Collage von Videos der Kriegsschauplätze, Screenshots von Computerspielen, Reminiszenzen aus Science-Fiction-Romanen und Trailer-Sammlungen von Hollywood-Streifen“ (Gugerli 2002, 262). Wenn also Chirurgen beginnen mit dem ‚Joystick‘ zu operieren, dann rücken die technologischen Entwicklungen in der Medizin im Umfeld der virtuellen Endoskopie nicht nur in die Nähe richtunggebender Hollywoodfilme, sondern auch in die populärer Serienfiktionen, Flugsimulatoren und
17 Um dies zu untermauern, führt er einige Beispiele von Personen an, bei denen dies der Fall gewesen ist (ebd., 304f.).
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Computerspiele. „Der quasiutopische Flugmodus medizinischer Diagnostik der 1990er Jahre mobilisierte Ressourcen kultureller Praxis, um seine eigene Präzedenzlosigkeit stabilisieren zu können“ (ebd., 266). Zu diesen Ressourcen populärkultureller Praxis, die einen reichhaltigen Referenzrahmen bereitzustellen vermag, gehören zu den oben genannten – unmittelbar im historischen Kontext der frühen virtuellen Endoskopie verortbaren medialen Vorbilder und Verweise – auch weitere Produktionen und Medienformate, die sich dezidierter mit dem menschlichen Körperinneren befassen und so auch die audiovisuelle Kommunikationskultur im Kontext der 3DEndoskopie beeinflusst haben: die Science-Fiction Komödie Innerspace (Joe Dante, USA 1987)18, der im selben Jahr publizierte Roman Fantastic Voyage II: Destination Brain von Isaac Asimov als auch die Übersetzung von Nilssons Band The Body Victorious. The Illustrated Story of Our Immune System and Other Defences of the Human Body (zusammen mit Jan Lindberg), das 1982 für den Atari 2600 veröffentlichte Konsolenspiel Fantastic Voyage (das auf den gleichnamigen Film zurückgeht) sowie der 1989 eröffnete – und mittlerweile (in 2007) geschlossene – Flugsimulator Body Wars im Wonders of Life Pavillon in Walt Disney World. Des Weiteren traten in den 1990er Jahren auch vermehrt futuristische Visualisierungen über die Potentiale der Nanotechnologie in Erscheinung. Insbesondere in der Nanomedizin kursierten Visionen, zum Beispiel von „Nanomaschinen“ oder „sich selbst replizierenden Assemblern“, die zu „Verbesserungen der menschlichen Konstitution“ als auch einer „molekulartechnische[n] Neugestaltung der Welt“ (Lösch 2006, 228) beitragen sollten. Das Körperinnere wird dabei mit Mini-U-Booten (Nanobots) aufgerüstet, die Arterien reinigen oder als Schwärme von Nanodrohnen mit ‚gezückten‘ Injektionsnadeln gegen Viren ins Feld ziehen. Diese visuellen Vorstellungen nun referenzieren – genau wie die Konzepte im Umfeld der virtuellen Endoskopie – vorrangig populärkulturelle Produktionen. Die visionären Bilder hatten zwar keinen erkenntnistheoretischen Wert für die eigentliche Nanoforschung und sind zudem mittlerweile aus dem ‚Bildkanon‘
18 Innerspace baut auf Fleischers Film aus dem Jahr 1966 auf, funktioniert allerdings im Wesentlichen als Komödie denn als Science-Fiction Film. Einige Jahre später hat sich auch Christian McIntire an einer schlechten Trash-Version von Fantastic Voyage versucht, die unter dem Titel Antibody 2002 veröffentlicht wurde.
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der Nanowissenschaften verschwunden. Doch selbst wenn indessen die Defuturisierung und Ökonomisierung akzentuiert wird, „konstituiert sich“, wie Andreas Lösch schreibt, „die ‚Zukunft der Nanotechnologie‘ im Kontext dieser Visionen“ (ebd., 129).19 Am Übergang vom 20. ins 21. Jahrhundert lässt sich also eine „Welle von Berichten über Reisen ins Innere des menschlichen Körpers“ (Gugerli 2002, 265) verzeichnen, zu welcher auch der norwegische Kinderfilm Auf der Jagd nach dem Nierenstein von Vibeke Idsøe aus dem Jahr 1996 sowie die ebenfalls an Kinder gerichtete, erstmals bereits im Jahr 1986 ausgestrahlte, 26 Episoden umfassende Zeichentrickserie Es war einmal … das Leben20 des französischen Fernsehsenders France 3 zählt (in Deutschland wurde die Serie 1990 erstmalig im öffentlich-rechtlichen Fernsehen auf Das Erste ausgestrahlt). Und schließlich sind es auch die populärwissenschaftlichen Dokumentationsformate des Fernsehens wie Lennart Nilssons The Miracle of Life (1996) – siehe auch die Version aus dem Jahr 1983 sowie die
19 Der kritische Diskurs um die visionären Bilder und die damit verbundenen Bemühungen um eine Defuturisierung sind auch vor dem Hintergrund populärkultureller Vorstellungen zu lesen, die ein gänzlich anderes Bild evozieren. Namentlich der Assimilierungsprozess des im Star Trek-Universum populären Borg-Kollektivs (als ultimativer Antagonist menschlicher Spezies) wird mit derselben Inszenierungsweise ins Bild gesetzt. In einem solchen Vergleich wird der ‚Nanobot‘ zur Optimierung der menschlichen Konstitution postwendend zum (gegenwärtigen) Sinnbild der Versklavung durch eine monströse Technologie, die auf Nanoebene – unsichtbar für das menschliche Auge – jedes Individuum zu einem fremdgesteuerten Techno-Zombie mutieren lässt. Zum Vergleich der Nanoforschung mit den Borg in Star Trek vgl. u.a. Joy (2007, 21ff.). 20 Die Serie inszeniert in jeder Episode thematisch eingegrenzt (z.B. Zelle, Herz, Geburt, Verdauung etc.) Vorgänge im Körper des Menschen. Dabei wechselt die Erzählperspektive zwischen der ‚Welt‘ außerhalb und der ‚Welt‘ innerhalb des Körpers, in der dann Elemente wie Blutkörperchen, Botenstoffe etc. in Form anthropomorphisierter Figuren auftauchen, die den Körper durchwandern und durchfliegen (die audiovisuelle Symbolik eines ‚fly-through‘ oder ‚walkthrough‘ findet sich hier ebenso umgesetzt).
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spätere Produktion Life’s Greatest Miracle (2001)21 – sowie die siebenteilige BBC-Serie The Human Body (1998), die ein öffentliches Bild über das Innere des Menschen nachhaltig geprägt haben.22 Die Aufarbeitung der Prozesse im Körperinneren zur Vorstellung einer breiten Öffentlichkeit unter ständiger Weiterentwicklung der technologischen Möglichkeiten kann dabei als eine kontinuierliche Entwicklung betrachtet werden; auch und gerade hinsichtlich audiovisueller Inszenierungsstrategien und den veränderten Möglichkeiten durch digitale Medien. Dementsprechend hat die BBC – allen voran mit der mehrteiligen Walking withReihe: Walking with Dinosaurs (1999), Walking with Beasts (2001) und Walking with Monsters (2005)23 – den populären Wissenschaftsfilm im Fernsehen durch die Verwendung aufwendigerer digitaler 3D-Animationen in seiner ästhetischen Erscheinung nachhaltig verändert. Die Kritik an diesem Vorgehen, das über die blurred boundaries (Nichols 1994) zwischen Spiel- und Dokumentarfilm hinaus im Sinne einer rigoros ontologischen Betrachtungsweise vermeintlich den Status des Dokumentarischen untergraben soll, ist bereits mehrfach vorgebracht und wiederum kritisch disku-
21 Dokumentation unter Mitwirkung Nilssons sind auch schon in den 1960er Jahren – The Beginning of Life (1968) – und 1970er Jahren – The Incredible Machine (1975) – erschienen. 22 So hat nicht zuletzt im Anschluss an die – eine Reihe kritische Implikationen enthaltende (vgl. u.a. Verdicchio 2010, 33ff.; Weingart 2005, 247f.; Kohring 2005, 158ff.) – Forderung der britischen Royal Society nach einer verstärkten Wissenschaftskommunikation (Public Understanding of Science) Mitte der 1980er Jahre vor allem die BBC sehr erfolgreiche Produktionen hervorgebracht, die weitere, auch von anderen Sendern produzierte Wissenschaftsfilme und Dokumentarserien nach sich zogen. Eine der britischen Forderung übrigens vergleichbare Maßnahme wurde in Deutschland im Jahr 1999 mit der Initiative „Wissenschaft im Dialog“ (WiD) und dem Prozess eines Public Understanding of Sciences and Humanities (PUSH) umgesetzt, dessen Bekenntnis, wie es auf der Homepage heißt, im Jahr 2009 erneuert wurde. 23 Die Teile der Reihe rekonstruieren mittels digitaler Animationen urzeitliche Ökosysteme unterschiedlicher fossil bekannter Tiere und präsentieren diese über Konventionen des Natur- und Tierdokumentarfilms (vgl. u.a. Blum/Stollfuß 2011, 303ff.).
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tiert worden24; hier soll dies nicht weiter interessieren. Denn im Zuge der Digitalisierung des Wissenschaftsfilms entstanden nun zu Beginn des 21. Jahrhunderts international verstärkt populärwissenschaftliche Dokumentationen, die auch die Vorgänge im Körperinneren mittels avancierter digitaler dreidimensionaler Animationen präsentieren (Abb. 1).25 Abb. 1: Chromosomen
Quelle: Still aus In the Womb, © 2005 Pioneer Film and TV Production Ltd., produced for National Geographic Channel).
Für den Diskurs um die Entwicklung der virtuellen Endoskopie sind diese jüngeren populärwissenschaftlichen Fernsehdokumentationen nun insofern von Interesse, da sie gegenwärtigen Überlegungen zur Verbesserung der Visualisierung des Körperinneren als Vorlage dienen, um eine enhanced
24 Zum (kritischen) Diskurs um die Reihe siehe u.a. Darley (2003); Scott/White (2003); van Dijck (2006). 25 Für die BBC vgl. u.a. How To Build a Human (2001), Human Senses (2002), The Human Mind (2003), The Dark Secret of Hendrik Schön (2004), Fight for Life (2007), The Secret Life of Your Body Clock (2008–2009) und Inside the Human Body (2011); für Discovery Channel z.B. Ultimate Guide: The Human Body (2000), ANATOMY OF SEX (2005), Architecture and Design of Man and Woman (2005), From Conception to Birth (2005) und Human Body: Pushing the Limits (2008) und für National Geographic etwa INCREDIBLE HUMAN BODY (2002), In the Womb (2005), In the Womb: Multiples (2007), Inside the Living Body (2007) und Incredible Human Machine (2007). Für deutlich aufwendigere digitale 3D-Animationen in populärwissenschaftlichen Dokumentationen für deutsche Fernsehproduktionen siehe das Archiv auf http://teledesign.de/de.
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version virtueller Endoskopie zur Diskussion zu stellen. Die Verflechtung aus Medizin, Informatik und Unterhaltungsindustrie auf der organisatorischen und medientechnologischen ‚Rückseite‘ digitaler Visualisierungsverfahren wird dabei (erneut) als wesentliches Argument ins Feld geführt und als Herausforderung gerade für die Designforschung akzentuiert (vgl. Flack/McGhee 2007; McGhee 2009). Die im DICOM-Format abgespeicherten Patientendaten aus den tomographischen Scans sollen dabei durch die Nutzung aktueller CGI-Software nachbearbeitet und dadurch in ihrer Animations- und speziell visuellen Kommunikationsqualität verbessert werden (Abb. 2).
Abb. 2: Diagramm: Verarbeitung der Scan-Daten zur 3D-Visualisierung
Quelle: McGhee 2009, 257.
Abb. 3: ‚Enhanced‘ 3D-Visualisierung: Blutkörperchen in Aorta
Quelle: McGhee 2009, 269.
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Der Ansatz dabei ist, wie es John McGhee für seine Arbeiten (Abb. 3) formuliert, das Darstellungspotential der visuellen ‚Vorderseite‘ digitaler endoskopischer 3D-Animationen an den gegenwärtigen Standard avancierter Animationstechnik anzugleichen und „the visual quality of inner body space“ in der Kommunikation – nicht zuletzt auch mit Blick auf eine „aesthetic of movement“ (McGhee 2009, 268) – zwischen Arzt und Patient aufzuwerten: „The objective was not just the raw, unmediated imparting of medical ‚fact‘, but communication of the rich structure and texture of the complex cycle of blood flow as it moves through the vascular system“ (ebd.). Um die Kommunikation zwischen Patienten und Ärzten zu steigern, gälte es also die ästhetischen Strategien noch stärker an populäre Inszenierungsformen anzulehnen. Dabei sei die (historische) Verbindungslinie zwischen virtueller Endoskopie und Populärkultur weiterzuziehen von Filmen wie „Innerspace (Dante, 1987) and Fantastic Voyage (Fleischer, 1966)“ (ebd.) zu aktuellen populärwissenschaftlichen Fernsehdokumentation wie „Fight for Life (BBC, 2007) and Life Before Birth (MacDonald, 2005)“ (ebd., 265). Die Vision dieser enhanced version virtueller Endoskopie ergänzt somit die Kompilation aus im Wesentlichen Spielfilmen, Flugsimulatoren, Games und populärwissenschaftlichen Dokumentationen des ausgehenden 20. Jahrhunderts um Referenzen auf jüngere Fernsehdokumentationen hinsichtlich deren Präsentation des Körperinneren mit aufwendigeren digitalen 3D-Animationen. Bemerkenswerterweise verschränken die neueren dokumentarischen Formate der BBC und andere Produktionen, auf die auch McGhee unter anderem verweist, in ihrer Darstellungsweise wiederum tradierte Konventionen – wie zum Beispiel die von Lennart Nilsson geprägten ästhetischen Muster der Repräsentation von Föten, aber auch historische röntgenkinematographische Bilder – mit Visualisierungsstrategien zeitgenössischer fiktionaler Serienformate wie CSI: Crime Scene Investigation (CBS, seit 2000) oder House M.D. (Fox, 2004-2012).26 Besonders auf-
26 So heißt es auf der seinerzeit präsentierten Website zu Fight for Life auf BBC Germany, dass die gezeigten Fälle und die vermittels digitaler Visualisierung kommunizierten Prozesse unter der Haut des menschlichen Körpers „in puncto Spannung den derzeit enorm erfolgreichen fiktionalen Serien wie ‚CSI‘ und ‚Dr. House‘ in nichts nach[stehen].“ Vgl. „Ein Blick hinter die Kulissen“ unter www.bbcgermany.de/EXKLUSIV/programm/ 618/index.php (Stand 14.02.12. Die Website existiert leider mittlerweile nicht mehr).
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fällig zeigt sich dies in der Verwendung von schnellen Cuts bzw. Zoom-Ins in den Körper. Diese Form der Inszenierung, die vereinzelt auch in Filmen wie Fight Club (David Fincher, 1999), Three Kings (David O. Russell, 1999), Romeo Must Die (Andrzej Bartkowiak, 2000) oder dem weniger bekannten Horrorfilm Reborn – The New Jekyll & Hyde (Nick Stillwell, 2006) vorzufinden ist, hat aufgrund ihres häufigen Einsatzes in CSI unter der programmatischen Bezeichnung ‚CSI-shot‘ Eingang in die Medienbzw. Fernsehforschung gefunden (vgl. Hollendonner 2009; Allen 2007). Der ‚CSI-shot‘ – der schon die Umgestaltung des Zusammenspiels „of technology, medical practice, and cultural appropriation“ darstellt, was sich im endoskopischen Blick niederschlägt (van Dijck 2005, 66) – fließt als ästhetische Repräsentationsstrategie des Körperinneren nicht nur in weitere fiktionale Serien, sondern eben auch in populärwissenschaftliche Dokumentation wie Fight for Life ein (vgl. Stollfuß 2012). Im Vergleich nun mit den jüngeren Vorstellungen einer verbesserten digitalen 3D-Endoskopie ergeben sich vor diesem Hintergrund doch erstaunliche weitere Synergien zwischen Medizin und Populärkultur innerhalb der Diskursgeschichte der virtuellen Endoskopie in ihrer interdisziplinären Formatierung. Eingebettet in eine immer schon reziproke Beziehung zwischen Populärkultur und Medizin ist das Wissen um das virtuelle Körperinnere, um den „‚High Resolution‘-Patienten“ (Stollfuß 2014, 95ff.) – der ebenso, wie Lisa Cartwright es für die Geschichte der medizinischen Kinematographie beschrieben hat, in seiner Darstellungskonvention im Sinne eines Ansatzes von „more viewer-friendly“ (Cartwright 1997, 81)27 explizit als Abstraktion entworfen wird – im Zuge der Digitalisierung nicht nur medientechnisch verfasst, sondern wesentlich durch die Populärkultur des 20. und 21. Jahrhunderts ‚informiert‘ und ‚imprägniert‘. Die Ressourcen populärkultureller Praxis, die schon in den 1990er Jahren die Entwicklungsgeschichte der virtuellen Endoskopie enorm geprägt haben, um „eine ganze Reihe von Orientierungsproblemen“ (ebd.) zu lösen, zeigen sich in den jüngeren Ideen zu einer Aufwertung des Visualisierungsverfahren als ebenso ergiebig: sowohl im Zuge direkter Referenzierung, wie im Fall der populärwissenschaftlichen Fernsehdokumentationen, als auch in indirekter Form mit Blick auf die neuerlichen Verknüpfungen zwischen medizinischer Bildgebung und populärkultureller Transformation (im Umfeld der Zirkula-
27 Vgl. zur Vision einer verbesserten virtuellen Endoskopie McGhee (2009, 269f.).
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tionen von Darstellungsmustern zwischen dem sogenannten ‚CSI-shot‘ und den Fernsehdokumentationen mit deren Funktion als Vorlage für Konzepte einer optimierten virtuellen Endoskopie). Haben Computerspiele, Science-Fiction-Romane, Flugsimulationen und insbesondere der Spielfilm Fantastic Voyage das Fundament für eine Stabilität der virtuellen Endoskopie in ihrer Anfangsphase dargestellt – wodurch sie als Referenz in das Wissenssystem des virtuellen Körperinneren in der modernen Medizin unmittelbar eingeschrieben sind – konsolidiert sich dies, wenn jüngst doch populärwissenschaftliche Dokumentationen zumal und gerade in ihrer Verbindung zu anderen fiktionalen Medienproduktionen Pate stehen sollen, um die zukünftige Generation einer enhanced virtual endoscopy vorzubereiten.
M EDIZIN UND P OPULÄRKULTUR : P ROZESSIERUNG UND P OPULARISIERUNG Die Ausführungen bis hierher haben für die Entwicklungsgeschichte und interdisziplinäre Diskursivierung der virtuellen Endoskopie gezeigt, dass das Verhältnis von visionärer Konzeption und tatsächlicher Umsetzung in der medizinischen Praxis28 ein Spannungsfeld umreißt, das Medizin und Populärkultur in einer erkenntnistheoretischen Betrachtungsweise doch unmittelbar miteinander verschränkt. Eine epistemologische Konfiguration involviert dabei Ansätze der „Piktorialisierung“ (Heintz/Huber 2001, 9ff.) als eben auch Dimensionen der „Medialisierung“ (Weingart 2005, 244ff.) von Wissenschaft. Im Kontext der virtuellen Endoskopie ist der Ansatz der „Medialisierung“ jedoch deutlich weiter zu fassen. „Die These der Medialisierung [Hervorhebung im Original]“ von Wissenschaft, so Peter Weingart, behauptet „eine intendierte als auch eine nichtintendierte, indirekte (Rück-) Wirkung der Orientierung der Wissenschaft an den Medien auf sie selbst“. Damit ist ein „Mechanismus“ unterstellt, der als eine „durch die Medien vermittelte und in ihnen repräsentierte Kopplung zwischen der Wissen-
28 Bislang haben sich die Konzepte von Designern wie etwa John McGhee zur Optimierung der virtuellen Endoskopie nicht nachhaltig auf die medizinische Visualisierungspraxis im Kontext digitaler dreidimensionaler Bildgebung ausgewirkt, bislang existieren sie lediglich als Visionen.
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schaft und ihrer gesellschaftlichen Umwelt“ entworfen ist (ebd., 253). Allerdings bezieht sich das Konzept der Medialisierung im Wesentlichen auf die veränderte ‚Auffassung‘ der Popularisierung von Wissenschaft angesichts der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Wissenschaft durch Medien (vgl. ebd., 252). Abgrenzen will sich Weingart damit vor allem vom canonical account und dem ihm inhärenten hierarchischen Muster, nach dem Medien nur als Vermittler von Informationen auftreten können, die zuvor durch die Wissenschaft autorisiert wurden. Die Rolle und Funktion der Medien erfährt dabei eine veränderte Ausrichtung, insofern sie doch nicht mehr nur reine Transporteure von Wissen seien, sondern im Rahmen ihrer Systemstrukturen selbst Wissen produzierten. Weingart geht dabei mithin von zwei klar getrennten Systemen (und ihren jeweiligen Realitätskonstruktionen) aus, die über verschiedene Schnittstellen miteinander verbunden sind, wobei die Funktion der Medien noch immer dem Prinzip der Verarbeitung und Vermittlung von Wissen aus dem Bereich der Wissenschaft in die Öffentlichkeit folgt. Die reziproke Kopplung von Wissenschaft und Massenmedien – die den Ansatz der Medialisierung voraussetzt – formiert sich überdies primär im Sinne von Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Wissenschaft von Öffentlichkeit.29 So sei der Gang in die Öffentlichkeit unter anderem als Instrument der Wissenschaft zu sehen, wenn diese ihre eigenen Praktiken, Grenzausdehnungen und -stabilisierungen als zu rechtfertigen betrachte und im gesamtgesellschaftlichen Gefüge als gesichert verstanden wissen wolle. Auch könne das Informieren der Öffentlichkeit über unterschiedliche wissenschaftliche Themen als ein Instrument der „Legitimationsbeschaffung“ der Wissenschaft nach innen wie nach außen gelten; zum Beispiel dann, wenn innerwissenschaftliche Konflikte nach au-
29 Ebd., 242: „Die Wissenschaft ist in mehrfacher Hinsicht abhängig: Als Organisation bedarf sie der Zuwendung von Ressourcen zumindest für diejenigen Bereiche, in denen Forschung und Lehre mit öffentlichen Mitteln instrumentell ausgestattet und personell remuneriert werden. Als soziale Institution bedarf sie überdies der Legitimation: sowohl im Hinblick auf die Zuweisung der Ressourcen als auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Sicherung ihrer professionellen Sonderrechte, wie das Lizenzierungsmonopol für bestimmte Berufe, das Recht der Selbstkontrolle und Ausnahmeregelungen für die Forschung. Die Ressourcen- und Legitimationsabhängigkeit konstituiert den Konflikt um die ‚sozialen‘ Grenzen der Wissenschaft.“
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ßen getragen würden, um für verschiedene Positionen Bestätigung zu erhalten (vgl. ebd. 244). Für den Diskurs und die Entwicklungsgeschichte der virtuellen Endoskopie hat sich jedoch gezeigt, dass eine klar abzutrennende ‚Medienrealität‘ gegenüber einer ‚Wissenschaftsrealität‘ zum einen nicht auszumachen ist und es zum anderen auch nicht vorrangig um eine neu zu verstehende ‚Aufmerksamkeit‘ der Öffentlichkeit auf Medizin durch populäre Medien bestellt ist. Im Falle der virtuellen Endoskopie durchdringen sich Wissenschaft und populäre Medienkultur vielmehr immer schon fortwährend wechselseitig. Über den Versuch der Metaphorisierung der seinerzeit neuen Bildgebungstechnologie (etwa mit Blick auf den Chirurgen als Piloten) – als ein Instrumentarium nicht nur für die Kommunikation zwischen Medien/Öffentlichkeit und Wissenschaft (vgl. Maasen/Weingart 2000), sondern eben auch innerhalb der interdisziplinären Forschung zur virtuellen Endoskopie selbst – entfaltet sich eine grundlegende Verflochtenheit von Medizin und Populärkultur im Diskurs zur virtuellen Endoskopie. Der Mechanismus der Medialisierung – um terminologisch noch bei Weingart zu bleiben – geht somit über eine „intendierte als auch eine nichtintendierte, indirekte (Rück-)Wirkung der Orientierung der Wissenschaft an den Medien auf sie selbst“ (Weingart 2005, 253) deutlich hinaus. Im Zuge der Etablierung und Stabilisierung digitaler endoskopischer 3D-Animationen (in erster Linie innerhalb der Medizin selbst, aber auch in der Öffentlichkeit) handelt es sich doch gerade um eine intendierte und direkte Wechselwirkung mit Blick nicht nur auf eine ‚Orientierung‘ der Wissenschaft an den (populären) Medien, sondern um eine populärkulturelle Imprägnierung des medizinischen Wissens um das virtuelle Körperinnere. „Denkkollektiv“ und „Denkstil“ (vgl. Fleck 1935/1980) sind im Kontext virtueller Endoskopie mithin nicht nur wesentlich interdisziplinär organisiert, sondern auch populärkulturell in-formiert und erkenntnistheoretisch verdichtet. Die Strategien innerhalb der Entwicklungsgeschichte der digitalen 3DEndoskopie rücken damit vielmehr in die Nähe einer „multi-level multivariate perspective“ (Bucchi 1996), wie sie etwa Massimiano Bucchi favorisiert. In Auseinandersetzung mit dem „‚continuity‘ model of communicating science“ (ebd., 378), vor allem in der Prägung von Michel Cloitre und Terry Shinn (1985), geht es Bucchi einerseits darum, die Beziehung zwischen Wissenschaft und Massenmedien als Zirkulationsprinzip von Wissen – bei Cloitre und Shinn von der Ebene wissenschaftlicher Publika-
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tion (intraspecialistic level) über populärwissenschaftliche Magazine (interspecialistic level) und pädagogische ‚textbook sciences‘ (pedagogical level) bis hin zur massenmedialen Presse (popular stage) – zu unterstützen, aber auch zugleich darauf hinzuweisen, dass der Ausgangspunkt für die Entwicklung wissenschaftlicher Ideen und Konzepte nicht selten im Wirkungsbereich namentlich des popular stage’s noch einmal spezifischer zu diskutieren ist. Der Einfluss populärer Medien auf „‚cognitive trajectory‘ for scientific ideas“ (Bucchi 1996, 378) – also die Fleckschen ‚Denkstile‘ und ‚Denkkollektive‘ – sei doch sehr viel umfassender zu verstehen: „I suggest that communication of science at the popular level may influence core scientific practice in many more different and subtle ways than simple support and reinforcement. […] The popular stage can in this sense provide an open space where stimuli, ideas and information may be merged and exchanged among different actors and across disciplinary fields, in the absence of the constraints and conventions which bind scientific work and communication at the specialist level.“ (Ebd., 386).
Diese Situation kann als sinnfällig für die Entwicklungsgeschichte der virtuellen Endoskopie aufgefasst werden, insofern populäre, fiktionale Medienerzählungen maßgeblich an der Initialisierung der digitalen 3DEndoskopie beteiligt waren. Dabei allerdings stellen sie augenscheinlich nicht nur einen „open space“ zur Ideenentwicklung dar. Populärkultur ist in diesem Zusammenhang vielmehr – in stärkerer theoretischer Prägung – im Sinne einer „spezifischen Wissenskultur“ (Wilke 2012) zu elaborieren, wie etwa Thomas Wilke (wenngleich in anderem Zusammenhang) diskutiert hat. Dabei fasst er Populärkultur erstens als „integrale[n] Bestandteil moderner Gesellschaften“ auf. „Zweitens wird Populärkultur durch (Massen)Medien hervorgebracht und drittens produziert Populärkultur ein spezifisches und heterogenes Wissen.“ Diese vorgebrachten Annahmen „sind in ihrem wesentlichen Zusammenhang [insofern] medial grundiert“, als dass auf „bestehendes Wissen“, auf ein „spezifische[s] Kulturverständnis“ sowie ein bestimmtes Verhältnis bzw. ein bestimmter „Zugang zu Gesellschaft“ Bezug genommen wird, in dem Medien eine zentrale Wirkmächtigkeit besitzen. Dieser komplexe Zusammenhang nun konstituiert sich „prozessual fortlaufend selbst“ (ebd., 299). Populärkultur wird in diesem Fall selbst als
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‚Dispositiv‘30 verstanden, welches als Fortschreibung einer charakteristischen Wissenskultur konzeptualisiert ist. „Ausgangspunkt dieser Überlegung ist“, so Wilke, „dass Wissenskulturen spezifische Zugänge zur Welt ermöglichen, wissensbasierte Handlungsweisen entstehen lassen und dabei über Medien gesellschaftliche Selbstreflexionen beobachtbar machen“ (Wilke 2012, 300). Medial bedingt ist ein ‚Dispositiv Populärkultur‘ mithin insofern, als dass es eben grundsätzlich nicht ohne Massenmedien als ‚Ort seiner Genese‘ gedacht werden kann und des Weiteren gerade Medien „in modernen Gesellschaften maßgeblich an der Produktion von Kultur beteiligt sind“ (ebd., 301). Auf dem Rücken der von Hans-Jörg Sandkühler vorgenommen Bestimmung von Wissenskulturen geht es Wilke darum, selbige „aufgrund ihrer Besonderheiten [als] unterscheidbare, systemisch verfasste, holistisch (ganzheitlich) zu rekonstruierende Ensemble epistemischer und praktischer Kontexte, die bei der Entstehung und in der Dynamik von Wissen wirksam sind und Geltungsansprüche und Standards der Rechtfertigung von Wissen bestimmen“ (Sandkühler zit. n. Wilke 2012, 305), für sein Konzept fruchtbar zu machen und dabei Populärkultur selbst als spezifische Wissenskultur auszuarbeiten. Mit Blick auf den Diskurs und die Entwicklungsgeschichte der virtuellen Endoskopie kann nachweislich gezeigt werden, wie sich hier populäre Medien bzw. Populärkultur im Sinne eines solchen Verständnisses von spezifischer Wissenskultur qualifiziert haben, um als robuster Referenzrahmen zu dienen, der die Einführung und Stabilisierung des seinerzeit neuen und ‚präzedenzlosen‘ Verfahrens als medizinisches Diagnose- und OPPlanungstool überhaupt erst möglich gemacht hat. Mit Kleiner (2006) ließe sich hierbei auch von einer Eigenlogik populärer Medien sprechen, die als erkenntnistheoretische Verweisung zur Schaffung von visuellen Präzedenzerfahrungen – und daraus abgeleitet von Evidenz(potential) – in die Prozessierung medizinischen Wissens des virtuellen Körperinneren zumal und gerade in der Medizin überführt wird. Im Zuge der Entwicklung der digitalen 3D-Endoskopie setzt sich dieses Wissen in steter Ein- und Rückwirkung von Medizin und Populärkultur als hybrides Gewebe einer „komplexen Gemengelage“ (Wilke 2012, 306) im Prozess der Medialisierung der
30 Wilke entwickelt seinen Ansatz im Anschluss an sozialwissenschaftliche Überlegungen zu einer Dispositivanalyse, wie dies Bührmann/Schneider (u.a. 2012) sowie Jäger (u.a. 2006) vorgelegt haben.
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modernen Medizin – und insbesondere der Wissensprozesse des virtuellen Körperinneren – fort. Vor diesem Hintergrund sind auch, wie Bernd Hüppauf und Peter Weingart schreiben, die „kulturellen Konventionen des Sehens und […] allgemeinen Erwartungen an Bildlichkeit“ (Hüppauf/Weingart 2009, 22) auf der einen sowie die „theoriegestützte Erwartung an die Technologie der bildgebenden Verfahren“ (ebd., 29) auf der anderen Seite im Feld digitaler endoskopischer 3D-Visualisierungen mit Blick auf den konstitutiven Referenzrahmen als Gewebe aus Medizin und Populärkultur immer schon im Sinne dieser reziproken Relationen zu reflektieren. Populärkultur (als spezifische Wissenskultur) bestimmt nachhaltig die medienepistemologische Konfiguration der digitalen 3D-Endoskopie und prägt damit ein Wissen über das virtuelle Körperinnere nicht nur in öffentlichen Diskursen, sondern in erster Linie innerhalb der Medizin selbst. Mithin versteht sich das Wissen der virtuellen Endoskopie als multivariate Wissensorganisation, die auf eine grundlegende Verbindung (von Medizin und populären Medien) sowie Interaktion der entsprechenden Akteure (in und zwischen Wissenschaft und Populärkultur) setzt und damit notwendig auf die wechselseitige erkenntnistheoretische Durchdringung beider Bereiche abhebt – wobei gerade populäre Medien das erkenntnistheoretische Programm der digitalen 3DEndoskopie maßgeblich bestimmen.
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Netzwissen / Wissensnetze
Folksonomies Wissensaggregate im Social Net R AMÓN R EICHERT
Der Neologismus „Folksonomies“ bezeichnet das Phänomen einer neuartigen digitalen Kulturtechnik: die freie Verschlagwortung von Inhalten im Internet. „Folksonomies“ stellen eine populäre Wissenspraxis dar, die in kulturelle Prozesse eingreift und Wissensanordnungen transformiert. Sie entsprechen einem Verfahren der kollaborativen Wissensproduktion, das Merholz als „metadata for the masses“ (2004) und Surowiecki als „wisdom of crowds“ (2004) charakterisiert haben. Die kollektive Inhaltserschließung eines Dokumentinhalts nennt Vander Wal (2005) „Broad Folksonomy“ und beschreibt damit die kollektive Nutzungspraxis, Dokumente mit unterschiedlichen Tags zu versehen. Im Unterschied zu kontrollierten Begriffsregistern und einheitlichen Taxonomien können Folksonomies als Performative der Vielsprachigkeit („merging of languages“, Gordon-Murnane, 2006) betrachtet werden, die sich mit jeder neuen Benutzung anders anordnen und damit populäres Wissen in dynamische Aggregatzustände verwandeln. Ausgehend von der Diskussion des aktuellen Forschungsstandes zur Thematik der kollektiven Kodierung von webbasierten Inhalten – der Wissensallmende, als ein Gemeingut der Informationsgesellschaft – interpretiere ich die technisch-medialen Infrastrukturen im Internet als dynamische Wissenskulissen, welche mittels der kontinuierlichen Aktivitäten der kollaborativen Bedeutungsproduktion keine fixen Datenbank- und Archivstrukturen ausbilden können, sondern sich in einem andauernden Prozess der
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Datenzirkulation und -aggregation befinden. Vor diesem Hintergrund gehe ich davon aus, dass die – oft im Back-End verortete – digitale Kommunikationskontrolle des Wissens im Internet kein perfektes und in sich abgeschlossenes Wissen hervorbringen kann, da Beobachter immer auch mit dem Problem konfrontiert werden, dass die digitale Online-Kommunikation insgesamt als veränderlich, unwahrnehmbar, unvorhersehbar und unzyklisch erscheint. Folksonomies konfrontieren uns exemplarisch mit dieser dynamischen Auflösung statischer Ordnungskonzepte. Daher erscheinen sie als schlecht definierte Systeme, die sich durch schwach strukturierte Datenmengen und eine dementsprechend unscharfe Logik auszeichnen. Dementsprechend erweist sich das auf die großen Datenmengen stützende Wissen als ein extrem volatiles und aggregatähnliches Wissen, das kein diskursives Zentrum erzeugt und einem empirischen Umherirren gleicht. Die Volatilität der Internetkommunikation verweist darauf, wie unsicher, notorisch schwankend und unzuverlässig auch das Terrain der empirischen Auswertung der von Nutzern generierten Wissensprozesse geworden ist und dass diese Unschärfe auch zur Volatilität der Informationswissenschaft führt, der es nicht mehr gelingt, einen analytischen Referenzraum zu konstruieren, der die globalen Kommunikationsströme der anonymen, mikrobenhaften Kollektivität in einem System stabiler und diskreter Unterscheidungen zu repräsentieren vermag.
V ERNETZUNGSTECHNOLOGIEN UND D ATENKOLLEKTIVE Technisch gesehen entspringen die Möglichkeiten zur kollektiven Verschlagwortung von digitalen Inhalten einem spezifischen Verfahren der Anwendungsverteilung (Peer-to-Peer, Client-Server). Dementsprechend haben die Technologien der verteilten Netze, die als komplex und mehrdimensional aufgefasst werden können, einen maßgeblichen Anteil am Aufstieg der sozial geteilten Inhalte im Internet.1 „There are many decen-
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„We argue that new media opens up opportunities for the greater visibility and community-building potential of cultural citizenship’s previously ,ephemeral‘ practices. This is especially true in the context of new convergences between so-
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tralized networks in the world today – in fact, decentralized networks are the most common diagram of the modern era “ (Galloway 2004, 31). Die Grundlage für die soziale Kommunikation mittels verteilter Netze hat die militärische Entwicklung von flexiblen Kommunikationsnetzwerken auf der Grundlage digitaler Informationsübertragung geschaffen (Baran 1964). Im Unterschied zu hierarchischen (die hierarchische Relation von Sender/Empfänger im Fernsehdispositiv) und zentralisierten Netzwerken, die sich auf einen singulären Knotenpunkt ausrichten (z.B. die Telegraphennetze monarchischer Gesellschaften), hat die Webtechnologie der verteilten Netze nicht nur auf funktionale, sondern auch auf topologische Weise eine Transformation von Machtbeziehungen ausgelöst, indem sie unter anderem die Dezentralität von Daten ermöglicht, die Trennung in Zentrum und Peripherie aufhebt, Peer-to-Peer-Strukturen anbietet und Medien-Infrastrukturen substituieren kann (Sicherstellung alternativer Übertragungswege mittels TCP/IP-basierter Parallelarchitekturen). Luc Boltanski und Eve Chiapello haben in ihrem 2003 veröffentlichten Buch „Der neue Geist des Kapitalismus“ die historische Umbruchsituation von nicht-hierarchischen Netzwerken untersucht und haben aufgezeigt, dass seit den frühen 1970er Jahren eine neue Spielart der sozioökonomischen Organisation aufgetaucht ist, die das hierarchische, an Henry Ford orientierte Produktionsregime verwarf und eine neue Organisationsform entwickelte, die auf flexiblen Netzwerken und der Eigeninitiative der Beteiligten beruhte. Diese transversal organisierten Netze sind grundsätzlich instabil und erfordern von ihren Mitgliedern eine aktive und permanente Teilnahme, die zur unumgänglichen Bedingung bei der Schaffung von Aufmerksamkeitsmärkten und Netzwerkkapital heranwächst. Demzufolge kann die verteilte Netzwerkarchitektur als ein neues soziales Ordnungssystem aufgefasst werden, das sich an Werten wie Flexibilität, Mobilität, Kreativität und Eigenverantwortung orientiert und für das neuartige Steuerungsdispositiv von netzförmig organisierter Projektarbeit, egalitärer Verteilungs- und Machtstrukturen und effektiver Kontrollprozeduren einsteht. In der Welt der Wiki-Netzwerke gibt es nur noch wenige fixe Ordnungen und Struktu-
cial networks and consumer-created content, and the consequent formation of communities of interest and practice, focused around hobbies, entertainment, and everyday creative practice, at both local and global levels.“ (Burgess/Foth/ Klaebe 2006, 1).
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ren; diese liegen vielmehr jeweils in der Verantwortung der beteiligten Akteure, die unter den gegebenen Bedingungen entscheiden und gestalten müssen (vgl. Broughton 2007). Mit dem historisch verortbaren Aufstieg des partizipatorischen Management und seiner progressiven Steuerungstechnologien können verteilte Computernetze seither als medientechnische Architekturen verstanden werden, die durch ihre räumliche Strukturierung spezifische Möglichkeiten, Macht zu generieren und zu prozessieren, vorgeben. In einer verallgemeinernden Annäherung kann man verteilte Netzwerke als eine Ermöglichung einer n:n-Kommunikation verstehen. Eine n:n-Kommunikation liegt vor, wenn mehrere Nutzer/innen viele andere Nutzer/innen mit einer Information adressieren können. Wenn eine n:n-Gruppenkommunikation in Peer-toPeer-Strukturen über ein offenes, globales Übertragungsmedium mit einer persistenten Speicherung aller Inhalte erfolgt und alle Kommunikation zwischen Nutzer/innen mehr oder weniger unbegrenzt für alle anderen Nutzer/innen weltweit einsehbar sind, dann entwickelt sich durch die Kombination von Echtzeit-Kommunikation, verteilter Datenübertragung, SharingFunktionen und maschinell beschleunigter Nachrichtenverarbeitung eine globale Kommunikation ungekannter Verbreitungsgeschwindigkeit, welche den gesamten Prozess von Produktion und Rezeption von Online-Inhalten zeitlich verkürzt, wenn Daten und Informationen in einer synchronen Online-Kommunikation kommentiert, bewertet und vernetzt werden. So gesehen kann die Macht der Vielen immer auch als ein Effekt der technischen Infrastruktur verteilter Netze verstanden werden. Mit der seit der Mitte der 1990er Jahre einsetzenden Entwicklung von Web-Browsern für grafische Benutzeroberflächen war das Internet graphisch geworden und es entstanden emanzipatorische Diskurse zur Vernetzungskultur, die eine egalitäre und herrschaftsfreie Vernetzung im Cyberspace in Aussicht stellten (vgl. Barlow 1996) Mit der umbruchartigen Ablösung der zentralen Netze durch die verteilten Netze haben sich aber nur oberflächlich die kollektiven Formen der politischen Repräsentation transformiert. Verteilte Netzwerkgesellschaften sind weder herrschafts- noch machtfrei, da sich mit ihnen die Art und Weise der Machtverhältnisse und der Machtausübung nicht aufgehoben, sondern bloß verschoben hat. In ihnen haben sich spezifische Steuerungs- oder Machtstrategien herausgebildet, die einen flexibilisierten Machttypus und folglich eine dezentralisierte soziale Kontrolle herausgebildet haben. Diese in den distribuierten
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Peer-to-Peer-Netzwerken ermöglichte Freiheit und Beweglichkeit der Kommunikation suggeriert eine sich gleichsam ohne Zeitverluste in alle möglichen Richtungen ausweitende Lebenswirklichkeit der Individuen, stellt aber gleichermaßen eine sich transformierende Regierungstechnik dar, die auf ein produktives Machtverhältnis abzielt und ein hohes Maß an Kontingenz toleriert (vgl. Galloway 2004) In Anlehnung an Michel Foucaults (2000, 41-67) Konzept der „Gouvernementalität“ nennen Hardt und Negri (2000, 13) den verflüssigten Machttypus auch „governance without government“ und machen damit auf den strategischen Zusammenhang von Beschleunigungsbefähigung, Flexibilisierung und Selbsttechnologien aufmerksam, der die personalisierte Form der personalen Herrschaft ablöst. Die These von der Produktivität der Macht behauptet, dass Macht erst im Hervorbringen wirksam wird und dass Macht genuin als ein Akt der Ermöglichung zu verstehen ist. Wenn man unter Macht die Gesamtheit aller Beziehungen in einem dynamischen Kraftfeld versteht, dann wird Macht mehrdeutig und kann als ein Modus angesehen werden, der für das Zustandekommen, die Potentialität der Macht einsteht – für das Zustandekommen von Veränderungen in der sozialen Welt, die möglich, aber nicht notwendig sind. Die neuen Kollektivitäten im Netz können folglich als Transformation der Macht im Sinne der Restrukturierung und Umorganisation von Regierungstechniken geltend gemacht werden. Vor dem Hintergrund dieser Machtverschiebungen kann die digitale Vernetzungskultur als eine Versuchsanordnung neuer Ausverhandlungsdiskurse, selbstunternehmerischer Empowerment-Strategien und sozialer Organisation begriffen werden. Sie bezieht ihre Mächtigkeit nicht mehr aus der vermeintlich stabilen Entität, sondern aus ihrer permanenten Formveränderung ihrer Mitglieder, die sie in prozedurale Verfahren der Bedeutungsstiftung und Bewertungspraxis verwickelt. Wenn davon ausgegangen wird, dass die durch die digitalen Kommunikationsmedien zur Verfügung gestellten Infrastrukturen Kollektivität erfahrbar machen, formieren und vernetzen, dann kann die Frage nach den Verfahren zur Herstellung digitaler Wissenskulturen im Social Net aufgeworfen werden. Die Annahme einer derart medialisierten Kollektivität erwartet sich somit keinen sozialontologisch motivierten Einblick in die soziale Welt kollektiver Identitätsbildungen als einer eigenständigen sozialen Sphäre. Der Begriff der digitalen Kollektivität verweist also darauf, dass Kollektivität vermittels der Sozialen Medien im Web 2.0 konstituiert wird
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und dadurch überhaupt erst wahrnehmbar gemacht wird. Die technische Konstitution der Ein- und Ausschlussprozeduren digitaler Kollektivität findet sich sowohl grundlegend in den Anwendungsschichten als auch in der Schichtenarchitektur des Internets. Die für die nicht-hierarchische und dezentrale Anwendungsarchitekturen verantwortlichen TCP/IP-Protokolle basieren aber durchaus auf hierarchischen Ordnungsstrukturen, welche die Nutzung eindimensional machen und sich von daher immer auch im Spannungsfeld von flexibler Distribution und hierarchischer Restrukturierung verorten lassen können. Aber auch visuelle Navigationsräume sind nur vordergründig herrschaftsfrei und schaffen eine Struktur der performativen Wirkmächtigkeit und der indirekten Kontrolle, wenn sie Nutzer/innen anrufen und für eine kollektivierende „Interpellation“ (Althusser 1977) sorgen. Welcher Stellenwert hat das „Visual Regime of Navigation“ (Verhoeff 2012) bei der Produktion, Stabilisierung und Verbreitung von kollektiven Praktiken im Netz? Die grafischen Navigationsräume der sozialen Netzwerke bilden Merkmale der Orientierung und der Zugehörigkeit aus, welche die Mitglieder der Communities miteinander teilen. Als gemeinsam geteilte Kommunikationsformen migrieren die Anwendungen in das kollektive Gedächtnis und werden schließlich zum wiedererkennbaren Bilder- und Symbolvorrat, auf welche sich die Mitglieder von virtuellen Gemeinschaften im Kommunikationsalltag beziehen, um sich untereinander auszutauschen. Diese Struktur der doppelten Adressierung, mit der die Subjekte zugleich als Individuen und Unterworfene einer Kollektivität angesprochen werden können, hat Louis Althusser (1977) mit dem Begriff der „Anrufung“ umschrieben. (vgl. Althussers Theorie der „Interpellation“, der den ideologischen Moment des Angerufen-Seins durch eine autoritäre Instanz untersucht, Althusser 1977, 109-153). Für ihn stellt die Anrufung ein zentrales ideologisches Moment dar, das die Subjekte erstens in ihrer „freien Subjektivität“ adressiert und sie als Urheber und Verantwortliche ihrer eigenen Handlungen identifizieren kann. Zweitens müssen sich die Subjekte in ihrem Unterworfen-Sein anrufen lassen: das Subjekt soll im Grunde gar keine andere Wahl haben, wenn es sich als freies Subjekt dem Vernetzungsimperativ unterwirft. Althussers Theorie der ideologischen Adressierung erlaubt es nicht nur, das Interface der Sozialen Medien als technologische Interpellation zu begreifen, sondern Fragen nach den ästhetischen Inszenierungsformen der Anrufung zu stellen, die sich in einem mehr oder
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weniger offenen Feld von Freiheiten zu bewegen haben, um die Techniken des Selbst effektiv und nachhaltig mit den Techniken der Unterwerfung verschalten zu können. Die doppelte Adressierung der Kollektive transformiert die wörtliche Bedeutung des Kollektiven (lat: colligere „zusammensuchen“, „zusammenlesen“) in Rechenoperationen, die für die Kollektive zugleich ihre Ermöglichung und ihre Figuren des Versammelns offerieren. Kollektive im Netz sind in mehrfacher Hinsicht verfügbar und manipulierbar – als Datenkollektive können sie beliebig oft rekombinierbar werden und werden somit zum Gegenstand von Spezialistendiskursen. Datenkollektive haben informationellen Warencharakter und können als Wissensobjekte permanent evaluiert werden. Als Bildobjekte dienen sie der Datenvisualisierung als Materialgrundlage und sind in diskursive Vermittlungsstrategien eingebunden. Digitale Kollektive sind also eingebunden in Bildpraktiken, mit welchen versucht wird, den fluiden Aggregatzustand von Kollektivität im Netz in ein visuell vermittelte Darstellung überzuführen – mit dem Ziel, den anonymen Kollektivpraktiken ein gemeinsames Erscheinungsbild, einen visuellen Bildkörper des Gemeinschaftlichen, zu verleihen. Schließlich zeichnen sich digitale Kollektive dadurch aus, dass sie immer wieder aufs Neue Gegenstand bei der Erstellung neuer Medieninhalte durch die Rekombination bereits bestehender Inhalte (z.B. Mashups) mittels kollektiver Techniken und Praktiken werden können. Die Macht der Vielen kann auf vielfältige Art und Weise dargestellt werden. Sie kann zum Beispiel in Ranking Captures der Abstimmung und Meinungsbildung (Internet Voting), der topografischen Verteilung und statistischen Streuung (Internet Mapping) oder der Zusammensetzung von Fähigkeiten und Eigenschaften (Real User Monitoring) visualisieren – ohne dass den einzelnen Beiträger/innen aber die Möglichkeit eingeräumt wird, die repräsentativen Verfahren ihrer Teilhabe zu gestalten.
P OPULÄRE W ISSENSKULTUREN DER N EO -G EOGRAPHY Die „Neo-Geography“ der kollektiven Mapping- und Monitoring-Praktiken erlebt im Social Net einen großen Aufschwung. An ihrer Ausdifferenzierung kann die kulturelle Transformation von sozialer Kontrolle abgelesen
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werden. Sie bezieht sich auf die neue Allgegenwart von Geodaten, die es den Nutzer/innen in niedrigschwelligen Anwendungen ermöglichen, mit räumlichen und raumbezogenen Informationen ihre Alltagswahrnehmungen in hypermedialen Repräsentations- und Wahrnehmungsräumen anschaulich darzustellen und analytisch zu nutzen. Die digitale Kartografie und die mit ihr verbundenen interaktiven Praktiken des „Geobrowsings“ (Peuquet/Kraak 2002, 80ff) haben kollaborative Kartierungspraktiken und interaktive Kommunikationsräume sozialer Kontrolle und Regulation etabliert (Crampton 2010). Mit Hilfe dieser technischen Infrastruktur konnten Netzkollektive Datensammlungen, -anreicherungen und -visualisierungen in ihren „Map Mashups“ (Crampton 2010) erstellen. Die auf Navigationsplattformen kollaborativ erstellten Geovisualisierungen sorgen dafür, dass die Bedeutungskonstruktionen des Sozialen dynamisch, unabgeschlossen und veränderlich werden und dass permanent ein neues Kartenhandeln in sozialen Ausverhandlungsprozessen entsteht, das nicht mehr so einfach differenziert werden kann. Damit einhergehend etablieren sich Topografien einer multiplizierten sozialen Kontrolle. Sie baut sich in Peer-to-Peer-Netzwerken auf und tradiert Mythologien eines allwissenden und lückenlosen Sehens. Eines dieser Projekte zur Schaffung eines kollektiv kodierten Kontrollraums stellt das Crime Mapping dar, das einschlägige Beobachtungen von Bürger/innen interaktiv sammelt und auf einer Verbrechenskarte zusammenführt. Es handelt sich dabei um ein polizeiliches Crowdsourcing-Projekt, das zunehmend im Polizeialltag angewendet wird und auf die enge Verknüpfung von Kontrolle, Wissen und Macht abzielt: „Waren Stecknadeln in Karten seit langem Hilfsmittel bei polizeilichen Ermittlungen und der Lagevisualisierung, haben die Möglichkeiten der Datenverarbeitung durch Computer das Feld in den letzten Jahrzehnten revolutioniert: Sogenannte Geoinformationssysteme (GIS) ermöglichen das Speichern, Verknüpfen, Analysieren und Visualisieren von beliebigen Datenbeständen, solange diese georeferenzierbar sind, sich die Daten also z.B. über eine Adresse oder einen Verwaltungsbezirk geographisch verorten lassen.“ (Töpfer 2008)
Die rechnergestützte Auswertung und statistische Visualisierung von Kriminalfällen hat eine institutionelle Vorgeschichte, die in den 1960er Jahren ihren ersten Kulminationspunkt erreicht:
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„Bereits 1967 experimentierte das St. Louis Police Department in den USA mit Unterstützung von Forschern der Harvard University, um aufwändig mit Lochkarten und Mainframe-Computern Kriminalitätskarten zu erstellen, die helfen sollten, die Effizienz der Streifenfahrten zu erhöhen. Ihren eigentlichen Durchbruch erlebte das Computer gestützte ,Crime Mapping‘ allerdings erst in den 1990er Jahren, als die Technisierung der Polizei in den USA im Gefolge des ,Violent Crime Control and Law Enforcement Act‘ von 1994 massiv durch die Bundesregierung gefördert wurde.“ (Ebd.)
Im Prozess der kollaborativen Verbrechenskartierung wird heute von den meisten Polizeidirektionen der meisten US-amerikanischen Großstädte CompStat verwendet, um nicht nur polizeilich registrierte Vorfälle auszuwerten und auf Karten zu visualisieren, „sondern es wird proaktives Profiling betrieben, das der Lokalisierung vermeintlicher Risikoareale und ‚atrisk communities‘ dient“ (ebd.). Ein vergleichbares Beispiel ist die Website Bribespot, die Bürger/innen weltweit befähigt, auf Korruption hinzuweisen. Sie können über ihre androidfähigen Handys Bestechungsfälle melden. Im Anschluss werden die Korruptionsmeldungen auf eine Google-Karte lokalisiert, wo sie von anderen Nutzer/innen per Mausklick gelesen werden können. Neue Formen der kollektiven Dateneinsicht und -steuerung des Privaten eröffnet auch das Biomapping, das die Durchdringung leiblicher Messdaten für die öffentliche Biokontrolle aufzeigt. Mit den kollektiven Netztechnologien wird der kontrollierende Blick auf das Individuum multipliziert und einen offenen und unabgeschlossenen Vielheit an möglichen Beobachtern überantwortet. Diese Blickanordnung ist dynamisch, fluide und setzt sich immer wieder aufs Neue zusammen. Die Medienanordnung dieser Blickkonstellation sorgt dafür, dass dieser makroskopische Blick der sich permanent vervielfältigenden Mikro-Blicke Kontrolle in die Selbstwahrnehmung und Alltagspraktiken der Nutzer/innen implementiert. Das kollektive Online-Mapping raumbezogener Daten verändert das traditionelle Bezugsverhältnis von Ort und Raum. In seiner Theorie der „Kunst des Handelns“ definiert de Certeau (1988, 217) den Ort als eine momentane Konstellation von festen Punkten: „Ein Ort ist die Ordnung, nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden. Damit wird also die Möglichkeit ausgeschlossen, dass sich zwei Dinge an derselben Stelle befinden.“ Seinen Raumbegriff entwickelt er in Opposition zum
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Ortsbegriff und beschreibt den Raum als einen Zustand, der weder eine Eindeutigkeit noch die Stabilität von etwas Eigenem gewährleiste: „Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegung erfüllt, die sich in ihm entfalten. Er ist also ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünfte zu funktionieren.“ (Ebd., 218)
Diese von de Certeau getroffene Differenzierung zwischen Ort und Raum beschreibt auf anschauliche Weise den Unterschied zwischen einer gezeichneten oder gedruckten Karte und der digitalen Karte, die elektronisch im Navigationsprogramm errechnet wird. Im Gegensatz zur Karte, die eine starre Konstellation abbildet, liegt die entscheidende Medienspezifik des digitalen Navigierens in der Fähigkeit, den Raum auf neue Weise zu organisieren und zugänglich zu machen. Aus der Beweglichkeit des Raumes können kontinuierlich neue Konstellationen gebildet werden. Die technische Infrastruktur dieser neuen Beweglichkeit beim Navigieren in Datenbanken bildet die Zoom-in-Technologie, die den User/innen ermöglicht, permanent zwischen einer lokalen und globalen Perspektive hin- und her zu wechseln: Sie scheinen selbst zu bedeutungsproduzierenden Agenten zu werden, indem sie sich weltweite Netze erschließen, lokale Kommunikationsstrukturen aufdecken und tiefer in persönliche Profile und Messages eindringen. Interaktive Crime Maps bestehen aus einem intermedialen Geflecht von textuellen, grafischen, diskursiven und metaphorischen Verfahren und überlagern damit unterschiedliche Repräsentationsordnungen. Ihre interaktiven Werkzeuge vermengen zwei Blickweisen, die sich bisher diametral gegenüberstanden: erstens die gottähnliche Totalansicht und zweitens die partizipatorische Tiefenperspektive, die sich mit Hilfe der Zoomin-Technologie das Feld der narrativen Mikrodramaturgien erschließt. Die gottähnliche Totalansicht ist das visuelle Produkt der Repräsentation des Raums wie ihn bereits in früheren Medienkulturen Planer, Gelehrte und Technokraten im Akt des Zerlegens und Zurechtlegens entwerfen. Die partizipatorische Tiefenperspektive hingegen eröffnet sozial dynamische Räume der kollektiven Wissens- und Bedeutungsproduktion. Beide Sichtachsen der kartografischen Repräsentation weisen eine entscheidende Gemeinsamkeit auf: sie bestimmen den Raum der Netzgemeinschaft und den
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simulierten urbanen Repräsentationsraum als transparent und kontrollierbar. Durch ihre permanente Veränderlichkeit verlieren die interaktiven Karten jedoch auch ihre Beständigkeit und verlangen von ihren Benutzer/innen die Bereitschaft einer ununterbrochenen Relektüre. So greifen kollektive Netzpraktiken in eine Vielzahl kultureller Prozesse ein und verändern auf diese Weise die statischen Wissensordnungen und Repräsentationskulturen. Die kollektive Vernetzung endet nicht beim Bereitstellen von Content, sondern schließt bei populären Web 2.0-Diensten auch die inhaltliche Erschließung des angebotenen Wissens mit ein.
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POPULÄRE S CHWARMWISSEN DER F OLKSONOMIES Die freie Verschlagwortung von Inhalten im Internet („Folksonomy“) stellt einer der eindringlichsten Verfahren der anonymen Kollaboration dar (Furnas 2006), die Merholz (2004) als „metadata for the masses“ und Surowiecki als „the wisdom of crowds“ bezeichnet. Surowiecki (ebd., 13) definiert 3 Merkmale zur Stabilisierung einer kollektiven Intelligenz: Diversität, Autonomie und dezentrale Vernetzung. Mit dieser Merkmalsbestimmung bezeichnet er auch eine Multiplizierung einer kollektiven Mediennutzung von digitalen Speichern und Netzwerken, welche die Archive und Sammlungen des Wissens in dynamische Aggregatzustände verwandelt, die sich mit jeder neuen Benutzung verändern und anders anordnen: „Die Ordnung eines Speichers steht nicht mehr fest, wie in einem Lexikon oder einem Papierarchiv, sondern jeder Suchvorgang gibt die Daten vollkommen neu sortiert wieder. Suchfunktionen stellen damit eine ganz andere Form von Vergleichbarkeit her“ (Heidenreich 2004, 132). Eine anonyme und dynamische Kollaboration bei der Erstellung von Inhalten sorgt dafür, dass sich die Anzahl der Einträge kontinuierlich vervielfältigt und die Vergleichbarkeit der verschiedenen Einträge permanent erhöht. Diese kollektive Inhaltserschließung eines Dokumentinhalts nennt Vander Wal (2005) „Broad Folksonomy“ und bezeichnet damit die Praxis vieler verschiedener Nutzer/innen, ein Dokument mit Tags zu versehen. Folgendermaßen wird der Dokumentinhalt aus verschiedenen Gesichtspunkten mit ähnlichen oder andersartigen Schlagworten beschrieben. „Folksonomies“ können folglich als Speicherort kollektiver und kollaborativer Bedeutungsproduktion ange-
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sehen werden. Sie stellen für die Informationswissenschaft die „einzige Möglichkeit dar, Masseninformation im Web zu erschließen und tragen dazu bei, Communities zu identifizieren“ (Stock/Peters 2008, 83). Im Unterschied zu kontrollierten Wortnetzen und paradigmatischen Klassifikationssystemen speichern die Folksonomies die Vielsprachigkeit („merging of languages“, Gordon-Murnane 2006) ihrer Beiträger/innen und werden von der Informationswissenschaft als digitale Ressource eines kollektivsprachlichen Alltagsjargons betrachtet. In diesem Sinne firmieren die kollektiven Praktiken im Netz immer auch als epistemisches Objekt, das der kollektiven Auswertung zur Herstellung wissenschaftlichen Wissens zugänglich gemacht wird. Kollektive Aktivitäten in Online-Netzwerken firmieren auch als epistemische Objekte und werden in der Soziologie vernetzter Medien als messbare Datenaggregate erfasst. Vor dem Hintergrund einer sich veränderten Flexibilisierung von sozialer Regulation und Kontrolle durch die Ausdehnung sozialer Medien auf mobile und ubiquitäre Umgebungen, beispielsweise in Smartphones und Sensornetzwerken, kann die Soziale Netzwerkanalyse als eine Regierungstechnologie des BackendBereichs als auch als eine sich im Individuum festsetzende Selbsttechnologie (erweiterte Personalisierung durch Data Mining), die alltägliche Sensordaten im Bereich des Front-End realisiert, gefasst werden. Die Soziale Netzwerkanalyse visualisiert das komplexe Beziehungsgeflecht der Netzstrukturen in räumlichen Übersichtsdarstellungen und benennt spezifische Charakteristika, nach denen die Netzwerkfähigkeiten von Kollektiven beurteilt und bewertet werden können (vgl. Freeman 2004).2 „Folksonomies“ können aber nicht so einfach digital vermessen werden, denn sie operieren nicht als Klassifikationen, sie arbeiten weder mit Notationen noch mit Relationen. „Folksonomies“, die ohne kontrolliertes
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Mit der Messgröße der Netzwerkdichte definiert sie das Verhältnis der vorhandenen Beziehungen zur Anzahl maximal möglicher Beziehungen. Die Netzwerkdichte ist eine mathematische Formel, mit der kollektive Beziehungen sowohl für das Gesamtnetzwerk als auch für einzelne Teile eines Netzwerkes berechnet werden können. Mit den Begriffen der Abgrenzung und der Ausschließbarkeit weist etwa man die Offenheit respektive die Segregation von computervermittelter Kommunikation nach. Mit den Analysemethoden der Auswertung der sozialen Kontrolle und Bindungsqualität (strong tie/weak tie) beurteilt die Netzwerkanalyse die Vernetzungsqualität von sozialen Beziehungen.
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Vokabular erstellt werden, etwa wenn viele verschiedene Nutzer ein Dokument mit ihren Tags versehen, repräsentieren wilde Datenbestände, die epistemische Unschärfen aufweisen: sie enthalten verschiedene Levels der Indexierung, bestehen aus einer fehlenden Trennung von formalen bzw. bibliographischen Tags, weisen Tippfehler auf, umfassen nutzerspezifische Tags und andere uneindeutige Schlagworte und vieles andere mehr. In diesem Sinne weisen bereits die großen Rohdaten-Bestände Inkonsistenzen und Uneindeutigkeiten, welche die Aussagefähigkeit der Metadaten in der weiteren Auswertung beeinträchtigt. Spätestens hier kann deutlich werden, dass die Auswertung der Datenaggregate von sozialen Netzwerken mit den Mitteln von dynamischem Targeting und Profiling immer auch auf das Konstrukt ihrer Filterung verweist und Kollektive in ihrer sozialen Entität nicht erfassen kann. Aber auch die Annahme von Kollektiven, die den Netzwerken empirisch vorgeschaltet (vorgängig) wären, bleibt bloße Spekulation. Als Produkt der Vernetzungstechnologien haben sie keine feststehende Identität, sondern verorten sich im Raum der statistischen Verteilungen und Relationen als modulare Anordnungen, die von technischen Netzwerken generiert werden. Gleichwohl können sie nicht restlos ausgerechnet werden, weil die Wissensbestände über ihre sozialen Beziehungen notorisch schwankend und improvisierend sind und daher nicht in eindeutigen Planungs- und Steuerungsverfahren aufgehen können. Berücksichtigt man dementsprechend das Netz als selektierende Beobachtungsanordnung, dann überbordet das evaluierbar Kollektive konstitutiv jene medialen Anordnungen, die zu seiner Verfertigung und Kontrolle entworfen worden sind. Dieses Verfehlen des Kollektiven durch die medialen Dispositive darf aber nicht dazu verführen, erneut die metaphysischen Bestände der Massentheorien der Human- und Sozialwissenschaften zu bemühen, um digitale Kollektivphänomene mit Gemeinsinn-Begriffen wie Affekt, Kraft, Wille aufzuladen, um eine den Vernetzungstechnologien vorgelagerte Kollektivität in ihrer empirischen Fülle spekulativ zu setzen. Da sich die digitalen Kollektive als heterogene und instabile Bewegungsströme den Aufzeichnungssystemen der technischen Netzwerke entziehen, eignen sie sich folglich auch nicht zur Aufschreibefläche einer spontaneistischen Demagogie, die ihnen postheroische Eigenschaften zugesteht, um der in die wissenschaftlich-technischen eingebundenen Gruppenanordnung ein vermeintlich wildes Kollektiverleben gegenüberzustellen. Denn sowohl die Vernetzungstechnologien und als auch
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die sozialen Netzwerkanalysen vermitteln uns nicht nur ein Deutungsangebot über die Welt der Kollektive, sondern machen aus dem Beschriften und dem Berechnen der sozialen Welt der digitalen Kollektive immer auch eine Art der Vor-schrift und reproduzieren damit mehr oder weniger normalisierte und standardisierte Wahrnehmungskonventionen kollektiver Sozialtechniken, die das Mediensystem selbst hervorbringt. Die Netzwerke der Sozialen Medien stehen andererseits inmitten kollektiver Beobachtung und Erfahrung. Hier erweist sich, dass die funktionalistische Auffassung von den Sozialen Medien als Versammlungsort der digitalen Masse und als Datensammler statistischer Kollektive viel zu kurz greift. Denn die kollektive Wahrnehmung der sozialen Netzwerke geht über Fragen einfacher und effektiver Bedienbarkeit hinaus und modifiziert die Medienangebote für einen mikrobenhaften Kollektivgebrauch, der die Lücken der medialen Dispositive reflektiert und oft zum Ausgangspunkt andersartiger Medienpraktiken nimmt. Die konstitutive Rolle der Sozialen Medien bei der heterogenen und kontingenten Hervorbringung der Kollektive darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kollektivität immer auch in zweifacher Weise in Ordnungen des Wissens und der Repräsentation verflochten ist. Kollektivität im Social Web zählt heute zum wegweisenden Forschungsgegenstand zahlreicher Diskurse des wissenschaftlichen Wissens. Die Wirtschafts- und Sozialpsychologie, die Organisations- und Managementtheorie, sowie die Kommunikations- und die Wirtschaftswissenschaften erforschen mittels evaluativer sowie adressierender Verfahren wie der Click Popularity, der Crowdmaps“ oder des Crowd Sensing kollektive Interaktivität in sozialen Online-Netzen. In allen diesen Verfahren geht es darum, die Macht der Vielen spezifischen Verfahren der Identifizierung zu unterwerfen. Die Click Popularity entspricht einem Ranking-System zur Bestimmung der Ergebnisrangfolge und wertet das kollektive Klick-Verhalten von suchenden Nutzer/innen aus. Vor diesem Hintergrund können zwei Modelle der Instrumentalisierung von Kollektivität unterschieden werden. Im spezifischen Falle des User Generated Content wird „das langfristige Engagement, die Identifizierung der Mitglieder mit der gemeinsamen Zielsetzung, die sich verstärkenden Beziehungen zwischen den Mitgliedern“ (Minichbauer 2012) hervorgehoben. Geht es hingegen um den Fokus der Prozesse von Wissens- und Informationsaggregation mittels der kollektiven Intelligenz, dann wird ein „als gegenteilig deklariertes Modell“ bevorzugt, näm-
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lich „die Absolutsetzung nur eines der Aspekte von Kollektivität, der Diversität“ (ebd.). Kollektivität ist daher erstens immer auch als ein Wissensobjekt zur Herstellung einer instrumentellen Datenanalyse zu verstehen. Zweitens firmiert Kollektivität als ein Bildobjekt, wenn es darum geht, aus den technisch verarbeiteten Informationen und Daten der Kollektive einen popularisierende Wissenskulisse herzustellen, die kollektive Wissensprozesse grafisch sichtbar und auf eine bestimmte Art und Weise selektiv und visuell vereinfacht. In diesem Sinne werden technologisch ermöglichte Prozesse der kollektiven und kollaborativen Wissensgenerierung mit traditionellen Bildkulturen überschrieben, um in vereinfachten Bildern ihre Komplexität reduzieren zu können. Der Visualisierung wird in diesem Zusammenhang oft die Aufgabe zugeschrieben, das kollektive Gedächtnis der Wissensprozesse im Internet zu sichern (vgl. Peters/Stock 2008, 77-90) Damit kommt der visuellen Semantisierung von anonymen, dezentralen und mikrobenhaften Wissensprozessen die Aufgabe einer popularisierenden und sinnstiftenden Übersetzungsleistung zu. Eingerahmt in Diskurse und durch Bilder, Figuren und Erzählungen strukturiert, werden die von Nutzern generierten Wissensprozesse mit allgemein verbindlichen und sinnstiftenden Wissenskulissen verknüpft, deren bildstrategische Implikationen es aber erst freizulegen gilt.
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Hyperreal Virtuality Filmische Ästhetiken in Propagandavideos des Islamischen Staates M ARCUS S TIGLEGGER „So ist dem Hass kein Tod beschieden: Virulent und vital wie das Leben selbst, begleitet er das Leben und gehört zu ihm wie der Schweif zum Kometen.“ JERZY KOSINSKI, „DER BEMALTE VOGEL“ (1965)
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Anfang Februar 2015 veröffentlichte die Terrormiliz des Islamischen Staates im Internet ein Video, das die Lebendverbrennung des gefangenen jordanischen Kampfpiloten Maas al-Kassasbeh zeigt.1 Wie die anderen ISOpfer zuvor, trägt auch er eine symbolträchtige Kleidung: den ikonischen orangenen Overall, wie er von den Gefangenen der Gefängnisse von Abu
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Die Recherchen zu diesem Beitrag entstammen meinem Beitrag zu der ZDFZOOM-Reportage „Bereit zu sterben für Allah“ (14.01.2015). Mein Dank geht an die Redakteure Rainer Fromm und Michael Strompen.
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Ghraib und Guantánamo Bay bekannt ist.2 Zunächst läuft er wie betäubt durch das Militärlager, in dem schwarz maskierte IS-Kämpfer Aufstellung genommen haben. Man sieht in einer Montage Opfer von Bombardierungen aus Syrien, die offenbar als Rechtfertigung für die folgende Hinrichtung dienen sollen. Dann wird ein schmaler Stahlkäfig herantransportiert. Auf der Tonspur wird in unermüdlicher Folge ein melodiöser, sakraler Gesang skandiert. In der finalen Sequenz des Videos befindet sich der Gefangene in diesem Käfig ohne Tür. Wir sehen, dass er mit Benzin oder anderem Brandbeschleuniger getränkt ist, der als Spur vom Käfig weg führt. Spätestens an dieser Stelle wird die Inszenierung für einen reflektierten Betrachter zusätzlich irritierend, denn nun bemüht sich die Inszenierung um eine Spannungsinszenierung gemäß den Konventionen des narrativen Spielfilms: Ein maskierter Mann mit einer brennenden Fackel nähert sich – der Henker. Auf der Tonspur hören wir Herzschläge. Die Musik ist verstummt. In Zeitlupe nähert sich der Henker der Benzinspur vor dem Käfig und setzt diese in Brand. In quälender Langsamkeit breiten sich die Flammen über den Boden aus und entfachen schließlich den Körper des Gefangenen im Käfig, dem Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben ist. Sehr schnell hüllt ein Feuerball den zuckenden Mann ein, wozu wir wieder den bekannten Gesang hören. Während der Minuten, in denen der Körper verbrennt, das Fleisch förmlich schmilzt und verkohlt, werden arabische Schrifttafeln eingeblendet. Nach der Verbrennung wird der Käfig von einem Bauvehikel überrollt. Abb. 1: Verbrennung von Maas al-Kassasbeh
Quelle: www.liveleak.com, Screenshot durch Autor.
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Dieses Kostüm kann als Antwort auf die von den amerikanischen Truppen etablierte Ikonographie gelten.
H YPERREAL V IRTUALITY
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Was an diesem Video so schockiert, ist nicht nur die minutiöse Drastik, mit der ein qualvolles Sterben betrachtet wird, sondern die schamlos ausgestellte Inszenierung dieses Geschehens, das sich eines realen Todes bedient, um ein Höchstmaß an Spannung und Aufregung im Publikum zu evozieren – und damit zugleich eine deutlich formulierte Botschaft zu propagieren. Das Verbrennungsvideo des IS ist Propagandafilm, Musikvideo, Werbeclip und Snuff-Film in einem. Wie eine zynische Gegennarrative zum konventionellen Hollywoodkino benutzt es dessen seduktive Mechanismen (Verlangsamung, Melodramatisierung, Retardierung, Exzess, Spektakel), um sein ideologisch geneigtes Publikum zu vereinnahmen, und das feindliche Publikum in ein Höchstmaß an Schrecken zu versetzen (vgl. Armborst 2013).3 Hierbei ist sowohl die Identifikation mit den Tätern als auch dem Opfer möglich und gewünscht – eine Mehrfachcodierung, die im fiktionalen Kino ein Ambivalenzerlebnis garantiert, hier aber als kalter Zynismus entlarvbar wird.4 Abb. 2: James Foley Exekution
Quelle: www.liveleak.com, Screenshot durch Autor.
3
Vgl. Link 1.
4
Zu den Mechanismen des Terrorkinos vgl. Stiglegger (2010).
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Der Appell an filmische Mechanismen des Hollywoodkinos war bereits von dem Exekutionsvideo mit dem Journalisten James Foley bekannt, der ebenfalls im orangefarbenen Anzug in einem windstillen Wüstenabschnitt kniend an die amerikanische Regierung appellieren muss. Er hält diese Pose konsequent ein, während hinter ihm der schwarz vermummte ISKämpfer „Jihadi John“5 steht, der danach die Rede übernimmt und den folgenden Exekutionsakt begründet. Sein Londoner Akzent erinnert bereits bei diesem Video an die von Sascha Baron Cohen entwickelte Figur Ali G. Obwohl weltweit vor allem die beiden Ansprachen von Opfer und Täter in den Medien gezeigt wurden, ist das Originalvideo erheblich länger: Wir sehen Nachrichtenbilder, von Politikern und Kriegshandlungen, montiert auf eine aus aktuellen Hollywoodfilmen bekannte Weise: mit Flashcuts, kurzen Weißblenden, mit Toneffekten untermalten Schnitten, Überblendungen und anderen Stilmitteln, die man etwa in Filmen von Tony Scott findet (z.B. Domino, 2005). Diese deutlich ausgestellte Inszeniertheit führte in der umfassenden Diskussion des Videos bald zu dem Verdacht, die gesamte Exekution könnte hier simuliert sein. Die Zeitung The Times versuchte u.a. einen Nachweis der Simulation6, indem sie vor allem den Moment analysierte, in der „Jihadi John“ das Messer an Foleys Hals ansetzt. Es gibt dabei eine weitere Auffälligkeit gegenüber bekannten früheren Enthauptungsvideos islamistischer Organisationen. So wird nur der erste Schnitt gezeigt, bei dem kein Blut zu sehen ist. Nach einer Abblende sieht man den ausblutenden Leichnam auf der Erde liegen, der abgeschnittene Kopf ist auf dem Körper platziert. Ungeachtet aller Überlegungen, ob und warum dieses Szenario gefälscht sein könnte, ist vor allem auffällig, dass dieses Video eine neue Ära der islamistischen Propaganda einläutete. Waren in früheren Videos solche Exekutionen meist in allen drastischen Details zu sehen – ungeschnitten und in eher mittelmäßiger Bildqualität –, ist hier der Fokus deutlich verlagert. Statt skandierenden Jihadisten mit Schusswaffen im Hintergrund ist hier eine öde Wüstenlandschaft zu sehen. Statt die Todesqualen des Opfers ins Zentrum zu stellen, geht es eher um die verbalen Aussagen und die filmische HD-Optik. Es ist also zu vermuten, dass dabei nicht Terror durch viszerale Grausamkeit angestrebt wird – das gilt erst wieder für das Verbrennungsvideo –, sondern andere Emotio-
5
Zur Diskussion um diese Person vgl. Link 2.
6
Vgl. Link 3.
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nen aktiviert werden sollen. Im Fall von James Foley geht es offensichtlich darum, diese Drastik eher zu vermeiden und einen symbolischen Bedeutungsraum an diese Stelle zu setzen. Ein drittes Beispiel ist hier noch von Interesse: Die Enthauptung von einundzwanzig koptischen Christen an einem Meeresstrand. Die Filmregisseurin Mary Lambert7 verweist auf zahlreiche Ungereimtheiten in diesem Video: So sehen wir zu Beginn, wie riesenhafte Jihadisten fast zwerghaft kleine Opfer mit sich führen. Gegen Ende scheint sich das halbe Meer rot gefärbt zu haben – alles Effekte, die offensichtlich digital verstärkt oder gar komplett konstruiert wurden. Abb. 3: 21 koptische Christen in den Händen von Giganten
Quelle: www.liveleak.com, Screenshot durch Autor.
Abb. 4: Gigantismus in 300
Quelle: Spielfilm, USA 2007, Regie: Zack Snyder, Produktion/Vetrieb: Warner Bros., Min. 56, Screenshot durch Autor.
7
Vgl. Link 4.
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Die Riesenhaftigkeit der IS-Kämpfer8 erinnert an den surrealen Gigantismus des persischen Feldherrn Xerxes in Zack Snyders Fantasyfilm 300 (2006), der dessen göttliche Herkunft demonstrieren soll. Das IS-Video signifiziert hier die heilige Mission im Namen Allahs und kann als Gegennarrativ zu dem amerikanischen Film verstanden werden, dem vor allem im Nahostbereich vorgeworfen wurde, antiiranische Propaganda zu pflegen, während die Spartaner für den westlichen Widerstand gegen die fremden Invasoren stünden.9 Der folgende Text knüpft an die Zeitungsartikel an, die unmittelbar nach Veröffentlichung der IS-Videos den direkten Vergleich zur Hollywood-Ästhetik zogen10 und fragt zugleich, was diese Videos direkt oder indirekt vermitteln. Er wird also mit den Methoden der Seduktionstheorie der Frage nachgehen, ob und wozu diese Videos verführen wollen, und ob sie sich letztlich – so zynisch es anmuten mag – im Kontext medialer Kunst verorten lassen.
T ERRORNARRATIV , P ROPAGANDA
UND
S EDUKTION
Spätestens als die ersten medialen Bilder vom Terroranschlag auf das World Trade Center am 11.09.2001 weltweit übertragen wurden, begann sich nicht nur umgehend eine ikonische Dimension dieser eindringlichen Bilder abzuzeichnen, sondern zugleich ein Narrativ abzubilden, das von einer grundlegenden Änderung der weltweiten Ordnung zu künden schien. Dabei war ein solches Narrativ von den Drahtziehern des Anschlags ebenso geplant wie das Ziel in seiner ikonischen Dimension – als Wahrzeichen New Yorks – bewusst gewählt war. Es ging also darum, mit mindestens zwei Selbstmordattentaten in Flugzeugen ein mediales Narrativ zu begründen, das bis heute die unterschiedlichsten Interessen bedient: vom westlichen Verschwörungstheoretiker bis zum muslimischen Fanatiker. Dabei erschien der hier erzählte Plot irritierend vertraut: Er knüpfte an Phantasien
8
Vgl. Link 5.
9
Vgl. Link 6: Foerster (o.J.): „300 ist offen faschistoid, gewaltverherrlichend und rassistisch.“ Das Symbol der Spartaner tauchte später tatsächlich als Symbol der europaweiten identitären Bewegung wieder auf.
10 Vgl. Link 7.
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an, die vielfach medial vorgedacht worden waren – u.a. innerhalb des populären Hollywoodkinos der Dekade zuvor. Auch dieser Umstand ist nicht erstaunlich, denn jedes neue Narrativ muss an ein vertrautes Denksystem anknüpfen, und so war nicht zuletzt die frappierende Logik von Ziel und Durchführung dieses Anschlags umso erschreckender. Im Diskurs nach 9/11 war vor allem diese Betonung der inneren Logik nicht erwünscht, auch wenn solch prominente Repliken von Jean Baudrillard (vgl. u.a. 2003) oder Karlheinz Stockhausen (2002, 69-77) stammten. Einer jener Autoren, die 9/11 als (Terror-)Narrativ (vgl. Hennigfeld 2014) diskutierten, war der Amerikaner Don DeLillo (2001). Er beschreibt den Anschlag als ein Narrativ, das sich gegen den „high gloss of modernity“ gerichtet habe. Darauf gelte es nach DeLillo (ebd., 34) nun, mit einem „counter narrative“ zu reagieren. Diese Wortwahl erscheint etwas irritierend, denn eigentlich müsste hier zwischen „master narrative“ und „counter narrative“ unterschieden werden, ein Dualismus, der der postcolonial theory entstammt und die These vertritt, die westlichen Kolonialmächte hätten ein Primat auf kulturelle Definition und Identität etabliert, das erst in der postkolonialen Ära von den einst unterdrückten Kulturen in einem identitären Gegenmodell konfrontiert würde. In dieser Logik ist also DeLillos Modell eindeutig verkehrt gedacht, denn die Attentäter aus New York haben zweifellos ihren infernalischen Gewaltakt – ob bewusst oder latent – als ein identitäres Gegennarrativ zur Dominanz einer als feindlich empfundenen westlichen Erzählung begriffen. Aus filmwissenschaftlicher Sicht ist dieser Umstand von größtem Interesse, denn nicht nur die direkten Augenzeugen des Anschlags beschrieben ihn als „like a movie“ (Aslan 2010, XI-XIII). Tatsächlich lassen sich zahlreiche direkte visuelle und kontextuelle Bezüge zu Hollywoodfilmen nach 1990 finden, die buchstäblich in der Befürchtung einer terroristischen „counter narrative“ an der Affirmation der „master narrative“ arbeiteten. Und in dieser medialen Affirmation spielte vor allem die Sicherung der Macht durch den ungehindert kontrollierenden Blick eine bedeutende Rolle. Mit einer bislang ungekannten Intensivierung geheimdienstlicher Überwachungs- und Kontrollmechanismen machte sich das System auf die Suche nach potenziellen Autoren eines bedrohlichen „counter narrative“. Der Historiker Patrick Kilian weist in seiner Untersuchung „Die üblichen Verdächtigen“ (Kilian 2014, 53-72) treffend darauf hin, dass im Zuge dieser Sicherheitspolitik umgehend auch tatsächlich Autoren in den Fokus der
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Ermittler gerieten. So wurde der Schriftsteller und Journalist William T. Vollmann 2001 vom FBI als potenzieller Urheber der Anthrax-infizierten Briefe gehandelt (vgl. Vollmann 2013, 45), dass er aufgrund seines postkolonial-kritischen Romans Fathers and Crows zu den gefährlichen „counter narrators“ gezählt wurde: Sein Roman wurde als „ein Anschlag auf die amerikanische Ordnung wahrgenommen“ (Kilian 2014, 57). Bereits die künstlerische Reflexion eines „counter narrative“ wurde einem terroristischen Akt vergleichbar gewertet. Spätestens mit dem 11. September 2001 war also jeder Bürger potenziell gefährlich für das System. Die Bemühungen um absolute Kontrolle des medialen Blicks hatten ihre Wurzel jedoch früher. In der medienkompetenten Inszenierung von wirkungsvoller ideologischer Propaganda ist es also wichtig, ikonische Bilder zu kreieren, die sich als identitäres Narrativ begreifen lassen und somit im Idealfall als ein Gegennarrativ zu bereits etablierten und bekannten Narrativen verstanden werden können. In diesem Prozess liegt ein Höchstmaß an Identifikationspotential. Dazu kommt der intensive Einsatz von Stilmitteln, die vor allem aus kommerziellen Spielfilmen bekannt sind: auf den Ebenen von Kameraführung, Bildgestaltung, Montage und Tondesign. Mit Boris Groys gesprochen, müssen solche Manipulationen offen gelegt und auch die Bilder des Terrors einer Form von Kunstkritik unterzogen werden11, denn ungeachtet der mit der Herstellung der Videos verbundenen, menschenverachtenden Verbrechen ist der ästhetische Gestaltungswille dem konventionellen Filmemachen zumindest sehr ähnlich und bezieht sich auf ähnliche Mechanismen: die seduktiven Strategien filmischer Inszenierung.
P ROPAGANDAFILM
ALS
S EDUKTION
Der aus den philosophischen Schriften von Jean Baudrillard abgeleitete Begriff der Seduktion (franz. séduction), wie ich ihn für die Seduktionstheorie definiert habe (vgl. Stiglegger 2006), bezeichnet Verführung in einem grundsätzlichen Sinne als Manipulation oder Suggestion, die in diesem Falle der Filmzuschauer erfährt. Entwickelt hat Baudrillard sein Modell der séduction u.a. in L’Èchange symbolique et la mort (1976) und De la séduc-
11 Vgl. Groys zit.n. Baden: Link 1.
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tion (1979), wo er mediale Kommunikationsprozesse als ein seduktives (verführerisches) Spiel beschreibt: „Der gut gemachte Spielfilm will wie eine psychotische Halluzination eine Vision erzeugen, in der innen und außen sich vermischen. Er will in den Zuschauer eintauchen, so wie dieser in ihn eintauchen soll“ (Jacke 2013, 131). Für das Medium Film lässt sich die Seduktion auf drei Stufen nachweisen (vgl. Stiglegger 2012, 87-89): In einem ersten Schritt verführt der Film zu sich selbst, um letztlich das Interesse des potentiellen Zuschauers zu wecken. Auf dieser Ebene, die auch den Trailer, die Promotion und Aspekte wie Besetzung, Budget und Genre umfasst, wird die Erwartung und das Begehren des Zuschauers stimuliert. Auf der zweiten Ebene der Seduktion kann der Film eine spezifische Aussage propagieren. Das gilt sowohl für den explizit ideologischen Propagandafilm als auch für Filme mit leicht durchschaubaren polaren Erzählmustern, die sich in eindeutigen Zuweisungsstrukturen erschöpfen. Zahlreiche kommerzielle Hollywoodproduktionen arbeiten mit der Favorisierung einer spezifischen Aussage, die dem Zuschauer nahe gelegt wird und avisieren eine Verführung auf der zweiten Ebene. Die erst durch eine seduktionstheoretisch fundierte Analyse eruierbare dritte Ebene der Seduktion verdeutlicht, wie der Film zu einem zunächst verdeckten Ziel verführt, das auf der Metaebene verborgen liegt. Hier werden subtile Aspekte wie spezifische Begehrensstrukturen deutlich, die Schlüsse auf ideologische Subtexte des Werkes zulassen. Während die beiden ersten Ebenen der Seduktion recht leicht erkennbar sind, stellt die dritte Ebene die tatsächliche Herausforderung an den Zuschauer dar, denn das Ziel der Seduktion – wie der Verführung allgemein – ist es, diesen gegen seine vermeintlich gefestigte Position vom vertrauen Weg abzubringen. Die filmischen Mittel und Ebenen der Seduktion im Film liegen dabei erstens auf der Ebene der Performanz: Bewegung, Körper, Sinnlichkeit, also Sexualität, Kampf, Choreographie. Zweitens sind sie im Bereich der Narration zu finden, als epische Erzählung oder verdeckte Mythologie. Und drittens liegen sie auf der ethischen Ebene, etwa indem der Zuschauer einem Ambivalenz-Erlebnis ausgesetzt wird: Die Hausforderung, das ‚Undenkbare‘ zu denken. Mittel dieser seduktionstheoretischen Feinanalyse ist die dichte Beschreibung des filmischen Zeichensystems, die durch hermeneutische Neubetrachtung jeweils verfeinert wird. Ziel ist es,
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die seduktiven Strukturen, die in der Inszenierung angelegt und verdeckt wurden, offen zu legen. Der Vorzug der Seduktionstheorie ist es, eine nicht-normative Betrachtung unterschiedlichster Filme zu begünstigen, den Erkenntnisgewinn zu maximieren und so an einer Überwindung des etablierten Kanon-Denkens zu arbeiten. Nationale Herkunft des Werkes, Entstehungsepoche oder generische Eigenarten stellen nur noch beachtenswerte Nebenaspekte dar, während die Analyse dem spezifischen Werk gewidmet ist und sich an dessen selbst gesetzten Intentionen orientiert. So ist mit dem dreistufigen Seduktionsmodell auch ein Gewinn für die Analyse marginalisierter generischer Filme (Genretheorie, porn studies, cinematic body theory) oder gar nur filmähnlicher medialer Formen (etwa das Propagandavideo) verknüpft. Allerdings lassen sich auch aus der Seduktionstheorie keine allgemeingültigen Schlüsse im Sinne einer Rezeptionstheorie ziehen, wohl aber bezüglich der Erforschung von schwer oder nicht intellektualisierbaren filmischen Phänomenen: im Bereich extremer Affekte wie Lust, Ekel, Angst und Grauen oder mythischen Atavismen im menschlichen Denken. Wie aber lassen sich die IS-Terrorvideos in diesem Kontext begreifen?
H INRICHTUNGSVIDEOS DER V ERFÜHRUNG ?
ALS
M EDIEN
„Die IS-Enthauptungsvideos sind echte Snuff-Videos, nach der alten Definition: nicht einfach mit einer Kamera festgehaltene Morde oder Hinrichtungen, sondern verfilmte Kurzdrehbücher“, schreibt der Journalist Clemens Setz. „Der Islamische Staat degradiert das Opfer kurz vor seinem Tod zum Schauspieler, es hat einen vorbereiteten Text aufzusagen und eine Rolle zu spielen. [...] Die Opfer wirken außerdem bemerkenswert ruhig und gefasst – und selbst wenn dies dem außergewöhnlichen Mut und Stoizismus dieser Männer zuzuschreiben ist, ist es doch zugleich genau das Bild, das der IS zeigen möchte. Kein Aufbegehren, kein letzter Kampf, kein Gerangel, sondern ein besiegter, sich dem Schicksal ergebender Feind. Ein in einen monolithischen Propagandablock verwandelter Mensch.“12
12 Vgl. Link 8.
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Dabei seien diese Bilder „für alle“ gedacht, nicht nur für einige „GoreFreaks, die nachts auf einschlägigen Websites herumhängen.“ Die Tatsache, dass die Tat selbst vor allem eine Ellipse bilde, knüpfe an „eine uralte Erzähltechnik an, die vor allem der Verstärkung mentaler Bilder dient.“ Ähnliche Einschätzungen kommen aus den USA: „ISIS know their audience [...] They are targeting those who see in violence a form of catharsis and a way to strike back at the enemy “, sagt der Terrorismusexperte Bruce Hoffman.13 Die gezeigte und implizierte Gewalt muss also als Teil des seduktiven Prozesses gewertet werden – die Filme funktionieren nicht trotz, sondern auch wegen dieser realen Gewalt und des realen Todes von Menschen, die als Feind klassifiziert wurden. Sie sind somit eine fundamentale ethische Herausforderung für den ideologisch nicht affirmativen Betrachter.14 Man kann davon ausgehen, dass es die noch immer kursierenden Propagandavideos mit drastischer Gewalt gibt, die ein bereits überzeugtes Publikum bestätigen und befriedigen sollen und vor allem den Feinden als Abschreckung dienen. Und dann gibt es die an ein großes Publikum gerichteten Videos, zu denen auch die eingangs beschriebenen Beispiele gehören, die weniger die Drastik der Gewalt als den ideologischen Kontext ins Zentrum stellen und dabei erheblich weiter gehen in der Inszenierung des Geschehens. Hier sieht Clemens Setz den Bezug zum kommerziellen gewaltpornographischen Snuff-Film, dessen Existenz jedoch umstritten bleibt (vgl. Stiglegger 2007). Reduziert man die Definition von Snuff-Film jedoch auf die mediale Inszenierung mittels realer Gewalt, dann sind die IS-Videos durchaus in diesem Kontext zu betrachten. Würde man die drei Stufen der Seduktion durchdenken, so fragt man sich zunächst, wie verführen diese Filme den Zuschauer dazu, sie überhaupt sehen zu wollen. Hier erscheint wichtig, dass sie in einem konkreten politischen und ideologischen Kontext stehen und die Authentizität des Geschehens erfolgreich beglaubigen können. Die IS-Videos versprechen die Sensation des realen Todes, gepaart mit einem spektakulären Setting – einen ultimativen Tabubruch nach den Menschenrechten und den gesellschaftlichen Regeln der westlichen Industrienationen. Sie sind somit eine inhumane Form des medialen Protests. Zudem appellieren sie an die Sensationslust
13 Vgl. Link 7. 14 Vgl. Link 9.
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und Neugier des ideologisch indifferenten oder gar kritischen Internetnutzers. Sie bieten den Tabubruch des medial reproduzierten, realen Gewaltaktes. Vor allem das Verbrennungsvideo geht hier über jede Grenze, was Deutlichkeit und vor allem Dauer der Darstellung des Todes betrifft. Auf der ersten Stufe der Seduktion appellieren diese Videos also an die Neugier auf den in der westlichen Gesellschaft geächteten systemischen Gewaltakt und die Vorführung des realen Todes. Was noch ein Film wie Faces of Death/Gesichter des Todes (1978) von Conan le Cilaire weitgehend nachinszenierte und als echt verkaufte, wird nun in Internetclips jedem Interessierten weltweit zugänglich gemacht. Entsprechend hoch sind vermutlich die Downloadzahlen.15 Auf der zweiten Ebene geht es um die klar identifizierbare Botschaft – wie in einem Werbespot. Nun sind die IS-Clips ideologische Werbespots, die auf drastischste Weise Werbung für die islamistische Weltsicht machen, in der Andersgläubige automatisch als Todfeinde vogelfrei sind. Jeder einzelne Clip ist deutlich bemüht, rational nachvollziehbare Gründe für dieses Feindbild zu liefern: In kontrastiven Montagen, in denen wir die vorangehenden Kriegsakte gegen den IS zu sehen bekommen. Auch Aussagen von US-Politikern werden hier als ideologisches Feindmaterial präsentiert. Zugleich sind diese Clips ideologisch als Warnung an die Gegner dieser Aussage gerichtet: Sie liefern einen Eindruck, was den ideologischen Feinden droht: die Enthauptung, die Lebendverbrennung. Auf einer zweiten Ebene funktionieren diese Terrorclips also als Werbefilme für das System des „Islamischen Staates“ und gegen die kritische oder feindliche Position. Sie sind eine Machtdemonstration für die Anhänger und ein audiovisueller Terrorakt gegen die Feinde. In diesem Kontext ist auch die „counter narrative“ verankert, in der sich diese Filme als Antwort auf die Botschaften des stilistisch ähnlichen Hollywoodkinos richten. Wirklich verstörend ist in diesem Fall die Überlegung, was die Ebene der verdeckten Verführung hier bieten könnte. Die dritte Ebene der Seduktion ist die Verführung zu etwas anderem, das zunächst nicht erkennbar ist.
15 Laut Rainer Fromm gehört der IS-Propagandafilm Klirrende Schwerter (2014) zu den häufigsten Filmdownloads weltweit. Auch dieser Film enthält die Darstellung zahlreicher realer Exekutionen, zugleich aber auch Glorifizierungen von Kämpfenden in Zeitlupenszenen sowie verharmlosende Alltagsszenen aus dem Islamischen Staat mit lachenden Kindern.
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Dieses Andere liegt u.a. in der Ästhetik der Clips verborgen. So inszenieren sie die IS-Henker als übermenschliche und im Grunde durch ihre Maskierung entindividualisierte Heroen, die ohne Skrupel und Zögern töten und foltern können, da sie im Sinne ihrer Ideologie auf der richtigen Seite stehen, und im Namen Gottes handeln. Sie sind so im Symbolsystem dieser Clips das heilige Richtschwert der göttlichen Exekutive, ihr Agieren ist direkt mit einem göttlichen Willen verknüpft. Ritualisierte Inszenierung, Radikalität der Handlung sowie pathetische Überhöhung der Gewalt (v.a. in dem Verbrennungsvideo) sollen also Freund und Feind eine Ahnung von der sakralen Urgewalt des IS vermitteln. Hier handelt es sich also um einen direkten Appell an eine mythische Urerzählung, die eine identitäre Funktion für den IS besitzt. Zudem ist der buchstäbliche Gigantismus im dritten Beispiel ein ähnlich plakatives Bild für diese sakrale Funktion und göttliche Herkunft wie man es aus dem bereits zitierten Spielfilm 300 kennt. Indirekt sollen diese Inszenierungen also dieselben Gefühle einer Sehnsucht nach Überlegenheit triggern, wie es bereits Zack Snyder vorgeführt hat – nur dass es sich dort um den erklärten Feind (Xerxes) handelte. Aber das entspricht wiederum der „counter narrative“, die vom IS beabsichtigt scheint. Die Schauplätze der Clips 2 und 3 – Wüste und Meeresstrand – sind ebenso universal wie mythisch aufgeladen. Sowohl die Wüste als auch das Meer – die Wasserwüste – sind in den religiösen Schriften hochgradig aufgeladene Transitorte. Und als Durchgangsorte sind sie die Schauplätze von Passageriten. Es erscheint also keinesfalls willkürlich, dass in den aktuellen Clips solche pittoresken Schauplätze gewählt wurden.16 An die Anhänger richten die Clips also indirekt die Aufforderung, selbst Teil des Mythos zu werden – und somit selbst Anteil am Reich des Sakralen zu haben – dem „Gottesstaat“ (vgl. Wiktorowicz 2004, 159-177). In ihren völlig immoralischen17, inhumanen Gewaltakten repräsentieren die Henker des IS zugleich auch eine radikale Loslösung von den Werten der Moderne und der Aufklärung – inklusive einer Absage an die Menschenrechte. Obwohl sie sich den eigenen Aussagen nach als Exekutive einer höheren Mission sehen, ähneln sie so den dunklen Souveränen aus westlichen Medienerzählungen: Sie erinnern an protofaschistische Herrscherfiguren wie Darth Vader, an mysteriöse Serienmörder und andere
16 Vgl. zum mythischen Ort Stiglegger (2015, 87-100). 17 Immoralisch: bar oder jenseits jeder Moral.
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Willkürtäter, die ihre eigenen Gesetze gegen eine Welt der Regeln und der sublimierten Triebe stellen. Das Geschehen der Clips könnte also als eine symbolische Enthemmung und Verwilderungsphantasie missverstanden werden – ein verdeckter Appell an jene Zuschauer, die sich selbst als machtlos erleben und von dieser Entfesselung im tyrannischen Gewaltakt träumen, um sich selbst zu erhöhen. Ähnlich wie die de Sade’schen Tyrannen in Pier Paolo Pasolinis Verfilmung Salò / Die 120 Tage von Sodom (1975) immer wieder betonen, in dieser willkürlichen Machtausübung seien sie „die wahren Anarchisten“ – eine fatale Fehlinterpretation der Selbsterhöhung. Doch grundsätzlich ist die skrupellose Gewaltausübung Teil des avisierten Faszinosums. Das gilt auch für weitere Propagandavideos des IS wie etwa den höchst erfolgreichen Imagefilm Klirrende Schwerter (2014), in dem mit dem iPhone mitgefilmte Shootouts aus Sicht der Schützen ganz gezielt die Sehgewohnheiten eines Egoshooter-Publikums ansprechen. Allerdings sind Blut und Leichen hier real. Nimmt man also Boris Groys’ These aus „Unter Verdacht“ (2000) ernst, dass man auch ideologische Terrorclips als Kunstwerke analysieren kann, wird frappierend deutlich, wie zielgerichtet seduktiv diese Inszenierungen vorgehen. Und statt vor allem Schock und Abscheu zu provozieren, ist im Gegenteil zu befürchten, dass diese Clips ihr Ziel erreichen und zum Faszinosum für ein sympathisierendes oder unsicheres Publikum werden, das ihren Strategien kritiklos ausgeliefert ist.18 Auffällig ist dabei, dass in den zitierten Videos keine religiösen Zusammenhänge in verständlicher Weise vermittelt werden. Solche Elemente sind in Schrifteinblendungen oder ritueller Musik präsent, werden jedoch nicht übersetzt oder in einem nachvollziehbaren Zusammenhang eingebettet. Die seduktionsanalytische Betrachtung hat vielmehr gezeigt, dass die Propagandisten sich hervorragend in den Ausdrucksformen der westlichen Medien auskennen und sich vor allem aus solch medial etablierten und für ein junges Publikum leicht nachvollziehbaren Elementen bedienen. So appellieren sie an mediale Kompetenz und zitieren aus Hollywoodfilmen, Computerspielen, Musikvideos und Trailern. Was sie damit vermitteln, ist eher ein Zerrbild westlicher Medieninhalte, die buchstäblich gewaltsam auf die ideologischen Botschaften zurechtgebogen werden. Die internationale Resonanz bei einem jungen, leicht manipulierbaren Publikum gibt den Propagandisten in gewissem Sinne recht, denn alleine mit der Re-
18 Hier zeigt sich, wie wichtig bereits schulisch vermittelte Medienkompetenz ist.
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zitation ihrer Glaubensinhalte und brachialen Gewaltakten – wie das in früheren Terrorvideos der Fall war – würden sie ein solches Klientel kaum begeistern oder faszinieren.
F AZIT Mit den hochqualitativ inszenierten Propagandavideos hat der IS eine effektive Seduktionsmaschinerie in Gang gesetzt, die nachweislich nicht nur den erwünschten Schrecken erzeugt, sondern auch weitere Fanatiker mobilisiert, sich dem Kampf für eine Herrschaft unter der Scharia zu widmen (und zu opfern). Insofern diese Videos eine in der Realität nachvollziehbare Wirkung verzeichnen können, ist anzunehmen, dass ihre seduktiven Strategien auf mehreren Ebenen funktionieren, speziell auch, weil sie sich etablierter popkultureller Codes bedienen. Die IS-Propaganda-Videos können im Sinne der Seduktionstheorie des Films als eine mediale Verführung zum Bösen begriffen werden: als Aufruf zur und Verherrlichung der Gewalt gegen die ideologischen Feinde, als exzessive und fatale Degradierung Andersdenkender im Namen einer dogmatischen und im Sinne der Aufklärung irrationalen Botschaft. Wenn man mit Karlheinz Bohrer (2004) fragte: „Gibt es das böse Kunstwerk?“ – die IS-Videos sind in ihrem pervertierten Gestaltungswillen und ihrer hyperrealen Virtualität vermutlich das, was einem „bösen Kunstwerk“ heute am nächsten kommt.
L ITERATUR Amborst, Andreas (2013): Jihadi Violence: A study of al-Qaeda’s media. Berlin. Aslan, Reza (2010): Forewood. In: Jeff Birkenstein/Anna Froula/Karen Randell (Hrsg.): Reframing 9/11: Film, Popular Culture and „The War on Terror“, New York, XI-XIII. Baudrillard, Jean (2003): Der Geist des Terrorismus. Wien. Bohrer, Karl-Heinz (2004): Imagination des Bösen. München. DeLillo, Don (2001): In The Ruins Of The Future. In: Harper’s Magazine, 12/2001, 33-40.
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Autorinnen und Autoren
Gwozdz, Patricia A., Dr. phil. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanistik der Universität Potsdam mit dem Schwerpunkt der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Theorie und Geschichte der Populärwissenschaft im internationalen Vergleich, Feldtheorie und Expertenkulturen, Wissenspoetologie Literatur/Naturwissenschaft, Intermedialität Literatur/Film, Poetologie der Erinnerung. Ihre neuesten Projekte widmen sich der Literarisierung und Popularisierung medizinischen Wissens im Kontext der Medical Humanities. Seit 2015 ist sie als Initiatorin und Bloggerin der öffentlichen Schreibplattform Academia goes Pop (http://academia-goes-pop.de) aktiv. Kleiner, Marcus S., Prof. Dr. Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der SRH Hochschule der populären Künste in Berlin und dort Studiengangleiter des Master-Studiengangs „Erlebniskommunikation“ sowie Forschungskoordinator. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Populäre Kulturen, Popkulturen und Populäre Medienkulturen. Beim SWR hat er die Radio-Rubrik „Musik-Professor“ (SWR1) und „Ansichtssache“ (SWR3). Herausgeber der Buchreihen Serienkulturen (Springer/VS) und Popkulturen (transcript). Letzte Buchpublikation: Handbuch Popkultur (Metzler 2017, hrsg. zus. m. Thomas Hecken). Weitere Informationen: www.medienkulturanalyse.de. Müller, Dorit, Dr. Dozentin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft am Peter Szondi-Institut der Freien Universität Berlin. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Literatur- und Wissensgeschichte, Literatur und Bildmedien, Populärkultur und Wissenstransfer. Sie ist Film-
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redakteurin der Zeitschrift Transfers. Interdisciplinary Journal of Mobility Studies. Letzte Publikationen: Versteckt, Verirrt, Verschollen. Reisen und Nichtwissen (2016, hrsg. mit I. Gradinari und J. Pause), Travel Writing and Knowledge Transfer (2016, hrsg. mit F. Krobb), Wissensraum Film (2014, hrsg. mit I. Gradinari und J. Pause). Reichert, Ramón, Dr. phil. habil. European Project Researcher an der University of Lancaster, Studienleiter und Koordinator des postgradualen Masterstudienganges „Data Studies“ an der Donau-Uni Krems. Expert Evaluator für „Digitale Medienkultur“ im Auftrag der Europäischen Kommission und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Lectrice am Département des sciences de la communication et des médias, Université de Fribourg, Lecturer in Contextual Studies an der School of Humanities and Social Sciences, St. Gallen. Co-Editor der internationalen Fachzeitschrift Digital Culture & Society (http://digicults.org) und der Buchreihe Popkulturen (transcript, zus. m. Marcus S. Kleiner). Aktuelle Buchpublikation: Selfies. Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur (transcript 2018). Stiglegger, Marcus, Prof. Dr. Vizepräsident und Professor für Fernsehen und Film an der DEKRA Hochschule für Medien in Berlin. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Körpertheorie und Seduktionstheorie der Medien, Dialektik von Mythos und Moderne in der populären Kultur, Medienkulturanthropologie und Genretheorie. Veröffentlichungen zu Filmästhetik, Filmgeschichte und Medientheorie. Promotion über Geschichte, Film und Mythos (SadicoNazista, 1999). Habilitation zur Seduktionstheorie des Films (Ritual & Verführung. Schaulust, Spektakel & Sinnlichkeit im Film, 2006). Herausgeber der Buchreihen Medien/Kultur, Kultur + Kritik (Bertz + Fischer) sowie Genrediskurs (Springer/VS). Letzte Buchpublikation: Stollfuß, Sven, J.-Prof. Dr. Juniorprofessor für Digitale Medienkultur am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind digitale partizipative Produktionsformen, Fernsehen und Soziale Medien sowie Streaming und Medienkulturwandel der Fernsehserie. Promotion über Digitale Körperinnenwelten (Schüren 2017). Veröffentlichungen zu Bildwissen in Wissenschafts- und Populärkultur, digitale Medien und Wissenspraxen, Fern-
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sehen und Serienkultur. Letzte Buchpublikationen: Cyborg-TV. Genetik und Kybernetik in Fernsehserien (Springer/VS 2017). Wilke, Thomas, Prof. Dr. Professor für Kulturelle Bildung an der PH Ludwigsburg und dort Studiengangleiter des gleichnamigen Masterstudiengangs. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Populäre Audio- und Medienkulturen, Mediengeschichte, -theorie sowie Medienanalyse. Letzte Publikation: Mashups. Neue Praktiken und Ästhetiken in populären Medienkulturen. (hrsg. zus. m. F. Mundhenke & F. Arenas, Wiesbaden 2015). Mitherausgeber der Zeitschrift SPIEL. Eine Zeitschrift für Medienkultur. Weitere Informationen: https://www.ph-ludwigsburg.de/17416.html.
Medienwissenschaft Florian Sprenger, Christoph Engemann (Hg.)
Internet der Dinge Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt 2015, 400 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3046-6 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3046-0 EPUB: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-7328-3046-6
Gundolf S. Freyermuth
Games | Game Design | Game Studies Eine Einführung 2015, 280 S., kart. 17,99 E (DE), 978-3-8376-2982-8 E-Book PDF: 15,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2982-2
Gundolf S. Freyermuth
Games | Game Design | Game Studies An Introduction (With Contributions by André Czauderna, Nathalie Pozzi and Eric Zimmerman) 2015, 296 p., pb. 19,99 E (DE), 978-3-8376-2983-5 E-Book PDF: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2983-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Medienwissenschaft Thilo Hagendorff
Das Ende der Informationskontrolle Zur Nutzung digitaler Medien jenseits von Privatheit und Datenschutz Januar 2017, 264 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3777-9 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3777-3
Carolin Wiedemann
Kritische Kollektivität im Netz Anonymous, Facebook und die Kraft der Affizierung in der Kontrollgesellschaft 2016, 280 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3403-7 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3403-1
Ramón Reichert, Annika Richterich, Pablo Abend, Mathias Fuchs, Karin Wenz (eds.)
Digital Culture & Society (DCS) Vol. 2, Issue 2/2016 — Politics of Big Data 2016, 154 p., pb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3211-8 E-Book PDF: 29,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3211-2
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