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German Pages 344 Year 2012
Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Band 44
Politische Theologie Wilhelms II.
Von Benjamin Hasselhorn
A Duncker & Humblot · Berlin
BENJAMIN HASSELHORN
Politische Theologie Wilhelms II.
Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Begründet von Johannes Kunisch Herausgegeben im Auftrag der Preußischen Historischen Kommission, Berlin von Prof. Dr. Wolfgang Neugebauer und Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll
Band 44
Politische Theologie Wilhelms II.
Von Benjamin Hasselhorn
Duncker & Humblot · Berlin
Die Theologische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Wintersemester 2011/2012 als Dissertation angenommen.
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Alle Rechte vorbehalten © 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0943-8629 ISBN 978-3-428-13865-4 (Print) ISBN 978-3-428-53865-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-83865-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞
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Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2011/2012 von der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurde sie geringfügig überarbeitet. Dabei wurden auch Neuerscheinungen in der Forschungsliteratur seit der Abgabe der Dissertation im April 2011 berücksichtigt. Die Überarbeitungen beziehen sich ausschließlich auf kleinere stilistische und inhaltliche Verbesserungen; meine Thesen über das Selbstverständnis Wilhelms II. als Herrscher von Gottes Gnaden und über die kaiserliche Predigttätigkeit wurden mit zusätzlichen Quellen bzw. zusätzlicher Literatur untermauert. Ich bedanke mich bei Prof. Dr. Notger Slenczka für die Zwischenfinanzierung durch eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter für ein halbes Jahr, die mir die Möglichkeit gab, ein Stipendium einzuwerben. Ich danke der Studienstiftung des deutschen Volkes für die Hauptfinanzierung des Projektes durch ein Promotionsstipendium in den Jahren 2008–2011. Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Prof. Dr. Wolfgang Neugebauer und dem Verlag Duncker & Humblot danke ich für die Aufnahme meiner Dissertation in die „Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte“. Für die Gewährung von Druckkostenzuschüssen bedanke ich mich herzlich bei der Titurel Stiftung und der Gesellschaft für angewandte Personalwissenschaften e. V. Die Frage nach der politischen Theologie des letzten deutschen Kaisers – nach seinem religiös fundierten politischen Selbstverständnis, nach seinen religiös-theologischen Überzeugungen und nach seiner Identitätspolitik mittels politischer Mythen – ist eine interdisziplinäre und führt in ein Grenzgebiet zwischen systematischer Theologie, Kirchen- bzw. Theologiegeschichte und Geschichtswissenschaft. Besonders wertvoll für den theologischen Doktoranden war daher der regelmäßige Austausch mit Historikern über das Dissertationsprojekt. Ich bedanke mich herzlich bei Prof. Dr. Bernhard Diestelkamp, Prof. Dr. Hans-Christof Kraus, Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll und Prof. Dr. Josef Johannes Schmid für die zahlreichen Anregungen, die ich auf diesem Wege erhalten habe. Bei Prof. Dr. Andreas Rödder und bei Prof. Dr. Hans-Christof Kraus bedanke ich mich außerdem für die gewährte Möglichkeit, mein Projekt in ihrem jeweiligen Oberseminar vorzustellen. Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll gilt mein Dank für die Einladung zur Tagung der Preußischen Historischen Kommission über den „Kaiser und die
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Vorwort
Künste“. Dr. Michael A. Obst und Dr. Christoph Franzen haben mir dankenswerterweise ihre unveröffentlichten Manuskripte über die politischen Reden des Kaisers bzw. über den Briefwechsel zwischen Wilhelm II. und Leo Frobenius zur Verfügung gestellt. Mein Dank für Diskussionen über Einzelaspekte sowie für die Hilfe beim Korrekturlesen gilt Hardy Gurack, Tillmann Meier, Prof. Dr. Gerhard Ropeter, Daniel Schmidt, Fabian Schmidt und Annekathrin Teichmann. Meinem Großvater Johannes Hasselhorn, OLKR i. R., danke ich für wertvolle Hinweise vor allem zu den theologischen Aspekten der Arbeit. Besonders danke ich meinen Eltern, Kathrin Linke-Hasselhorn und Prof. Dr. Marcus Hasselhorn, die die Entstehung dieser Arbeit mit derselben Intensität begleitet und unterstützt haben wie meinen ganzen Bildungsweg. Mein größter Dank schließlich gilt meinem Lehrer Hartmut Voelkel, ohne den diese Arbeit gar nicht denkbar ist. Passau, Passionszeit 2012
Benjamin Hasselhorn
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Forschungsgeschichte und methodische Fragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Politisch-theologische Prägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Hinzpeter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Mutter, Großmutter, Ehefrau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Stoecker und Bismarck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Eulenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Vater und Großvater. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27 27 31 32 45 54 59
D. Politische Theologie I: herrscherliches Selbstverständnis. . . . . . . . . . . . . . . 62 I. Gottesgnadentum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 II. Herr der Mitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 III. Anwendungsfall I: Soziale Monarchie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 IV. Anwendungsfall II: Glaubenshüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 V. Religionspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 VI. Judenkaiser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 VII. Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 E. Theologie Wilhelms II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Summus episcopus und kaiserlicher Prediger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Harnack und der Apostolikumstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Houston Stewart Chamberlain . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Bibel und Babel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
123 123 136 144 163 185
F. Politische Theologie II: Politische Mythen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Politischer Mythos I: Wilhelm der Große. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Politischer Mythos II: Reichstradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Politischer Mythos III: Germanentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Erzengel Michael . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
189 191 198 210 218 229
G. Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ernstfall I: Kriegsausbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kriegstheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ernstfall II: Kriegsende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
232 232 240 248 255
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Inhaltsverzeichnis
H. Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kulturkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Predigten und theologische Überlegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.
257 257 264 270 293
Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Sachregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
A. Einleitung Wilhelm II. ist aufgrund seiner vielfältigen wie umstrittenen historischen Bedeutung ein reizvoller und in jüngerer Zeit häufig aufgegriffener Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Forschung. Das Verhältnis des letzten deutschen Kaisers zur Religion ist bislang allerdings nur ansatzweise untersucht worden.1 Im wesentlichen hängt dies damit zusammen, daß die Religionsgeschichte des Kaiserreiches lange Zeit von der Neuzeitforschung ausschließlich unter dem Aspekt der Säkularisierung betrachtet wurde.2 Dieser Umstand ist um so erstaunlicher, als die Religion im allgemeinen und das Christentum im besonderen erklärtermaßen ein zentraler Faktor im politischen Denken und Handeln Wilhelms II. gewesen ist. Das betrifft nicht nur seine kirchenpolitische Stellung als Summus episcopus der preußischen Landeskirche, sondern auch die schon von den Zeitgenossen unter dem Stichwort „Gottesgnadentum“ intensiv diskutierten religiösen Grundlagen seines herrscherlichen Selbstverständnisses sowie eine auf die Erhaltung und Stärkung der christlichen Kirchen ausgerichtete wilhelminische Religionspolitik. Das Verhältnis zwischen Religion und Politik im Denken und Handeln Wilhelms II. ist auch darum ein lohnender Forschungsgegenstand, weil es in aktuelle und systematische Debatten über das Phänomen der sogenannten politischen Theologie eingeordnet werden kann. Dieser Begriff selbst ist schillernd und wird in verschiedenen Kontexten sehr unterschiedlich benutzt. Wesentlich angestoßen wurde die Debatte über die politische Theologie von Carl Schmitt, der 1934 auf die systematische Strukturverwandtschaft theologischer und staatsrechtlicher Grundbegriffe hingewiesen hat. Schmitt ging es in erster Linie um die Frage staatlicher Souveränität, aber er deutete auch einen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Religion und Politik an, der für die Diskussion um die politische Theologie konstitutiv werden sollte.3 1
Siehe dazu Kapitel B. Vgl. dazu vor allem Blaschke/Kuhlemann. 3 „Das metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, hat dieselbe Struktur wie das, was ihr als Form ihrer politischen Organisation ohne weiteres einleuchtet.“ (Schmitt, Politische Theologie I, S. 59–60; vgl. S. 49 und S. 65.) Vgl. zur weiteren Diskussion vor allem Peterson, bes. S. 98–100 und Schmitt, Politische Theologie II. 2
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A. Einleitung
Gegenwärtig wird unter dem Begriff der politischen Theologie tatsächlich entweder die Strukturanalogie von Theologie und Politik oder die theologische Fundierung einer politischen Ordnung verstanden. Die Strukturanalogie von Theologie und Politik wird allerdings zumeist unter den Begriff der „politischen Religionen“ gefaßt, womit die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts ebenso gemeint sind wie neuere Formen von „Zivilreligion“.4 Von politischer Theologie ist dagegen zumeist dann die Rede, wenn es um Theologie oder Religion als notwendiger Legitimitäts- bzw. Bestandsgrundlage eines politischen Gemeinwesens geht.5 In dieses letztgenannte Verständnis ist das bekannte Diktum Ernst-Wolfgang Böckenfördes einzuordnen: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er [. . .] nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert.“6 Böckenförde plädiert damit für die religiöse Neutralität des Staates, die aber eine „offene“7 Neutralität sein müsse, die die Religion nicht aus dem öffentlichen Leben verdränge. Bei aller Neutralität bleibe das Grundproblem bestehen, das für das politische Zusammenleben notwendige Maß an „vor-rechtlicher Gemeinsamkeit und tragendem Ethos“8 zu halten, und dafür sei die Religion ein wesentlicher Faktor. Im selben Sinn haben sich Jürgen Habermas und Joseph Kardinal Ratzinger geäußert, die mit unterschiedlicher Akzentuierung 4 Vgl. zum Themenkomplex „Zivilreligion“ und „politische Religion“ Voegelin; Bry, vor allem S. 25–47; Schieder, Civil Religion; Bärsch, vor allem S. 21–51; Maurer, Das Absolute; Mertens/Köhler, S. 202–207; Lübbe, Religion nach der Aufklärung, S. 257–327. Einen Versuch zur Abgrenzung der Begriffe „Weltanschauung“, „Ideologie“, „Zivilreligion“ von dem der politischen Theologie unternimmt Christian Johann Neddens. „Zivilreligion“ ist für Neddens der implizite religiöse Konsens einer politischen Gemeinschaft; politische Theologie der explizite Versuch, einen solchen Konsens dar- oder herzustellen. Neddens erwähnt aber selbst, daß eine solche Trennung empirisch kaum durchzuhalten ist: Vgl. Neddens, S. 42–47, dort auch umfangreiche Literaturhinweise. 5 Vgl. Meier, Was ist Politische Theologie. Meier definiert in expliziter Auseinandersetzung mit Carl Schmitt politische Theologie als „eine politische Theorie, politische Doktrin oder politische Positionsbestimmung, für die [. . .] die göttliche Offenbarung die höchste Autorität und letzte Grundlage ist.“ (Meier, Was ist Politische Theologie, S. 12) Vgl. auch Boller, S. 177. Die Diskussion um Religion als notwendiger vorpolitischer Grundlage für ein politisches Gemeinwesen ist allerdings auch unter dem Stichwort der „Zivilreligion“ geführt worden: vgl. Neddens, S. 44–47, dort auch weitere Literaturhinweise. 6 Böckenförde, Entstehung des Staates, S. 71. 7 Böckenförde, Der säkularisierte Staat, S. 16. 8 Böckenförde, Der säkularisierte Staat, S. 24.
A. Einleitung
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die These vertreten, daß die religiösen Traditionsbestände des Christentums förderliche Sinnressourcen für das politische Gemeinwesen bieten.9 Die Frage des Verhältnisses von Theologie und Politik wird innerhalb der theologischen Forschung auch unter dem Begriff der politischen Theologie bereits diskutiert. Affirmativ wird der Begriff von der „neuen Politischen Theologie“ verwendet, die sich auf den katholischen Theologen Johann Baptist Metz beruft.10 In Anknüpfung an die Befreiungstheologie und an Vorstellungen der politischen Linken versteht sich die neue Politische Theologie als spezifische Form einer Theologie „nach Auschwitz“11. Gegen moderne Privatisierungstendenzen der Religion und gegen eine als gesellschaftlich verbreitet wahrgenommene Apathie wird soziales wie kulturelles Leid als theologische und politische Aufgabe verstanden, unter der Maßgabe, „es gäbe kein Leid der Welt, das uns nichts anginge.“12 Damit ist einerseits eine begriffliche „Neuschöpfung“13 gegenüber dem durch Carl Schmitt angestoßenen Diskussionszusammenhang vollzogen, andererseits bleibt eine Reihe struktureller Gemeinsamkeiten zwischen „alter“ und „neuer“ politischer Theologie bestehen, vor allem die Verankerung der Politik „im Rückbezug auf Transzendenz“14. Die neue Politische Theologie wird allerdings nur von einer Minderheit vertreten; repräsentativer dürfte die Begriffsbestimmung Christian Johannes Neddens’ sein, der politische Theologie – mit deutlich negativer Konnotation – als „theologische Überbegründung politischen Handelns“ definiert, „in der die Frage nach dem Heil im Bereich des politischen Handelns (mit) entschieden und die endliche politische Freiheit in ihrem Risiko und ihrer Verantwortbarkeit eliminiert wird.“15 Gleichzeitig gibt es aber auch Theologen wie Rolf Schieder, die politische Theologie – im Sinne einer Analyse religionspolitischer Probleme – als interdisziplinären universitären Forschungsbereich etablieren wollen.16 Die verwirrende Diskussionslage hängt auch mit der Unklarheit über die genaue Begriffsdefinition zusammen. Inhaltlich beruhen die Divergenzen vor allem auf dem Gegensatz zwischen denjenigen Positionen, die politische Theologie als einen Hinweis darauf verstehen, daß der Mensch und die von ihm geschaffenen Sozialformen auf 9 Habermas, Vorpolitische Grundlagen, vor allem S. 26–35; Ratzinger, vor allem S. 46–57. 10 Vgl. dazu Adam, Politische Theologie, S. 150–152. 11 Metz, Mit dem Gesicht zur Welt, S. 3. 12 Wacker/Manemann, Politische Theologie, S. 55. 13 Wacker/Manemann, Politische Theologie, S. 52. 14 Wacker/Manemann, Politische Theologie, S. 57. 15 Neddens, S. 41–42. 16 Schieder, Forum, S. 13.
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A. Einleitung
Grundlagen ruhen, die er nicht selbst hervorgebracht hat, und denjenigen, die politische Theologie als Oberbegriff für einen Übergriff des Religiösen auf ein Gebiet halten, das eigentlich davon befreit sein sollte.17 Angesichts der verbreiteten Unklarheit über Sinn und Bedeutung des Begriffs der politischen Theologie ist es erfreulich, daß Bernd Wacker und Jürgen Manemann, beide Vertreter der neuen Politischen Theologie, den Versuch einer begriffsgeschichtlichen Einordnung unternommen haben. Dabei gehen sie weit über die von Carl Schmitt angestoßene Debatte hinaus und machen den Ursprung des Begriffs in der hellenistischen Philosophie fest, die eine Dreiteilung der Theologie in die mythische, die natürliche und eben die politische vorgenommen habe, wobei mit letzterem die für das Staatswohl bedeutsame öffentliche Religionsausübung gemeint war. Das Christentum habe seit Augustinus diese Form der Theologie wegen ihrer Verquickung theologischer Letztbegründungen mit beliebigen politischen Interessen für defizitär erklärt.18 Erst seit dem Aufstieg des neuzeitlich-säkularen Staates seit dem 17. Jahrhundert sei ein wachsendes Interesse an politischer Theologie im Zuge einer verstärkten politisch-funktionalen Betrachtungsweise der Religion zu beobachten.19 Im 19. Jahrhundert sei „politische Theologie“ dann zum politischen Kampfbegriff geworden mit dem Ziel einer „Disqualifizierung der gegnerischen Theorie als einer den jeweiligen Stand der Ideologiekritik des Christentums und seiner säkularen Derivate unterbietenden und also rational nicht ausweisbaren politischen Heilslehre.“20 Erst Carl Schmitt habe versucht, den Begriff positiv zu wenden und damit im Grunde auch das antike Verständnis politischer Theologie zu rehabilitieren.21 Es ist bei der begriffsgeschichtlichen Herleitung durch Wacker und Manemann auffällig, daß die wilhelminische Epoche übersprungen wird. Das ist um so erstaunlicher, als die Diskussion um Sinn und Bedeutung politischer Theologie als Folge einer umfassenden Krise politischer Legitimität in Europa nach der Französischen Revolution und vor allem seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erscheint.22 Max Weber hatte diesen Prozeß als Teil 17 Vgl. dazu Wacker/Manemann, Politische Theologie, S. 64–65, dort auch Literaturhinweise. 18 Vgl. Wacker/Manemann, Politische Theologie, S. 28–31. 19 Vgl. Wacker/Manemann, Politische Theologie, S. 32–40. 20 Wacker/Manemann, Politische Theologie, S. 44. 21 Vgl. Wacker/Manemann, Politische Theologie S. 47–48. 22 Vgl. dazu die Ausführungen Frank-Lothar Krolls über die Legitimationsstrategien monarchischer Eliten im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts angesichts ihrer Infragestellung in Folge von 1789: Kroll, Zwischen europäischem Bewußtsein und nationaler Identität, vor allem S. 353–356 und S. 363–366. Auf die Legitimitätskrise hat auch Carl Schmitt schon aufmerksam gemacht: Mit der selbst-
A. Einleitung
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der allgemeinen „Entzauberung“ der Welt durch konsequente Rationalisierung der Lebensführung beschrieben, gleichzeitig aber deutlich gemacht, daß die rationale Lebensführung ihrerseits wieder bestimmte religiöse Grundlagen habe.23 Wilhelm Hennis hat darüber hinaus gezeigt, daß Weber den Entzauberungsprozeß keineswegs einfach begrüßte, sondern mit einer gewissen Melancholie beobachtete und sich intensiv mit der Frage nach den politisch-geistigen Folgen beschäftigte.24 In dem zwischen 1909 und 1920 entstandenen Textkonvolut Wirtschaft und Gesellschaft schrieb Weber: „Keine Herrschaft begnügt sich, nach aller Erfahrung, freiwillig mit den nur materiellen oder nur affektuellen oder nur wertrationalen Motiven als Chancen ihres Fortbestandes. Jede sucht vielmehr den Glauben an ihre ‚Legitimität‘ zu erwecken und zu pflegen.“25 Daß die Legitimität politischer Herrschaft umstritten sein kann, war Weber auch wegen des politischen Umbruchs von 1918/1919 deutlich bewußt. Das unmittelbare Nachkriegschaos interpretierte er als Wiederherstellung eines Wertepluralismus, der in Europa durch die Dominanz des Christentums für lange Zeit unterdrückt worden sei: „Es ist wie in der alten, noch nicht von ihren Göttern und Dämonen entzauberten Welt, nur in anderem Sinne: wie der Hellene einmal der Aphrodite opferte, und dann Apollon und vor allem jeder den Göttern seiner Stadt, so ist es, entzaubert und entkleidet der mythischen, aber innerlich wahren Plastik jenes Verhaltens, noch heute. [. . .] Der großartige Rationalismus der ethisch-methodischen Lebensführung, der aus der religiösen Prophetie quillt, hatte diese Vielgötterei entthront zugunsten des ‚Einen, das not tut‘ [. . .]. Heute aber ist es religiöser ‚Alltag‘. Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf. [. . .] Schicksal unserer Kultur aber ist, daß wir uns dessen wieder deutlicher bewußt werden, nachdem durch ein Jahrhundert die angeblich oder vermeintlich ausschließverständlichen Annahme von Monotheismus und Transzendenz Gottes sei in Europa über einen langen Zeitraum hinweg die selbstverständliche Annahme der Monarchie und der Transzendenz des Souveräns gegenüber dem Staat einhergegangen. Der Siegeszug von wissenschaftlichem Positivismus und damit einhergehenden Immanenzvorstellungen habe die politische Legitimität der Monarchie vollständig zerstört; übrig bliebe einerseits eine selbstverständliche Legitimität der Demokratie, andererseits ein Dezisionismus, der in der Überzeugung vom absoluten Vorrang staatlicher Souveränität die Diktatur als Staatsform bevorzuge: vgl. Schmitt, Politische Theologie I, S. 59–66 und S. 69–77. 23 Vgl. Weber, Religionssoziologie, vor allem S. 202: „die rationale Lebensführung auf Grundlage der Berufsidee ist – das sollten diese Darlegungen erweisen – geboren aus dem Geist der christlichen Askese.“ 24 Vgl. Hennis, vor allem S. 12, S. 34–35 und S. 54. 25 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, § 1, S. 122.
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liche Orientierung an dem großartigen Pathos der christlichen Ethik die Augen dafür geblendet hatte.“26 Webers Analyse dieses Pluralismus verschiedener Wertorientierungen angesichts einer schwindenden Bindekraft des Christentums führte zu einer Problemdiagnose, die in der Weimarer Republik ihre Berechtigung unter Beweis stellte, ihren Ursprung aber im wilhelminischen Kaiserreich hatte. Im Hintergrund standen die „Erwartungsenttäuschung“27 der liberalen Fortschrittshoffnungen, ein daraus resultierendes verbreitetes Dekadenzempfinden und die massenhafte Suche nach neuen Lebenskonzepten jenseits bloßer Rationalität.28 Vor allem im politischen Bereich gilt dieser Befund für ganz Europa, das um die Jahrhundertwende einen Aufschwung der „erfundenen Traditionen“ erlebte, die dem Ziel dienten, neue integrative Kraft zu entfalten.29 Auch die Debatte über den politischen Mythos, im Sinne bildhaft verdichteter Vorstellungen von der Identität des politischen Verbandes, erlebte um die Jahrhundertwende eine Konjunktur.30 Die Überlegungen so verschiedener politischer Theoretiker wie Gustave Le Bon, Vilfredo Pareto, Robert Michels und eben Max Weber kreisten in dieser Zeit alle um das Problem politischer Organisation angesichts eines als neu wahrgenommenen Massenzeitalters. In diesem gebe nicht vernünftige Einsicht den Ausschlag, sondern diejenige Führungselite, die in der Lage sei, die Masse zu mobilisieren.31 Der Privatgelehrte Georges Sorel sprach in diesem Zusammenhang explizit von „sozialen Mythen“ als Anordnungen von „Schlachtbildern“, die an Stelle rationaler Überlegungen für politische Auffassungen und Handlungen verantwortlich seien.32 Carl Schmitt wiederum nahm dies als Anregung, 26
Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 33–34. Lübbe, Religion nach der Aufklärung, S. 37. 28 Vgl. Weißmann, Nationaler Sozialismus, S. 38–57. Zur Suche nach neuen Lebenskonzepten vgl. Frecot, zum religiösen Impuls vor allem S. 144–148. 29 Vgl. Cannadine, vor allem S. 9–12 und S. 61–62. Der Begriff der „erfundenen Traditionen“ stammt von Eric Hobsbawm: vgl. Hobsbawm/Ranger, Invention. Er ist dort Teil einer marxistisch-konstruktivistischen Theorie, nach der nicht nur bestimmte politische Traditionen, sondern auch politische Größen selbst wie etwa Nationen keine Realitäten, sondern „Konstruktionen“ seien. Ohne diesen Theorierahmen zu teilen, bietet das Modell der „erfundenen Traditionen“ doch einen angemessenen Erklärungskontext für die spezifischen Problemlagen, die sich aus der Legitimitätskrise politischer Herrschaft am Ende des 19. Jahrhunderts ergaben. 30 Vgl. Münkler, S. 12–15. 31 Vgl. Le Bon, Psychologie; Le Bon, La psychologie politique; Pareto, Traité; Michels, Soziologie; Weber, Wissenschaft als Beruf. Vgl. zu der Gemeinsamkeit dieser Denker in der genannten Hinsicht Weißmann, Nationaler Sozialismus, S. 66–73. 32 Vgl. Sorel, S. 30 und S. 138–145. Siehe dazu auch Kapitel F. Zur enormen geistesgeschichtlichen Bedeutung Sorels vgl. auch Ohana, Homo mythicus; vgl. Nipperdey, Der Mythos im Zeitalter der Revolution. 27
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seinen in der Politischen Theologie bereits geführten Angriff gegen den Liberalismus noch einmal zu verschärfen, und darauf zu verweisen, daß die politische Linke wie die politische Rechte – im Gegensatz zur „Mitte“ mit ihrem „Rationalismus“ und „Parlamentarismus“ – mobilisierende politische Mythen ebenso kenne wie eine „Theologie“ und dadurch im zukünftigen politischen Kampf die besseren Voraussetzungen habe.33 Heute dagegen werden die politischen Mythen wegen ihrer Verknüpfung mythischer Erzählstruktur mit bewußter politischer Zwecksetzung oft für wirklichkeitsverzerrende Manipulationsversuche erklärt.34 Der Philosoph Kurt Hübner hat daher auch mit ausdrücklichem Verweis auf Sorel von den politischen als „Pseudomythen“ gesprochen, weil sie nicht „gewachsen“ und „gelebt“, sondern „gemacht“ seien.35 Hübner hat aber zugleich auch deutlich gemacht, daß der Erfolg politischer Mythen umgekehrt nur dadurch erklärt werden kann, daß sie immerhin mit der Wirklichkeit zu tun haben und vor allem einem „mythischen Bedürfnis“ des Menschen entgegenkommen, das auch in Zeiten allgemeiner Rationalisierung und „Entzauberung“ noch akut sei.36 Tatsächlich wurden die politische Legitimitätskrise der Jahrhundertwende und die in dem Zusammenhang erörterten Fragen für die Diskussion um die politische Theologie bislang zu wenig fruchtbar gemacht. Die vorliegende Arbeit versucht in diesem Sinne, eine Lücke zu schließen, indem sie das Forschungsfeld über die politische Theologie historisch ausweitet und auf eine Epoche führt, die ein Nährboden für politische Theologie gewesen ist. Aus kirchen- und theologiegeschichtlicher Sicht ist dabei die Frage von besonderer Relevanz, wie das historische Auftreten politischer Theologie im 19. und 20. Jahrhundert mit jenem verkürzend „Säkularisierung“ genannten historischen Prozeß zusammenhängt, der religiöse Begründungen in der Politik ihrer traditionellen Selbstverständlichkeit enthebt und zur Disposition stellt.37 Wilhelm II. wirkte in diesem historischen Kontext in exponierter politischer Position. Er galt zudem als vollgültige, gewissermaßen spiegelbild33
Vgl. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage, S. 78–90. So etwa Bizeul und vor allem Hein, S. 31: „Er [der politische Mythos] ist [. . .] eine selektive und erstarrte Interpretation der Vergangenheit, weil er einzelne historische Sachverhalte nicht mehr den Tatsachen gemäß interpretiert, sodass die Wirklichkeit ‚mythisch gelesen‘ wird“. 35 Vgl. Hübner, S. 349–365. 36 Hübner, S. 364–365. 37 Einen Überblick auf den gegenwärtigen Stand der äußerst umfangreichen Diskussion zum Themenkomplex der Säkularisierung bietet Lehmann, Säkularisierung, vor allem S. 314–325. Vgl. zur Säkularisierungsforschung außerdem Barth, Säkularisierung, sowie mit besonderem Blick auf das Kaiserreich Blaschke/Kuhlemann; Simon-Ritz; Walkenhorst. 34
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liche Inkarnation des dann auch nach ihm benannten wilhelminischen Zeitgeistes.38 Zusammen mit seinem vielfach bezeugten religiösen Interesse sowie seinen expliziten Bezugnahmen auf religiöse Grundlagen und religiöse Zielbestimmungen seines politischen Handelns zeigt dies die Relevanz der Frage nach der politischen Theologie des Kaisers. Unter politischer Theologie Wilhelms II. werden dabei im wesentlichen zwei Aspekte verstanden, die im Diskurs über die politische Theologie zentral sind: die religiöse Fundierung des politischen Selbstverständnisses und der Umgang mit dem Problem, politischen Legitimitätsglauben zu erzeugen. In beiden Fällen ist in bezug auf Wilhelm II. zu beobachten, daß religiöse Überzeugungen bzw. die Berufung auf religiöse Traditionen für sein Denken und Handeln eine wesentliche Rolle spielen. Eine leitende systematische Frage bei der Analyse politischer Theologie Wilhelms II. ist dabei das besonders im politischen Selbstverständnis zum Ausdruck kommende Verhältnis von Religion und Politik zwischen Amt und Person, zwischen Tradition und Charisma. Ausgehend von der Herrschaftstypologie Max Webers, der – wiederum vor dem Hintergrund der wilhelminischen Epoche – zwischen rationaler, traditioneller und charismatischer Herrschaft unterschied, wäre dabei zu fragen, ob und inwiefern im Falle Wilhelms II. eine Verschiebung von traditionalen und auf das politische Amt bezogenen zu charismatischen und auf die Person bezogenen Begründungsmustern festzustellen ist.39 Im Zentrum der Analyse soll daher das herrscherliche Selbstverständnis des Kaisers stehen. Dabei wird besonderes Augenmerk auf dessen religiöse Grundlagen gelegt, die Wilhelm II. immer wieder expliziert hat. Im Falle der Schaffung politischer Identität werden in erster Linie die politischen Mythen Wilhelms II. in den Blick genommen. Dabei spielt vor allem die politische Verwendung religiöser Bezüge durch den Kaiser eine Rolle, so etwa die christliche Reichstradition, das Gottesgnadentum, das Postulat einer besonderen religiösen Prägung der eigenen Dynastie und die politischtheologische Verwendung der Figur des Erzengels Michael. Sowohl der Aspekt des politischen Selbstverständnisses als auch der einer mythisch-symbolischen Fassung politischer Identität haben mit dem Problem der Legitimierung politischer Herrschaft zu tun. Sie sind außerdem theologisch wie politisch besonders interessant, weil Kaiserreich wie Kaisertum Neuschöpfungen waren, die in keiner festen Tradition zum Kaisertum des alten Reiches standen. Die sich daraus ergebende „ideelle Unbestimmtheit der Kaiseridee“40 wie des Kaiserreichs insgesamt war 1888, als 38
Siehe dazu auch Kapitel B. Zu Webers Herrschaftstypologie vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, § 2. S. 124. Zum Typus der charismatischen Herrschaft bei Weber vgl. Kroll, Idealtypus, vor allem S. 47–54. 39
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Wilhelm II. Kaiser wurde, noch immer nicht ausgeräumt worden.41 Tatsächlich war Wilhelm II. der erste Kaiser des zweiten Reiches, „der das Amt wirklich annahm und ausfüllte“.42 Dazu war es nötig, sich über traditionale Bezüge von Kaisertum und Reich klar zu werden bzw. diese erst herzustellen. Das Resultat war in beiden Fällen eine eklektische Mischung aus verschiedenen Traditionssträngen, in denen religiöse Bezüge eine zentrale Rolle spielten. Wenn also in dieser Arbeit im Anschluß an eine Untersuchung politischtheologischer Prägungen Wilhelms II. in Jugend und früher Erwachsenenzeit vorwiegend den beiden genannten Aspekten politischer Theologie im Denken und Handeln des Kaisers nachgegangen wird, so ist angesichts der explizit religiösen Grundierungen beider Aspekte auch die Frage zu klären, welche persönlichen religiösen und theologischen Überzeugungen Wilhelm II. hatte. Das erweist sich auch deshalb als besonders zielführend, weil sich hier wichtige theologiegeschichtliche Bezüge ergeben. Wilhelm II. ist zwar keine prominente Figur der Theologiegeschichte, aber seine Bedeutung beschränkt sich auch nicht nur auf die kirchenpolitische Funktion des Summus episcopus seiner Landeskirche. Sein großes Interesse an religiösen, aber auch an spezifisch theologischen Fragen macht ihn zusätzlich als Figur religiöser und theologischer Zeitgeschichte interessant. Durch seine persönlichen und brieflichen Kontakte zu Vertretern des theologischen Konservatismus, liberalen Theologen sowie Exponenten völkischer bzw. deutschchristlicher Theologie verkörperte Wilhelm II. in besonderer Weise die religiöse Unruhe und Unentschiedenheit seiner Zeit. Genau hier liegt die Wurzel dafür, daß die Fragestellung der Arbeit nicht nur eine historische, sondern auch eine theologische ist. Das gilt zunächst für den theologiegeschichtlichen Aspekt der Fragestellung: Eine Rekonstruktion der theologischen Überlegungen Wilhelms II. schließt nicht nur eine Lücke in der Personengeschichtsschreibung über den letzten deutschen Kaiser, sondern ist auch als Element religiöser Zeitgeschichte von Bedeutung. Die Suchbewegungen des Kaisers über die verschiedenen theologischen Lager hinweg ordnen die Vorstellungen Wilhelms II. in seinen Zeitkontext ein; und unter der Voraussetzung, daß Wilhelm II. in seiner religiösen Unentschiedenheit zeittypisch gewesen ist, wären durch eine auf den Kaiser fokussierte Analyse auch Elemente für eine Gesamtinterpretation der Theologie des Wilhelminismus zu gewinnen. In jedem Fall aber fehlt bislang eine quellenorientierte Analyse der theologischen Vorstellungen des Kaisers und der damit verbundenen Motive. 40 41 42
Fehrenbach, S. 222. Vgl. Clark, Wilhelm II., S. 13 und S. 47–57. Kohlrausch, Samt und Stahl, S. 14.
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In dem Kontext, in dem sich die theologischen Vorstellungen Wilhelms II. entwickelten, war vor allem in den Grenzbereichen zwischen kirchlicher und völkischer Theologie auch ein systematisches Problem virulent, nämlich das der kontextuellen Theologie. Gemeint ist damit das „Anliegen einer hermeneutischen Transformation des christlichen Glaubens unter den Voraussetzungen eines bestimmten Kontextes“.43 Schon über das ganze 19. Jahrhundert hinweg war die Theologie mit der Bewältigung jener „Umformungskrise“44 beschäftigt, die angesichts eines befürchteten Auseinanderdriftens von christlicher Tradition und modernem Wahrheitsbewußtsein akut wurde. Während des Kaiserreichs suchte man in diesem Zusammenhang immer wieder auch explizit den theologischen Bezug zu den politischen Gegenwartsfragen. Das betraf zum einen die soziale Frage, um deren Bewältigung sich etwa die christlich-soziale Bewegung bemühte.45 Zum anderen wurde der theologische Bezug zur nationalen Frage immer wieder reflektiert, besonders im Zuge der Einigungskriege 1866–1870, nicht zuletzt aber auch angesichts konfessioneller Konflikte in dem vielfach als „protestantisch“ wahrgenommenen Kaiserreich, schließlich vor allem bei „deutschchristlich“ und „völkisch“ argumentierenden Autoren.46 In dieser engen Bindung an den politischen Kontext der Theologie erscheint die kontextuelle zugleich auch als eine politische Theologie.47 Die Betonung der wechselseitigen Beziehung von Theologie und Politik hat aber gerade nicht zur Folge, daß die Thematik der Arbeit allein einer „weltlichen Kirchengeschichte“48 überlassen werden sollte, die unter Verweis auf die Verschränkung von Kirche und „Welt“ Kirchengeschichte als profane Institutionenund Mentalitätsgeschichte der Kirche betreibt. Vielmehr sollte das kom43
Slenczka, Tod Gottes, S. 176. Hirsch V, S. 600. Zu Hirschs Verständnis der „Umformungskrise“ siehe Müller, Christliche Wahrheit. 45 Siehe dazu Kapitel C. III. 46 Vgl. dazu Nipperdey, Religion im Umbruch, S. 10–66; vgl. auch Strötz, Der Katholizismus im deutschen Kaiserreich I und II. Siehe dazu auch Kapitel D. IV. Zu den „Deutschchristen“ und den „Völkischen“ siehe Kapitel E. III. 47 Die kontextuelle Theologie weist in diesem Sinne Überschneidungen zur gegenwärtigen Diskussion um die Notwendigkeit einer „Inkulturation“ des Christentums auf: vgl. dazu Klieber/Stowasser. Vgl. außerdem zur „vagierenden Religiosität“ im wilhelminischen Kaiserreich Nipperdey, Religion im Umbruch, S. 143–153 und Graf, Dechristianisierung, S. 61. 48 Thadden, S. 8. Vgl. auch Thadden, S. 11–28. Wilhelm Hüffmeier ist der Auffassung, die „Ausblendung der religiösen und kirchlichen Seite der Persönlichkeit Wilhelms II.“ hänge mit „dem bedenklichen Hiatus zwischen kirchen- und säkulargeschichtlicher Forschung in der Betrachtung und Darstellung des letztes preußischen Königs und deutschen Kaisers“ zusammen. (Hüffmeier, Das Engagement Wilhelms II., S. 106.) Der für diese Arbeit gewählte Ansatz versucht, genau diese disziplinäre Trennung zu überwinden. 44
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plexe Verhältnis, in dem Theologie und Politik, Kirche und „Welt“ zueinander stehen, auch aus explizit theologiegeschichtlicher und systematischtheologischer Perspektive untersucht werden. Die vorliegende Arbeit bemüht sich um eine Analyse und Rekonstruktion des politisch-theologischen Selbstverständnisses Wilhelms II. Der praktische Erfolg und die moralische Bewertung der Umsetzung dieses Selbstverständnisses werden dabei bewußt ausgeklammert. Politisch-moralische Bewertungen liegen ohnehin außerhalb wissenschaftlicher Fragehorizonte, und die Frage nach dem politischen Erfolg der politisch-theologischen Umsetzungen des Kaisers kann im Rahmen dieser Arbeit nicht adäquat geklärt werden.49 In den Kapiteln D. III.–D. VI. und in Kapitel G. sollen aber zumindest versuchsweise einzelne Bausteine und Anhaltspunkte für eine Erfolgsanalyse gegeben werden. Damit ist weder der Anspruch auf Vollständigkeit verbunden noch soll – angesichts des Fokus, der hier auf die relativen Erfolge des Kaisers gelegt wird – behauptet werden, Wilhelm II. sei in seinem politischen Handeln im Ganzen erfolgreich gewesen. Das ist schon deshalb ausgeschlossen, weil am Ende der politischen Laufbahn des Kaisers ein totales Scheitern steht. Im Falle unbestreitbarer einzelner Erfolge Wilhelms II. gibt es zudem keine harten empirischen Kriterien dafür, welchen Anteil der Kaiser selbst an solchen Erfolgen hatte. In dieser Arbeit geht es deshalb lediglich darum, die politische Theologie Wilhelms II. zu rekonstruieren und anhand einiger Anwendungsfälle zu zeigen, daß das politische Handeln des Kaisers tatsächlich als Versuch interpretiert werden kann, sein Selbstverständnis in die Tat umzusetzen. Es geht also nicht um Erfolg oder Mißerfolg, sondern darum, daß das politisch-theologische Selbstkonzept Wilhelms II. keine bloße Theorie blieb, sondern tatsächlich handlungsorientierend wurde.
49 Zu den erheblichen methodischen Schwierigkeiten, die mit einer Erhebung historischer Öffentlichkeiten verbunden sind, vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 22; dort auch weiterführende Literaturhinweise.
B. Forschungsgeschichte und methodische Fragen Seit einiger Zeit ist die Person Wilhelms II. wieder Gegenstand intensiver Diskussionen in der Geschichtswissenschaft. Durch die 2008 erschienenen Arbeiten von Christopher Clark und Eberhard Straub ist dabei ein breites Meinungsspektrum über Beurteilung und Zugangsweise zum letzten deutschen Kaiser entstanden; von extremer Negativbeurteilung über nüchternkritische und nüchtern-verständnisvolle Positionen bis hin zu extremer Positivwertung ist in der neueren Forschung alles vertreten.1 Eng mit der Bewertungsfrage verbunden ist die in der Wilhelm-II.-Forschung besonders intensiv diskutierte Frage nach der faktischen Macht des Kaisers. Sehr einflußreich war lange Zeit Hans-Ulrich Wehlers These, es sei nach der Entlassung des Reichskanzlers Bismarck 1890 ein Machtvakuum entstanden, das zu einer „Polykratie rivalisierender Machtzentren“ geführt habe; Wilhelm II. habe politisch immer nur eine untergeordnete Rolle gespielt und sei spätestens im Laufe des Ersten Weltkrieges zu einem „Schattenkaiser“ geworden.2 Dagegen hat John Röhl in expliziter Auseinandersetzung mit Wehler durch die Begriffe des „persönlichen Regiments“ und des „Königsmechanismus“ die These einer Zentralstellung Wilhelms II. im politischen Entscheidungsgefüge des Kaiserreichs aufgestellt: Einerseits wegen seiner Personalentscheidungsbefugnisse, andererseits durch die Konkurrenz um seine Gunst innerhalb seiner Umgebung habe der Kaiser letztlich die Richtlinien deutscher Politik zwischen 1890 und mindestens 1909 bestimmen können.3 Im Hintergrund dieser Debatte stand ein geschichtswissenschaftlicher Methodenstreit zwischen dem strukturgeschichtlichen Ansatz der von Weh1 Eine extreme Negativbeurteilung findet sich bei John C. G. Röhl, ein nüchtern-kritischer Blick bei Wolfgang Mommsen, ein nüchtern-verständnisvoller bei Christopher Clark und Frank-Lothar Kroll, und bei Eberhard Straub eine extreme Positivwertung: vgl. Röhl, Zur Einführung, S. XII; Röhl, Aufbau, S. 15–17; Röhl, Abgrund, S. 1326; vgl. Mommsen, War der Kaiser, S. 7–12 und S. 257–264; vgl. Clark, Wilhelm II., S. 334–335; vgl. Kroll, Wilhelm II., S. 309; vgl. Straub, S. 10–15. 2 Wehler, Das Deutsche Kaiserreich, S. 69 und S. 213. 3 Röhl, Zur Einführung, S. IX; Röhl, Kaiser, Hof und Staat, S. 116–138. Die Begriffe des „persönlichen Regiments“ und des „Königsmechanismus“ stammen nicht von Röhl – „persönliches Regiment“ war eine zeitgenössische Charakterisierung wilhelminischen Regierungsstils; „Königsmechanismus“ ist ein von Norbert Elias geprägter soziologischer Begriff –, werden von ihm aber im Sinne seiner Hauptthese als Kernbegriffe verwendet.
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ler vertretenen Historischen Sozialwissenschaft und älteren, politik- und personengeschichtlich orientierten Konzepten.4 Aktuelle historische Fragestellungen einer „neuen Politikgeschichte“ entgehen solchen Antagonismen durch die Erweiterung des Politikbegriffs, die Einbindung traditioneller historiographischer Konzeptionen und den Verzicht auf im Vorhinein festgelegte normativ-leitende geschichtsteleologische Theorien.5 Dadurch kommen Wechselwirkungen zwischen Politik und Kultur bzw. Religion ebenso wieder in den Blick wie politische Biographien und Untersuchungen zu Positionen einzelner politischer Akteure.6 Neuere Einzeluntersuchungen zu Wilhelm II. haben ganz in diesem Sinne den Kaiser nicht als politischen Entscheidungsträger dargestellt, sondern als „dynamisches Image, das von den kritischen Kräften einer vielfältigen, kulturellen Elite produziert wurde“7; als jemanden, der Politik als „kommunikatives Handeln“8 betrieb und der im Grunde ein „ ‚Postmoderner‘ avant la lettre“9 gewesen ist. Die Vielzahl divergierender Beurteilungen über Wilhelm II. wird dabei einerseits auf dessen „postmodernen“ Eklektizismus, andererseits auf die ihrerseits äußerst divergente wilhelminische Kultur selbst zurückgeführt.10 Damit wiederum erscheint im Hinblick auf Wilhelm II. eine im weitesten Sinne personengeschichtliche Perspektive auch deshalb berechtigt, weil der Kaiser selbst als Symbol und Repräsentant seiner Zeit betrachtet wurde und wird.11 Unter dieser Voraussetzung sind 4
Vgl. Hull, Persönliches Regiment, S. 5–16. Zur Erweiterung des Politikbegriffs der „neuen Politikgeschichte“ um kulturelle Aspekte vgl. Frevert, Neue Politikgeschichte, vor allem S. 14–24. Zur wissenschaftlichen Angemessenheit traditioneller Politikgeschichte und zur Methoden- und Theorienpluralität vgl. Kraus/Nicklas, S. 1–5. 6 Vgl. dazu vor allem Kraus, Geschichte als Lebensgeschichte, der zeigt, wie wenig überzeugend die von der Historischen Sozialwissenschaft vorgetragenen Argumente gegen Politik- und Personengeschichtsschreibung waren und sind. Kraus plädiert dagegen für einen methodischen Pluralismus, der auch die Tatsache in Rechnung zu stellen habe, „daß herausragende historische Persönlichkeiten in bestimmte historische Lagen eingreifen und diese nicht nur fundamental prägen können, sondern auch in der Lage sind, bestimmte Entwicklungen in eine andere Richtung zu lenken.“ (Kraus, Geschichte als Lebensgeschichte, S. 331.) 7 Clark, Wilhelm II., S. 10. 8 Kohlrausch, Samt und Stahl, S. 30. Kohlrausch bezieht sich mit dem Begriff des kommunikativen Handelns ausdrücklich auf Jürgen Habermas. 9 Kohlrausch, Samt und Stahl, S. 18. Bei den Untersuchungen handelt es sich im einzelnen um Benner; Jarchow; Samerski, Wilhelm II. und die Religion; Marschall; Reinermann; Rebentisch; Kohlrausch, Monarch im Skandal; König. 10 Vgl. besonders Kohlrausch, Samt und Stahl, S. 29–30. 11 Vgl. Clark, Wilhelm II., S. 10; vgl. Kohlrausch, Samt und Stahl, S. 20–21; vgl. Straub, S. 9–16; vgl. Kroll, Wilhelm II., S. 304 und S. 309; vgl. Mommsen, War der Kaiser, S. 12. Der einzige gegenwärtige Historiker, der diese Art von Zeit5
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Untersuchungen zu persönlichen und politischen Vorstellungen Wilhelms II. zumindest ein Anhaltspunkt für struktur- und mentalitätsgeschichtliche Generalisierungen. Auch die Debatte um das „persönliche Regiment“ Wilhelms II. hat sich im Zuge dieser Perspektivenerweiterung verschoben. Wolfgang J. Mommsen und Christopher Clark haben unter Aufnahme der alten Fragestellung nach der Machtvollkommenheit Wilhelms II. einen möglichen neuen Forschungskonsens aufgezeigt. Laut Mommsen und Clark verfolgte der Kaiser zwar durchaus – wenn auch wenig beharrlich – das Ziel, selbst zu herrschen, war aber letztlich immer „mit einem System konzentrischer Beschränkungen konfrontiert“.12 Tatsächlich könne man einen politischen Einfluß Wilhelms II. nicht bestreiten, aber aus verschiedenen Gründen habe Wilhelm diesen Einfluß nur selten dauerhaft geltend machen können. Erscheint der Kaiser in dieser Hinsicht als ein „ ‚schwacher‘ Monarch“13, so hat Isabel Hull bereits 1991 gezeigt, in welchem Sinne das „persönliche Regiment“ als Beschreibung des kaiserlichen „Regierungsstils“14 geeignet ist. Man könne darunter nämlich auch, so Hull, eine „moderne Form der Monarchie“ verstehen, nämlich den „Versuch, Monarchie auf das bürgerliche oder eben das Massenzeitalter zuzuschneiden“, als ein „Bürgerkönigtum ohne Plebiszite“.15 Diese Beobachtung knüpft einerseits an die vielfach konstatierte Beliebtheit Wilhelms II. an, bezieht sich andererseits darauf, daß Politik eben nicht nur im konkreten Regierungshandeln besteht, sondern auch die Einflußnahme auf das kulturell-gesellschaftliche Handlungsumfeld umfaßt. Für die Fragestellung dieser Arbeit ist die Debatte um das „persönliche Regiment“ Wilhelms II. deshalb von Belang, weil ein Ursprung der Debatte bereits der vor allem in der wilhelminischen Presse ausgetragene Streit um das Gottesgnadentum gewesen ist. Hier wurde die Kritik am kaiserlichen Anspruch, die Richtlinien der Regierungspolitik selbst und im Zweifelsfall unabhängig von Verfassung und Parlament zu bestimmen, am deutlichsten bemerkbar.16 Gleichzeitig handelte es sich bei Wilhelms Äußerungen zu seinem Gottesgnadentum um eine religiöse Begründung seines politischen gemäßheit Wilhelms II. bestreitet, ist John Röhl. Dessen Behauptung, der Kaiser sei weder Spiegelbild seiner Zeit noch im deutschen Volk beliebt gewesen, wird aber nicht belegt; Röhl weist lediglich darauf hin, daß das Volk Wilhelm sicher abgelehnt hätte, wenn es gewußt hätte, was sich hinter den politischen Kulissen abgespielt habe, gibt aber schließlich auch zu, daß Wilhelm II. „in Teilen der Bevölkerung [. . .] ausgesprochen beliebt“ gewesen sei: Röhl, Abgrund, S. 161 und S. 695–696. 12 Clark, Wilhelm II., S. 121. Vgl. Mommsen, War der Kaiser, S. 257–264. 13 Kroll, Zur Beurteilung, S. 357. 14 Hull, Persönliches Regiment, S. 22. 15 Hull, Persönliches Regiment, S. 20–21. 16 Siehe dazu Kapitel D. I.
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Selbstverständnisses. Es kommt schließlich hinzu, daß die Wahrnehmung des kaiserlichen Politikstils als „persönliches Regiment“ sowie Wilhelms immer wieder Irritation auslösenden Reden Indikatoren dafür sind, daß hier tatsächlich eine Verschiebung politischer bzw. politisch-theologischer Begründungsmuster im Hinblick auf das Verhältnis von Tradition und Charisma, von Amt und Person vorliegt.17 Am Gottesgnadentum wird das besonders deutlich: Preußischer König war Wilhelm II. laut Verfassung von Gottes Gnaden, Deutscher Kaiser aber nicht. Dennoch reklamierte er auch für sein Kaisertum einen entsprechenden Anspruch, der dann allerdings faktisch nicht mehr am Amt hängen konnte, sondern an der Person und ihrem Selbstverständnis. Die Analyse dieses politisch-theologischen Selbstverständnisses des Kaisers, seiner religiösen und theologischen Überzeugungen sowie seiner politischen Mythen als Instrumente politischer Identitätsstiftung ist bislang bestenfalls ansatzweise vorgenommen worden. Die Forschungslage im Hinblick auf das Verhältnis Wilhelms II. zur Religion, auf religiöse Begründungen seines politischen Selbstverständnisses und auf politische Legitimationsstrategien erschöpft sich – abgesehen von Einzelhinweisen zum Vorhandensein solcher religiöser Begründungsmuster bei Wilhelm – auf den von Stefan Samerski herausgegebenen Sammelband über „Wilhelm II. und die Religion“ und die Habilitationsschrift Thomas Hartmut Benners über „Die Strahlen der Krone. Die religiöse Dimension des Kaisertums unter Wilhelm II. vor dem Hintergrund der Orientreise 1898“. Der Sammelband unternimmt einen ersten Versuch, das Themenfeld abzustecken und enthält Beiträge über Wilhelms kirchenpolitische Funktionen, sein Verhältnis zu den christlichen Großkirchen und religiös-politischen Bezugspersonen wie Adolf Stoecker, Georg Ernst Hinzpeter und Leo Frobenius, und schließlich über sein Kirchenbauprogramm sowie religiöse Aspekte seiner Schulpolitik.18 Benners Buch ist eine Analyse der Herrschaftsauffassung des Kaisers anhand der Orientreise, bietet aber auch ein Kapitel über die religiöse und weltanschauliche Prägung Wilhelms II. Benner konstatiert Wilhelm II. eine Affinität zum konservativ-kirchlichen Milieu, aber auch einen Zug zu religiösem Dualismus. Was die Herrschaftsauffassung des Kaisers betrifft, so gehört die von Wilhelm II. herausgestellte religiöse Dimension des Kaisertums Benner zufolge in den Kontext des Versuchs, nationale Identitäts- und Integrationspolitik zu betreiben.19 17 Unter genau diesem Stichwort einer „Charismatisierung“ traditioneller Herrschaftsbegründung wird der Politikstil Wilhelms II. in den einschlägigen neueren Forschungsarbeiten diskutiert: vgl. Clark, Wilhelm II., S. 210–218; vgl. Benner, S. 360–364; vgl. Obst, Einer nur ist Herr‚ S. 423–426. 18 Vgl. Samerski, Wilhelm II. und die Religion. 19 Vgl. Benner, S. 53–137, vor allem S. 135–137 und S. 358–364.
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Diese Ansätze werden in der vorliegenden Arbeit weiterverfolgt. Dabei wird erstens anhand der – öffentlichen wie nichtöffentlichen – Selbstäußerungen Wilhelms II. und anhand seiner politischen und politisch-theologischen Praxis dessen herrscherliches Selbstverständnis rekonstruiert.20 Zweitens werden seine theologischen Überlegungen im Kontext zeitgenössisch bedeutsamer Debatten nachgezeichnet und drittens eine Analyse der politischen Mythen geleistet, die Wilhelm II. helfen sollten, die sich aus seinem herrscherlichen Selbstverständnis ergebenden politischen Zielsetzungen umzusetzen. Eine leitende Grundannahme dabei ist, daß für das politische Selbstverständnis und die politisch-theologische Praxis des Kaisers religiöse Begründungen und Bezüge eine zentrale Rolle spielten. Es handelt sich bei dieser Arbeit um eine theologiegeschichtliche Untersuchung zu einem Thema, das wichtige systematisch-theologische Bezüge aufweist. Sie geht methodisch nach klassischer geschichtswissenschaftlicher und kirchen- wie theologiegeschichtlicher Verfahrensweise vor, indem das Quellen- und Literaturmaterial im Hinblick auf die Fragestellung überprüft, systematisiert und interpretiert wird. Hierzu ist eine Bemerkung erforderlich: Wilhelm II. war weder Fachtheologe noch politischer Theoretiker. Er hat zwar aus seiner Exilzeit einige Bücher politischen, kulturgeschichtlichen und teilweise auch theologischen Inhalts hinterlassen, ist aber nicht aufgrund besonders origineller oder systematisch durchdachter wissenschaftlicher Ansätze von Bedeutung, sondern als politischer Praktiker. Seine kirchenpolitische Stellung sowie sein für einen europäischen Monarchen des ausgehenden 19. Jahrhunderts ungewöhnlich großes Interesse an theologi20 Ein Grund für die bislang nur mangelhafte Untersuchung des politisch-theologischen Selbstverständnisses Wilhelms II. dürfte in unabgeschlossener Erschließung der Quellen liegen. Veröffentlichungen direkter Äußerungen des Kaisers – Briefe, Reden etc. – existieren fast nur als zeitgenössische Editionen (vor allem Penzler I–III; Krieger IV; Goetz, Briefe; Chamberlain, Briefe II); ansonsten ist man auf die Quelleneditionen politisch relevanter Zeitgenossen (etwa Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz), die Exilveröffentlichungen des Kaisers selbst, die – meist aus der Rückschau entstandenen – Betrachtungen wichtiger Zeitgenossen sowie den Nachlaß des Kaisers angewiesen. Dieser befindet sich für die Regierungszeit im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (BPH Rep. 53; relevant außerdem noch I. HA Rep. 89; I. HA Rep. 90 A und VI. HA Nachlaß Adolf Stoecker) und für die Exilzeit im Rijksarchief in Utrecht (Inventar 14: Archiv des Ex-Kaisers Wilhelm II. während seines Aufenthalts in den Niederlanden, 1918–1941; in Kopie vorhanden im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz XIII. HA 379). Die wissenschaftliche Erschließung des Quellenbestandes über Wilhelm II. liegt noch in den Anfängen und beschränkt sich auf die 2011 erschienene Edition ausgewählter politischer Reden des Kaisers (Obst, Die politischen Reden) sowie den 2012 erschienenen Briefwechsel zwischen Wilhelm II. und dem Ethnologen Leo Frobenius (Franzen/Kohl/Recker; siehe dazu auch Kapitel H.) Zur Quellenlage in bezug auf Wilhelm II. vgl. außerdem Benner, S. 14–17.
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schen Fragen ermöglichen es, seine religiösen und theologischen Überlegungen anhand seiner Predigten, seiner kirchenpolitischen Entscheidungen, seiner Korrespondenz über theologische Fragen und seiner – wenn auch raren – öffentlichen theologischen Stellungnahmen zu rekonstruieren. Für Wilhelms politisches wie politisch-theologisches Selbstverständnis dagegen gibt es so gut wie keine theoretisch-programmatischen Selbstäußerungen. Daher werden zuerst die öffentlichen Äußerungen des Kaisers über sein Gottesgnadentum analysiert und dann auf Grundlage der – durch vereinzelte programmatische Äußerungen erhärteten – These, er habe sich als die Nation integrierender und identitätsstiftender „Herr der Mitte“21 verstanden, anhand einiger seiner innenpolitischen Initiativen überprüft. Die politischen Mythen, die der Kaiser zum Zweck nationaler Identitätsstiftung propagierte, werden schließlich anhand seiner konkreten symbolpolitischen Handlungen und reflektierenden Reden rekonstruiert. Soweit möglich, wird dabei versucht, zwischen privater und öffentlich-politischer Auffassung des Kaisers zu unterscheiden. Daß es grundsätzlich einen Unterschied zwischen beidem gibt, zeigt etwa die Diskrepanz zwischen Wilhelms eher konservativer Religionspolitik und seinen eher liberalen eigenen theologischen Überlegungen. Der sogenannte „Hollmann-Brief“ des Kaisers – seine berühmteste öffentliche theologische Positionsbestimmung – vermischte beide Auffassungen in charakteristisch-eklektischer Weise.22 Besonders deutlich wird der Unterschied zwischen privater und öffentlicher Auffassung Wilhelms II. auch in seinem Verhältnis zum Judentum; Wilhelms teilweise rabiater privat geäußerter Antijudaismus schlug sich in keiner Weise in seinem politischen Reden und Handeln nieder.23 Grundsätzlich gilt, daß sowohl private als auch öffentliche Äußerungen Wilhelms II. herangezogen und jeweils im konkreten Einzelfall auf ihre Bedeutung und Tragweite hin untersucht werden. Sowohl der Hollmann-Brief als auch die Selbstäußerungen des Kaisers zum Gottesgnadentum ermöglichen dabei Schlußfolgerungen in der Frage des Verhältnisses von Amt und Person in der politischen Theologie Wilhelms II. Das gilt zum einen für sein eigenes Selbstverständnis – in dem Amt und Person, Tradition und reklamiertes Charisma oft einfach ineinander übergingen –, zum anderen für die Wirkung von Wilhelms öffentlichem Auftreten in Richtung auf eine Personalisierung und Charismatisierung mit all den Konsequenzen, die das Hervorkehren der persönlichen Überzeugungen in der Öffentlichkeit hervorrief. Diese Arbeit verfolgt einen wissenschaftlichen Ansatz und enthält sich deshalb jeglicher normativer Werturteile über Wilhelm II. Ohne gewisse 21 22 23
Sombart, Wilhelm II., S. 101. Siehe dazu Kapitel E. IV. Siehe dazu Kapitel D. VI.
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Vorannahmen ist aber auch wissenschaftliche Forschung nicht möglich. Im Falle Wilhelms II. wird dies an der Frage nach seiner geistigen Gesundheit deutlich. John Röhl interpretiert den Kaiser – nicht als einziger – konsequent psychopathologisch und attestiert ihm in diesem Zusammenhang einen „leichtgradigen Hirnschaden“ infolge unglücklicher Geburtsumstände.24 Christopher Clark hat gegen diese Art von Verdachtsdiagnosen bei historischen Personen zu Recht eingewendet, daß sie sich auf nicht überprüfbare Vermutungen berufen. Schwerwiegender noch sei aber, daß derartige psychogeschichtliche Erklärungsmuster grundsätzlich davon wegführten, „Verhalten rational und im historischen Kontext zu erklären.“25 Entsprechend geht diese Arbeit von der Hypothese aus, daß Wilhelm II. kein Psychopath gewesen ist, sondern grundsätzlich nach in ihrem historischen Kontext rational nachvollziehbaren Motiven agiert hat. Befürworter wie Kritiker des Kaisers sind sich weitgehend einig darin, daß Wilhelm II. im Volk erstaunlich populär war und daß er in besonderer Weise den Geist seiner Zeit gespiegelt hat. Wolfgang J. Mommsen hat dazu festgestellt, „dass die Deutschen den Kaiser hatten, den sie – ungeachtet aller Probleme – haben wollten. Trotz seiner extravaganten Auftritte und anstößigen Reden war Wilhelm II. in der Bevölkerung populär; seine Schwächen und Vorlieben waren im Großen und Ganzen auch jene der Deutschen, die in ihm ein Symbol nationaler Größe sahen, mit dem sie sich weithin identifizierten.“26 Die Frage, wie sich dieser Sachverhalt erklären läßt, ist eine der Leitfragen dieser Arbeit. Sie dient dem Zweck, zu klären, was Wilhelm II. konkret tat, damit das Volk sich mit ihm, seinem Kaisertum und dem 1871 neugeschaffenen Kaiserreich identifizierte. Das gilt nicht zuletzt für den wilhelminischen Protestantismus, der sich nach 1918 nicht mit den neuen politischen Verhältnissen abfinden konnte. Die Arbeit fragt daher nach dem Selbstverständnis des Kaisers, nach den Quellen – vor allem den religiösen – aus denen es hervorging und nach der Art und Weise, wie er dieses Selbstverständnis in die Tat umzusetzen versuchte. Diesen Fragen nachzugehen, ist ohne weiteres jenseits von Dämonisierung und Apologetik möglich.
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Röhl, Cäsarenwahnsinn, S. 31–36; Röhl, Jugend, S. 35–36, S. 67–70. Clark, Wilhelm II., S. 43–45. Mommsen, War der Kaiser, S. 12.
C. Politisch-theologische Prägungen Wilhelm II. war kein Theologe, hat auch während seines Studiums keine theologische Ausbildung erhalten und erst recht kein theologisches Werk hinterlassen. Dennoch hat er sich – teilweise prominent – bei theologischen und religiösen Gegenwartsfragen zu Wort gemeldet und hat sein politisches Wirken immer wieder religiös begründet. Um zu klären, wo Wilhelm II. die verschiedenen Elemente seines politisch-theologischen Weltbildes hernahm, ist es nötig, im weiteren Sinne biographisch vorzugehen. Daher werden im folgenden diejenigen politisch-theologischen Prägungen des Prinzen Wilhelm vorgestellt, die für die spätere politische Theologie Kaiser Wilhelms II. eine herausragende Rolle spielen sollten, also für die religiösen Aspekte seines herrscherlichen Selbstverständnisses und für seine späteren Versuche, mittels politischer Mythen Legitimitätsglauben zu erzeugen.
I. Hinzpeter Von zentraler Bedeutung für die Erziehung des Prinzen Wilhelm war Georg Ernst Hinzpeter, der im Zeitraum zwischen 1866 und 1877 die Erziehung Wilhelms und seines Bruders Heinrich übernahm. In seinen im holländischen Exil abgefaßten Memoiren betonte Wilhelm II. den religiösen Einfluß, den die Erziehung durch Hinzpeter auf ihn ausgeübt habe: „Daß ich die religiösen und kirchlichen Fragen mit voller Objektivität sine ira et studio behandeln konnte, verdanke ich meinem vortrefflichen Erzieher Professor Dr. Hinzpeter, einem westfälischen Calvinisten. Er hat seinen Zögling mit der Bibel aufwachsen und leben lassen unter Beiseitestellung aller dogmatisch-polemischen Fragen, sodaß Polemik in der Religion mir fremd geblieben ist und ein Begriff wie das selbstherrliche ‚orthodox‘ mich abstößt.“1
Die Charakterisierung Hinzpeters als Calvinisten wäre allerdings irreführend, wenn man dahinter eine strenge calvinistische Dogmatik vermutete; dagegen spricht Hinzpeters eigene theologische Prägung durch das gemäßigt konservative Halle von 1846 und das liberale Berlin von 1848 ebenso wie der insgesamt gemäßigt-reformierte Charakter des preußischen Calvinismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und dazu die liberale Hal1 Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten, S. 180–181. Vgl. zu Wilhelms nachträglicher Beurteilung der Erziehung durch Hinzpeter auch Wilhelm II., Leben, S. 24–31.
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C. Politisch-theologische Prägungen
tung der Kronprinzessin, die für die Anstellung Hinzpeters verantwortlich war, sowie die spätere religiöse Haltung Wilhelms selbst.2 Im Gegensatz zu dem durch Wilhelm selbst vermittelten Eindruck einer zentralen Rolle der Religion in Hinzpeters Erziehungsprogramm steht allerdings die Behauptung von Wilhelms Kasseler Französischlehrer: „In diesem bis ins kleinste sorgfältig ausgearbeiteten Erziehungsplan, in dem nichts übersehen, nichts dem Zufall überlassen war, nahm der Religionsunterricht nur einen sehr untergeordneten Rang ein.“3 Tatsächlich sah Wilhelms Stundenplan in dieser Zeit nur zwei Religionsstunden pro Woche vor.4 In der Theorie aber hatte die religiöse Erziehung für Hinzpeter eine wichtige Bedeutung, wie aus zwei Erziehungsprogrammen und zwei Rechenschaftsberichten hervorgeht, die er 1866, 1877 und 1891 im Auftrag des Kronprinzenpaares ausgearbeitet hatte.5 In den Texten von 1866 schrieb Hinzpeter der Religion eine wichtige Rolle für die Charakterbildung zu, wobei in der Erziehung die menschliche Erlösungsbedürftigkeit einerseits, die göttliche Weltregierung andererseits herauszustellen seien. Während die Erlösungsbedürftigkeit dem Zögling den Ernst und die Schwere der Herrscheraufgabe verdeutlichen solle, sei die Anerkennung der göttlichen Weltregierung notwendig für die Gewinnung eines positiven Weltverhältnisses:6 „Nur das christliche Gefühl der Erlösungsbedürftigkeit kann dem Fürsten die Energie der Gerechtigkeit, nur das Vertrauen auf eine göttliche Weltregierung ihm die Kraft zu herrschen geben.“7 Der Bericht von 1877 betonte die Notwendigkeit einer individuellen Aneignung der Religion, während derjenige von 1891 von einem undogmatischen Religionsunterricht sprach, der konfessionellen Eifer verhindern und das Ziel einer konfessionellen Einheit fördern solle.8 Man erkennt deutlich die Diskrepanz zwischen den Programmschriften und den rückblickenden Berichten, in denen etwa von Erlösungsbedürftigkeit nicht mehr die Rede ist und die offensichtlich den tatsächlichen Erfolg in der religiösen Erziehung festhielten: individuelle Frömmigkeit, ohne Neigung zu Dogmatismus oder Konfessionalismus. Viel mehr stand aber auch 2
Zum theologischen Werdegang Hinzpeters und zum kirchengeschichtlichen Überblick über den preußischen Calvinismus des 19. Jahrhunderts vgl. Friedrich, Religion, S. 60–76. 3 Ayme, S. 130. 4 Stundenplan des Prinzen Wilhelm, GStA, BPH Rep. 53 A II Nr. 5a. 5 Archiv der Hessischen Hausstiftung, Nachlaß Friedrich III., „Erzieher unserer Kinder I 1865–1874“, teilweise gedruckt in: Röhl, Jugend, S. 153–157 und Friedrich, Religion, S. 76–84. 6 Vgl. Friedrich, Religion, S. 82–84. 7 Zit. nach Röhl, Jugend, 155. 8 Vgl. Friedrich, Religion, S. 78–81.
I. Hinzpeter
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gar nicht zu erwarten, da die religiöse Erziehung des Prinzen Wilhelm ein Streitpunkt zwischen den religiös liberalen Eltern und den religiös konservativen Großeltern war, was dazu führte, daß Wilhelms Konfirmandenunterricht zuerst von einem liberalen und dann nach einer Intervention des Kaisers von einem streng orthodoxen Geistlichen erteilt wurde.9 Hinzpeter selbst schrieb in einem 1888 veröffentlichten Text darüber: „Die gefürchtete Verwirrung der Begriffe trat keineswegs ein; die eigentümliche Fähigkeit dieses in seinem Wege unbeirrbaren Geistes, überall das zu nehmen, was ihm zusagt, ließ ihn auch seine religiösen Vorstellungen aus dem gebotenen Material mit eigener Arbeit zu persönlichem Gebrauch zusammenstellen. Und wohl ihm und uns, daß dies seinem Wesen gemäß war, und daß es ihm gelungen! Zum obersten Bischof der Kirche ist er dadurch sehr wohl geeignet, zum Parteihaupt sehr wenig.“10 Dieser Text, der dem deutschen Volk die Persönlichkeit und den Charakter des neuen Kaisers vorstellen wollte, diente aber auch dem Zweck, Hinzpeter von möglichen Erziehungsfehlern freizusprechen, indem er Wilhelm „ein Wesen von eigentümlich krystallinischem Gefüge“11 attestierte, das in seinem Kern durch Erziehung unerreichbar sei. Dieses Motiv der generellen Unbeeinflußbarkeit Wilhelms, das Hinzpeter intern noch wesentlich schärfer formulierte, bietet eine weitere Erklärung der Diskrepanz zwischen Erziehungsabsicht und -ergebnis. Es überzeugt aber nur eingeschränkt, da Hinzpeters apologetische Absicht ebenso deutlich ist wie die in den Erziehungsprogrammen latent vorhandene Überschätzung der Möglichkeit des Erziehungseinflusses, der letztlich mehr oder weniger enttäuscht werden mußte.12 So entstand für Hinzpeter der Eindruck, Wilhelm übernehme in 9 Vgl. Hinzpeter, Kaiser Wilhelm II., S. 48. Siehe auch die über 450 handgeschriebene Seiten umfassenden Notizen des Prinzen Wilhelm zu seinem Konfirmandenunterricht: GStA, BPH Rep. 53 A II Nr. 4. Aus diesem Konfirmationsunterricht ist dann ein persönliches Glaubensbekenntnis hervorgegangen, daß Prinz Wilhelm am Tag vor seiner Konfirmation vor der Gemeinde vorlas. Das Bekenntnis wird hier nicht analysiert, da es inhaltlich nicht weiter von Belang ist und lediglich aufgrund seines pathetischen Stils und der besonderen, ja ausschließlichen Betonung des persönlichen Gottesverhältnisses Aufschlüsse über die religiöse Prägung Wilhelms verrät. Der vollständige Text des Konfirmationsbekenntnisses ist abgedruckt in Wilhelm II., Leben, S. 365–167 und in Benner, S. 66. 10 Hinzpeter, Kaiser Wilhelm II., S. 48. 11 Hinzpeter, Kaiser Wilhelm II., S. 46. 12 Eine andere Frage ist diejenige nach der Beurteilung der Erziehung Wilhelms durch Hinzpeter. Martin Friedrich hält sie im Konsens mit der Mehrzahl der hierzu einschlägigen Forschung für mißlungen, während Frank-Lothar Kroll der Meinung ist, Wilhelm habe durchaus eine auch in ihrer Wirkung „für einen Thronfolger angemessene Ausbildung“ erhalten. (vgl. Friedrich, Religion, S. 59 und S. 89–90; vgl. Kroll, Wilhelm II., S. 293.) Auch im Hinblick auf die Zuverlässigkeit des Hinzpeterschen Urteils besteht Uneinigkeit: Während John Röhl meint, daß Hinzpeter
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C. Politisch-theologische Prägungen
der religiösen Erziehung nur diejenigen erzieherischen Anregungen, die sowieso schon dem eigenen Wesen entsprachen. Das war aber außerdem bei einem dezidiert undogmatischen, in der Hauptsache an der Bibel ausgerichteten Unterricht auch gar nicht anders zu erwarten, zumal Hinzpeter ja selbst keinen ausführlichen theologischen Entwurf vorgab, sondern eine Mischung aus Elementen, die entweder der Religion eine bestimmte allgemein-sittliche Funktion zuwiesen oder umgekehrt die Religion selbst aus bestimmten Strukturmerkmalen zusammenfügten.13 Ansonsten verfolgten das Kronprinzenehepaar und Hinzpeter den Plan, Wilhelm eine modern-bürgerliche Erziehung zu verschaffen. Dazu gehörte der Besuch eines bürgerlichen Gymnasiums in Kassel, das Studium in Bonn sowie der Versuch, durch Kontakt zu Bürgertum und Arbeiterschaft Sensibilität für die soziale Frage zu erzeugen.14 Problematisch daran war aber nicht nur, daß der kaiserliche Großvater eine andere, traditionellere – das hieß vor allem stärker militärisch und „aristokratisch“ orientierte – Form der Fürstenerziehung verlangte, sondern auch, daß der Anspruch, Wilhelm zu einem Herrscher und einem bürgerlich-modernen Individuum zu erziehen, die deutliche Gefahr einer Überforderung in sich barg. Daß man also mit der Erziehung des Prinzen Wilhelm etwas Neues versuchte, ist unstrittig. „Ob die seltsame Mischung aus Hinzpeter, Potsdam, Kassel und Bonn, die Wilhelms Erziehung schließlich ausmachte, nun wirklich eine Verbesserung gegenüber dem traditionellen Modell war, ist eine ganz andere Frage. Es spricht manches für die Vermutung, dass die merkwürdige Unschlüssigkeit der Erziehung Wilhelms, das Schwanken zwischen gegensätzlichen Lebenswelten sowie das Fehlen eines einheitlichen Themas die Herausbildung einer kohärenten Anschauung oder eines stabilen Verhaltenskodexes zumindest hemmte.“15 und Kronprinzessin Victoria Recht gehabt hätten, als sie Wilhelm einen unkorrigierbaren Egoisten nannten, meint Eberhard Straub zu dieser Beurteilung: „Zwei große Egoisten tadelten das Objekt ihres Eifers einen Egoisten. Die meisten, die ihn [Wilhelm] kennenlernten, freuten sich an dem wohlerzogenen, gar nicht schüchternen Jungen mit überraschendem Charme.“ (Röhl, Jugend, S. 215; Straub, S. 41.) 13 Entsprechend meint Martin Friedrich, die Unausgegorenheit des theologischen Programms Hinzpeters sei dafür verantwortlich, daß Wilhelm daraus nur einzelne Stücke entnahm: Vgl. Friedrich, Religion, S. 89–90. 14 Der Besuch einer allgemeinen Schule war einerseits sensationell, weil Wilhelm der erste Hohenzollernprinz überhaupt war, der eine solche Schule besuchte, entsprach andererseits aber einer allgemeinen Tendenz in der Fürstenerziehung: Georg V. und der jugendliche Kaiser Hirohito wurden ebenfalls auf allgemeine Schulen geschickt: vgl. Clark, Wilhelm II., S. 21. 15 Clark, Wilhelm II., S. 23. Was die Studienzeit des Prinzen Wilhelm betrifft, so ist hier eine unmittelbare Prägung nicht nachweisbar. In den vier Semestern in Bonn studierte Wilhelm zwar Geschichte, aber nicht Theologie. (Vgl. die Universitätspapiere des Prinzen Wilhelm von Preußen: GStA, BPH Rep. 53 A II Nr. 7) Thomas
II. Mutter, Großmutter, Ehefrau
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II. Mutter, Großmutter, Ehefrau Die Schwierigkeiten in der Erziehung des Prinzen Wilhelm wurden noch verschärft durch das problematische Verhältnis zwischen Wilhelm und seiner Mutter.16 Erkennbar wird das etwa an der Beurteilung der Konfirmationsfeier Wilhelms, von der sich das Kaiserehepaar wie der englische Teil der Verwandtschaft tief beeindruckt zeigten, während Prinzessin Victoria ihrem Sohn wesentlich distanzierter „die größte Kaltblütigkeit“ attestierte.17 Dabei erkannte sie durchaus die Einschränkung an, unter der Wilhelm wegen seiner durch die Umstände der Geburt verursachten körperlichen Behinderung – einer Verkürzung und teilweisen Lähmung des linken Arms – litt und schrieb an ihre Mutter, die Königin von England, 1870, sie wundere sich eher, „daß er trotz allem ein so angenehmes Temperament hat.“18 Die große Verbitterung, mit der sie Jahre später über ihren Sohn urteilte, erklärt sich aus ihrer Enttäuschung vor allem über dessen politische Entwicklung. 1892 schrieb sie wieder an ihre Mutter, sie fühle sich „wie eine alte Henne, die ein Entlein anstatt eines Kükens ausgebrütet hat und es davonschwimmen sieht“; statt des eigenen altenglischen Whig-Liberalismus vertrete der Sohn „die moderne, ganz unphilosophische Art von Demokratischem Tory“, die „den Irrtümern der Massen“ schmeichle.19 Wesentlich herzlicher war Wilhelms Verhältnis zu den kaiserlichen Großeltern, besonders zur Großmutter, deren religiöses Empfinden und Äußern offenbar der entsprechenden Neigung des Prinzen Wilhelm entgegenkam. Das zeigt der 35 Briefe umfassende erhaltene Briefwechsel zwischen Enkel und Großmutter im Zeitraum von 1876–1889, in dem es keinen einzigen Brief gibt, in dem nicht von Wilhelm die Erfahrung des positiven Einflusses Benner vermutet, daß Wilhelm sich in Bonn zu solchen Predigern hingezogen fühlte, die ihn intellektuell und emotional ansprachen wie Wilhelm Theodor Christlieb und Ernst von Dryander, der später Oberhofprediger Wilhelms II. werden sollte. (Benner, S. 77) Straub meint, Wilhelms Geschichtsdozent Wilhelm Maurenbrecher habe Wilhelm eine nationale und „bismarckische“ Geschichtsauffassung vermittelt und zudem ein Unabhängigkeitsethos in wissenschaftlicher wie religionspolitischer Hinsicht. (Straub, S. 62) Beide Behauptungen werden nicht belegt, sind aber plausibel. 16 Siehe dazu Straub, S. 24–29, der meint, Wilhelms Mutter habe ihren Erstgeborenen zu einem englischen Prinzen erziehen wollen. 17 Brief des Prinzen von Wales an Königin Victoria von England, 1.9.1874; Brief Prinzessin Victorias an Königin Victoria von England, 1.9.1874: Ponsonby, S. 163– 165. Wilhelm verfaßte für die Feier unter Anleitung Hinzpeters und seines Konfirmandenlehrers ein persönliches Glaubenskenntnis: Glaubensbekenntnis des Prinzen Wilhelm, 1.9.1874: Wilhelm II., Leben, Nr. 4, S. 365–368. 18 Brief Prinzessin Victorias an Königin Victoria von England, 28.5.1870: Ponsonby, S. 93. 19 Brief der Kaiserin Friedrich an Königin Victoria von England, 27.2.1892: Ponsonby, S. 451–452.
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C. Politisch-theologische Prägungen
Gottes auf die täglichen Ereignisse hervorgehoben wird.20 Dasselbe wird man sagen können von den Briefen des Prinzen Wilhelm an seine Tante, die Großherzogin von Baden und an seinen Großvater, Kaiser Wilhelm I.21 Letzterem schrieb er nach dem gescheiterten zweiten Kaiserattentat 1878: „Zum zweiten Male jedoch hat Gott der Herr Seine allmächtige Hand über Dir gehalten und Dich vom Tode errettet, darum danke ich Ihm von Grund meines Herzens.“22 In diesen Briefen wird deutlich, daß Wilhelm genau jenes Zutrauen in die göttliche Weltregierung besaß, das Hinzpeter als eines der beiden Hauptziele seines religiösen Erziehungskonzepts angegeben hatte. Erkennbar ist aber auch, daß Wilhelm ein Mitteilungsbedürfnis seiner religiösen Auffassungen und Empfindungen hatte, das zunächst am ehesten von denen gespiegelt wurde, die selbst dem religiös „positiven“, also dem orthodox-konservativen oder pietistischen Lager angehörten. Eine entsprechende religiöse Haltung hatte dann auch Auguste Viktoria von Holstein, die Wilhelm 1881 heiratete. Davon auf dieselbe Positionierung bei Wilhelm zu schließen, wäre aber verfehlt. In der Beziehung zwischen Wilhelm und „Dona“ zeigte sich vielmehr, daß deren schlichte, sich in traditionellen Bahnen bewegende Frömmigkeit Wilhelm intellektuell unterforderte.23 Bedeutsam für das Finden einer eigenen religiös-politischen Positionierung war „Donas“ Einfluß mittelbar aber doch, da sie den ersten Kontakt Wilhelms zu Adolf Stoecker herstellte.
III. Stoecker und Bismarck Stoecker, seit 1874 Hofprediger unter Wilhelm I., war der herausragende Vertreter der christlich-sozialen Bewegung, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebildet hatte. Sie bestand in erster Linie aus denjenigen Konservativen, die sich nach dem Einflußverlust der klassischen Rechten dem Bündnis mit den Liberalen verweigerten und einen kirchlichen und staatlichen Sozialismus entwickelten, der von der Überzeugung getragen war, daß die Lösung der sozialen Frage nicht der marxistischen und antireligiösen Linken überlassen werden dürfe. In den 1880er Jahren bildeten die um Stoecker organisierten christlich-sozialen Organisationen und Bestre20
GStA, BPH Rep. 53 J Lit P Nr. 14 a. Briefwechsel des Prinzen Wilhelm mit der Großherzogin von Baden: GStA, BPH Rep. 53 Nr. 42 und 49; Briefwechsel des Prinzen Wilhelm mit Kaiser Wilhelm I.: GStA, BPH Rep. 53 J Lit P Nr. 12. 22 Prinz Wilhelm an Kaiser Wilhelm I., 2.6.1878: GStA, BPH Rep. 53 J Lit P Nr. 12. 23 Vgl. Kroll, Wilhelm II., S. 294; vgl. Röhl, Jugend, S. 378; vgl. Straub, S. 87– 90. 21
III. Stoecker und Bismarck
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bungen die äußerste protestantisch-orthodoxe Rechte. Das Bild der christlich-sozialen Bewegung war zudem geprägt von Stoeckers Judenfeindschaft. Diese war weniger rassistisch als religiös motiviert, wurde von Stoecker als massentaugliche Chiffre für seinen Antimaterialismus benutzt und war damit „ein Übergangsphänomen zwischen dem religiösen Antijudaismus alter Prägung und dem weltanschaulichen Antisemitismus.“24 Im Nachhinein haben sowohl Wilhelm als auch Stoecker einen intensiven persönlichen Kontakt zueinander bestritten; daß es einen gegeben hat, bestätigen aber beide. Stoecker schrieb 1895, er sei in seiner Zeit als Hofprediger überhaupt niemals Berater eines der Kaiser in politischen oder kirchlichen Fragen gewesen, sei von Prinz Wilhelm auch nur ein einziges Mal zur Tafel geladen worden, wo er einige wenige Worte mit ihm gewechselt habe.25 Wilhelm schrieb 1885 an den Kaiser, Stoecker sei „Dona“ durch die gemeinsame Arbeit in der Berliner Stadtmission wohlbekannt, und aus dieser Bekanntschaft, nicht aus einem näheren Kontakt Wilhelms selbst zu Stoecker, rührt wohl die an Stoecker gegangene Einladung zur Taufe von Wilhelms und „Donas“ erstem Sohn Wilhelm im Sommer 1882.26 Der 1885 an den Großvater geschriebene Brief markiert die erste explizite Parteinahme des Prinzen Wilhelm für Stoecker. Der hatte durch seine politische Agitation in regelmäßigen Abständen Krisen ausgelöst und befand sich 1885 in einem Beleidigungsprozeß gegen die Freie Zeitung.27 Diese hatte einen Artikel veröffentlicht, in dem Stoecker als Lügner bezeichnet wurde, woraufhin Stoecker Anzeige wegen Beleidigung erstattete und in einen Prozeß hineingeriet, den seine Gegner geschickt dazu nutzten, seine moralische Dignität zu diskreditieren und ihn in den Augen der Öffentlichkeit als den eigentlich Angeklagten erscheinen zu lassen. Das Urteil gegen den verantwortlichen Redakteur der Freien Zeitung fiel dann auch sehr milde aus, und Stoecker wurde noch im selben Jahr seinerseits wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt. Kaiser Wilhelm I. befürchtete, 24
Slencka, Tod Gottes, S. 157. Zur christlich-sozialen Bewegung vgl. Leese, S. 169–176. Zur Bedeutung der christlich-sozialen Bewegung und Stoeckers in den 1880er und 1890er Jahren vgl. Frank, S. 127–130. Vgl. auch Clark, Wilhelm II., S. 34. Zu Stoeckers Antisemitismus vgl. Slenczka, Tod Gottes, S. 152–158. Vgl. zum Gesamtzusammenhang der christlich-sozialen Bewegung Friedrich/Jähnichen, und hier insbesondere zu Stoecker Greschat, Sozialer Protestantismus und Antisemitismus. 25 Vgl. Stoecker, Dreizehn Jahre, S. 22–27. 26 Prinz Wilhelm an Kaiser Wilhelm I., 5.8.1885: GStA, BPH Rep. 53 K Lit P Nr. 13; Einladung zur Taufe am 11.6.1882: GStA, VI. HA Nl Stoecker I 1 Bd. c, Bl. 8. 27 Vgl. Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment, S. 145. Vgl. auch Huber/ Huber, Staat und Kirche III, S. 592–603.
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daß die politischen Verwicklungen seines Hofpredigers auf ihn selbst zurückfallen könnten und plante deshalb, Stoecker noch 1885 aus seinem Amt zu entlassen.28 Tatsächlich war es der Brief des Prinzen Wilhelm, der den Kaiser umstimmte und ihn dazu brachte, dem Preußischen Oberkirchenrat noch in derselben Woche mitzuteilen, er behalte sich selbst die Entscheidung über das weitere Verfahren mit Stoecker vor. In Wirklichkeit unternahm er allerdings in dieser Angelegenheit gar nichts mehr.29 Prinz Wilhelm hatte seinem Großvater geschrieben: „Du wirst [. . .] gehört haben von der unverantwortlichen und verwerflichen Weise, in welcher das gesamte Judenthum des Reiches, durch seine verdammte Presse unterstützt, sich auf den armen Stöcker gestürzt und ihn mit Beleidigungen, Verläumdungen und Schmähungen überhäuft und ihm schließlich den großen Monsterprozeß an den Hals gehängt hat. [. . .] Man glaubt es nicht, daß in unserer Zeit solch ein Haufen Gemeinheit, Lügen und Bosheit sich zusammenfinden kann. [. . .] Stöcker – trotz aller seiner Fehler – ist die mächtigste Stütze, ist der tapferste, rücksichtsloseste Kämpfer für deine Monarchie und deinen Thron im Volk! [. . .] 60.000 Arbeiter hat er allein persönlich den jüdischen Fortschrittlern und Socialdemokraten für dich und deine Macht abgerungen! in Berlin! Mit unermüdlichem Eifer steht er diesem wichtigsten Werk der Stadtmission vor. Dieser hat sich meine Frau auch zugewendet und ist dadurch persönlich Stöcker oft nahegetreten und sagt sie habe selten einen begeisterteren Christen und ehrenwertheren Mann kennen gelernt! [. . .] Daher bittet mich Victoria in ihrem letzten Briefe [. . .] ich möchte dich auch in ihrem Namen gehorsamst bitten einen ihrer besten Mitarbeiter am Werk des praktischen Christenthums, einen der treusten Patrioten in Gnaden Deine Kaiserliche [!] zu bewahren und ihn nicht den scheußlichen und infamen Verläumdungen zum Opfer fallen zu lassen; da sie sonst absoluth Nothund hülflos dastehen würde. O lieber Großpapa, es ist empörend wenn man beobachtet wie in unserem christlichen, deutschen, gut preußischen Lande das Judenthum in der schamlosesten, frechsten Weise sich erkühnt, alles verdrehend und corrumpierend sich an solche Männer heranzuwagen und sie zu stürzen sucht.“30
Neben der Empörung über die Behandlung Stoeckers, die er ganz in Stoeckerscher Manier dem Judentum anlastete, das für ihn hinter „Fortschrittlern“ und Sozialdemokraten steckte, zeigt sich an diesem Brief zweierlei: Erstens kannte Wilhelm Stoecker offensichtlich nicht näher, sondern seine Frau bildete die Hauptquelle für das Bild, das Wilhelm von Stoecker und dessen Wirken hatte. Zweitens war das, was Wilhelm an Stoecker lobte, dessen praktisches, volksmissionierendes Christentum und ganz eng damit verbunden dessen Funktion als Propagator der Monarchie. Religiöse 28
Vgl. Frank, S. 130–143. Vgl. Huber/Huber, Staat und Kirche III, S. 600–604; vgl. Frank, S. 146–147. 30 Prinz Wilhelm an Kaiser Wilhelm I., 5.8.1885: GStA, BPH Rep. 53 K Lit. P Nr. 13, Bl. 18–21. 29
III. Stoecker und Bismarck
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und politische Wirkung und Funktion Stoeckers gingen für Wilhelm so sehr ineinander über, daß er meinte, Stoecker habe durch die Arbeit der Stadtmission die Arbeiterschaft für die Monarchie und gegen Liberalismus und Sozialismus gewonnen.31 Überhaupt geht Prinz Wilhelm in diesem Brief wie selbstverständlich davon aus, daß nationale Politik, Christentum und Monarchie zusammengehören und eine Einheit bilden. Stoecker selbst erfuhr durchaus, wem er den Verbleib im Amt zu verdanken hatte; der Öffentlichkeit blieb Wilhelms Parteinahme aber verborgen.32 Die diskutierte die Frage, ob der zukünftige Kaiser etwa zu den „evangelischen Windthorsten“33 und ihrer Partei gehöre, erst Ende 1887 nach der sogenannten Walderseeversammlung. Alfred Graf Waldersee gehörte ebenfalls zur orthodox-protestantischen Rechten und hatte den Prinzen Wilhelm bereits 1885 maßgeblich bei dessen erster und erfolgloser religiös motivierter politischer Aktion – im Namen christlicher Sittlichkeit gegen Luxus und Glücksspiel im „Unionsclub“ des preußischen Offizierskorps – unterstützt.34 Am 28. November 1887 lud Waldersee etwa vierzig Angehörige des Adels zu einer Besprechung der Arbeit der Berliner Stadtmission ein, zu denen die Hofprediger Kögel und Stoecker ebenso gehörten wie Prinz Wilhelm.35 Trotz des informellen Charakters der Versammlung löste Wilhelms gemeinsames Auftreten mit Stoecker eine erbitterte Pressedebatte über deren politische Bedeutung aus. Ein Problem war dabei, daß Wilhelms Rede, die 31
Der Hinweis auf die „60.000 Arbeiter“ bezieht sich einerseits auf die Arbeit der Stadtmission, andererseits aber zweifellos auch auf Stoeckers in Berlin gehaltene Volksreden; Walter Frank verzeichnet allein für die zwischen März 1880 und Februar 1881 von Stoecker gehaltenen großen Reden eine Zuhörergesamtzahl von über 20.000: vgl. Frank, S. 126. Noch kurz vor seinem Tod soll Wilhelm I. übrigens, wahrscheinlich in Erinnerung an den Brief seines Enkels, einem General gesagt haben, Stoeckers Berliner Bewegung habe doch immerhin 50.000 Stimmen für die Konservativen gewonnen: vgl. Frank, S. 146. 32 Stoecker schrieb 1895, der Brief „einer hohen Persönlichkeit“ habe das Umdenken Wilhelms I. in dieser Frage bewirkt: Stoecker, Dreizehn Jahre, S. 44–45; und Walter Frank weist darauf hin, daß sich um diese Angelegenheit herum ein kurzer Briefwechsel entspann: Stoecker hatte, von „Dona“ ermutigt, dem Prinzenpaar über Freiherrn von Mirbach seine Aufsatzsammlung Christlichsozial zukommen lassen, und Wilhelm wiederum hatte sich über Major Krosigk herzlich dafür bei Stoekker bedankt. Vgl. Frank, S. 143–147. Benner leitet daraus eine intensive Beschäftigung Wilhelms mit der Weltanschauung Stockers ab und behauptet zudem, daß Wilhelm sich diese Weltanschauung zu eigen gemacht habe: vgl. Benner, S. 82–91. Dafür gibt es aber letztlich keinen Beleg. 33 Bismarck, Erinnerung und Gedanke, S. 556. 34 Siehe dazu Röhl, Jugend, S. 494–516. Siehe auch den Brief Wilhelms an Kaiserin Augusta vom 27.6.1886: GStA, BHP Rep. 53 J Lit P Nr. 14. 35 Vgl. Kupisch, Zwischen Dom und Gedächtniskirche, S. 9. Vgl. auch Stoeckers Darstellung in Stoecker, Dreizehn Jahre, S. 3–4.
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er auf der Versammlung gehalten hatte, nicht im Originalwortlaut überliefert wurde, sondern nur in den die Gedanken der Rede zusammenfassenden Erinnerungen der übrigen Teilnehmer. Im offiziösen Bericht der Kreuzzeitung vom 2.12.1887 hieß es zusammenfassend, Wilhelm habe gesagt, „daß gegenüber den grundstürzenden Tendenzen einer anarchischen und glaubenslosen Partei der wirksamste Schutz von Thron und Altar in der Zurückführung der glaubenslosen Massen zum Christenthum und zur Kirche und damit zur Anerkennung der gesetzlichen Autorität und der Liebe zur Monarchie zu suchen sei. Der christlich-soziale Gedanke sei deshalb mit mehr Nachdruck als bisher zur Geltung zu bringen, und die Stadtmission, nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen großen Städten, welche dieses segensreiche Werk bisher in erster Reihe gefördert habe, bedürfe daher einer kräftigeren Unterstützung, als bisher, seitens aller christlich und monarchisch gesinnten Elemente, ohne Unterschied der Parteien.“36 Freiherr von Mirbach, einer der Teilnehmer der Versammlung, faßte die Rede Wilhelms ausführlicher, die Grundgedanken stärker ausführend zusammen: „In den großen Volksmassen, namentlich der großen Städte, nehmen die UmsturzIdeen immer mehr überhand. Gesetze oder Gewaltmaßregeln sind dagegen nicht ausreichend. Der wirksamste Schutz für Thron, Altar und Vaterland bestehe darin, die der Kirche entfremdeten Massen zum Christenthum und zur Kirche zurückzuführen. Dazu müsse der christlich-sociale Gedanke mehr Ausbreitung gewinnen. Durch die Verkündigung und Bethätigung des Evangeliums müssen wir uns besonders der armen verwahrlosten Massen annehmen. Die Kirche ist die Macht, die hier hauptsächlich mit dauerndem Erfolge arbeiten kann und muß. Da aber die Kirche vorläufig keine ausreichende Macht in den großen Volksmassen besäße, so müßten nicht nur in Berlin, sondern in allen großen Städten Stadtmissionen und ähnliche Werke begründet und dauernd unterstützt werden. Dazu aber müßten sich alle treuen Männer ohne Unterschied der kirchlichen und politischen Parteistellung vereinigen und in gegenseitigem Vertrauen zusammenarbeiten zu einem nachhaltigen Widerstande gegen die Sozialdemokratie und den Anarchismus, die sich in immer gefahrdrohenderer Weise organisierten. Somit werde eine Hebung der großen Volksmassen nicht nur kirchlich und moralisch, sondern auch politisch stattfinden. Bisher sei dafür nicht genug geschehen; es fehle vor Allem ein vereintes, planmäßiges Vorgehen. Es freue ihn, daß gerade in letzter Zeit hier in Berlin viele ähnliche gute Bestrebungen hervortreten. Aber man möge sich vor Zersplitterung der guten Kräfte hüten, wozu man in der evangelischen Kirche neige. Wir brauchen eine zielbewußte Arbeit mit vereinten Kräften aller Gutgesinnten der verschiedenen Parteien, mit gegenseitiger Nachsicht und Liebe.“37
Der Inhalt der Rede stand ganz in der Linie, die Wilhelm auch schon im Brief an seinen Großvater vertreten hatte: Das Christentum sei ein wichti36
Offiziöser Bericht der Neuen Preußischen Zeitung (Kreuz-Zeitung), 2.12.1887: Huber/Huber, Staat und Kirche III, Nr. 244, S. 607. 37 Rede Wilhelms bei der Walderseeversammlung, 28.11.1887, nach Ernst von Mirbach: Huber/Huber, Staat und Kirche III, Nr. 245, S. 608–609.
III. Stoecker und Bismarck
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ges politisches Instrument für die Monarchie und gegen die Sozialdemokratie, und um es effektiv zu nutzen sei eine Förderung und Verstärkung derjenigen Tätigkeit nötig, die die Stadtmission und mit ihr die ganze christlichsoziale Bewegung bereits betreibe. Damit hatte Wilhelm so deutliche Sympathien für Stoeckers politisch-religiöse Tätigkeit bekundet, daß die linke und liberale Presse aufschreckte. Aber auch Bismarck sorgte sich um die politische Positionierung des Prinzen Wilhelm, zumal dieser nach der Versammlung gegenüber Bismarcks Sohn Herbert erklärte, Stoecker habe „doch etwas von Luther“38. Zudem erkannte Bismarck völlig richtig, daß Waldersee und der orthodox-konservative Kreis um den Kreuzzeitungsredakteur Hammerstein das Treffen inszeniert hatten, um sich bei Wilhelm politisch gegen Bismarck ins Spiel zu bringen.39 Bismarck ließ deshalb die von ihm kontrollierten Presseorgane ebenfalls die Sorge äußern, Wilhelm könne sich mit einer ungünstigen politischen Richtung gemein machen; um diesen Eindruck zu vermeiden, müsse Prinz Wilhelm die Dinge schnellstmöglich klarstellen.40 Wilhelm wiederum erkannte den Wink und wandte sich am 21.12.1887 mit einem Brief an Bismarck, in dem er klarstellen wollte, daß die Versammlung und seine Rede keinerlei politischen Sinn und keinerlei politische Bedeutung hätten. Die ganze Versammlung sei überhaupt nur dadurch zustande gekommen, daß eine Reihe von geplanten Hilfsaktionen der Stadtmission hätte abgesagt werden müssen und daher der Plan zu einem Aufruf zu einer großen Armenkollekte gefaßt worden sei. Um diese Aktion vorzubesprechen, hätten Wilhelm und seine Frau zu besagter Versammlung eingeladen: „Ich legte dort den Herren meine Absichten ans Herz und betonte, daß es mir von größtem Interesse sei, bei dieser Arbeit christliche Liebe, Leute verschiedener politischer Parteien zu vereinen, um dadurch jeden politischen Gedanken fern zu halten und auf diese Weise möglichst viele verschiedene gute Elemente zu ge38
Bismarck, Erinnerung und Gedanke, S. 543. Vgl. Kupisch, Zwischen Dom und Gedächtniskirche, S. 12–15. Stoecker selbst fühlte sich und die Walderseeversammlung in dieser Hinsicht von Bismarck mißverstanden: Das Treffen sei nicht von der Stadtmission, sondern vom Hof initiiert worden, und überhaupt sei es tragisch, daß Bismarck nicht verstanden habe, welche Dienste die Hochkonservativen ihm hätten leisten können: Vgl. Stoecker, Dreizehn Jahre, S. 3–5. Ob Stoecker naiv war oder die Dinge im Nachhinein bewußt anders darstellte: an der politischen Absicht der Hochkonservativen mit der Walderseeversammlung ist nicht zu zweifeln. 40 Vgl. Frank, S. 167–170; vgl. Kupisch, Zwischen Dom und Gedächtniskirche, S. 10; vgl. Stoecker, Dreizehn Jahre, S. 4–5. Daß Bismarck im Nachhinein behauptete, mit diesen Artikeln, die in der Norddeutschen Zeitung erschienen, nichts zu tun zu haben, ist so verständlich wie durchsichtig. (vgl. Bismarck, Erinnerung und Gedanke, S. 544.) 39
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C. Politisch-theologische Prägungen
meinsamer christlicher Arbeit anzufeuern. Daß es gerade mir in meiner schwierigen, verantwortungsvollen und dornenvollen Lage daran gelegen sein mußte, einer solchen Sache keinen politischen Anstrich zu geben, versteht sich doch wohl von selbst. Auf der anderen Seite aber bin ich davon durchdrungen, daß eine Vereinigung dieser Elemente zu dem genannten Zweck ein anzustrebendes Ziel ist, welches das wirksamste Mittel zur nachhaltigen Bekämpfung der Socialdemokratie und des Anarchismus bietet. Die in den einzelnen großen Städten des Reichs bereits bestehenden Stadtmissionen scheinen mir dazu die geeigneten Werkzeuge.“ Dazu sollten die Stadtmissionen gleichrangig verbunden werden, damit nicht Stoecker an der Spitze stehe, der trotz „aller anerkennenswerten Leistungen [. . .] für Monarchie und Christentum“ aus Rücksicht auf die öffentliche Meinung in die zweite Reihe gestellt werden müsse, damit deutlich werde, daß das geplante Werk „ein farbloses, nicht politisches ist [. . .]. Mich beseelt persönlich ja nur der so oft ausgesprochene Wunsch Sr. Majestät, die irregehenden Volksmassen durch gemeinsame Arbeit aller guten Elemente jeden Standes und jeder Partei auf dem Gebiete christlicher Thätigkeit dem Vaterland wiederzugewinnen, eine Absicht, die ja auch von Ew. D. so umständlich vertreten wird.“41
Wilhelm glaubte offensichtlich, daß Bismarck den Zweck der Versammlung wirklich nur falsch verstanden habe und daß man bei genauer Prüfung des Sachverhaltes gar nicht auf die Idee kommen könne, mit der Versammlung sei ein politischer Zweck verbunden. Dabei betonte Wilhelm diesen politischen Zweck ja selbst, wenn er zum wiederholten Male auf die intendierte Bekämpfung von Sozialdemokratie und Anarchismus hinwies. Anscheinend war dieses Ziel für Wilhelm so selbstverständlich, daß er es gar nicht als eigenes politisches Ziel erkannte. Stattdessen glaubte er, der öffentliche Widerspruch richte sich allein gegen eine prominente Teilnahme Stoeckers, und mit dessen Zurückstellung sei das Problem erledigt. Diese Verkennung der politischen Implikationen seines Tuns zeigt deutlich, wie sehr religiöse und politische Auffassungen bei Wilhelm selbstverständlich Hand in Hand gingen. Bismarck erkannte die damit verbundene Gefahr für den eigenen Standpunkt sofort und schrieb Wilhelm am 6.1.1888 einen ausführlichen Antwortbrief, in dem er grundsätzlich davor warnte, Bedeutung und Wirksamkeit der Religion für das Politische zu überschätzen und beides ineinander übergreifen zu lassen. Es gehe in der vorliegenden Sache nicht nur darum, daß Wilhelm Gefahr laufe, mit einer bestimmten politischen Partei identifiziert zu werden, sondern auch um die problematische und niemals eindeutige Beziehung, die die Religion zur Politik habe: „Der nationale Gedanke ist auch den Social- und anderen Demokraten gegenüber [. . .] stärker als der christliche. Ich bedauere es, sehe aber die Dinge, wie sie sind. Die fe41 Prinz Wilhelm an Otto von Bismarck, 21.12.1887: Bismarck, Erinnerung und Gedanke, S. 544–547. Auch abgedruckt in Huber/Huber, Staat und Kirche III, Nr. 246.
III. Stoecker und Bismarck
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steste Stütze der Monarchie suche ich aber in beiden nicht, sondern in einem Königthum, dessen Träger entschlossen ist, nicht nur in ruhigen Zeiten arbeitsam mitzuwirken an den Regierungsgeschäften des Landes, sondern auch in kritischen lieber mit dem Degen in der Faust auf den Stufen des Thrones für sein Recht kämpfend zu fallen, als zu weichen. Einen solchen Herrn läßt kein deutscher Soldat im Stich“42. Am ehesten sei also der nationale, nicht der christliche Gedanke der Monarchie förderlich, aber entscheidend sei die Haltung des Monarchen selbst. Überhaupt übten Priester einen eher hinderlichen als förderlichen Einfluß für die Monarchie aus, weshalb eine Verstrickung eines zukünftigen Monarchen in kirchliche Sonderaktionen problematisch sei. Stoecker habe „nur den einen Fehler als Politiker, daß er Priester ist, und als Priester, daß er Politik treibt“ und überhaupt sei der „evangelische Priester [. . .], sobald er sich stark genug dazu fühlt, zur Theokratie ebenso geneigt wie der katholische, und dabei schwerer mit ihm fertig zu werden [!], weil er keinen Papst über sich hat. Ich bin ein gläubiger Christ, aber ich fürchte, daß ich in meinem Glauben irre werden könnte, wenn ich, wie der Katholik, auf priesterliche Vermittlung zu Gott beschränkt wäre.“ Dringend sei davon abzuraten, „Sich vor der Thronbesteigung schon die Fessel irgend welcher politischen oder kirchlichen VereinsBeziehungen aufzuerlegen.“43 Wilhelm antwortete Bismarck am 14.1.1888, ohne in der Sache nachzugeben: „Ich darf Ew. Durchlaucht versichern, daß ich mir alle Mühe gegeben habe, Ihren Standpunkt auch zu dem meinigen zu machen. Vor Allem erkenne ich voll und ganz die Notwendigkeit an, mich der nahen Berührung geschweige der Identifizierung mit bestimmten politischen Parteiströmungen fern zu halten. Dies ist aber auch von jeher mein Prinzip, nach dem ich streng gehandelt und gelebt, gewesen. Ich vermag jedoch beim besten Willen mich nicht davon zu überzeugen, daß in der Förderung, welche ich dem Streben der Stadtmission zugewendet habe, eine politische Parteinahme irgend welcher Art zu erkennen ist. Dieselbe war, ist und soll, soviel an uns liegt, auch in alle Zukunft bleiben ein einzig und allein auf das geistige Wohl und Wehe der armen Elemente gerichtetes Liebeswerk.“ Um der Fehlannahme dem Boden zu entziehen, es handele sich doch um eine politische Bestrebung, werde er aber veranlassen, daß Stoecker in einer ihn nicht kompromittierenden Form aus der Leitung der Stadtmission entfernt werde.44 42 Otto von Bismarck an Prinz Wilhelm, 6.1.1888: Bismarck, Erinnerung und Gedanke, S. 550–552. Auch abgedruckt in Huber/Huber, Staat und Kirche III, Nr. 247. 43 Otto von Bismarck an Prinz Wilhelm, 6.1.1888: Bismarck, Erinnerung und Gedanke, S. 552–555. Auch abgedruckt in Huber/Huber, Staat und Kirche III, Nr. 247. 44 Prinz Wilhelm an Otto von Bismarck, 14.1.1888: Bismarck, Erinnerung und Gedanke, S. 557. Auch abgedruckt in Huber/Huber, Staat und Kirche III, Nr. 248.
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C. Politisch-theologische Prägungen
Damit versprach Wilhelm genau das, was er Bismarck bereits im ersten Brief angeboten hatte: die Entfernung Stoeckers aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Ansonsten zeigte er wenig Verständnis für die Warnungen Bismarcks vor einer Verkirchlichung der Politik wie vor einer Indienstnahme des Christentums für politische Zwecke. Zu meinen, Wilhelm sei hier gegenüber Bismarck zwar schneidig aufgetreten, habe sich ihm aber in der Sache unterworfen, verkennt deshalb den Kernpunkt der Auseinandersetzung.45 Zwar merkte selbst Bismarck an, daß immerhin in der Folge die Stadtmission und die ihr nahestehenden Vereinigungen auch für liberalere und mittelparteiliche Politiker und Geistliche geöffnet wurden,46 aber eine entsprechende Öffnung hatte Wilhelm ja auch bereits im ersten Brief an Bismarck versprochen. Wilhelm hatte also schon vor der brieflichen Auseinandersetzung mit Bismarck eingesehen, mit dem Auftritt auf der Walderseeversammlung einen politischen Fehler begangen zu haben. Deshalb ging es auch Bismarck, so sehr er diese Einsicht begrüßte, weniger darum, sondern um ein seiner Meinung nach bestehendes grundsätzliches Problem, nämlich um Wilhelms eigene politisch-religiöse Position einer Indienstnahme des Christentums für die Stärkung einer favorisierten Verfassungsform. Bismarck sah darin aber keineswegs etwa einen Mißbrauch der Religion – diese Frage beschäftigte ihn gar nicht – sondern war der Auffassung, das Christentum könne die entsprechende Aufgabe nicht zuverlässig erfüllen. Was hier bei Bismarck anklang, hatte viel zu tun mit einer vereinfachten Form der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre in dem Sinne, daß Geistliches und Weltliches, Religion und Politik in der Praxis streng voneinander zu trennen seien. Begründet wurde diese Auffassung von Bismarck aber nicht systematisch oder gar theologisch, sondern ganz pragmatisch: von einem geistlichen Einfluß auf die Politik versprach sich Bismarck keinen Vorteil für die eigene politische Position. So sehr Wilhelm sich bemühte, den Reichskanzler in der Stoecker-Affäre zufriedenzustellen, an diesem grundsätzlichen Punkt konnte er Bismarck nicht folgen, weil das den Kern seines politisch-religiösen Selbstverständnisses aufgehoben hätte. Dabei kam Wilhelm Bismarck letztlich sehr viel weiter entgegen, als vielfach angenommen wird: Zunächst wurde eben nicht nur die Stadtmission und die sich darum bildenden evangelisch-sozialen Vereine so umgestaltet, daß sie ein breiteres kirchliches Parteienspektrum abdeckten, sondern Wilhelm selbst spielte in dem ganzen Vorhaben gar keine Rolle mehr, und er distanzierte sich sogar zumindest halboffiziell von 45
Diese Position vertritt Frank, S. 175. Dagegen haben Ernst Rudolf Huber und Wolfgang Huber richtig gesehen, daß Wilhelm faktisch nicht nachgab, sondern an seiner Position festhielt: Huber/Huber, Staat und Kirche III, S. 604–605. 46 Vgl. Bismarck, Erinnerung und Gedanke, S. 558.
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Stoecker. Er selbst äußerte sich in der Sache erst sehr viel später; in der Hochphase der Debatte gab es gar keine Stellungnahme, was unter anderem zu wilden Pressespekulationen darüber führte, ob der Kaiser eigentlich Antisemit sei oder nicht.47 Am 4.10.1888 hielt nun der freikonservative Abgeordnete Graf Douglas eine Rede über Wilhelm, der inzwischen die Kaiserwürde erhalten hatte, in der es hieß, daß „die Beziehungen, welche der Kaiser Wilhelm zu dem Hofprediger Stoecker unterhalten hat, nur sehr vorübergehende waren, die sich lediglich auf jene echt humanen, weil echt christlichen Bestrebungen behufs praktischer Hilfeleistung bei den unteren Klassen ihrer Notlage gegenüber beschränkt haben, welche jeder christlich denkende und das Volk liebende Mann auf das wärmste begrüßen muß und für die dem Hofprediger Stoecker rückhaltloser Dank und Anerkennung zu zollen ist. Darüber hinaus hat keine Verbindung mit dem Hofprediger Stoecker bestanden, und am wenigsten huldigt der Kaiser den extremen politischen und konfessionellen Parteianschauungen, welche man an den Namen dieses Abgeordneten zu knüpfen pflegt.“48 Halboffiziellen Charakter hatte die Rede deshalb, weil Wilhelm II. ihre Veröffentlichung ausdrücklich genehmigt hatte. Und auch ganz offiziell distanzierte der Kaiser sich von der ultrakonservativen Presse und deren Agitation gegen Bismarck, indem er im Reichsanzeiger erklärte: „Seine Majestät gestatten keiner Partei, sich das Ansehen zu geben, als besäße sie das kaiserliche Ohr.“49 Wilhelm besuchte zwar – ob demonstrativ oder nicht – Stoeckers Weihnachtsgottesdienst 1888 im Berliner Dom, aber schon in der ersten Hälfte des Jahres 1889 nutzte Wilhelm II. einen Streit zwischen Stoecker und dem Geistlichen Witte, den letzterer vom Zaun gebrochen hatte, um Stoecker einen Maulkorb zu verpassen. Am 20.3. ließ er den preußischen Evangelischen Oberkirchenrat (EOK) per Erlaß wissen: „Ich besorge, daß auch in Zukunft ähnliche Vorkommnisse nicht ausbleiben werden, wenn der Hof- und Domprediger Stoecker nicht die Leitung der sogenannten Berliner Bewegung niederlegt; denn es liegt in der Natur der Dinge begründet, daß die Rolle eines politischen Agitators denselben immer wieder mit seiner allgemeinen Pflicht als Geistlicher und mit seiner besonderen Pflicht als Mein Hof47 Das „Deutsche Tageblatt“ hatte am 15.12.1887 gemeldet, Prinz Wilhelm habe gesagt, er sei kein Antisemit; die „Konservative Korrespondenz“ erklärte das prompt für eine Falschmeldung. Vgl. Frank, S. 171–172. 48 Rede vom 4.10.1888, Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 474, 7.10.1888. Abgedruckt in: Frank, S. 186–187. Siehe zu der Rede auch Röhl, Jugend, S. 32–37, der die Rede allerdings als von Bismarck initiierten Versuch interpretiert, das monarchische Prinzip durch die „romantische Fiktion eines wirklich regierenden Monarchen“ zu stärken. 49 Abgedruckt in Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz I, S. 352, Anm. 2. Vgl. dazu auch Clark, Wilhelm II., S. 58.
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prediger in Conflikt bringen wird. Ich bin aber entschlossen, nicht zu dulden, daß fernerhin einer Meiner Hofprediger durch seine öffentliche Thätigkeit die Würde des geistlichen Amtes kompromittiert und die Rücksichten gegen Meine Person verletzt. Die nächste Ausschreitung auf diesem Gebiet müßte die Entfernung des Stoecker aus seinem Amte zur Folge haben. Einen solchen Ausgang würde Ich beklagen, teils im Interesse Stoeckers selbst, teils um gewissen Kreisen seiner Gegner nicht einen solchen Triumph zu gönnen. Dem wird aber mit Aussicht auf Erfolg kaum anders vorgebeugt werden können als durch den Rücktritt Stoeckers von der Leitung der christlichsozialen Partei. Es wird daher zu erwägen sein, ob Stoecker im Anschluß an den jetzigen Disziplinarfall nicht aufzufordern ist, seine Thätigkeit innerhalb der christlichsozialen Bewegung einzustellen.“50
Mit diesem Erlaß hatte Wilhelm Stoecker erstens aufgefordert, seine politischen Ämter niederzulegen – öffentliche politische Äußerungen hatte er bereits einen Monat vorher verboten und die Beteiligung an Stoeckers eigener Zeitschrift Das Volk sollte er ihm einen Monat später verbieten.51 Zweitens aber hatte er sich Bismarcks Auffassung von der Unvereinbarkeit zwischen geistlichem und politischem Auftrag angeschlossen. Stoecker erklärte sich bereit, allen Aufforderungen und Verboten nachzukommen, in der Illusion, der Kaiser sei durch gegenwärtige politische Umstände zu harten Maßnahmen gegen ihn gezwungen und werde sich wieder an ihn wenden, sobald die Umstände andere wären.52 Tatsächlich nutzte Wilhelm II. bereits die nächste Gelegenheit, um Stoekker aus dem Amt zu entfernen. Vom Vorstoß des Kaisers auf sozialpolitischem Gebiet im Februar 1890 ermutigt, hielt Stoecker im Oktober auf dem konservativen Parteitag in Baden eine Rede, in der er gegen Judentum und Liberalismus polemisierte. Besonders letzteres gefiel dem badischen Großherzog nicht, der die Sache dem Kaiser meldete, der wiederum eine Disziplinaruntersuchung des EOK veranlaßte. Parallel dazu brüskierte Wilhelm II. Stoecker, indem er ihn in einer pfarramtlichen Entscheidung überging, was Stoecker dazu bewog, seinen Rücktritt anzubieten. Stoecker tat dies erneut in Verkennung seines wahren Standes bei Wilhelm und ging wohl tatsächlich davon aus, daß es sich eigentlich um ein Mißverständnis handele. Wilhelm II. aber, auf die indirekte Frage in Stoeckers Entlassungsgesuch gar nicht eingehend, ob ein Vertrauensverlust vorliege, bewilligte die Pensionierung sofort und kurz angebunden am 25.11.1890.53 50 Erlaß an den EOK vom 20.3.1889: Huber/Huber, Staat und Kirche III, Nr. 253, S. 625. 51 Vgl. Huber/Huber, Staat und Kirche III, S. 623–628; vgl. Frank, S. 193–198. 52 Siehe Stoecker, Dreizehn Jahre, S. 47–48. 53 Vgl. Huber/Huber, Staat und Kirche III, S. 629–631; vgl. Frank, S. 212–224. Abschiedsurkunde und Pensionsbewilligung für Stoecker: GStA, VI. HA Nl Stoekker I 1 Bd. c, Bl. 9–10. Was den bzw. die beiden Anlässe der Entlassung Stoeckers betrifft, haben übrigens Stoecker und Wilhelm II. im Nachhinein beide recht, wenn
III. Stoecker und Bismarck
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Erst nachdem Wilhelm II. selbst sozialpolitisch nicht mehr sonderlich engagiert war, nutzte er die Gelegenheit eines erneuten Zwistes zwischen Stoecker und der Deutschkonservativen Partei, der dieser sich inzwischen angeschlossen hatte, um sich auch öffentlich gegen ihn zu äußern. Ein Telegramm Wilhelms II. an Hinzpeter vom 28.2.1896, das mit kaiserlicher Genehmigung am 15.5. in der Post veröffentlicht wurde, lautete: „Stoecker hat geendet, wie ich es vor Jahren vorausgesagt habe. Politische Pastoren sind ein Unding. Wer Christ ist, der ist auch sozial, christlich-sozial ist Unsinn und führt zu Selbstüberhebung und Unduldsamkeit, beides dem Christentum schnurstracks zuwiderlaufend. Die Herren Pastoren sollen sich um die Seelen ihrer Gemeinden kümmern, die Nächstenliebe pflegen, aber die Politik aus dem Spiele lassen, dieweil sie das gar nichts angeht.“54
Das war nun die stärkste Angleichung an Bismarcks Position, der davon allerdings keinen Nutzen mehr hatte, da er von Wilhelm II. noch vor Stoekker anläßlich sozialpolitischer Meinungsverschiedenheiten aus dem Amt entlassen worden war. Die Äußerung gehört in diejenige politische Phase, in der der Kaiser mit Hilfe des Freiherrn von Stumm ein Bündnis von agrarischen und industriellen Konservativen anstrebte und sozialpolitisch eine Politik des „Klassenkampfes von oben“55 verfolgte. Trotz dieser nachträglichen Annäherung an Bismarck und trotz des faktischen Widerspruchs zur eigenen Rede auf der Walderseeversammlung – damals sollte der christlich-soziale Gedanke gestärkt werden, heute war christlich-sozial Unsinn – sind aber die Unterschiede zu Bismarcks Position und die innere Kontinuität von Wilhelms Äußerungen wichtiger. Bismarck wie Wilhelm wetterten gegen politische Pastoren, aber während Bismarck davon negative Auswirkungen auf das politische Gebiet befürchtete, sorgte Wilhelm II. sich um den geistlichen Auftrag des Pastors, der unter dessen politischem Engagement leide und damit das Christentum insgesamt diskreditiere. Bismarck hatte Wilhelm davor gewarnt, daß evangelische Pastoren genau wie katholische letztlich zu theokratischen Vorstellungen neigten und man sich deshalb nicht auf ein politisches Bündnis mit Geistlichen einlassen dürfe; Wilhelm II. warnte dagegen die Pastoren, durch politische Agitation ihre Amtspflichten zu verraten. Diese Unterschiede in der Begründung der Ablehnung politischer Pastoren weisen auf zwei Dinge hin: Zum einen blieb Wilhelms grundsätzliche Stoecker dessen Nichtbeachtung bei der Besetzung der Stellvertretung der Oberhofpredigerstelle nennt, Wilhelm II. aber Stoeckers „Hetzrede gegen die [. . .] Liberalen“: Stoecker, Dreizehn Jahre, S. 51–52; Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten, S. 26–27. 54 Telegramm Wilhelms II. an Georg Ernst Hinzpeter vom 28.2.1896, Die Post vom 15.5.1896. Abgedruckt in Huber/Huber, Staat und Kirche III, Nr. 264, S. 635; abgedruckt auch in Frank, S. 276. 55 Frank, S. 276.
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C. Politisch-theologische Prägungen
sozialpolitische Position trotz aller inneren Widersprüchlichkeiten relativ stabil und immer von derjenigen Bismarcks unterschieden. Natürlich handelt es sich um einen faktischen Widerspruch, den christlich-sozialen Gedanken zuerst als lohnenswert, dann aber als unsinnig zu bezeichnen, und natürlich ist es auch faktisch widersprüchlich, einem Vorhaben politische Bedeutung abzusprechen, sich gleichzeitig aber eine Wirkung gegen Sozialdemokratie und Anarchie zu erhoffen. Für Wilhelm II. selbst mußte die eigene Position aber nicht als widersprüchlich erscheinen. Denn auch in dem Hinzpetertelegramm hatte er den christlich-sozialen Gedanken noch als positiv dargestellt – „Wer Christ ist, der ist auch sozial“ – und damit angedeutet, daß er die christlich-soziale Bewegung nur als von Geistlichen getragene politische Bewegung ablehnte. Das hatte er bei der Walderseeversammlung neun Jahre zuvor zwar noch anders gesehen, war in diesem Punkt aber bereits zurückgerudert, bevor er sich überhaupt brieflich an Bismarck gewandt hatte. Neu war in dem Hinzpeter-Telegramm dann eigentlich nur die Abstraktion des Problems von Stoecker und auf Pastoren insgesamt. Das war aber nicht die Hauptstreitfrage zwischen Bismarck und Wilhelm, zumal Bismarcks Brief ja nicht nur grundsätzlichen Charakter hatte, sondern auch von der Sorge getragen war, die Gruppe um Waldersee könnte Bismarck die eigene Position streitig machen. Wilhelm II. hat daher im Rückblick aus seiner Sicht durchaus richtig gesehen, daß der Kern der Auseinandersetzung mit Bismarck die unterschiedliche Vorstellung von Politik war, und daß Bismarck den von Wilhelm favorisierten sozialpolitischen „Weg des Ausgleichs“56 nicht mitgehen wollte. Das weist auf den zweiten Punkt, der an der Auseinandersetzung zwischen Bismarck und Wilhelm und überhaupt an der Stoecker-Affäre erkennbar wird: das unterschiedliche Verständnis von und die unterschiedliche Befähigung zur Politik. Für Bismarck war in der Sache nicht nur sofort klar, daß es sich um Bestrebungen handelte, die ihm politisch nicht zusagten, sondern er sah auch sofort die dahinter stehende Absicht einer politischen Intrige. Wilhelms Beteuerungen, davon könne keine Rede sein, die ganze Veranstaltung sei dem Wesen nach unpolitisch und er selbst fühle sich auf keinen Fall einer einzigen, noch dazu einer so einseitigen politischen Partei verbunden, waren so ehrlich wie naiv. Wilhelms anschließendes Vorgehen gegen Stoecker erscheint daher auch nicht etwa als Ausfluß späterer Erkenntnis, sondern als Folge der öffentlichen Empörung. Selbst als er Bismarcks Standpunkt übernommen hatte, daß Pastoren sich nicht politisch betätigen sollten, formulierte er dies als gewissermaßen moralische Mahnung an die Pastoren, ihren geistlichen Auftrag nicht zu korrumpieren. 56 Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten, S. 4. Siehe zur kaiserlichen Sozialpolitik auch Kapitel D. III.
IV. Eulenburg
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Die Gutgläubigkeit war die Ursache dieser ersten politisch-theologischen Krise Wilhelms und führte diesen auch später immer wieder in politische Probleme hinein. Darüber hinaus ging es in dem Streit zwischen Wilhelm und Bismarck aber auch um einen inhaltlichen Dissens, der für die Trennung des Kaisers von seinem Reichskanzler vom Bedeutung werden sollte. Die hier exemplarisch ausgewählte Episode zwischen Wilhelm, Bismarck und Stoecker hat aber genau darin ihre prinzipielle Bedeutung, daß sie deutlich macht, daß und wie Grundentscheidungen Wilhelms II. von religiösen Haltungen bestimmt sind, und zudem darin, daß sie bereits politisch-theologische Bruchlinien aufzeigt, die auch später immer wieder von Bedeutung werden sollten: Bismarck hatte Wilhelm ja nicht nur vor dem Zugriff Geistlicher auf die Politik warnen wollen, sondern überhaupt vor einer Theologisierung der Politik. Wilhelm hatte letztlich im ersten Punkt auch nachgegeben, im zweiten aber nicht. Mit dem Satz, daß Christsein und Sozialsein selbstverständlich zusammengehöre, hatte er im Gegenteil weiterhin der Auffassung Ausdruck gegeben, daß religiöse Überzeugungen Gründe oder gar die Grundlage bilden für politische Überzeugungen. Im Falle seiner Sozialpolitik sollten es eben nicht die Pastoren sein, sondern der Monarch selbst, der – als Christ – politisch initiativ wurde. Daß Wilhelm II. auch in anderen Bereichen davon überzeugt war, daß der Herrscher politische und religiöse Verantwortung trage, ja daß beides ineinander übergehe, wird noch zu zeigen sein.
IV. Eulenburg 1886 lernte Wilhelm Graf Philipp zu Eulenburg-Hertefeld kennen, einen preußischen Diplomaten, der sich für Musik, Literatur und Religion bis zur Esoterik begeisterte. Eulenburgs „Liebenberger Kreis“ sollte zu Beginn des neuen Jahrhunderts Ziel einer skandalträchtigen Homosexualitätskampagne werden; doch vor allem in den 1890er Jahren gehörte Eulenburg zu den wichtigsten Freunden und Beratern Wilhelms II.57 Eulenburgs Rolle für die politisch-theologische Vorstellungswelt Wilhelms war vor allem deshalb bedeutsam, weil Eulenburg den Grund legte für Wilhelms zeitweise Vorliebe für Richard Wagners Musik und überhaupt für nordische Mythologie.58 Re57
Vgl. Clark, Wilhelm II., S. 108–112. Siehe auch Röhl, Jugend, S. 712–713. Vgl. Röhl, Aufbau, S. 221–224. Am 1.8.1888, also kurz nach der Thronbesteigung Wilhelms II., schrieb Eulenburg diesem ein Gedicht, indem er sich selbst als Skalden präsentierte, der Wilhelm als dem Meerkönig Hokan die Treue schwor: GStA, BPH Rep. 53 J Lit E Nr. 2 I, Bl. 127. Was die Begeisterung für Wagner betrifft, so geht aus dem Briefwechsel zwischen Wilhelm und Eulenburg hervor, daß letzterer ersten 1886 auf die Bayreuther Festspiele mitnahm: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz I, Nr. 88, S. 191–192. 58
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C. Politisch-theologische Prägungen
ligiös gehörte Eulenburg zur antikatholischen protestantischen Rechten und versuchte Wilhelm auch entsprechend zu beeinflussen; der allerdings fühlte sich dadurch nur in seiner Aversion gegen das Zentrum, nicht aber gegen die katholische Kirche als solche bestätigt.59 Interessant ist vor allem die Frage nach einem direkten religiösen oder theologischen Einfluß Eulenburgs auf Wilhelm, zumal Eulenburg selbst spiritistische Neigungen pflegte. John Röhl hat in diesem Zusammenhang eine These aufgestellt, die dem Spiritismus eine zentrale Rolle für das politischtheologische Selbstverständnis Wilhelms II. als Herrscher von Gottes Gnaden zuweist. Über dieses Selbstverständnis schreibt Röhl: „In der Vorstellungswelt Wilhelms verband sich ein verzerrtes borussisch-dynastisches Geschichtsbild mit einem spiritistisch-mystischen Pietismus zu einer Auffassung von seiner Stellung als alleinigem, von Gott auserwähltem Führer der Nation, die in dem Massenzeitalter des zwanzigsten Jahrhunderts, in dem er zu regieren bestimmt war, als lächerlich gelten müßte, wäre sie nicht für ein Volk mit einer jungen und noch nicht selbstsicheren politischen Kultur schlechterdings gefährlich gewesen. Durch dieses manichäische, pseudo-religiöse Element der ‚Muckerei‘ (so nannten die Zeitgenossen diese kleingeistige Religiosität), erhielt seine Monarchenideologie einen überirdischen, missionarischen, kreuzritterlichen Zug – er handelte ja im direkten Auftrag Gottes gegen eine Welt von ungläubigen Feinden –, der es ihm erlaubte, ja ihn verpflichtete, jeder Kritik zu trotzen.“60 Inwieweit Röhl hier inhaltlich ein angemessenes Bild von Wilhelms herrscherlichem Selbstverständnis zeichnet, soll in diesem Kapitel zunächst ausgeklammert werden; es wird in Kapitel D. einer genaueren Prüfung unterzogen. In den folgenden Ausführungen geht es lediglich um die Frage nach der Stichhaltigkeit von Röhls Spiritismusthese. Diese These besteht aus drei Elementen und lautet zusammengefaßt: 1. Wilhelm habe bereits vor der ersten Begegnung mit Eulenburg deutlich erkennbar spiritistische Neigungen gehabt. 2. Eulenburg habe diese Neigungen wesentlich verstärkt, gleichzeitig aber darauf hingewirkt, daß Wilhelm sie nicht öffentlich thematisierte. 3. Wilhelms Spiritismus sei ein zentrales Motiv für sein anachronistisches Gottesgnadentumsverständnis gewesen, nach welchem Wilhelm sich als persönlich von Gott ausgewählter Führer der deutschen Nation verstanden habe.61 59
Eulenburg hatte Wilhelm im Zusammenhang einer vom Zentrum nicht bewilligten Militärvorlage 1887 geschrieben: „Solange der deutsche Kaiser protestantisch ist, wird er der katholischen Kirche zu mißtrauen haben!“ (Eulenburg an Prinz Wilhelm, 17.1.1887: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz I, Nr. 103, S. 210.) Wilhelms Antwort enthielt entsprechend Vorwürfe an Windthorst und das Zentrum, aber keine gegen die katholische Kirche. (Prinz Wilhelm an Eulenburg, 11.2.1887: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz I, Nr. 105, S. 213. 60 Röhl, Jugend, S. 290.
IV. Eulenburg
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Für den ersten Teil der Spiritismusthese, die schon vor 1886 bestehenden spiritistischen Neigungen des Prinzen Wilhelm, liefert Röhl zwei Belege, nämlich die Beziehung Wilhelms zu Anna Görtz, der Mutter seines Schulfreundes Emil Görtz sowie die Begeisterung des 20-jährigen Wilhelm für das Buch Le Christ des Genfer Religionsphilosophen Ernest Naville. Der Kontakt zu Anna Görtz belege den Spiritismus bei Wilhelm deshalb, weil diese den Prinzen Wilhelm zum „Idealismus“ und „zu einer beinahe spiritistischen Auslegung des Protestantismus“ habe bekehren wollen.62 Um das zu erreichen, habe sie ihm im Herbst 1876 „schwärmerisch-religiöse“ Briefe geschrieben, deren „Mystizismus“ man an zwei Punkten erkenne:63 Ihr Sohn, so berichtete Anna Görtz, habe bei einem Treffen mit Wilhelm Die Glocken von Speyer gesungen, ohne zu wissen, daß gerade dieses Lied eine besondere Bedeutung für Wilhelm habe – dies, so Görtz, sei eine Fügung Gottes. In einem anderen Brief schrieb sie, in Wilhelm „eine Seele“ gefunden zu haben, die ihr nahe stehe.64 Diese von Röhl herangezogenen Briefe geben allerdings keinerlei Hinweis auf Spiritismus oder auch nur auf Beinahe-Spiritismus bei Anna Görtz, und noch weniger natürlich bei Wilhelm selbst, der von Röhl gar nicht zitiert wird. Was hier in Röhls These als Nähe zum Spiritismus charakterisiert wird, ist nichts weiter als etwas, das man landläufig vielleicht als Pietismus bezeichnen würde, als Alltagsfrömmigkeit, die in jedem Handeln und Geschehen die gütige Hand Gottes sieht. Mit Geisterglaube oder gar Geisterbeschwörungsglaube hat das nichts zu tun. Der zweite Beleg wiegt auf den ersten Blick schwerer. 1879 lieh Prinz Wilhelm von der Kaiserin Navilles Le Christ, das großen Eindruck auf ihn machte. Der badisch-großherzoglichen Tante schrieb er nach der Lektüre, das Buch habe ihm vieles bislang Unklare klar gemacht, und an die kaiserliche Großmutter selbst schrieb er: „Ich kann dir gar nicht beschreiben, wie es mich interessirt hat; ich bin ordentlich wie mit neuen Waffen zum Kampf gegen den Unglauben ausgerüstet. Denn Naville hat mir über eine Menge von Dingen wieder so viele neue Beweise und Eröffnungen geliefert, daß ich mich im Stande fühle von neuem mit den Gottesläugnern zu streiten.“65 61 Vgl. Röhl, Jugend, S. 258–262, S. 265–266, S. 289–290, S. 712–715, sowie Röhl, Aufbau, S. 221–224. 62 Röhl, Jugend, S. 258. 63 Röhl, Jugend, S. 260. 64 Anna Gräfin Görtz an Prinz Wilhelm, 17.10.1876 und Anna Gräfin Görtz an Prinz Wilhelm, 2.10.1876: GStA, BPH Rep. 53 J Lit. G Nr. 5. 65 Prinz Wilhelm an Luise Großherzogin von Baden, 9.8.1877: GStA, BPH Rep. 53 Nr. 36. Prinz Wilhelm an Kaiserin Augusta, 7.2.1879: GStA, BPH Rep 53 J Lit P Nr. 14a, Bl. 78.
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C. Politisch-theologische Prägungen
Laut Röhl wird in dem Buch, um das es geht, „der Spiritismus von der evangelischen Religionslehre abgeleitet, ja, als die profundeste Interpretation der christlichen Religion empfohlen“.66 Röhl nennt allerdings keinen Beleg für diese Charakterisierung, und in dem Buch selbst findet sich auch keinerlei Anhaltspunkt für die Einschätzung Röhls. Vielmehr handelt es sich bei dem Werk Navilles um ein ganz traditionell apologetisches Buch. In sieben Reden wird die positive zivilisatorische Wirkung der historischen Erscheinung Christi und des Christentums dargestellt. Diese Erscheinung befriedige Vernunft, Herz und Gewissen und habe politisch, sittlich und religiös die besten Folgen gehabt. Sein Anliegen zusammenfassend, schreibt Naville in der Schlußrede: „Ich habe Ihnen [. . .] das Werk, welches Christus in der Welt vollbrachte, vor Augen gestellt. Ich enthielt mich dabei, so viel wie möglich, außerhalb alles dessen, was wissenschaftliche Kritik anfechten kann. Ebenso enthielt ich mich aller speculativen und dogmatischen Erörterungen. Ich wollte Sie den Baum an seinen Früchten erkennen lassen.“67 Sowohl das Thema als auch die Methodik des Buches sind also solcherart, daß eine Behandlung, geschweige denn eine positive, des Spiritismus gar nicht zu erwarten wäre. Und tatsächlich taucht weder der Begriff „Geister“ noch die Erörterung der Frage einer Kommunikation mit diesen auf. Man könnte wohl durchaus die Frage erörtern, ob einzelne Aussagen des Buches Wilhelms politisch-theologischen Werdegang beeinflußt haben – etwa das Postulat einer strikten äußeren Trennung bei trotzdem prinzipieller innerer Bezogenheit von Religion und Politik aufeinander, oder auch in der vergleichsweise differenzierten Beurteilung der „jüdischen Frage“.68 Aber zu behaupten, Navilles Buch empfehle den Spiritismus als Schlüsselinterpreta66
Röhl, Jugend, S. 266. Naville, S. 195. Das Buch wird hier in der 1880 erschienenen deutschen Übersetzung zitiert. 68 Zur Frage des Verhältnisses von Religion und Politik schreibt Naville, die Trennung von geistlichen und weltlichen Belangen müsse schon aufgrund der sonst drohenden Entartungsgefahr christlicher Verantwortung streng aufrecht erhalten werden. Es sei nichts dagegen zu sagen, wenn politische Gesetze aus religiösem und sittlichem Geist erlassen würden, aber alles Darüberhinausgehende führe zu Zwang in religiösen Dingen, der unbedingt zu vermeiden sei. (Naville, 154–159) In bezug auf das Judentum schreibt Naville, daß dieses glücklicherweise volle Rechtgleichheit erreicht habe, daß den Christen aber geboten sei, den Juden die „Bruderhand“ zu bieten nach dem Motto: „Ihr habt den Heiligen und Gerechten getödtet, wir aber, da wir doch gehört hatten, wie er vom Marterholze herab für seine Mörder um Vergebung bat, wir, seine unwürdigen Jünger, haben die Hand nach euern Reichthümern ausgestreckt, wir haben euch verachtet, gehaßt und verfolgt. Unsere Verschuldung ist gleich groß. Demüthigen wir uns gemeinsam, Brüder, und erheben wir uns gemeinsam in der Liebe des Gekreuzigten, die aus zwei Völkern eines gemacht hat. Euch gebührt unter uns der Ehrenplatz des Erstgebornen der Familie; denn das Heil kommt von den Juden.“ (Naville, S. 231) In beiden Fällen wird man den Einfluß Navilles auf Wilhelm aber nicht überbewerten dürfen, da Wilhelm später nie wieder 67
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tion des Protestantismus, ist angesichts der Tatsache, daß der Spiritismus in dem Buch überhaupt nicht thematisiert wird, mehr als gewagt. Einen Beleg für spiritistische Neigungen Wilhelms vor der Begegnung mit Eulenburg 1886 gibt es also faktisch nicht. Was den zweiten Teil von Röhls These angeht, nämlich daß Eulenburg Wilhelm maßgeblich spiritistisch beeinflußt und gleichzeitig öffentliche Schweigsamkeit über das Thema empfohlen habe, so sehen die Belege allerdings sehr viel eindrucksvoller aus. Der Korrespondenz zwischen Wilhelm und Eulenburg ist jedenfalls zu entnehmen, daß Spiritismus im Zeitraum von August 1887 bis Juli 1889 immer wieder und im Februar 1891 vereinzelt Gesprächsthema war. Darüber hinaus existierten Gerüchte über spiritistische Neigungen Wilhelms II., die Ende 1893 in Journalistenkreisen kolportiert wurden. Diese Gerüchte sollten der politischen Ausschaltung Axel Freiherr von Varnbülers dienen, eines Mitglieds in Eulenburgs Liebenberger Kreis.69 Der wiederum war gar kein Spiritist und machte sich später in seinen Memoiren über die entsprechenden Aktivitäten Eulenburgs lustig, von dem er schrieb: „Er hatte ja früher auch Spiritismus getrieben, besonders in München, mit einem Prinzen Liechtenstein zusammen, der halbgelähmt von seiner Geliebten [. . .] zu seiner Zerstreuung in frommem Betrug bei den Experimenten wirksam unterstützt wurde. Das durchschaute wohl allmählich Phili [Eulenburg], dem es selbst heiliger Ernst war, er zog sich ganz davon zurück, ließ sich an der gewonnenen Überzeugung genügen, die seinen religiösen Glauben befestigte, daß es einen persönlichen Verkehr zwischen Dies- u. Jenseits gebe. – Alles was später von spiritistischem Treiben im Liebenberger Freundeskreis u. mit dem Kaiser geredet wurde, ist erfunden und erlogen.“70 Ob auch Waldersee entsprechenden Gerüchten aufgesessen war, als er sich im November 1891 darüber beklagte, daß Eulenburg Wilhelm II. in München zu einer spiritistischen Sitzung mitgenommen habe, ist nicht zu ermitteln, aber für ein entsprechendes Treffen gibt es keinen weiteren Beleg; in der Korrespondenz zwischen Wilhelm und Eulenburg wird nichts dergleichen thematisiert.71 auf dieses Buch Bezug nahm und da seine eigene Position in beiden Fragen von derjenigen Navilles abwich. 69 Vgl. die Briefe Eulenburgs an Varnbüler und an Wilhelm II. Ende 1893 und Anfang 1894: Röhl, Eulenburgs Politische Korrespondenz II, Nr. 865 und 884, S. 1165 und 1188–1189. 70 Aufzeichnung Axel Freiherr von Varnbülers, Schloßarchiv Hemmingen, zit. nach Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz I, S. 234. 71 Vgl. Alfred Graf von Waldersee, Tagebucheintragung vom 18.11.1891: Waldersee, Denkwürdigkeiten II, S. 222. Röhl zitiert die Eintragung Waldersees in Röhl, Jugend, S. 714–715. Der Briefwechsel zwischen Wilhelm und Eulenburg er-
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Es handelt sich hierbei natürlich um ein argumentum e silentio, das aus sich heraus relativ schwach ist. Umgekehrt ist aber das bloße Gerücht, das Waldersee weitergab, nicht in hinreichender Weise befriedigend.72 Man ist deshalb bei der Frage nach dem Spiritismus Wilhelms letztlich ganz auf die Korrespondenz zwischen ihm und Eulenburg angewiesen. Diese verzeichnet insgesamt sechs Briefe im oben genannten Zeitraum, in denen der Spiritismus behandelt wird. Im ersten, vom April 1887, erwähnt Eulenburg „eine Serie von spiritistischen und magnetischen Erlebnissen“, von denen er Wilhelm gerne persönlich berichten will.73 Ganz ähnlich sind der dritte, fünfte und sechste Brief, in denen Eulenburg entweder von spiritistischen Erlebnissen berichtet oder diese andeutet.74 Der vierte Brief, vom Oktober 1888, enthält die Empfehlung Eulenburgs, eventuell zu erwartende Annäherungsversuche von Spiritisten abzulehnen und sich angesichts der zahlreichen Betrügereien auf diesem Gebiet ausschließlich Eulenburgs eigener Vermittlung zu bedienen.75 Am aussagekräftigsten ist aber der zweite Brief. Eulenburg schickte Prinz Wilhelm im August 1887 das Protokoll einer spiritistischen Sitzung des Prinzen Rudolf von Liechtenstein. Aus dem angehängten Begleitschreiben geht hervor, daß Eulenburg das Protokoll auf Wunsch Wilhelms zuschickte und hoffte, daß es auf diesen großen Eindruck machen werde. „Die Übereinstimmung unserer Ansichten auch auf diesem wunderbaren Gebiete hat wähnt ein Treffen in München, aber keine spiritistische Sitzung: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz I, Nr. 533 und 534, S. 705–707. 72 Der Tübinger Historiker Johannes Haller gab bereits 1924 eine kommentierte Auswahl von Eulenburg-Briefen heraus; die Behauptung Waldersees über spiritistische Sitzungen Eulenburgs und Wilhelms bezeichnete er als „Allerweltsklatsch“: Haller, S. 29. John Röhl führt gegen diese Einschätzung die zahlreichen Belege aus Eulenburgs Korrespondenz an, die Haller allerdings alle bekannt waren: vgl. Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz I, S. 51–52. 73 Eulenburg an Prinz Wilhelm, 25.4.1887: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz I, Nr. 112, S. 223. 74 Eulenburg an Prinz Wilhelm, 27.3.1888; Eulenburg an Kaiser Wilhelm II., 13.7.1888; Eulenburg an Kaiser Wilhelm II., 26.2.1891: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz I, Nr. 165, S. 279–281; Nr. 227, S. 343; Nr. 479, S. 644–645. Im zweiten Brief geht es allerdings nicht im eigentlichen Sinne um ein spiritistisches Erlebnis, sondern um eine Krankmeldung Eulenburgs zur geplanten Nordlandreise, die Eulenburg mit den Worten kommentiert: „Einzig und allein der etwas phantastische Gedanke, daß die bösen Geister mir, und darum vielleicht nicht Ew. Majestät einen Knüppel in den Weg werfen, gewährt mir Befriedigung. Das ist Mystizismus – aber Ew. Majestät wollen mir gnädigst diesen tröstlichen Gedanken lassen!“ Ohne diese Formulierung Eulenburgs überinterpretieren zu wollen, klingt der Ton doch nicht gerade so, als sei er sich Wilhelms Zustimmung zu solchen Überlegungen sicher. 75 Eulenburg an Kaiser Wilhelm II., 15.10.1888: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz I, Nr. 199, S. 317–318.
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mich unendlich erfreut und mir wieder einmal klar gezeigt, wie glücklich ich gewesen bin, Ew. Königlichen Hoheit zu begegnen! [. . .] Was nun unser gestriges Gespräch über ‚ewige Dinge‘ betrifft, so möchte ich hier auch einmal Ew. Königlichen Hoheit ans Herz legen, die größte Vorsicht zu üben. Vielen – ja den meisten unserer vortrefflichsten Mitbürger geht der Sinn für das Wunderbare völlig ab; teils aus Irreligiosität, teils aus Opposition, teils aus Bequemlichkeit, teils aus Naturanlage. Wenn Ew. Königl. Hoheit daher in weiteren Kreisen Ihre wahren Ansichten darüber aussprächen, so würden viele Ew. Königl. Hoheit ihre Sympathien entziehen – oder wenigstens würde ein verächtliches Bedauern eintreten. Feindliche Elemente aber würden laut ausposaunen, daß Ew. Königl. Hoheit unter die Spiritisten gegangen seien. Das muß durchaus vermieden werden!“76 Auf diesem Brief, zusammen mit einem weiteren von 1889, in dem Eulenburg an seine Schwester schrieb, er könne auch nichts daran ändern, daß „der Prinz Wilhelm bereits fest an Spuk und alles solches glaubte, als ich ihn kennen lernte, daß dieses in seiner mystischen Anlage liegt“77, ist im wesentlichen Röhls Spiritismusthese aufgebaut. Dazu ist zunächst zu sagen, daß der Kontext dieser Briefe darauf hindeutet, daß Wilhelms anscheinendes Interesse an dem, was Eulenburg ihm zu berichten hatte, weniger aus einer Neigung zum Spiritismus zu erklären ist als vielmehr dadurch, daß Eulenburg Wilhelm gegenüber den Spiritismus als apologetisches Kampfmittel gegen materialistische Weltanschauungen ins Spiel brachte.78 Was zudem von Röhl nicht ausreichend berücksichtigt wird, ist die Tatsache, daß nicht nur alle spiritistischen Briefe von Eulenburg, kein einziger von Wilhelm, stammen, sondern daß überhaupt von Wilhelm nicht eine einzige Äußerung über das ganze Thema überliefert ist – was eine gesicherte Aussage über sein Verhältnis zum Spiritismus extrem erschwert. Innerhalb von Eulenburgs Verschwiegenheitsempfehlung könnte man Wilhelms Stillschweigen natürlich erklären, allerdings nur soweit es öffentliche Auftritte betrifft, und man ist in der Frage dann ganz und gar auf die Glaubwürdigkeit Eulenburgs angewiesen. Röhl hat dieses Problem selbst empfunden und versucht, das von Eulenburg behauptete frühere spiritistische Interesse Wil76 Eulenburg an Prinz Wilhelm, 9.8.1887: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz I, Nr. 120, S. 232. Die Formulierung „daß Ew. Königl. Hoheit unter die Spiritisten gegangen seien“ ist eine Anspielung auf „Saul unter den Propheten“ (1. Sam 10,11 bzw. 12). 77 Eulenburg an die Schwester, 23.2.1889: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz I, Nr. 212, S. 329. 78 Das wird vor allem deutlich in den Äußerungen Eulenburgs gegenüber Wilhelm in einem Brief an Eulenburgs Mutter: Eulenburg an die Mutter, 10.8.1887: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz I, Nr. 121, S. 235. Vgl. dazu die Ausführungen weiter unten in diesem Kapitel.
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helms unabhängig von diesem nachzuweisen. Das ist ihm – mit den Hinweisen auf Korrespondenz und Lektüre des Prinzen Wilhelm – aber nicht gelungen, und so bleibt als einziges hartes Faktum neben Eulenburgs Behauptungen gegenüber Dritten79, daß sich Wilhelm über einen Zeitraum von zwei bzw. vier Jahren dessen Geschichten über das Thema Spiritismus gefallen ließ. Wer die sonstige Auskunfts- und Redefreudigkeit Wilhelms kennt, für den ist es schwer vorstellbar, daß er sich über einen angeblich zentralen Punkt seines religiösen Weltbildes nie auch nur intern geäußert haben sollte. Außerdem sprechen aber vier weitere gewichtige Gründe gegen die Annahme, daß Eulenburgs Behauptungen bezüglich des Spiritismus Wilhelms zutreffen. Als erstes ist die Tatsache zu nennen, daß Spiritismus nur in dem bereits genannten Zeitraum ein Gesprächsthema zwischen Wilhelm und Eulenburg war; danach nicht mehr, obwohl das Thema für Eulenburg weiter virulent war. Daß das nicht nur ein Argument ex silentio ist, wird an einem Brief Eulenburgs an Houston Stewart Chamberlain von 1904 deutlich: Eulenburg legte dem Brief ein selbstgeschriebenes Manuskript bei, das zwar nicht streng im spiritistischen Sinn entstanden sei, aber doch Worte „aus einer anderen Welt“ enthalte.80 Wilhelm hat dieses Manuskript offensichtlich nicht erhalten, was dafür spricht, daß Eulenburg mittlerweile ihn von der Liste der spiritistisch interessierten Freunde gestrichen hatte. Ein zweiter Grund liegt in Eulenburgs nachdrücklicher Empfehlung, sich in spiritistischen Fragen nur der eigenen Vermittlung zu bedienen. In den ersten Jahren der Bekanntschaft zwischen Wilhelm und Eulenburg ging es für letzteren ganz wesentlich darum, Sympathie und Einfluß auf den künftigen Thronfolger zu gewinnen. Ein so abseitiges Thema wie der Spiritismus hat Eulenburg möglicherweise auch als Mittel benutzt, um einerseits das Interesse Wilhelms zu gewinnen, andererseits aber auch politisch nutzbare de79 Neben den erwähnten Briefen Eulenburgs an Mutter und Schwester betrifft dies noch einen Brief an den von Röhl als Münchner Spiritismus-Forscher vorgestellten Bernhard Forsboom, in dem Eulenburg die Hoffnung äußert, auf der bevorstehenden Nordlandfahrt seinem kaiserlichen Freund einige spiritistische Mitteilungen vorlegen zu können: Eulenburg an Bernhard Forsboom, 17.6.1889: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz I, Nr. 223, S. 338. In Eulenburgs Korrespondenz taucht die Frage nach dem Spiritismus Wilhelms II. später noch einmal kurz auf, nämlich in zwei Briefen Eulenburgs an Bülow aus den Jahren 1901 und 1902. Darin berichtet Eulenburg, wie der Kaiser ihn davor gewarnt habe, sich spiritistisch zu betätigen. Vgl. die Briefe Eulenburgs an Bernhard Graf von Bülow vom 24.7.1901 bzw. 18.2.1902: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1450 und 1472, S. 2023–2024 und S. 2058. 80 Eulenburg an Houston Stewart Chamberlain, 24.10.1904: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1503, S. 2106.
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spektierliche Informationen über ihn zu sammeln, den künftigen Kaiser also von sich abhängig zu machen.81 Drittens deutete Eulenburg selbst im August 1887, einen Tag nach der Zusendung des Liechtenstein-Protokolls an Wilhelm, in einem Brief an seine Mutter an, daß es für Wilhelms Interesse an dem, was Eulenburg über Spiritismus zu sagen hatte, noch eine andere Erklärung gibt. Eulenburg berichtete von dem Gespräch mit Wilhelm und schrieb: „Ich hörte viel Interessantes von ihm, auch sprachen wir von Liechtenstein, den er kennt. Der Prinz steht auf dem Standpunkt, alle Mitteilungen für direkte Kundgebungen aus der Geisteswelt zu halten und hofft, daß der christliche Glaube durch die Notwendigkeit der Anerkennung eines zukünftigen Daseins in unserer materialistischen Zeit neue und unerwartete Kräftigung erfährt. Mit Wärme kam dabei sein positives festes Christentum zu Tage.“82 Hier wird angedeutet, daß Eulenburg versuchte, den Kaiser mit der Bemerkung für den Spiritismus zu interessieren, dieser sei in der Lage, den Materialismus zu widerlegen und damit einen apologetischen Dienst für das Christentum zu leisten. Laut der bereits zitierten Bemerkung Varnbülers war das ja auch Eulenburgs Motiv für spiritistisches Interesse, und am plausibelsten ist es dann, anzunehmen, daß eben nicht Wilhelm, sondern Eulenburg spiritistisch fixiert war und Wilhelm für eine Weile dafür zu interessieren verstand. Damit liegen zwar keine Beweise im strengen Sinne vor, die Röhls These eindeutig widerlegen würden, aber Röhl kann seine These auch nicht plausibel machen. Angesichts der Faktenlage scheint daher die Vermutung am überzeugendsten zu sein, daß Wilhelm zwar relativ offen auch für abseitige Spekulationen war, daß diese Spekulationen für ihn aber lediglich im Kontext eines antimaterialistisch-propagandistischen Interesses standen – daher auch die Warnungen Eulenburgs vor öffentlichen Auftritten mit diesen Inhalten, deren Tragweite Wilhelm möglicherweise gar nicht klar war. Wirkliche spiritistische Neigungen hatte Wilhelm jedenfalls nicht.83 Bestätigt wird diese Vermutung viertens durch den Umstand, daß der Spiritismus abgesehen von diesem im Grunde ganz äußerlichen apologetischen Motiv gar keine Berührungspunkte aufweist mit den eigentlichen religiösen 81 Daß Eulenburg gerade in der Anfangsphase der Beziehung zu Wilhelm alles daran setzte, sich als Gesprächspartner interessant und Emil Görtz den Platz des besten Freundes abspenstig zu machen, beschreibt Röhl selbst deutlich: vgl. Röhl, Jugend, 263–264. 82 Eulenburg an die Mutter, 10.8.1887: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz I, Nr. 121, S. 235. 83 Thomas Benner vermutet, daß der Tod von Großvater und Vater dafür verantwortlich war, daß Wilhelm für einige Zeit für spiritistische Thesen empfänglich gewesen sei, die ihn im Glauben an deren persönlicher Fortexistenz gestärkt hätten. Quellenmäßig belegbar ist das allerdings nicht: vgl. Benner, S. 95.
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und politisch-theologischen Auffassungen Wilhelms. Im dritten Teil seiner Spiritismusthese behauptet Röhl allerdings im Gegenteil, daß sich Wilhelms Gottesgnadentumsverständnis wesentlich aus seinem Spiritismus erkläre. Der Bezugspunkt zwischen Gottesgnadentum und Spiritismus wird von Röhl aber nicht expliziert, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt. Er scheint für Röhl in Wilhelms Überzeugung zu liegen, „daß Gott ihm in der Führung der Geschicke Preußens und Deutschlands persönlich zur Seite stehe und helfe“84 und daß Wilhelm persönlich von Gott zur Führung der Nation ausgewählt worden sei.85 Abgesehen davon, daß es sich bei dieser Charakterisierung des herrscherlichen Selbstverständnisses Wilhelms um eine Überzeichnung handelt,86 leuchtet der Bezugspunkt nicht ein. Denn die dahinter stehende Auffassung, Gott greife in den Gang der Geschichte ein, hatte Wilhelm bereits spätestens durch Hinzpeters Erziehung zur Anerkennung der göttlichen Weltregierung gewonnen, und zwar ganz ohne Spiritismus. Die entsprechende Vorstellung war ohnehin mindestens bei den Traditionell-Religiösen unter den Zeitgenossen die übliche, und das keinesfalls grundlos: Weder die christliche Vorstellung von der Inkarnation des transzendenten Gottes in Jesus Christus, noch die jüdische vom durch Gott auserwählten Volk Israel sind denkbar, ohne daß man von der Möglichkeit einer Interaktion zwischen Transzendenz und Immanenz ausgeht. Für die Spiritismusthese heißt das, daß sie letztlich eine für Christen und Juden der wilhelminischen Epoche selbstverständliche Auffassung überzeichnet, um sie zuerst unverständlich zu machen und dann mit einer diskreditierenden Annahme zu erklären, die quellenmäßig keineswegs überzeugend belegbar ist.
V. Vater und Großvater Wesentlich bedeutsamer für Wilhelms Auffassung vom eigenen Herrscheramt und dessen Einordnung in den Gesamtzusammenhang des Reiches war der Einfluß, den sein Vater und Großvater auf ihn ausübten. Vielfach ist darauf hingewiesen worden, daß Wilhelm in politischen Dingen oft dem Großvater näherstand und mit diesem gemeinsame Sache gegen den Vater machte.87 Wilhelm II. hat das selbst später mit der durch die Mutter noch verstärkten liberalen politischen Position des Vaters erklärt, hat aber auch auf eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten religiöser und politischer Art hingewiesen. Religiös sei dies vor allem Friedrichs „freie, germanische 84 85 86 87
Röhl, Jugend, S. 262. Vgl. Röhl, Jugend, S. 290. Siehe dazu Kapitel D. I. und D. II. Vgl. Clark, Wilhelm II., S. 25.
V. Vater und Großvater
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Auffassung über die Kirche“ und die damit verbundene religiöse Toleranz gewesen; politisch habe ein Einfluß vor allem in einem Bereich vorgelegen, den man der politischen Theologie zurechnen muß: der Reichsromantik.88 In einer Rede, die Wilhelm II. im Oktober 1911 anläßlich der Enthüllung eines seinem Vater gewidmeten Denkmals in Aachen hielt, erklärte er über dessen Einfluß auf diesem Gebiet: „Von Meiner Kindheit an habe Ich beobachten können, mit welchem Interesse er [Friedrich III.] sich dem Studium der deutschen Kaiser und ihrer Traditionen hingab und wie er von der Macht ihrer Stellung und von dem Glanze der alten deutschen Kaiserkrone erfüllt war. Wenn Ich als Knabe in seinem Zimmer weilte und Mein Wohlverhalten einen Lohn verdient hatte, ließ er Mich in einem Prachtwerke blättern, in welchem die Kleinodien, Insignien, Gewänder und Waffen der Kaiser und schließlich die Krone selbst in bunten Farben dargestellt waren. Wie leuchteten ihm die Augen, wenn er dabei von den Krönungsfeiern in Aachen mit ihren Zeremonien und Mählern erzählte, von Karl dem Großen, von Kaiser Barbarossa und ihrer Herrlichkeit! Stets schloß er damit: ‚Das alles muß wiederkommen, die Macht des Reiches muß wiedererstehen, und der Glanz der Kaiserkrone muß wieder aufleuchten! Barbarossa muß aus dem Kyffhäuser wieder erlöst werden!“89
Von Wilhelms politischer Nutzung des Barbarossamotivs und überhaupt seiner Vorstellung einer Kontinuität von altem und neuem Reich wird noch zu handeln sein.90 Es ist jedenfalls deutlich, daß diese Vorstellung, die für seine politischen Mythen von zentraler Bedeutung werden sollte, ihm in erster Linie vom Vater vermittelt wurde. Der trat dann auch 1870/71, als sich seine politischen Hoffnungen erfüllten, vehement dafür ein, wenigstens eine symbolische Kontinuität herzustellen. Aber weder der Wunsch, in Anlehnung an die Krönung Karls des Großen den 24. Dezember als Tag der Kaiserproklamation zu bestimmen, noch der Vorschlag, eine echte Kaiserkrönung zu veranstalten und dazu die Reichsinsignien aus Wien herbeizuholen, wurden angenommen, und auch das Plädoyer für Schwarz-Rot-Gold als Reichsfarben blieb wirkungslos.91 Der damalige Kronprinz Friedrich erwies sich mit dieser Haltung als nationalliberaler Romantiker und „Kyffhäuser-Deutsche[r]“92, der die Reichsgründung als Erfüllung der eigenen politischen Träume beurteilte, obwohl 88
Wilhelm II., Meine Vorfahren, S. 245–259, Zitat: S. 258. Eröffnung des Kaiser Friedrich-Denkmals in Aachen, 18.10.1911: Krieger IV, S. 280. Bei dem beschriebenen Buch handelt es sich wahrscheinlich um Franz Bock: Die Kleinodien des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation nebst den Kroninsignien Böhmens, Ungarns und der Lombardei. Wien 1864. Siehe dazu: Kaul, S. 563. 90 Siehe Kapitel F. II. 91 Vgl. Rein, S. 33–35. Zur Frage der Reichsinsignien vgl. auch Schieder, Kaiserreich, S. 154–159. 92 Rein, S. 35. 89
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sie dann ganz anders vollzogen wurde als erwünscht; seinem Tagebuch vertraute er an: „befreit von den Schlacken des heiligen römischen Unsegens steigt ein an Haupt und Gliedern reformiertes Reich unter dem alten Namen und den tausendjährigen Abzeichen aus sechzigjähriger Nacht empor.“93 Das war keine streng historisch verstandene Anknüpfung an das alte Reich, ging aber immerhin so weit, daß der Kronprinz noch 1888 plante, sich nach seiner Thronbesteigung zwar als preußischer König Friedrich III. zu nennen, als Deutscher Kaiser aber nach der Zählung des alten Reiches Friedrich IV.94 Wilhelm II. hat seine eigene Reichsromantik explizit immer an die Auffassung des Vaters angeknüpft, nicht an den Großvater.95 Von dem übernahm er ohnehin wenig Konkretes; imponierend war für Wilhelm in erster Linie die fromme religiöse Haltung des Großvaters, und er empfand eine gewisse Ehrfurcht vor Wilhelm I. als dem Gründer des Reiches.96 Überhaupt widerspräche Reichsromantik dem herkömmlichen Bild Wilhelms I. als altpreußischem Konservativen, der allen deutsch-nationalen und über Preußen hinausgehenden Vorstellungen abgeneigt gewesen sei. Der Ursprung dieses Bildes ist die Äußerung Wilhelms I. am Vorabend der Kaiserproklamation, der morgige Tag werde der unglücklichste seines Lebens sein, da dann das alte preußische Königtum zu Grabe getragen werde. Dieser Äußerung vorausgegangen war ein Streit um die Frage des Kaisertitels, in dem Bismarck aus Rücksicht gegenüber den übrigen Bundesfürsten für 93
Tagebucheintrag des Kronprinzen Friedrich, 18.1.1871, zit. nach Rein, S. 72. Daß der Plan nicht in die Tat umgesetzt wurde, lag daran, daß Bismarck sich mit seiner Auffassung durchsetzte, die anderen Bundesfürsten würden einen solchen Schritt als Taktlosigkeit empfinden. Vgl. Röhl, Jugend, S. 784–785. 95 Siehe Wilhelm II., Meine Vorfahren, S. 256–257. Vgl. auch den Brief Wilhelms II. an seine Mutter vom 25.9.1898, gedruckt in: Bülow, Denkwürdigkeiten I, S. 235–237 und Anhang. 96 Das geht vor allem aus dem Kapitel über Wilhelm I. in Wilhelms II. im Exil verfaßten Werk über seine Vorfahren hervor: Wilhelm II., Meine Vorfahren, S. 208– 237. In den politischen Betrieb eingeführt wurde Wilhelm II. auch nicht von seinem Großvater, sondern von Otto und Herbert von Bismarck. Die politische Entzweiung mit den Eltern lastete Wilhelm II. im Nachhinein ganz konsequent auch nicht etwa dem Großvater an, sondern Bismarck. Eulenburg berichtet jedenfalls über ein Gespräch mit Wilhelm II. vom 12.7.1896, in dem Wilhelm II. gesagt habe: „Gewisse Dinge vergesse ich nicht – bis an mein Lebensende. Wie habe ich den Fürsten Bismarck geliebt! Was habe ich ihm geopfert! Ich habe ihm mein Elternhaus zum Opfer gebracht. Um seinetwillen bin ich durch Jahre meines Lebens mißhandelt worden, und ich habe es ertragen, weil ich ihn als den lebendigen Ausdruck des preußischen Vaterlandes empfand. Und er hat mir alles das durch Haß vergolten!“ (Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1239, S. 1704–1705.) Zu der Sicht Wilhelms II. auf die Rolle, die Wilhelm I. in bezug auf die Reichsgründung zukam, siehe Kapitel F. I. 94
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die Bezeichnung „Deutscher Kaiser“ plädiert hatte. Wilhelm I. hatte eine solche Titulatur als „Charaktermajor“ verspottet und, von seinem Sohn angefeuert, „Kaiser von Deutschland“ vorgeschlagen.97 Dieser Vorschlag widerspricht allerdings eklatant dem Bild von Wilhelm I. als Reichsgegner. Schon 1936 hat der Historiker Karl Hampe auf diesen Sachverhalt aufmerksam gemacht und in eine Uminterpretation der Haltung Wilhelms I. integriert.98 Zwar habe Wilhelm I. tatsächlich als erstes das Wohl Preußens im Auge gehabt, aber das gelte für Bismarck genauso; Wilhelm I. habe durchaus ein Deutsches Reich unter preußischer Führung für erstrebenswert erachtet, habe aber befürchtet, daß das von Bismarck geplante Reich diesem Anspruch nur unzureichend genügen würde. Dafür sprachen aus Wilhelms I. Sicht nicht nur die den süddeutschen Fürsten gewährten Sonderrechte, sondern eben auch das bloße „Scheinkaisertum“ des preußischen Königs, das sich in dem Titel „Deutscher Kaiser“ offenbare.99 Daß Wilhelm I. in Wirklichkeit nicht so nüchtern, schlicht und allem Prunk und Zeremoniellen abgeneigt gewesen sei, wie oft behauptet werde, erkenne man vor allem daran, daß Wilhelm I. im Juli 1867 gegenüber dem Kronprinzen Humbert von Italien die Absicht äußerte, sich im Kölner Dom zum Kaiser von Deutschland krönen zu lassen.100 Diese Vorstellung irritiert auf den ersten Blick, lag aber doch nahe, wenn man davon ausgeht, daß Wilhelm I. der Reichsgründung positiv gegenüberstand, denn der Aufbau des Kölner Doms galt seit Anfang des 19. Jahrhunderts als Symbol der Einigung der deutschen Nation, die ja dann durch die Reichsgründung politisch besiegelt wurde.101 Gegen die Auffassung vom antizeremoniellen Wilhelm I. spricht auch, daß er als einziger preußischer König nach Friedrich I. die Krönung tatsächlich vollzog – nicht einmal Wilhelm II. folgte hier dem Beispiel des Großvaters. Wenn die Absicht einer Kaiserkrönung im Kölner Dom auch weniger Ausdruck eines konkreten Plans als einer zu erwägenden Möglichkeit war – der Dom wurde erst 1880 fertiggestellt und kam für Wilhelm I. daher schon aus praktischen Gründen nicht in Frage – so zeigt diese Äußerung doch, daß auch derjenige unter den Hohenzollern-Herrschern, der als am wenigsten national und romantisch gilt, entsprechende Vorstellungen durchaus haben konnte. Insofern widerspricht die Verehrung Wilhelms II. für sei97
Vgl. Rein, S. 39–41. Politisch war der Historiker Hampe Monarchist und gehörte auch nach 1918 noch zu den Verteidigern Wilhelms II. Vgl. Kohlrausch, Samt und Stahl, S. 397. 99 Vgl. Hampe, vor allem S. 61–115. 100 Vgl. Hampe, S. 1–14. 101 Vgl. Hampe, S. 125–132. Zur Bedeutung des Kölner Doms als zentralem Nationaldenkmal vgl. Nipperdey, Nationalidee, S. 546–551. 98
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C. Politisch-theologische Prägungen
nen Großvater auch nicht notwendigerweise der reichsromantischen Beeinflussung durch den Vater. Wilhelm II. machte in den 1890er Jahren seinen Großvater sogar zum Zentrum eines politischen Mythos, der Wilhelm I. als eigentlichen Reichsgründer deklarierte und damit natürlich auch implizierte, daß die Reichsgründung für Wilhelm I. etwas Positives war.102 Vor dem Hintergrund der genannten Neuinterpretation der Haltung Wilhelms I. erscheint die ganze politische Mythologie Wilhelms II. als ein Konglomerat von Vorstellungen, die er in wesentlichen Teilen sowohl von seinem Großvater als auch von seinem Vater übernommen hatte.103 Das ist um so bemerkenswerter, als zwischen Großvater und Vater erhebliche politische Spannungen bestanden, die sich auch auf Wilhelm auswirkten. Am deutlichsten wurden diese Spannungen, als Otto von Bismarck 1862 zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt wurde und mit Unterstützung Wilhelms I. einen konservativen politischen Kurs durchsetzte. Der Kronprinz opponierte im Juni 1863 öffentlich gegen diesen Kurs, als die Pressefreiheit einschränkende Regierungsdekrete veröffentlicht wurden.104 Zwar ruderte der Kronprinz hinterher wieder zurück und versprach, künftig nicht mehr öffentlich gegen Regierungsmaßnahmen zu protestieren, aber es war doch eine Konfliktlinie sichtbar geworden, die gerade an der Frage der Erziehung des Prinzen Wilhelm immer wieder aufbrechen sollte.105 Christopher Clark hat zutreffend von zwei konkurrierenden „pädagogischen Idealen“ gesprochen: „ein anglophiles, liberal-bürgerliches, gestützt auf die Kultivierung staatsbürgerlicher Tugenden und sozialer Verantwortung, und ein altpreußisches, aristokratisches, gestützt auf die Kultivierung militärischer Fertigkeiten und Disziplin.“106 Bei der Bestellung der Hauslehrer, der Zuständigkeitsfrage zwischen dem zivilen und dem militärischen Erzieher und im Zusammenhang mit dem Besuch des bürgerlichen Gymnasiums in Kassel kam es daher regelmäßig zu Konflikten zwischen den „liberalen“ Eltern und dem „konservativen“ Großvater.107 Zwar setzten die Eltern sich in den Erziehungsfragen im großen und ganzen durch – Hinzpeter war zwar erst der zweite, aber immerhin ein Kandidat der Eltern, er wurde dem Militär-Gouverneur Wilhelms übergeordnet, und der Besuch des Kasseler Gymnasiums wurde durchgesetzt –, aber letztlich kam es doch zu einer Entfremdung zwischen Wilhelm und seinen Eltern. Die hatte ihren Ursprung in der Parteinahme Wilhelms für Bismarck 102 103 104 105 106 107
Zum „Wilhelm-der-Große“-Mythos siehe Kapitel F. I. Zu den politischen Mythen Wilhelms II. siehe Kapitel F. Vgl. zu diesem Absatz Clark, Wilhelm II., S. 15–23. Zur Prinzenerziehung siehe auch Kapitel C. I. Clark, Wilhelm II., S. 19–20. Vgl. Clark, S. 20–21. Vgl. dazu auch Straub, S. 36–42.
VI. Zusammenfassung
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seit Mitte der 1880er Jahre.108 Dabei äußerte Wilhelm auch 1886 noch Verständnis für die schwierige Lage seines Vaters. Herbert von Bismarck berichtete am 4. Oktober seinem Vater von einer Unterredung mit dem Prinzen Wilhelm: „Der Prinz sprach dann noch mit Milde über seinen Vater und sagte, der noch nie dagewesene Fall der 3 erwachsenen Generationen der Regentenfamilie mache es seinem Vater schwer: überall sonst, bei regierenden und anderen Familien, habe der Vater die Autorität und der Sohn hinge pekuniär von ihm ab. Ihm aber habe der Kronprinz gar nichts zu sagen, er bekäme nicht einen Groschen von seinem Vater, sondern stände ihm, da alles vom Familienoberhaupt ressortiere, ebenso unabhängig gegenüber wie etwa Prinz Albrecht: das sei für S.Ks.H. natürlich nicht angenehm.“109
Wilhelm sprach hier den ungewöhnlichen Fall an, daß drei erwachsene Generationen eines Herrscherhauses lebten, worunter besonders die mittlere Generation zu leiden habe. Das Verständnis, daß er unter diesen Umständen für seinen Vater äußerte, steigerte sich bei ihm sogar zu der Vorstellung, daß der eigentliche politische Feind seine Mutter sei und man versuchen müsse, den Vater ihrem Einfluß zu entziehen. In einer weiteren Unterredung mit Herbert von Bismarck schlug Wilhelm vor, den Kronprinzen alle vierzehn Tage über kleinere politische Vorgänge zu unterrichten, um dadurch ein vertrauensvolles Verhältnis zu ihm aufzubauen: „Jetzt kann ich mit meinem Vater nie offen und gemütlich sprechen, denn die Kronprinzeß läßt uns nicht 5 Minuten allein, aus Sorge, daß mein Vater schließlich doch noch erkennt, wie ehrlich ich es meine, und dadurch unter meinen Einfluß kommt. [. . .] Ich will mich ja gern von ihm belehren lassen, wenn er das vermag, und werde ihm meinerseits stets mit schuldigem Respekt begegnen.“110
Der Plan ließ sich allerdings nicht verwirklichen. Dennoch wird man nicht sagen können, daß sich die „konservativen“ Einflußfaktoren bei Wilhelm einseitig durchgesetzt hätten. Vielmehr deuten die Disparatheit und der Patchwork-Charakter der Weltanschauung, die Wilhelm II. entwickelte, darauf hin, daß er auch hier von mehreren Seiten Anregungen aufnahm.
VI. Zusammenfassung Die Umstände, unter denen Wilhelm II. aufwuchs, waren nicht geeignet, eine kohärente politische und religiöse Weltanschauung auszubilden. Verschiedene Personen mit unterschiedlichen Ansichten waren prägend in der 108
Vgl. Bussmann, S. 57–58. Herbert Bismarck an den Vater, Berlin, den 4. Oktober 1886: Bussmann, Nr. 244, S. 389. 110 Herbert Bismarck an den Vater, Berlin, den 8. Oktober 1886: Bussmann, Nr. 246, S. 391. 109
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C. Politisch-theologische Prägungen
Kindheit und Jugend Wilhelms, aber auch in ren, bevor er mit 29 die Kaiserwürde erhielt. dabei durch den Grundkonflikt zwischen der tern und den konservativen Anschauungen der
den jungen ErwachsenenjahManch Ambivalenz entstand liberalen Einstellung der ElGroßeltern.
Aber auch sonst waren Wilhelms Prägungen disparat: Sein Zivilerzieher Hinzpeter vermittelte ihm ein Interesse für die soziale Frage und damit verbunden die zeitlebens bestehende Neigung zu einem praktisch und undogmatisch orientierten Christentum. Wilhelms Großeltern väterlicherseits und auch seine Ehefrau dagegen vertraten eine schlichte, an traditionellen Formen und Inhalten orientierte Religiosität. Eulenburg brachte Wilhelm die Begeisterung für Kunst, Musik und Literatur nordisch-mythologischen Inhalts bei. Die verbreitete These John Röhls, daß Eulenburg Wilhelm spiritistische Neigungen vermittelt habe, erweist sich allerdings bei genauer Prüfung der von Röhl angeführten Argumente als substanzlos. Den Großvater verehrte Wilhelm als Reichsgründer, wogegen er seine tatsächlichen reichsromantischen Vorstellungen vom Vater hatte. Damit entwickelte Wilhelm ein Weltbild, das kaum auf einen Nenner zu bringen war. Die vielen verschiedenen religiösen Prägungen führten bei Wilhelm sehr früh zu der Tendenz, sich von allem immer diejenigen Elemente herauszunehmen, die ihm zusagten; diesen Eklektizismus kann man als Tendenz zu durchaus moderner, d.h. zeitgemäßer „Patchwork-Religiosität“ umschreiben. Daß der politische Betrieb aber nicht auf übermäßige Differenzierung ausgerichtet war, bekam Wilhelm in der Affäre um die politische Agitation des Hofpredigers Adolf Stoecker zu spüren, seinem ersten praktisch-politischen Krisenerlebnis. Wilhelms Überraschung, daß sein halböffentlicher Auftritt für Stoecker als Parteinahme für dessen konservativ-antisemitische christlich-soziale Bewegung gedeutet wurde, war vermutlich subjektiv durchaus ehrlich: Zwar fühlte sich Wilhelm dem christlich-sozialen Anliegen im Sinne eines für ihn selbstverständlichen sozialen Engagements des Christen verbunden, aber mit der Partei der protestantischen Orthodoxie hatte er nur wenig gemeinsam. Das zur Krise führende Handeln Wilhelms und seine Überraschung im Hinblick auf die öffentliche Reaktion offenbaren bereits dessen später immer wieder zu beobachtende und Mißverständnisse provozierende Gutgläubigkeit, um nicht zu sagen Naivität im Politischen. Alle verschiedenen Elemente verbanden sich später bei Kaiser Wilhelm II. zu etwas Neuem, das weder in die klassischen religiösen noch in die politischen Kategorien der Zeit sauber einzuordnen war. Die Mutter hatte wegen der in vielerlei Hinsicht problematischen Beziehung zu ihrem Erstgeborenen offenbar ein besonderes Empfinden dafür, daß dieser eine politisch
VI. Zusammenfassung
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ganz neue und insofern sehr moderne Haltung einnahm: Sie charakterisierte ihren Sohn als konservativen Populisten. Wilhelms Streit mit Bismarck über die Stoecker-Affäre zeigte darüber hinaus, daß er für das von Bismarck als notwendig erachtete Zurücktreten persönlicher religiöser und religiös-politischer Überzeugungen angesichts der Verpflichtungen des politischen Amtes keinen Sinn hatte. Vielmehr stellte Wilhelm heraus, daß seiner Meinung nach das Herrscheramt ausdrücklich auch mit einem religiösen Auftrag verbunden sei. Daß dieser Auftrag zwar einerseits am Amt hing, andererseits aber auf die persönliche religiöse Überzeugung gegründet war, wurde hier bereits ansatzweise deutlich.
D. Politische Theologie I: herrscherliches Selbstverständnis I. Gottesgnadentum 1911 schrieb der Historiker Otto Hintze einen Aufsatz über Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung. Der Schlußteil des Textes befaßte sich mit einer aktuellen Debatte über „die Gefahr einer Vermischung von Religion und Politik, die mit dem monarchischen Prinzip verbunden scheint.“1 Tatsächlich neige die Monarchie von jeher zu einer Selbstsakralisierung durch das Gottesgnadentum, wenn auch die konfessionelle Spaltung in Deutschland die Gefahr etwas gemildert habe. „Aber auch so lag das Bündnis zwischen Thron und Altar immer für die Monarchie sehr nahe, und zuweilen haben sich Stimmen vernehmen lassen, die den verhängnisvollen Grundsatz aussprachen, daß monarchische und religiöse Gesinnung sich gegenseitig bedingen und daß nur ein guter Christ zugleich ein guter Monarch sein könne. Gegen eine derartige Vermischung des Religiösen mit dem Politischen ist bekanntlich die öffentliche Meinung sehr empfindlich, und mit Recht: sie verletzt die religiösen Gefühle ebenso wie das politische Bewußtsein und bringt auf der einen Seite die Gefahr der Heuchelei, auf der anderen die der Entfremdung weiter Volkskreise von der monarchischen Gesinnung mit sich. Das monarchische Prinzip wird am besten gewahrt, wenn der Staat, in dem es gilt, als etwas rein Weltliches und Menschliches betrachtet wird.“2 Dabei zeige sich gerade am Beispiel Preußens in vorbildlicher Weise, daß monarchische Legitimität nicht göttlichen Ursprungs sein müsse, sondern auch auf der Funktion des Monarchen als „Schöpfer und Hüter des Staatsgedankens“3 beruhen könne. Am deutlichsten erkennbar sei das bei Friedrich dem Großen, auch wenn dieser das Gottesgnadentum pro forma beibehalten habe. „Und so mag uns diese Formel auch heute als ebenso verträglich gelten mit dem Geiste, in dem Friedrich der Große das monarchische Prinzip verstand, wie mit dem, der seit dem Zeitalter der heiligen Allianz und der Legitimität im Gegensatz gegen Aufklärung, Revolution 1 2 3
Hintze, Das monarchische Prinzip, S. 385. Hintze, Das monarchische Prinzip, S. 388. Hintze, Das monarchische Prinzip, S. 388.
I. Gottesgnadentum
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und Bonapartismus üblich wurde. Das Ziel der zukünftigen Entwicklung aber möchte ich doch mehr in der Wiederaufnahme und praktischen Ausgestaltung jenes friderizianischen Gedankens sehen, der den König als den Repräsentanten der Staatsidee auffaßt. In diesem Gedanken liegt, wie es scheint, eine Kraft, die der demokratischen Entwicklungstendenz der Gegenwart eher gewachsen ist als die legitimistisch-religiöse Idee, weil sie auf einer modernen Welt- und Staatsanschauung beruht. Nicht im Gegensatz zu einer solchen Staats- und Weltanschauung, sondern nur in der Anpassung an sie wird das monarchische Prinzip sich auch in Zukunft behaupten können.“4 Hintze plädierte damit im Grunde für ein säkularisiertes Gottesgnadentum, in dem die verfassungsrechtliche Formel bestehen blieb, faktisch aber nicht mehr religiös, sondern nur noch weltlich verstanden wurde und den Monarchen ausschließlich als Wahrer der Staatsidee auffaßte. Die strikte Trennung zwischen geistlichem und weltlichem Bereich begründete Hintze sowohl politisch als auch religiös: Das religiöse Anliegen werde durch politische Nutzung mißbraucht, und politisch sei eine Vermischung nicht sinnvoll, da man auf diese Weise dem demokratischen Gegner in die Hände spiele. Vor allem aber sei die „legitimistisch-religiöse Idee“ nicht mehr zeitgemäß und müsse durch eine den modernen Anforderungen gewachsene Staatsanschauung ersetzt werden. Hintze bezog damit Stellung in einer Debatte um das Gottesgnadentum, die 1910 durch öffentliche Äußerungen Wilhelms II. ausgelöst worden war. Der hatte am 25. August 1910 bei der Festtafel für die Provinz Ostpreußen im Moskowiter Saal des Königsberger Schlosses eine Rede gehalten, in der er hauptsächlich über Wilhelm I. und Königin Luise sprach. Ersterer habe sich in Königsberg selbst die Krone aufs Haupt gesetzt, „noch einmal bestimmt hervorhebend, daß sie von Gottes Gnaden allein ihm verliehen sei und nicht von Parlamenten, Volksversammlungen und Volksbeschlüssen, und daß er sich als auserwähltes Instrument des Himmels ansehe und als solches seine Regenten- und Herrscherpflichten versehe.“ Königin Luise sei ihrerseits ein Vorbild für die deutsche Frau, die nicht im Erreichen politischer Rechte ihre Aufgabe zu sehen habe, sondern in der häuslichen Arbeit und im Dienst für das Vaterland. „Alles soll mitarbeiten am Wohl des Vaterlandes, gleichgültig, wer und wo er sei. Und ebenso wird für mich der Weg dieser hohen Verblichenen vorbildlich sein, wie er meinem Großvater vorbildlich war. Als Instrument des Herrn mich betrachtend, ohne Rücksicht auf Tagesansichten und Meinungen, gehe ich meinen Weg, der einzig und allein der Wohlfahrt und friedlichen Entwicklung unseres 4
Hintze, Das monarchische Prinzip, S. 389.
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D. Politische Theologie I: herrscherliches Selbstverständnis
Vaterlandes gewidmet ist. Aber ich bedarf hierbei der Mitarbeit eines jeden im Lande, und zu dieser Mitarbeit möchte ich auch Sie jetzt aufgefordert haben.“5
Wilhelm II. hatte mit dieser Rede für seine Innenpolitik der nationalen Integration6 werben wollen; die Äußerung über das eigene Verständnis als „Instrument des Herrn“ fehlt im handschriftlichen Redeentwurf und war damit eine – kalkulierte oder nichtkalkulierte – Spontaneität des Kaisers.7 Diese Äußerung war es dann auch, die scharfe Kritik in der Öffentlichkeit erfuhr und in der Presse teilweise von dem eigentlich verfolgten Zweck der Rede ablenkte. Die konservativen Zeitungen verteidigten zwar die ganze Ansprache unter Einschluß der inkriminierten Stelle, schon die freikonservative Post aber gab zu, daß die Charakterisierung Wilhelms I. kaum dessen schlichtem religiösen Sinn entsprochen haben dürfe. Die linke und liberale Presse schließlich zeigte sich äußerst gereizt durch die Betonung des Gottesgnadentums und vor allem durch die damit verbundene antidemokratische und antiparlamentarische Spitze des Kaisers.8 Hieran wurde deutlich, daß die „legitimistisch-religiöse Idee“ tatsächlich politisch hinderlich sein konnte, zumal die eigentliche Redeintention der nationalen Integration und auch die antiemanzipatorische Haltung in der Frauenfrage von der Presse durchaus wohlwollend zur Kenntnis genommen wurden, ganz zu schweigen von den zahlreichen positiven Rückmeldungen, die der Kaiser von Privatpersonen erhielt.9 Wilhelm II. muß erkannt haben, daß sein in solcher Kürze geäußertes Verständnis vom religiösen Ursprung seines Herrscherberufs zusammen mit dem Hinweis, sein Großvater habe seine Krone von Gott und nicht vom Parlament oder von Volksbeschlüssen erhalten, den eigentlichen politischen Zweck der Rede konterkarierte. Denn er hielt nur vier Tage später, am 29. August 1910 beim Festmahl für die Provinz Westpreußen in Marienburg eine Rede, an deren Schluß er noch einmal auf die Königsberger Rede zu sprechen kam: „Sie sind hier versammelt in der alten Marienburg. Dieses gewaltige Bauwerk, ein äußeres Zeichen der Macht und Fülle, die in dem Deutschen Orden sich aus5 Rede Wilhelms II. in Königsberg, 25.8.1910, in: Königsberger Allgemeine Zeitung Nr. 397, 26.8.1910: GStA I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode, Mappe 43. Auch abgedruckt in: Krieger IV, S. 203–206. Überarbeitung der Rede abgedruckt in: Obst, Die politischen Reden, Nr. 184, S. 314–317. 6 Siehe dazu vor allem Kapitel D. II.–D. VI. 7 Vgl. den handschriftlichen Redeentwurf: GStA I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode, Mappe 43. Siehe zu der Rede und der sich anschließenden Diskussion auch Obst, Einer nur ist Herr, S. 324–336. 8 Vgl. die Pressestimmen in: GStA I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode, Mappe 43. 9 Vgl. GStA I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode, Mappe 43.
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drückte, die große Quelle, von der aus die deutsche Kultur über die Ostlande sich ergoß, führwahr [!] eine staunenswerte Arbeit unter unendlichen Schwierigkeiten – was lehrt uns die Marienburg und der Deutsche Orden, der unserem Königreich das ragende Panier mit dem schwarzen Adler auf silbernem Felde gab? Durch feierliches Gelöbnis waren sich die Ordensbrüder zugetan und stellten ihr Werk unter die Obmacht eines Höheren. Durch diese einheitliche Geschlossenheit hat der Orden diese unerhörte Leistung zuwegegebracht. Das soll für uns ein Vorbild sein! Das Kreuz auf seinem Gewande bedeutet die Unterordnung unter des Himmels Willen. Es bedeutet, daß Deutschtum und Christentum untrennbar von einander sind. Was sollen wir daraus lernen? Daß dies eine Illustration für das Wort ist, das ich neulich in Königsberg gesprochen habe: So wie mein seliger Großvater und wie ich uns unter der höchsten Obhut und dem höchsten Auftrage unseres Herrn und Gottes arbeitend dargestellt haben, so nehme ich das von einem jeden ehrlichen Christen an, wer es auch sei. Wer in dieser Gesinnung arbeitet, dem wird es aber klar, daß das Kreuz auch verpflichtet! Wir sollen in brüderlicher Liebe zusammenhalten, die Konfessionen und die Stämme. [. . .] der Zugehörige einer Partei ergreife die Hand des Andersgesinnten, wenn es darauf ankommt, Großes für das Vaterland zu leisten; und eine Konfession trage die andere mit Liebe. Dann werden wir dem Vorbild der großen deutschen Männer, die hier einst gestanden und gearbeitet haben, nachkommen.“10
Wilhelm II. versuchte hier, das Gottesgnadentum nicht als besonderes Recht des Herrschers darzustellen, der sich wegen seiner göttlichen Legitimierung nicht um die anderen politischen Akteure zu kümmern brauche. Vielmehr sei das Gottesgnadentum nichts anderes als ein Ausdruck der besonderen Pflicht, die dem Herrscher wie jedem anderen Christen auch durch die persönliche Verantwortung vor Gott obliege. Die Deutschordensritter seien für diese Haltung und ihre politischen Implikationen ein Vorbild, denn die christliche Nächstenliebe bilde die wesentliche Grundlage für die zu erstrebende innere nationale Einheit. Mit seiner Betonung der mit dem Gottesgnadentum einhergehenden besonderen ethischen Verpflichtung knüpfte Wilhelm II. an Vorstellungen an, die bereits für das König- und Kaisertum im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation eine wichtige Rolle spielten.11 Im karolingischen, aber auch im salischen und staufischen Reich enthielt das Gottesgnadentum „ein 10 Rede Wilhelms II. beim Festmahl für die Provinz Westpreußen, Marienburg, 29.8.1910, in: Vossische Zeitung Nr. 405, 30.8.1910: GStA I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode, Mappe 47. Dort auch eine bis auf stilistische Änderungen identische Mitschrift der Rede. Abgedruckt in: Obst, Die politischen Reden, Nr. 185, S. 317–319. Auch abgedruckt in: Krieger IV, S. 210–212. 11 Die spezifisch religiösen Vorstellungen, die mit dem Gottesgnadentum verbunden waren – so vor allem die Repräsentation Christi auf Erden durch den Fürsten – waren zuerst im Byzantinischen Reich vorgebildet; eine erste europäische Präfiguration ist das französische Königtum, das sich auf die Taufe Chlodwigs 499 beruft. Vgl. dazu Schmid, Imperator Russiae, S. 158–161; dort auch umfangreiche Literaturhinweise.
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Element der Begnadung wie auch ein solches der Demut“12, bezeichnete Vorzüge und Privilegien wie auch die Einfügung des Herrschers in die Rechtsordnung und seine Pflichten gegenüber dem Volk und konnte sich sowohl auf Erb- als auch auf Wahlmonarchien beziehen.13 Die Entstehung des neuzeitlichen Staates war dann einerseits durch die Rationalisierung des politischen Vollzugs gekennzeichnet, andererseits aber auch durch eine verstärkte Berufung auf die religiöse Grundlage fürstlicher Regierung.14 Die Lage nach der Französischen Revolution und dem Zusammenbruch des alten Reichs 1806 war insofern wieder eine andere, als das Gottesgnadentum nun staatsrechtliche „Legitimationsbasis“15 der (erb-)monarchischen Verfassung wurde. Dabei waren eigentlich theologische Erwägungen nebensächlich, sondern es ging im wesentlichen um eine Begründung der rechtlichen Ursprünglichkeit monarchischer Staatsgewalt und um die Abwehr solcher Konzepte, die sich auf die Volkssouveränität beriefen. Vor diesem Hintergrund ist die Kritik von linker und liberaler Seite gegen jede Berufung auf eine göttliche Grundlage monarchischer Regierung verständlich, aber auch die Befürchtung derjenigen Anhänger der Monarchie, die wie Hintze dem rein weltlich gedachten, das Gottesgnadentum nur noch als rhetorische Floskel akzeptierenden „monarchischen Prinzip“ die größte Überzeugungskraft zumaßen. Ganz ähnlich hatte sich schon zehn Jahre vor Hintze der Historiker Heinrich von Treitschke geäußert, der in seinen Berliner Vorlesungen über „Politik“ auch die Monarchie behandelte: „Im Gegensatz zur Theokratie bekennt sich die Monarchie zum weltlichen Wesen aller Staatsgewalt. Wohl haben jugendliche Völker die Neigung, ihr Königthum auf irgend eine göttliche Abstammung zurückzuführen; immer ist doch die Staatsgewalt, einmal gegründet, weltlichen Charakters. Sie ist sich auch dessen und ihres Unterschiedes von dem Priesterthum bewußt, und nur ein Wort der Demuth und Piethät ist das ‚von Gottes Gnaden‘. Nicht eine mystisch-geistliche Gewalt wird damit bezeichnet, sondern es soll in Demuth anerkannt werden, daß es eine unerforschliche Fügung der Vorsehung ist, wenn gerade dieses Geschlecht über alle anderen im Lande sich emporgehoben hat.“16 Angesichts dieser Diskussionslage, in der auch die Anhänger der Monarchie Gegner des Gottesgnadentums waren, mochte der Hinweis auf den göttlichen Auftrag für das eigene Herrscheramt tatsächlich als ein „seltsamer Anachronismus“17 wirken. Andererseits zeigen die Rede von der Jahrhundert12 13 14 15 16 17
Schlinker/Willoweit, Sp. 917. Unruh, S. 292–313. Vgl. Staubach, S. 340. Schlinker/Willoweit, Sp. 918. Treitschke, Politik II, § 15, S. 52. Kroll, Wilhelm II., S. 301.
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wende als Epoche der „erfundenen Traditionen“18, die Beispiele Ludwigs II. von Bayern19 und Napoléons III.20, die sich ebenfalls auf monarchisch-sakrale Traditionen beriefen, und schließlich die Anknüpfung des russischen Zaren-, ab 1721 Kaisertums an heilsgeschichtliche messianisch-christologische Begründungsmuster über das ganze 19. Jahrhundert hinweg, daß der letzte deutscher Kaiser in dieser Hinsicht keineswegs einen Sonderfall darstellte.21 Wilhelms Rede in Marienburg, mit der er die Äußerungen in Königsberg ins rechte Licht rücken wollte, führte allerdings nicht zu einer Beruhigung der links von der Mitte stehenden Presse. Die liberale Vossische Zeitung brachte einen Kommentar, welcher die Behauptung einer Untrennbarkeit von Christentum und Deutschtum verspottete und darauf beharrte, daß Wilhelm II. theokratische Absichten geäußert habe, denen dringend ein Riegel vorgeschoben werden müsse.22 Aber immerhin hatte nun auch die konservative Presse „ihre“ Rede, die sie in der Debatte präsentieren konnte. Das Posener Tageblatt etwa interpretierte die Marienburger Rede genau so wie von Wilhelm II. intendiert, wenn sie diese als Kommentar zur Königsberger Rede deutete und schrieb: „Die jüngste Königsberger Rede des Kaisers ist ein Appell an die ganze Nation, an Männer und Frauen, an hoch und niedrig, zur nationalen Sammlung, zur positiven Mitarbeit an dem gesunden Ausbau des Reiches, an der Kräftigung des nationalen Geistes und an der Festigung der Grundlagen der Wohlfahrt des Vaterlandes, als deren über den Parteien stehender Hüter der Kaiser sich erklärt.“ In Marienburg habe der Kaiser nur noch einmal erklärt, daß er sein Gottesgnadentum im Sinne eines religiös empfundenen sittlichen Verantwortungsgefühls verstehe: „So betrachtet, kann man natürlich nicht annehmen, daß der Kaiser mit jenen Worten eine ‚besondere Geltung‘ für sich und sein Handeln, besondere Rechte für sich herleiten wollte, sondern daß er damit nur die Pflichten der sittlichen Verantwortung für sich betonen wollte.“23 18
Siehe dazu Kapitel A. Die Ideengeschichte der Monarchiekonzeption Ludwigs II. ist noch nicht geschrieben; siehe an seriösen Vorarbeiten hierzu daher bislang: Petzet, Gebaute Träume; Spangenberg, Thronsaal. 20 Napoléon III. versuchte den extrem schwierigen Spagat zwischen Revolution, Tradition und imperial-bonapartistischem Erbe, inklusive des – gescheiterten – Versuchs eines Sacre zu Notre Dame: vgl. Tulard, Sacre, S. 1152. Zur geistesgeschichtlichen Einordnung vgl. Schmid, Waterloo, vor allem S. 40–43; dort auch weiterführende Literaturhinweise. 21 Zum russischen Zaren- bzw. Kaisertum vgl. Schmid, Imperator Russiae, vor allem S. 171–173. 22 Vgl. den Kommentar der Vossischen Zeitung Nr. 406, 30.8.1910: GStA I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode, Mappe 47. 23 Posener Tageblatt Nr. 405, Morgen-Ausgabe, 31.8.1910: GStA I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode, Mappe 47. 19
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Der Streit von 1910 bildete den Höhepunkt einer öffentlichen Auseinandersetzung um das Gottesgnadentum, die während der ganzen Regierungszeit Wilhelms II. latent blieb. Bereits im November 1887 hatte Prinz Wilhelm in einem Brief an Bismarck das Gottesgnadentum erwähnt. Wilhelm hatte Bismarck den Entwurf für einen Erlaß geschickt, der im Falle seiner Thronbesteigung sofort an die Bundesfürsten weitergeleitet werden solle. Man müsse nämlich befürchten, daß die Fürsten, die alle der älteren Generation angehörten, einen so jungen Kaiser nicht dulden würden: „Daher muß die von Gottes Gnaden stammende Erbfolge als ein selbständiges fait accompli den Fürsten gegenüber betont werden, und zwar so, daß sie keine Zeit haben, viel darüber zu grübeln.“24 Dieser Brief war bemerkenswert zu einem Zeitpunkt, als sowohl der Großvater als auch der Vater Wilhelms noch lebten. Wilhelm, der 1887 noch ganz von Otto und Herbert von Bismarck beeinflußt war, die ihn in das politische Geschäft einführten, schlug hier dem Kanzler vor, das Gottesgnadentum als Instrument zu benutzen, um den hohenzollernschen Anspruch auf die Kaiserwürde gegenüber den anderen Fürsten durchzusetzen. In seiner Antwort empfahl Bismarck, den Entwurf sofort zu verbrennen, da ein Skandal zu befürchten sei, wenn bekannt würde, daß er noch zu Lebzeiten des Kaisers und seines Thronfolgers geschrieben worden sei. Grundsätzlich sei es sehr richtig gedacht, daß das Reich auf die Zustimmung der Fürsten angewiesen sei; um dies zu erreichen, sei es aber sinnvoller, Vertrauen zu schaffen und die vertragsmäßigen Rechte zu garantieren.25 Wilhelm hörte in dieser Sache auf Bismarck insofern, als er das Gottesgnadentum nicht mehr ausdrücklich als politisches Mittel gegen die Bundesfürsten ins Spiel brachte. Allerdings blieb das Problem einer „Legitimation der Hohenzollern als neue Reichsdynastie“26 bestehen und führte vor allem in der Kulturpolitik Wilhelms II. zu einer Fortführung dieses Motivs. In seinen öffentlichen Äußerungen und Gesten bezog sich Wilhelm II. auf das Gottesgnadentum nun aber eher als allgemeines Instrument für die Monarchie und gegen Demokratie, Parlamentarismus und Sozialismus. Als erstes Zeichen in diesem Sinne ist bereits die Anordnung Wilhelms II. an den Hofprediger Rudolf Kögel zu verstehen, als Predigttext für den Gottesdienst im Rahmen der Eröffnung des Reichstags das Pauluswort „Von Gottes Gnaden bin ich was ich bin“ zu verwenden.27 24 Prinz Wilhelm an Otto von Bismarck, 29.11.1887: Bismarck, Erinnerung und Gedanke, S. 549. 25 Otto von Bismarck an Prinz Wilhelm, 6.1.1888: Bismarck, Erinnerung und Gedanke, S. 550–552. 26 Förster, Kulturpolitik, S. 26. Zur Kulturpolitik Wilhelms II. siehe auch Kapitel F.
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Da weder der Grund für diese Anordnung noch die Predigt selbst überliefert sind, ist hier keine sichere Interpretation möglich. Die Anordnung paßt aber in das Gesamtbild der Reichstagseröffnung, deren Höhepunkt der feierliche Einzug des Hofes mit den Bundesfürsten war, während die Reichstagsabgeordneten selbst in den Hintergrund traten.28 Auch daß Wilhelm aus gebotener Rücksicht gegenüber den Fürsten auf eine Kaiserkrönung verzichtete und statt dessen die Reichstagseröffnung zu einer Art Ersatzkrönung umfunktionierte, zeigt, daß Wilhelm um die Mitarbeit der Fürsten warb und Machtdemonstrationen lieber an das Parlament richtete.29 Besonders deutlich wird das politische Motiv, das Gottesgnadentum als Stütze der Monarchie im Kampf gegen die Demokratie zu nutzen, an Wilhelms II. Auftreten auf dem diplomatischen Parkett und vor allem an seinem Briefwechsel mit dem russischen Kaiser Nikolaus II. Als Wilhelm II. 1895 befürchtete, Rußland könne sich mit Frankreich gegen Deutschland verbünden, warnte er den russischen Kaiser vor dem republikanischen Frankreich: „Die R.F. [République française] ist aus der großen Revolution entstanden, propagiert deren Ideen und ist dazu verpflichtet, das zu tun. [. . .] Das Blut der Majestäten liegt noch auf diesem Lande! Sieh es an, ist es seitdem wieder glücklich oder ruhig gewesen? Und ist es nicht in seinen großen Momenten von Krieg zu Krieg gezogen? Bis es ganz Europa und Rußland in Ströme Blutes tauchte, bis es zuletzt noch die Kommune über sich hatte? Nicky, nimm mein Wort darauf, der Fluch Gottes hat dieses Volk für immer getroffen. Uns christlichen Königen und Kaisern ist die eine heilige Pflicht auferlegt, den Grundsatz ‚von Gottes Gnaden‘ aufrechtzuerhalten. Wir können gute Beziehungen zur R. F. unterhalten, aber niemals intim mit ihr sein. Ich fürchte immer, daß Leute bei häufigen und langen Besuchen in Frankreich, ohne es zu fühlen, republikanische Ideen einsaugen.“30
Diese eigentümliche Mischung aus heilsgeschichtlicher Deutung der Französischen Revolution und der Befürchtung einer Republikanisierung durch einen zu nahen Kontakt mit Frankreich – die Wilhelm II. auch dem Papst gegenüber äußerte31 – führte nicht zum politischen Erfolg. Weder ge27 Vgl. das Brieftelegramm Wilhelms II. an Rudolf Kögel, 22.6.1888: GStA VI. HA Nl Kögel Nr. 5, Bl. 6. 28 Vgl. Röhl, Aufbau, S. 24–30. 29 Zur Frage der Krönung und zur Charakterisierung der Reichstagseröffnung als Ersatzkrönung vgl. Röhl, Aufbau, S. 21–25. 30 Kaiser Wilhelm II. an Nikolaus II., 25.10.1895: Goetz, Briefe, S. 25–26. 31 Dem Papst erklärte Wilhelm im April 1893, die europäischen Monarchen „repräsentieren das Gottesgnadentum und die konservative Politik. Die Republik und mit ihr der Radikalismus dagegen basiere auf Königsmord, Abschaffung des lieben Gottes und habe zum Zweck den Umsturz aller bestehenden Ordnung. [. . .] Das [französische] Volk komme nicht zur Ruhe und Stabilität, weil es seinem Könige, der ihm von Gott gesetzt, den Kopf abgeschlagen, die Kirche geschändet und die
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lang es Wilhelm II., eine Allianz der europäischen Monarchien zu schaffen, noch konnte er Rußland davon abhalten, sich mit dem republikanischen Frankreich zu verbünden. Außenpolitisch war das Gottesgnadentum also wirkungslos. Die innenpolitische Wirkung der „Rhetorik des Gottesgnadentums“32 ist dagegen differenzierter zu beurteilen, was schon an dem Streit von 1910 deutlich geworden ist, in dem es Gegner wie Befürworter der Reden und des darin ausgedrückten Selbstverständnisses des Kaisers gab. In seiner Dissertation über die Reden des Kaisers hat Michael A. Obst in diesem Zusammenhang die These aufgestellt, Wilhelm II. habe sich mit der Betonung des Gottesgnadentums politisch selbst im Weg gestanden, weil vor allem das Bürgertum abgestoßen worden sei, auf das er sich ansonsten in seiner Politik gestützt habe.33 Für die liberale Presse trifft das in jedem Fall zu. Die reagierte zunehmend gereizt auf alle selbstherrlich-absolutistischen Anklänge in den Äußerungen Wilhelms II., waren diese nun religiös begründet oder nicht. Bekannt ist die Reaktion des Berliner Tageblatts auf die in der sogenannten „Herrliche-Tage-Rede“ Wilhelms II. 1892 geäußerte Empfehlung an alle „Nörgler“, das Land zu verlassen: Dem Abdruck der Rede wurde ohne jeden weiteren Kommentar angehängt: „Artikel 27 der preußischen Verfassung lautet: ‚Jeder Preuße hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern.‘ “34 Es sind aber innenpolitisch zwei Vorgänge bemerkenswert, die das Bild differenzieren: Erstens war es nicht nur Wilhelm II., der das Gottesgnadentum öffentlich ins Spiel brachte, sondern seine Reden wurden von einem Teil der Öffentlichkeit durch eine „Untertanenrhetorik“35 gespiegelt, die den Kaiser in der Überzeugung von der positiven politischen Wirkung seines Auftretens bestärkte. Zweitens war Wilhelm II. selbst bemüht, dem Eindruck entgegenzuwirken, er habe ein absolutistisches Selbstverständnis und spreche aus diesem Grund vom Gottesgnadentum. Die Marienburger Rede von 1910 war nur einer unter vielen Versuchen, deutlich zu machen, daß Gottheit verhöhnt habe.“ (Diktat Kaiser Wilhelms II. über eine Unterredung mit Papst Leo XIII.: Hohenlohe, Denkwürdigkeiten, S. 609–610.) 32 Obst, Einer nur ist Herr, S. 407. 33 Vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 425–426. 34 Berliner Tageblatt, 25.2.1892, „Die neueste Rede des Kaisers“: Obst, Einer nur ist Herr, S. 143. Die Rede Wilhelms II. vom 24.2.1892 ist abgedruckt in: Obst, Die politischen Reden, Nr. 49, S. 86–88. Auch abgedruckt in: Penzler I, S. 207–210. 35 Obst, Einer nur ist Herr, S. 407. Dort auch eine Reihe von Belegen für diese Art von Rhetorik, die zumeist bei offiziellen Empfängen des Kaisers von politischen Würdenträgern gebraucht wurde.
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der Kaiser sein Gottesgnadentum nicht in erster Linie als politisches Recht, sondern als sittliche Pflicht verstehe.36 Im Februar 1891 hatte Wilhelm II. dem Brandenburgischen Provinziallandtag erklärt, „daß ich Meine ganze Stellung und Meine Aufgabe als eine Mir vom Himmel gesetzte auffasse und daß Ich im Auftrag eines Höheren, dem Ich später einmal Rechenschaft abzulegen habe, berufen bin.“37 Wilhelm versuchte damit auch, die Kritik am „Neuen Kurs“ zu beschwichtigen, die von rechts laut geworden war, nachdem die Regierung unter Einbeziehung der Liberalen eine gemäßigtere Politik verfolgte.38 Beim Festmahl der Rheinprovinz 1897, nach der Einweihung des Denkmals für seinen kaiserlichen Großvater am Deutschen Eck in Koblenz, schilderte er Wilhelm I. mit den Worten: „Er trat aus Koblenz, wie er auf den Thron stieg, hervor als ein auserwähltes Rüstzeug des Herrn, als welches er sich betrachtete. Uns allen, und vor allen Dingen uns Fürsten hat er ein Kleinod wieder emporgehoben und zu hellem Strahlen verholfen, welches wir hoch und heilig halten mögen; das ist das Königtum von Gottes Gnaden, das Königtum mit seinen schweren Pflichten, seinen niemals endenden, stets andauernden Mühen und Arbeiten, mit seiner furchtbaren Verantwortung vor dem Schöpfer allein, von der kein Mensch, kein Minister, kein Abgeordneter, kein Volk den Fürsten entbinden kann.“39
Diese öffentlichen Äußerungen legten den Akzent auf den Pflichtcharakter des Gottesgnadentums, ohne damit die politische Dimension zu bestrei36 Um den Kaiser in der Diskussion zu entlasten, behauptete Reichskanzler Bethmann Hollweg auch, Wilhelm II. habe in Königsberg und Marienburg nicht als deutscher Kaiser, sondern nur als preußischer König gesprochen: vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 335. Solche offiziösen Erklärungen haben vermutlich dazu beigetragen, daß eine gewisse Unsicherheit in der Forschungsdiskussion über die Frage besteht, ob Wilhelm II. sich überhaupt auch als Kaiser von Gottes Gnaden verstanden habe: vgl. beispielsweise die gegenteilige Behauptung bei Straub, S. 206–207. Die zitierten Äußerungen Wilhelms II. machen aber deutlich, daß er seine ganze herrscherliche Stellung als von Gottes Gnaden verstand. Eine explizite Unterscheidung zwischen seiner Stellung als preußischer König und der als Deutscher Kaiser findet man in dieser Hinsicht jedenfalls bei Wilhelm II. nirgends. Dagegen sprechen auch die „Demokratisierungstendenzen“ des Gottesgnadentums unter Wilhelm II., die im folgenden zur Sprache kommen. 37 Bei dem Brandenburgischen Provinziallandtage, 20.2.1891: Obst, Die politischen Reden, Nr. 39, S. 69–72; Penzler I, S. 171. Bei der Grundsteinlegung des Kaiser-Wilhelm-Denkmals in Bremen im April 1900 sagte Wilhelm II.: „daß es uns gegeben gewesen ist, das zu erreichen, was erreicht worden ist, liegt vor allen Dingen daran, daß in unserem Hause die Tradition herrscht, daß wir uns als von Gott eingesetzt betrachten, um die Völker, über die zu herrschen uns beschieden ist, zu regieren und zu leiten.“ (Penzler I, S. 101). 38 Vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 122–123. 39 Trinkspruch Wilhelms II. bei dem Festmahl der Provinz, 31.8.1897: Penzler II, S. 61; Obst, Die politischen Reden, Nr. 88, S. 160–162.
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ten.40 Die Rede in Koblenz verband sogar beides eng miteinander, indem die Verantwortung vor Gott gegen die Verantwortung vor Volk, Parlament und Regierung – möglicherweise mit einer späten Spitze gegen Bismarck – in Stellung gebracht wurde. Daß es in diesen Redekontexten jeweils der Fürst war, dem allein das Gottesgnadentum zugesprochen wurde, ist aus der politischen Motivation der Reden zu erklären und ist weniger als modernes „Gottesgnadentum der Hochbegabten“41 zu deuten, sondern im Sinne einer traditionellen Vorstellung. Allerdings ging es in diesen Fällen auch nicht eindeutig um ein traditionelles Gottesgnadentum im Sinne einer Auszeichnung des Amtes; in den Formulierungen „Instrument des Herrn“, „auserwähltes Rüstzeug des Herrn“ etc. schwang durchaus auch die Vorstellung Erwählung der Person – zum Amt – mit. In der Königsberger Rede von 1910 war offenbar genau dies ein Stein des Anstoßes; jedenfalls versuchte der Kaiser den entsprechenden Verdacht mit Hilfe der Marienburger Rede wenige Tage später auszuräumen. Auch dabei griff er allerdings nicht auf eine amtstheologische Begründung im Sinne einer göttlichen Auszeichnung des Herrscheramtes zurück, sondern versuchte wieder etwas Neues. Mit dem Hinweis, daß nicht nur der Fürst, sondern eigentlich jeder Christ sich als Instrument des Herrn betrachten müsse, brachte er nämlich einen weiteren Aspekt ins Spiel: den einer Demokratisierung des Gottesgnadentums. Da es keine schriftliche Fixierung der Gründe gibt, die für Wilhelms Schwenk ausschlaggebend waren, ist die Frage nicht zu entscheiden, inwiefern hier ein bewußter Versuch vorlag, eine traditionelle bzw. absolutistisch wirkende Vorstellung modern zu adaptieren und damit kommunizierbar zu machen. Spätestens im holländischen Exil hat der Kaiser jedenfalls viel Mühe darauf verwendet, ein Gottesgnadentum aller Gläubigen zu propagieren und damit gerade auch die Arbeiterschaft zu erreichen. Inhaltlich setzte er dabei zwei Akzente: die Hemmung der Ichsucht durch Gottgebundenheit, also die sittliche Verantwortung vor Gott einerseits und die Allgemeinheit des Auserwähltheitsgedankens im Sinne einer göttlichen Legitimation jedes Amtes und Standes andererseits. 40
Weitere Reden, in denen das Gottesgnadentum in ähnlicher Weise verwendet wurde, hielt Wilhelm II. am 15.5.1890 vor dem ostpreußischen Provinziallandtag (vgl. Penzler I, S. 114; Obst, Die politischen Reden, Nr. 32, S. 4749), am 6.9.1894 beim Festmahl für die Vertreter der Provinz Ostpreußen (vgl. Penzler I, S. 275; Obst, Die politischen Reden, Nr. 58, S. 99–101) und beim Festmahl des rheinischen Provinziallandtages in Düsseldorf im Mai 1891, wo er sagte: „Ich darf auch Meinerseits von den Mir vorgezeichneten Wegen, die Ich mit Meinem Gewissen und vor Meinem Gott allein zu verantworten habe, nicht abweichen, und Ich werde nach wie vor nach bestem Wissen und Gewissen wie für mein ganzes Volk so auch für die Rheinprovinz arbeiten.“ (Penzler I, S. 177; Obst, Die politischen Reden, Nr. 42, S. 75–77.) 41 Straub, S. 207.
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Beiden Gedanken gab Wilhelm II. in seinen Predigten Ausdruck, die er zumeist vor seiner Doorner Hausgemeinde hielt und dann zur Verbreitung in Deutschland veröffentlichen ließ.42 Am Sonntag Cantate, am 18. Mai 1930, führte er zum Predigttext Joh. 15,5 („Ohne mich könnt ihr nichts tun!“) aus: „Also ‚von Gottes Gnaden‘ bedeutet: führen im Auftrage Gottes, im Gefühl der Verantwortlichkeit Ihm gegenüber, unter Seiner Kontrolle, gehemmt und gebunden durch dieselbe, der man Rechenschaft schuldet. [. . .] ,Dei Gratia‘ – von Gottes Gnaden – ist ein Jeder von uns an seiner Stelle, das adelt jede Arbeit. Ein jeder von uns hat das ihm zugewiesene Amt von Gottes Gnaden empfangen und ist ihm verantwortlich. Das trifft nicht nur auf den Fürsten und Führer zu, das gilt auch für den schlichten Arbeiter! Jeder hat sein Amt Dei Gratia – von Gottes Gnaden! Im Gegensatz zu der jetzt üblichen Auffassung: ‚Volksbeauftragter von Volkes Gnaden‘. Da fehlt ‚Dei Gratia‘ und ihre Hemmung! Die Gottgebundenheit bedingt, dass man sich nicht hemmungslos seinen Gefühlen. [!] Leidenschaften, Neigungen hingibt, sondern bei allen seinen Handlungen durch die Hemmung der Verantwortlichkeit für sein Volk und Vaterland sich an Gott gebunden fühlt. Daher nennen zum Beispiel schon die alten Inder die Gottheit ‚Die Grosse Hemmung‘. Wir sollten darüber nicht lächeln. Gelten sie auch im herkömmlichen Sinne als Heiden, so wollen wir doch bedenken: Wie wenige von uns haben diese grosse Hemmung! Zumal daheim im lieben Vaterland!“43
Aufschlußreich ist an dieser Predigt nicht nur, daß Wilhelm II. das Gottesgnadentum ausdrücklich auf das Amt bezog, das ein jeder Christ von Gott zugewiesen bekommen und innerhalb dessen er in Verantwortung vor Gott zu handeln habe. Interessant scheint auch, daß gerade Wilhelms Betonung der sittlichen Verpflichtung durch das Gottesgnadentum eine antidemokratische Spitze enthielt: Die „Grosse Hemmung“ gehe eben verloren, wenn man sich nicht mehr Gott, sondern dem Volk verantwortlich fühle. Wilhelm II. verfolgte damit auch weiterhin das Ziel, die Arbeiterschaft dem Einfluß der Sozialdemokratie zu entziehen. In einer in den Kirchlichsozialen Blättern 1926 abgedruckten Pfingstansprache erklärte Wilhelm noch expliziter: „Jede Arbeit ist von Gott verordnet! Jede Arbeit, in diesem Pfingstgeist empfunden und durchgeführt, adelt! Die Arbeit ist eine Aristokratin; der Arbeiter oder die Arbeiterin, welche in diesem Pfingstgeist ihre Arbeit leisten, werden bei Leibe 42
Ausführlich zu den Exilpredigten Wilhelms II. siehe Kapitel H. III. „Ohne mich könnt ihr nichts tun!“. Ansprache Seiner Majestät des Kaisers an die Hausgemeinde zu Haus Doorn am Sonntag Cantate, den 18. Mai 1930: GStA, BPH Rep. 53 Nr. 444, S. 3–5. Auch vorhanden in: RA Utrecht, Nr. 255 (Fiche 1513). Wilhelm II. verschickte die Predigt an Verwandte und Bekannte und ließ sie darüber hinaus von der Vaterländischen Verlagsanstalt Berlin drucken: vgl. RA Utrecht, Nr. 263 (Fiche 1554). 43
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niemals Proletarier, im Gegenteil, sie sind Aristokraten, denn sie arbeiten Gott zu ehren und aus Liebe zu anderen Mitmenschen.“44
Was er sich konkret darunter vorstellte, daß der deutsche Arbeiter kein Proletarier, sondern Aristokrat sei, schilderte Wilhelm II. in einer an die Ruhrarbeiter gerichteten Osteransprache von 1926. Gehorsam gegenüber und Vertrauen zu Gott seien die Grundlagen des christlichen Glaubens; die Niederlage von 1918 sei eine direkte Folge des Ungehorsams des deutschen Volkes und damit auch des Glaubensverlustes. Glauben aber heiße Arbeit „zur Ehre Gottes als Sein Beauftragter. Wir sind alle vom Himmel herab durch Gott auf diese Erde abkommandiert, ein jeder auf seinen Posten, einen höheren oder geringeren. Versuchen wir uns andere Posten widerrechtlich anzueignen durch Umsturz der von Gott gegebenen Verhältnisse, versündigen wir uns an Seiner Weltordnung und an Ihm. Dann straft Er!“45
Der Arbeiter als Aristokrat hieß für Wilhelm II. also in erster Linie: als Nicht-Sozialdemokrat, als jemand, der die „gegebenen Verhältnisse“ akzeptiert und nicht auf Umsturz sinnt. Wilhelm propagierte damit durchaus ein eigenes Standesbewußtsein des Arbeiters, allerdings eines, das sich mit den politischen Verhältnissen des Kaiserreichs abfand bzw. hätte abfinden sollen. Eine solche Haltung interpretierte Wilhelm II. einerseits als dem christlichen Glauben entsprechend, andererseits als Folge des durch das ArbeiterGottesgnadentum gebotenen Gehorsams. Mit dieser Interpretation befand sich Wilhelm II. noch ganz in der geistigen Welt des Kaiserreichs und empfahl der deutschen Arbeiterschaft die Einordnung in eine politische Gesamtordnung, die real gar nicht mehr existierte. Das war nicht unbedingt unmodern, da auch im Umkreis von Autoren der sogenannten „Konservativen Revolution“ – vor allem Othmar Spann und Edgar Julius Jung – ständestaatliche Konzepte als Alternative zum liberalen Parlamentarismus entwickelt wurden.46 Es deutet aber nichts darauf hin, daß Wilhelm II. Kontakt zu Spann oder Jung gehabt hätte oder auch 44 „Morgenandacht Sr. Majestät des Kaisers Wilhelm in Doorn am 6. Juni 1925. In: Kirchlich-soziale Blätter 29,4 (1926), S. 2: RA Utrecht, Nr. 255 (Fiche 1513). 45 „Ansprache an die Ruhrleute am II. Osterfeiertag. Doorn, 5.VI.26“, Maschinenschrift, S. 4: RA Utrecht, Nr. 255 (Fiche 1513). 46 Vgl. Spann, Der wahre Staat; vgl. Jung, Herrschaft. Spann war Österreicher und gewann in den 1930er Jahren mit seinem Staatskonzept in Österreich erheblichen politischen Einfluß. Vgl. dazu und zu den Konzepten Jungs und Spanns Mohler/Weißmann, S. 127–129 und S. 142–143. Mohler/Weißmann weisen zudem auf die Wurzeln des Korporatismus der Weimarer Zeit in der christlich-sozialen Bewegung des 19. Jahrhunderts und ihren Vorläufern hin; das wäre zumindest auch eine mögliche Erklärung für gewisse Ähnlichkeiten mit den Vorstellungen Wilhelms II.: vgl. Mohler/Weißmann, S. 284–285, dort auch eine Auflistung der einschlägigen Forschungsliteratur zum Thema. Zu den Biographien Spanns und Jungs vgl. Mohler/Weißmann, S. 467–469.
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nur deren Überlegungen kannte. Wahrscheinlicher ist, daß seine politischen Vorstellungen auch zu Regierungszeiten bereits implizit ein korporativistisches Konzept im Auge hatten; Wilhelms – in der Ruhrarbeiteransprache sozusagen erneuertes – Werben um den „Arbeiterstand“ weist zumindest in diese Richtung. Die beiden zitierten Predigten sind daher auch als eine nachträgliche Deutung der eigenen politischen Bemühungen zu lesen, nach denen die – nicht sozialdemokratische – Arbeiterschaft einen selbstverständlichen Platz in der politischen Gesamtordnung hätte einnehmen sollen.47 Die politische Bedeutung des Gottesgnadentums erklärt sich in diesem Zusammenhang dann ganz einfach dadurch, daß Wilhelm mit dem Begriff des Gottesgnadentums den politisch positiven Einfluß des christlichen Glaubens für die Arbeiterschaft auf den Punkt bringen wollte. Das war dann allerdings faktisch keine Demokratisierung des Gottesgnadentums in dem Sinne, daß das Gottesgnadentum den politischen Umständen der Demokratie angepaßt worden wäre, sondern eher ein Appell an christliche und monarchische Restbestände im Volk. Daneben war es allerdings auch ein Versuch, das eigene herrscherliche Selbstverständnis dem deutschen Volk verständlich zu machen mit Hilfe einer Neuinterpretation des Gottesgnadentums im Sinne einer Versittlichung und einer Verallgemeinerung in Richtung berufstheologische Vorstellungen. In zwei seiner Buchveröffentlichungen versuchte Wilhelm II., das Gottesgnadentum der Hohenzollern entsprechend zu deuten.48 In dem als Buch gedruckten Vortrag Das Königtum im alten Mesopotamien von 1938 stellte er die im alten Sumer entstandene Vorstellung vom universalen Gottkönigtum und deren Fortwirken bis zum Kaisertum des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation dar,49 um dann bei der Schilderung von Papsttum und Territorialfürsten als gegen Gottkönigtum und universale Bedeutung gerichtete Mächte auf die Rolle seiner eigenen Vorfahren zu sprechen zu kommen: „Mit Stolz darf ich sagen, daß in der Entwicklung des Landesfürstentums meine Vorfahren, die Hohenzollern, eine hervorragende und erfolgreiche Rolle gespielt haben. Der Gedanke eines ‚Gottkönigtums‘ lag ihnen fern; durchdrungen von der christlichen Mahnung: gebt dem Kaiser was des Kaisers ist, und Gott was Gottes ist – fühlten sie sich lediglich als Diener Gottes, eine Auffassung, der schon der erste Hohenzoller als Kurfürst von Brandenburg treffenden Ausdruck verlieh, 47 Zum Versuch Wilhelms II. während seiner Amtszeit, sich als Arbeiterkaiser zu präsentieren – wobei er die Arbeiterschaft auch explizit als „Stand“ ansprach –, siehe Kapitel D. III. 48 Zum Exil insgesamt und zur Rolle der Veröffentlichungen Wilhelms II. siehe Kapitel H. 49 Zu Wilhelms Verständnis der translatio imperii und seiner Einordnung des Kaiserreichs und der Hohenzollern in diesen Zusammenhang siehe Kapitel F. II.
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wenn er sich einen ‚schlichten Amtmann Gottes an Seinem Werk‘ nannte. An Stelle des Anspruches auf Gott-Ähnlichkeit war das christliche Ethos getreten [. . .]. Wenn sich die Hohenzollern-Fürsten ‚von Gottes Gnaden‘ nennen, so ist dies nicht wie bei den orientalischen Herrschern ein Anspruch auf Göttlichkeit, sondern ein Ausdruck christlicher Demut und Frömmigkeit, der aber auch zugleich den Begriff göttlich übertragener Pflichten in sich schließt.“50
Damit erteilte Wilhelm II. für sich und das eigene Haus jeder Form von religiöser Sonderstellung eine Absage.51 Die politischen Implikationen des Gottesgnadentums blieben aber faktisch dieselben, was an deren Charakterisierung durch Wilhelm in dem 1929 erschienenen Buch Meine Vorfahren deutlich wird: „In Folge der festgewurzelten inneren Religiösität [!] betrachteten sich alle [Hohenzollern] – wie Kurfürst Friedrich I. es ausdrückte – als ‚schlichter Amtmann Gottes an seinem Werk‘, als Gott für ihr Tun und Leisten verantwortlich. Dieses persönliche Verantwortungsverhältnis zu Gott zwang sie automatisch, stets das Wohl des Ganzen im Auge zu behalten und das Prinzip des ‚Suum cuique‘ bereits lange vorher in die Tat umzusetzen, ehe Friedrich I. diese Worte auf den Stern des Schwarzen Adlerordens eingravieren ließ. Dieses ‚Suum cuique‘ konnte nur praktisch durchgeführt werden, wenn die Grundidee und Grundlinie festgehalten wurde: eine über allen Parteien und Interessengruppen stehende ‚objektive Staatsgewalt‘ zu bilden und, frei von äußeren Interesseneinflüssen, sie immer zu bewahren. So nur konnte der Sinn des ‚Suum cuique‘ voll zur Wirkung gebracht werden, d.h. die ‚objektive Staatsgewalt‘ würde am reinsten in der Person eines Monarchen verkörpert sein, der weder Parteien durch Zugeständnisse aller möglichen Vorteile gewinnen mußte, noch selbst – in seiner Unabhängigkeit von materiellen und finanziellen Dingen, unabhängig von Stellung, Karriere und äußerer Aufstiegsmöglichkeit, die jeder andere anstrebt – gewonnen werden konnte.“52
Mit dem Begriff der „objektiven Staatsgewalt“ sprach Wilhelm II. genau das Motiv an, für das Otto Hintze im eingangs zitierten Aufsatz geworben hatte. Während Hintze allerdings die Vorstellung vom Monarchen als dem über den Parteigegensätzen stehenden Repräsentanten der Staatsidee ausdrücklich als moderne Alternative zur nicht mehr zeitgemäßen religiösen Legitimation des Herrschers von Gottes Gnaden präsentierte, setzte Wil50
Wilhelm II., Das Königtum im alten Mesopotamien, S. 42–43. Das glatte Gegenteil behauptet Hans Wilderotter, der für seine Position, Wilhelm habe sich selbst als „Vermittlungspersönlichkeit zur Gottheit“ verstanden, allerdings Wilhelms Charakterisierung des mesopotamischen Gottkönigtums zitiert und dabei unterschlägt, daß Wilhelm das eigene Selbstverständnis in aller Deutlichkeit davon abgrenzt: vgl. Wilderotter, Instrument, S. 307. Oswald Gschliesser hat dagegen die Aussage des Vortrages richtig wiedergegeben, wenn er schreibt, laut Wilhelm II. sei bei den Hohenzollern das „christliche Ethos“ an die Stelle des universalen Gottkönigtums der Sumerer getreten: Gschliesser, S. 389. 52 Wilhelm II., Meine Vorfahren, S. 3–4. Das handschriftliche Originalmanuskript befindet sich in: GStA, BPH Rep. 53 Nr. 445. 51
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helm II. beides zusammen: Erst die Unterordnung unter Gottes Willen und die Akzeptanz der durch Gottes Willen herbeigeführten Stellung in der Welt versetze den Herrscher wirklich in die Lage, Personifikation der unabhängigen, weil objektiven Staatsgewalt zu sein. Damit berief sich Wilhelm II. ausdrücklich auf eine Vorstellung, die im Haus Hohenzollern traditionell in besonderer Weise vertreten wurde. Wilhelm hatte ihren historischen Ursprung in der Stärkung des Landesfürstentums gegen Papst und Kaiser ausgemacht; ihr theologischer Ursprung lag in der Reformation. Die Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung des Einzelnen, die Luther gelehrt hatte, löste den weltlichen Herrscher von der geistlichen Vermittlung der Kirche und machte ihn unmittelbar Gott verantwortlich, als „Amtmann“ Gottes.53 Wilhelms Auffassung von der sittlichen Verantwortung des Herrschers in seinem Tun gegenüber Gott war also aus evangelisch-religiöser Sicht konsequent gedacht und hätte vielleicht auch politisch den gewünschten Effekt bringen können, wenn die entsprechende Vorstellung zu Regierungszeiten behutsamer in die öffentliche Debatte gebracht worden wäre. Christopher Clark hat jedenfalls darauf hingewiesen, daß die Mittelschicht und das einfache Volk durchaus eine Affinität zu Demonstrationen der Religiosität gehabt habe.54 Die Art und Weise, in der Wilhelm II. während seiner Regierung auf das Gottesgnadentum zu sprechen kam – sporadisch, wenig erläuternd und oft direkt gegen parlamentarische Ansprüche gerichtet – mußte allerdings auf breites Unverständnis stoßen, vor allem in der Presse und unter den Gebildeten.55 Aus dieser Art und Weise erklärt sich auch die völlige Disparität der Darstellung und des Urteils über das Gottesgnadentum Wilhelms II. bei den Zeitgenossen und in der historischen Forschung.56 Hinzu 53
Unruh, S. 314–323. Vgl. Clark, Wilhelm II., S. 240. 55 Zum Unverständnis der Gebildeten über das unmoderne Festhalten am Gottesgnadentum des sonst als modern beurteilten Kaisers siehe Busching, Der Kaiser, S. 191–192; Wolff, Abdankung, S. 254; Goetz, Der Kaiser, S. 309–310; Baronin Spitzemberg, S. 147. 56 Daß es in der Forschung dennoch kaum eine echte Kontroverse über den Inhalt der Vorstellung gab, die Wilhelm II. mit dem Gottesgnadentum verband, hängt mit der nahezu einhelligen Beurteilung dieser Vorstellung als anachronistisch zusammen. Eine eigentliche Kontroverse gab es deshalb lange nur um die Frage, ob Wilhelm II. das Gottesgnadentum in erster Linie als machtpolitisches Instrument benutzt habe (so etwa Fehrenbach, S. 224; Andresen, S. 220; Wilderotter, Instrument, S. 307; Hoffmann, Rheinische Romanik, S. 98) oder ob er vor allem selbst subjektiv ehrlich daran geglaubt habe, Herrscher von Gottes Gnaden zu sein (so Röhl, Jugend, S. 282–292 und Röhl, Aufbau, S. 434; Pezold, S. 90–91; Benner, S. 95–97; Clark, Wilhelm II., S. 93; Kroll, Wilhelm II., S. 301). In der Frage der inhaltlichen Beurteilung gab und gibt es große Verwirrung darüber, ob Wilhelm das Gottesgnadentum als besonderes Recht oder als besondere Pflicht und ob er es auf seine Person oder 54
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kommt schließlich, daß Wilhelms selbstbewußtes Auftreten und das immer wiederkehrende Hervortreten seiner Persönlichkeit vor seinem Amt gewollt oder ungewollt eine Erwartungshaltung im Volk erzeugte, die sich im Falle eines politischen Scheiterns gegen ihn wenden mußte.57
II. Herr der Mitte Wilhelms Deutung vom Monarchen als dem Vertreter der objektiven Staatsgewalt hatte zwei politische Implikationen: erstens die Unabhängigkeit des Herrschers von allen politischen Partikularinteressen, zweitens ein durch diese Unabhängigkeit erst ermöglichter Anspruch, zwischen den Partikularinteressen zu vermitteln und ein integratives Zentrum zu bilden. Mit letzterem ist eine politische Aufgabe angesprochen, die durch die politischen Emanzipationen in den Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts akut geworden war. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts standen sich in auf sein Amt bezogen habe: vgl. vor allem Schüssler, S. 29–31. In der Frage der Genese des Gottesgnadentumverständnisses ist die bereits in Kapitel C. IV. dargestellte These John Röhls von einem spiritistisch inspirierten persönlichen Auserwähltheitsglauben ebenso als unzutreffend abzulehnen wie Nicolaus Sombarts psychologisierende Deutung vom Gottesgnadentum als Rationalisierung der Steigerung von Wilhelms Selbstwertgefühl: Vgl. Röhl, Jugend, S. 290 und Aufbau, S. 435; Sombart, Wilhelm II., S. 156. Camilla G. Kaul sowie Michael A. Förster haben das Gottesgnadentum Wilhelms II. weiterführend als Legitimationsmittel der eigenen als neuer Nationaldynastie gedeutet: Kaul, S. 445; Förster, Kulturpolitik, S. 26. Dagegen ist die Deutung Elisabeth Fehrenbachs, Bernd Andresens, Dirk Pezolds und Eberhard Straubs von einem modernen, durch Carlyle vermittelten Genieverständnis als Quelle von Wilhelms Gottesgnadentum ohne Beleg geblieben; vorstellbar ist höchstens ein mittelbarer Einfluß durch eine entsprechende Gesamtatmosphäre, die allerdings auch nicht belegt worden ist: Andresen, S. 218–219; Fehrenbach, S. 224; Pezold, S. 90–91; Straub, S. 207. Stefan Samerski geht von einem im Grunde katholischen Reichsverständnis bei Wilhelm II. aus, der sich in karolingischer Nachfolge als Schutzherr der Christenheit verstanden und dazu auch das Gottesgnadentum gebraucht habe: ein Anspruch, der sich in der Beziehung Wilhelms II. zum Papsttum zeige und der ernst genommen werden müsse: vgl. Samerski, Papst und Kaiser, S. 201–202. Thomas Benner schließlich kommt in seiner das Gottesgnadentum einschließenden Analyse der religiösen Selbstdarstellung des Kaisers zu dem Ergebnis, daß dieser Elemente traditioneller und charismatischer Herrschaft zu einem neuen Ganzen verbunden habe, letztlich aber mit seinem Vermittlungsversuch von Tradition und Moderne gescheitert sei: Benner, S. 361–364. 57 Vgl. dazu den 1897 erschienenen Artikel „The Divine Right – to Govern Wrong“. In: The St. James Gazette, 2.9.1897. Zit. nach Obst, Einer nur ist Herr, S. 196–197. Dort hieß es: „He is always on the move, always interfering, always talking about his divine right and himself. When the end is a failure, he cannot be surprised if the blame is thrown on him. He has asked for it – forgetting that in this age the world no longer believes in divine right to the point of accepting an incapable ruler as a visitation of God’s wrath to be humble borne.“
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Politik wie Wissenschaft zumeist auf der einen Seite die gesellschaftliche Emanzipation bejahende Fortschrittliche und auf der anderen Seite eine umfassende Restauration der alten Ordnung anstrebende Konservative gegenüber. In Preußen allerdings entstand jenseits dieses Gegensatzes eine Tradition, nach welcher der Staat dank seiner Unabhängigkeit und Autorität in der Lage sei, in gesellschaftliche Konflikte einzugreifen und die Gesellschaft insgesamt auf das politische Ganze hin zu orientieren.58 So meinte etwa Lorenz von Stein, ein Schüler Hegels, in einer Betrachtung über die Folgen der Französischen Revolution: „Das Königthum, als Träger der reinen Staatsidee, steht über den Klassen der Gesellschaft und ihren Gegensätzen.“59 Der revolutionäre Kampf von Teilen der Gesellschaft gegen den bestehenden Staat aber führe entweder zur Abschaffung des Königtums oder zu einer konsequenten staatlichen Unterdrückung: „In diesem Kampfe hat das Königthum für die Erhaltung seiner Selbstthätigkeit und seiner hohen Stellung nur Einen sichern Ausweg; es ist der, sich mit all der Besonnenheit, Würde und Kraft, welche der höchsten Gewalt im Staate geziemt, im Namen der Volkswohlfahrt und der Freiheit an die Spitze der socialen Reform zu stellen. Alles Königthum wird fortan entweder ein leerer Schatten, oder eine Despotie werden, oder untergehen in Republik, wenn es nicht den hohen sittlichen Muth hat, ein Königthum der socialen Reform zu werden.“60 Einen ganz ähnlichen Ansatz, der in Teilen wie eine Vorwegnahme wilhelminischer Innenpolitik erscheint, vertrat Heinrich von Treitschke in seiner 1859 erschienenen Habilitationsschrift Die Gesellschaftswissenschaft. Treitschke setzte sich dabei mit den Konzepten einer neuen Soziologie auseinander, die Stein, Robert von Mohl und andere entwickelt hatten.61 Der Hauptirrtum der meisten dieser neueren Konzepte, so Treitschke, bestehe darin, daß die Gesellschaft als eine Einheit aufgefaßt werde, die sie gar nicht sei. Es handle sich bei ihr vielmehr um einzelne Genossenschaften mit jeweiligen Partikularinteressen, die höchstens gewisse äußerliche Ähnlichkeiten, aber keine innere Einheit aufwiesen. Treitschke plädierte allerdings nicht für eine wissenschaftliche und politische Reaktion, sondern meinte, man könne Gesellschaftswissenschaft sinnvoll nur als Staatswissenschaft betreiben, das heißt als Geschichte der Wechselwirkung von Staat und Gesellschaft und vor allem der Durchdringung der Gesellschaft durch den Staat.62 58
Vgl. Clark, Preußen, S. 495–496. Stein, S. 49. Vgl. zu Stein und der universalistisch-etatistischen Tradition Preußens auch Clark, Preußen, S. 700–701. 60 Stein, S. 49. 61 Vgl. das Vorwort von Erich Rothacker in Treitschke, Gesellschaftswissenschaft, S. VII–VIII. 62 Vgl. Treitschke, Gesellschaftswissenschaft, S. 54–68. 59
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Treitschke war also auch der Auffassung, dem Staat komme die Aufgabe zu, einen Ordnungsrahmen herzustellen für die Sonderbestrebungen der einzelnen Volksteile und diese zu durchdringen, ohne sie aufzuheben: „Ein Staat steht hoch, entspricht seiner universellen Aufgabe in vollem Maße, wenn er die gesamten Lebenszwecke der Gesellschaft seiner Zeit fördernd und ordnend in sich vereinigt.“63 Die Blüte des Staates, so Treitschke, sei dort erreicht, „wo der Friede zwischen allen sozialen Gruppen gewahrt ist, wo der Staat alle Bestrebungen der Gesellschaft fördert und die Staatseinrichtungen jenen durch den Reichtum des sozialen Lebens notwendig gebotenen Charakter der Mannigfaltigkeit tragen, den die Naturalisten mit dem Namen des Eklektizismus zu brandmarken meinen. Hier sind Staats- und Privatrecht streng gesondert, hier zeigt sich die – nicht demokratische, sondern echt politische – Erscheinung, daß den sozialen Klassen nicht kraft eigenen Rechts, sondern allein kraft Übertragung durch die Staatsgewalt politische Macht zustehen darf. Hier, wo der Staat so viel für die Gesellschaft leistet, verlangt er auch viel von seinen Bürgern: die Idee der politischen Pflicht tritt in den Vordergrund des öffentlichen Lebens. Hier erscheint der politische Einheitsgedanke in voller Majestät; und gerade weil hier der Kampf der sozialen Klassen gebrochen ist, wird ein Benutzen einzelner sozialer Gruppen für bestimmte Zwecke möglich.“64 In diesem Konzept bildet der Staat zunächst nur den äußeren Rahmen für die gesellschaftliche Entfaltung, durchdringt dann aber die gesellschaftlichen Teilbereiche und richtet sie auf den politischen Einheitsgedanken aus. Auf diese Weise, so meinte Treitschke, sei ein symbiotisches Verhältnis von Staat und Gesellschaft zu gewährleisten, das weder die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung behindere noch die notwendige politische Einheit zerstöre. Stärker als Stein beharrte Treitschke allerdings auf einem Eigenrecht des Staates als Repräsentanten politischer Einheit, und nicht nur als Vollstrecker gesellschaftlicher Emanzipation. Dieses in den Schriften Hegels, Steins und Treitschkes virulente Problem der staatlichen Integration aller Teile der Gesellschaft war für das 1871 gegründete deutsche Kaiserreich konstitutiv. Das hing zum einen damit zusammen, daß weder das Reich noch das Kaisertum traditional oder auch nur verfassungsrechtlich eindeutig bestimmt waren. Das Kaisertum war eine „lose Ansammlung von Funktionen“65 und das Reich hatte eine „HybridVerfassung“66, in der föderative und zentralistische, zivile und militärische 63
Treitschke, Gesellschaftswissenschaft, S. 72. Treitschke, Gesellschaftswissenschaft, S. 75. 65 Clark, Wilhelm II., S. 13. 66 Clark, Wilhelm II., S. 68. Vgl. dazu auch Fehrenbach, S. 221–230; vgl. Pezold, S. 83–86; vgl. Schieder, Kaiserreich, S. 15–17. Damit ist nicht gesagt, daß 64
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sowie demokratische und monarchische Elemente in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander standen, die nur in der Nation einen gemeinsamen Bezugspunkt hatten.67 Zum anderen waren die faktischen innenpolitischen Divergenzen nicht von der Hand zu weisen. Nicolaus Sombart hat das Bewußtsein der politischen Eliten des Wilhelminismus, angesichts dieser Sachlage permanentes Krisenmanagement betreiben zu müssen, sehr plastisch vor Augen geführt: „Die Hegemonialmacht Preußen mußte konservativ, das übrige Reich aber liberal regiert werden. Es galt, die Industrialisierung zu fördern, gleichzeitig aber auch die Interessen der Agrarier zu wahren. Man mußte die Prärogativen des Protestantismus respektieren, sich aber auch mit dem Katholizismus gutstellen. Man mußte die Polen und Elsässer integrieren, sie aber gleichzeitig in Schach halten. Die föderalistische Struktur durfte nicht angetastet werden, gleichzeitig mußte partikularistischen Tendenzen entgegengetreten werden. Man mußte die Unterstützung der Parteien suchen, ohne aber um einen Zoll vom dynastischen Prinzip abzurücken. [. . .] So war das Bewußtsein, sich in einer Krise zu befinden, die Grundbefindlichkeit der politischen Klasse und des Kaisers selbst.“68 Folgt man Sombart, so gehörte zu den zentralen Identitätsmomenten Wilhelms II. die Überzeugung, als Kaiser „Herr der Mitte“ zu sein und damit eine das Auseinanderstrebende integrierende „Zentralfunktion“ auszuüben.69 Er erweise sich damit als ein Vertreter des metahistorischen „sakralen Königtums“, das den König als Verkörperung der „Idee des Ausgleichs, der Versöhnung, der Gerechtigkeit“ vorstelle; letztlich als denjenigen, der „die allgemeine Entzweiung des Lebens“ überwinde.70 Wesentlich weniger esoterisch hat Christopher Clark auf diesen Integrationsaspekt des kaiserlichen Selbstverständnisses hingewiesen. In dessen innenpolitischen Initiativen könne man das Ziel erkennen, „die politisch ‚neutrale‘ Mitte in der deutschen Politik und Kultur zu integrieren und zu vergrößern, sowie seine Monarchie genau auf dieser Basis zu stützen.“71 Dieses Ziel habe Wilhelm II. durch die Stiftung eines Konsenses zu erreichen versucht, dessen Hauptmerkmale Nationalbegeisterung, Ablehnung des Partikularismus, technische Modernität und Antisozialismus gewesen seien.72 Mit Mischverfassungen nicht eher die europäische Norm der Zeit gewesen wären, aber die Nation als einzige alle Teile bündelnde Gemeinsamkeit mußte eben erst faktisch politisch durchgesetzt werden. 67 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte III, S. 766–785. 68 Sombart, Wilhelm II., S. 58. 69 Sombart, Wilhelm II., S. 85–88. 70 Sombart, Wilhelm II., S. 92 und S. 94–95. 71 Clark, Wilhelm II., S. 87. 72 Vgl. Clark, Wilhelm II., S. 87.
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unterschiedlichen Akzentuierungen haben jüngst auch Michael A. Förster, Michael A. Obst und Martin Kohlrausch dieses integrative Selbstverständnis Wilhelms II. bestätigt.73 Versucht man, Wilhelm II. ein entsprechendes Selbstbewußtsein als Herr der Mitte nachzuweisen, ist man hauptsächlich auf eine Analyse seiner konkreten innenpolitischen Initiativen angewiesen, da programmatische Äußerungen während der Regierungszeit rar sind. Wie auch im Falle des Gottesgnadentums hat Wilhelm II. erst im Exil längere schriftliche Zeugnisse seines Selbstverständnisses hinterlassen. Drei Hinweise zur Rolle des Kaisertums in der eigenen politischen Programmatik sind aber überliefert. Der erste Hinweis – vom März 1890, unmittelbar nach der Entlassung Bismarcks – stammt nicht von Wilhelm II. selbst, sondern vom preußischen Finanzminister Johannes Miquel. Der notierte als eine Art Erklärung für die Entlassung Bismarcks, daß Kanzler und Kaiser unterschiedliche Grundauffassungen im Politischen hätten: Der Kaiser betrachte sich als Vertreter einer Politik der Sammlung und Versöhnung, welche die „Parteigegensätze vermindern und alle zur Mitarbeit bereiten Kreise vereinigen“74 wolle. Als zweiter Hinweis ist ein Telegramm zu verstehen, das Wilhelm II. – diesmal selbst – 1893 an Eulenburg schickte, nachdem im Mai wegen eines nicht bewilligten Militärgesetzes der Reichstag aufgelöst worden war und bei den Neuwahlen die Sozialdemokraten einen Stimmenzuwachs verzeichneten: „Doppelt nötig ist es aber in dieser Zeit, für alle Deutschen, sich fest um das Panier von Kaiser und Reich zu scharen! Wer nicht will ist ein Feind, und wehe dem, der mein Feind sein will!“75 Und drittens erklärte Wilhelm II. im Februar 1895, als gerade eine von Wilhelm favorisierte antisozialistische „Umsturzvorlage“ diskutiert wurde, in einem Privatgespräch dem Botschafter Österreich-Ungarns: „Mein ganzes Sinnen und Trachten ist ja auf das Wohl des Reiches und der Nation gerichtet, da Ich aber überzeugt bin, dass dieses Wohl Deutschland, sowie [!] die Dinge heute stehen, nur erreicht werden kann, wenn die Stellung des Herrschers in der erforderlichen Machtfülle und Unantastbarkeit vollkommen erhalten bleibt, so lasse Ich mich auch nicht beirren auf der Bahn, welche Ich betreten habe und welche Ich bis zu Meinem letzten Atemzuge befolgen werde.“76 73
Vgl. Förster, Kulturpolitik, S. 254; vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 422–426; vgl. Kohlrausch, Samt und Stahl, S. 10, 14 und 19. Dabei betonen Förster und Kohlrausch eher die Erfolge der entsprechenden Initiativen, während Obst die Mißerfolge hervorhebt. 74 Herzfeld, Miquel II, S. 189. 75 Telegramm Kaiser Wilhelms II. an Eulenburg, 29.11.1893: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz II, Nr. 852, S. 1148. 76 Szögyény an Kálnoky, Privatbrief, Berlin, 2.2.1895 (Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, PA III, 146). Zit. nach Obst, Einer nur ist Herr, S. 420.
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Diese drei Zitate fügen sich noch längst nicht zu einem konsistenten Gesamtbild, aber sie liefern wichtige Hinweise auf das politische Selbstverständnis Wilhelms II.: Seine eigene Politik betrachtete er offensichtlich als nationale Integrationspolitik mit dem Ziel einer Vermittlung zwischen den Parteigegensätzen (Hinweis 1). Dazu hielt er es aber für nötig, daß die Deutschen treu zu Kaiser und Reich stehen (Hinweis 2). Deshalb sei die Wahrung des monarchischen Prinzips für das politische Wohl des Deutschen Reiches unabdingbar (Hinweis 3). Zwar sind die drei Dokumente nicht unmittelbar miteinander verbunden, aber mindestens die Äußerung gegenüber dem Botschafter Österreich-Ungarns zeigt die enge Verknüpfung von nationalem Interesse Deutschlands und Wahrung monarchischer Machtansprüche. Das Telegramm an Eulenburg beleuchtet diese Überzeugung lediglich von der „Untertanenseite“ aus, die eben dem nationalen Wohl am besten dienten, wenn sie ihrem Kaiser die Treue hielten. Und wiederum umgekehrt deutet die Bemerkung Miquels darauf hin, daß der Kaiser selbst auch aktiv dazu beitragen wollte, die für die politische Loyalität der Deutschen nötige nationale Integration zu erreichen. Diese enge Verquickung von nationaler Integrationspolitik und monarchischem Prinzip ist auch im Gottesgnadentumstreit von 1910 und im Exilwerk Meine Vorfahren zu beobachten. Wilhelm II. schwebte offenbar eine Art wechselseitige Verstärkung und Stützung von nationaler Integration und monarchischem Prinzip vor: Sein herrscherliches Selbstverständnis als Kaiser führte zu seinem Anspruch, das Reich im Inneren zu einigen, und mit seinen die nationale Einheit fördernden innenpolitischen Initiativen versuchte er im Gegenzug, für die Monarchie und sein Kaisertums politisch zu werben.77 Deutlich erkennbar wurde die Wechselseitigkeit des Konzepts immer dann, wenn es aus Sicht des Kaisers nicht funktionierte. Gerade dann nämlich versuchte er mit Hilfe einer „Einigungs- und Sammlungsrhetorik“78 das Volk wieder auf sich als Repräsentanten nationaler Einheit einzuschwören. Zwei bekanntere Reden Wilhelms II. zeigen diese Offenlegung des eigenen Anspruchs angesichts der Gefahr eines Scheiterns exemplarisch: die „Herrliche-Tage-Rede“ von 1892 und die „Schwarzseherrede“ von 1906. Die erste Rede hielt der Kaiser in einer Situation, in der wirtschaftlicher Rückgang zusammen mit der nahezu kulturkämpferischen Auseinandersetzung um ein klerikal-konservatives Schulgesetz eine allgemeine Unzufriedenheit mit dem „Neuen Kurs“ unter Reichskanzler Caprivi herbeigeführt hatten.79 Dieser Unzufriedenheit wollte Wilhelm II. begegnen, als er am 77 78 79
Siehe dazu vor allem Kapitel D. III. und D. IV. Obst, Einer nur ist Herr, S. 422. Vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 142–143 und Röhl, Aufbau, S. 492–508.
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D. Politische Theologie I: herrscherliches Selbstverständnis
24. Februar 1892 eine Rede vor dem Brandenburgischen Provinziallandtag hielt. Die Neigung, ohne Grund über die Regierung zu „nörgeln“, habe eine Stimmung der Reichsverdrossenheit herbeigeführt, die unbegründet sei: „Wir leben in einem Übergangszustande! Deutschland wächst allmählich aus den Kinderschuhen heraus, um in das Jünglingsalter einzutreten. [. . .] Wir gehen durch bewegte und anregende Tage hindurch, in denen das Urteil der großen Menge der Menschen der Objektivität leider zu sehr entbehrt. Ihnen werden ruhigere Tage folgen, insofern unser Volk sich ernstlich zusammennimmt, in sich geht und unbeirrt von fremden Stimmen auf Gott baut und die ehrliche fürsorgliche Arbeit seines angestammten Herrschers. [. . .] Das feste Bewußtsein Ihrer Meine Arbeit treu begleitenden Sympathie flößt Mir stets neue Kraft ein, bei der Arbeit zu beharren und auf dem Wege vorwärts zu schreiten, der Mir vom Himmel gewiesen ist. Dazu kommt das Gefühl der Verantwortung unserm obersten Herrn dort oben gegenüber und Meine felsenfeste Überzeugung, daß unser Alliierter von Roßbach und Dennewitz Mich dabei nicht im Stich lassen wird. Er hat sich solche unendliche Mühe mit unserer alten Mark und Unserem Hause gegeben, daß wir nicht annehmen können, daß er dies für nichts gethan hat. Nein, im Gegenteil, Brandenburger, zu Großem sind wir noch bestimmt, und herrlichen Tagen führe Ich euch noch entgegen.“80
Die Motive der Rede sind deutlich: Das Volk dürfe nicht an der Regierungsarbeit herumkritisieren, sondern müsse Gott und Kaiser vertrauen, daß das Richtige schon getan werde. Der Kaiser arbeite – hier wieder ein Anklang an das Gottesgnadentum – in der Verantwortung vor Gott, der das deutsche Volk zu Großem berufen habe, wenn es einig zusammenstehe. Das verhinderten aber die „Nörgler“, die besser das Land verlassen sollten, da es ihnen in der Heimat doch offensichtlich so wenig gefalle.81 Dieselben Motive finden sich auch in der „Schwarzseherrede“ von 1906. Die Rede war Wilhelms II. Antwort auf eine in der Presse laut gewordene Unzufriedenheit über die kaiserliche Politik, die sich an dem geringen Anlaß entzündet hatte, daß der Kaiser mit der Tradition gebrochen hatte, bei der Geburt eines präsumtiven Thronfolgers eine Amnestie für Majestätsbeleidigungen zu erlassen.82 Beim Festmahl für die Provinz Schlesien in Breslau reagierte Wilhelm II. auf diese Kritik, indem er nach einem Rückblick 80
Festmahl des Brandenburgischen Provinziallandtages, 24.2.1892: Penzler I, 208–209; Obst, Die politischen Reden, Nr. 49, S. 86–88. 81 Dieses „Nörgler“-Motiv war in der „Schwarzseherrede“ 1906 wesentlich prominenter plaziert als in der „Herrliche-Tage-Rede“ von 1892, findet sich aber auch hier, wo Wilhelm II. rhetorisch fragt, ob es nicht besser wäre, „daß die mißvergnügten Nörgler lieber den deutschen Staub von ihren Pantoffeln schüttelten und sich unsern elenden und jammervollen Zuständen auf das schleunigste entzögen?“: Obst, Die politischen Reden, Nr. 49, S. 87; vgl. auch Obst, Einer nur ist Herr, S. 142.
II. Herr der Mitte
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auf die Geschichte Schlesiens die Zuhörer aufforderte, sich ganz in den Dienst des Vaterlandes zu stellen: „Und so wollen wir ein neues Gelübde aus dem schönen Schatz der Erinnerungen und der goldenen Treue, die Mir hier entgegenschlug, prägen: Uns von nun an mit Aufbietung aller geistigen und körperlichen Kräfte nur der einen Aufgabe zu widmen, unser Land vorwärts zu bringen, für unser Volk zu arbeiten, ein Jeder in seinem Stande, gleichviel, ob Hoch oder Niedrig, unter Zusammenschlussder [!] Konfessionen dem Unglauben zu steuern und uns vor allen Dingen den freien Blick für die Zukunft zu bewahren und niemals an uns und unserem Volke zu verzagen. Dem Lebenden gehört die Welt und der Lebende hat Recht. Schwarz seher dulde Ich nicht, und wer sich zur Arbeit nicht eignet, der scheide aus, und wenn er will, suche er sich ein besseres Land.“83
Zwischen den beiden Reden liegen 14 Jahre, in denen Wilhelm II. anscheinend gelernt hatte, daß er bei solchen Reden, in denen er die innere nationale Einheit beschwor, weder seine eigene Rolle als Kaiser noch sein Gottesgnadentum zu stark hervorkehren durfte. In Breslau jedenfalls legte der Kaiser den Akzent auf den Zusammenschluß aller Stände und Konfessionen zur gemeinsamen Arbeit für das Vaterland. Nur der Schluß über die Schwarzseher, der in der Sache der Passage von 1892 über die Nörgler entspricht, zeigt hier, wo der Kaiser sich selbst im Ganzen verortete: Noch immer als derjenige, der die nationale Integration gewährleistet und der die Desintegration durch Kritik nicht duldet. Weder die eine noch die andere Rede bewirkten, was Wilhelm II. mit ihnen intendierte. In beiden Fällen schloß die Presse sich weitgehend zu einem Block zusammen, der das Recht auf Kritik verteidigte und absolutistische Neigungen des Monarchen vehement zurückwies.84 Zwar gab es in beiden Fällen durchaus auch Zustimmung zur Rede, aber im wesentlichen wirkten sie gerade nicht integrativ, sondern desintegrativ. Der Grund für das Scheitern in diesen Fällen war, folgt man der geäußerten Kritik, der in den Reden geäußerte quasiabsolutistische Machtanspruch des Kaisers, der keine Kritik dulde und auf den man einfach gläubig vertrauen solle.85 Die Berufung auf die Verantwortung vor Gott wurde in diesem Zusammenhang 82
Vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 285–286. Vor allem die liberale und konservative Presse äußerte ihren Unmut über die Außenpolitik der Regierung und die Redetätigkeit des Kaisers. 83 Rede Wilhelms II. beim Festmahl für die Provinz Schlesien, 8.9.1906: GStA I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode, Nr. 672, Mappe 22, Bl. 87–88. Abgedruckt in: Obst, Die politischen Reden, Nr. 160, S. 280–282. Auch abgedruckt in Krieger IV, S. 35–38. 84 Vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 143–149 und S. 287–290. 85 So vor allem der Artikel im Berliner Tageblatt vom 25.2.1892, „Die neueste Rede des Kaisers“. Weitere Stellungnahmen der Presse zur Herrliche-Tage-Rede: Nichols, S. 179; zur Schwarzseherrede: Haferkorn, S. 106–108.
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D. Politische Theologie I: herrscherliches Selbstverständnis
als bloßes rhetorisches Mittel verstanden, mit dem die Unabhängigkeit von Volk und Verfassung zum Ausdruck gebracht werden sollte,86 ungeachtet der religiösen und sittlichen Dimensionen, die sich für den Kaiser mit dem Gottesgnadentum verbanden. Man könnte auch sagen, daß in Wilhelms Skandale auslösenden Reden die Person dem Amt „in die Quere“ kam. Mit der Betonung seiner individuellen religiösen Überzeugung als Grundlage seines politischen Selbstverständnisses tat der Kaiser eigentlich nichts anderes, als das Amt von der Person her neu zu „erfinden“. Dabei folgte ein absolutistischer Anspruch gar nicht zwingend aus dem herrscherlichen Selbstverständnis Wilhelms II. Sein Gottesgnadentum, verstanden als persönliche Verantwortlichkeit vor Gott, implizierte zwar die Unabhängigkeit von Volk und Parlament, konnte aber genauso gut verstanden werden – und wurde teilweise auch so verstanden – als Unabhängigkeit von den Parteiungen innerhalb von Volk und Parlament und damit als Ermöglichung eines vermittelnden Standpunktes. Dieses Selbstbild des Kaisers als Vermittler der Gegensätze und Integrator der Nation stieß durchaus auch auf Sympathie. Das wurde immer dann deutlich, wenn Wilhelms II. Handeln und Reden nicht aus einer Krisensituation heraus geschah, sondern der Kaiser in relativer Ruhe ein innenpolitisches Programm auszuführen versuchte. In diesen Fällen, wenn es gelang, „den Monarchen als Angelpunkt einer sozial-integrativen, positiven Reichsgesinnung zu präsentieren, wurde ‚unser Kaiser‘ tatsächlich zum Fluchtpunkt nationaler Identitätsbedürfnisse.“87 Zu zeigen ist das an zwei Anwendungsfällen: der sozialen Monarchie sowie dem Anspruch des Kaisers, „Glaubenshüter“88 auch des katholischen Bevölkerungsteils zu sein.
III. Anwendungsfall I: Soziale Monarchie Unmittelbar nach dem Erlangen der Kaiserwürde machte Wilhelm II. deutlich, daß die Sozialpolitik ein integraler Bestandteil seines politischen Selbstverständnisses war. In dem Erlaß An mein Volk vom 18. Juni 1888 erklärte er: 86 Das wurde vor allem in den Pressekommentaren zu Wilhelms Königsberger Rede von 1910 deutlich (siehe dazu Kapitel D. I.). Die „Weser-Zeitung“ etwa schrieb: „Während wir das mystische Wortgepränge ‚von Gottes Gnaden‘ in Redefloskeln und Aktenformalen als Konzession an die uns realiter wertvolle konstitutionelle monarchische Staatsform still weiter gehen lassen, stellt der konstitutionelle Monarch diese geduldete historische Attrappe als principium materiale in den Vordergrund und schlägt damit unserem bürgerlichen wie menschlichen Selbstbewußtsein ins Gesicht.“ (Weser-Zeitung, 28.8.1910, ohne Überschrift. Zit. nach Obst, Einer nur ist Herr, S. 328.) 87 Kohlrausch, Samt und Stahl, S. 19. 88 Pintschovius, S. 266.
III. Anwendungsfall I: Soziale Monarchie
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„Auf den Thron Meiner Väter berufen, habe Ich die Regierung im Aufblick zu dem Könige aller Könige übernommen und Gott gelobt, nach dem Beispiel Meiner Väter Meinem Volke ein gerechter und milder Fürst zu sein, Frömmigkeit und Gottesfurcht zu pflegen, den Frieden zu schirmen, die Wohlfahrt des Landes zu fördern, den Armen und Bedrängten ein Helfer, dem Rechte ein treuer Wächter zu sein.“89
Mit diesem Erlaß wie mit der Thronrede zur Eröffnung des Deutschen Reichstages sieben Tage später, in der er explizit den Großvater als sozialpolitisches Vorbild nannte, stellte Wilhelm II. sich dem Volk als ein Herrscher vor, der mit der Fürsorge für die Armen eine Tradition seiner Dynastie fortsetzen wolle.90 Einer Abordnung der Breslauer Arbeitervereine versicherte er im November 1888: „Das Wohl der Arbeiter liegt mir am Herzen“91, und Anfang Februar 1889 äußerte er laut dem Bericht des österreichischen Botschafters beim Empfang des Vorstandes der Allgemeinen Ausstellung für Unfallverhütung: „ ‚Die Arbeiter seien‘, so sagte der Kaiser weiter, ‚so gut seine Unterthanen wie die Arbeitgeber, und Er könne nicht zugeben, daß den Ersteren der Schutz vorenthalten würde auf den sie Anspruch hätten. Er habe auch die Absicht, Sich gelegentlich durch eigenen Augenschein von den für Arbeiter getroffenen Entscheidungen zu überzeugen, und zu diesem Zwecke diese oder jene Fabrik zu besuchen. Es käme überhaupt darauf an, den Arbeitern die Ueberzeugung zu verschaffen, daß sie ein gleichberechtigter Stand seien, und allseitig als solcher anerkannt würden; nur dann würde es gelingen, sie der Socialdemokratie zu entziehen. Uebrigens sei es auffallend, daß die ganze Gesetzgebung zum Schutze der Arbeiter zuerst in einem monarchischen Staat geplant und mit Erfolg ein gutes Stück durchgeführt worden sei, und nicht in einem Staate, in welchem das Volk sich selbst regiert.‘ “92
Diese ersten Andeutungen im ersten Jahr als Kaiser bargen bereits die wesentlichen Motive, die für das Konzept der sozialen Monarchie die zentrale Rolle spielten: die Inszenierung des Kaisers als Fürsprecher der Arbeiterschaft, die Verknüpfung einer arbeiterfreundlichen Sozialpolitik mit der Monarchie im Allgemeinen und dem Haus Hohenzollern im Besonderen, und das Ziel der Integration der Arbeiter in das Reich bei gleichzeitiger Zurückdrängung der Sozialdemokratie. Zum ersten Mal konkret ausgeführt wurde dieses Programm bereits im Verlauf des Ruhrbergarbeiterstreiks, der Anfang Mai 1889 ausbrach und 89
Erlaß „An Mein Volk“, 18.6.1888, in: Penzler I, S. 10. Vgl. die Thronrede bei der Eröffnung des Deutschen Reichstages, 25.6.1888, in: Obst, Die politischen Reden, Nr. 11, S. 10–12; Penzler I, S. 11–14. 91 An die Breslauer Arbeitervereine, 16.11.1888: Obst, Die politischen Reden, Nr. 17, S. 20–21; Penzler I, S. 31. 92 Bericht Széchényis, Berlin, 23.2.1889 (Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, PA III, 136). Zit. nach Obst, Einer nur ist Herr, S. 61–62. 90
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D. Politische Theologie I: herrscherliches Selbstverständnis
wegen der wirtschaftlichen Bedeutung von Kohle und der Brutalität der Auseinandersetzung reichsweit für großes Aufsehen sorgte. Wilhelm II. entschied sich – in Absprache mit Bismarck und den Behörden – in die Streikverhandlungen einzugreifen und dem Wunsch der streikenden Bergarbeiter nachzukommen, eine Delegation der Arbeiter zu einer Audienz zuzulassen, außerdem auch eine Abordnung der bestreikten Arbeitgeber zu empfangen. Die Arbeiteraudienz war eine Sensation, weil zum ersten Mal in der deutschen Geschichte überhaupt ein Herrscher Streikende empfing.93 Wilhelm II. lud zuerst die Arbeiter vor und erklärte ihnen, daß jeder Untertan das Recht habe, sich an den Fürsten zu wenden, weshalb er auch den Arbeitern erlaube, ihr Anliegen selbst vorzutragen. Er sei bereit, die sachlichen Anliegen der Arbeiter zu prüfen, diese hätten sich allerdings durch die ungesetzliche Arbeitsniederlegung selbst ins Unrecht gesetzt. Dennoch sei eine vernünftige Lösung des Problems möglich, sofern die Arbeiter die öffentliche Ordnung achteten und jeden Kontakt zur Sozialdemokratie vermieden: „Denn für Mich ist jeder Socialdemokrat gleichbedeutend mit Reichs- und Vaterlandsfeind!“94 Einer der Delegierten berichtete später in einer Bergarbeiterversammlung, der Kaiser habe mit den in der offiziellen Redefassung fehlenden Worten geendet: „So lange ihr Euch ruhig verhaltet, habt Ihr Mein Kaiserliches Wohlwollen und Meines Schutzes dürft Ihr versichert sein.“95 Zwei Tage später empfing der Kaiser die Arbeitgeber, die nur unwillig gekommen und zu keinen Verhandlungen mit den Bergleuten bereit waren. Wilhelm II. sagte der Delegation, die Bergarbeiter hätten einen guten Eindruck auf ihn gemacht, und zudem seien seine Äußerungen auch in der Arbeiterschaft gut aufgenommen worden. Tatsächlich seien die Forderungen der Arbeiter nachvollziehbar und müßten verhandelt werden: „Ich betrachte es als Meine königliche Pflicht, den Beteiligten, den Arbeitgebern sowohl wie den Arbeitern, Meine Unterstützung bei vorkommenden Meinungsverschiedenheiten in dem Maße zuzuwenden, in welchem sie ihrerseits bemüht sind, die Interessen ihrer gesamten Mitbürger durch Pflege ihrer Einigkeit untereinander zu fördern und vor Erschütterungen, wie diese, zu bewahren.“96
Wilhelm II. präsentierte sich hier als überparteilicher Schlichter, der den berechtigten Anliegen aller seiner Untertanen zur Durchsetzung verhelfe. 93 Vgl. dazu Michel, Ruhrbergarbeiterstreik, S. 195–210; vgl. Reulecke, S. 113– 128; vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 55–59. 94 Empfang der streikenden Bergleute, 14.5.1889: Penzler I, S. 53–54; Obst, Die politischen Reden, Nr. 21, S. 28–29. 95 Bericht über eine Bergarbeiterversammlung in Dortmund, Tremonia 113, 18.5.1889: Köllmann/Gladen, S. 106–108, hier S. 107. 96 Empfang der Arbeitgeber im Bergbau, 16.5.1889: Penzler I, S. 54–57; Obst, Die politischen Reden, Nr. 22, S. 29–31.
III. Anwendungsfall I: Soziale Monarchie
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Daß er im konkreten Fall dazu neigte, den Standpunkt der Bergarbeiter für berechtigter zu halten, geht aus dem Empfang der Arbeitgeber hervor; daß er diese Selbstpräsentation als Arbeiterkaiser auch dazu nutzen wollte, die Arbeiterschaft zu monarchisieren und der Sozialdemokratie abspenstig zu machen, aus dem Empfang der Arbeiter. Der Streik ebbte in der Folge schnell ab. Die kaiserlichen Worte waren dafür zwar nicht ausschlaggebend, aber förderlich, weil Wilhelm II. beide Seiten unter moralischen Druck gesetzt hatte, sich kompromißbereit zu zeigen. Der sozialpolitische Eingriff des Kaisers war aber vor allem darum ein großer Erfolg, weil er sich in der Arbeiterschaft tatsächlich das Image eines „Arbeiterkaisers“ erworben hatte. In der zweiten Hälfte des Jahres 1889 entwickelte sich jedenfalls in der Arbeiterschaft bei Streiks ein Deutungsmuster, in dem die Behörden vor Ort als die Schuldigen betrachtet wurden und man seine Hoffnungen in die Vermittlung des Kaisers setzte.97 Im Dezember 1889 hielt ein Vertrauensmann der Bergleute bei einer Streikversammlung im Saarrevier eine Rede, in der er den Kaiser überschwenglich lobte: „Kameraden, wir haben einen Kaiser, wie es keinen in der Weltgeschichte gibt. Der Kaiser hat in dieser Zeit ein Herz für uns Bergleute und alle anderen Stände, aber besonders für uns Bergleute; die bisherigen Kaiser und Fürsten hatten auch ein offenes Ohr für uns Bergleute gehabt, aber nicht so wie unser Kaiser.“98 Die soziale Monarchie schien insofern tatsächlich geeignet, die Arbeiterschaft an den Kaiser zu binden. Die sozialdemokratisch organisierte Arbeiterschaft versuchte zwar, die Kaiserbegeisterung zu bekämpfen, indem sie auf den Charakter der sozialen Monarchie als antisozialistischer Herrschaftstechnik hinwies, war damit außerhalb der eigenen Reihen aber zunächst nur wenig erfolgreich.99 Der Kaiser selbst konnte sein Konzept deshalb als bestätigt betrachten, durch eigenes soziales Engagement die Arbeiterschaft der Sozialdemokratie zu entziehen.100 Von der Erfahrung im Bergarbeiterstreik motiviert, veröffentlichte Wilhelm Anfang 1890 seine sogenannten sozialpolitischen „Februarerlasse“.101 97
Vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 75–79. Pickard (Bürgermeister von Püttlingen) an Landratsamt Saarbrücken, 21.12.1889: zit. nach Mallmann, S. 189. 99 Vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 78–79. 100 Zur Kaisertreue in Teilen der deutschen Arbeiterschaft vgl. Kroll, Wilhelm II. und vor allem Cattaruzza, S. 138–144. 101 Daß Wilhelm II. sich tatsächlich in erster Linie eine Wiederholung des Erfolgs im vorjährigen Streik erhoffte, geht aus seinen im Januar abgefaßten „Bemerkungen zur Arbeiterfrage“ hervor, in denen er schrieb: „Ich wünsche, daß der Erlaß in warmer und begeisterter Sprache gehalten werde, welche den Arbeitern zeigt, daß nach wie vor der König ein warmes Herz für sie habe, ihre wahren Bedürfnisse kenne 98
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D. Politische Theologie I: herrscherliches Selbstverständnis
In denen wurden die Anerkennung von Arbeitervertretungen und die Veranstaltung einer internationalen Arbeiterschutzkonferenz angekündigt und darüber hinaus die Sicherstellung von Gesundheit, Wohlstand und gesetzlicher Gleichberechtigung der Arbeiterschaft als staatliche Aufgaben bezeichnet.102 Dieses Programm ging vermutlich weiter, als Wilhelm II. selbst intendiert hatte, da Bismarck die Erlasse bearbeitete, um den Kaiser durch eine erhoffte Empörung von konservativer und Begeisterung auf linker Seite von seiner Sozialpolitik abzubringen. Tatsächlich aber verschärfte Bismarck dadurch nur den Gegensatz zwischen der eigenen Position einer Bekämpfung der Sozialdemokratie durch ein neues Sozialistengesetz und der Auffassung des Kaisers von der Gewinnung der Arbeiterschaft durch soziale Zugeständnisse.103 Nach der Entlassung Bismarcks im März 1890 setzte sich der sozialpolitische Kurs Wilhelms II. endgültig durch. In den Jahren 1890–1892 wurde eine Reihe von Arbeiterschutzgesetzen verabschiedet, die für die Arbeiter Verbesserungen in den Bereichen Arbeit, Rente und Versicherung brachten und dem Grundsatz dienten, die Interessen der Arbeiterschaft staatlich gegenüber den Unternehmern zu schützen. Auch danach wurden bis 1916 immer wieder entsprechende Sozialreformen durchgeführt.104 Eine weitere Gelegenheit, sich als Vermittler und Arbeiterkaiser zu präsentieren, ergab sich für Wilhelm II. im Dezember 1902 in Breslau. Anlaß war die Zustimmungsadresse einer Arbeiterdeputation, die sich mit den Ausführungen des Kaisers im Rahmen der Beerdigung Friedrich Alfred Krupps einverstanden erklärte. Krupp war am 22. November unter undurchsichtigen Umständen ums Leben gekommen, während ein von ihm geführter Beleidigungsprozeß lief, nachdem der sozialdemokratische Vorwärts Krupp Päderastie und Homosexualität vorgeworfen hatte.105 Wilhelm II. war zu der Beerdigung erschienen und hatte sich in einer Rede in aller Deutlichkeit auf die Seite Krupps gestellt, dessen Tod als „Mord“ bezeichnet und die Arbeiterschaft aufgefordert, sich von den journalistischen Drahtund auch gewillt sei, ihnen zu helfen.“ (Ausarbeitung Wilhelms II. „Bemerkungen zur Arbeiterfrage“, Berlin, 21.1.1890, in: GStA, I. HA, Rep. 89, Nr. 29959, gedruckt in: Eppstein, S. 125–127, hier S. 127. Vgl. auch Wilhelms „Vorschläge zur Verbesserung der Lage der Arbeiter“: Eppstein, S. 128–132.) 102 Erlaß Wilhelms II. an den Reichskanzler, 4.2.1890 und Erlaß Wilhelms II. an die Minister der öffentlichen Arbeiten für Handel und Gewerbe, 4.2.1890: Eppstein, S. 142–145. Die Erlasse wurden am selben Tag im Reichs-Anzeiger abgedruckt: Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender NF 6 (1890), S. 19–20. 103 Zur Entstehungsgeschichte der „Februarerlasse“ im Zusammenhang mit dem Streit zwischen Bismarck und dem Kaiser siehe Obst, Einer nur ist Herr, S. 80–91. 104 Vgl. Frerich/Frey, vor allem S. 130–149. Vgl. auch Mommsen, Bürgerstolz, S. 105–112; vgl. Clark, Wilhelm II., S. 73. 105 Vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 264–265.
III. Anwendungsfall I: Soziale Monarchie
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ziehern zu distanzieren.106 Zehn Tage danach kam eine Breslauer Arbeiterabordnung der kaiserlichen Aufforderung nach. Wilhelm II. antwortete auf die Zustimmungsadresse: „Euer Stand ist stets Gegenstand Meines eingehenden Interesses und Meiner Fürsorge gewesen, denn mit Stolz konnte Ich im Ausland beobachten, wie der deutsche Arbeiter vor allen anderen angesehen wird und mit Recht. Ihr dürft freudig an eure Brust schlagen und eurer Arbeit und eures Standes froh sein. Durch die herrliche Botschaft des großen Kaisers Wilhelm I. eingeleitet, ist von Mir die soziale Gesetzgebung weitergeführt, durch die für die Arbeiter eine gesicherte und gute Existenzbedingung geschaffen worden bis ins Alter hinein unter Auferlegung von oft bedeutenden Opfern für die Arbeitgeber. [. . .] Auf grund dieser von euren Königen euch zugewendeten großen Fürsorge bin Ich berechtigt, auch ein Wort aufklärender Mahnung an euch zu richten. Jahrelang habt ihr und eure deutschen Brüder euch durch die Agitation der Sozialisten in dem Wahn erhalten lassen, daß, wenn ihr nicht dieser Partei angehörtet oder euch zu ihr bekenntet, ihr für nichts geachtet und nicht in der Lage sein würdet, euren berechtigten Interessen Gehör zu verschaffen zur Verbesserung eurer Lage. Das ist eine grobe Lüge und ein schwerer Irrtum. Statt euch objektiv zu vertreten, haben diese Agitatoren euch aufzuhetzen versucht gegen eure Arbeitgeber, die anderen Stände, gegen Thron und Altar, und euch zugleich auf das rücksichtsloseste ausgebeutet, terrorisiert und geknechtet, um ihre Macht zu stärken. Und wozu wurde diese Macht gebraucht? Nicht zur Förderung eures Wohles, sondern um Haß zu säen zwischen den Klassen und zur Ausstreuung feiger Verleumdungen, denen nichts heilig geblieben und die sich schließlich am Hehrsten vergriffen, was wir hienieden besitzen, an der deutschen Mannesehre! Mit solchen Menschen könnt und dürft ihr als ehrliebende Männer nichts mehr zu tun haben und nicht mehr von ihnen euch leiten lassen. Nein! Sendet uns eure Freunde und Kameraden aus eurer Mitte, den einfachen, schlichten Mann aus der Werkstatt, der euer Vertrauen besitzt, in die Volksvertretung; der stehe ein für eure Wünsche und Interessen, und freudig werden wir ihn willkommen heißen als Arbeitervertreter des deutschen Arbeiterstandes, nicht als Sozialdemokraten. Mit solchen Vertretern des Arbeiterstandes, soviel ihrer sein mögen, werden wir gern zusammenarbeiten für des Volkes und des Landes Wohl, und wird so für eure Zukunft gut gesorgt sein, zumal da sie natürlich fest fußen werden auf der Königstreue, auf der Achtung vor dem Gesetz und dem Staate und vor der Ehre ihrer Mitbürger und Brüder, getreu dem Schriftwort: ‚Fürchtet Gott, habt die Brüder lieb, ehret den König!‘ “107
In dieser Rede wird noch einmal deutlich, worum es dem Kaiser mit dem Konzept der sozialen Monarchie ging: Der Monarch sollte etabliert werden als Wohltäter der Arbeiterschaft, als derjenige, der die Existenzgrundlage des deutschen Arbeiters sicherstellt. Diese Rolle des Monarchen als Arbeiterkaiser wurde dargestellt als Fortführung hohenzollernscher Tradition und 106
Die Beerdigung Krupps in Essen, 26.11.1902: Penzler III, S. 136–138; Obst, Die politischen Reden, Nr. 144, S. 250–252. 107 Rede Wilhelms II. in Breslau, 5.12.1902: Obst, Die politischen Reden, Nr. 146, S. 254–255; Penzler III, S. 141–142; Schröder, Tagebuch, S. 54–56.
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D. Politische Theologie I: herrscherliches Selbstverständnis
war darauf ausgerichtet, den politischen Einfluß der Sozialdemokratie einzuschränken. Diese sei nämlich keine legitime Vertreterin der Arbeiterinteressen, da sie zum Klassenkampf aufrufe und damit die Arbeiterschaft für fremde politische Zwecke ausbeute. Deshalb müsse eine alternative, nichtsozialistische politische Vertretung der Arbeiterinteressen geschaffen werden. Wilhelms explizite Rede vom „Arbeiterstand“ in diesem Zusammenhang deutet dabei auf ein ständestaatliches Gesamtkonzept hin, daß der Kaiser allerdings niemals systematisch entfaltete.108 Tatsächlich war die Krupp-Affäre für einen Vorstoß zur moralischen Bekämpfung der Sozialdemokratie geeignet, da deren Ansehen durch die unrühmliche Rolle des Vorwärts gelitten hatte. Allerdings führte das konkrete Vorgehen des Kaisers nicht zum Erfolg: Er ließ seine Reden bei der Beerdigung Krupps und vor den Arbeitern in Breslau veröffentlichen und systematisch verbreiten, worauf Gerüchte laut wurden, daß die Adresse der Breslauer Arbeiterdeputation vom Polizeipräsidenten und damit behördlich redigiert worden sei.109 Die Empörung über den Vorwärts verwandelte sich in der Presse so zu einer Empörung über den kaiserlichen Manipulationsversuch, und als Konsequenz wünschte sich SPD-Führer August Bebel im Januar 1903 in einer berühmt gewordenen sarkastischen Reichstagsrede mehr Kaiserreden, da jede solche Rede der Sozialdemokratie etwa 100.000 weitere Stimmen einbringe.110 Insgesamt war die soziale Monarchie also kein voller Erfolg, da sie ihr politisches Beiprogramm – Entsozialdemokratisierung und Stärkung der Monarchie in der Arbeiterschaft – kaum erreichte. Der Kernpunkt aber funktionierte: den Monarchen selbst als Fürsprecher der Arbeiterschaft zu präsentieren. Durch die zumindest ansatzweise Entschärfung der sozialen Frage wurde außerdem ein Beitrag zur Integration der Arbeiterschaft in die Nation geleistet. Ob intendiert oder nicht, möglicherweise wurde hier auch ein Grundstein für die Staatstreue gelegt, die die Sozialdemokratie in den Kriegsjahren beweisen sollte. Dabei ist allerdings zu beachten, daß die Schärfe des Tons gegenüber der Sozialdemokratie natürlich nicht besonders integrativ war. Der Gründer des „Nationalsozialen Vereins“ und spätere liberale Politiker Friedrich Naumann allerdings vermutete hinter der kaiserlichen Aggressivität gegenüber der Sozialdemokratie den heimlichen Wunsch, „mit den deutschen Arbeitern ge108
Siehe zu dieser Frage auch Kapitel D. I. Vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 267–272. 110 Reichstag, 244. Sitzung, Rede August Bebels, 22.1.1903, Stenographische Berichte, X. Legislaturperiode. II. Session 1900/1903, S. 7487. In der Rede würdigte Bebel allerdings auch die sozialpolitischen Ansätze des Kaisers seit 1890, kritisierte aber, daß diese kaum konkrete Ergebnisse gezeigt hätten: S. 7479–7481. 109
III. Anwendungsfall I: Soziale Monarchie
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meinsam deutsche Politik machen zu können [. . .]. Zu Leuten, von denen man nichts hofft, spricht man in anderer Weise.“111 Dafür spreche die Neigung Wilhelms II. zu einer linken Wirtschaftspolitik, während der politische Kampf gegen die Sozialdemokratie dem Kaiser durch den Umstand aufgezwungen werde, daß die Linke in Fragen nationaler Sicherheit, vor allem in der Militärpolitik, opponiere. Das stehe der kaiserlichen nationalen Sammlungspolitik entgegen und nötige den Kaiser zum Zusammengehen mit den Parteien der Rechten.112 So richtig Naumann die Konvergenz zwischen kaiserlichen und Arbeiterinteressen in der Sozialpolitik beurteilte, die Interpretation des Verhältnisses zur Sozialdemokratie als enttäuschte Liebe ist doch fragwürdig und jedenfalls nur möglich, wenn man wie Naumann den paternalistischen Sprachgebrauch des Kaisers als oberflächliches altertümliches Gewand betrachtet, das nichts mit den eigentlichen modernen politischen Absichten Wilhelms II. zu tun habe. Das ist aber nicht überzeugend, denn zur Selbststilisierung als Arbeiterkaiser gehörte zumindest für Wilhelm selbst notwendigerweise die Propaganda für monarchisches Prinzip und monarchische Tradition. Die Invektiven Wilhelms II. gegen die Sozialdemokratie erscheinen daher als durchaus ehrlicher Versuch, die Arbeiterschaft als reichsloyalen Stand gegen den reichsfeindlichen Sozialismus in Stellung zu bringen. Dieser Stand durfte natürlich eine eigene politische Interessenvertretung haben, allerdings nicht die Sozialdemokratie, die aus seiner Sicht illegitim war. Allerdings war auch Bismarck der Meinung, den Kaiser verbinde mehr mit der Sozialdemokratie, als dieser selbst glaube. Überhaupt zeige Wilhelm II. die ungute Tendenz, den Staatsfeinden Versöhnung anzubieten und die loyalen Parteien vor den Kopf zu stoßen. Eine solche „Politik des Entgegenkommens, um nicht zu sagen Nachlaufens“113 sei aber in ihrer Wirkung fatal. Was Bismarck hier ebenso wie Naumann übersehen zu haben schien, ist, daß die Intention, die Wilhelm II. mit der sozialen Monarchie verband, gerade darauf abzielte, zwischen Arbeiterschaft und Sozialdemokratie zu unterscheiden. Während erstere als ehrbarer Stand in das Deutsche Reich integriert werden sollten, gehörte letztere für Wilhelm zu den Reichsfeinden, die die Desintegration bewirkten.114 Das Ziel mußte für den Kaiser deshalb darin bestehen, Arbeiterschaft und Sozialdemokratie voneinander zu trennen, was konkret bedeutete, den ersteren Zugeständnisse zu machen und letztere zu bekämpfen, und nicht, wie von Bismarck in den Streikfällen 111
Naumann, Die Politik Kaiser Wilhelms II., S. 99. Naumann, Die Politik Kaiser Wilhelms II., S. 98–103. 113 Bismarck, Kaiser Wilhelm II., S. 72. 114 Dasselbe Konzept vertrat Wilhelm II. auch noch im Exil in seiner Ansprache an die Ruhrleute, siehe Kapitel H. III. 112
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favorisiert, Brutalität gegen die Arbeiterschaft zu üben und damit ungewollt der Sozialdemokratie weiteren Zulauf zu verschaffen. Das war durchaus ein Versuch, im Sinne Treitschkes staatliche Gesellschaftspolitik zu betreiben, nämlich einen Teilbereich des Volkes auf den Einheitsgedanken hin zu durchdringen. Dieses Ziel erreichte der Kaiser auch im Prinzip; als weniger erfolgreich sollten sich allerdings die beiden für Wilhelm damit untrennbar verbundenen Motive erweisen: die Monarchisierung der Arbeiterschaft und die Eindämmung der Sozialdemokratie. Letztere gewann im Laufe der Regierungszeit Wilhelms II. kontinuierlich an Stimmen, und was die Arbeiterschaft betrifft, so war Wilhelm II. als Arbeiterkaiser zwar populär, aber eine grundsätzliche Parteinahme der Arbeiterschaft für die Monarchie war damit nicht verbunden. Somit war Wilhelm II. im Rahmen der sozialen Monarchie tatsächlich Herr der Mitte, erreichte aber nicht die für ihn selbst damit verbundene Stärkung der Monarchie.
IV. Anwendungsfall II: Glaubenshüter Hatte Wilhelm II. mit seinen Arbeiterschutzmaßnahmen zu Beginn seiner Regierung die Sympathie der Öffentlichkeit gewonnen, so gilt dies auch für die römische Kurie. Zu der von Wilhelm II. angeregten internationalen Arbeiterschutzkonferenz 1890 in Berlin schickte der Papst den Fürstbischof von Breslau, Georg von Kopp, als Delegaten, der die Konferenz der Unterstützung des Papstes versicherte.115 Kopp war Wilhelm bereits bekannt; im Januar 1887 hatte Wilhelm einen Brief an Gustav Adolf zu HohenloheSchillingsfürst geschrieben, der Kardinalbischof gewesen war, sein Amt aber wegen Differenzen mit der Kurie aufgegeben und sich in Kulturkampfzeiten um einen Ausgleich zwischen Staat und Kirche bemüht hatte.116 Wilhelm schrieb, er habe „die Gelegenheit und Freude gehabt eine Reihe tüchtiger und eindrucksvoller Männer der röm: Kirche kennen zu lernen, mit welchen ich mich frei ausgesprochen und angefreundet habe, Vor Allem Kopp! Welche einfache, gediegene und echt Deutsche Natur! Ein prächtiger Mensch! Möge er uns lange erhalten bleiben, und viele Nachfolger finden! Desgleichen Dr. Thiel in Westpreussen, das ist auch ein rechter Mann am rechten Ort. [. . .] Dann der Bischof von Metz. [. . .] Propst Scheuffgen in Trier. [. . .] Das sind doch Alles Männer die ihre Zeit verstehn und einen großen Horizont haben! Mögen sie bald tüchtigen Einfluß auf ihre Untergebenen haben! – Aber, aber, das Centrum! Wenn nicht der Papst bald mal die Röcke hochnimmt, die Ärmel aufkrempelt und mit einem ‚Heiligen Kreuzmillionenhimmeldonnerwetter‘ in die Bande reinfährt, dann ist es mit dem Glauben an seine Autorität beim unbeteiligten Publikum bald aus. [. . .] Eine ganz unpatrioti115 116
Vgl. Samerski, Papst und Kaiser, S. 213–218. Vgl. auch Haupts, S. 130–133. Vgl. Bautz, Sp. 992–993.
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sche Kaiser und Papst gleich verachtende das Reich hassende Gesellschaft ist das Zentrum!“117
In diesem Brief war bereits das Katholikenbild angelegt, das Kaiser Wilhelm II. politisch bestimmen sollte: Die katholische Kirche als solche sei unproblematisch, deutschpatriotische katholische Würdenträger seien sogar sehr erfreulich, nur der politische Katholizismus in Gestalt des Zentrums sei als reichsfeindlich zu bekämpfen. Das war dasselbe Muster, das sich schon in der sozialen Monarchie gezeigt hatte: Dort sollte die Arbeiterschaft integriert und die Sozialdemokratie bekämpft werden. Im Falle des Katholizismus nun wollte Wilhelm II. die Katholiken integrieren und das Zentrum bekämpfen. Dieses Konzept bewegte sich einerseits im Rahmen der politischen Gesamtentwicklung, in der es für das Reich um eine umfassende nationale Integrationspolitik ging und in der die katholische Kirche ihrerseits kooperative Signale sendete. Andererseits standen dem Konzept noch erhebliche historische wie systematische Hindernisse im Weg: Die Konfrontation des Kaiserreichs mit dem Katholizismus im „Kulturkampf“ war gerade erst dabei, abzuklingen. Der einflußreiche Ultramontanismus innerhalb der katholischen Kirche nährte zudem den Verdacht, nicht dem Reich, sondern Rom treu zu sein. Das wurde wiederum dadurch verstärkt, daß das Reich vielfach als ein protestantisches wahrgenommen wurde, und zwar nicht nur von Katholiken, sondern auch von Protestanten. Der politische Liberalismus hatte darüber hinaus im Kulturkampf ebenfalls tendenziell antikatholisch agiert.118 In dieser Situation war es vor allem Wilhelm II., der die Integration der Katholiken ins Reich voranbrachte. Um dies zu erreichen, mußte Wilhelm II. die Reste des Kulturkampfes beseitigen und durch Reden, Beziehungspflege und Gunstbeweise versuchen, die Sympathie des deutschen Katholizismus zu erlangen. Es traf sich dabei, daß mit Leo XIII. seit 1878 ein Mann Papst war, dessen politische Interessen in bezug auf Sozialpolitik und Kulturkampf mit denen Wilhelms II. konvergierten und der sich darüber hinaus vom Deutschen Reich Unterstützung bei der Durchsetzung seiner territorialen Ansprüche in Rom erhoffte.119 Bereits 1888 wurde daher der Grundstein für ein gutes Verhältnis zwischen Papst und Kaiser wie zwischen Kaiser und deutschem Episkopat gelegt. Die preußische Bischofskonferenz sandte Wilhelm II. im August 1888 eine Huldigungsadresse, in der 117 Brief Prinz Wilhelms an Gustav Adolf zu Hohenlohe-Schillingsfürst, 12.1.1887: GStA, BPH Rep. 53 J Lit H Nr. 7, Bl. 1–2. 118 Vgl. zu diesem Absatz Nipperdey, Religion im Umbruch, S. 10–66; vgl. auch Strötz, Der Katholizismus im deutschen Kaiserreich I und II. 119 Bismarck hatte diese Hoffnungen systematisch geschürt: vgl. Lulvès, S. 2–4.
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die Bischöfe würdigten, daß der Kaiser im Erlaß an sein Volk die Pflege von Frömmigkeit und Gottesfurcht gelobt habe.120 Der Kaiser nutze die Gelegenheit und antwortete im November 1888: „Daß Ich die Glaubensfreiheit Meiner katholischen Untertanen durch Recht und Gesetz gesichert weiß, stärkt Meine Zuversicht auf die dauernde Erhaltung des kirchlichen Friedens.“121 Dieses beiderseitige Bemühen um ein positives Verhältnis und einer Entschärfung bzw. Beendigung des Kulturkampfes ist auch zwischen Wilhelm II. und Papst Leo XIII. zu beobachten. Wilhelm besuchte den Papst im Oktober 1888 und setzte schon damit ein deutliches Zeichen hin zu einer Annäherung, da er als erster europäischer Herrscher seit der militärischen Einnahme des Kirchenstaates durch Italien 1870 den Papst besuchte. Praktische Ergebnisse hatte der Besuch allerdings nicht. Das lag daran, daß Leo XIII. die Audienz dazu nutzen wollte, den jungen und unerfahrenen Kaiser zu konkreten Hilfeleistungen in der Romfrage zu bewegen. Die vorzeitige Unterbrechung des Gesprächs durch den Prinzen Heinrich war deshalb im Vorfeld abgesprochen worden, um Wilhelm II. aus einer zu befürchtenden Verlegenheit zu bringen.122 Dies sowie das Bekanntwerden der vorzeitigen Unterbrechung machen den ersten Papstbesuch Wilhelms II. allerdings nicht zu einem „Desaster“123. Sowohl Wilhelm II. als auch Leo XIII. bemühten sich nämlich, den Besuch nach außen positiv darzustellen, und die Öffentlichkeit bewertete die Audienz vielfach als symbolischen Akt der Annäherung, welcher er aus Wilhelms Sicht auch sein sollte.124 Zu zwei weiteren Anlässen – dem 15–jährigen sowie dem 25–jährigen Regierungsjubiläum Leos XIII. 1893 und 1903 – stattete Wilhelm II. dem Papst Besuche ab. 1893 stand die Einigkeit in der Sozialpolitik im Zentrum des einstündigen Gesprächs, und 1903 wurde der Kaiser mit an mittelalterliche Traditionen erinnernden Ehren empfangen.125 In seinen Exilmemoiren behauptete Wilhelm, der Papst habe bei diesem Besuch dem Deutschen Reich „seinen apostolischen Segen“ erteilt und es als „Schwert der katholischen Kirche“ bezeichnet.126 120 Die Bischofskonferenz an Wilhelm II., Fulda, 29.8.1888: Gatz II, Nr. 510, S. 21–22. Vgl. Strötz, Wilhelm, S. 185; vgl. Dittrich, S. 249; vgl. Pintschovius, S. 277. Erlaß Wilhelms II. „An Mein Volk“, 18.6.1888: Penzler I, S. 10. 121 Wilhelm II. an Krementz, Berlin, 7.11.1888: Gatz II, Nr. 513, S. 25. 122 Vgl. Lulvès, S. 6–14. 123 Röhl, Aufbau, S. 68. 124 Vgl. Pintschovius, S. 277–278; vgl. Samerski, Papst und Kaiser, S. 204–206; vgl. Strötz, Wilhelm, S. 177. Zu den positiven Berichten aus dem Vatikan und der positiven Aufnahme sogar in Teilen der protestantischen Öffentlichkeit vgl. außerdem Dittrich, S, 250. 125 Vgl. Strötz, Wilhelm, S. 178–180.
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Die Freundlichkeiten des Papstes gegenüber Wilhelm II. von 1903 waren bereits eine Frucht der „Integrationspolitik“127, die der Kaiser gegenüber den deutschen Katholiken verfolgte. Selbst das als reichsfeindlich bekämpfte Zentrum wurde in den 1890er Jahren entgegenkommender behandelt, weil für den Neuen Kurs nach Bismarcks Entlassung die Unterstützung des Zentrums nötig geworden war. Als der Zentrumsführer Ludwig Windthorst 1891 schwer erkrankte, besuchte Wilhelm II. ihn am Krankenbett, und nach dessen Tod im März desselben Jahres schickte er ein Beileidstelegramm, in dem er schrieb: „Die hohe geistige Bedeutung dieses Mannes und die hervorragende Stellung, welche er seit langen Jahren im Reichstage und im Abgeordnetenhause als Führer der Zentrumspartei eingenommen hatte, rechtfertigen die Teilnahme, welche die Kunde von seiner schweren Erkrankung bei Ihren kaiserlichen Majestäten sowohl, wie bei allen politischen Parteien hervorrief, und sichern ihm überall, wohin die Nachricht von seinem Ableben dringt, auch bei denen, mit welchen er im politischen Kampfe gewesen, ein achtungsvolles Andenken.“128
Diese politische Geste wertete das Zentrum auf und führte dazu, die katholischen Zentrumsanhänger die kaiserliche Versöhnungsgeste durchaus positiv würdigten und so gegenseitiges Mißtrauen abgebaut wurde.129 Hier lag auch ein qualitativer Unterschied zum Vorgehen Wilhelms II. in der sozialen Frage vor: Die prinzipielle Feindschaft gegenüber dem Zentrum als politisch unzuverlässiger Dienerin eines Partikularinteresses hinderte ihn nicht daran, bei Gelegenheit mit dem Zentrum zusammenzugehen und solche Gesten zum Prestigegewinn bei den Katholiken zu nutzen.130 Dasselbe gilt für die sogenannte Paritätsdiskussion, also die Frage nach der gleichen Berücksichtigung von Katholiken und Protestanten vor allem im Staatsdienst. Wilhelms bewußte Förderung von Katholiken diente dem Zweck, das protestantische Übergewicht auf den Sektoren Verwaltung, Justiz und Bildungswesen abzubauen, und trug ihm von protestantischer Seite den Vorwurf ein, Katholikenkaiser zu sein.131 Am bekanntesten ist in die126
Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten, S. 177. Strötz, Wilhelm, S. 181. 128 Dittrich, S. 251. 129 Vgl. Pintschovius, S. 283–284; vgl. Strötz, Wilhelm, S. 182–183. 130 Ganz ähnliches hatte auch Bismarck schon 1878/79 in der Schutzzollpolitik getan, die er mit den Stimmen der Konservativen und des Zentrums durchsetzte. Die Zusammenarbeit der Regierung mit dem Zentrum nach 1890 hing dann natürlich auch damit zusammen, daß die favorisierten konservativen Parteien und die Nationalliberalen allein keine Reichstagsmehrheit hatten und man daher vor der Wahl stand, entweder linke Parteien hinzuzuziehen oder eben das Zentrum: vgl. Clark, Wilhelm II., S. 94. 131 Vgl. Strötz, Wilhelm, S. 184. 127
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sem Zusammenhang der Fall des katholischen Historikers Martin Spahn. Spahn sollte 1901 zur Stärkung des Katholikenanteils unter den Dozenten an die Universität Straßburg berufen werden und damit eine „katholische Professur“132 bekleiden – im Sinne einer nichttheologischen Professur, die mit einem Katholiken zu besetzen war. Es entspann sich daraufhin eine erbitterte Debatte über die Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft, in der unter anderem Theodor Mommsen gegen die Berufung Spahns plädierte. Die Straßburger Professorenschaft schloß sich der Stellungnahme Mommsens an, während Spahn selbst sich mit dem Hinweis zur Wehr setzte, daß er nicht weniger voraussetzungslos forsche als jeder andere auch, da jeder Mensch einer Konfession oder Weltanschauung anhänge.133 Wilhelm II. setzte die Berufung Spahns gegen die Widerstände durch. Ausschlaggebend waren dafür die Stellungnahmen des Reichskanzlers Hohenlohe und des Ministerialdirektors Friedrich Althoff zugunsten Spahns.134 Hinzu kam, daß die politische Positionierung Spahns – national gesinnt, propreußisch und reichstreu – den Wunschvorstellungen des Kaisers über „seine“ Katholiken in hohem Maße entsprach.135 Über seine Motive für die Berufung schrieb Wilhelm II. an den Statthalter von Elsaß-Lothringen: „Patent für Dr. Spahn von Mir heute vollzogen. Er wird gewiß eine vortreffliche Lehrkraft für die Universität werden. Freue Mich, einen der lange gehegten Wünsche Meiner Elsaß-Lothringer haben erfüllen zu können und ihnen sowohl als Meinen katholischen Unterthanen überhaupt bewiesen zu haben, daß anerkannt wissenschaftliche Tüchtigkeit auf der Basis von Vaterlandsliebe und Treue zum Reich immer zu Nutz und Frommen des Vaterlandes von Mir verwendet wird.“136
Wilhelm II. nutze die öffentliche Aufmerksamkeit für den Fall also gezielt, um sich als Förderer derjenigen Katholiken zu inszenieren, die reichsloyal waren. Der Fall Spahn verdeutlicht aber auch, daß der integrative Erfolg der kaiserlichen Katholikenförderung ambivalent war, da eine protestantisch-liberale Öffentlichkeit existierte, die sich dagegen zur Wehr setzte. Das war bereits deutlich geworden im Streit um den Schulgesetzentwurf des preußischen Kultusministers Graf Zedlitz-Trützschler von 1892.137 Der 132 Huber/Huber, Staat und Kirche III, S. 189. Zum Fall Spahn vgl. Huber/ Huber, Staat und Kirche III, S. 189–201 und Strötz, Wilhelm, S. 191. 133 Vgl. Huber/Huber, Staat und Kirche III, Nr. 93, S. 198–199. 134 Vgl. Clemens, S. 34–36. 135 Vgl. Clemens, S. 9–62. 136 Telegramm Wilhelms II. an den Statthalter von Elsaß-Lothringen, den Fürsten Hohenlohe-Langenburg, 17.10.1901: Huber/Huber, Staat und Kirche III, Nr. 87, S. 191. 137 Vgl. zum Schulgesetzstreit Huber/Huber, Staat und Kirche III, S. 123–151 und Eykmann, S. 266–272.
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Entwurf sah eine grundsätzliche Verpflichtung aller Schüler zur Teilnahme am Religionsunterricht vor und ermöglichte die Gründung konfessioneller Schulen. Nach der Vorstellung des Entwurfs im preußischen Abgeordnetenhaus im Januar 1892 entwickelte sich eine harte Diskussion, in der Zentrum und Konservative für, Linke und Liberale gegen den Entwurf votierten. Reichskanzler Leo von Caprivi, der den Entwurf unterstützte, begründete sein Votum mit der Notwendigkeit des Kampfes für das Christentum und gegen den Atheismus gerade in der Schule.138 Wilhelm II., dem ein solches Ziel eigentlich zusagen mußte, verweigerte sich dem Schulgesetz mit dem mehrfach geäußerten Hinweis, er könne seine Politik nicht auf die alleinige Unterstützung von Zentrum und Konservativen stützen; solange die Liberalen nicht zustimmten, werde er es auch nicht tun.139 Das Vorgehen Wilhelms II. im Schulgesetzstreit zeigt, daß er sich der Problematik einer Politik einseitiger Katholikenförderung auf Kosten der Liberalen bewußt war. Einfacher war es für ihn, durch einzelne Gunstbezeugungen die Sympathie und die Loyalität seiner katholischen Untertanen zu gewinnen. Dem Dom zu Metz schenkte er ein Portal, dem Dom zu Münster ein Fenster, in Frauenburg stiftete er ein Grabdenkmal für Nikolaus Kopernikus und der Aachener Dom erhielt von ihm eine neue Innenausstattung.140 Damit schuf Wilhelm II. sich auch immer wieder Gelegenheiten, in öffentlichen Reden seine prokatholische oder zumindest tolerante politische Haltung zu verdeutlichen. Nach Metz hatte er Kardinal Kopp und den Kölner Erzbischof Fischer eingeladen, um die Portaleinweihung zu einer Demonstration des guten Verhältnisses zwischen Kaiser und katholischer Kirche zu machen.141 Am meisten beachtet wurde aber der Auftritt des Kaisers in Aachen 1902. Hier hatte er zusätzlich zu der Neudekoration des Doms auch die Rathausfassade restaurieren lassen, dabei aber eine charakteristische Abwandlung vom mittelalterlichen Original vorgenommen: Über dem Eingangsportal hatte er die Figurengruppe mit Karl dem Großen und zwei Bischöfen umgeändert in eine Majestas Domini, die den thronenden Christus zeigte, flankiert von Karl dem Großen und Papst Leo III., wobei Karl die Gesichtszüge Wilhelms II. trug.142 Daß Wilhelm damit den eigenen Autoritätsanspruch ebenso zum Ausdruck bringen wollte wie das gute Verhältnis zur römischen Kirche, wurde 138 Vgl. die Rede Caprivis vor dem Abgeordnetenhaus: Huber/Huber, Staat und Kirche III, Nr. 57, S. 140–141. 139 Vgl. Huber/Huber, Staat und Kirche III, S. 137 und S. 150–151. 140 Vgl. Strötz, Wilhelm, S. 188–189. 141 Siehe dazu die Einladungen in GStA, BPH Rep. 53 J Lit K Nr. 7a und Nr. 8; vgl. auch Hoffmann, Rheinische Romanik, S. 87–88. 142 Vgl. Hoffmann, Rheinische Romanik, S. 88–92.
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dann explizit deutlich an der Rede, die er im Rathaussaal hielt. Nach einer Ausführung über Kontinuitäten und Unterschiede zwischen altem und neuem Reich143 sagte der Kaiser: „Wie hat die prüfende Hand Gottes zu Anfang des vorigen Jahrhunderts auf unserem Lande gelegen, und mächtig hat der Arm der Vorsehung das Eisen geschmiedet und geschweißt am Ofen des Elends, bis die Waffe fertig wurde. So erwarte Ich auch von Ihnen allen, daß Sie Mir helfen werden, ob Geistliche oder Laien, die Religion im Volke aufrecht zu erhalten. Zusammen müssen wir arbeiten, um dem germanischen Stamme seine gesunde Kraft, seine sittliche Grundlage zu erhalten. Das geht aber nur, wenn man ihm die Religion erhält, und das gilt in gleicher Weise für beide Konfessionen. Um so größer ist heute Meine Freude, den Herren der Kirche, die hier vertreten sind, eine Nachricht zu bringen, die Ihnen mitteilen zu können Ich stolz bin. Hier steht der General von Loe, ein treuer Diener seiner Könige. Er ward von Mir gesandt nach Rom zum Jubiläum des heiligen Vaters, und als er ihm Meine Glückwünsche und Meine Jubelgabe überbrachte und ihm in intimem Gespräch Aufschluß gab, wie es aussieht in unseren deutschen Landen, da hat der heilige Vater ihm geantwortet, er freue sich, ihm sagen zu können, daß er stets hoch gedacht habe von der Frömmigkeit der Deutschen, zumal des deutschen Heeres. Er könne ihm aber noch mehr sagen, und das solle er seinem Kaiser bestellen, das Land in Europa, wo noch Zucht, Ordnung und Disziplin herrsche, Respekt vor der Obrigkeit, Achtung vor der Kirche, und wo jeder Katholik ungestört und frei in seinem Glauben leben könne, das sei das Deutsche Reich, und das danke er dem deutschen Kaiser. Dies, Meine Herren, berechtigt Mich zu dem Ausspruch, daß unsere beiden Konfessionen nebeneinander das eine große Ziel im Auge behalten müssen, die Gottesfurcht und die Ehrfurcht vor der Religion zu erhalten und zu stärken. Ob wir moderne Menschen sind, ob wir auf diesem oder jenem Gebiete wirken, das ist einerlei. Wer sein Leben nicht auf die Basis der Religion stellt, der ist verloren. So will auch Ich, da an diesem Tage und an diesem Orte es sich ziemt, nicht nur zu reden, sondern auch zu geloben, Mein Gelöbnis hiermit aussprechen, daß Ich das ganze Reich, das ganze Volk, Mein Heer, symbolisch durch diesen Kommandostab vertreten, Mich selbst und Mein Haus unter das Kreuz stelle und unter den Schutz dessen, von dem der große Apostel Paulus gesagt hat: Es ist in keinem Anderen Heil, es ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben worden, darin sie sollen selig werden, und der von sich selbst gesagt hat: Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht.“144
Das Ziel, „die Religion im Volke aufrecht zu erhalten“, bezog Wilhelm in dieser Rede explizit auf beide christlichen Konfessionen – ein Punkt, der für die kaiserliche Religionspolitik bedeutsam ist.145 Die Betonung dieses 143
Siehe dazu Kapitel F. II. Rede Wilhelms II. bei der Entgegennahme des Ehrentrunks im Rathaussaal in Aachen, 19.6.1902: Obst, Die politischen Reden, Nr. 142, S. 245–248; Schröder, Tagebuch, S. 11–12. Auch abgedruckt in Penzler III, S. 96–102. 145 Siehe dazu Kapitel D. V. 144
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Ziels ging hier sogar so weit, daß er das ganze Reich als religiös begründet verstanden wissen wollte. Damit wurde von Wilhelm II. explizit eine christliche Fundierung des Staates wie des eigenen politischen Handelns vollzogen. Dies und den Hinweis auf die mehr als freundlichen Worte des Papstes hielt der Kaiser offensichtlich für geeignet, den katholischen Bevölkerungsteil für sich zu gewinnen. Wilhelm II. versuchte hier jedenfalls, das gute Verhältnis zum Papst bei den deutschen Katholiken propagandistisch zu nutzen, und außerdem durch die Hervorhebung der Aufgabe der Erhaltung der Religion Gemeinsamkeit zu stiften. Das war tatsächlich nicht nur Toleranz-, sondern auch Integrationspolitik.146 Daß religiöse Toleranz dazu die Voraussetzung sei, machte er immer wieder deutlich, vor allem in bezug auf die zum Reich gehörenden polnischen Katholiken. Auf deren Sorgen rekurrierte er im September 1902 in Provinzialständehaus in Posen, wo er erklärte: „Wer behauptet, daß Meinen Untertanen katholischer Konfession Schwierigkeiten in der Ausübung ihres Glaubens gemacht, oder sie gezwungen werden sollen, von demselben zu lassen, macht sich einer schweren Lüge schuldig. Meine ganze Regierungszeit und Meine Worte in Aachen beweisen, wie hoch Ich Religion, das heißt das persönliche Verhältnis jedes Menschen zu seinem Gott, achte, und er beleidigt durch eine solche Verleumdung den Nachfolger des großen Königs, der erklärt hat, ein jeder solle auf seine Fasson selig werden.“147
Hier nun stellte der Kaiser sich selbst als Ausläufer einer spezifisch hohenzollernschen Tradition der Religionstoleranz dar. Ganz ähnlich wies er 1905 in einer Rede in Koblenz, angeregt durch Worte des Kölner Erzbischofs, hin auf die Parallelen zwischen der Stammburg der Hohenzollern und dem „deutschen Haus“: 146 Zu der begeisterten Aufnahme der Rede von in- und ausländischen Katholiken vgl. Strötz, Wilhelm, S. 189 und Obst, Einer nur ist Herr, S. 218. 147 Rede Wilhelms II. im Provinzialständehaus in Posen, 4.9.1902: Schröder, Tagebuch, S. 36. Drei Jahre später versuchte Wilhelm II. in einer Rede an die Bevölkerung in Gnesen direkt die Autorität des Papstes zu benutzen, um Loyalität für sich einzufordern: „Für jeden, sei er polnisch oder deutsch, der aber katholisch ist, möchte Ich erwähnen: Als bei Meinem letzten Besuch im Vatikan der greise Leo XIII. von Mir Abschied nahm, da faßte er Mich mit beiden Händen und – trotzdem Ich Protestant bin – gab Mir Seinen Segen mit folgendem Versprechen: Ich gelobe und verspreche Euerer Majestät im Namen aller Katholiken, die Ihre Untertanen sind, sämtlicher Stämme und jedes Standes, daß sie stets treue Untertanen des deutschen Kaisers und Königs von Preußen sein werden. An Ihnen, Meine Herren vom Kapitel, wird es sein, das hohe Wort des großen priesterlichen Greises zur Wirklichkeit zu machen, auf daß derselbe nicht dereinst noch nach seinem Tode wortbrüchig werde dem deutschen Kaiser gegenüber. Meiner Mithilfe sollen Sie stets gewärtig bleiben. Deutschtum heißt Kultur, Freiheit für jeden, in Religion sowohl wie in Gesinnung und Betätigung.“ (Obst, Die politischen Reden, Nr. 154, S. 269–270; Penzler III, S. 262–264; Schröder, Tagebuch, S. 150).
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„Und in diesem Hause sind gleichwie in unserer Stammburg zwei Kapellen, die eine für die Protestanten, die andere für die Katholiken, auf daß beide in Eintracht nebeneinander ihren Gottesdienst verrichten mögen. Und über dem fest umwehrten, zinnengekrönten Dach weht in den Lüften das Reichsbanner, der alte Deutsche Adler, zu dem alle Deutsche stolz hinaufschauen, und in diesem Hause ein schaffensfreudiges, frisch aufblühendes, deutsches Volk, welches treu zu seinem angestammten Fürsten hält! [. . .] Und diesem Volke, dem wünsche Ich von Herzen, daß es in froher Eintracht miteinander in diesem Hause leben möge, vor allen Dingen in der Achtung der Persönlichkeit, der Würdigung derselben in jedem Menschen, emporblickend zum Firmament da droben, welches über unserem Hause sich wölbt, aufschauend zu dem gemeinsamen Erlöser und Heiland, von dem wir hoffen und erwarten, daß er uns von unseren Sünden erlöse, und zu unserem allerhöchsten Gott und Vater, vor dem wir in Ehrfurcht unsere Knie beugen.“148
Aus diesen Reden wird das Konzept erkennbar, das Wilhelm II. in bezug auf die deutschen Katholiken verfolgte: Auf der Grundlage eines guten Verhältnisses zur römischen Kurie und zumindest eines nicht feindseligen zum Zentrum, mit Hilfe von konkreten Gunstbeweisen und prokatholischen politischen Entscheidungen, schließlich durch den Hinweis auf die eigene religiöse Toleranz und den Appell an das gemeinsame religiöse wie politische Ziel versuchte Wilhelm II., die Katholiken in das Reich zu integrieren, indem er sich selbst als Vermittlungsinstanz und als Schutzherr präsentierte. Der intensive Kontakt, den Wilhelm II. zu den deutschen Benediktinern pflegte, denen er das Klostergelände Maria-Laach zur Wiederbesiedlung zur Verfügung stellte, das persönliche Engagement des Kaisers für das Kloster Stift zum Heiligengrabe und die Schenkung des Dormitionsgrundstücks in Jerusalem an die deutschen Katholiken im Rahmen der kaiserlichen Orientfahrt von 1898 vervollständigen dieses Bild.149 Jürgen Strötz nennt den Kaiser aus diesen Gründen den „Hauptmotor der nationalen Integration der deutschen Katholiken ab 1890.“150 Aus dieser Katholikenpolitik auf die innere Einstellung des Kaisers zum Katholizismus zu schließen, wäre allerdings problematisch. Die Reden 148 Rede Wilhelms II. bei der Tafel der Provinz in Koblenz, 12.9.1905: Obst, Die politischen Reden, Nr. 155, S. 271–272; Penzler III, S. 269–271; Schröder, Tagebuch, S. 156. 149 Zu den Benediktinern vgl. Sandner, Kaiser Wilhelm II., S. 504–505 und Hoffmann, Rheinische Romanik, S. 93–97; zum Kloster Stift zum Heiligengrabe vgl. Hüffmeier, Das Engagement Wilhelms II.; zur Orientfahrt siehe Strötz, Wilhelm, S. 189–191 und Benner, S. 138–331. Einen Versuch, beides politisch zu nutzen, um sich als Katholikenkaiser zu präsentieren, stellt die Rede dar, die Wilhelm II. 1905 bei der Portaleinweihung des Doms zu Metz hielt: Schröder, Tagebuch, S. 140–141. 150 Strötz, Der Katholizismus im deutschen Kaiserreich II, S. 42. Vgl. Strötz, Der Katholizismus im deutsche Kaiserreich II, S. 12–43. Strötz bezieht sich dabei auch auf das herrscherliche Selbstverständnis und die Religiosität des Kaisers, bleibt darin aber aufgrund der mangelhaften Forschungslage undeutlich.
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selbst betonen die Gemeinsamkeit zwischen Katholiken und Protestanten im wesentlichen, nämlich im Glauben an Jesus Christus, halten sich ansonsten aber mit Stellungnahmen zurück. Das nähere Umfeld Wilhelms II. war ausgesprochen katholikenfeindlich, und er selbst stieß seine Großnichte, die Landgräfin von Hessen, Prinzessin Maria Anna von Preußen, 1901 aus der Familie aus, nachdem diese ihre Konversion zur katholischen Kirche angekündigt hatte.151 Immerhin präsentierte das 1929 erschienene Buch Kaiser Wilhelm II., seine Weltanschauung und die Deutschen Katholiken des Historikers Max Buchner den Kaiser nicht nur als politischen Katholikenfreund, sondern auch als Verehrer von Autorität, Tradition und Symbolik der katholischen Kirche.152 Wilhelm selbst beurteilte Buchners Werk in einem Brief an diesen als „objectiv, klar, überzeugend geschrieben“ und fühlte seine Weltanschauung richtig dargestellt.153 Da Buchners Resümee aber gerade darin lag, daß Wilhelm II. ein überzeugter evangelischer Christ sei154 und es damit keinerlei Hinweis auf eine innere Affinität Wilhelms II. zum Katholizismus gibt, hängen die angeblichen Konversionsgespräche, die der Kaiser geführt haben soll, eigentümlich in der Luft. Konversionsgespräche nennt Stefan Samerski die Unterhaltungen, die der Insbrucker Jesuitendirektor Victor Kolb von 1898–1900 mit Wilhelm II. führte und über die Kolb dem Kurienkardinal Rampolla Bericht erstattete.155 In der Darstellung Kolbs war der Kaiser tatsächlich kurz davor, zu konvertieren, schreckte aber vor den politischen Konsequenzen eines solchen Schrittes zurück. Wenn das tatsächlich der Fall gewesen sein sollte, dann kann es sich aber nur um eine kurzfristige Stimmung Wilhelms II. gehandelt haben, denn als im November 1918 die politischen Umstände sich änderten und er die Möglichkeit zur Konversion gehabt hätte, dachte er nicht daran, zum Katholizismus zu überzutreten. Auch existiert kein schriftliches Zeugnis, in dem Wilhelm selbst Positives über sein inneres Verhältnis zur katholischen Kirche geäußert hätte; im Gegenteil ist der theologische Schriftverkehr mit Katholiken während des Exils zwar in freundlichem Ton, aber in scharfem sachlichen Widerspruch etwa in der 151 Zum antikatholischen Umfeld Wilhelms II., womit besonders Waldersee und Eulenburg gemeint sind, vgl. Röhl, Aufbau, S. 590. Zur Reaktion auf die Konversion der Großnichte siehe den Briefwechsel zwischen Anna und Wilhelm, in dem der Kaiser den Glaubenswechsel als „Abfall und Verrat“ bezeichnete: Romeis, S. 42–46. Vgl. auch die Schilderung bei Buchner, S. 49–50. 152 Vgl. Buchner, S. 109–113. 153 Brief Wilhelms II. an Max Buchner, Doorn, 11.2.1929: Rall, Kritische Miscelle, S. 387–389. 154 Vgl. Buchner, S. 50–52 und S. 93. 155 Vgl. zum Briefwechsel und zur Beurteilung als Konversionsgespräche Samerski, Papst und Kaiser, S. 224–228.
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Abendmahls- oder der Papsttumsfrage gehalten.156 Wahrscheinlicher ist deshalb, daß Wilhelm II. durch die Überzeugungskraft des Gesprächspartners Kolb tatsächlich sehr Positives über den Katholizismus gesagt hat, aber keine entsprechende weltanschauliche Prägung hatte, die ihn eine Konversion ernsthaft hätte in Betracht ziehen lassen. Plausibler für die Haltung, die Wilhelm II. auch innerlich zum Katholizismus einnahm, ist die Bemerkung, mit der er im Exil gegenüber Hans Blüher das Buch Buchners zusammenfaßte: „getrennt marschieren, vereint schlagen“.157 Das paßt auch zu der Beobachtung Samerskis, daß dem Kaiser religiös letztlich eine Art gesamtchristlicher Ökumene vorgeschwebt habe, und nicht der Eintausch einer Konfession gegen die andere.158 Und das „vereint schlagen“ zeigt auch noch einmal die politische Seite des Glaubenshüters, der die deutschen Katholiken zu Reichspatrioten machen wollte und sie gleichzeitig als Verbündete im Kampf für die Geltung des Christentums betrachtete.
V. Religionspolitik Letzteres, also der Kampf für die Geltung des Christentums, scheint bei Wilhelms II. Behandlung der deutschen Katholiken immer wieder durch. Der Grund dafür ist, daß dieser Kampf den Kern seines religionspolitischen Konzepts bildete. Das ist noch etwas anderes als sein Anspruch, Glaubenshüter zu sein, denn hier ging es dem Kaiser nicht etwa um die Stärkung einer bestimmten Konfession und auch nicht nur um die Förderung religiöser Toleranz, sondern darum, die Religion insgesamt als konservative Macht zur Stabilisierung der politischen Ordnung zu nutzen. Erkennbar wird dieses Konzept an dem intensiven Engagement des Kaiserpaares im Bereich des Kirchenbaus, an einer Reihe religionspolitischer Reden, und schließlich an der als Pilgerreise inszenierten kaiserlichen Orientfahrt. Die Problematik eines solchen religionspolitischen Programms war dagegen bereits im Scheitern des klerikal motivierten Schulgesetzentwurfs des preußischen Kultusministers Zedlitz-Trützschler deutlich geworden.159 Unter dem Protektorat und mit Finanzierungshilfen des Kaiserpaares entstanden während Wilhelms II. Regierung etwa eintausend evangelische Kir156
Vgl. Kapitel H. III. Brief Wilhelms II. an Hans Blüher, Doorn, 29.8.1929: GStA, BPH Rep. 53 Nr. 352, Bl. 1. Abgedruckt in Blüher, Werke und Tage, S. 171. 158 Vgl. Samerski, Papst und Kaiser, S. 227–228. Zur theologischen Vorstellungswelt des Kaisers siehe Kapitel E. und H. III. 159 Siehe Kapitel D. IV. Zum Versuch Wilhelms II., den Religionsunterricht als religionspolitisches Mittel einzusetzen, vgl. Eykmann, vor allem S. 266–276 und S. 282–283. 157
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chen in den preußischen Provinzen und achtzig Kirchen in Berlin.160 Bei fast allen Einweihungen solcher neuer Kirchen im Berliner Raum waren die Kaiserin oder der Kaiser selbst anwesend.161 Mit diesem Vorstoß im Kirchenbau wollte Wilhelm II. nicht nur der durch das Bevölkerungswachstum bedingten Kirchennot abhelfen, sondern auch eine Rechristianisierung der Massen herbeiführen. Nötig war das in erster Linie in Berlin, das mit seinen niedrigen kirchlichen Trau- und Taufraten als „unchristlichste“ Stadt Europas galt.162 Das galt vor allem für die Arbeiterschaft, weshalb der Kirchenbau auch zur Linderung der sozialen Frage und als Kampfmittel gegen die Sozialdemokratie in Stellung gebracht wurde. Erkennbar ist das beispielsweise an der Erlöserkirche in der Berliner Vorstadt Rummelsburg, die Wilhelm II. im Oktober 1892 einweihte und der ein neues Pfarr- und ein Gemeindehaus mit Kinderkrippe und Volksküche hinzugefügt wurde.163 Daß es dem Kaiser aber nicht nur um Sozial-, sondern auch um Religionspolitik ging, zeigen seine öffentlichen Äußerungen. Die Pflege von Frömmigkeit und Gottesfurcht hatte Wilhelm II. bereits im Juni 1888 in seinem Erlaß an das Volk gelobt.164 In der bereits zitierten Aachener Rede von 1902 brachte der Kaiser sein Programm auf die prägnante Forderung: „die Religion im Volke aufrecht zu erhalten.“165 Hatte er sich damit öffentlich zum Religionserhalt bekannt, so forderte er außerdem vor allem von Standesgenossen und Geistlichen, ihn bei diesem Ziel zu unterstützen. Als er 1888 das Protektorat über den Johanniterorden antrat, hielt er eine Rede in Sonnenburg, in der er den Adel ausdrücklich zur Mithilfe bei seinem Plan aufforderte: 160
Zu den 80 Kirchen in Berlin vgl. Straub, S. 210. In dem Band zum 25–jährigen Regierungsjubiläum Wilhelms II. 1913 ist von insgesamt 1000 neu gebauten Kirchen und ebenso vielen neugeschaffenen Pfarrstellen in den älteren preußischen Provinzen die Rede: vgl. Kritzinger, S. 244. Paul Seidel spricht von einigen hundert Kirchen in den Provinzen und 54 Kirchen in Berlin im Zeitraum von 1889 und 1904: vgl. Seidel, Der Kaiser und die Kunst, S. 75–75. 161 Siehe die Programme der Kircheneinweihungen in GStA, BPH Rep. 53 Q II Nr. 1. 162 Straub, S. 210. Vgl. auch Krüger, Erlöserkirche, S. 6 und Krüger, Sakralitätsverständnis, S. 242–243. 163 Vgl. Krüger, Sakralitätsverständnis, S. 243–244, der auch darauf hinweist, daß unter Wilhelm II. überhaupt die Idee des „Gruppierten Kirchenbaus“ intensiv vorangetrieben wurde. Zum sozialpolitischen Aspekt des Kirchenbaus und seiner Verquikkung mit religionspolitischen Zielsetzungen vgl. Hoffmann, Rheinische Romanik, S. 78. 164 „An Mein Volk“, 18.6.1888: Penzler I, S. 10. 165 Rede Wilhelms II. bei der Entgegennahme des Ehrentrunks im Rathaussaal in Aachen, 19.6.1902: Obst, Die politischen Reden, Nr. 142, S. 247; Penzler III, S. 97–102; Schröder, Tagebuch, S. 11. Ausführlicher zitiert in den Kapiteln D. IV. und F. II.
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„Die großen Aufgaben, welche Mir auf dem Gebiete der inneren Entwicklung Meines Volkes obliegen, vermag Ich nicht allein durch die staatlichen Organe zu lösen. Zur Hebung und moralischen sowie religiösen Kräftigung und Entwicklung des Volkes brauche Ich die Unterstützung der Edelsten desselben, Meines Adels, und die sehe ich im Orden St. Johannis in stattlicher Zahl vereint. Ich hoffe von Herzen, daß es Mir gelingen möge [. . .], die Ausbildung und Fortbildung der Hebung des Sinnes für Religion und christliche Zucht und Sitte im Volke zu bewirken und so die hohen Ziele zu erreichen, welche Ich Mir als Ideale gestellt habe.“166
Diese Rede zeigt die Version der Religionspolitik, die Wilhelm II. ganz zu Beginn seiner Amtszeit vorschwebte: optimistisch, daß mit ein wenig Hilfe des Adels die Rechristianisierung des Volkes schon gelingen möge. 1894, nachdem schnelle Erfolge ausgeblieben waren und als eine Generalrevision des Neuen Kurses in Aussicht stand, hielt der Kaiser in Königsberg eine Rede, bei der er der Einweihung eines Standbildes Wilhelms I. am Vortag gedachte und dann ausführte: „Nun, meine Herren, an Sie ergeht jetzt Mein Ruf: Auf zum Kampfe für Religion, für Sitte und Ordnung, gegen die Parteien des Umsturzes. Wie der Epheu sich um den knorrigen Eichstamm legt, ihn schmückt mit seinem Lauf und ihn schützt, wenn Stürme seine Krone durchbrausen, so schließt sich der preußische Adel um Mein Haus. Möge er und mit ihm der gesamte Adel deutscher Nation ein leuchtendes Vorbild für die noch zögernden Teile des Volkes werden. Wohlan denn, lassen Sie uns zusammen in diesen Kampf hineingehen! Vorwärts mit Gott, und ehrlos, wer seinen König im Stiche läßt!“167
Das war im Ton wesentlich düsterer und kämpferischer, war auch expliziter gegen die Sozialdemokratie gerichtet, verfolgte aber immer noch dasselbe Ziel: Die Religion im Volk zu stärken, um sie als sittliche Kraft politisch nutzen zu können. Mit Religion war natürlich das Christentum gemeint, aber keineswegs nur in seiner evangelischen Ausprägung: Das sieht man an der Aachener Rede von 1902 ebenso wie an dem Versuch, sich auch die religionspolitische Unterstützung der befreundeten deutschen Benediktinermönche zu sichern. Bei einem Besuch des Klosters Beuron 1910, wenige Monate nach der Gottesgnadentumdebatte in der Presse,168 sagte der Kaiser dem Abt und den versammelten Mönchen: „Von Anfang Meiner Regierung an war es Mir eine besondere Freude, die Benediktiner in ihren Bestrebungen zu unterstützen, da Ich beobachtet habe, daß sie überall, wo sie gewirkt, nicht nur die Religion aufrecht zu erhalten und zu stärken bestrebt waren, sondern auch als Kulturträger auf dem Gebiete des Kirchengesan166 Bei den Johannitern, 23.8.1888: Penzler I, S. 22; Obst, Die politischen Reden, Nr. 14, S. 17. 167 Festmahl für die Vertreter der Provinz Ostpreußen, 6.9.1894: Penzler I, S. 276; Obst, Die politischen Reden, Nr. 58, S. 99–101. 168 Siehe dazu Kapitel D. I.
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ges, von Kunst und Wissenschaft und in anderem sich hervorgetan haben, eine nicht zu unterschätzende Arbeit. Was Ich von Ihnen erwarte, ist, daß Sie in den Bahnen Ihrer Vorfahren weiterarbeiten und Mich unterstützen in Meinen Bestrebungen, dem Volk die Religion zu erhalten. Dies ist umso wichtiger, als das zwanzigste Jahrhundert Gedanken ausgelöst hat, deren Bekämpfung nur mit Hilfe der Religion und mit Unterstützung des Himmels siegreich durchgeführt werden kann.“169
Auch hier ging es darum, die Religion – gemeint war das Christentum, allerdings ganz allgemein, also ohne konfessionelle Zuspitzung – im Volk zu verankern, um sie politisch nutzen zu können. Welche Gedanken Wilhelm II. konkret meinte, die man nur mit der Religion bekämpfen könne, sagte er nicht, aber es spricht alles dafür, daß er wieder die „Parteien des Umsturzes“ im Sinn hatte. Die Religion jedenfalls wurde in diesen Reden als politischer Faktor für eine Stärkung der bestehenden Staatsform – also der Monarchie – ins Spiel gebracht. Die Überzeugung, daß die Religion ein zentraler Faktor für die Stabilität der öffentlichen Ordnung sei, war in Preußen nicht neu: Das sogenannte Religionsedikt des Geheimen Rats Johann Christoph Wöllner von 1788 diente bereits dem Zweck einer Stabilisierung der konfessionellen und damit auch der politischen Verhältnisse. Dahinter stand die Auffassung, daß das gemeine Volk nicht von seinem gewohnten Glauben an die geistliche Autorität abgebracht werden dürfe, weil sonst in der Konsequenz auch die weltliche Autorität fraglich werde. Diese Position wurde bereits von den Zeitgenossen als reaktionär beurteilt, war es aber nicht im eigentlichen Sinne, weil ihr eine rationale, im Grunde utilitaristische Handhabung der Religion zugrunde lag, die ihrerseits ein Produkt der Aufklärung war. Die Auseinandersetzung Wöllners mit seinen Gegnern war daher auch eher eine inneraufklärerische, in der es um die Frage ging, ob der Staat als Garant der öffentlichen Ordnung am ehesten die Durchsetzung der Rationalität verbürgen könne oder ob man dies der aufkommenden dynamischen Zivilgesellschaft überlassen müsse.170 Die religionspolitischen Reden Wilhelms II. sprengten diese Alternative. Zwar war die Grundüberzeugung diejenige, daß der staatliche Ordnungsrahmen die Priorität habe, aber zur Stärkung der religiösen Autorität wurde ausdrücklich auch um die Hilfe „zivilgesellschaftlicher“ Elemente geworben. 169 Rede Wilhelms II. beim Besuch des Klosters Beuron, 13.11.1910: Obst, Die politischen Reden, Nr. 189, S. 324–325; Krieger IV, S. 227–228. Bereits 1901 hatte Wilhelm II. anläßlich der Stiftung eines Hochaltars für die Klosterkirche Maria Laach den Benediktinerorden aufgefordert, unter kaiserlichem Schutz „die Religion zu pflegen“: Penzler III, S. 23–24. 170 Zu diesem Absatz und zum Wöllnerschen Religionsedikt überhaupt vgl. Clark, Preußen, S. 316–323.
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Der Grundgedanke blieb allerdings weiterhin der konservativ-aufklärerische, den schon Wöllner vertreten hatte: Die Religion des einfachen Volkes diene der Monarchie, weil sie konservative Sittlichkeit und Autoritätsglauben stärke. Diese „funktionale[] Auffassung der Religion“171 liegt den religionspolitischen Reden Wilhelms II. zugrunde, auch wenn er sie nicht immer konsequent durchgehalten hat und etwa 1902 in einer berühmt gewordenen Rede in Görlitz für das deutsche Volk die „Freiheit in der Weiterbildung der Religion“172 forderte. Aber auch bei dieser Beschwörung freier religiöser „Weiterbildung“ wirkte faktisch ein gesamtchristlicher Religionsbegriff, der konfessionelle Grenzen verwischte bzw. diese für irrelevant erklärte. Am meisten Aufmerksamkeit gewann das gesamtchristliche religionspolitische Programm Wilhelms II. allerdings nicht durch Kirchenbau und beachtete oder weniger beachtete Reden, sondern durch die kaiserliche Orientfahrt. Diese hatte auch persönliche religiöse Motive, verfolgte aber ebenso religionspolitische Zwecke.173 Die Reise fand im Oktober und November 1898 statt, und direkt im Anschluß, am 6. Dezember, schilderte Wilhelm II. die religionspolitische Seite der Reise in seiner Rede bei der Eröffnung des neuen Reichstages: 171 Clark, Preußen, S. 489; bei Clark bezieht sich die Formulierung auf Friedrich Wilhelm III., der von seinen aufgeklärten Hauslehrern eine entsprechende Vorstellung vermittelt bekommen, sich später aber immer mehr der Auffassung einer Unterordnung des Staates unter die Vorgaben der Religion und dem Konzept eines „christlichen Staates“ angeschlossen habe. Man könnte annehmen, daß auch Wilhelm II. für einen christlichen Staat eingetreten sei, muß dann aber differenzieren: Er neigte hier nicht zu einer theokratischen Indienstnahme der Politik für die Religion, sondern eben eher zu einer aufklärerischen Indienstnahme der Religion für die Politik. Nichtsdestotrotz war auch seine politische Theologie – wie der Begriff schon suggeriert – geprägt von der von gegenaufklärerischer Seite angestoßenen und immer stärker werdenden gegenseitigen Durchdringung von Religion und Politik in öffentlichen Debatten: vgl. Clark, Preußen, S. 490. 172 Rede Wilhelms II. bei der Einweihung der „Ruhmeshalle“ in Görlitz, 29.11.1902: Penzler III, S. 140; Obst, Die politischen Reden, Nr. 145, S. 252–254. Wilhelm II. war hier von Houston Stewart Chamberlain beeinflußt; seine Formulierung wurde von dem Assyriologen Friedrich Delitzsch aufgenommen und im Sinne einer Entfernung des Alten Testaments aus dem christlichen Kanon interpretiert, was wiederum den Hollmann-Brief auslöste, ein öffentliches religiöses Bekenntnis des Kaisers: siehe Kapitel E. IV. Zu den kirchenpolitischen und theologischen Positionen, Handlungen und Äußerungen des Kaisers siehe Kapitel E. 173 Zu den persönlichen Motiven siehe den Brief Wilhelms II. an den russischen Kaiser vom 9.11.1898: Goetz, Briefe, S. 65–66. Auf einen im eigentlichen Sinne politischen Zweck der Reise, nämlich die Gewinnung der türkischen Konzession für die von der Deutschen Bank kapitalisierte Anatolische Eisenbahngesellschaft, macht Karl Kupisch aufmerksam: Kupisch, Zwischen Dom und Gedächtniskirche, S. 19– 20. Ausführlicher zur Orientreise und den damit verbundenen Zielen: Kohler, S. 136–201.
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„Bei Meinem Aufenthalt in Konstantinopel, Palästina und Syrien ist es Mir eine Freude gewesen, Mich durch den Augenschein davon zu überzeugen, wie deutsche Tüchtigkeit und Sitte den im türkischen Reiche lebenden Reichsangehörigen zu geachteter Stellung verholfen haben. Mit bewegtem Herzen habe Ich mit der Kaiserin und Königin, Meiner Gemahlin, an den Stätten geweilt, die durch das Leiden des Erlösers der gesamten Christenheit teuer sind. Den evangelischen Bekenntnissen dort ein Gotteshaus zu errichten, war schon das sehnliche Verlangen Meiner drei Vorgänger an der Krone Preußens. Daß es Mir vergönnt war, jenes Verlangen zu erfüllen und die Erlöserkirche in Jerusalem dem Dienste des Herrn zu übergeben, ist Mir ein neuer Antrieb, die Mir von Gottes Gnaden verliehene Gewalt auch weiter einzusetzen für die Grundwahrheiten des Christentums. Von solchen Gefühlen geleitet, hat es Meinem Herzen besondere Genugtuung gewährt, einen langgehegten Wunsch der deutschen Katholiken durch Erwerbung eines ihnen durch weihevolle Erinnerungen geheiligten Besitztums auf dem Berge Zion in Erfüllung zu bringen. So gebe Ich Mich der Hoffnung hin, daß Mein Aufenthalt im türkischen Reiche, die ebenso gastfreundliche wie glänzende Aufnahme, die Ich bei Seiner Majestät dem Sultan, entsprechend den freundschaftlichen Beziehungen der beiden Reiche, gefunden, und der begeisterte Empfang, der Mir und der Kaiserin allenthalben von der osmanischen Bevölkerung bereitet wurde, dem deutschen Namen und den deutsch-nationalen Interessen zu bleibendem Vorteil und Segen gereichen möge.“174
Die Reichstagsrede faßte die drei wesentlichen religionspolitischen Ziele der Orientreise zusammen: erstens das evangelische Christentum im Orient zu stärken, zweitens sich selbst als Protektor der deutschen Katholiken im Heiligen Land zu etablieren, und drittens gute Beziehungen zur muslimischen Welt aufzubauen.175 Dabei machte der Kaiser wie nebenbei deutlich, daß er aus seinem herrscherlichen Gottesgnadentum eine offensive Religionspolitik im Sinne eines Eintretens für das Christentum – unabhängig von konfessionellen Differenzen – ableitete. Seine Ziele versuchte Wilhelm II. durch Aktionen und Reden zu erreichen, die bewußt öffentlichkeitswirksam inszeniert und verbreitet wurden. Was die evangelische Kirche angeht, so war die Einweihung der evangelischen Erlöserkirche in Jerusalem der eigentliche Anlaß der ganzen Orientfahrt.176 Der Kaiser hatte zu der Einweihung die evangelischen Kirchenregierungen und Stiftungen im Heiligen Land eingeladen, dazu den Johanniterorden, zwanzig deutsche Kirchenregierungen sowie die Kirchengemeinschaften von Schweden, Norwegen, Holland, Ungarn, der Schweiz, Italien und Nordamerika.177 Mit diesen Einladungen, dem Reformationstag als Ein174 Rede Wilhelms II. bei der Eröffnung des Reichstags, Berlin, 6.12.1898: Penzler II, S. 133. 175 Vgl. zu diesen drei Zielen auch Beyschlag, S. 6. 176 Vgl. zur Einweihung der „Erlöserkirche“ Kohler, S. 176–189. 177 Vgl. Das deutsche Kaiserpaar im Heiligen Lande, S. 17–18.
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weihungstermin und mit einer als spontan inszenierten Rede im Anschluß an die Einweihung wollte Wilhelm II. ein Zeichen für die Einheit der evangelischen Welt unter deutscher Führung setzen.178 In der Rede sagte er: „Mit fürbittender Teilnahme begleitet die evangelische Christenheit weit über Deutschlands Grenzen hinaus unsere Feier. Die Abgesandten der evangelischen Kirchengemeinschaften und zahlreiche evangelische Glaubensgenossen aus aller Welt sind mit uns hierher gekommen, um persönlich Zeuge zu sein der Vollendung des Glaubens- und Liebeswerkes, durch das der Name des höchsten Herrn und Erlösers verherrlicht und der Bau des Reiches Gottes auf Erden gefördert werden soll. Jerusalem, die hochgebaute Stadt, in der unsere Füße stehen, ruft die Erinnerung wach an die gewaltige Erlösungstat unseres Herrn und Heilandes. Sie bezeugt uns die gemeinsame Arbeit, die alle Christen über Konfessionen und Nationen im apostolischen Glauben eint. [. . .] Gott verleihe, daß von hier aus reiche Segensströme zurückfließen in die gesamte Christenheit, daß auf dem Throne wie in der Hütte, in der Heimat wie in der Fremde Gottvertrauen, Nächstenliebe, Geduld im Leiden und tüchtige Arbeit des deutschen Volkes edelster Schmuck bleibe, und daß der Geist des Friedens die evangelische Kirche immer mehr und mehr durchdringe und heilige.“179
Die Rede, wiewohl sie im Streben nach geistiger Einheit noch über die evangelische Konfession hinausging, fand im Reich große Begeisterung bei den Protestanten, vor allem den Konservativen.180 Dagegen fiel in der öffentlichen Beachtung eine bemerkenswerte Rede, die Wilhelm II. tags zuvor in Bethlehem im Beisein einer Reihe evangelischer Geistlicher im Orient gehalten hatte, etwas ab. Der Grund dafür könnte sein, daß der Kaiser die Aufforderung zu einer Einigung aller evangelischen Konfessionen wenigstens die Orientmissionierung betreffend mit einer Ermahnung flankierte: Die derzeitigen innerchristlichen Streitigkeiten und auch der derzeitige Lebenswandel der Christen im Orient seien alles andere als vorbildlich und deshalb nicht dazu angetan, die Muslime zum Christentum zu bekehren.181 Überhaupt scheint der Kaiser von den Moslems positiv beeindruckt gewesen zu sein, denn seine öffentlichen Freundschaftsbekundungen zum Sultan und zur muslimischen Welt gingen so weit, daß christliche Kreise in 178 Siehe dazu auch Das deutsche Kaiserpaar im Heiligen Lande, S. 249–257. Dort wird die Rede auch als spontan bezeichnet, während Michael A. Obst mit Hinweis auf Bülows Denkwürdigkeiten zeigt, daß die Rede vorher von Kultusminister Bosse und Kabinettschef Lucanus entworfen worden war: Obst, Einer nur ist Herr, S. 216–217; vgl. Bülow, Denkwürdigkeiten I, S. 255. 179 Rede Wilhelms II. bei der Einweihung der Erlöserkirche in Jerusalem, 31.10.1898: Obst, Die politischen Reden, Nr. 99, S. 176–178; Penzler II, S. 121– 123. 180 Vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 217–219. 181 Rede Wilhelms II. in Bethlehem, 30.10.1898: Penzler II, S. 119–121.
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Deutschland darüber ihren Unmut bekundeten.182 Besonders erregt war man über eine Tischrede, die Wilhelm II. bei einem Festmahl in Damaskus gehalten hatte, und in der er nach einer Eloge auf Saladin, einen „der ritterlichsten Herrscher aller Zeiten“, sagte: „Möge der Sultan und mögen die 300 Millionen Mohammedaner, die, auf der Erde zerstreut lebend, in ihm ihren Khalifen verehren, dessen versichert sein, daß zu allen Zeiten der deutsche Kaiser ihr Freund sein wird!“183
Es zeigte sich hier, daß die drei religionspolitischen Ziele der Reise in Spannung zueinander standen: Einerseits erreichte Wilhelm II. das Ziel einer Stärkung der Beziehungen zum Osmanischen Reich – noch im Ersten Weltkrieg wurden dort Propagandapostkarten mit Wilhelms Redetext zur Aufrechterhaltung des Kriegswillens verbreitet –, andererseits reagierten die europäischen Christen, deren Einheit ja demonstriert oder wenigstens beschworen werden sollte, pikiert.184 Für den Kaiser selbst bestand allerdings keine Spannung zwischen seinen verschiedenen Absichten: In der Bethlehemer Rede hatte er ausdrücklich darauf hingewiesen, daß dem Hauptziel einer Verbreitung des Christentums ein positiv-vorbildliches Verhältnis zur muslimischen Welt nur dienen könne. Besser gelang die Harmonisierung mit evangelischen Interessen in bezug auf das angestrebte Katholikenprotektorat. Dieses Projekt barg allerdings eine außenpolitische Spitze gegen Frankreich in sich, das – vom Vatikan anerkannt – nominell das Protektorat über die Katholiken im Heiligen Land hatte.185 Wilhelms Initiative auf diesem Gebiet diente aber hauptsächlich der nationalen Integration der deutschen Katholiken und der Stärkung des katholischen Reichspatriotismus.186 Dazu schenkte er dem deutschen katholischen Palästina-Verein das Grundstück Dormition de la Sainte Verge, welches er vom Sultan erhalten hatte.187 Die Übernahme des Grundstücks fand 182
Siehe Beyschlag, S. 10–14; vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 219–223. Besonders übel nahm man es dem Kaiser, daß er kein Wort zur Verfolgung der christlichen Armenier verlor. 183 Tischrede Wilhelms II. in Damaskus, 8.11.1898: Obst, Die politischen Reden, Nr. 101, S. 179; Penzler II, S. 127. Auch Oliver Kohler weist darauf hin, daß der Islam für Wilhelm II. zu einer Art „Gegenwelt“ gegen das – enttäuschende – Christentum in Palästina geworden sei: vgl. Kohler, S. 163–169. 184 Vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 219–223. 185 Vgl. Gründer, S. 372. Das spielte auch für den im folgenden Geschilderten Erwerb des Grundstücks Dormition de la Saint Verge durch Wilhelm II. eine Rolle, der von Frankreich zu verhindern versucht wurde: vgl. dazu Kohler, S. 121–135. 186 Siehe zur kaiserlichen Katholikenpolitik Kapitel D. IV. Zum seit Ende der 1880er Jahre aufkommenden katholischen Reichspatriotismus vgl. Gründer, S. 371– 382. 187 Vgl. ausführlich zu Besitzergreifung und Übergabe des Grundstücks: Kohler, S. 189–201.
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am selben Tag wie die Einweihung der Erlöserkirche statt, und in seiner Ansprache an die Vertreter des Palästina-Vereins erklärte Wilhelm: „Wie vor 29 Jahren Seine Majestät der Sultan Abdul Aziz Meinem hochseligen Vater das Terrain übergeben hat, wo die heute eingeweihte evangelische Kirche steht, so hat Seine Majestät der jetzt regierende Sultan in Freundschaft sich bewogen gefunden, Mir dieses Terrain zu überlassen, auf daß für die deutschen Katholiken zu deren Nutz und Frommen Gebäude darauf entstehen können. Indem Ich mit tiefem Danke an Seine Majestät den Sultan das Terrain übernehme, hoffe Ich, daß diese Gabe, die der Ausdruck inniger Freundschaft und zu gleicher Zeit eingehenden Interesses für Meine deutschen Untertanen ist, nunmehr in der Hand des deutschen katholischen Palästina-Vereins zu einem Segen für meine katholischen Untertanen, speziell auch für die Bestrebungen im heiligen Lande werden möge.“188
Wilhelm II. vollzog in dieser Ansprache rhetorisch eine Parallele zur Einweihung der evangelischen Erlöserkirche, mit der er den Zuhörern verdeutlichte, daß er hier ganz nach dem Paritätsgrundsatz handle. Das verstärkte er dann noch einmal durch den expliziten Hinweis auf die deutschen Katholiken und sein besonderes Interesse für diese. Auf diesen Aspekt wies der Kaiser auch noch einmal hin in seinem Telegramm, das er noch am selben Tag an den Papst schickte: „Es hat Meinem Herzen wohlgethan, bei diesem Anlaß zu bekunden, wie teuer Mir die religiösen Interessen der Katholiken sind, welche die göttliche Vorsehung Mir anvertraut hat.“189 Das Ergebnis der Aktion waren offizielle Dankbarkeitsadressen vom Papst und den deutschen Bischöfen, die Ernennung Wilhelms zum Ritter des Ordens vom Heiligen Grab durch den Papst und allgemeine Zufriedenheit im katholischen Bevölkerungsteil des Reiches.190 Es zeigte sich hier, daß das religionspolitische Programm Wilhelms II. in einer etwas bescheideneren Ausgabe durchaus positive Ergebnisse für Wilhelm zeigen konnte: Von der eigentlich angestrebten massenhaften Rechristianisierung kann zwar ebenso wenig die Rede sein wie von einer spürbaren Stärkung konservativer Parteien durch Religionsförderung, aber diejenigen Bevölkerungsteile, die einer christlichen Konfession angehörten, konnten mit Förderungsmaßnahmen erreicht werden. Das diente vor allem im Falle der Katholiken den Integrationsbemühungen des Kaisers. 188 Rede Wilhelms II. bei der Übernahme des Dormition de la Sainte Vierge, 31.10.1898: Obst, Die politischen Reden, Nr. 100, S. 178–179; Penzler II, S. 123– 124. 189 Das deutsche Kaiserpaar im Heiligen Lande, S. 260. 190 Vgl. Das deutsche Kaiserpaar im Heiligen Lande, S. 260–261; vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 218–219; vgl. Strötz, Wilhelm, S. 189–191. Die Dankbarkeitsadresse der deutschen Bischofskonferenz, die dem Kaiser im Namen aller deutschen Katholiken für die Schenkung und die generelle Förderung der katholischen Belange dankte, ist abgedruckt in: Gatz II, Nr. 750, S. 469.
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VI. Judenkaiser Am Rande der Orientreise fand, von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, ein denkwürdiges Ereignis statt: Wilhelm II. empfing eine Abordnung jüdischer Kolonisten und deutscher Zionisten und erklärte ihr, „daß alle diejenigen Bestrebungen auf sein wohlwollendes Interesse zählen könnten, welche auf eine Hebung der Landwirtschaft in Palästina zum Besten der Wohlfahrt des türkischen Reiches und unter voller Respektierung der Souveränität abzielten.“191
Diese wenig aussagekräftige Ansprache hatte eine der Öffentlichkeit verborgene Vorgeschichte. Der Führer der deutschen Zionisten, Theodor Herzl, war im September 1898 durch die Vermittlung des Großherzogs von Baden und Eulenburgs an den Kaiser mit der Bitte um Unterstützung herangetreten.192 Die beiden Vermittler setzten sich erfolgreich dafür ein, daß Wilhelm II. sich mit dem Anliegen der Zionisten, mit deutscher Unterstützung in Palästina einen Judenstaat zu gründen, näher befaßte und sich bereit erklärte, im Rahmen der Orientfahrt eine zionistische Deputation zu empfangen. In einem Brief vom 29. September 1898 schrieb der Kaiser dem badischen Großherzog: „Nun weiß ich wohl, daß neun Zehntel aller Deutschen mit Entsetzen mich meiden werden, wenn sie in späterer Zeit erfahren sollten, daß ich mit den Zionisten sympathisiere oder gar eventl., wie ich es auch – wenn von ihnen angerufen – tun würde, sie unter meinen Schutz stellen würde! Allein da möchte ich doch bemerken: Daß die Juden den Heiland umgebracht, das weiß der liebe Gott noch besser wie wir, und er hat sie demgemäß bestraft. Aber weder die Antisemiten, noch Andere noch ich sind von Ihm beauftragt und bevollmächtigt diese Leute nun auch auf unsere Manier zu kujonieren in Majorem Dei Gloriam! Ich glaube, hier darf man auch sagen: ‚Wer unter Euch ohne Fehl ist, der werfe den ersten Stein auf sie‘! Dazu würde sich ferner auch noch das ‚Liebet Eure Feinde‘ setzen lassen. Und der Punkt ist doch für uns vom weltlichen, realpolitischen Standpunkt aus nicht außer acht zu lassen, daß bei der gewaltigen Macht, die das internationale jüdische Kapital nun einmal in aller seiner Gefährlichkeit repräsentiert, es doch für Deutschland eine ungeheure Errungenschaft wäre, wenn die Welt der Hebräer 191 Empfang einer jüdischen Abordnung, 2.11.1898: Penzler II, S. 125. Die Begegnung mit den Zionisten war nicht die einzige Kontaktpflege zum deutschen Judentum in Palästina: Wilhelm II. ließ sich in Jerusalem auch von der deutschen Jüdischen Gemeinde in Jerusalem begrüßen; er wurde teilweise begeistert empfangen: vgl. Kohler, S. 153–156. 192 Vgl. den Briefwechsel zwischen Herzl und Eulenburg vom 24.9.–27.9.1898: Röhl, Eulenburgs politischer Korrespondenz III, Nr. 1386, S. 1920–1922 und Nr. 1387, S. 1923–1924. Vgl. außerdem den Briefwechsel zwischen Wilhelm II. und dem Großherzog von Baden vom 29.8.1898 und vom 1.10.1898, in: Bein, S. 62 und S. 66–67. Vgl. dazu auch Röhl, Aufbau, S. 1050–1060. Vgl. zum folgenden zudem ausführlich Benner, S. 205–227.
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D. Politische Theologie I: herrscherliches Selbstverständnis
mit Dank zu ihm aufblickt?! Überall erhebt die Hydra des rohesten, scheußlichsten Antisemitismus ihr greuliches Haupt, und angsterfüllt blicken die Juden – bereit die Länder wo ihnen Gefahr droht [gemeint ist Rußland] zu verlassen – nach einem Schützer! Nun wohlan die ins Heilige Land zurückgekehrten sollen sich Schutzes und Sicherheit erfreuen und beim Sultan werde ich mich für sie interzedieren“.193
Mit der doppelten Betonung des Schutzes, unter den Wilhelm II. seine zionistischen Untertanen stellen wollte, klingt auch hier das herrscherliche Selbstverständnis vom Herrn der Mitte, dem Kaiser aller Deutschen, an. Der Hinweis auf die neunzig Prozent Deutsche, die ein solches Ziel entsetzen würde, liefert dazu eine Erklärung, weshalb Wilhelm II. den Plan nicht zur Außendarstellung nutzte: Die öffentliche Unterstützung einer Randgruppe zum Preis eines massiven Popularitätsverlustes schien dem Kaiser nicht angebracht. Herzl jedenfalls, vom badischen Großherzog und Eulenburg auf dem Laufenden gehalten, war zuversichtlich. Er schrieb dem Kaiser am 18. Oktober 1898, als die Orientfahrt bereits begonnen hatte und beide sich in Konstantinopel aufhielten, und bat um eine geheime Vorbesprechung der angestrebten Audienz. Es komme, so Herzl, auf zwei Dinge an: Die Übernahme des deutschen Protektorats für eine zu gründende „Jüdische Landgesellschaft für Syrien und Palästina“, und die Fürsprache Wilhelms II. beim Sultan für das zionistische Projekt.194 Im Sultanspalast in Konstantinopel wurde Herzl vom Kaiser am selben Abend empfangen. Wilhelm sagte zu, beim Sultan vorzusprechen und zeigte sich vom Vorschlag einer jüdischen Landgesellschaft unter deutschem Protektorat begeistert.195 Bei dem Gespräch war allerdings auch Reichskanzler Bülow anwesend, der der zionistischen Initiative reserviert gegenüberstand. Er gab Wilhelm auch anschließend – wohl zu recht – zu bedenken, daß ein Eintreten für jüdische Belange die Beziehungen zum Osmanischen Reich gefährden könnte und war letztlich auch verantwortlich dafür, daß die öffentliche Ansprache des Kaisers an die jüdische Delegation in Jerusalem so unverbindlich ausfiel.196 Dennoch gab sich Herzl auch im 193 Wilhelm II. an Großherzog Friedrich I. von Baden, 29.9.1898: Fuchs, Nr. 1892, S. 78–80, hier S. 79. Der in dem Brief zum Ausdruck gebrachte Glaube an die Macht des „jüdischen Kapitals“ war übrigens eine in Europa allgemein verbreitete Anschauung. Vgl. dazu Schneider, Judentum und Modernisierung, S. 341– 342. 194 Theodor Herzl an Wilhelm II., Konstantinopel, 18.10.1898: GStA, BPH Rep. 53 J Lit H Nr. 10, Bl. 1–2. 195 Vgl. Bein, S. 58; vgl. Pintschovius, S. 298–299. 196 Vgl. Bein, S. 57–59 und S. 67–68; vgl. Pintschovius, S. 299–300. Oliver Kohler verweist noch auf eine ausführliche Rede Herzls und eine ebenfalls ausführlichere Antwort Wilhelms II. bei der Audienz. Die Äußerungen des Kaisers wurden allerdings nicht veröffentlicht und stellen sich auch in der Paraphrase durch Herzl
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Dezember 1898 gegenüber dem Großherzog von Baden noch zuversichtlich, daß ein deutsches Protektorat für eine unauffällig gegründete und nur privatrechtlichen Charakter tragende Landgesellschaft möglich sein würde.197 Erst nachdem der Großherzog Herzl deutlich machte, daß zur Zeit keine Hoffnung für ein deutsches Protektorat bestünde, wandte Herzl sich mit seinem Anliegen an England.198 Man hat Wilhelms zeitweisem Eintreten für den Zionismus antisemitische Motive zugeschrieben, vor allem mit dem Hinweis darauf, daß die Entfernung der Juden aus dem eigenen Staat ja das Hauptziel antisemitischer Bewegungen gewesen sei.199 In Wirklichkeit war Wilhelms Motivlage aber wohl komplexer und von den unter den gebildeten Zeitgenossen verbreiteten antisemitischen Vorurteilen ebenso geprägt wie von dem Streben nach religiöser Toleranz und dem Wunsch, auch die jüdische Minderheit unter seinen kaiserlichen Schutz zu stellen.200 Besonders bemerkenswert ist jedenfalls, daß man öffentliche judenfeindliche Äußerungen Wilhelms II. während seiner gesamten Regierungszeit und auch darüber hinaus vergeblich sucht.201 John Röhl hat diesen Sachverhalt mit der verschwörungstheoretischen These zu erklären versucht, der Antisemitismus des Kaisers habe „aus taktischen Gründen vor der Öffentlichkeit geheimgehalten werden“202 müssen. Wilhelms eigene Behauptung von 1898 gegenüber dem badischen Großherzog, neun Zehntel aller Deutschen würden von einer judenfreundlichen Geste des Kaisers entsetzt sein, weshalb man sich in der angestrebten Rolle als Schutzherr der Juden nicht öffentlich präsentieren dürfe, deutet aber auf das genaue Gegenteil hin. Denn auch wenn man Wilhelms Ansprechbarkeit für den Zionismus antisemitisch deutete, so wäre doch nicht zu bestreiten, daß der Kaiser selbst in dem genannten Brief ein Eintreten nicht viel verbindlicher dar als der veröffentlichte Redetext. Immerhin wird dadurch aber plausibler, weshalb Herzl auch nach der Audienz noch guter Hoffnung für sein Projekt war: vgl. Kohler, S. 156–163. 197 Theodor Herzl an den Großherzog von Baden, 15.12.1898: GStA, BPH Rep. 53 J Lit. B Nr. 4, Bl. 18–22. 198 Vgl. Pintschovius, S. 300. 199 So Gründer, S. 378–379 und vor allem Röhl, Aufbau, S. 1050–1060. 200 Vgl. Clark, Wilhelm II., S. 326–328; vgl. Pintschovius, S. 288–295. 201 Auf diesen erstaunlichen Sachverhalt hat schon Lamar Cecil hingewiesen, der sogar noch für die zur Veröffentlichung bestimmten Exilschriften Wilhelms II. gilt: vgl. Cecil, S. 343–344. 202 Röhl, Aufbau, S. 165. Einen systematischen Überblick über die antijüdischen Privatäußerungen Wilhelms II. bietet Röhl, Kaiser Wilhelm II. und der deutsche Antisemitismus. Auch hier findet sich aber keine Erklärung dafür, weshalb sich Wilhelms antijüdische Ressentiments nicht in seiner Politik niedergeschlagen haben. Wilhelms judenfreundliche Äußerungen, Gesten und Handlungen werden ebensowenig erklärt, sondern lediglich bagatellisiert.
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für Herzl als gegen den Antisemitismus gerichtet verstand und genau deshalb den Eindruck der Judenfreundlichkeit vor der Öffentlichkeit geheimgehalten wissen wollte. Christopher Clark hat daher auch Röhls These vom Antisemitismus als einem „Kernelement“203 der Weltanschauung Wilhelms widersprochen und statt dessen vorgeschlagen, Wilhelms Haltung als reaktiven Antisemitismus zu bezeichnen.204 Es sei nämlich auffällig, daß Wilhelms privat geäußerten Ausfälle gegen Juden tendenziell dann einen Höhepunkt erreichten, wenn der Kaiser sich gegen Druck vor allem seitens der „jüdischen“ Presse zur Wehr setzen wollte.205 Das war schon in den Stoecker-Krisen seit 1885 zu beobachten gewesen206 und setzte sich fort bei der Daily Telegraph- und der Eulenburg-Krise.207 Auch in diesen Fällen äußerte Wilhelm II. sich allerdings nicht in der Öffentlichkeit judenfeindlich, was schon in der Stoekker-Affäre zu verwirrten Spekulationen der Presse über Wilhelms Haltung zum Judentum geführt hatte.208 Und der alldeutsche Nationalist und Antisemit Heinrich Claß charakterisierte Wilhelm II. in seiner 1912 erschienenen Schrift Wenn ich der Kaiser wär’ als „Gönner der Juden“ und Judenkaiser.209 Claß hatte aus seiner Sicht Grund zu dieser Einschätzung, da Wilhelm II. in seiner Amtszeit nicht nur darauf achtete, sich öffentlich nicht antisemitisch zu äußern, sondern sich auch entsprechend verhielt. Bekannt sind die teilweise engen Freundschaften des Kaisers zu den sogenannten „Kaiserjuden“, Repräsentanten des liberal-konservativen Besitz- und Bildungsbürgertums wie Albert Ballin, Max Warburg, Carl Fürstenberg, Emil Rathenau und anderen.210 Die gesellschaftspolitische Emanzipation der Juden, die im Gesetz, betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung von 1869 ihren rechtlichen Ausdruck gefunden hatte, wurde von Wilhelm II. weder bekämpft noch eingeschränkt.211 Eher versuchte er, die juristische Gleichberechtigung auch faktisch durchzusetzen, indem er einzelne Juden als Staatsdiener in seine nähere Umgebung holte.212 Die Aufnahme des Antisemitismus in das 203
Röhl, Aufbau, S. 165. Vgl. Clark, Wilhelm II., S. 326–328. 205 Vgl. Clark, Wilhelm II., S. 328. 206 Siehe Kapitel C. III. 207 In diesen Fällen war der jüdische Journalist Maximilian Harden das Haßobjekt des Kaisers: vgl. Clark, Wilhelm II., S. 328 und Cecil, S. 336–339. 208 Siehe Kapitel C. III. 209 Frymann, S. 35. Vgl. auch Clark, Wilhelm II., S. 327. 210 Vgl. Mosse, S. 173–194. 211 Vgl. Clark, Wilhelm II., S. 329; vgl. Pintschovius, S. 287. 204
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offizielle Parteiprogramm der Konservativen Partei auf deren Parteitag 1892 verurteilte der Kaiser sogar öffentlich.213 Umgekehrt gab es durchaus eine wahrnehmbare Kaiserbegeisterung unter den deutschen Juden, besonders unter dem deutsch-jüdischen Bürgertum, das sich zu einem erheblichen Teil als reichspatriotisch verstand.214 Das galt besonders für den Osten des Reiches, wo Juden und Deutsche sich im Identitätskampf gegen die Polen zusammenschlossen.215 Auch außerhalb des Reiches erfreute Wilhelm sich einiger Beliebtheit unter den Juden. Ein Beispiel dafür ist eine Mikrographie „Es lebe hoch der Kaiser“, die der russische Rabbinatskandidat A. Niederland 1908 erstellte und die ein aus hebräischen Schriftzeichen zusammengesetztes Portrait Wilhelms II. zeigte.216 Das Bild war ein Dankbarkeitszeugnis für die Spende, die der Kaiser dem Vater Niederlands 1905 zum Wiederaufbau der Synagoge gemacht hatte, die im Rahmen der organisierten und spontanen Pogrome in Rußland verwüstet worden war.217 Angesichts dieser latent projüdischen politischen Haltung Wilhelms II. verwundert es auch nicht, daß der Kaiser den Antisemitismus von Claß ablehnte, dessen Vorschläge einer Enteignung und anschließenden Vertreibung der Juden ihm in Vermittlung des Kronprinzen zugetragen worden war.218 Wilhelm nannte den Vorschlag einer Judenvertreibung „geradezu kindlich“: 212 1892 machte Wilhelm II. den bürgerlich-jüdischen Offizier Walter Mossner zu seinem Flügeladjutanten: Pintschovius, S. 290. Gegen den Rat der übrigen Minister setzte sich Wilhelm II. 1896 für den jüdischen Staatsdiener Karl Julius von Bitter als Kandidaten für das Amt des preußischen Handelsministers ein: Clark, Wilhelm II., S. 328. 213 Reichskanzler Caprivi hielt in Reaktion auf das neue konservative Parteiprogramm eine Reichstagsrede gegen den demagogischen Charakter des Antisemitismus, und Wilhelm II. demonstrierte sein Einverständnis mit Caprivi, indem er den Führer der Konservativen, Manteuffel, öffentlich schnitt und auch ansonsten gegen die Konservative Partei Stimmung machte: Caprivis Rede in Stenographische Berichte, VIII. Legislaturperiode. II. Session 1892/93, S. 273. Vgl. außerdem Röhl, Aufbau, S. 458–459 und vor allem S. 526–529; vgl. außerdem Clark, Wilhelm II., S. 328. Siehe dazu auch den Brief Eulenburgs an Wilhelm II. vom 17.12.1892: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz II, Nr. 751, S. 997–998. Der Brief zeigt einmal mehr die Notwendigkeit, zwischen privater Einstellung und politischem Handeln bzw. öffentlicher Selbstdarstellung zu unterscheiden: Eulenburg empfahl eine Stellungnahme gegen die antisemitische Wendung der Konservativen ausdrücklich; nicht, weil er etwa die „berechtigten Klagen des Antisemitismus“ nicht anerkenne, sondern weil der Antisemitismus drohe, die Regierung zu spalten. 214 Vgl. Gidal, S. 234–238. 215 Vgl. Toller, S. 11–13; vgl. Pintschovius, S. 294–295. 216 Vgl. Gidal, S. 234. 217 Vgl. Gidal, S. 234; vgl. Pintschovius, S. 294. 218 Vgl. Zechlin, S. 47–48.
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„Sie würden ihre enormen Reichtümer entnehmen, und wir würden unserem Nationalwohlstand und Erwerbsleben einen Schlag versetzen, der uns auf den Zustand vor 100 Jahren zurückwerfen und zugleich aus der Reihe der Kulturnationen ausscheiden würde.“219
Der Kaiser lehnte den Antisemitismus hier aus politisch-pragmatischen Gründen ab. Zusammen mit dem in der Zionismus-Frage und den einzelnen Zuwendungen zu Juden zum Ausdruck gebrachte Anspruch, Herr der Mitte – auch der jüdischen Deutschen – zu sein, und zusammen mit der ausschließlich privat geäußerten reaktiven antisemitischen Einstellung des Kaisers ergibt sich ein Gesamtbild, das der Wirklichkeit gerechter wird als das einseitige Beharren auf judenfeindlichen Privatäußerungen. Damit ist die Röhlsche These, Wilhelm II. sei als Kaiser überzeugter Antisemit gewesen, habe dies in seinem öffentlichen Auftreten geschickt verborgen und durch die Unterstützung der Zionisten den Versuch unternommen, die Juden aus Deutschland hinaus zu komplimentieren, nicht im strengen Sinn widerlegt. Die Faktenlage liefert aber keinen überzeugenden Grund, weshalb Wilhelm II. eine antisemitische Haltung vor der Öffentlichkeit hätte geheim halten sollen. Deshalb ist im Anschluß an Clark die These vom Kaiser als reaktiven Antisemiten, der dennoch entschlossen war, auch den deutschen Juden eine gesicherte Existenz zu ermöglichen, als die plausiblere vorzuziehen. Zwei aus der Exilzeit rückblickende Erinnerungen bestätigen dieses Bild von einem Kaiser, der sich bemühte, auch die jüdischen Untertanen möglichst zu integrieren, dabei aber durch den stärker werdenden politischen Antisemitismus im Reich gebremst wurde und außerdem selbst nicht frei war von antisemitischen Ressentiments. Die erste Erinnerung stammt vom Generalbevollmächtigten des preußischen Königshauses, Wilhelm von Dommes. Dommes berichtete dem Kaiser über ein Sondierungsgespräch mit Hitler im Oktober 1933 über das Verhältnis des Nationalsozialismus zur Monarchie. Hitler habe eine kritische Bemerkung zur Judenfreundlichkeit des Kaisers gemacht, worauf Dommes mit einer Äußerung Wilhelms II. von 1911 geantwortet habe: „Der Souverain habe die Pflicht, alle in einem Volke vorhandenen Kräfte nutzbar zu machen. Wenn man den Juden Armee und Beamtenlaufbahn verschlösse, so müsse man ihnen ein Ventil geben, durch das sie ihre Intelligenz und ihr Kapital zum Besten des Volkes verwerten könnten; dies seien Wissenschaft, Kunst u. Wohltätigkeit.“220 Die zweite Erinnerung stammt von Wilhelm II. selbst. In einem 1940 verfaßten 219 Wilhelm II. an Kronprinz Wilhelm, 20.11.1913: Entwurf des Chefs des Zivilkabinetts v. Valentini: GStA, BPH Rep. 53 J Lit. P Nr. 16. Auch abgedruckt in Zechlin, S. 48. 220 v. Dommes: Unterlagen bezüglich des Verhältnisses Hitlers und der NSDAP zur Hohenzollernmonarchie: GStA, BPH Rep. 53 Nr. 167, 3.
VII. Zusammenfassung
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Brief an Alwina Gräfin von der Goltz, in dem es hauptsächlich um eine theologische Verortung des Judentums ging,221 erinnerte sich Wilhelm II. verbittert: „Sie [die Juden] bleiben die Feinde aller Christen, die an Christus fest glauben. Ich habe Juden zu Tisch gehabt, Judenprofessoren unterstützt und ihnen geholfen, die Antwort war: Hohn, Spott, Weltkrieg, Verrat, Versailles und Revolution!“222
Bemerkenswert ist an dieser Äußerung, daß Wilhelm II. trotz nachträglicher Verbitterung und trotz der nachträglichen Deutung der politischen Judenfreundlichkeit als Fehler dennoch die eigene Haltung während seiner Regierungszeit als judenfreundlich beurteilte. Selbst in der absoluten Hochphase seines Antisemitismus leugnete der Kaiser also nicht, in seiner Amtszeit alles andere als antisemitisch agiert zu haben.
VII. Zusammenfassung Die Auffassung Wilhelms II. von seinem Herrscheramt hatte eine eher theologische und eine eher politische Seite. Dabei steht hier dasjenige Selbstbild des Kaisers im Vordergrund, das er auch nach außen hin kommuniziert hat und das insofern eine unmittelbare politische Bedeutung hatte. Ein Unterschied zwischen privat-persönlichen und öffentlich-politischen Auffassungen leuchtet in einigen Punkten auf, ist aber aus den Quellen nicht sauber zu erarbeiten und scheint aufs Ganze gesehen auch eher marginal zu sein. Die eher theologische Seite des herrscherlichen Selbstverständnisses ist das Gottesgnadentum, welches Wilhelm II. nicht nur als preußischer König, sondern auch als deutscher Kaiser für sich reklamiert hat. Wilhelm übernahm hier ein Element politisch-theologischer Tradition und nutzte es als politisches Instrument zur Stärkung des monarchischen Prinzips im Allgemeinen und zur Etablierung der Hohenzollern als neuer Reichsdynastie im Besonderen. Seine inhaltliche Deutung des Gottesgnadentums hob dabei die Unabhängigkeit des Herrschers von weltlichen Mächten hervor: Da Wilhelm sein Amt von Gott und nicht von Volk, Parlament oder Fürsten habe, sei er auch nur Gott für sein Tun verantwortlich. Das, so Wilhelm, führe aber gerade zu einer Hebung des sittlichen Verantwortungsbewußtseins, weil die persönliche Haftung vor Gott die Möglichkeit verstelle, die Verantwortung auf andere Instanzen abzuschieben. Zudem ermögliche erst die mit der Einsetzung in das Amt durch Gott verbundene absolute Unabhängigkeit 221
Siehe dazu Kapitel H. III. Wilhelm II. an Alwina Gräfin von der Goltz, 7.8.1940: RA Utrecht, Nr. 263 (Fiche 1556). Mit einigen Druckfehlern abgedruckt in: Gutsche, Illusionen, Dokument 4. 222
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von den übrigen politischen Instanzen die Ausübung einer „objektiven Staatsgewalt“. Damit könne der Herrscher oberhalb der Parteistreitigkeiten agieren – immer das allgemeine Wohl im Blick – und zwischen den Gegensätzen vermitteln. In der Spätzeit seiner Regierung und vor allem im Exil ist dann der Versuch des Kaisers zu beobachten, seine Auffassung vom Gottesgnadentum dem Volk und der modernen Gedankenwelt verständlich zu machen. Dazu verallgemeinerte Wilhelm II. das Gottesgnadentum zu einem ausdrücklich als evangelisch verstandenen Gottesgnadentum aller Gläubigen durch den Hinweis, daß jeder Christ sein Amt von Gottes Gnaden erhalten habe. Der öffentliche Streit um kaiserliche Äußerungen zum Gottesgnadentum von 1910 zeigt, daß man Wilhelm im Verdacht hatte, unter dem Deckmantel religiöser Überzeugungen eine absolutistische Machtstellung legitimieren zu wollen. Wilhelms amts- und berufstheologische Erklärungen seines Verständnisses vom Gottesgnadentum wurden nur von konservativer Seite goutiert. Als besonderes Problem kam hinzu, daß durch Wilhelms Wortwahl und die Art seines Auftretens die Auffassung entstand, es gehe dem Kaiser beim Gottesgnadentum weniger um eine Auszeichnung des Amtes als vielmehr um eine besondere Erwählung des Individuums. Eine solchermaßen charismatische Wahrnehmung des herrscherlichen Selbstverständnisses Wilhelms II. mußte dazu führen, daß für dessen Legitimität persönliche Authentizität und vor allem politischer Erfolg eine wesentliche Rolle spielten. Wilhelms religiös grundiertes Selbstverständnis führte zu der politischen Kernüberzeugung, als Herrscher „Herr der Mitte“ zu sein. Das war einerseits nur die politische Seite des schon im Gottesgnadentum zum Ausdruck gekommenen Anspruchs, das monarchische Prinzip zu verkörpern als unparteilicher, ja überparteilicher Vermittler und Integrator der gesellschaftlichen Ränder. Andererseits verband der Kaiser damit den Versuch, sich selbst als Symbol der inneren Einheit der Nation zu präsentieren. Diese innere nationale Einheit herzustellen betrachtete Wilhelm II. als seine hauptsächliche politische Aufgabe, da seiner Meinung nach Bismarck das Reich nur äußerlich geeint habe. Die nationale Integration aller Volksteile wollte der Kaiser durch konkrete innenpolitische Initiativen voranbringen, aber auch durch die Selbstinszenierung als Verkörperung und Bezugspunkt nationaler Identität. Auch hier zeigte sich ein komplexes Verhältnis von Amt und Person: Einerseits ging es Wilhelm um das Kaiseramt, das er für sein politisches Programm in Stellung bringen wollte, andererseits ging es ihm um seine persönliche Autorität und Überzeugungskraft, mit der er die nationale Integrationsaufgabe bewältigen wollte. Die Kritik der Presse etwa an der „Nörgler“- und der „Schwarzseherrede“ des Kaisers erklärt sich zu einem guten Teil dadurch, daß persönliche Meinungsäußerung und amtliche Kundgebung bei Wilhelm immer wieder ineinanderliefen. Der mangelnden
VII. Zusammenfassung
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traditionalen Grundlage seines Kaisertums begegnete Wilhelm durch eine Neuerfindung auf Basis seiner persönlichen Überzeugung, seiner religiösen Selbstdeutung und – wie in Kapitel F. zu zeigen ist – eigener traditionaler Setzungen. Besonders deutlich wurde Wilhelms politisch-theologisches Selbstkonzept in zwei Anwendungsfällen: der sozialen Monarchie und der Imagepflege als Glaubenshüter der deutschen Katholiken. Bei der sozialen Monarchie ging es Wilhelm II. um die Integration der Arbeiterschaft in das Reich. Dieses Ziel sollte erreicht werden, indem der Arbeiterschaft sozialpolitische Zugeständnisse gemacht wurden und indem der Kaiser sich selbst als Schutzherr des Arbeiterstandes präsentierte. Dabei wurde nominell auch der Arbeiterschaft das Recht auf eine eigene politische Interessenvertretung zuerkannt, die Sozialdemokratie aber als illegitime, weil staatsfeindliche Interessenvertretung bekämpft. Ein ähnliches Muster ist im Falle der Katholiken zu beobachten, die nach den Verheerungen des Kulturkampfes als vollwertige Mitglieder in das Reich integriert werden sollten, während der politische Katholizismus in Gestalt des Zentrums als latent reichsfeindlich bekämpft wurde. Hier liegen die Dinge allerdings noch etwas differenzierter, weil die Zusammensetzung des Reichstags die Regierung oft zwang, mit dem Zentrum zusammenzuarbeiten und weil Wilhelm II. in öffentlichen Auftritten Zentrumsführer würdigte, um die Sympathie des katholischen Bevölkerungsteils zu gewinnen. Die insgesamt überwiegend erfolgreiche Katholikenintegration gelang dem Kaiser durch eine ganze Reihe konzertierter Maßnahmen: Zunächst nutzte er Gelegenheiten für öffentliche Gunstbeweise mehr religiöser oder mehr politischer Art. Dazu gehörten umfangreiche Kirchenstiftungen bis hin zu Grundstücksschenkungen an den Benediktinerorden, die bereits genannten Gunsterweise an das Zentrum und vor allem – im Rahmen der Paritätsdiskussion – die gezielte Katholikenförderung bei der Besetzung öffentlicher Ämter, auch gegen den erbitterten Widerstand der protestantischen Mehrheit. Zudem pflegte Wilhelm II. gute diplomatische Beziehungen sowohl zum deutschen Episkopat als auch zu Papst Leo XIII., betonte in öffentlichen Reden immer wieder die Notwendigkeit religiöser Toleranz und wies seine katholischen Untertanen darauf hin, daß er religionspolitisch auf ihre Unterstützung angewiesen sei. Aus all diesen Maßnahmen auf eine auch innere Affinität des Kaisers zum Katholizismus zu schließen, ist allerdings problematisch, da es diesbezüglich keine Selbstäußerungen Wilhelms gibt. Im Gegenteil deutet sein privates Verhalten – Ausstoß seiner zum Katholizismus konvertierenden Großnichte aus der Familie; freundliche, aber deutlich kritische Korrespondenz mit katholischen Gesprächspartnern – eher auf eine innere Distanz zum Katholizismus hin. Die Annahme einer Wertschätzung der Tradition und des Zeremoniells der katholischen Kirche bei Wil-
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helm II. mag begründet sein, zumal der Kaiser sie indirekt in einem Brief an den Historiker Max Buchner selbst bestätigt hat. Die These Stefan Samerskis von einer zeitweilig erwogenen Konversion Wilhelms zum Katholizismus ist allerdings wenig plausibel. Eher ist bei Wilhelm von einem antikonfessionalistischen Verständnis des Christentums auszugehen, das man heute ökumenisch nennen würde. Aus dem herrscherlichen Selbstverständnis des Kaisers und aus den Anwendungsfällen ergeben sich Bezüge zur Religions- und zur Judenpolitik. Wilhelms religionspolitisches Konzept bestand im wesentlichen darin, dem Volk die christliche Religion erhalten zu wollen, weil er sie als politischsittlich konservative Macht verstand. Diese Auffassung stammte aus der preußischen Tradition konservativer Aufklärung. Das daraus abgeleitete Programm versuchte der Kaiser durch forcierten Kirchenbau, durch religionspolitische Reden und vor allem durch die religionspolitische Inszenierung seiner Orientfahrt von 1898 umzusetzen. Damit gelang ihm eine verstärkte Integration derjenigen Bevölkerungsteile, die einer christlichen Konfession angehörten und eine weitgehend traditionelle Frömmigkeit pflegten; eine echte Stärkung des Christentums oder gar eine umfassende Rechristianisierung des deutschen Volkes gelang Wilhelm allerdings nicht. Im Falle des Judentums schließlich lagen die Dinge besonders kompliziert: Einerseits deutet vieles darauf hin, daß der Kaiser sich im Rahmen seines Selbstkonzepts als Herr der Mitte auch als Schutzherr der Juden verstand. Andererseits mußte er die Stärke des politischen Antisemitismus und dessen desintegratives Potential in Rechnung stellen und war außerdem auch selbst nicht frei von antisemitischen Ressentiments. Die Folge dieser Konstellation war, daß Wilhelm II. versuchte, die „Judenfrage“ möglichst ruhig zu halten: Es gibt keine einzige öffentliche Äußerung des Kaisers über seine Haltung zum Judentum, weder eine philo- noch eine antisemitische. Die jüdischen Emanzipationsgesetze achtete Wilhelm und förderte ihre faktische Umsetzung teilweise sogar, er verkehrte mit bürgerlichen Juden, distanzierte sich öffentlich von der Konservativen Partei von 1892, als sie ein antisemitisches Parteiprogramm verabschiedete und unterstützte Ende 1898 zeitweilig die deutschen Zionisten um Theodor Herzl. Sein – ausschließlich privat geäußerter – Antisemitismus war dagegen reaktiv, das heißt, er reagierte auf öffentlichen Druck vor allem seitens der Presse mit nichtöffentlichen antisemitischen Ausfällen. In seinen politischen Handlungen und Äußerungen schlug sich dies jedoch nicht nieder.
E. Theologie Wilhelms II. I. Summus episcopus und kaiserlicher Prediger 1909 erschien in zweiter Auflage das von dem evangelischen Pastor Carl Werckshagen herausgegebene Buch Der Protestantismus in seiner Gesamtgeschichte bis zur Gegenwart in Wort und Bild. Den Schlußaufsatz über den Protestantismus unter Kaiser Wilhelm II. schrieb Reinhold Seeberg, der seit 1898 Professor für Systematische Theologie an der Berliner Universität war. Seeberg vertrat theologisch einen „modern-positiven“ Standpunkt mit dem Ziel, eine Synthese aus christlicher Überlieferung und modernem Denken herzustellen.1 Damit meinte er nicht, daß das evangelische Bekenntnis geändert werden müsse, sondern es ging ihm um neue „Weisen, alte Wahrheit zu lehren“2: „Wir glauben dem Worte Gottes, aber die geschichtliche Erkenntnis hat uns die alte Theorie von der Wörterinspiration zerbrochen, wir brauchen eine neue Theorie. Wir glauben an die Offenbarung des dreifaltigen Gottes und an den Gottmenschen Christus, aber die alten Formeln von Natur und Person sind uns fremdartig geworden, weil wir eine andere Psychologie und Metaphysik als die Alten gewonnen haben. Wir glauben, daß wir durch Christi Tod und Auferstehung vor Gott gerecht und eine neue Kreatur werden, aber die alte Satisfaktionstheorie Anselms begreifen wir nicht mehr, weil für uns die ‚Satisfaktion‘ nicht mehr ein deutlicher Begriff des täglichen Lebens ist, wie damals; wir fragen nach einer neuen die Sache selbst uns näherbringenden Formel. Daß der Glaube Leben und daher auch Werke bringt, bekennen auch wir und verwahren uns fest gegen alle Selbstgerechtigkeit der Werke, aber die Frage drängt sich immer wieder auf, wie unserem realistischen Geschlecht dieser Glaube nicht nur den Trost, sondern auch die Kraft bringe.“3 In dem Aufsatz entwarf Seeberg ein Gesamtbild des gegenwärtigen Protestantismus. Dabei würdigte er in besonderer Weise die Leistungen Wil1 Zu Seeberg vgl. Poch, vor alle, S. 9–12; zur modern-positiven Schule vgl. Lessing, Religionsgeschichte und modern-positive Theologie, S. 386–387 und S. 400–401. 2 Seeberg, Der Protestantismus unter Kaiser Wilhelm II., S. 1204. Dieses Schlagwort gehört zu den zentralen Motiven der Erlanger Schultradition und stammt von Seebergs Lehrer Johann Christian Konrad von Hofmann: vgl. dazu Slenczka, Der Glaube und sein Grund, S. 15–31. 3 Seeberg, Der Protestantismus unter Kaiser Wilhelm II., S. 1204.
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helms II. bei der Pflege evangelischer Religiosität, die der Kaiser durch öffentliche Glaubensbekenntnisse, Kirchenbau, christlich motivierte Sozialpolitik, eine Gottesdienstreform und ein neues Pfarrbesoldungsgesetz gestärkt habe.4 Den Kern kaiserlicher Kirchenpolitik erkannte Seeberg in dem Streben Wilhelms II. nach einer Stärkung eines „ökumenische[n] protestantische[n] Bewußtsein[s]“.5 All diese Initiativen des Kaisers könnten dabei helfen, dem „Scheinchristentum“ der Ober- und dem praktischen Materialismus der Unterschicht ein modernes, im praktischen Leben verankertes evangelisches Christentum entgegenzusetzen.6 Seeberg hatte damit Wilhelms kirchenpolitische Bemühungen in der Bandbreite seiner kirchenrechtlichen Befugnisse treffend gekennzeichnet. Wilhelm II. war als preußischer König zugleich Summus episcopus, also „oberster Bischof“ der Evangelischen Landeskirche der älteren Provinzen Preußens. Dieses Amt war Teil des landesherrlichen Kirchenregiments, das traditionell als „das Recht und die Pflicht christlicher Obrigkeit [galt], nicht bloß für Rechts- und Friedensschutz, sondern auch für die geistliche Wohlfahrt der Untertanen zu sorgen, natürlich in enger Verbindung mit kirchlichen Organen, eben vermittelst der vom Landesherrn zu berufenen Bischöfe.“7 Der Summepiskopat ermöglichte es dem Landesherrn, mindestens die äußeren Angelegenheiten seiner Landeskirche zu ordnen, durch Gottesdienstordnungen, Agenden und Gesangbücher. Das galt auch dann noch, als 1850 durch Artikel 15 der preußischen Verfassung die Staatskirche im strengen Sinn aufgehoben wurde. Statt des Kultusministeriums verwaltete die Kirche sich nun selbst durch den Evangelischen Oberkirchenrat (EOK). Der König allerdings ernannte die Mitglieder und den Präsidenten des EOK und setzte die landeskirchlichen Gesetze in Kraft. Und da der König in der Regel seine kirchenpolitischen Entscheidungen in Absprache mit dem jeweiligen Kultusminister traf, blieb auch hier faktisch ein staatlicher Einfluß bestehen.8 Ein deutlicher Schritt in Richtung kirchliche Unabhängigkeit vom Staat wurde durch die Kirchengemeinde- und Synodalordnung von 1873 und die Generalsynodalordnung von 1876 vollzogen. Die Generalsynode wirkte bei der Gesetzgebung mit und war damit als Legislativorgan eine Art Kirchenparlament. Die Generalsynode setzte sich zusammen aus den Mitgliedern 4
Vgl. Seeberg, Der Protestantismus unter Kaiser Wilhelm II., S. 1193–1197. Seeberg, Der Protestantismus unter Kaiser Wilhelm II., S. 1199. 6 Seeberg, Der Protestantismus unter Kaiser Wilhelm II., S. 1196. 7 Hintze, Epochen, S. 57. 8 Huber/Huber, Staat und Kirche II., Nr. 10–12, S. 34–39. Vgl. dazu auch Besier, Preußische Kirchenpolitik, S. 34–35. Vgl. zu diesem Absatz zudem Goeters, S. 21–24. Vgl. auch Wallmann, S. 206–209. 5
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der Provinzialsynode, den Generalsuperintendenten als Vertretern der Konsistorien, den Mitgliedern der theologischen Fakultäten sowie dreißig direkt vom König ernannten Mitgliedern. Sowohl der EOK als Kirchenregierung als auch die Generalsynode als Kirchenparlament waren damit organisatorisch vom Staat getrennt; in beiden Fällen übte der König und Summus episcopus durch seine Berufungsbefugnis aber erheblichen personalpolitischen Einfluß aus.9 Dieses Amt kam Wilhelm II. in seiner Funktion als Preußischem König zu, war also unmittelbar nur für innerpreußische Belange von Bedeutung. Schon eine gewisse strukturelle Parallele zu seinem Amt als Deutscher Kaiser ist aber nicht von der Hand zu weisen: So wie Wilhelm II. in der Reichspolitik ein „persönliches Regiment“ für sich beanspruchte, so nahm er auch seine staatskirchenrechtliche Position und die damit verbundenen Befugnisse ernst.10 Die Parallele ging tatsächlich so weit, daß Wilhelm II. wie in der Innenpolitik des Reiches, so auch in der evangelischen Kirche auf das eigene Amt als „Integrationsfaktor“11 setzte. Man sieht das an der Direktive, die Wilhelm II. 1891 an den ersten neuen EOK-Präsidenten unter seiner Amtszeit, Friedrich Wilhelm Barkhausen, ausgab und in der der Preußische König sein kirchenpolitisches Programm ausbreitete: „1. Es sei notwendig der Stagnation ein Ende zu machen, welche leider in der Leitung der evangelischen Kirche der älteren Landestheile eingetreten sei, und welche für die Entwicklung der kirchlichen Verhältnisse Deutschlands in so fern verhängnisvoll geworden sei, als sie dazu mitgewirkt habe, die lebensvolle Entfaltung und die richtige Verwendung der in der evangelischen Kirche vorhandenen Kräfte zu behindern. Um in dieser Hinsicht Wandel zu schaffen, müsse der Präsident des Evangelischen Ober-Kirchen-Raths seine ganze Kraft einsetzen, um dem unseligen Parteigetriebe in der Kirche ein Ende zu machen und alle zur Mitarbeit bereiten Kräfte ohne Ansehen ihres konfessionellen oder kirchenpolitischen Parteistandpunkts dazu heranzuziehen. 2. Se. Majestät müssen den größten Werth darauf legen, daß AllerhöchstIhre Prärogative als höchsten Landesbischofs in keinem Punkte eine Schmälerung erfahren und daß alle darauf abzielenden Angriffe, von wem sie auch kommen mögen, bestimmt zurückgewiesen werden. Es sei Allerhöchst Ihre Überzeugung, daß nur durch volle Aufrechterhaltung dieser höchstbischöflichen Stellung die evangelische Kirche das Ansehen sich erhalten könne, dessen sie bedürfen, um auf ihren 9 Huber/Huber, Staat und Kirche II, Nr. 443–451, S. 929–957. Vgl. zu diesem Absatz auch Goeters, S. 23–28; vgl. dazu auch Hintze, Epochen, S. 94–96.; vgl. auch Besier, Preußischer Staat, S. 10–11; vgl. auch Wallmann, S. 209–210; vgl. auch Schoen, S. 89–93. 10 Auf diese Parallele hat Klaus Erich Pollmann aufmerksam gemacht: vgl. Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage, S. 22–26. 11 Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage, S. 25.
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verschiedenen Lebensgebieten mit Erfolg wirken zu können. Nur dadurch vermöge insbesondere 3. die Thätigkeit, welche der Kirche bei der Bekämpfung der sozialen Umsturzbewegungen zufalle, mit dem erforderlichen Nachdruck geübt zu werden. 4. Nicht minder könne nur eine so getragene und sich als lebensfrisch und glaubensstark erweisende Kirche die Anziehungskraft üben, welche erforderlich sei, um die organische Angliederung der Kirchenkörper der neuen Provinzen an die altpreußische Landeskirche auf dem allein gangbaren Wege des freiwilligen Anschlusses zu ermöglichen. Auf die Beseitigung der Schwierigkeiten, welche diesem Zusammenschlusse entgegenstehen, sei aber das größte Gewicht zu legen. Nur durch Vereinigung aller Kräfte könne die evangelische Kirche diejenige Macht wiedergewinnen, welche sie befähigen werde, ihre Stellung der römischkatholischen Kirche gegenüber zu behaupten und den Kampf mit den finsteren Mächten des Unglaubens und Umsturzes erfolgreich zu führen. Daß dieses Ziel nicht mühelos erreicht werden könne, dürfe nicht abschrecken, es stets im Auge zu behalten und jedenfalls sei daher Alles zu vermeiden, was dem Gedanken Nahrung geben könnte, als sei es bei der Vereinigung auf Änderung des Bekenntnißstandes der einzelnen Kirchenkörper abgesehen.“12
Die Direktive hielt die Kernanliegen Wilhelms II. fest: Unter Punkt 1 wurde ein Ende des Parteienstreits innerhalb der evangelische Kirche gefordert und Anweisung geben, alle Parteien, so sie zur Mitarbeit bereit seien, zu integrieren. Die rhetorische Unterscheidung zwischen „Parteien“ und „Kräften“ zielte dabei darauf ab, in allen kirchlichen Parteien diejenigen zu fördern, die zur Mitarbeit an Wilhelms kirchenpolitischem Programm bereit seien.13 Punkt 2 legte für diese Mitarbeit die conditio sine qua non fest: Der Summepiskopat mußte unbedingt aufrechterhalten werden. Nur dann sei eine wirksame kirchliche Arbeit gewährleistet, die befähige, in der sozialen Frage staatserhaltend zu wirken (Punkt 3) und vor allem die notwendige innere Einheit zu wahren. Auf Grundlage dieser Einheit könne eine Einigung der evangelischen Landeskirchen Preußens durch freiwilligen Zusammenschluß möglich werden (Punkt 4). Gemeint war damit die preußische Kirchenunion, die durch einen Anschluß der Kirchen der seit 1866 zu Preußen hinzugekommenen neueren Provinzen an die bereits unierte Kirche der älteren Provinzen angestrebt wurde. Der dann folgende Satz ging aber in der Allgemeinheit der Formulierung noch über diese auf Preußen beschränkte Perspektive hinaus und nahm eine „Vereinigung aller Kräfte“ in der evangelischen Kirche in den Blick. Nur eine solche Einigung nämlich 12
Notatum des Präsidenten des Evangelischen Oberkirchenrats Barkhausen vom 25.2.1891: Huber/Huber, Staat und Kirche III, Nr. 220, S. 544. 13 Die wichtigsten kirchlichen Parteien waren der „Protestantenverein“, die konfessionellen Lutheraner, die „Landeskirchliche evangelische Vereinigung“, die „Freunde der Positiven Union“ und die „Freunde der Christlichen Welt“: vgl. Huber/Huber, Staat und Kirche III, S. 543.
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könne eine erfolgreiche Behauptung des eigenen Standpunkts gegen Katholizismus und Unglauben sicherstellen. Damit hatte Wilhelm II. natürlich keine konkrete gesamtdeutsche Kirchenpolitik entworfen, aber doch angedeutet, daß die angestrebte Vereinigung aller preußischen Landeskirchen auch dem Zweck einer noch größeren Einheit dienen sollte. Die drei wesentlichen kirchenpolitischen Ziele Wilhelms II. waren also: innere Einigung der eigenen Landeskirche, Festigung der eigenen Position als Summus episcopus und als Folge von beidem eine äußere Einigung zumindest des gesamten preußischen Protestantismus. Was die innere Einigung der preußischen Landeskirche betrifft, so verfolgte der Kaiser kirchenpolitisch einen mittelparteilichen Kurs. „Mittelpartei“ nannte man die „Landeskirchliche evangelische Vereinigung“, die gegen die lutherischen und reformierten Konfessionalisten an der Kirchenunion festhielt und die zwischen den Parteigegensätzen der Konservativen, der Liberalen und der Linken vermitteln wollte.14 Aus der Direktive an Barkhausen geht allerdings hervor, daß es Wilhelm II. in der Unionsfrage – wenn auch dort nicht auf die Kirchenunion der älteren Provinzen, sondern nur auf den erstrebten Anschluß der neueren bezogen – nicht darum ging, offensiv eine Bekenntnisgemeinschaft zwischen den protestantischen Konfessionen herzustellen, sondern die konfessionellen Differenzen möglichst unangetastet zu lassen. Die Vermittlung zwischen den Parteigegensätzen innerhalb der bestehenden Union versuchte Wilhelm II. dann vor allem dadurch zu erreichen, daß er sich bei der Besetzung derjenigen Generalsynodalmitglieder, die er persönlich berufen durfte, an die Kirchenbehörden mit der Bitte um Vorschläge wandte: Die Kandidaten müßten „eine vollkommen einwandfreie Stellung“ zur Frage des landesherrlichen Kirchenregiments haben; ansonsten sollten die größeren Kirchenparteien bei der Besetzung so berücksichtigt werden, daß sie insgesamt in der Synode etwa gleich stark vertreten seien.15 Mit diesem um Ausgleich bemühten, an der Wahrung der Kirchenunion zwischen Lutheranern und Reformierten orientierten Kurs knüpfte der Kaiser an die preußische Tradition einer „begrenzten Religionstoleranz“16 an. Dieser Begriff bezeichnet die seit dem 17. Jahrhundert zu beobachtende, auf den innerprotestantischen konfessionellen Frieden gerichtete hohenzollernsche Kirchenpolitik. Sie hing wesentlich damit zusammen, daß die Bevölkerungsmehrheit Preußens zwar lutherisch, das Haus Hohenzollern 14 Vgl. Huber/Huber, Staat und Kirche III, S. 543; vgl. Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage, S. 20–21; vgl. Pollmann, Wilhelm II. und der Protestantismus, S. 96–97. 15 Notatum Barkhausens vom 15.8.1891 (Akten des EOK – Gen. III, 28,3), in: Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage, S. 46. 16 Kraus, Staat und Kirche in Brandenburg-Preußen, S. 84.
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seit der Konversion des Kurfürsten Johann Sigismund 1613 aber reformiert war.17 Weil die vom Kurfürsten angestrebte „zweite Reformation“18 der Brandenburger zum Calvinismus ohne Erfolg blieb, strebten seine Nachfolger seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine Annäherung der beiden evangelischen Konfessionen an.19 1817 proklamierte der preußische König Friedrich Wilhelm III. die Union der lutherischen und der reformierten Kirche Preußens mit dem Ziel einer Kirchen- und Gottesdienstgemeinschaft.20 Die Einheitsbestrebungen, insbesondere die Umstrittenheit der Frage, ob die unterschiedlichen Bekenntnisse gewahrt bleiben oder ein einheitliches Bekenntnis oktroyiert werden würde, lösten allerdings umgekehrt auch eine konfessionalistische Erneuerung aus und blieben im ganzen 19. Jahrhundert umstritten.21 Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung des innerkirchlichen Parteienstreits und der Tradition der von oben dirigierten Kircheneinheit ist die Direktive Wilhelms II. zu verstehen, um der Einheit willen unbedingt das Prinzip des landesherrlichen Kirchenregiments beizubehalten und die verbliebenen Rechte des Summus episcopus nicht anzutasten. Die Behauptung seiner Stellung durch Personalpolitik und Direktiven ermöglichte es dem Kaiser auch, sich auf die von ihm angestrebte Repräsentations- und Integrationsfunktion zu beschränken und direktere Eingriffe in kirchliche Belange weitgehend zu unterlassen – was nach der Gründung des EOK juristisch auch kaum anders möglich gewesen wäre.22 Mit dem Verzicht auf Einmischungen verzichtete Wilhelm II. allerdings auch darauf, konkret auf die anvisierte organisatorische Einheit der evangelischen Kirchen Preußens 17
Vgl. dazu Kraus, Staat und Kirche in Brandenburg-Preußen, S. 47–76 und Clark, Preußen, S. 144–177. 18 Clark, Preußen, S. 145. 19 Vgl. Kraus, Staat und Kirche in Brandenburg-Preußen, S. 76–81. 20 Vgl. Clark, Preußen, S. 477–478. Vgl. dazu auch Besier, Preußische Kirchenpolitik, S. 16–19. 21 Vgl. Clark, Preußen, S. 479–487. Man erkennt dies gut am Beispiel Schleiermachers, für den die Kirchenunion wie die Frage nach den kirchenrechtlichen Befugnissen des Landesherrn von zentraler Relevanz waren. Bereits 1804 erschienen von ihm „Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat“, in deren erstem Gutachten er die Idee einer Kirchenunion unterstützte. Auch im preußischen Agendenstreit meldete er sich – wieder anonym – 1824 zu Wort um seine Bedenken „Ueber das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten“ zu äußern: vgl. Schleiermacher, Zwei unvorgreifliche Gutachten; vgl. Schleiermacher, Ueber das liturgische Recht. Gerhard Besier hat in bezug auf die Unionsdebatte zwischen denjenigen, die wie Schleiermacher eine bloße „Kultusunion“ wünschten, und denjenigen, die mit Friedrich Wilhelm III. eine „Konsensunion“ anstrebten, unterschieden: Besier, Preußische Kirchenpolitik, S. 13–25. 22 Vgl. Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage, S. 25–26.
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oder gar Deutschlands hinzuwirken. In der Direktive an Barkhausen von 1891 hatte er selbst darauf hingewiesen, daß ein Anschluß der Landeskirchen der neueren preußischen Provinzen an die Preußische Union nur auf freiwilliger Basis erfolgen könne, und diesem Grundsatz blieb er treu. Zwar nutzte er die sich bietenden Gelegenheiten, um den gemeinsamen geistigen Boden aller evangelischen Bekenntnisse zu betonen und auch um sich selbst als geistigen Führer der evangelischen Christenheit in Szene zu setzen, aber er übte keinerlei Druck im Hinblick auf die Bildung einer organisatorischen Einheit aus. Seine – spärlichen – öffentlichen Stellungnahmen zu Regierungszeiten in dieser Frage sowie seine aus der Rückschau im Exil geschriebenen Memoiren betonen, daß er sehr wohl eine gesamtdeutsche evangelische Einigung für wünschenswert gehalten, sich aber aus Rücksicht auf die Eigenständigkeit der anderen Landeskirchen immer zurückgehalten habe.23 Ob noch andere Motive bei dieser Zurückhaltung eine Rolle spielten – eine betont „preußische“ Perspektive etwa oder die besondere Achtung des landesherrlichen Kirchenregiments der anderen deutschen Monarchen –, ist nicht zu ermitteln. Der Hinweis auf die Eigenständigkeit der Anderen spräche immerhin für letzteres. Was die Frage einer gesamtdeutschen evangelischen Einigung betrifft, so setzte Wilhelm II. während seiner Regierungszeit drei öffentlichkeitswirksame Zeichen, die in diese Richtung gingen. Die erste Gelegenheit war die Einweihung der seit dem Lutherjahr 1883 restaurierten Wittenberger Schloßkirche.24 Wilhelm hatte einige Änderungen am Restaurierungskonzept vorgenommen, darunter den Bau eines Gestühls für die evangelischen Fürsten. Als Einweihungstermin legte er den 31. Oktober 1892 fest und lud dazu alle deutschen evangelischen Fürsten sowie Vertreter der evangelischen Kirchen ein. Er verfaßte eine Urkunde, die bei der Feier verlesen und von allen evangelischen Fürsten unterzeichnet wurde. Darin hieß es: „Mit Mir haben die Mir verbündeten evangelischen Fürsten Deutschlands und die Vertreter der freien Hansestädte Lübeck, Bremen und Hamburg, welche neben Mir diese Urkunde mit eigenhändiger Namensunterschrift vollziehen, sowie zahlreiche Vertreter der evangelisch kirchlichen Staatsbehörden, des Adels, der evangelischen Geistlichkeit und aller Stände des evangelischen Volkes der feierlichen Handlung beigewohnt. In evangelischer Glaubensgemeinschaft haben Wir den Allmächtigen, gnadenreichen Gott in heißem Gebete angerufen, Unserem evangelischen Volke die Segnungen der Reformation zu bewahren, Gottesfurcht, Nächstenliebe und Untertha23 Vgl. Der Zusammenschluß der deutschen evangelischen Landeskirchen, 26.12.1901: Penzler III, S. 63–66; vgl. Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten, S. 179. Ausführlich dazu weiter unten in diesem Kapitel. 24 Vgl. zur Einweihung der Wittenberger Schloßkirche die Darstellung bei Krüger, Sakralitätsverständnis, S. 240–243.
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nentreue in Unsern Landen zu mehren, Unser deutsches Vaterland in seiner gnädigen Obhut zu behalten, redliches Streben und Schaffen in allen Berufszweigen mit Seinem Segen zu krönen, Uns und allen Unseren Mitchristen durch Jesum Christum ein seliges Ende in der Gewißheit einer fröhlichen Auferstehung zu bescheren.“25
Diese Demonstration der Einigkeit des evangelischen Deutschlands verzichtete tatsächlich auf jeglichen Druck auf die anderen Kirchenvertreter und nannte eine organisatorische Einigung des deutschen Protestantismus weder explizit noch implizit als zu erstrebendes Ziel, sondern betonte nur die geistigen Gemeinsamkeiten auf der Basis der evangelischen Glaubensgemeinschaft. In geographischer Hinsicht überboten wurde dieses Bekenntnis evangelischer Einigkeit durch die Einweihung der Erlöserkirche in Jerusalem 1898. Hier waren nicht nur die Vertreter des deutschen Protestantismus, sondern auch Delegierte aus den wichtigsten anderen evangelischen Ländern der Einladung des Kaisers gefolgt. Wilhelm II. nutze seine Rede im Anschluß an die Einweihungsfeier, um die Einigkeit der evangelischen Christenheit, ja der Christenheit insgesamt zu demonstrieren.26 Das dritte Zeichen für die Einheit des Protestantismus – unter seiner kaiserlichen Führung – setzte Wilhelm II. mit der Einweihung des Berliner Doms 1905. Der Anteil des Kaisers an der architektonischen Endgestalt des Doms ist umstritten, da Wilhelm im wesentlichen auf einen Entwurf zurückgriff, den sein Vater favorisiert hatte.27 Auch fehlt eine öffentliche Rede wie in Wittenberg und Jerusalem, in der der Kaiser die Domeinweihung kirchenpolitisch eingeordnet hätte. Das besorgten aber andere offiziöse Veröffentlichungen wie Paul Seidels Der Kaiser und die Kunst, in der mit dem Hinweis auf die äußerliche Ähnlichkeit des Berliner Doms mit der Peterskirche in Rom der Dom als „Zentralkirche für den gesamten deutschen Protestantismus“28 bezeichnet wurde. Zur Einweihungsfeier im Februar 1905 wurden wieder die evangelischen Fürsten sowie Vertreter evangelischer Auslandskirchen eingeladen.29 Oberhofprediger Ernst von Dryan25 Urkunde über die Einweihung der erneuerten Schloßkirche zu Wittenberg, 31.10.1892, faksimiliert in Seeberg, Der Protestantismus unter Kaiser Wilhelm II., S. 1198. Abgedruckt in Huber/Huber, Staat und Kirche III, Nr. 296, S. 676. 26 Ausführlich dazu: Kapitel D. V. 27 Zur Vorgeschichte des Dombaus unter Wilhelm II. vgl. Schümann, S. 245–354. John Röhl hält den Berliner Dom für den „allerhöchsten Lieblingswunsch“ und die „architektonische Schöpfung Wilhelms II.“ (Röhl, Aufbau, S. 998), während Eberhard Straub meint, Wilhelm habe nicht gewagt, den elterlichen Entwurf fallenzulassen und habe nur dessen gröbste Ungeschicklichkeiten korrigiert; Wilhelms eigener architektonischer Geschmack komme in der neoromanischen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche viel deutlicher zum Ausdruck (Straub, S. 211). 28 Seidel, Der Kaiser und die Kunst, S. 94. 29 Vgl. Schümann, S. 254; vgl. Schneider, Geschichte des Berliner Doms, S. 69.
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der hielt eine Weiherede, die den Dombau ausdrücklich in den Kontext der Kircheneinweihungen von Wittenberg und Jerusalem stellte: „Zum dritten Male stehen wir mit unserem Kaiserlichen Herrn in einer Kirche, deren Bedeutung weit über die Stätte hinausweist, an der sie erbaut ist. Als Erben der Reformation haben wir in der erneuten Schloßkirche zu Wittenberg an den Gräbern der Reformatoren gelobt, die heiligen Güter des Glaubens treu zu bewahren, die jene errangen. Mit heißer Inbrunst haben wir, aus allen evangelischen Kirchen der Welt an jenen Trümmerstätten versammelt, auf denen selbst die Steine vom Sohne Gottes zeugten, uns zu ihm bekannt und in der Erlöserkirche zu Jerusalem gelobt, mit Taten der Liebe evangelischen Glauben zu verkünden und zu bewähren. Heute ist wiederum eine evangelische Welt hier versammelt, Fürsten und Volk als Kinder einer Reformation, entschlossen, über die trennenden Unterschiede in Bekenntnis und Geschichte, in Kultus und Sitte hinüber einander die Hand zu reichen, in Gewißheit eines Glaubensgrundes, der tiefer liegt, als alle jene Unterschiede.“30 Wilhelm II. beließ es bei solchen Demonstrationen evangelischer Einigkeit unter kaiserlicher Führung; konkrete organisatorische Maßnahmen ergriff er nicht. Eine Erklärungsmöglichkeit dafür wäre, daß er das auch gar nicht wollte, sondern in seinen kirchenpolitischen und kirchenrechtlichen Zielen immer auf Preußen beschränkt blieb. Das hätte nicht nur der föderalen Struktur der evangelischen Kirchen in Deutschland entsprochen, sondern auch der föderalen Struktur des Deutschen Reiches, die von Wilhelm II. ja auch nicht angetastet wurde. Im Gegensatz zum Reich fehlte der Kirche allerdings ein organisatorisches Dach, das – ohne zentralistisch zu sein – doch eine Einheit der Glieder verbürgte. Daß Wilhelm II. in bezug auf die Kirche anscheinend nichts in diese Richtung unternahm, ist vor diesem Hintergrund zumindest erstaunlich. Das fiel auch dem Regenten des Herzogtums Sachsen-Coburg-Gotha, Ernst II. zu Hohenlohe-Langenburg, auf. Bei der Feier zum 300. Geburtstag Herzog Ernst des Frommen am 26. Dezember 1901, bei der auch Wilhelm II. anwesend war, hielt der Erbprinz eine später amtlich veröffentlichte Rede, in der er die Kirchenpolitik Ernsts des Frommen als vorbildhaft darstellte.31 Dieser habe „einen Bund aller evangelischen Kirchen [angestrebt], der sie nach außen hin zu einer starken Einheit gestalte, während im Inneren mit Bezug auf Lehre, kirchliche Gebräuche und Einrichtungen jedem einzelnen 30
Programm der Einweihung des Berliner Doms, 27.2.1905. Weiherede des Oberhofpredigers D. Dryander: GStA, BPH Rep. 53 QII Nr. 1, Bl. 13–16. 31 Der Zusammenschluß der deutschen evangelischen Landeskirchen, 26.12.1901: Penzler III, S. 63–66.
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Gliede volle Freiheit gewahrt blieb.“32 Zwar seien die Bemühungen des Herzogs gescheitert, doch die nun erreichte politische Einigung Deutschlands biete günstige Umstände: „Mir ist, als ertönte heute über die Jahrhunderte hinweg die zur Einigung mahnende Stimme Ernsts des Frommen an seine deutschen Glaubensgenossen.“33 Der Kaiser fühlte sich durch diese Ansprache herausgefordert und antwortete unmittelbar: „Die Anregung, die du Uns heute gegeben hast, entspricht Gedanken, die auch Mich schon lange bewegen. Wenn Ich nicht damit hervorgetreten bin, so liegt der Grund nur darin, daß Ich fern davon bin, auch nur in Wünschen und Hoffnungen der Selbständigkeit anderer zu nahe zu treten. Daß aber ein hohes Ziel Meines Lebens eine Einigung der evangelischen Kirchen Deutschlands in den von dir gedachten Grenzen wäre, brauche ich nicht zu betonen.“34
Warum Wilhelm II. bei der Frage der Einigung des deutschen Protestantismus solche Zurückhaltung übte und die Selbständigkeit der anderen Akteure betonte, bleibt aber nicht eindeutig ermittelbar. Bei seiner nationalen Einheitspolitik – nicht in einem zentralistischen Sinne, aber doch mit der Absicht, nationale Einheit zu schaffen – legte er sich keinerlei Selbstbeschränkung auf, wie seine „Nörgler-“ und „Schwarzseherreden“ zeigen.35 Als möglicher Grund wurde bereits die Beschränkung der kirchenpolitischen Perspektive auf Preußen genannt. Zumindest was die kirchenrechtlichen Befugnisse im Vergleich zu den staatsrechtlichen betrifft, stimmt das auch. Schließlich war Wilhelm II. ja bereits Deutscher Kaiser und damit politisch für alle Deutschen zuständig; als Summus episcopus war seine Zuständigkeit dagegen auf die Glieder der preußischen Landeskirche beschränkt. Ein dem Kaiseramt vergleichbarer gesamtdeutscher Summepiskopat hätte erst geschaffen werden müssen, und dafür fehlte Wilhelm II. letztlich eine hinreichende Motivationsgrundlage. Natürlich wäre es für ihn ohne weiteres möglich gewesen, stärkere Anstrengungen hin zu einer organisatorischen Einigung des deutschen Protestantismus zu unternehmen. Sein Hinweis auf Selbständigkeit und Freiwilligkeit in religiösen und kirchlichen Fragen – möglicherweise auch in der Sache durchaus ernstgemeint – hing deshalb auch damit zusammen, daß die Achtung des landesherrlichen Kirchenregiments der anderen Bundesfürsten ein Bestandteil der reichspolitisch notwendigen Achtung der Fürstensouveränität war. Das wiederum bedeutete, daß bei einem kirchenpolitischen Einigungsversuch die Risiken extrem hoch und die Erfolgsaussichten extrem gering gewesen wären. Die Kontrolle über die preußische Kirche war demgegenüber eine sichere Sache, die im Zuge einer Zentralisierung gefährdet gewesen wäre. 32 33 34 35
Penzler III, S. 63. Penzler III, S. 64. Penzler III, S. 65–66. Vgl. Kapitel D. I.–D. II.
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Das gilt zumindest für den Fall, daß der Anstoß zu einer solchen Einigung von Preußen selbst gekommen wäre. Aus diesem Grund äußerte sich der Kaiser auch intern nie anders als so, daß man unbedingt auf Freiwilligkeit und Eigenständigkeit der anderen Landeskirchen Rücksicht zu nehmen habe: Ende 1899 wurde das Thema einer engeren Verbindung der evangelischen Landeskirchen Deutschlands diskutiert, nachdem ein von den deutschen Protestanten als beleidigend empfundenes päpstliches Sendschreiben Anlaß dazu gegeben hatte. Im März 1900 berichtete EOK-Präsident Barkhausen dem Kaiser darüber, der daraufhin erklärte, „daß an sich ein engerer Zusammenschluß der evangelischen Kirchenkörper Deutschlands nur mit Freude begrüßt werden könne. Von Preußischer Seite sei aber äußerste Zurückhaltung solchen Anträgen gegenüber geboten, jedenfalls sei Alles zu vermeiden, was als Drängen oder Locken aufgefaßt werden könne.“36
In der Rückschau verzichtete Wilhelm II. sogar darauf, auf den ersten Ansatz zu der von ihm erstrebten Kircheneinheit hinzuweisen, nämlich den 1903 gegründeten Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß, der die gesamte deutsche evangelische Kirche vertrat – allerdings nur im Ausland.37 Statt dessen schrieb er in seinen Memoiren, sein Ziel einer Einigung der evangelischen Kirchen habe nur in Preußen, nicht aber in Deutschland funktioniert: „Bei jeder Gelegenheit suchte ich Ausgleich, Annäherung und Zusammenschluß herbeizuführen. Allein es kam zu keinem positiven Ergebnis. [. . .] So hat trotz meinen Bemühungen die deutsche protestantische Kirche sich lange nicht zum Zusammenschluß und zu gemeinsamem Widerstand gegen die ihr feindlichen Kräfte zu entwickeln vermocht. Erst die Not, in die die Kirche durch den politischen Umsturz geraten ist, hat das zustande gebracht.“38
Außer den genannten Symbolgesten geistiger Einheit, der kurzen Rede beim 300. Geburtstag Ernsts des Frommen und der internen Äußerung gegenüber Barkhausen knapp zwei zuvor hatte Wilhelm II. aber faktisch auch gar keine entsprechenden „Bemühungen“ gezeigt. So entsteht insgesamt der Eindruck, daß Wilhelm II. sich bei der Ausübung seines Summepiskopats eine wesentlich größere Zurückhaltung auferlegte als angesichts seines politisch-theologischen Selbstverständnisses als 36 Notatum Barkhausens vom 21.3.100 (EZA [Evangelisches Zentralarchiv] 7/426, 26 R.), in: Sander, Der Deutsche Evangelische Kirchenausschuß, S. 360. 37 Immerhin erwähnte er die Eisenacher Kirchenkonferenz lobend, die die Gründung des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses betrieben hatte: Vgl. Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten S. 179. Zur Geschichte der Entstehung und auch zu der Rolle als auf öffentliche Zurückhaltung bedachter Förderer des Projekts, die Wilhelm II. dabei gespielt hat, vgl. Sander, Der Deutsche Evangelische Kirchenausschuß, vor allem S. 360–370. 38 Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten, S. 179.
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Herrscher zu erwarten gewesen wäre.39 Eine gewisse Ausnahme von dieser selbst gewählten Zurückhaltung ist die Predigttätigkeit des Kaisers. Wilhelm II. hatte die Angewohnheit, auf Reisen in privatem Rahmen im sonntäglichen Gottesdienst selbst die Predigt zu halten. Keiner seiner Vorgänger hatte ein Predigtrecht für sich in Anspruch genommen. Die Ableitung eines solchen Rechts aus dem Summepiskopat war auch umstritten, denn das Recht zur öffentlichen Predigt setzte eigentlich die Ordination und die Bekleidung einer konkreten Pfarrstelle voraus.40 Es ist deshalb von Bedeutung, daß Wilhelm II. bei näherer Betrachtung auch gar kein öffentliches Predigtamt ausübte. Zwar wurde eine Sammlung seiner Seepredigten, die er während seiner sommerlichen Nordlandfahrten hielt, veröffentlicht,41 und eine dieser Predigten wurde auch in die offiziöse Edition der Kaiserreden aufgenommen.42 Die Predigten selbst wurden aber nicht öffentlich gehalten, sondern nur im Kreis der Vertrauten. Zudem waren die veröffentlichten Seepredigten zum großen Teil nicht von Wilhelm selbst verfaßt worden, sondern von seinen Hofpredigern.43 Allerdings hielt der Kaiser auf seinen Nordlandfahrten auch dann die Predigten selbst, wenn sich Pfarrer wie etwa der Hofprediger Johannes Kessler unter den Gästen befanden. Laut Kesslers Lebenserinnerungen begründete Wilhelm das einerseits damit, daß der Berufsprediger Kessler sich auf einer Urlaubsreise befinde und sich daher erholen solle, andererseits damit, daß der Kaiser als oberster Schiffsoffizier an Bord eben auch Prediger sei. Kessler selbst deutete noch einen anderen Begründungszusammenhang an, wenn er schrieb, sich aufrichtig gefreut zu haben, „wie der Summus Episcopus den Gottesdienst abhielt.“44 39
Siehe zu diesem Selbstverständnis Kapitel D. Vgl. Hüffmeier, Gott, „die Große Hemmung“?, S. 43. 41 Richter, Die Stimme des Herrn. 42 Vgl. Penzler II, S. 212–219. Auch abgedruckt in: Obst, Die politischen Reden, Nr. 118, S. 209–213. Diese Predigt hielt Wilhelm II. am 29. Juli 1900, kurz nach seiner als „Hunnenrede“ berühmt gewordenen Ansprache an die nach Ostasien abgehenden Truppen in Bremerhaven. Die Predigt kreiste um das Thema der militärischen Ostasienmission aus theologischer Sicht. 43 Vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 239–243. Vgl. dazu auch Kessler, S. 131. Die Entstehungsgeschichte jeder einzelnen der insgesamt neun veröffentlichten Predigten ist nicht nachweisbar; in der Regel aber bestimmte der Kaiser den Predigttext und die grobe Richtung der Interpretation, ein Hofprediger arbeitete die Predigt aus, und Wilhelm nahm noch eventuelle Korrekturen vor. Entsprechend wurde auch bei sonstigen wichtigen Gottesdiensten wie demjenigen zum Kaisergeburtstag oder zu Neujahr verfahren. Eine Liste der Predigten, Predigttexte und Prediger befindet sich in: GStA, I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode, Nr. 268. Auf eine inhaltliche Analyse der Predigten des Kaisers wird an dieser Stelle verzichtet; zur Analyse der von Wilhelm II. selbst verfaßten Predigten – das sind insbesondere diejenigen Predigten, die er im Doorner Exil gehalten hat – vgl. Kapitel D. I. sowie H. III. 44 Kessler, S. 132. 40
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Ob die kaiserliche Predigttätigkeit deshalb, wie Kessler andeutet, doch dem Wirken Wilhelms als Summus Episcopus zuzuordnen ist, muß aber ebenso offen bleiben wie die Alternativinterpretation, nach der der Kaiser kein Predigtamt wahrnahm, sondern lediglich in der lutherischen Tradition als „Hausvater“ Gottesdienste leitete.45 Eine explizite Ableitung eines Predigtrechts aus dem landesherrlichen Kirchenregiment durch Wilhelm II. fehlt jedenfalls; nach Kessler leitete Wilhelm sein Predigtrecht eher aus seinem Gastgeberstatus und seiner „Funktion“ als Schiffsoffizier ab. Am wahrscheinlichsten ist, daß Wilhelm II. sich nicht groß um kirchenrechtliche Fragen kümmerte, wenn es um einen weitgehend privaten Rahmen wie die Nordlandfahrten ging. Daß die Wirkung der Predigten allerdings über diesen privaten Rahmen hinausging, erklärt die Tatsache, daß schon bei den Zeitgenossen offensichtlich Unklarheit über die Gründe für die kaiserliche Predigttätigkeit bestand.46 Vermutlich hat Kessler die Motivation des Kaisers, an Bord selbst die Predigten zu halten, richtig festgehalten, wenn er von der Aussage Wilhelms II. berichtet, er freue sich, „daß ich mich auch mal selbst predigen höre.“47 An dieser Stelle wird die schwer trennbare Verbindung der Person Wilhelms II. – der eben gerne predigen wollte, sofern dies in einem privaten Rahmen möglich war – mit seinem Amt deutlich – seinem politischen, durch das er erst die faktische Möglichkeit zu einer solchen Predigttätigkeit erhielt; seinem kirchenrechtlichen, das zumindest von der Öffentlichkeit mit dieser Predigttätigkeit in Verbindung gesetzt wurde. Wilhelm selbst wird sich darum allerdings nicht groß gekümmert haben. Vom Kaiser angeleitete Veröffentlichungen von Predigten oder anderen Ansprachen geistlichen Inhalts hatten aus seiner Sicht weniger mit seinen kirchenrechtlichen Befugnissen zu tun, sondern waren Ausdruck theologischer oder religionspolitischer Auffassungen.48 45
Vgl. Richter, Die Stimme des Herrn, S. 37 und Vorwort. Diese Interpretation schlägt Wilhelm Hüffmeier vor und wendet sich damit gegen Thomas Benner, der von einem öffentlichen Predigtrecht im Zuge des landesherrlichen Kirchenregiments gesprochen hatte. Vgl. Hüffmeier, Gott, „die Große Hemmung“?, S. 43–44; vgl. Benner, S. 108. Hüffmeier zählt zu den kaiserlichen Predigten noch eine Rede, die Wilhelm II. im Anschluß an einen Feldgottesdienst in Posen 1915 gehalten hatte, und eine Ansprache Wilhelms an seine Söhne bei deren Konfirmationsfeier: vgl. Hüffmeier, Gott, „die Große Hemmung“?, S. 45–46. Beides waren aber keine Predigten im eigentlichen Sinne, so wenig wie die Ansprache des Kaisers bei der Einweihung der Jerusalemer Erlöserkirche 1898, die ausdrücklich im Anschluß an den Gottesdienst gehalten wurde. 46 Das gilt auch für die Nordlandfahrten insgesamt, die sowohl eine realpolitische Dimension hatten als auch eine wichtige Rolle für die politische Mythologie des Kaisers spielten. Vgl. dazu Kapitel F. III. 47 Kessler, S. 131. 48 Zur Religionspolitik des Kaisers vgl. Kapitel D. V. Zur Ansprache des Kaisers an seine Söhne vgl. Kapitel E. IV.
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II. Harnack und der Apostolikumstreit Der von Wilhelm eingeschlagene mittelparteiliche Kurs in der Kirchenpolitik überraschte all diejenigen, die aufgrund der Walderseeversammlung von 1887 davon ausgegangen waren, daß Wilhelm der kirchlichen Rechten zugehöre.49 Das erste Zeichen gegen eine solche Erwartung setzte der Kaiser allerdings schon kurz nach seiner Thronbesteigung mit der Berufung Adolf Harnacks auf den Berliner Lehrstuhl für Kirchengeschichte. Die Berufung hatte sich lange hingezogen, da der Evangelische Oberkirchenrat Bedenken gegen Lehre und Bekenntnis Harnacks geäußert und gegen die Berufung Einspruch eingelegt hatte. Der Gegensatz, der hier aufbrach, hatte mit grundsätzlichen Spannungen zwischen evangelischer Kirchenbehörde und evangelischer Fachtheologie zu tun. Die Kirchenbehörden mochten kirchenpolitisch in Teilen mittelparteilich orientiert sein, theologisch waren sie mehrheitlich orthodox, oder wie es im damaligen Sprachgebrauch hieß, „positiv“ . Harnack dagegen wurde von ihnen als „Liberaler“ wahrgenommen, der biblische Wahrheiten und kirchliche Lehre in Frage stelle. Dieser Gegensatz zwischen einem modernen theologischen Liberalismus auf der einen und einer theologischen Neuorthodoxie auf der anderen Seite galt auch aus Sicht der Kontrahenten selbst als die „Grundpolarität“ der evangelischen Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts.50 Beide Positionen waren Reaktionen auf das angebrochene „Zeitalter der schwindenden gesellschaftlichen Relevanz des Christentums und der abnehmenden wissenschaftlichen Akzeptanz seiner Theologie“51. Während von konservativer Seite tendenziell versucht wurde, dem durch Orientierung an Institution, Schrift und Bekenntnis zu begegnen, interpretierte die liberale Theologie Religion als „subjektive[n], authentische[n] und freie[n] Selbstvollzug“52. Lehre und Bekenntnis wurden demgemäß als bloßer Ausdruck dieses freien Selbstvollzugs verstanden; die historisch-kritische Infragestellung christlicher Traditionsbestände war deshalb wenig problematisch oder wurde explizit begrüßt.53 49 Zur Bedeutung der Walderseeversammlung und zum Einfluß Stoeckers auf Wilhelm II. vgl. Kapitel C. III. 50 Vgl. Schwarz, Zur Geschichte, S. 3–92. Carl Heinrich Wilhelm Schwarz war evangelischer Theologe und zählte sich selbst zum „modernen“, freisinnigen Lager. Er war an der Gründung des liberalen Deutschen Protestantenvereins beteiligt und schrieb seine Geschichte der neueren Theologie bereits 1854, also ohne die Entwicklung seit der Reichsgründung berücksichtigen zu können. 51 Slenczka, Die Theologische Fakultät, S. 53. 52 Slenczka, Die Theologische Fakultät, S. 53. 53 Vgl. Slenczka, Die Theologische Fakultät, S. 53–54. Es sei hier ausdrücklich zugegeben, daß solche Dichotomien immer etwas holzschnittartig sind und die Fülle der verschiedenen Positionen kaum angemessen abbilden können. Dennoch trägt die
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In zeitgenössischen Überblicksdarstellungen der jüngsten Theologiegeschichte herrschte außerdem in dem Punkt Einigkeit, daß es zwischen liberaler und konservativer Theologie noch einen weiteren eigenständigen Ansatz gebe, den man „Vermittlungstheologie“ nannte.54 Aufschlußreicher als diese Klassifizierungen sind aber die inhaltlichen Beurteilungen der klassifizierten Theologien durch zeitgenössische Theologiegeschichten. Der „liberale“ Theologe Carl Schwarz war der Meinung, die Orthodoxie sei an der Realität der Gemeinden gescheitert, die keine altkirchliche Restauration wünschten, und auch die Vermittlungstheologen seien, wiewohl wissenschaftlicher und gebildeter, mit ihrem Doktrinarismus weit vom Volksempfinden entfernt. Nötig für die Zukunft sei vielmehr eine freie Theologie, die das äußere Lehrgebäude der alten Kirche abreiße, dessen gegenständliche Aussagen ins Sittliche übersetze und eine Verinnerlichung der Religiosität herbeiführe.55 Der Kopf der modern-konservativen „Erlanger Schule“56, Unterteilung in theologisch konservative und theologisch liberale Positionen in diesem Zusammenhang etwas aus, da sie zeitgenössisch außerordentlich verbreitet und, wie im Falle der Berufung Harnacks deutlich, auch kirchen- bzw. -theologiepolitisch bedeutsam war. Zur Geschichte der evangelischen Theologie im 19. Jahrhundert, jedenfalls bis zur Reichsgründung, siehe vor allem Hirsch IV/2 und Hirsch V. 54 Die konkrete Ausdifferenzierung der Lager war dabei allerdings schon zeitgenössisch umstritten: Der „liberale“ Theologe Carl Schwarz unterschied auf der „rechten“ Seite ein orthodoxes Neuluthertum von einer gemäßigteren Vermittlungstheologie und auf „linker“ Seite eine radikale Auflösungstheologie von einer durch Friedrich Schleiermacher entstandenen „Freien Theologie“. (Vgl. Schwarz, Zur Geschichte, S. 95–581; in Kurzform S. 582–289. Zu Leben und Werk Albrecht Ritschls vgl. Schäfer, Ritschl; zu Schleiermacher vgl. Nowak, Schleiermacher.) Der „konservative“ Franz Hermann Reinhold von Frank, dagegen meinte, zwischen der linken Auflösungstheologie und der konservativen, „dem kirchlichen Glauben wieder zugewandten“ (Frank, Geschichte und Kritik, S. 209) Theologie existierten eine von Schleiermacher angeregte und eine von Albrecht Ritschl geformte Vermittlungstheologie als eigenständige Größe (Vgl. Frank, Geschichte und Kritik, S. 144–376). Franks Schüler Richard Heinrich Grützmacher, der dessen Theologiegeschichte für die eigene Gegenwart – das wilhelminische Kaiserreich – fortsetzte, war der Meinung, man müsse nun im wesentlichen zwischen einer eher liberalen und einer eher positiven Vermittlungstheologie im Gefolge Ritschls auf der einen und einer positiven Theologie auf der anderen Seite unterscheiden. (Vgl. Frank, Geschichte und Kritik, S. 414–530. Vgl. dazu auch Lessing, Religionsgeschichtliche und modernpositive Theologie, S. 386–387 und S. 400–401.) 55 Vgl. Schwarz, Zur Geschichte, S. 582–588. 56 Vgl. zur „Erlanger Schule“ und besonders zu Frank Slenczka, Der Glaube und sein Grund; vgl. auch Slenczka, Selbstkonstitution und Gotteserfahrung, S. 343–354. Als „Grundlinie“ der „Erlanger Schule“ macht Slenczka das Anliegen aus, „die als externe Lehrnorm erfahrene Bindung an das Bekenntnis mit der subjektiven Unmittelbarkeit eines im Glauben ergriffenen und gegenüber dieser Lehrnorm auf seiner Authentizität und Autonomie beharrenden persönlich-individuellen Gottesverhältnisses zu vermitteln.“ (Slenczka, Der Glaube und sein Grund, S. 317; Slenczka, Selbstkonstitution und Gotteserfahrung, S. 343).
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Franz Hermann Reinhold von Frank, dagegen kritisierte an der Vermittlungstheologie, daß deren Programm einer Harmonisierung von christlichem und modernem Weltbewußtsein einen Irrweg einschlage, wenn es nicht getragen sei von einer umfassenden kirchlichen Erneuerungsbewegung. Die wiederum sei, so könne man an der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts erkennen, nicht durch mehr Rationalismus zu erreichen, sondern nur durch eine Renaissance des Glaubens.57 Was hier von liberaler wie konservativer Seite als Vermittlungstheologie bezeichnet und kritisiert wurde, war ein theologischer Ansatz, dem sich Harnack verpflichtet fühlte. Das wird bereits an seinem seit 1886 erschienenen dreibändigen Lehrbuch der Dogmengeschichte deutlich, das Harnacks Ruhm als Theologe begründete.58 Harnack entwickelte darin eine Interpretation des christlichen Dogmas als Folge der Notwendigkeit frühchristlicher Theologie, das Christentum unter den geistigen Bedingungen des Hellenismus plausibel zu machen. Im Laufe der Kirchengeschichte habe sich das Dogma aber vom historischen Kontext seiner Entstehung gelöst und habe den unbegründeten Anspruch auf zeitlose und universelle Gültigkeit erhoben. Erst die Reformation habe zumindest teilweise das Ziel verfolgt, hinter der Vergegenständlichung des Glaubens durch das Dogma wieder den ursprünglichen religiösen Impuls der Botschaft Jesu zu entdecken. Die bestehe in dem Vertrauen des Menschen auf die liebende Fürsorge des als Vater vorgestellten Gottes. Jesus sei es dabei überhaupt nicht um lehrhafte Aneignung eines verstandesmäßig faßbaren Inhalts gegangen, sondern um eine vom Glauben getragene Lebensführung. Die Gegenwart stehe nun vor der Aufgabe, diesem Impuls der Reformation zu folgen und sich auf den Kern des Evangeliums zu besinnen, anstatt den Glauben weiterhin durch dogmatische Lehre vergegenständlichen zu wollen.59 Der Evangelische Oberkirchenrat bezog sich in seinem Einspruch vom 29. Februar 1888 gegen die Berufung Harnacks an die Berliner theologische Fakultät ausdrücklich auf dessen Lehrbuch der Dogmengeschichte. Zwar erkenne man an, daß Harnacks „Gesamtanschauung [. . .] eine dem positiven Christentum und dem kirchlichen Bekenntnis zugeneigte ist. Andererseits aber enthält seine Dogmengeschichte Ausführungen, welche inbetreffs seiner Stellung zum neutestamentlichen Kanon, zu mehreren Heilstatsachen aus dem Leben Jesu Christi und zu der Einsetzung des Sakraments der Heiligen Taufe durch den Herrn Bedenken hervorgerufen haben, welche in unserer Mitte nicht haben überwunden werden können.“60 57
Vgl. Frank, Geschichte und Kritik, S. 374–376. Für das Folgende vgl. Harnack, Lehrbuch, I, S. 3–40 und S. 56–103. Vgl. dazu auch Slenczka, Die Theologische Fakultät, S. 57–61. 59 Vgl. Harnack, Lehrbuch III, 808–814. 58
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Durch den Tod Friedrichs am 16. Juni 1888 fiel die Entscheidung für oder gegen eine Berufung Harnacks schließlich auf Wilhelm II.61 Der für den Fall zuständige Kultus- bzw. Unterrichtsminister Gustav von Goßler sprach in der Sache persönlich mit Harnack und ließ sich von fünf Theologieprofessoren Gutachten ausstellen, die die Vorwürfe an Harnack für gegenstandlos erklärten.62 Goßler kam daher zu dem Entschluß, daß schon um der Wahrung der Lehrfreiheit willen die Berufung Harnacks unbedingt vollzogen werden müsse. Er einigte sich mit Bismarck darauf, das Staatsministerium in der Frage einzuschalten und einen Beschluß zu fassen, der dem Kaiser von der Befolgung des Einspruchs abriet und die Berufung Harnacks dringend empfahl. Goßler schrieb in diesem Zusammenhang an Bismarck: „Fällt die Allerhöchste Entscheidung jetzt gegen Harnack aus, so ist die dienstliche Tätigkeit des Unterrichtsministers beendet und die Besorgnisse, welche im Laufe der letzten Monate sich geltend gemacht haben, gewinnen an Berechtigung. Fällt die Entscheidung für Harnack aus, so wird König Wilhelm auf allen Universitäten eine Fülle der wärmsten Anhänger gewinnen und als ein würdiger Sproß seiner ruhmreichen, um Gewissensund Forschungsfreiheit hochverdienten Vorfahren gefeiert werden.“63 Am 4. Juli 1888 schickte Goßler dem Kaiser einen Immediatbericht, der auf die einstimmige Stellungnahme des Staatsministeriums hinwies und der mit der Bemerkung schloß, „daß die kirchliche Behörde über Person und Wirksamkeit des Professors Harnack unzureichend unterrichtet gewesen ist und an die Prüfung seiner wissenschaftlichen Arbeiten Maßstäbe angelegt hat, welche die Freiheit der theologischen Forschung und damit ihren Lebensnerv unterbinden müßten, wenn sie für die Zulassung zum akademischen Lehramt geltend gemacht würden.“64 Wilhelm II. befahl daraufhin, die gesamten Akten noch einmal dem Oberkirchenrat zur erneuten Stellungnahme zukommen zu lassen.65 Dadurch verzögerte sich die Entscheidung, und der Fall wurde in der Presse heftig diskutiert, wobei vor allem die orthodox-protestantische Presse heftig gegen Harnack polemisierte.66 Erst am 60 Schreiben des Evangelischen Oberkirchenrats an den preußischen Kultusminister v. Goßler: Huber/Huber, Staat und Kirche III, Nr. 270, S. 649. 61 Vgl. zur Geschichte der Berufung Harnacks Huber/Huber, Staat und Kirche III, S. 645–647; vgl. auch Zahn-Harnack, Harnack, S. 115–127 und Slenczka, Die Theologische Fakultät, S. 55–56. 62 Vgl. Huber/Huber, Staat und Kirche III, S. 646–647. 63 Schreiben des Kultusministers v. Goßler an Bismarck, 17./27.6.1888: Huber/ Huber, Staat und Kirche III, Nr. 273, S. 652. Auch abgedruckt in Zahn-Harnack, Harnack, S. 124. 64 Goßler an Wilhelm II., 4.7.1888: Zahn-Harnack, Harnack, S. 125. 65 Vgl. Zahn-Harnack, Harnack, S. 125; vgl. Huber/Huber, Staat und Kirche III, S. 647. 66 Vgl. Zahn-Harnack, Harnack, S. 125–126.
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6. September gab der Oberkirchenrat seine Stellungnahme ab, die auf den gegen Harnack erhobenen Bedenken beharrte. Ein zweiter Immediatbericht ging an den Kaiser; diesmal setzte Goßler am Ende des Berichts hinzu: „Ich halte mich für verpflichtet, die Versetzung des Professors D. Harnack in die theologische Fakultät der Universität Berlin als eine licht- und heilbringende Tat auf das angelegentlichste zu befürworten.“67 Einen Tag später, am 17. September gab Wilhelm II. an Goßler den Erlaß aus, Harnack nach Berlin zu berufen.68 Es wurde kolportiert, der Kaiser habe bei der Unterzeichnung der Versetzungsurkunde gerufen: „Ich will keine Mucker“; jedenfalls waren all diejenigen überrascht, die Wilhelms Engagement für Stoeckers christlich-soziales Anliegen für eine politische Parteinahme für den orthodoxen Protestantismus gehalten hatten.69 Bei der Berufungsfrage Harnacks handelte es sich um eine Belastungsprobe für den anvisierten mittelparteilichen Kurs Wilhelms II., weil es hier nichts zu vermitteln gab und Wilhelm gezwungen war, sich für die eine oder die andere Seite zu entscheiden. Eine Vermittlung im kirchenpolitischen Sinn war dann eher möglich, als Harnack 1892 erneut in die Kritik der Kirchenbehörden geriet. Der Württembergische Pfarrer Christoph Schrempf hatte sich 1891 geweigert, in der Taufliturgie das explizit vorgeschriebene apostolische Glaubensbekenntnis zu sprechen, weil er nicht an alle Teile des Glaubensbekenntnisses glauben könne.70 Seine Entlassung aus dem kirchlichen Dienst brachte eine Gruppe Berliner Theologiestudenten dazu, eine Petition zu verfassen, die vom Oberkirchenrat eine Abschaffung des Apostolikums forderte. Harnack wurde um Unterstützung gebeten, versagte diese aber und schrieb statt dessen eine grundsätzliche Stellungnahme, die in der Christlichen Welt veröffentlicht wurde.71 Harnack plädierte darin zwar für ein neues, das evangelische Glaubensverständnis prägnant zum Ausdruck bringendes Bekenntnis, riet aber vehement davon ab, gegen das Apostolikum zu polemisieren und etwa dessen Abschaffung zu fordern. Statt dessen müsse ein neues, zeitgemäßeres Bekenntnis darauf zielen, die religiösen Grundwahrheiten des Apostolikums in modernen Worten auszudrücken. Solange aber ein solches Bekenntnis nicht 67
Goßler an Wilhelm II., 16.9.1888: Zahn-Harnack, Harnack, S. 127. Erlaß Kaiser Wilhelms II. an den Kultusminister v. Goßler, 17.9.1888: Huber/ Huber, Staat und Kirche III, Nr. 277, S. 654. 69 Vgl. Zahn-Harnack, Harnack, S. 127. Friedrich Nietzsche beispielsweise schrieb an den Baseler Kirchenhistoriker Franz Overbeck: „Bei der Berufung Harnacks habe ich sehr Deiner gedacht: dieser junge Kaiser präsentiert sich allmählich vorteilhafter, als man erwarten durfte.“ (zit. nach Zahn-Harnack, Harnack, S. 127). 70 Vgl. Huber/Huber, Staat und Kirche III, S. 658–659. 71 Vgl. Harnack, In Sachen des Apostolikums, S. 768. Auch abgedruckt in: Huber/Huber, Staat und Kirche III, Nr. 290, S. 669–672. 68
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vorliege, wäre eine Abschaffung des Apostolikums rein destruktiv. Das apostolische Glaubensbekenntnis enthalte allerdings auch Sätze wie den über die Jungfrauengeburt, die wörtlich verstanden falsch und auch keiner Transformation in ein geistigeres, aber dabei den „Grundgedanken“ des Satzes noch bewahrendes Verständnis fähig seien.72 Deshalb solle maßvoll darauf hingearbeitet werden, das Apostolikum aus dem liturgischen Gebrauch zu entfernen oder den Gebrauch in das Belieben der jeweiligen Gemeinde zu stellen.73 In einem Anhang nannte Harnack schließlich den wesentlichen Inhalt des Apostolikums, der auch in einem neu zu schaffenden Bekenntnis ausgedrückt werden müsse: das Bekenntnis, „daß in der christlichen Religion die Güter ‚heilige Kirche‘, ‚Vergebung der Sünden‘, ‚ewiges Leben‘ geschenkt sind, daß der Besitz dieser Güter dem Glauben an Gott, den allmächtigen Schöpfer, an seinen Sohn Jesus Christus und an den heiligen Geist zugesagt ist, und daß sie durch Jesus Christus unsern Herrn gewonnen sind. Dieser Inhalt ist evangelisch.“74 Harnacks Stellungnahme löste eine heftige Debatte aus, die als „Apostolikumstreit“ bekannt geworden ist.75 Während der Kreis um die Christliche Welt sich auf Harnacks Seite schlug, stellten sich die Vertreter des orthodoxen Protestantismus, die deutsche Adelsgenossenschaft und auch die Positive Union gegen Harnack.76 Der heftigste Widerspruch kam von der preußischen Evangelisch-Lutherischen Konferenz, die Harnack entgegnete: „I. Jeder Versuch, das Apostolicum für den kirchlichen Gebrauch zu beseitigen, ist ein Schlag ins Angesicht der Kirche Christi. II. Es ist die höchste Zeit, daß unsere Theologie-Studirenden gegen grundstürzende Lehren und gegen die Verwirrung ihrer Gewissen seitens theologischer Docenten wirksam geschützt werden. III. Daß der Sohn Gottes ‚empfangen ist von dem heiligen Geiste, geboren von der Jungfrau Maria‘, das ist das Fundament des Christentums; es ist der Eckstein, an welchem alle Weisheit dieser Welt zerschellen wird.“77 72
Harnack, In Sachen des Apostolikums, S. 769. Vgl. Harnack, In Sachen des Apostolikums, S. 768–769. 74 Harnack, In Sachen des Apostolikums, S. 770. 75 Vgl. die Schilderung bei Huber/Huber, Staat und Kirche III, S. 666–669. 76 Vgl. Huber/Huber, Staat und Kirche III, Nr. 292–295, S. 673–675. Der prominenteste wissenschaftliche Theologe, der gegen Harnack Stellung bezog, war der Greifswalder Dogmatiker Hermann Cremer, der auf der Übernatürlichkeit der historischen Gestalt Christi und auf der Angemessenheit des biblischen Zeugnisses beharrte: vgl. Lessing, Positive und ‚liberale‘ Theologie, S. 352–353. 77 Stellungnahme der preußischen Evangelisch-Lutherischen Konferenz zum Apostolikumstreit vom 20. September 1892 (Protestantische Kirchenzeitung 39, 1892, Sp. 940 f.): Huber/Huber, Staat und Kirche III, Nr. 291, S. 673. 73
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Die Heftigkeit des Streits veranlaßte Wilhelm II., beim Kultusminister Robert Bosse einen Immediatbericht anzufordern.78 Bosse führte daraufhin ein Gespräch mit Harnack. Der berichtete seinem Vater, das Gespräch sei gut verlaufen, der Minister stehe auf seiner Seite, die Lehrfreiheit würde nicht angetastet werden; höchstens werde der Kaiser Harnack ermahnen, sich in Zukunft vorsichtiger auszudrücken, was Harnack wiederum dulden wolle, solange mit einer solchen Ermahnung keine materiellen Redeeinschränkungen verbunden seien.79 Entsprechend fiel Bosses Bericht an Wilhelm II. aus: Harnacks Stellungnahme sei angesichts der kirchenpolitischen Empfindlichkeiten zwar „wenig geschickt“ gewesen, aber ein Disziplinarverfahren sei nicht notwendig, zumal Harnack das Ansinnen der Studenten würdig zurückgewiesen habe und nur mit seiner Verdammung der Jungfrauengeburt über das Ziel hinausgeschossen sei. Bosse wolle Harnack ernsthaft ermahnen, sich künftig stärker zurückzuhalten; ansonsten sei zu empfehlen, bei Neuberufungen „künftig ein gewisses Gegengewicht gegen die Einseitigkeit in einzelnen Fakultäten“ zu schaffen.80 Am 12. November 1892 erstattete der Chef des Kaiserlichen Zivilkabinetts v. Lucanus dem Kultusminister Bericht über die kaiserliche Entscheidung: „S. M. wollen diese Angelegenheit durch die Seitens Ew. Excellenz dem D. Harnack mündlich erteilte Mahnung sowie die in Aussicht genommene Berufung eines positiven Ordinarius für systematische Theologie an die hiesige Universität erledigt ansehen.“81 Wilhelm II. verzichtete damit auf eine öffentliche Ermahnung Harnacks und kam gleichzeitig den Konservativen durch die Schaffung eines positiven Lehrstuhls entgegen. Diese erwarteten allerdings auch ein öffentliches Eintreten des Kaisers für das Apostolikum. Als solches wertete man in konservativen Kreisen das sogenannte „Wittenberger Bekenntnis“, also die Urkunde, die Wilhelm und die evangelischen Reichsfürsten bei der Wiedereinweihung der Wittenberger Schloßkirche am 31. Oktober 1892 unterzeichnet hatten.82 Im November 1892 gab der Evangelische Oberkirchenrat einen Zirkularerlaß aus, der die evangelische Geistlichkeit zur Wahrung des Apo78 Vgl. Huber/Huber, Staat und Kirche III, S. 668; vgl. Zahn-Harnack, Harnack, S. 154. 79 Vgl. Zahn-Harnack, Harnack, S. 154. 80 Immediatbericht Bosses in: Zahn-Harnack, Harnack, S. 155. Als „Gegengewicht“ gegen Harnack wurde zunächst der Neutestamentler und Systematiker Adolf Schlatter berufen. 1898 übernahm Reinhold Seeberg den positiven „Straflehrstuhl“. 81 Schreiben des Chefs des Kaiserlichen Zivilkabinetts v. Lucanus an den preußischen Kultusminister Bosse vom 12.11.1892: Huber/Huber, Staat und Kirche III, Nr. 297, S. 677. Auch abgedruckt in Zahn-Harnack, Harnack, S. 155. 82 Siehe zum Wittenberger Bekenntnis auch Kapitel D. V.
II. Harnack und der Apostolikumstreit
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stolikums aufforderte und der ausdrücklich auf das Wittenberger Bekenntnis des Kaisers als Bekenntnis zum Apostolikum Bezug nahm: Angesichts der Gefährdung des Apostolikums durch Harnacks Stellungnahme sei es erfreulich, „daß inmittelst die erhebende Bekenntnißthat Seiner Majestät des Kaisers und Königs und der evangelischen Fürsten Deutschlands zu Wittenberg am 31. Oktober d.J., in welcher auch das Festhalten am Glauben an den Mensch gewordenen Gottessohn, als dem gemeinsamen Bande der christlichen Kirche, zu schlichtem, aber bestimmtem Ausdruck gebracht ist, in den weitesten Kreisen und Schichten des evangelischen Volkes lauten Wiederhall gefunden hat.“83 Der Hinweis des Erlasses, man solle sich bei aller Verteidigung des Apostolikums davor hüten, „aus jedem Einzelstück desselben ein starres Lehrgesetz zu machen“84, markierte allerdings ein gewisses Einlenken auf das Anliegen Harnacks, der den Erlaß aus genau diesem Grund auch positiv beurteilte.85 Für die Haltung Wilhelms II. ist es aber wichtiger, daß das Wittenberger Bekenntnis in Wirklichkeit gar keine Stellungnahme für das Apostolikum enthielt. Der entscheidende Absatz lautete: „In evangelischer Glaubensgemeinschaft haben Wir den Allmächtigen, gnadenreichen Gott in heißem Gebete angerufen, Unserem evangelischen Volke die Segnungen der Reformation zu bewahren, Gottesfurcht, Nächstenliebe und Unterthanentreue in Unsern Landen zu mehren, Unser deutsches Vaterland in seiner gnädigen Obhut zu behalten, redliches Streben und Schaffen in allen Berufszweigen mit Seinem Segen zu krönen, Uns und allen Unseren Mitchristen durch Jesum Christum ein seliges Ende in der Gewißheit einer fröhlichen Auferstehung zu bescheren. Wie Wir zu dem die gesammte Christenheit verbindenden Glauben an Jesum Christum, den Mensch gewordenen Gottessohn, den Gekreuzigten und Auferstandenen, Uns von Herzen bekennen und wie Wir zu Gott hoffen, allein durch diesen Glauben gerecht und selig zu werden, also erwarten Wir auch von allen Dienern der evangelischen Kirche, daß sie allezeit beflissen sein werden, nach der Richtschnur des Wortes Gottes in dem Sinn und Geiste des durch die Reformation wiedergewonnenen reinen Christenglaubens ihres Amtes 83 Zirkularerlaß des Evangelischen Oberkirchenrats betreffend den Gebrauch und die Wertschätzung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses vom 25.11.1892 (Allgemeines Kirchenblatt für das evangelische Deutschland, 1893, S. 222 f.): Huber/ Huber, Staat und Kirche III, Nr. 298, S. 677–679. 84 Zirkularerlaß des Evangelischen Oberkirchenrats betreffend den Gebrauch und die Wertschätzung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses vom 25.11.1892 (Allgemeines Kirchenblatt für das evangelische Deutschland, 1893, S. 222 f.): Huber/ Huber, Staat und Kirche III, Nr. 298, S. 678. 85 Vgl. Kasparick, S. 324. Jung und Kasparick weisen darüber hinaus darauf hin, daß die Bindung an das Apostolikum bei Taufen durch die preußische Agendenreform 1894/95 zwar nicht aufgehoben, aber doch „gelockert“ worden sei: vgl. Jung, Protestantismus, S. 59; vgl. Kasparick, S. 325–331. Gegen Besier, Religion – Nation – Kultur, S. 123–124.
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zu warten, das Volk in Gottesfurcht und Unterthanentreue, zu herzlicher Liebe und Erbarmung gegen alle Mitmenschen, auch gegen die Andersgläubigen, anzuleiten.“86
Das Apostolikum wurde hier gar nicht explizit erwähnt, höchstens implizit durch die Erwähnung des alle Christen verbindenden Glaubens. Auch der strittige Punkt der Jungfrauengeburt wurde nicht ausdrücklich thematisiert und statt dessen allgemeiner auf Christus als den „Mensch gewordenen Gottessohn“ hingewiesen. Beides waren Punkte, gegen die Harnack in seiner Stellungnahme gar nichts vorgebracht hatte. Das ökumenische Christentum hatte er nicht erwähnt, sondern – wie das Wittenberger Bekenntnis auch – die Wahrheit des Reformatorischen betont; Christus hatte er – wie das Wittenberger Bekenntnis auch – als Sohn Gottes bezeichnet, nur eben die Jungfrauengeburt abgelehnt. Über die kirchenpolitischen Absichten, die Wilhelm II. mit dem Wittenberger Bekenntnis verfolgte, ist nichts bekannt. Der Wortlaut der Urkunde jedenfalls war so gewählt, daß in der Streitfrage des Apostolikums keine Stellung bezogen wurde, jede Partei aber die eigene Sicht herauslesen konnte. Es ist deshalb nicht zu weit hergeholt, dem Kaiser hier Absicht zu unterstellen, da ein solches Vorgehen genau zu seiner kirchenpolitischen Haltung der Vermittlung zwischen den Parteien paßte.87 Und genau so fügte es sich in die Religionspolitik des Kaisers ein, der ungeachtet eigener theologischer Vorstellungen ein im weitesten Sinne konservatives Christentum im Volk verankert sehen wollte.88
III. Houston Stewart Chamberlain Die eigentlichen theologischen Vorstellungen Wilhelms II. zu rekonstruieren ist ein schwieriges Unterfangen. Das liegt zum einen daran, daß Wilhelms Kirchen- und Religionspolitik bestimmte Entscheidungen und öffentliche Äußerungen erforderte, von denen nicht ohne Weiteres auf die persönlichen theologischen Überzeugungen des Kaisers geschlossen werden kann. Zum anderen war Wilhelm kein Fachtheologe und hat kein umfassendes theologisches Werk hinterlassen. Im holländischen Exil verfaßte er einige Bücher kultur- und religionsgeschichtlichen Inhalts, die zumindest am 86 Urkunde über die Einweihung der erneuerten Schloßkirche zu Wittenberg, 31.10.1892, faksimiliert in Seeberg, Der Protestantismus unter Kaiser Wilhelm II., S. 1198. Abgedruckt in Huber/Huber, Staat und Kirche III, Nr. 296, S. 676. 87 Gegen Huber/Huber, Staat und Kirche III, S. 668 und Andresen, S. 97, die im Wittenberger Bekenntnis des Kaisers eine eindeutige Stellungnahme für die konservative Position im Apostolikumstreit sehen. 88 Siehe dazu Kapitel D. V.
III. Houston Stewart Chamberlain
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Rande theologische Fragen erörterten, äußerte eigene theologische Auffassungen in Predigten und führte eine rege Korrespondenz über theologische Fragen;89 während seiner Regierungszeit hatte er anderes zu tun. Deshalb ist für die Zeit bis 1918 nicht sehr viel Quellenmaterial über die Theologie Wilhelms II. vorhanden. Eine große Ausnahme allerdings bildet der Briefwechsel des Kaisers mit Houston Stewart Chamberlain. Um diesen angemessen analysieren zu können, ist es notwendig, zunächst Chamberlains weltanschauliche Position vorzustellen und knapp in ihren historischen Kontext einzuordnen. Das betrifft einerseits den wichtigsten traditionalen Anknüpfungspunkt für Chamberlain – die sogenannte „Deutsche Bewegung“ – und andererseits die Positionierung Chamberlains im zeitgenössischen Gesamtgefüge der „völkischen Bewegung“. Chamberlain war von Herkunft Engländer, verbrachte den Großteil seiner Jugend aber in Frankreich und entwickelte unter dem Einfluß seines Deutschlehrers eine besondere Vorliebe für Deutschland.90 An der Universität Genf absolvierte er ein Studium der Naturwissenschaften, das er 1881 mit dem Bakkalaureatsexamen abschloß; ab 1888 lebte er in Wien. Durch den Kontakt zum Bayreuther Kreis um Richard Wagners Witwe Cosima wurde Chamberlain endgültig zum „Wahldeutschen“. Rasch stieg Chamberlain innerhalb der Bayreuther Kreises auf und gehörte bald zum innersten Autorenkreis der vom Wagnerschüler Hans von Wolzogen herausgegebenen Bayreuther Blätter.91 Noch unter Richard Wagner selbst hatte die Zeitschrift sich zu einem Forum für kulturkritische und kunstphilosophische Ideen entwickelt. 1880 veröffentlichte Wagner in den Bayreuther Blättern einen grundlegenden Aufsatz über Religion und Kunst, in dem er schrieb: „Man könnte sagen, daß da, wo die Religion künstlich wird, der Kunst es vorbehalten sei, den Kern der Religion zu retten, indem sie die mythischen Symbole, welche die erstere im eigentlichen Sinne als wahr geglaubt wissen will, ihrem sinnbildlichen Werte nach erfaßt, um durch ideale Darstellung derselben die in ihnen verborgene tiefe Wahrheit erkennen zu lassen.“92 Wagner wollte nicht etwa die Religion durch die Kunst ersetzen oder eine Kunstreligion schaffen, sondern schrieb der Kunst eine Rolle als Vorbereiterin für eine Erneuerung der Religion zu. Diese erneuerte Religion sollte eine Synthese aus dem Christentum und Elementen des germanischen 89
Siehe dazu Kapitel H. III. Zum Leben Chamberlains vgl. die Biographie von Field; vgl. auch Schröder, Houston Stewart Chamberlain; vgl. auch Chamberlain, Lebenswege meines Denkens. 91 Siehe dazu und zur Bedeutung der Bayreuther Blätter für das wilhelminische Deutschland: Kraus, Kunst, Religion und Politik, besonders S. 381–382. 92 Wagner, Religion und Kunst, S. 117. 90
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Mythos sein.93 Wagner gehörte damit zu denen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Impulse aufnahmen, die zwischen 1770 und 1830 von der „Deutschen Bewegung“ gegeben worden waren. Mit diesem Begriff hat Herman Nohl 1911 eine Strömung bezeichnet, die sich aus Vertretern von Sturm und Drang, Klassik, Idealismus und Romantik zusammensetzte.94 Leitvorstellungen waren der Vorzug der Individualität vor dem Allgemeinen und des konkret Erlebten vor der Abstraktion. Das führte im Bereich von Kunst und Sittlichkeit zu einer Orientierung am kulturschaffenden Genie, in der Religion zu einer Abwendung von Dogma und Autorität hin zur individuellen „subjektiven Religion“, und schließlich zu einer Ausrichtung aller Politik auf das „Volk“.95 Gerade die harmonische Verbindung von individueller Subjektivität und Einordnung in den „organischen Verband“ des Volkes war für die Vertreter der Deutschen Bewegung konstitutiv.96 Diese Ausrichtung gab der Deutschen Bewegung wie dem deutschen Nationalismus, den sie beeinflußte, einen „gefühlsdemokratischen“97 Einschlag, den 93
Wagner, Religion und Kunst, S. 117–130. Vgl. dazu auch Mohler/Weißmann, S. 31–32. 94 Vgl. Nohl, Deutsche Bewegung, S. 78–86. Nohl nahm damit eine Anregung seines Lehrers Wilhelm Dilthey auf. Der hatte in seiner Basler Antrittsvorlesung schon 1867 die Einheit der deutschen geistigen Bewegung der letzten Jahrhundertwende postuliert: „Aus einer Reihe konstanter geschichtlicher Bewegungen entsprang in Deutschland im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts eine geistige Bewegung, in einem geschlossenen und kontinuierlichen Gange ablaufend, von Lessing bis zu dem Tode Schleiermachers und Hegels ein Ganzes. Und zwar lag die stetig fortwirkende Macht im Verlauf dieser Bewegung in dem geschichtlich begründeten Drang, eine Lebens- und Weltansicht zu begründen, in welche der deutsche Geist seine Befriedigung finde.“ (Dilthey, S. 13) Vgl. dazu Gretz, S. 23–38. 95 Vgl. Nohl, Deutsche Bewegung, S. 78–79. Vgl. dazu auch die Berufung auf das Volk bei Herder: Bran, S. 73. 96 Beispielhaft für diese Harmonisierung von Individuum und Volk ist Schleiermacher, der in bezug auf den Volksbegriff in seiner „Ethik“ und in der „Christlichen Sitte“ darauf abhebt, daß das Individuum niemals von seiner Umwelt isoliert gedacht werden könne, sondern immer schon eingebettet sei in gemeinschaftliche Zusammenhänge; daß umgekehrt aber gerade das Volk auf das Individuum bezogen sei, insofern es eine „reale Identität“ wesentlicher Merkmale verschiedener Individuen zur Grundlage habe und somit einen bestimmten „gleichförmigen Typus“ repräsentiere: vgl. Schleiermacher, Ethik § 1–80, S. 80–94; vgl. Schleiermacher, Christliche Sitte, S. 450–454. Zum Organismusbegriff bei Schleiermacher siehe beispielsweise Schleiermacher, Ethik, § 101, S. 98. 97 Dieser Begriff stammt von dem Philosophen Max Scheler, der 1917 in einem Vortrag die „Ursachen des Deutschenhasses“ zu ergründen versuchte. Zwei notwendige und nicht aus der Welt zu schaffende Haßursachen, so Scheler, seien die besondere deutsche Form des Militarismus und die ebenso besondere deutsche Freiheitsidee. Letztere habe ihren Grund in der menschlichen Individualität und nicht im Politischen, weshalb das Ausland die Deutschen allgemein für servil und autoritätsfixiert halte. Dem hielt Scheler entgegen, daß die Deutschen „das sozial- und ge-
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vor allem Ernst Moritz Arndt betonte.98 Arndt gehörte mit Stein, Gneisenau, Scharnhorst, Clausewitz, Schleiermacher und Fichte zu denjenigen Teilen der Deutschen Bewegung, die in der preußischen Reformzeit politischen Einfluß gewannen. Angestrebt wurden ein „Volksstaat“, der durch Bürgerrechte und Wehrpflicht die Beteiligung des Einzelnen am politischen Ganzen sicherstellen sollte; eine allgemeine „Volksbildung“ durch eine Schulund Hochschulreform; und schließlich eine „Volksreligion“, die vom protestantischen Grundverständnis aus zu einer Erneuerung des Christentums und der Religion überhaupt durch Verinnerlichung des Glaubens gelangen sollte.99 Dieses religiöse Anliegen verband sich bei einigen Vertretern der Deutschen Bewegung mit einem Rückgriff auf die germanische als die eigene Überlieferung. Der „Germanenmythos“100 war allerdings kein spezifisch deutsches Phänomen, sondern war nur ein Teil einer allgemeinen „Nordischen Renaissance“ in Skandinavien und einer „Keltischen Renaissance“ in Großbritannien und Frankreich.101 Der deutsche „Germanismus“102 wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts von der Philologie, der Literatur, der Rechtsund der Geschichtswissenschaft befördert; um 1900 war die Vorstellung eines historischen (Wieder-)Aufstiegs des „Germanentums“ weitverbreitet. In Deutschland hatten vor allem die Befreiungskriege gegen Napoleon der Nafühlsdemokratischste Volk der Erde“ seien: Scheler, Ursachen, S. 128–164, Zitat S. 153. 98 In seinem Werk Geist der Zeit von 1818 schrieb Arndt: „Und weil das Vornehme und Eitle sich immer wieder erheben und den spitzen und züngelnden Schlangenkopf hervorstecken will, so sage ich, daß die größten und herrlichsten Männer aller Zeiten und Völker in Einfalt, Schlichtheit, Gutmütigkeit, Freundlichkeit und Derbheit des Lebens und der Gestalten und Gesichter immer wie Bauern aussehen; so daß schlichte und einfältige Bauern hätten ihre Väter sein können. [. . .] Ja ihr Eitlen, ihr mögt euch mit Schönheit und Adel der Gestalt und Gebärde brüsten, wieviel ihr wollt, der Bauer eures Volkes bleibt doch immer das Urbild echter Stärke und einfältiger Schönheit, der ewige Adam des Geschlechtes.“ (Arndt, Geist der Zeit IV, S. 270.) 99 Vgl. Mohler/Weißmann, S. 20. Die Stoßrichtung der Deutschen Bewegung war durch die Verschränkung von Individualismus und Einfügung in „natürliche“ Gemeinschaftsformen gerade nicht antineuzeitlich. Eher wird man in ihr einen Vorläufer jenes deutschen Sonderbewußtseins sehen dürfen, das sich besonders prominent in den „Ideen von 1914“ niederschlug, die auch nicht antimodern waren, sondern ihrem Selbstverständnis nach einen spezifisch „deutschen Weg“ in die Moderne anstrebten (siehe dazu Kapitel G. II.). Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, daß Emanuel Hirsch sich in den beiden letzten Bänden seiner fünfbändigen Theologiegeschichte immer wieder besonders auf die Vertreter der Deutschen Bewegung beruft: vgl. Hirsch IV/2 und Hirsch V. 100 Wiwjorra, vor allem S. 14–15. 101 Vgl. Weißmann, Druiden, S. 27–29. 102 Gollwitzer, Zum politischen Germanismus, S. 292–305.
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tional- und Germanenbegeisterung einen Schub versetzt; Arndt meinte, das Denkmal für die Völkerschlacht in Leipzig sollte ein „echt germanisches und ein echt christliches“ sein.103 Schon zuvor hatte er Gedichte über den „deutschen Gott“104 geschrieben. Und auch Friedrich Ludwig Jahn, dessen Turnervereine ein wesentlicher Bestandteil des deutschbewegten Befreiungspatriotismus waren, hielt „Deutschtum“ und Christentum für eine Einheit und meinte, daß „nur der germanische Geist [. . .] zum Wiederauffassen des Urchristentums geschickt“105 gewesen sei.106 An diese Ansätze zu einer Revitalisierung der christlichen Religion aus dem Fundus der germanischen Überlieferung hatte Wagner mit seinen Überlegungen über Religion und Kunst angeknüpft. Chamberlain allerdings brachte diese Überlegungen erst in ein weltanschauliches Gesamtsystem. Seine 1899 erschienenen Grundlagen des 19. Jahrhunderts erlebten dreißig Auflagen, waren außerordentlich erfolgreich und übten den stärksten Einfluß aus, den der Bayreuther Kreis überhaupt im politischen Denken des Wilhelminismus gewinnen konnte.107 Das Grundkonzept der Weltanschauung Chamberlains war dabei die Antinomie zwischen Germanen und Anti- bzw. „Nicht-Germanen“108, womit vor allem die Juden gemeint waren. Die Auffassung vom Germanentum als oberstem Kulturträger, als Schöpfer von Freiheit und Individualität, war eine direkte Anknüpfung an Ideen der Deutschen Bewegung.109 Auch anti103
Arndt, Ein Wort, S. 141. Gedicht „Deutscher Trost“ [1813]: Arndt, Gedichte, S. 38–39. 105 Jahn, Deutsches Volkstum, S. 83. Auch Friedrich Daniel Schleiermacher stellte Überlegungen zur religiösen Eigenart der germanischen Völker an. In seiner Christlichen Sitte äußerte er die Meinung, die Reformation habe eine germanische Form des Christentums geschaffen: „So ist also die evangelische Kirche auf ganz sittliche Weise entstanden, welche Fehler auch im Einzelnen begangen sein mögen, und es ist nur zu bedauern, daß sie nicht von Anfang an einen größeren Umfang gewonnen hat; denn es wäre ihr zugekommen, sich auf alle germanischen Kirchen im Gegensatz gegen die romanischen zu verbreiten, wie wir denn auch ohne das gegen die germanischen katholischen Völker ganz anders gesinnt sind als gegen die romanischen. Und so kann sie denn auch mit gutem Gewissen fortbestehen auf dem Grund dieser ihrer Entstehung, wenn sie nur fortfährt, den Katholizismus für die romanischen Völker neben sich bestehen zu lassen, und auch mit gutem Gewissen dahin streben die Reformation über alle germanischen Völker als die ihnen eigentlich angemessene Form des Christentums zu verbreiten.“ (Schleiermacher, Christliche Sitte, S. 139.) 106 Vgl. zu diesem Zusammenhang Weißmann, Druiden, S. 23–26. Zu Jahns Turnern und ihrer Bedeutung für die Nationalbewegung vgl. Clark, Preußen, S. 407– 408. 107 Vgl. Schüler, S. 125. Vgl. auch Weißmann, Druiden, S. 37–38. 108 Chamberlain, Grundlagen, S. 511 und S. 520. 109 Vgl. dazu auch Martynkewicz, S. 55. 104
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semitische Anschauungen waren im 19. Jahrhundert bereits virulent gewesen. Doch Chamberlain erhob den von ihm postulierten Gegensatz in den Grundlagen zum Zentralgegensatz der Weltgeschichte, der außerdem auf einer eigenen Rassentheorie beruhte.110 Diese entwickelte Chamberlain in kritischer Auseinandersetzung mit den Überlegungen Arthur de Gobineaus. Dessen Essay über die Ungleichheit der Menschenrassen ging von einer notwendigen Degeneration der Menschheit aus, hervorgerufen durch Rassenmischung.111 Chamberlain wendete den Befund Gobineaus ins Optimistische, indem er die Mischung der Rassen für die Voraussetzung hochkultureller Leistungen erklärte.112 Rasse war für Chamberlain etwas Dynamisches, deren physiologische Bedingungen einerseits durch eine bestimmte Blutmischung, andererseits durch historisch-geographischen Einfluß auf die Blutmischung definiert seien.113 In der praktischen Anwendung neigte Chamberlain allerdings dazu, Rasse auch und sogar vornehmlich als etwas Geistiges zu bestimmen. Das lag unter anderem daran, daß der von ihm postulierte „Antigermane“ unbestimmt genug bleiben mußte, um als universales Feindbild gelten zu können; vor allem mußte er sowohl die römische Kirche als auch die Juden umfassen.114 Doch auch in der Betrachtung des Judentums selbst ging Chamberlain differenziert vor: Zunächst schilderte er die Juden als Träger eines vorbildlichen Rassebewußtseins, die „nach der Natur ihrer Instinkte und ihrer Gaben handelten, wobei sie zugleich ein wahrhaft bewunderungswürdiges Beispiel 110 Vgl. dazu und zum ganzen Rassekonzept Chamberlains, wie es hier vorgetragen wird, Schüler, S. 252–267. 111 Vgl. Gobineau, S. 29–45: „Ich meine also, daß das Wort degeneriert, auf ein Volk angewandt, bedeuten muß und bedeutet, daß dieses Volk nicht mehr den inneren Wert hat, den es ehedem besaß, weil es nicht mehr das nämliche Blut in seinen Adern hat, dessen Wert fortwährende Vermischungen allmählich eingeschränkt haben“ (Gobineau, S. 31–32). 112 Von Gobineau schrieb Chamberlain in den Grundlagen, dieser habe leider der „Wahnvorstellung“ angehangen, „die von Hause aus ‚reinen‘, edlen Rassen vermischten sich im Verlauf der Geschichte und würden mit jeder Vermischung unwiederbringlich unreiner und unedler, woraus sich dann notwendigerweise eine trostlos pessimistische Ansicht über die Zukunft des Menschengeschlechtes ergeben muss. Die erwähnte Annahme beruht jedoch auf einer gänzlichen Unkenntnis der physiologischen Bedeutung dessen, was man unter ‚Rasse‘ zu verstehen hat. Eine edle Rasse fällt nicht vom Himmel herab, sondern sie wird nach und nach edel, genau so wie die Obstbäume, und dieser Werdeprozess kann jeden Augenblick von Neuem beginnen, sobald ein geographisch-historischer Zufall oder ein fester Plan (wie bei den Juden) die Bedingungen schafft.“ (Chamberlain, Grundlagen, S. 267). 113 Vgl. Chamberlain, Grundlagen, S. 288 und S. 343. 114 Vgl. Schüler, S. 258–259. Zur Romfeindschaft Chamberlains vgl. seine Beschreibung Ignatius von Loyolas als „Typus des Antigermanen“: Chamberlain, Grundlagen, S. 521–527, Zitat S. 527.
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der Treue gegen sich selbst, gegen die eigene Nation, gegen den Glauben der Väter gaben; die Versucher und die Verräter waren nicht sie, sondern wir. Wir selber waren die verbrecherischen Helfershelfer der Juden, das war so und das ist noch heute so; und wir selber übten Verrat an dem, was der erbärmlichste Bewohner des Ghetto heilig hielt, an der Reinheit des ererbten Blutes“.115 In einem Schlußresümee seines Kapitels über den Eintritt der Juden in die Weltgeschichte betonte Chamberlain dann allerdings die gegenüber dem Biologischen wichtigere Rolle des Geistigen: „Jude“ bezeichne in erster Linie „eine besondere Art zu fühlen und zu denken; ein Mensch kann sehr schnell, ohne Israelit zu sein, Jude werden; Mancher braucht nur fleissig bei Juden zu verkehren, jüdische Zeitungen zu lesen und sich an jüdische Lebensauffassung, Literatur und Kunst zu gewöhnen. Andererseits ist es sinnlos, einen Israeliten echtester Abstammung, dem es gelungen ist, die Fesseln Esra’s und Nehemia’s abzuwerfen, in dessen Kopf das Gesetz des Mose und in dessen Herzen die Verachtung Andrer keine Stätte mehr findet, einen ‚Juden‘ zu nennen. [. . .] Mit dem Apostel Paulus müssen wir einsehen lernen: ‚Denn das ist nicht ein Jude, der auswendig ein Jude ist, sondern das ist ein Jude, der inwendig verborgen ist.‘ “116 Mit dieser Konzeption hatte Chamberlain gerade keine materialistischbiologistische Rassenlehre entwickelt. Seine Polemik gegen den als jüdisch apostrophierten Materialismus machte das ohnehin unmöglich, weil eine materialistische Rassenlehre ebenfalls von ihr getroffen worden wäre. Statt dessen hatte Chamberlain den Juden zur „Projektionsfläche der Modernisierungsangst schlechthin“117 gemacht, indem er ihn als „Gegentypus“118 vorstellte, eben als die Inkarnation des modernen Materialismus, um den es Chamberlain eigentlich ging. Was Chamberlain damit konkret meinte, wird besonders deutlich am Beispiel der Religion erkennbar. In einem Kapitel über die „Erscheinung Christi“ diskutierte er die Frage, ob Jesus Jude gewesen sei. Eigentlich, so Chamberlain, sei diese Frage unbedeutend, da Christi Erscheinung über allen Rassengegensätzen stehe. Die gläubigen Christen hätten das erkannt und in der Formel vom „Sohn Gottes“ adäquat zum Ausdruck gebracht. 115
Chamberlain, Grundlagen, S. 340. Chamberlain, Grundlagen, 457–458. Siehe dazu auch einen Brief Chamberlains an Hugo Bruckmann über das Schlußresümee des Kapitels, in dem Chamberlain schrieb: „Zum Schluss der sehr klare Nachweis, dass man Jude sein kann ohne Jude zu sein, und dass man nicht ‚Jude‘ zu sein braucht weil man einer ist.“ (zit. nach Martynkewicz, S. 57). 117 Martynkewicz, S. 57. 118 Jaensch, u. a. S. 34–35. Der Begriff stammt aus dem Jahr 1938 und bezieht sich nicht explizit auf Chamberlain, eignet sich aber auch zur Charakterisierung derjenigen Art von Antisemitismus, die Chamberlain in den „Grundlagen“ entworfen hat. 116
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Dennoch helfe die Frage dabei, die Bedeutung von Christi Erscheinung besser zu verstehen.119 Weniger wichtig als die äußerliche Rassenzugehörigkeit – von der Chamberlain mit Hinweis auf die galiläische Mischbevölkerung meinte, Jesus könne rassisch vieles gewesen sein, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aber sei er kein Jude gewesen – sei dabei die innere, geistige Seite der Frage von Jesu Rassenzugehörigkeit. Unstrittig sei dabei, daß Jesus historisch sowohl der Religion als auch der Erziehung nach dem Judentum angehöre. Durch seine eigene Lehre, die das ganze Gottesverhältnis radikal in das menschliche Gemüt verlagert habe, habe Jesus das Judentum geistig aber auf das Schärfste verneint. Man erkenne das etwa an der Souveränität, mit der Christus sich über das Sabbatgesetz hinweggesetzt habe, aber auch grundsätzlich sei kein größerer Gegensatz erkennbar als der zwischen Jesu Bild vom liebenden und barmherzigen Gott und dem „jüdischen“ Gott der Furcht und Hartherzigkeit.120 Überhaupt seien die Juden im Gegensatz zu den Ariern ein religiös „verkümmertes“ Volk, was am jüdischen Rationalismus und Materialismus auch in der Gottesvorstellung liege.121 Gerade diese geistige und religiöse Verkümmerung aber habe es Christus ermöglicht, die religiöse Umkehr in die Innerlichkeit in der gebotenen Radikalität zu vollziehen.122 Das jüdische Alte Testament mit seiner Historisierung, ja Politisierung der Religion habe ein rationalistisches Glaubensgerüst geboten, auf dem Jesus etwas ganz Neues aufbauen konnte: „Er fand hier, was er sonst nirgends auf der Welt gefunden hätte: ein vollständiges, fertiges Gerüst, innerhalb dessen sein durchaus neuer Gottes- und Religionsgedanke aufgebaut werden konnte. Von dem eigentlichen jüdischen Gedanken blieb, nachdem Jesus gelebt hatte, nichts mehr übrig; wie nach vollendetem Tempelbau, konnte das Gerüst abgetragen werden.“123 Ironischerweise müsse man deshalb sagen, „dass die idealste Religion nicht dieselbe Lebenskraft besässe, hätte sie nicht an die realste, materiellste, ja, wir dürfen ruhig sagen, am meisten materialistische der Welt angeknüpft.“124 Die jüdische Messias-Idee sei außerdem historisch das einzige gewesen, das wenigstens andeutungsweise etwas von der „Weltbedeutung Christi“ habe verständlich machen können.125 Tiefer noch sei aber die geistige Bindung Jesu an das Judentum im Bereich des Willens, den die Juden im Gegensatz zu den schicksalsgläubigen 119 120 121 122 123 124 125
Vgl. Chamberlain, Grundlagen, S. 211. Vgl. Chamberlain, Grundlagen, S. 211–229. Chamberlain, Grundlagen, S. 220. Vgl. Chamberlain, Grundlagen, S. 229–232. Chamberlain, Grundlagen, S. 237. Chamberlain, Grundlagen, S. 237. Chamberlain, Grundlagen, S. 237–239.
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Indoariern im Übermaß besäßen: „Die Wucht seines Willens zum Leben hat dem Juden nicht allein einen Glaubensanker geschmiedet, der ihn festkettet an den Boden der historischen Überlieferung, sondern sie hat ihm auch das unerschütterliche Vertrauen eingeflösst zu einem persönlichen, unmittelbar gegenwärtigen Gott, der allmächtig ist zu geben und zu verderben; und sie hat ihn, den Menschen, in ein moralisches Verhältnis zu diesem Gott gebracht, indem der Gott in seiner Allmacht Gebote erliess, die der Mensch frei ist zu befolgen oder nicht zu befolgen.“126 Christus, von all diesen Vorstellungen erfüllt, habe den Lebenswillen der Juden nicht etwa verneint, sondern ihm eine neue Richtung gegeben, nämlich in die Innerlichkeit: „Und brachte er auch der Welt eine ganz neue Botschaft, wirkte auch sein Leben wie das Anbrechen eines neuen Morgens, war seine Persönlichkeit auch eine so göttlich grosse, dass sie uns eine Kraft im menschlichen Innern entdeckte, fähig – wenn das je begriffen würde – die Menschheit völlig umzuwandeln: so waren doch nichtsdestoweniger die Persönlichkeit, das Leben und die Botschaft an die grundlegenden Ideen des Judentums gebunden; nur in diesen konnten sie sich offenbaren, betätigen und kundtun.“127 Der inhaltliche Kern dieser neuen Botschaft sei die Verlagerung des Reiches Gottes in das Innere des Menschen. Jesus habe eigentlich keine Lehre hinterlassen, sondern einen unverwechselbaren Ton als das „Persönlichste seiner Persönlichkeit“: „sein wie Christus war, leben wie Christus lebte, das ist das Reich Gottes, das ist das ewige Leben.“128 Das entspreche der Tatsache, daß allein die „Persönlichkeit“ religiös produktiv sei; nicht philosophische oder mythologische Spekulation, sondern nur die „Erfahrung grosser Charaktere“.129 Der Eindruck, den die charismatische Persönlichkeit Christi auf seine Zeitgenossen gemacht habe, sei so überwältigend gewesen, daß man tatsächlich glaubte, er bewirke Wunder.130 Für die Gegenwart sei es unbedeutend, ob er tatsächlich Wunder gewirkt habe, denn schon Christus selbst sei es „einzig und allein auf die innere Umwandlung“ angekommen.131 Diese innere Umwandlung habe zu einer Revolution der Ethik geführt; nicht zu der Aufstellung einer Sklavenmoral, wie eine verfehlte Lesart der Bergpredigt nahelege, sondern zu einer moralischen Erhebung über die Natur und das Naturhafte im Menschen: „Was das Griechentum für den Intellekt, das tat Christus für das sittliche Leben: eine sittliche Kultur hat 126 127 128 129 130 131
Chamberlain, Grundlagen, S. 246. Chamberlain, Grundlagen, S. 249. Chamberlain, Grundlagen, S. 201. Chamberlain, Grundlagen, S. 193–195. Vgl. Chamberlain, Grundlagen, S. 202. Chamberlain, Grundlagen, S. 202–203.
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die Menschheit erst durch ihn gewonnen. Vielmehr müsste ich sagen: die Möglichkeit einer sittlichen Kultur; denn das kulturelle Moment ist jener innere, schöpferische Vorgang, die freiwillige, herrische Umkehr des Willens, und gerade dieses Moment blieb mit wenigen Ausnahmen gänzlich unbeachtet.“132 Die Erscheinung Christi, so meinte Chamberlain, „bedeutet den Morgen eines neuen Tages; er gewann der alten Menschheit eine neue Jugend ab, und so wurde er auch der Gott der jungen, lebensfrischen Indoeuropäer, und unter dem Zeichen seines Kreuzes richtete sich auf den Trümmern der alten Welt eine neue Kultur langsam auf, an der wir noch lange zu arbeiten haben, soll sie einmal in einer fernen Zukunft den Namen ‚christlich‘ verdienen.“133 Für dieses Ziel sei es am wichtigsten, von der Erscheinung Christi das „drohend gefährliche spezifisch Jüdische“ zu trennen.134 Den christlichen Kirchen, so führte Chamberlain in einem Kapitel über die „Religion“ aus, sei dies bislang nicht gelungen. Der „gesamte Oberbau“ der Kirchen stehe ohnehin „ausserhalb der Persönlichkeit Jesu Christi“.135 Das hänge historisch damit zusammen, daß das Christentum in einem „religiösen Taumel“ entstanden sei, und das habe dazu geführt, daß das historische Christentum faktisch ein „Zwitterwesen“ sei.136 Die beiden einander widerstrebenden und zu einem explosiven Amalgam verbundenen Hauptpfeiler des Christentums seien das Judentum und das Indoeuropäertum, genauer: „jüdischer historisch-chronistischer Glaube und indoeuropäische symbolische und metaphysische Mythologie.“137 Diese beiden Hauptpfeiler kämpften innerhalb der christlichen Kirchen permanent um Vorherrschaft, von der Auseinandersetzung zwischen Judenund Heidenchristen an bis hin zu den Streitigkeiten der Reformation, ohne daß es zu einer befriedigenden Lösung gekommen sei.138 Dabei stammten die äußere wie die innere Mythologie des Christentums aus arischem Gedankengut: von der Trinitätslehre bis zur Inkarnation, und selbst konkrete Vorstellungen wie die Jungfrauengeburt seien keine exklusiven Schöpfungen des Christentums. Wichtiger noch sei aber der Komplex der inneren Mythologie, die den Vorstellungszusammenhang von Erlösung, Sünde und Gnade umfasse.139 Dies alles sei dem Judentum vollkommen fremd, was 132 133 134 135 136 137 138 139
Chamberlain, Grundlagen, S. 207. Chamberlain, Grundlagen, S. 209. Chamberlain, Grundlagen, S. 250–251. Chamberlain, Grundlagen, S. 545. Chamberlain, Grundlagen, S. 548–549. Chamberlain, Grundlagen, S. 550. Vgl. Chamberlain, Grundlagen, S. 550. Vgl. Chamberlain, Grundlagen, S. 553–563.
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man sehr deutlich daran sehe, daß die jüdische Tora zwar die Sündenfallgeschichte kenne, damit aber keineswegs die Vorstellung einer menschlichen Erbsünde verbinde.140 Aus dem Judentum habe das Christentum dagegen den unbedingten Willen zum Leben übernommen, der historisch mit Unduldsamkeit und Glaubenszwang einhergegangen sei: „Der arische Drang, Dogmen aufzustellen [. . .], ging eine verhängnisvolle Ehe ein mit der historischen Beschränktheit und der prinzipiellen Unduldsamkeit des Juden.“141 Und auch das konkrete innere Glaubensgerüst des Christentums stamme aus dem Judentum, wie etwa das Prinzip von Strafe und Belohnung als Grundlage von Glaube und Ethik: „Denn die geringste Überlegung wird uns davon überzeugen, dass die Vorstellung der Erlösung und der Willensumkehr, wie sie den Indoeuropäern schon vielfach vorgeschwebt hatte und wie sie durch den Mund des Heilandes ewigen Ausdruck fand, von allen jenen gänzlich abweicht, welche das irdische Tun durch posthume Bestrafung und Belohnung vergelten lassen.“142 Genau dieser jüdische Geist habe sich aber historisch in den christlichen Konfessionen durchgesetzt, ebenso wie die „Judenbibel“ und ihr Geschichtsglaube.143 Das gelte auch für den Protestantismus, der „keine lebendige Kraft“ sei, weil er abstrakt und mit römischem Aberglauben infiziert geblieben sei; die römische Kirche dagegen sei durch ihren Dogmatismus zwar ebenfalls schwach, aber wenigstens konsequent.144 Der Kampf zwischen germanischem und jüdischem Geist beschäftige aber nicht nur die Kirchen als Ganze, sondern beherrsche „das Herz eines jeden Christen.“145 Immerhin habe die weitgehende Trennung von Staat und Kirche im Laufe des 19. Jahrhunderts „eine merkliche Belebung des religiösen Interesses“ herbeigeführt, was Grund zur Hoffnung gebe.146 Es sei aber insgesamt undenkbar, „dass unsere werdende Kultur jemals eine wahre Reife erlangen kann, wenn nicht die ungetrübte Sonne einer reinen, einheitlichen Religion sie erhellt; dadurch erst würde sie aus dem ‚Mittelalter‘ heraustreten.“147 Gemeint sei damit aber nicht der „Wahngedanke“ einer Weltreligion, wie der römische Katholizismus ihn vertrete, sondern ein neues, „germanisches Christentum“ als Folge einer „Wiedergeburt idealer Gesinnung“, bei der „die fremden Fetzen, die noch an unserem Christentum wie Paniere obliga140 141 142 143 144 145 146 147
Vgl. Chamberlain, Grundlagen, S. 564. Chamberlain, Grundlagen, S. 572. Chamberlain, Grundlagen, S. 573. Chamberlain, Grundlagen, S. 574–576. Chamberlain, Grundlagen, S. 645. Chamberlain, Grundlagen, S. 577. Chamberlain, Grundlagen, S. 578. Chamberlain, Grundlagen, S. 577.
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torischer Heuchelei und Unwahrhaftigkeit hängen“, heruntergerissen würden und der Weg frei werde zu einer Religion, „so unmittelbar überzeugend, so hinreissend schön, so gegenwärtig, so plastisch beweglich, so ewig wahr und doch so neu, dass wir uns ihr hingeben müssen“.148 Chamberlain hatte hier die Impulse der Deutschen Bewegung zu einem Genie-Individualismus, einer Hochschätzung des (eigenen) Volkes und einer Verinnerlichung der christlichen Religion aufgenommen und sie mit Hilfe des Zentralgegensatzes zwischen Germanen und Juden zu einem weltanschaulichen Ganzen verarbeitet.149 Damit befand er sich am Anfangspunkt einer Strömung, die man die „völkische Bewegung“ genannt hat.150 Der Begriff kam in der Mitte der 1870er Jahre auf und wurde bald als Sammelbegriff für verschiedene Bestrebungen verwendet, die den Umbrüchen der Moderne durch eine forcierte Orientierung an der eigenen Überlieferung begegnen wollten.151 Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten innerhalb der völkischen Bewegung sind an der Religion gut erkennbar, die der „archimedische Punkt“152 völkischer Weltanschauung war. Einig waren sich die Völkischen in dem Streben nach einer religiösen Erneuerung und der dabei not148
Chamberlain, Grundlagen, S. 645–646. Vgl. dazu Robert Hepp: „Von Fichte und Arndt über Paul de Lagarde, Houston Stewart Chamberlain und Arthur Bonus bis zu Friedrich Andersen, Max Maurenbrecher und Ernst Bergmann reicht eine geschlossene Kette geistiger Überlieferung, die den ‚deutschen Gott‘ und den ‚deutschen Glauben‘ immer markanter profiliert.“ (Hepp, S. 28) Natürlich hat die Aufstellung einer solchen Traditionskette immer etwas Willkürliches. Die Aufnahme der genannten Impulse der Deutschen Bewegung bei Chamberlain ist aber eine Tatsache, genau wie Chamberlains Hochschätzung der Vertreter der Deutschen Bewegung, allen voran Kant und Goethe, denen er jeweils eigene Bücher widmete. 150 Vgl. zu den Anfängen der völkischen Bewegung vor allem Puschner, Die völkische Bewegung, insbesondere S. 10–25. 151 Zur Begriffsgeschichte vgl. Puschner, Die völkische Bewegung, S. 27–28. Zur Heterogenität der Völkischen und ihrem Charakter als „Sammelbewegung“, die sich nur im gemeinsamen „Endziel“ einer „Wiedergeburt des deutschen Volkstums“ trafen, vgl. Puschner, Die völkische Bewegung, S. 263–288. Auf diesen gemeinsamen Bezugspunkt der Völkischen weist auch Karlheinz Weißmann hin, wenn er die völkische Bewegung interpretiert als „das Produkt einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft. Sie suchten der Identitätskrise, die um 1890 in Deutschland in bis dahin unbekannter Weise zum Ausbruch kam, nicht durch den Entwurf einer Utopie zu begegnen – wie das die Sozialisten taten – sondern durch Orientierung an der fernsten, mythischen Vergangenheit“ (Weißmann, Druiden, S. 35). Stefan Breuer sieht als Grund dieser Verunsicherung in erster Linie einen „Verlust der Harmonie“, dessen Ursache wiederum „der Übergang von der ersten beziehungsweise liberalen Moderne zur zweiten beziehungsweise Postmoderne“ gewesen sei, also der „Niedergang der bürgerlichen Lebensform und de[r] Aufstieg der Massendemokratie“ (Breuer, S. 12–13). 152 Puschner, Die völkische Bewegung, S. 17. 149
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wendigen Orientierung auf die deutsche und germanische Überlieferung; uneinig war man sich in der Stellung zum Christentum. Grob typisierend kann man dabei die Fraktion der „Deutschchristen“ von derjenigen der dezidiert nichtchristlichen „Völkisch-Religiösen“ unterscheiden.153 Die Grenzlinien waren dabei allerdings fließend; jemand wie der ehemalige liberalprotestantische Pfarrer Arthur Bonus beispielsweise propagierte zwar ganz deutschchristlich eine „Germanisierung des Christentums“, fügte aber gleich hinzu: „Ob im übrigen das, was bei dem Umschöpfungsprozeß herauskommt, noch Christentum zu nennen sein wird, lasse ich ausdrücklich unerörtert – und zwar, weil es völlig gleichgültig ist.“154 153 Vgl. Puschner, Die völkische Bewegung, S. 204–262. Dieselbe Typologie vertreten Ingo Wiwjorra und Karlheinz Weißmann: vgl. Wiwjorra, S. 70–71 und S. 345–346; vgl. Weißmann, Druiden, S. 36–48. Umstritten ist höchstens die Frage, ob die „Deutsche Bewegung“ bereits zur völkischen Bewegung dazugehört oder nicht und damit zusammenhängend, ob die „Deutschchristen“ das Verbindungsglied bilden, selbst aber noch nicht im strengen Sinn zu den Völkischen gehören. Eine im Prinzip durchgehende Verbindungslinie zwischen diesen drei Größen – Deutsche Bewegung, Deutschchristen und Völkischen – wird von Hans Hohlwein, Heinrich Weinel und Robert Hepp behauptet: vgl. Hohlwein, Sp. 1427–1430; vgl. Weinel, Sp. 1617–1623; vgl. Hepp, S. 28. Weinel war bis 1912 Vorstandsmitglied der „Vereinigung der Freunde der Christliche Welt“ gewesen, war politisch nationalliberal und bemühte sich während der nationalsozialistischen Herrschaft um einen Ausgleich zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche. Von diesem lutherisch geprägten, theologisch liberalen Standpunkt aus beurteilte er 1931 den religiösen Impuls besonders der Deutschchristen sehr differenziert: „Das Christentum hat unserer zu Mystik und Tiefsinn neigenden Rasse, die wohl heldisch aufflammen, aber wenig mit zähem Willen erhalten kann, die dazu neigt, das äußere Leben über dem inneren zu vergessen, erst die Kraft und den Zukunftswillen in die Adern gegossen, die sie allmählich im Abendland entwickelt hat [. . .]. Umgekehrt hat das Deutschtum dem Christentum eine besonders innige Heimatlichkeit und Naturverbundenheit geschenkt [. . .], hat ihm die Vollendung der Mystik [. . .] gebracht und die Baukunst des Mittelalters [. . .], dann aber auch wieder die Ueberwindung der Gesetzlichkeit und der Mystik in der deutschen Gewissenhaftigkeit und Tapferkeit Luthers. Endlich hat der Deutsche Idealismus den Glauben Luthers mit einem edlen Glauben an Geist, Mensch und Welt verbunden und der Welt die tiefste Philosophie geschenkt, die sie besitzt.“ (Weinel, Sp. 1625). 154 Bonus, S. 2. Zum Selbstverständnis der Deutschchristen und Völkischen als modern siehe Bonus, S. 12–13: „Es ist gleichgültig, ob man formuliert: Modernisierung des Christentums oder Germanisierung. Eine modernere Gestalt des Christentums kann für uns nur eine deutschere Gestalt sein, eine deutschere Gestalt des Christentums wird von selbst eine modernere sein.“ Eine sowohl von Deutschchristen als auch von Völkisch-Religiösen in Anspruch genommene frühe Figur des Übergangs ist darüber hinaus Paul de Lagarde, der einerseits das Evangelium in einer „deutschen Ausgabe“ (Lagarde, Über das Verhältnis, S. 155) forderte, andererseits aber meinte, es bestehe ein unversöhnlicher Gegensatz zwischen römischem Universalismus und germanischem Partikularismus und damit zwischen Weltreligion und nationaler Religion (Lagarde, Religion der Zukunft, S. 295). Vgl. zu Bonus und der Diskussion seiner Thesen Maron, S. 313–318. Maron verweist in diesem Zu-
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Die eigentlich Völkisch-Religiösen waren allerdings davon überzeugt, daß eine neue Reformation des Christentums aussichtslos sei und daß man den Bruch offen vollziehen müsse. Einer ihrer Köpfe, Ernst Wachler, propagierte einen germanisch-deutschen Glauben, dessen Hauptpunkte – „reine Naturauffassung, Weltbejahung, eine selbstherrliche Lebens- und Sittenanschauung“155 – dem Christentum diametral entgegenstanden. Die 1912 gegründete „Germanische Glaubens-Gemeinschaft“ entwarf sogar ein eigenes alternatives Glaubensbekenntnis. Das Christentum wurde als Überfremdungsreligion abgelehnt und dagegen positiv festgehalten, daß man statt an einen persönlichen Gott an eine in der Natur wirkende Kraft glaube, und außerdem anstelle des christlichen Sündenbegriffs die Selbsterlösung des Menschen setze.156 Doch selbst innerhalb solcher dezidiert antikirchlicher Gruppierungen kam es angesichts unterschiedlicher Bewertungen der Gestalt Christi zu Spaltungen; die Zahl der organisierten Neuheiden vor 1914 hat zu keinem Zeitpunkt die 200 überschritten.157 Der Gegensatz solcher radikalen Ablösungsversuche zu dem Deutschchristentum Chamberlains springt sofort ins Auge. Zwar kritisierte auch er große Teile der christlichen Tradition, und auch er lehnte eine „alttestamentarisch“ verstandene Personalität und Anthropomorphie Gottes ab. Aber er beharrte auf der religiösen Einmaligkeit der Erscheinung Christi, die den ganzen Gottesbegriff radikal verändert habe und stellte gerade dessen Persönlichkeit ins Zentrum der Betrachtung. Außerdem plädierte er dafür, daß die Vorstellung von der prinzipiellen Angewiesenheit des Menschen auf gnadenvolle (Fremd-)Erlösung der Wirklichkeit wesentlich angemessener sei als die – seiner Meinung nach eigentlich jüdische – Auffassung, der Mensch könne sich selbst erlösen. Zu diesem Befund paßt auch, daß der Bayreuther Kreis den Völkisch-Religiösen in kritischer Distanz gegenüberstand.158 Das „Bayreuther Christensammenhang auch auf die Debatte über die Reformation und Luther als „Germanisierer“ des Christentums, an der vor allem Reinhold Seeberg beteiligt war: vgl. Maron, S. 320–333. Was bei Maron allerdings etwas zu kurz kommt, ist die – mit Schleiermacher auch in der Theologie vertretene – Tradition der „Deutschen Bewegung“, auf die man sich mit dieser These berufen konnte. Siehe dazu die Ausführungen weiter oben in diesem Kapitel. Schon Heinz Gollwitzer hat dagegen gezeigt, daß die Vorstellung, der Protestantismus sei die „dem germanischen Geist und Wesen besonders angemessene Form des Christentums“, eine „seit dem 19. Jahrhundert unter Protestanten germanischer Länder fast allgemein rezipierte Überzeugung“ gewesen sei (Gollwitzer, Zum politischen Germanismus, S. 318). 155 Wachler, S. 12. 156 Germanische Glaubens-Gemeinschaft, Das Deutsche Buch, S. 22; Reuter, Sigfrid oder Christus, S. 64; Fahrenkrog, Selbsterlösung, vor allem S. 15–16. 157 Vgl. Puschner, Die völkische Bewegung, S. 214 und 240–248. Vgl. zu dem ganzen Komplex auch Puschner/Schmitz/Ulbricht.
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tum“159 war dabei eindeutig deutschchristlich orientiert – propagiert wurden eine Verbindung von Christentum und „Deutschtum“ und damit zusammenhängend eine „Entjudaisierung“ des Christentums.160 Hans von Wolzogen, der Herausgeber der Bayreuther Blätter, suchte allerdings darüber hinaus seit Ende der 1880er Jahre verstärkt das Bündnis mit dem „positiven“ Lager auf protestantischer Seite. In einem offenen Brief an Chamberlain hatte er darauf verwiesen, daß er zwar an der Reformbedürftigkeit der evangelischen Kirche nicht zweifle, daß aber gerade die protestantische „Orthodoxie“ den Kern des Christentums bewahre, wenn sie an der Göttlichkeit des Erlösers festhalte.161 Chamberlains Antwort war charakteristisch: Zwar sei ihm „innerhalb der Kirche“ der „orthodoxe Standpunkt“ der „einzige sympathische“, sein eigener Standpunkt liege aber „ganz außerhalb des Kreises“, in dem sich die Erörterung bewege.162 All diese Versuche einer religiösen Erneuerung durch Deutschchristentum und die beginnende gänzliche Ablösung religiöser Deutungsmuster vom Christentum bei den Völkisch-Religiösen waren Anzeichen für die „vagierende Religiosität“163 des wilhelminischen Kaiserreiches. Wilhelm II. hatte bereits Mitte der 1880er Jahre durch die Vermittlung Eulenburgs die Begeisterung für germanische Mythologie kennengelernt, doch erst die Lektüre von Chamberlains Grundlagen Anfang 1901 zeigte tiefere Wirkung.164 Laut Aussage von Philipp Eulenburg war es die Verkündigung der „Mission des Deutschtums“, die den Kaiser in Bann schlug.165 Bestätigt wird das durch Wilhelms Memoiren, in denen er ausführte, das „Germanentum in seiner Herrlichkeit ist dem erstaunten deutschen Volk erst durch Chamberlain in seinen ‚Grundlagen des XIX. Jahrhunderts‘ klar gemacht und gepredigt worden.“166 Eulenburg war es auch, der zwischen Kaiser und Chamberlain ein Treffen arrangierte. Ende Oktober 1901 besuchte Chamberlain Wilhelm für zwei Tage in Liebenberg, bei Eulenburg zu Hause. Eulenburg berichtet über das Zusammentreffen, daß am ersten Abend der Kaiser trotz der Anwesenheit auch anderer Gäste ausschließlich mit Chamberlain gesprochen habe. Für den nächsten Tag habe der Kaiser Anweisung gegeben, Harnack 158 Vgl. dazu Schüler, S. 268–278; vgl. auch Kraus, Kunst, Religion und Politik, S. 386–390. 159 Schüler, S. 270. 160 Andersen, Deutschchristentum, S. 38. Vgl. dazu auch Schüler, S. 273. 161 Wolzogen, Unter uns, S. 186–196. 162 H. S. Chamberlain an Wolzogen, 13.7.1895 (Chamberlain-Nachlaß, Bayreuth), in: Schüler, S. 272. 163 Nipperdey, Religion im Umbruch, S. 151. 164 Vgl. Eulenburg, Erlebnisse, S. 321–323. Vgl. auch Field, S. 249. 165 Eulenburg, Erlebnisse, S. 321. 166 Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten, S. 154.
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aus Berlin kommen zu lassen, weil es in dem Gespräch um Fragen gegangen sei, über die Harnack Aufklärung geben könne.167 Zwischen Harnack und Wilhelm II. war es im selben Jahr, 1901, zu persönlichem Kontakt gekommen, nachdem Wilhelm die Festrede Harnacks zur Zweihundertjahrfeier der Wissenschaftsakademie gehört hatte und von Harnacks Vorschlägen zu umfassenden wissenschaftspolitischen Reformen begeistert war.168 Das genaue Thema, das Wilhelm, Chamberlain und Harnack miteinander besprachen, ist nicht bekannt. Eulenburg schildert lediglich die Art der Gesprächsführung: „Der Kaiser führte, wie gewöhnlich, das Wort – und zwar recht gut, denn er spricht immer eindringlich und sicher. In Harnack entstand ihm der scharf und logisch dozierende Professor als ein Gegner, dessen geistreiche Bemerkungen und tiefes Wissen – doch in einer geschmeidigen Form gesprochen – eindrucksvoll wirkten. Chamberlain ist mehr mit seinem Feuergeist und seinen eine Welt ausdrückenden Augen und Blicken die Natur des Gelehrten, der sich lieber schreibend mitteilt als auf einem Katheder. Er war – wenn auch der Tiefste, und dessen Bemerkungen das Innerste und Wesentlichste trafen, [!] doch eher der Schweigsamste in dieser Runde.“169 Als Gesprächsthema nennt Eulenburg nur die bereits von ihm erwähnte „Mission des Deutschtums“.170 Die Bedeutung des Treffens erklärt sich daher auch weniger aus dem Inhalt der Gespräche, sondern aus den intensiven Briefkontakten, die in der Folge entstanden. Harnack und Chamberlain tauschten sich in den folgenden knapp zwanzig Jahren regelmäßig und vor allem über die neu erschienenen Bücher Chamberlains aus.171 Die Korrespondenz fand in dem beiderseitigen Bewußtseins statt, daß ihre Positionen prinzipiell unvereinbar waren – Harnack warf Chamberlain bei aller Begeisterung über dessen 1912 erschienene Goethebuch vor, von einem „antijüdischen Dämon“172 besessen zu sein, und Chamberlain schrieb an Cosima Wagner über Harnack, „geistig fühle ich mich durch eine Welt von ihm getrennt. Er ist durch und durch Theolog und durch und durch Professor; der Geist Luthers hat ihn nicht berührt, sondern nur der Geist Ritschls – und das sind verschiedene 167
Vgl. Eulenburg, Erlebnisse, S. 330–331. Vgl. Zahn-Harnack, Harnack, S. 261–262; vgl. auch Bruch, S. 25. Es ist unsicher, ob Wilhelm II. bei Harnacks Vortrag anwesend war, aber den von Harnack verfaßten Band zur Akademiegeschichte wird er ebenso zur Kenntnis genommen haben wie die öffentliche Präsentation Harnacks als wissenschaftlicher Modernisierer durch die Rede: vgl. Nottmeier, S. 245–246. 169 Eulenburg, Erlebnisse, S. 333. 170 Eulenburg, Erlebnisse, S. 334. 171 Vgl. die Edition des Briefwechsels zwischen Harnack und Chamberlain in Kinzig, S. 207–294. Vgl. auch Zahn-Harnack, Harnack, S. 272–274. 172 Harnack an Chamberlain, 13.11.1912, in: Kinzig, Nr. 14, S. 263. 168
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Dinge.“173 Dennoch ist die Dauer des Kontakts ebenso erstaunlich wie der höfliche und respektvolle Ton, in dem miteinander diskutiert wurde.174 Wolfram Kinzig hat das damit erklärt, daß Chamberlain und Harnack sich inhaltlich in einem „Antidogmatismus“ trafen und Harnack außerdem von Chamberlains Integration des Christentums in ein Konzept nationalromantischer Kulturerneuerung fasziniert gewesen sei.175 Theologisch trafen sie sich außerdem in ihrer gemeinsamen Ablehnung des Alten Testaments, das im Kern jüdisch sei und das christliche Gottesbild, wie das Neue Testament es verkünde, nicht adäquat zum Ausdruck bringe.176 Dieses Zusammengehen zeigt die „offene Flanke“177, die die liberale Theologie zum völkischen Denken aufwies, und überhaupt eine Verbindungslinie, die vom liberalen Protestantismus zu deutsch-christlichen und sogar zu völkisch-religiösen Positionen bestand, wie etwa die Beispiele von Friedrich Naumann und Arthur Bonus zeigen.178 Noch intensiver aber wurde der unmittelbar nach dem Liebenberger Treffen begonnene und bis zum Tod Chamberlains 1927 andauernde Briefwechsel zwischen Chamberlain und Wilhelm II. Kern des gegenseitigen Einverständnisses war die gemeinsame Vorstellung eines besonderen Kulturauftrags der Deutschen. Am 15. November 1901, zwei Wochen nach der persönlichen Begegnung, schrieb Chamberlain dem Kaiser, „daß das mora173
Chamberlain an Cosima Wagner, 11.12.1902, in: Kinzig, S. 215. Vgl. Kinzig, S. 207–215. 175 Vgl. Kinzig, S. 229–231. Christian Nottmeier bestreitet dagegen jede ernsthafte inhaltliche Gemeinsamkeit zwischen Harnack und Chamberlain, kann dann aber nicht erklären, wie es überhaupt zum über Jahrzehnte gehenden regelmäßigen Austausch gekommen ist und konstatiert nur ein „kompliziertes Verhältnis“ der beiden: Nottmeier, S. 253–259. 176 Vgl. Kinzig, S. 152–153, S. 203–205 und S. 299–302. Besonders deutlich wurde diese Gemeinsamkeit, als Chamberlain sich im Vorwort der zweiten Auflage seines 1921 erschienenen Buches Mensch und Gott positiv auf Harnacks Bewertung Marcions, des Häretikers des 2. Jahrhunderts n. Chr., bezog: siehe dazu Kapitel H. III. 177 Kinzig, S. 24. Vgl. dazu auch Graf, Liberaler Protestantismus, vor allem S. 174–178. Graf meint, die liberalprotestantischen Kulturstaatskonzepte mit ihren Grundelementen „Persönlichkeitspathos, hohe Kulturhomogenität, Kulturstaatsideal“ erklärten die „Ambivalenz im Spektrum der Einstellungen von Kulturprotestanten gegenüber dem Nationalsozialismus“. (Graf, Liberaler Protestantismus, S. 176). 178 Zu Leben und Werk Friedrich Naumanns vgl. Dingel; zu Bonus vgl. Mohler/ Weißmann, S. 429. Bereits in dem 1899 erschienenen Reisebericht Asia äußerte Naumann Verständnis für diejenigen, die das Christentum als fremde „asiatische Religion mit konstantinopolitanischem Dogma“ hielten und sich die „Naturgedanken unserer vom Jordanwasser noch unberührten Ahnen“ zurückwünschten, betonte aber zugleich: „Hinter Jesus giebt es keine neue Religion wieder, sondern nur religiösen Verfall.“ (Naumann, Asia, S. 119–120.) 174
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lische und geistige Heil der Menschheit von dem abhängt, was wir das Deutsche nennen können. In jener ‚moralischen Weltordnung‘, von der Eure Majestät in Liebenberg öfters sprachen, bildet augenscheinlich das deutsche Element den Angelpunkt.“179 In seiner Antwort wurde Wilhelm hymnisch, meinte, „Ihr Buch dem deutschen Volke und Sie persönlich mir sandte Gott, das ist bei mir ein unumstößlich fester Glaube“180, und machte deutlich, daß es tatsächlich die von Chamberlain in Aussicht gestellte Weltbedeutung des Deutschtums war, die es ihm angetan hatte: „Da kommen Sie, mit einem Zauberschlage bringen Sie Ordnung in den Wirrwarr, Licht in die Dunkelheit; Ziele, wonach gestrebt und gearbeitet werden muß; Erklärung für dunkel Geahntes, Wege, die verfolgt werden sollen zum Heil der Deutschen und damit zum Heil der Menschheit! Sie singen das Hohelied vom Deutschen und vor allem von unserer herrlichen Sprache und rufen dem Germanen bedeutsam zu: ‚Laß ab von deinen Streitigkeiten und Kleinlichkeiten, deine Aufgabe auf der Erde ist: Gottes Instrument zu sein für die Verbreitung seiner Kultur, seiner Lehren! Darum vertiefe, hebe, pflege deine Sprache und durch sie Wissenschaft, Aufklärung und Glauben!‘ Das war eine Erlösung!“181
Das Gespräch und die Lektüre von Chamberlains Schriften hatte bei Wilhelm II. also eine persönliche Klärung ergeben: Wilhelm fand bei Chamberlain eine Begründung für seinen Kulturoptimismus und interpretierte dessen Werk als Bestätigung und Systematisierung des eigenen politischen Ziels nationaler Integration und kultureller Expansion.182 Den von Chamberlain selbst ins Zentrum der Darstellung gerückten Rassengegensatz stellte Wilhelm II. in der Anfangsphase des Briefwechsels interessanterweise in den Hintergrund. Zwar polemisierte er gegen „Rom“ und nannte Chamberlain seinen „Streitkumpan und Bundesgenossen im Kampf für Germanen gegen Rom, Jerusalem usw.“183, aber auf die brieflichen Erörterungen Chamberlains zur Rassenthematik ging er nicht weiter ein.184 Das aus vier Aufsätzen bestehende Vorwort zur vierten Auflage der Grundlagen, das Chamberlain Wilhelm zusandte, ließ dieser im kleinen Kreis lesen und dis179 H. S. Chamberlain an Kaiser Wilhelm II. vom 15.11.1901, Chamberlain, Briefe II., S. 137. 180 Kaiser Wilhelm II. an H. S. Chamberlain vom 31.12.1901, Chamberlain, Briefe II, S. 143. 181 Kaiser Wilhelm II. an H. S. Chamberlain vom 31.12.1901, Chamberlain, Briefe II, S. 142. 182 Zu diesen beiden Zielen siehe Kapitel D. II. und Kapitel F. Zu dem Offenbarungserlebnis, das die Chamberlain-Lektüre bei Wilhelm II. auslöste, vgl. auch Benner, S. 120. 183 Kaiser Wilhelm II. an H. S. Chamberlain vom 31.12.1901, Chamberlain, Briefe II, S. 143. 184 Vgl. H. S. Chamberlain an Kaiser Wilhelm II. vom 20.2.1902, Chamberlain, Briefe II, S, 148–165.
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kutieren, sparte dabei aber den Text zur Rassenfrage aus und konzentrierte sich ab 1902 zunehmend auf die Religionsthematik. Dazu hatte Chamberlain geschrieben: „Nichts auf der Welt liegt mir so sehr am Herzen, wie die Wiedergeburt reiner und glühender Religiosität, und hier weiß ich mich mit Eurer Majestät völlig einig. [. . .] Unser innerstes Seelenleben wird ja zerrissen durch einen aufgezwungenen historischen Glauben, der allem, was wir – dank unserer organisch gewachsenen, wahrhaftigen Wissenschaft – wissen und allem, was wir – dank den gesetzlichen Notwendigkeiten unserer erhabenen Philosophie – denken, schnurstracks widerspricht. Die semitischen Wahngedanken müssen als solche erkannt, das Gespinst historischer Fälschungen, das unseren freien Geist umgibt, muß abgestreift werden, damit wir endlich überhaupt Religion bekommen – Religion an Stelle von bloßer Superstition.“185 Diesen Faden nahm Wilhelm II. im November 1902 in aller Öffentlichkeit wieder auf. Bei der Einweihung der „Ruhmeshalle“ in Görlitz hielt der Kaiser eine Rede, die von der Thematisierung des Germanentums durchzogen war und deren Schlußteil lautete: „Wir stehen an der Schwelle der Entfaltung neuer Kräfte; unsere Zeit verlangt ein Geschlecht, das sie versteht. [. . .] Möge deswegen die zukünftige Zeit ein Geschlecht heranwachsen sehen, das in voller Erkenntnis dieser Tatsachen in freudiger Arbeit Individuen entwickelt, die sich unterordnen zum Wohl des Ganzen und zum Wohl des Volkes und des Vaterlandes. [. . .] Freiheit für das Denken, Freiheit in der Weiterbildung der Religion und Freiheit für unsere wissenschaftliche Forschung, das ist die Freiheit, die Ich dem deutschen Volke wünsche und ihm erkämpfen möchte, aber nicht die Freiheit, sich nach Belieben schlecht zu regieren.“186
Drei Wochen nach der Rede schrieb Wilhelm Chamberlain einen Antwortbrief, in dem er sich für die Zusendung des neuen Grundlagen-Vorwortes und den ausführlichen Begleitbrief bedankte: „Die Hauptpunkte, unsere Zukunft, ihre Aufgaben betreffend, habe ich als Programm in Görlitz ‚point blanc‘, wie der Brite sagt, unter die Zuhörer gefeuert. Ich war ja so froh, daß Sie dem, was ich innerlich fühlte und was in mir rang, in so lapidarischer Weise Form und Worte verliehen hatten. [. . .] Zu meinem Erstaunen habe ich bald erfahren und gesehen, daß im Lande die Aufnahme eine günstige war. Von den Universitäten und Professoren war das natürlich, und von dort klang es hell und dankbar zurück. Aber auch ‚Nichtfachleute‘ hatte es gepackt. Nur die Orthodoxie von rechts und links grollte! Sie hat einen argen Schreck über die ‚Weiterbildung unserer Religion‘ bekommen und kaut seitdem an dem 185
H. S. Chamberlain an Kaiser Wilhelm II. vom 20.2.1902, Chamberlain, Briefe II, S. 154. 186 In Görlitz, 29.11.1902: Penzler III, S. 139–140; Obst, Die politischen Reden, Nr. 145, S. 252–254; Schröder, Tagebuch, S. 52–54.
IV. Bibel und Babel
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Ausdruck herum, ohne ihn verstehen zu wollen oder zu können. Möge das Samenkorn Frucht bringen!“187
Auch hier kam wieder eine Art Grunderfahrung zustande, die der Kaiser bei der Lektüre Chamberlains offenbar wiederholt machte: Bei Wilhelm selbst bereits in unklarer Form vorhandene Gedanken seien durch Chamberlain geklärt und damit auch gefestigt worden. Ging es im Nachklang des Liebenberger Treffens um die welthistorische „Mission des Deutschtums“, so war es hier eben die notwendige „Weiterbildung der Religion“. Wilhelm hatte in Görlitz angedeutet und privat gegenüber Chamberlain expliziert, daß auch er von der Notwendigkeit einer religiösen Erneuerung und Reform, eben einer „Weiterbildung“, überzeugt war. Das gilt offenbar trotz gewisser Vorbehalte, die der Kaiser Chamberlain gegenüber anmeldete: „Ja das Alte Testament! Und gar die Genesis! Ei! Ei! Das waren doch gar überraschende Dinge, die Sie daraus mitteilten, und ungern läßt man vom Althergebrachten. Aber ich habe den Eindruck, daß doch allmählich klar wird, worauf es dabei ankommt, und das habe ich bei den Kontroversen stets betont. Wir haben den Heiland, und der muß für uns die Hauptsache sein und voranstehen, und mit dem muß man sich völlig beschäftigen. Von dem aus kann man auf das Alte Testament ‚rückwärts konstruieren‘! He is a fact! Zumal für uns; was vor ihm war, ist eine Erläuterung, soweit sie nachweisbar ist, ein Hinweis auf Ihn! Aber für uns jetzt muß absolut das ‚Ich aber sage euch‘ des Herrn Jesus Christus gelten.“188
Man spürt hier den instinktiven Widerwillen eines traditionell christlich erzogenen Kaisers gegen die Infragestellung des Alten Testaments, aber auch seine Bereitschaft, sich intellektuell aufgeschlossen damit auseinanderzusetzen. In aller Öffentlichkeit tat Wilhelm II. das Anfang 1903 im Zuge des sogenannten „Babel-Bibel-Streites“.
IV. Bibel und Babel Die beiden Briefe zwischen Chamberlain und Wilhelm von 1902 sowie Chamberlains Vorwort zur vierten Auflage der Grundlagen gehören bereits zur Vorgeschichte des Babel-Bibel-Streites.189 Begonnen hatte alles mit einem Vortrag, den der Assyriologe Friedrich Delitzsch am 13. Januar 1902 unter dem Titel Babel und Bibel in Anwesenheit des Kaisers vor der Deutschen Orientgesellschaft gehalten hatte. Delitzsch ging es laut eigener Aussage darum, die Erkenntnisse der jüngeren alttestamentlichen Forschung der 187 Wilhelm II. an H. S. Chamberlain vom 21.12.1902, Chamberlain, Briefe II, S. 165–166. 188 Kaiser Wilhelm II. an H. S. Chamberlain vom 21.12.1902, Chamberlain, Briefe II, S. 166. 189 Grundlegend zum Babel-Bibel-Streit und zu Chamberlains und Wilhelms Rolle darin: Lehmann, Delitzsch, vor allem S. 213–245.
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interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, da eine gänzlich neue Beurteilung des Alten Testaments anstehe.190 Die Generalthese Delitzschs lautete, daß alle wesentlichen Elemente des Alten Testaments nicht originär israelitisch seien, sondern aus Babylon stammten, vom Volk Israel übernommen und im Alten Testament in den Dienst des jüdischen Partikularismus gestellt worden seien.191 Der Monotheismus, der landläufig als die hervorragende religiöse Leistung Israels gelte, entstamme dagegen weder Babylon noch dem Alten Testament, sondern sei das Ergebnis eines langwierigen Erkenntnisprozesses gewesen, den die jüdische Auffassung von Jahwe als Nationalgott eher behindert als gefördert habe.192 Delitzsch machte außerdem deutlich, daß es ihm nicht eigentlich um eine Rehabilitierung Babylons ging, sondern um den Nachweis, daß die wesentlichen religiösen Vorstellungen des Alten Testaments nicht göttlich inspiriert, sondern rein menschlich seien. Durch das Ausscheiden dieser Vorstellungen werde „die wahre Religiosität, wie sie in unvergleichlich erhabenster Weise Jesus gelehrt hat, so wenig berührt, daß sie vielmehr nur um so wahrer und verinnerlichter aus diesem Reinigungsprozesse hervorgeht.“193 Chamberlains neues Grundlagen-Vorwort, das als Einzelschrift unter dem Titel Dilettantismus Rasse Monotheismus Rom erschien, bezog sich im Monotheismus-Teil direkt auf den Vortrag Delitzschs. Der stehe unbewußt unter philosemitischem Einfluß und versuche, den Monotheismus der semitischen Rasse zu retten, indem er seinen Ursprung vom nicht mehr zu haltenden Alten Testament zur ebenfalls semitischen babylonisch-assyrischen Kultur verlege.194 Dabei unterschlage Delitzsch, daß Babel seinerseits von den arischen Sumerern beeinflußt worden sei, und daß es gerade die „reinmenschlichen“ Stellen des Alten Testaments seien, die dessen Wert ausmachten.195 Die biblische Schöpfungserzählung etwa sei in Wahrheit eine mythische Erzählung, in der die Elohim das Erd- und das Luftreich voneinander geschieden hätten; erst der semitische Materialismus habe daraus einen wörtlich zu verstehenden Bericht gemacht.196 Einen semitischen Monotheismus gebe es nur als abstrakt-materialistischen, wogegen die arische Tradition schon wesentlich länger einen ganz anderen Monotheismus kenne: 190
Vgl. Delitzsch, Babel und Bibel I, S. 5–6. Delitzsch zeigte den babylonischen Einfluß auf das Alte Testament anhand des Gebots der Sabbatruhe (Delitzsch, Babel und Bibel I, S. 28–31), der Sintfluterzählung (31–34), der Schöpfungsgeschichte (28–37) sowie des ganzen „dualistischen“ Weltbildes, in dem Engel und Dämonen aufträten (43–45). 192 Vgl. Delitzsch, Babel und Bibel I, S. 46–50. 193 Delitzsch, Babel und Bibel I, S. 46. 194 Chamberlain, Dilettantismus, S. 25–28. 195 Vgl. Chamberlain, Dilettantismus, S. 29–30 und S. 59–60. 196 Vgl. Chamberlain, Dilettantismus, S. 61–65. 191
IV. Bibel und Babel
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„Der semitische Monotheismus ist die Lehre von der Einzelhaftigkeit Gottes; der indogermanische Monotheismus ist die Lehre von der erst aus der Mannigfaltigkeit sich ergebenden Einheit, von dem Eingeschlossensein des Alls und aller Zeitenfolgen in dem raum- und zeitlosen actus purus der Gottheit (wie Duns Scotus sich ausdrückt), die Lehre von der unitas ineffabilis.“197 Dieser urgermanischen negativen Theologie, die nichts Konkretes über Gott auszusagen weiß, habe die Erscheinung Christi und die mit ihr verbundene konkrete Erfahrung des „Göttlichen auf Erden“ eine positive Theologie hinzugefügt.198 Vor dem Hintergrund dieser Äußerungen Chamberlains wird Wilhelms oben zitierte Reaktion erhellt. Der Kaiser versuchte eine Art Harmonie zwischen seinem traditionell geprägten Bild des biblischen Kanons und den Ausführungen Chamberlains herzustellen, indem er meinte, von der alles entscheidenden Erscheinung Christi her das Alte Testament „rückwärts konstruieren“ zu können. Damit klang die Lehre von der Christusverkündigung im Alten Testaments an, was Wilhelm noch durch den Zusatz verstärkte, was vor Christus gewesen sei, habe Erläuterungs- und Hinweischarakter. Wilhelm nahm außerdem hier noch Delitzsch gegenüber Chamberlain in Schutz. Keiner der Zuhörer des Vortrags habe den Eindruck gehabt, Delitzsch arbeite „im semitischen Sinne und Interesse“; vielmehr sei er als erster in der Öffentlichkeit „dem Alten Testament zu Leibe“ gerückt und sei überhaupt ein „einfacher und ehrlicher Mensch“.199 Die Haltung Wilhelm änderte sich allerdings, als Delitzsch im Januar 1903, wieder vor der Deutschen Orientgesellschaft und in Anwesenheit Wilhelms, einen zweiten Vortrag über „Babel und Bibel“ hielt. Delitzsch wurde nun in seiner Ablehnung des Alten Testaments und der jüdischen Religion sehr viel deutlicher, wenn er bereits im Vorwort schrieb: „Statt uns ‚mit Dank bewundernd‘ zu versenken in das Walten Gottes in unserem eigenen Volke von der germanischen Urzeit her bis auf diesen Tag, fahren wir aus Unkenntnis, Gleichgültigkeit und Verblendung fort, jenen altisraelitischen Orakeln einen ‚Offenbarungs‘-Charakter zuzuerkennen, der weder im Lichte der Wissenschaft noch in dem der Religion oder Ethik standhält.“200 Im Argumentationsgang verwarf Delitzsch dann nicht nur den auf einer Verbalinspirationslehre basierenden Offenbarungsglauben, sondern auch die „liberalere“ Vorstellung, der Offenbarungscharakter des Alten Testaments beruhe auf dem Geist des Prophetentums und auf dem sittlichen 197
Chamberlain, Dilettantismus, S. 66. Vgl. Chamberlain, Dilettantismus, S. 67–69. 199 Kaiser Wilhelm II. an H. S. Chamberlain vom 21.12.1902, Chamberlain, Briefe II, S. 167–168. 200 Delitzsch, Babel und Bibel II, S. V. 198
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Monotheismus Israels.201 Beides sei nämlich im Alten Testament keineswegs „fertig“ vorhanden, sondern sei erst Ergebnis eines das Alte Testament durchziehenden Reinigungsprozesses, der aber nie dazu geführt habe, daß Israel seinen nationalreligiösen und damit partikularistischen Charakter aufgegeben hätte.202 Dabei hielt Delitzsch durchaus an einer besonderen Bedeutung des Alten Testaments fest, da es ein „einzigartiges Denkmal eines grossen, bis in unsere Zeit hineinragenden religionsgeschichtlichen Prozesses“ sei und da einige Teile nach einer Bereinigung des aus ihnen sprechenden religiösen Partikularismus durchaus auch gegenwärtig religiöse Bedeutung haben könnten.203 Delitzsch schloß mit den Worten: „Schauen wir hin auf die gewaltig pulsierende Kraft, mit welcher die deutsche Reformation grosse Nationen der Erde auf allen Gebieten menschlicher Arbeit, menschlichen Fortschritts erfüllt! Aber auch die Reformation ist nur eine Etappe auf dem Wege zu dem uns von Gott und in Gott gesteckten Ziele der Wahrheit. Ihm streben wir nach in Demut, aber mit allen Mitteln der freien Forschung der Wissenschaft, freudig uns bekennend zu der von hoher Warte mit Adlerblick geschauten und hochgemut aller Welt kundgegebenen Losung der Weiterbildung der Religion.“204 Mit dieser Aufnahme der Görlitzer Rede Wilhelms II. hatte Delitzsch den Kaiser für die eigene Position reklamiert und ihn damit unter Zugzwang gebracht. Es stand nämlich eine Veröffentlichung des Vortrags durch die Deutsche Orientgesellschaft an, und da die Parole von der „Weiterbildung der Religion“ ebenso bekannt war wie die Anwesenheit des Kaisers bei Delitzschs Vortrag, konnte der Eindruck entstehen, Wilhelm identifiziere sich mit Delitzschs Ausführungen. Das wäre vor allem deshalb so fatal gewesen, weil Delitzschs Angriff auf die protestantische (und katholische) Orthodoxie wie auf den gemäßigten theologischen Liberalismus den mittelparteilichen Kurs des Kaisers in der Kirchenpolitik und seine konservative Religionspolitik massiv diskreditiert hätte. Die Anhänger der protestantischen Orthodoxie in Wilhelms Umfeld äußerten jedenfalls entsprechende Befürchtungen.205 Deshalb ist die Vermutung plausibel, daß Personen wie Waldersee, Dona und vor allem der Oberhofprediger Ernst von Dryander den Kaiser davon überzeugten, daß er sich öffentlich von Delitzsch distanzieren müsse.206 201
Vgl. Delitzsch, Babel und Bibel II, S. 17–36. Vgl. Delitzsch, Babel und Bibel II, S. 27–36. 203 Delitzsch, Babel und Bibel II, S. 37. 204 Delitzsch, Babel und Bibel II, S. 38. 205 Vgl. den Tagebucheintrag Alfred Graf von Waldersees vom 29.1.1903: Waldersee, Denkwürdigkeiten III, S. 203–205. 206 So Lehmann, Delitzsch, S. 220–221. 202
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Wilhelm nutzte dazu die schriftliche Anfrage des Vorstandsmitglieds der Deutschen Orientgesellschaft, Admiral a. D. Hollmann, ob Delitzschs Vortrag inklusive des heiklen Schlußpassus gedruckt werden solle. Wilhelm antwortete am 15. Februar 1903 mit einem langen Brief, der am 19. Februar – gleichzeitig mit dem Erscheinen von Delitzschs Vortrag – in den „Grenzboten“ veröffentlicht wurde.207 Wilhelm wies in dem Brief darauf hin, daß Delitzsch nach seinem Vortrag noch einmal zu einer Abendgesellschaft eingeladen worden sei, bei der er mit der Kaiserin und mit Dryander debattiert habe:208 „Er [Delitzsch] verließ dabei leider den Standpunkt des strengen Historikers und Assyriologen und geriet in theologisch-religiöse Schlüsse und Hypothesen hinein, welche doch recht nebelhaft oder gewagt waren. Als er aber auf das Neue Testament kam, wurde es bald klar, daß er bezüglich der Person unseres Heilandes so ganz abweichende Anschauungen entwickelte, daß Ich ihm darin nicht nur nicht folgen konnte, sondern einen Meinem Standpunkte diametral entgegengesetzten konstatieren mußte. Er erkennt die Gottheit Christi nicht an, und daher soll als Rückschluß auf das Alte Testament dieses keine Offenbarung auf denselben als Messias enthalten. Hier hört der Assyriologe und forschende Geschichtsschreiber auf und der Theologe mit allen seinen Licht- und Schattenseiten setzt ein. Auf diesem Gebiet kann ich nur dringend ihm raten, nur sehr vorsichtig Schritt vor Schritt zu gehen und jedenfalls seine Thesen nur in theologischen Schriften und im Kreise seiner Kollegen zu ventilieren, uns Laien aber, und vor allem die Orientgesellschaft, zu verschonen; vor deren Forum gehört das alles nicht.“209
Schon in seinem Vortrag habe Delitzsch durch seine polemische Art den Laienzuhörern Heiliges zerstört und ihren Glauben verunsichert: „Eine Tat, an die nur ein gewaltiges Genie sich heranwagen dürfte, zu der aber das bloße Studium der Assyriologie noch nicht berechtigt. Goethe behandelt diese Angelegenheit auch einmal, indem er ausdrücklich darauf aufmerksam macht, man müsse sich vorsehen, bei einem großen allgemeinen Publikum auch nur ‚Terminologiepagoden‘ entzweizumachen. Es ist dem vortrefflichen Professor in seinem Eifer der Grundsatz etwas entgangen, daß es gar sehr wichtig ist, genau zu unterscheiden zwischen dem, was angemessen ist, dem Ort, Publikum usw., und was nicht. Als Theologe von Fach kann er für seinen Kollegenkreis Thesen, Hypothesen und Theorien sowie Überzeugungen aussprechen in Fach207 Vgl. Lehmann, Delitzsch, S. 220–221; vgl. Penzler III, S. 143. Der Brief ist anschließend vielfach abgedruckt worden, etwa in Penzler III, S. 143–149. Das Original befindet sich in GStA, BPH Rep. 53 Nr. 235. Wilhelm selbst druckte den Brief auch noch einmal in seinen 1922 erschienenen Memoiren ab, was zeigt, daß er sie weiterhin als gültige öffentliche Stellungnahme verstanden wissen wollte: Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten, S. 183–186. 208 Vgl. dazu auch Andresen, S. 242–243. Andresen vermutet, daß vor allem diese Debatte den Kaiser zur öffentlichen Stellungnahme bewogen habe. 209 Penzler III, S. 143–144.
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schriften, welche nicht angängig auszusprechen sein würden in einem populären Vortrag oder Buch.“210
Mit dieser Briefeinleitung hatte Wilhelm einerseits inhaltliche Differenzen zu Delitzsch bekundet und mit der Betonung der „Gottheit Christi“ und einer Offenbarung Christi im Alten Testament einen konservativen Standpunkt angedeutet. Andererseits hatte er klargestellt, daß er in keiner Weise die Freiheit wissenschaftlicher Forschung in Frage stellte, sondern nur bezüglich theologischer Folgerungen einen verantwortungsvollem Umgang insbesondere mit theologischen Laien verlangte. Den ersten Vortrag Delitzsch’, von 1902, lobte er zudem ausdrücklich und bekannte sich auch zu dem Befund eines babylonischen Einflusses auf Israel und das Alte Testament.211 Im zweiten Teil des Briefes legte der Kaiser dann seinen „persönlichen Standpunkt bezüglich der Offenbarungslehre“212 dar: „Ich unterscheide zwei verschiedene Arten der Offenbarung: eine fortlaufende, gewissermaßen historische und eine rein religiöse, auf die spätere Erscheinung des Messias vorbereitende Offenbarung. Zum ersten ist zu sagen: Es ist für mich keinem, auch nicht dem leisesten Zweifel unterworfen, daß Gott sich immerdar in Seinem von Ihm geschaffenen Menschengeschlecht andauernd offenbart. Er hat dem Menschen ‚Seinen Odem eingeblasen‘, d.h. ein Stück von sich selbst, eine Seele gegeben. Mit Vaterliebe und Interesse verfolgt er die Entwicklung des Menschengeschlechts; um es weiter zu führen und zu fördern, ‚offenbart‘ er sich bald in diesem oder jenem großen Weisen oder Priester oder König, sei es bei den Heiden, Juden oder Christen. Hammurabi war einer, Moses, Abraham, Homer, Karl der Große, Luther, Shakespeare, Goethe, Kant, Kaiser Wilhelm der Große. – Die hat Er ausgesucht und Seiner Gnade gewürdigt, für ihre Völker auf dem geistigen wie physischen Gebiet nach seinem Willen Herrliches, Unvergängliches zu leisten. [. . .] Die zweite Art der Offenbarung, die mehr religiöse, ist die, welche zur Erscheinung des Herrn führt. Von Abraham an wird sie eingeleitet, langsam, aber vorausschauend, allweise und allwissend, denn die Menschheit war sonst verloren. Der Stamm Abrahams und das sich daraus entwickelnde Volk betrachten als Heiligstes mit eiserner Konsequenz den Glauben an einen Gott. [. . .] Und so geht es weiter durch die Jahrhunderte, bis der Messias, der durch die Propheten und Psalmisten verkündet und angezeigt wird, endlich erscheint. Die größte Offenbarung Gottes in der Welt! Denn Er erschien im Sohne selbst; Christus ist Gott; Gott in menschlicher Gestalt.“213
Wilhelm erkannte damit die auf Christus zulaufende Offenbarung des Alten Testaments nicht nur an, sondern unterschied sie sogar qualitativ von der natürlich-historischen Offenbarung Gottes in den menschlichen Heroen. 210 211 212 213
Penzler III, S. 145–146. Vgl. Penzler III, S. 144. Penzler III, S. 146. Penzler III, S. 146–147.
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Gleichwohl gab er Delitzsch darin Recht, daß selbstverständlich große Teile des Alten Testaments „rein menschlich historischer Natur“ seien und nichts mit göttlicher Offenbarung zu tun hätten.214 Hier historische Einflüsse auch anderer Kulturen zu untersuchen, sei dem Historiker unbenommen, daraus religiöse Schlußfolgerungen zu ziehen, sei für den Historiker aber unzulässig. So möge es wohl sein, daß die Zehn Gebote nichts von Mose Erfundenes, sondern dem Codex Hammurabi entnommen seien, doch spreche das in keiner Weise gegen die Offenbarung Gottes in Mose.215 Wilhelm schloß den Brief mit den Worten: „a. Ich glaube an Einen, Einigen Gott. b. Wir Menschen brauchen, um ihn zu lehren, eine Form, zumal für unsere Kinder. c. Diese Form ist bisher das Alte Testament in seiner jetzigen Überlieferung gewesen. Diese Form wird unter der Forschung und den Inschriften und Grabungen sich entschieden wesentlich ändern; das schadet nichts, auch daß dadurch viel vom Nimbus des auserwählten Volkes verloren geht, schadet nichts. Der Kern und Inhalt bleibt immer derselbe, Gott und sein Wirken! Nie war Religion ein Ergebnis der Wissenschaft, sondern ein Ausfluß des Herzens und Seins des Menschen aus seinem Verkehr mit Gott.“216
Hier wiederum deutete der Kaiser an, daß die Forschungsergebnisse der Historiker durchaus auch religiöse Konsequenzen haben könnten; die Gestalt des Alten Testaments werde sich jedenfalls in Zukunft ändern. Damit blieben zwei Vorwürfe an Delitzsch übrig: Er hatte seine Konsequenzen vor einem Laienpublikum erörtert, wo sie nicht hingehörten, und er hatte falsche Konsequenzen gezogen, was die Person Christi und die vorbereitende Offenbarung des Alten Testaments betreffe. An den Sachaussagen Delitzschs hatte Wilhelm keine Zweifel geäußert. Der Brief traf auf ein Publikum, das schon seit dem ersten Vortrag Delitzschs intensiv über Bibel und Babel diskutierte. Der Alttestamentler Rudolf Kittel wies auf die außerordentliche Popularität des Themas hin, wenn er feststellte: „Beinahe ebenso wie man in den Tagen des Konzils von Nicäa auf Märkten und Verkaufsbuden über Homousie und Homöusie reden hörte, so hörte man in unseren jüngsten Tagen in Bahnzügen und in Cafes über Altes Testament, Hammurabi und Offenbarung verhandeln.“217 214
Penzler III, S. 148. Vgl. Penzler III, S. 148. 216 Penzler III, S. 148–149. Die Schlußformulierung über den „Verkehr“ des Menschen „mit Gott“ findet sich nicht in den Briefen Chamberlains, dafür aber in dem 1886 erschienenen Buch des Theologen Wilhelm Herrmann: Der Verkehr des Christen mit Gott im Anschluss an Luther dargestellt (Herrmann, Der Verkehr). Ein Kontakt zwischen Wilhelm II. und Herrmann ist allerdings ebensowenig belegt wie Wilhelms Lektüre des Buches. 215
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Daß Kittel kaum übertrieb, zeigt die breite Zusammenschau von Stellungnahmen allein zum Hollmann-Brief des Kaisers in dem noch 1903 erschienenen Buch Das Bekenntnis des Kaisers im Urteile der Zeitgenossen. Von kirchenfernen Liberalen über den theologischen Liberalismus bis zur protestantischen Orthodoxie und zum Katholizismus reichten die Äußerungen, deren Heterogenität auch innerhalb der Lager erstaunt.218 Die protestantisch-orthodoxe Presse unternahm dabei allerdings relativ einheitlich den Versuch, Wilhelms Brief als Absage an den theologischen Liberalismus darzustellen. Die Kreuzzeitung betonte den religiös „positiven“ Kern des Briefes, nämlich den Glauben an die Gottessohnschaft Christi, und auch Stoeckers Volk nannte das konservative Festhalten an Gottessohnschaft und Offenbarungscharakter des Alten Testaments als die Hauptaussagen des Hollmann-Briefes.219 Das Lager des liberalen Protestantismus dagegen war sich in der Bewertung des Briefes uneins. Die einen wiesen darauf hin, daß Wilhelm in der Sache mit Delitzsch einig sei und im wesentlichen modern-liberales Gedankengut geäußert habe; andere machten ein Gemisch aus modernem Denken und ängstlichem Festhalten an altkirchlichen Traditionen bei Wilhelm aus, was wiederum manche als positiv zu beurteilenden Vermittlungsversuch betrachteten, manche aber als Unausgegorenheit, die nicht tragfähig sei und sich letztlich für ein der beiden Richtungen entscheiden müsse.220 Die Anhänger des „freien“ Protestantismus empörten sich außerdem über Wilhelms Unterscheidung zwischen einer Wahrheit für die Fachtheologen und einer Wahrheit für die Laien, da die Bestreitung der Tatsache, daß es nur eine Wahrheit gebe, aristokratisch und antimodern 217
Kittel, S. 577. Vgl. Das Bekenntnis des Kaisers, S. 13–77. Auch Friedrich Delitzsch äußerte sich öffentlich zum Hollmann-Brief: Er habe in seinem Vortrag nicht den Offenbarungsbegriff generell angegriffen, sondern nur die Vorstellung vom Alten Testament als einem von Anfang bis Ende von Gott geoffenbartem Buch sowie den Versuch, die alte Verbalinspirationslehre wenigstens für einzelne Teile des Alten Testaments zu retten. Er leugne nicht den religiösen und ethischen Wert vor allem einiger Propheten und der Psalmen, aber die rein menschlich-historischen Teile des Alten Testaments müßten aus dem biblischen Kanon ausgeschieden werden, um die vom Kaiser geforderte Weiterbildung der Religion in Gang setzen zu können: vgl. Delitzsch, Babel und Bibel. Ein Rückblick, S. 30–66. Im Anhang verwies Delitzsch auf eine weitere Stellungnahme zum Hollmann-Brief, die zu recht hervorgehoben habe, daß Wilhelm einerseits mit seiner Kritik an Delitzschs Erörterung theologischer Fachfragen vor einem Laienpublikum Recht habe, Wilhelm andererseits aber mit seinem Hollmann-Brief genau dasselbe getan habe: vgl. Delitzsch, Babel und Bibel. Ein Rückblick, S. 72–75. Delitzsch hielt noch einen dritten Vortrag vor der Deutschen Orientgesellschaft zur selben Thematik, der aber keine öffentliche Debatte mehr auslöste: Delitzsch, Babel und Bibel III. 219 Vgl. Das Bekenntnis des Kaisers, S. 17 und S. 24–25. 220 Vgl. Das Bekenntnis des Kaisers, S. 23–24, S. 30–37, S. 42–43 und S. 46–47. 218
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sei.221 Das Leipziger Tageblatt vermutete, diese Unterscheidung sei dem Motiv Wilhelms geschuldet, gleichzeitig die Freiheit der Wissenschaft zu bewahren und dem Volk die Religion zu erhalten.222 Schließlich wurde auch die Entstehung und die politische Bedeutung des Briefes diskutiert: Obwohl der Kaiser im Hollmann-Brief deutlich gemacht hatte, daß er nur seine persönliche Auffassung äußere, wurde darüber spekuliert, ob sich evangelische Geistliche, die Probleme mit der Bekenntnistreue hätten, nicht in Zukunft auf die religiöse Position des Summus episcopus berufen könnten.223 Deshalb wurde auch vermutet, daß Wilhelm den Brief letztlich gegen seinen Willen und nur deshalb geschrieben habe, weil Delitzsch ihn faktisch dazu gezwungen habe.224 Die unterschiedlichen Interessen, denen der Brief habe gerecht werden müssen, habe dann eben zu jener „Theologie der mittleren Linie“225 geführt, die niemanden zufriedenstellen könne. Auch die Urheberschaft des Briefes war umstritten; da Wilhelm den gemäßigt-konservativen Oberhofprediger Dryander erwähnt hatte, glaubten manche, dieser habe den Brief eigentlich verfaßt.226 Andere wiesen auf die vermittlungstheologische Haltung des Briefes hin und spekulierten darüber, ob nicht Harnack der Ghostwriter gewesen sei. Die Leipziger Neuesten Nachrichten schließlich vermuteten Houston Stewart Chamberlain als Inspirationsquelle für den Kaiser.227 Während Dryander für das Zustandekommen des Briefes durchaus eine Rolle spielte, da er das Streitgespräch gegen Delitzsch geführt hatte, setzte sich Harnack gegen die Vermutung, auch er habe etwas mit dem Brief zu tun, zur Wehr. In den Preußischen Jahrbüchern veröffentlichte er eine eigene Stellungnahme zu dem Brief, in der er sich im Ton moderat, in der Sache aber deutlich vom kaiserlichen Standpunkt distanzierte. Auch Harnack stellte zunächst klar, daß Wilhelm sich habe äußern müssen, da sonst der Eindruck entstanden wäre, er teile die Auffassungen Delitzschs. Der habe wissenschaftlich Altbekanntes verkündet und nur deshalb Aufsehen erregt, weil in seinem Vortragspublikum noch der alte Verbalinspirationsglaube lebendig gewesen sei.228 Anders als Wilhelm rechnete Harnack dies 221
Vgl. Das Bekenntnis des Kaisers, S. 37–38 und S. 46–47. Vgl. Das Bekenntnis des Kaisers, S. 47–50. 223 Vgl. Das Bekenntnis des Kaisers, S. 69–70 und S. 75–77. 224 Vgl. Das Bekenntnis des Kaisers, S. 40. 225 Das Bekenntnis des Kaisers, S. 43. 226 Vgl. Andresen, S. 242–247, der darauf abhebt, daß ein Einfluß über das Streitgespräch zwischen Dryander und Delitzsch hinaus nicht festzustellen sei. 227 Vgl. Das Bekenntnis des Kaisers, S. 47–50 und S. 57–58. Zu den Spekulationen über die Autorschaft Harnacks vgl. Lehmann, Delitzsch, S. 228. 228 Vgl. Harnack, Brief, S. 584–585. 222
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Delitzsch als Verdienst an, gab aber andererseits Wilhelm in der Kritik an Delitzschs theologischen Schlußfolgerungen Recht. Die seien jedenfalls nicht von Delitzschs Autorität als Assyriologe gedeckt, wenn auch – wie von Wilhelm ausdrücklich zuerkannt – im Rahmen der Wissenschaftsfreiheit zu dulden.229 Wilhelms eigenes Bekenntnis sei als Privatbekenntnis voll akzeptabel. Die im Schlußsatz getroffene Unterscheidung zwischen Religion und – auch theologischer – Wissenschaft treffe den Kern der Sache, wenn natürlich die Theologie sich darüber bewußt bleiben müsse, „daß sie nicht schafft, sondern einem Gegebenen ehrfürchtig nachzudenken versucht.“230 Was den Inhalt des Kaiserbekenntnisses betreffe, so sei aber an zwei Punkten Kritik angebracht: der Behauptung einer doppelten Offenbarung und der Vorstellung von der Gottheit Christi. Offenbarung sei an sich bereits ein religiöser und kein wissenschaftlicher Begriff, die Wissenschaft habe sich dem Begriff aber dahingehend angenähert, und zwar ganz im Sinne Wilhelms, daß Offenbarung nicht in Dingen, sondern nur in Personen geschehe: „Sofern nun auch für die Wissenschaft die großen Personen an ihrer Individualität und Kraft ihr Geheimniß haben, ist die Eintrachtsformel zwischen Glauben und Wissen, soweit möglich, hergestellt. Daß ich und Andere diese Persönlichkeiten aber als Offenbarungen Gottes empfinden, ist ein Akt inneren Erlebens, den keine Wissenschaft zu schaffen oder zu verbieten vermag.“231 Soweit stimmte Harnack dem Kaiser also zu. Nun unterscheide Wilhelm aber zwei verschiedene Arten von Offenbarung. Einerseits betone das in wünschenswerter Weise das Gottesverhältnis des Menschen. „Aber andererseits kann sich der denkende Geist unmöglich bei der Annahme zweier, gleichsam neben einander laufender Offenbarungen beruhigen, und das kaiserliche Schreiben hat dieser Einsicht selbst Ausdruck gegeben, indem es Abraham sowohl in die eine wie in die andere Reihe gestellt hat. Nicht um zwei Offenbarungen kann es sich also handeln – stehen doch auch Religion, sittliche Kraft und Erkenntniß in innigster Verbindung –, sondern um eine Offenbarung, deren Träger freilich nach Art und Größe, Beruf und Aufgabe ganz verschieden waren und noch sind. [. . .] Die religiöse Betrachtung der Geschichte kann letztlich nur eine einheitliche sein – die Menschheit, die Gott aus der Naturstufe, aus Irrthum und Sünde herausführt, erlöst und zur Gotteskindschaft erhebt. Dabei bleibt vorbehalten, daß die Gottesgeschichte in Israel die spezifische Linie in der älteren Zeit darstellt.“232 229 230 231 232
Vgl. Harnack, Brief, S. 586. Harnack, Brief, S. 586. Harnack, Brief, S. 587. Harnack, Brief, S. 588.
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Mit dem letzten Satz hatte Harnack sich der Position Wilhelms allerdings wieder deutlich angenähert: Der Widerspruch zielte nur darauf, den Offenbarungsbegriff nicht zu zerteilen, nicht darauf, daß die Überlieferung des Alten Testaments eine besondere religiöse Bedeutung habe. Das Beharren auf der Einheitlichkeit auch religiöser Geschichtsbetrachtung gehörte dabei zu den Spezifika liberaler Theologie im 19. Jahrhundert; die christliche Tradition kannte in der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium seit Paulus bzw. von deus absconditus und deus revelatus bei Luther durchaus die Vorstellung, daß die Weltbetrachtung nicht einheitlich sei. Diese Vorstellung setzte sich nach dem Ersten Weltkrieg in einer kulturkritischen „Theologierevolution“ durch, die teilweise ganz radikal einen Zusammenhang zwischen Religion als „natürlichem“ menschlichen Phänomen und der Christusoffenbarung bestritt.233 Wilhelms Position im Hollmann-Brief ist aber nicht als prädialektische Theologie zu verstehen; eher stand er in der Linie derer, die „natürliche“ und christliche Offenbarung (verstanden als Altes und Neues Testament) zwar unterschieden, der natürlichen Offenbarung aber eine das Christentum vorbereitende Funktion zusprachen.234 Der Dissens zwischen Harnack und Wilhelm bezog sich vor diesem Hintergrund darauf, daß Wilhelm mit seiner Zweiteilung der Offenbarung an einer Absolutheit der Christusoffenbarung festhalten wollte, von der konservative Theologen des 19. Jahrhunderts meinten, daß sie durch die liberale Vorstellung vom einheitlich-natürlichen Gang der Weltgeschichte gefährdet sei.235 Das wird auch deutlich anhand des zweiten Kritikpunkts, den Harnack dem Kaiser entgegenhielt, der die Gottheit Christi betraf. Die Aussage Wilhelms, „Christus ist Gott“, habe den als positiv zu bewertenden Zweck, zu verhindern, daß Jesus einfach als normaler Mensch vorgestellt werde. Schon dogmatisch sei die Aussage aber nicht ganz richtig, da man eigentlich nicht von der Gottheit, sondern der „Gottmenschheit“ Christi sprechen müsse.236 Aber selbst diese Formel gelte nur dann, wenn sie nicht als Erklärungsversuch mißverstanden werde, sondern das Geheimnis wahre, das die genaue Beschaffenheit des Verhältnisses Christi zum Vater umgebe: „Das paulinische Wort: ‚Gott war in Christus‘ scheint mir das letzte Wort zu sein, welches wir hier sprechen dürfen, nachdem wir uns langsam und schmerzlich von dem Wahne antiker Philosophen befreit haben, als könnten 233 Vgl. Nowak, Geschichte des Christentums, S. 213–216. Zum Verhältnis Karl Barths als des bekanntesten Vertreters dieser Theologierevolution zum Kulturprotestantismus vgl. Ruddies, S. 4–47 und S. 101–111. Vgl. dazu auch Fischer, Protestantische Theologie, S. 62–96. 234 Vgl. dazu etwa Augustinus, Retractationes I, 13,3; Clemens von Alexandrien, Apologie I 46; II 13. Vgl. außerdem Ljungberg, S. 29 f. 235 Vgl. ausführlich dazu Hirsch V, S. 70–144. 236 Harnack, Brief, S. 588.
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wir die Geheimnisse von Gott und Natur, Menschheit und Geschichte durchdringen.“237 Harnack ging es hier also darum, den Eindruck zu vermeiden, als treffe das christliche Dogma von der Gottmenschheit Christi irgendeine gegenständliche Aussage über die Realität der Natur Christi. Der Kommentator der katholischen Kölnischen Volkszeitung brachte die Einwände auch der protestantischen Orthodoxie gegen Harnack auf den Punkt, wenn er schrieb, daß sich hier – Geheimnis des Gottesverhältnisses Christi hin oder her – ein unzulässiger Subjektivismus äußere, der den Geltungsanspruch des biblischen Kanons und der Autorität Christi untergrabe und letztlich in den Unglauben führe.238 Das sah letztlich auch Wilhelm II. so. Am 2. März 1903 schrieb er Harnack einen persönlichen Brief, in dem er auf Harnacks Stellungnahme einging: „Ihre Zusendung hat mich sehr interessiert. [. . .] Auch die abweichenden Ansichten, welche Sie darinnen ansprechen, haben mich beschäftigt. [. . .] Was die Person des Heilandes betrifft, so ist mein Standpunkt, auch noch durch Lesen ihrer Bemerkungen, derselbe. Christus ist Gottes Sohn – Gott in menschlicher Gestalt – der Heiland der Welt. Wie sein Erscheinen auf der Welt geschah, erzählt uns Weihnachten. Wie das Verhältniß zu Gott war – für uns so voller scheinbarer Mysterien und schwer zu ‚verstehenden‘ Momente – ist eben einfach Sache des Glaubens und nicht des Verstandes, der beim Versuch zur Lösung dieser Fragen stets auf Granit beißen wird. Ein Mensch – und wäre er noch so erhaben und gut, tugendhaft edel und gescheit – kann niemals ein Vermittler mit Gott für die Sünden andrer Mitmenschen werden. [. . .] Und nun gar die Sünden einer ganzen Welt auf sich zu nehmen und für sie einzustehen!? Das ist ein Staubgeborner überhaupt gar nicht im Stande! Mit der Gottheit Christi steht und fällt die ganze heil. Schrift, die Weißsagungen, Propheten, Evangelien kurz unsre gesammte Religion. Denn diese heil. Schrift, diese Bibelwelt ist eine Urkundensammlung über die Offenbarungsthätigkeit Gottes. Von Menschenhänden geschrieben ist sie natürlich ihren Irrthümern auch unterworfen. Aber an dem Offenbarungsinhalt ändert das nichts. Und dieser ist das Etwas aus der transzendentalen Welt, das von Oben herab zu uns gekommen ist, was von keiner Thontafel, Cultur oder historischen Evolution stammt. ‚Mittheilung göttlichen Lebens‘ dem Bewußtsein, dem inneren Menschen von Oben eingeflößt; worauf er ‚reagirt‘ und was ihn zur That anspornt. Mit einem Mathematischen Ausdruck gesagt: Offenbarung ist die Componente zwischen Inspiration und Manifestation.“239
Der Ton des Briefes war ebenso freundlich wie der Ton der Stellungnahme Harnacks gegenüber Wilhelm gewesen war; Wilhelm unterschrieb 237
Harnack, Brief, S. 588. Das Bekenntnis des Kaisers, S. 16. 239 Brief Kaiser Wilhelms II. an Adolf Harnack, 2.3.1903: Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Berlin, Nachlaß Adolf von Harnack, Bl. 9–10. Der Brief ist auch abgedruckt in Lehmann, Delitzsch, Nr. 52, S. 323–324. 238
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seinen Brief mit den Worten: „Ihr wohlaffektionierter König Wilhelm R.“240 Dasselbe gilt für die Antwort, die Harnack noch am gleichen Tag an Wilhelm schrieb: Wilhelms Brief habe ihn „in tiefster Seele bewegt und zu unauslöschlichem Dank verpflichtet. Ew. Majestät Glaube an unseren Herrn und Heiland Jesus Christus ist auch mein Glaube, und ich würde nicht länger Theologe bleiben, wenn ich diesen Glauben verlöre. Aber die Theologie, als Wissenschaft, kann das Tiefste und Heiligste nur als Grenze erreichen. [. . .] Ew. Majestät lichtvolle und warme Darstellung verstehe ich in diesem Sinn und lasse sie mir freudig gesagt sein.“241 Schon der freundliche Tonfall von beiden Seiten spricht gegen die These, die erstmals Agnes von Zahn-Harnack geäußert hat, daß Wilhelm II. von Harnacks öffentlicher Stellungnahme gekränkt gewesen sei und als Konsequenz Harnack nie wieder in theologischen Fragen zu Rate gezogen habe.242 Aber auch in der Sache vollzogen beide eine gewisse Annäherung aneinander; Wilhelm, indem er zugestand, daß die Gottheit Christi eine Glaubensund keine Verstandesaussage sei; Harnack durch seine Bekundung, als Christ habe er dieselbe Anschauung über Christus wie Wilhelm. Die bestehenden Unterschiede waren dann eigentlich keine inhaltlichen mehr, sondern bezogen sich bloß noch auf die unterschiedliche Interessengewichtung: Wilhelm betonte die objektive Geltung der christlichen Glaubensaussagen, weil er andernfalls das Fundament der christlichen Religion in Frage gestellt sah; Harnack betonte dagegen das Recht der theologischen Wissenschaft, von entsprechenden Erwägungen abzusehen und sich frei zu betätigen. Über die Sachaussagen Delitzschs und die sachlichen Ergebnisse der historisch-kritischen Bibelforschung bestand überhaupt kein Dissens. Damit war Harnack zwar noch lange nicht Wilhelms „Hoftheologe“, aber die umgekehrte These, Harnack und Wilhelm hätten theologisch so gut wie nichts miteinander zu tun gehabt, ist ebenso fragwürdig.243 Auf die weitgehende Übereinstimmung zwischen Harnack und Wilhelm machte auch der nach eigenem Bekunden 240 Brief Kaiser Wilhelms II. an Adolf Harnack, 2.3.1903: Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Berlin, Nachlaß Adolf von Harnack, Bl. 10. 241 Briefentwurf Adolf Harnack an Kaiser Wilhelm II., 2.3.1903: Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Berlin, Nachlaß Adolf von Harnack, Bl. 12. Auch abgedruckt in Lehmann, Delitzsch, Nr. 53, S. 324. Vgl. dazu auch Bruch, S. 31–33. 242 So Zahn-Harnack, Harnack, S. 263–267. Vgl. auch Lehmann, Delitzsch, S. 229. Christian Nottmeier meint, es sei Harnack gewesen, der aus Vorsicht auf künftige theologische Erörterungen mit dem Kaiser verzichtet habe: vgl. Nottmeier, S. 246–248. Daß Harnack zwar tatsächlich umsichtig und taktisch geschickt in der Korrespondenz mit Wilhelm II. verfuhr, daß aber keinesfalls von einer völligen Aussparung der Theologie die Rede sein kann, hat schon E. I. Kouri gezeigt: vgl. Kouri, S. 167–169. Vgl. dazu auch Bruch, S. 32–33, der zu der hier erörterten Frage zwar nicht eindeutig Position bezieht, aber immerhin auf eine Rede Harnacks über Katholizismus und Protestantismus verweist, die dieser dem Kaiser 1907 schickte.
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profane Kirchenhistoriker Franz Overbeck aufmerksam, der über Harnacks Stellungnahme zum Hollmann-Brief polemisch schrieb: „Harnack verrichtete den Dienst eines Friseurs an der theologischen Perücke des Kaisers.“244 Die öffentliche Stellungnahme Harnacks hatte auch dem Zweck gedient, die Spekulationen über Harnacks Autorschaft des Hollmann-Briefes zu widerlegen. In der Tat spricht alles dafür, daß Wilhelm II. den Brief allein verfaßte, allerdings mit Hilfe einer wichtigen Inspirationsquelle, die in der ganzen Debatte nur sehr am Rande bemerkt worden war: Houston Stewart Chamberlain. Der hatte am 4. Februar 1903 einen Brief an den Kaiser geschrieben, den Wilhelm im Hollmann-Brief in drei wesentlichen Punkten aufnahm: in dem Vorwurf an Delitzsch, sich ein Publikum gewählt zu haben, in dem seine Thesen fatale Wirkungen entfalteten, in der Annahme einer historischen Offenbarung Gottes in allen Völkern und zu allen Zeiten, und in der Schlußaussage, daß Religion nie Ergebnis der Wissenschaft gewesen sei, sondern im menschlichen Herzen gründe. Bei Chamberlain hatte es geheißen: „nie war Religion ein Ergebnis der Wissenschaft; Religion wird durch Religion gemacht.“245 Nur im ersten und letzten Punkt allerdings waren sich beide wirklich einig. Chamberlain gab dem Kaiser den Hinweis auf Goethes Wort von den „Terminologiepagoden“, die nur ein „unzweideutiger Genius“ umstoßen dürfe, was Delitzsch aber nicht sei:246 „Gesetzt den Fall, Delitzsch hätte – was ich bestreite – sachlich recht; ich begriffe immer noch nicht, wozu es dieses mit allem Tamtam und Drommetenschall der Reklame in Szene gesetzten Angriffes auf wichtige Vorstellungen der bisherigen christlichen Kirchen bedurfte. Solche Dinge, können, meine ich, gar nicht zu rücksichtsvoll und liebevoll angefaßt werden.“247 Eine solche Haltung widerspreche auch nicht dem Programm einer Weiterbildung der Religion, das Wilhelm als 243 Zu Harnacks Charakterisierung als „Hoftheologe“ und „Hofdogmenlehrer“ vgl. Harden, Ornamente, S. 183; vgl. Bülow, Denkwürdigkeiten II, S. 288; dagegen schon Bruch, S. 31. Die These, Harnack habe so gut wie keine theologischen Gemeinsamkeiten mit dem Kaiser gehabt, vertritt etwa Nottmeier, S. 246. Differenzierter hat Rüdiger vom Bruch geurteilt: „In theologisch-religiösen Fragen führte nur schwer eine Brücke von dem liberalen Kulturprotestanten zu dem lutherisch-glaubensfesten, freilich nicht dogmatisch verhärteten Monarchen, auch wenn man dies in seiner Umgebung und in der preußischen Orthodoxie gelegentlich argwöhnte und Dissens als Front wider den Kaiser vermarktete.“ (Bruch, S. 31) Gleichzeitig bemerkt Bruch, daß etwa die Görlitzer Rede des Kaisers von 1902 durchaus von Harnack beeinflußt worden sein könnte: vgl. Bruch, S. 31–32. 244 Overbeck, S. 209. 245 H. S. Chamberlain an Kaiser Wilhelm II. vom 4.2.1903, Chamberlain, Briefe II, S. 183 und S. 184. 246 H. S. Chamberlain an Kaiser Wilhelm II. vom 4.2.1903, Chamberlain, Briefe II, S. 181.
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Schlagwort von Chamberlain übernommen und das Delitzsch wieder aufgegriffen hatte: „Was die ‚Entwicklung der Religion‘ betrifft, so ist zu bemerken, daß in allem Organischen das Sein und das Werden miteinander verwoben sind und sich gegenseitig durchdringen. Nur wenn wir das, was ‚ist‘, fromm und bewußt bewahren, können wir sicher darauf rechnen, daß dasjenige, was noch nicht ist, ‚wird‘; sollten wir dagegen in frevelhafter Willkür das, was ‚ist‘, niederreißen, um für ein Neues Platz zu bekommen, so hätten wir den organischen Lebenskeim vernichtet. Zwischen Sein und Werden mitteninne: da ist’s, wo Leben wahrhaft lebt.“248 In der Frage der Offenbarung ging zwar auch Chamberlain von einer historischen Offenbarung in dem Sinne aus, daß alles Große durch „unmittelbare Eingebung Gottes“ geschaffen sei.249 Das führte Chamberlain aber gerade gegen ein alttestamentlich verengtes, auf Christus direkt zulaufendes Offenbarungsverständnis ins Feld, das der Kaiser als religiöse Offenbarung ja ausdrücklich auch gelten lassen wollte.250 Nichtsdestotrotz war Wilhelm selbst davon überzeugt, mit Chamberlain einig zu sein und vor allem ihm die Inspiration für den Hollmann-Brief zu verdanken. Am 16. Februar 1903 schrieb der Kaiser an Chamberlain: „Wie einen Retter in der Not habe ich Ihren erfrischenden und prächtigen Brief begrüßen können. [. . .] Ich war nämlich gerade damit beschäftigt, ein paar Zeilen zu formulieren und zu feilen, welche ich abgefaßt habe, um Delitzsch einerseits für seinen Fleiß Anerkennung auszusprechen, sodann ihn freundschaftlich, aber bestimmt in seine Grenzen zurückzuweisen, und zuletzt für ihn und alle anderen Menschen meine Auffassungen und Standpunkt klar festzustellen. [. . .] Da kam nun Ihr Brief like a revelation! Nach seinem mehrfachen Durchstudieren fiel mir in ihm wieder zur Evidenz jene angenehme und bewundernswerte Eigenschaft auf, womit die Vorsehung Sie zum Heil Ihrer Mitmenschen ausgestattet hat, nämlich die Gabe, für die Gedanken, welche uns beschäftigen und durchziehen, die rechte äußere Form zu finden. Nach vier Stunden war mein Skriptum fertig, und werde ich mir gestatten, Ihnen – meinem geistigen Geburtshelfer, mein Werk auch zu Füßen zu legen.“251
Aber auch Wilhelm war sich bewußt, daß es in einigen Fragen einen inhaltlichen Dissens zwischen ihm und seinem „geistigen Geburtshelfer“ gab. 247 H. S. Chamberlain an Kaiser Wilhelm II. vom 4.2.1903, Chamberlain, Briefe II, S. 180. 248 H. S. Chamberlain an Kaiser Wilhelm II. vom 4.2.1903, Chamberlain, Briefe II, S. 184. 249 H. S. Chamberlain an Kaiser Wilhelm II. vom 4.2.1903, Chamberlain, Briefe II, S. 183. 250 H. S. Chamberlain an Kaiser Wilhelm II. vom 4.2.1903, Chamberlain, Briefe II, S. 180–185. 251 Kaiser Wilhelm II. an H. S. Chamberlain vom 16.II.1903, Chamberlain, Briefe II, S. 189.
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So versuchte er, bei Chamberlain um Verständnis für die Kernthese von „Babel und Bibel“ zu werben, nämlich für eine maßgebliche Beeinflussung des Alten Testaments durch die Kultur Babylons. Das könne man sehr wohl an den neuesten archäologischen Ausgrabungen sehen, und diese hätten durchaus auch positive Bedeutung, wenn sie beispielsweise die historische Existenz Abrahams als Freund Hammurabis bewiesen, wie kürzlich geschehen: „Also hier hatte die Assyriologie und die Tontafeln Babels direkt dem Alten Testament einen Dienst erwiesen, sie haben aus der Sagengestalt einen forschen Mann aus Fleisch und Bein schaffen helfen, der im hellsten Lichte seines Wirkens als Reichsgründer vor uns steht, als ein Mensch, an dem sich auch ‚historisch‘ Gott offenbart hat.“252 In seiner Antwort vom 27. März 1903 widersprach Chamberlain dieser Auffassung des Kaisers, Abrahams historische Existenz sei im von Wilhelm gemeinten Sinne erwiesen. Dem widerspräche die Mehrheit der Altertumsforschung, und auch dem Alten Testament sei so kein Dienst erwiesen, da Abraham dort historisch ganz anders eingeordnet werde.253 Chamberlain sei weit davon entfernt, Wilhelm den Glauben an die Existenz Abrahams austreiben zu wollen – auch hier halte er es mit Goethe, der in einem ähnlichen Fall einmal gesagt habe: „Mein Kind, es ist besser, du glaubst das Falsche, als du zweifelst am Wahren“.254 Entscheidend sei aber doch, sich von der Illusion zu befreien, das Alte Testament bilde „Geschichte“ ab: „Gewiß ist dieses Buch ein heiliges, vom Geiste Gottes erfülltes, doch ist kein Buch der Welt so wenig geeignet, mit harmlosem Vertrauen als ‚Geschichte‘ gelesen zu werden. Vielmehr ist es ein fast unentwirrbares Geheddere aus allen möglichen Zeiten und Quellen, ein Kampfplatz direkt sich widersprechender Traditionen, Glauben, Gelüste, Lehren, Politiken; Widersprüche, absichtliche und unabsichtliche Irrtümer, kluge Fälschungen, Verleumdungen, fromme Lügen, vaticinia ex eventu usw. verwirren Kapitel für Kapitel und fast Vers für Vers“.255 Chamberlain wies deshalb auch höflich, aber bestimmt, seine geistige Urheberschaft für den Hollmann-Brief zurück: „Daß mein letzter Brief so 252
Kaiser Wilhelm II. an H. S. Chamberlain vom 16.2.1903, Chamberlain, Briefe II, S. 190. An dieser Stelle wird auch erkennbar, daß Wilhelm II. im Falle Abrahams durchaus dessen Bedeutung für die religiöse und für die historische Offenbarung unterschied. Harnack hatte ja auf den Widerspruch hingewiesen, einerseits die Offenbarung zweizuteilen, andererseits Abraham beiden Offenbarungen zuzuweisen. 253 Vgl. H. S. Chamberlain an Kaiser Wilhelm II. vom 27.3.1903, Chamberlain, Briefe II, S. 200–202. 254 H. S. Chamberlain an Kaiser Wilhelm II. vom 27.3.1903, Chamberlain, Briefe II, S. 202. 255 H. S. Chamberlain an Kaiser Wilhelm II. vom 27.3.1903, Chamberlain, Briefe II, S. 202–203.
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genau im rechten Augenblick eintraf, um Eure Majestät zur Vollendung des an Admiral Hollmann gerichteten Schreibens anzuregen, gewährt mir große Freude; doch möchte ich den Wert meiner Mitarbeiterschaft nicht so hoch anrechnen, wie Eure Majestät es zu tun die Güte haben. Abgesehen von dem Wort, daß Religion nie durch Wissenschaft gemacht wurde – welches aber von Eurer Majestät in eine neue und eigene Gestaltung umgegossen wurde –, finde ich nur ein oder zwei von mir zufällig erwähnte Zitate, die nicht mein Eigentum sind, sondern das aller Welt.“256 Von dieser Klarstellung ausgehend, kritisierte Chamberlain – genau wie Harnack – sowohl das Offenbarungsverständnis als auch die Christologie des Kaisers. Er tat das allerdings wesentlich tiefgreifender und auch im Ton deutlicher als Harnack. Im Falle des Offenbarungsglaubens wandte Chamberlain ein, daß der Kaiser in der Behauptung einer historischen und einer religiösen Offenbarung Unvereinbares miteinander vereinbaren wolle, nämlich den „altindoarischen“ Wortglauben mit dem jüdischen Geschichtsglauben:257 „Würden Eure Majestät jegliche geschichtliche Kritik des Alten Testaments von vornherein abweisen, das wäre etwas anderes; jeder Weg, der zu Christus führt, soll mir gesegnet sein, auch der des schlichten Glaubens an die strenge Geschichtlichkeit der biblischen Erzählung. Wir wissen aber alle, daß Eure Majestät ein eifriger Förderer aller Wissenschaft sind, und wir erfahren in diesem Briefe wieder, wie echt wissenschaftlich und freiheitlich diese Förderung gemeint ist. Darum macht der kleine messianische Exkurs nicht die beabsichtigte Wirkung. Der auf Abraham, Moses usw. aufgebaute, mit dem von den nachexilischen Priestern erdichteten Judentum identifizierte, also rein geschichtlich aufgefaßte Christus – dessen Geschichte aber die historische Wissenschaft in wesentlichen Punkten nicht bestätigt – überzeugt nicht mehr.“258 In dieser Deutlichkeit hatte es Harnack nicht gewagt, dem Kaiser zu sagen, daß seine religiöse Offenbarung ein Festhalten an altkirchlichen Vorstellungen wider die Vernunft sei und daß daraus ein unaufhebbarer Selbstwiderspruch resultiere. An Wilhelms Rede von der Gottheit Christi monierte Chamberlain, daß eine solche Redeweise zu traditionalistisch sei. Gott könne nicht mehr gegenständlich aufgefaßt werden, denn spätestens seit Kant sei klar, daß der Gottesbegriff empirisch unfaßbar sei. Deshalb müsse den meisten die For256 H. S. Chamberlain an Kaiser Wilhelm II. vom 27.3.1903, Chamberlain, Briefe II, S. 197. 257 H. S. Chamberlain an Kaiser Wilhelm II. vom 27.3.1903, Chamberlain, Briefe II, S. 206. 258 H. S. Chamberlain an Kaiser Wilhelm II. vom 27.3.1903, Chamberlain, Briefe II, S. 207.
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mulierung „Ich glaube an Einen Gott“ letztlich als inhaltsleer und das Bekenntnis „Christus ist Gott“ als sinnlose Gnostik erscheinen. Dagegen sei es nötig, die Formel umzukehren und darauf abzuheben, daß Gott sich in Christus konkret inhaltlich definiert habe: „Gott ist Christus“.259 Von diesen Kritikpunkten ausgehend, entwarf Chamberlain sogar ein Alternativbekenntnis, das der Kaiser statt des eigenen besser an das Ende des Hollmann-Briefes hätte stellen sollen: „1. Ich glaube an Jesus Christus. 2. Ich glaube, daß in ihm alles, was uns Sterblichen von dem unerforschlichen Geheimnis des Göttlichen zugänglich ist, Gestalt gefunden hat. Daß Gott ist und was Gott ist, weiß ich durch ihn allein. 3. Aus Christi Leben und aus seinem Tode erhoffe ich für mich und alle, durch Gottesgnade, die Erlösung. 4. Ich erkenne keine Kultur als gleichberechtigt an, die nicht Gott in Christus verehrt; die Feinde Christi sind meine Feinde [. . .]; zwar erkenne ich es als eine Pflicht der Menschlichkeit an, sie zu dulden, ihre antichristlichen Bestrebungen aber will ich mit Wort und Tat und, wo es nottut, mit Gesetz und Schwert bekämpfen; für Christus will ich mein Leben geben.“260 Chamberlain war sich darüber im Klaren, daß er sich mit seiner Kritik deutlich weiter vorgewagt hatte als Harnack; im Brief an Wilhelm kritisierte er Harnacks „vorsichtige Herumdefiniererei und diese aus dem Johannesevangelium extrahierte Milch-und-Wasser-Gestalt“261, die Harnack als Christus verkaufe. Chamberlain erklärte die Deutlichkeit seiner eigenen Kritik am Hollmann-Brief damit, daß er sich streng an diejenigen Punkte gehalten habe, „bei denen mir mit Rücksicht auf unser mit allen Kräften anzubahnendes, neues, freies, jugendliches, siegessicheres, germanisches Christentum eine offene Aussprache geboten schien. Wäre ich nicht überzeugt, daß Eure Majestät im Grunde genommen fast ebenso denken wie ich, ich hätte es nicht gewagt, diese Bogen zu schreiben“.262 Im Babel-Bibel-Streit und vor allem in der Diskussion Wilhelms mit Harnack und Chamberlain zeigt sich eine Gesamtkonstellation, die zumindest 259 H. S. Chamberlain II, S. 208–209. 260 H. S. Chamberlain II, S. 209–210. 261 H. S. Chamberlain II, S. 210. 262 H. S. Chamberlain II, S. 211.
an Kaiser Wilhelm II. vom 27.3.1903, Chamberlain, Briefe an Kaiser Wilhelm II. vom 27.3.1903, Chamberlain, Briefe an Kaiser Wilhelm II. vom 27.3.1903, Chamberlain, Briefe an Kaiser Wilhelm II. vom 27.3.1903, Chamberlain, Briefe
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eine ungefähre Einordnung der theologischen Position des Kaisers ermöglicht. Dazu ist zunächst festzuhalten, daß keiner der drei Korrespondenzpartner ernsthafte Zweifel an den Ergebnissen der historisch-kritischen Bibelforschung äußerte, und sich auch alle darin einig waren, daß diese Ergebnisse ein altkirchliches Offenbarungsverständnis im Sinne einer Verbalinspiration des Alten Testaments nicht mehr zuließen. Weiterhin waren alle drei der Meinung, daß daraus die Notwendigkeit folge, die religiöse Vorzüglichkeit des Christentums auf neue Weise plausibel zu machen. Damit akzeptierten sie alle im weiteren Sinne die Vorgaben der Vermittlungstheologie, deren Ziel die erfolgreiche Bewältigung der „Umformungskrise“263 des Christentums durch eine Vermittlung zwischen christlicher Tradition und modernem Wahrheitsbewußtsein war.264 Eine differenziertere Einordnung der Positionen wird dann möglich, wenn man die Dichotomie zwischen „konservativer“ – an den „objektiven“ Größen wie Lehre, Schrift und Bekenntnis orientierter – und „liberaler“ – am subjektiven Glaubensvollzug orientierter, die historische Kritik vorbehaltlos bejahender – Theologie anlegt.265 Unter dieser Voraussetzung erscheint Harnack im Babel-Bibel-Streit als Vertreter eines gemäßigten theologischen Liberalismus, der darauf abzielt, Glauben und Wissen miteinander zu versöhnen, sodaß einerseits das Wissen unbehindert, andererseits das Geheimnis des Glaubens gewahrt bleibt. Die private Frömmigkeit wird ausdrücklich anerkannt, aber mit dem Hinweis auf deren Subjektivität in den Schranken des Privaten gehalten. Die theologische Wissenschaft bleibt Frömmigkeit und kirchlicher Tradition verpflichtet, kann aber als Wissenschaft keine metaphysischen oder gar dogmatischen Ausdeutungen des Glaubens vornehmen. Statt dessen bleibt sie im wesentlichen Geschichtswissenschaft und legt die historischen Quellen der christlichen Religion frei. Das führt für Harnack schließlich dazu, den Kern des Christentums in der Botschaft Jesu zu sehen, in dem sich Gott offenbart habe. Alle weiteren Spekulationen über die Art dieser Offenbarung weist Harnack zurück. Chamberlain vertritt ebenfalls Anschauungen, die man im oben genannten Sinne als „liberale Theologie“ bezeichnen könnte, und tut das sogar weitaus offensiver als Harnack: Die von Harnack so genannte „Gottesgeschichte“ Israels habe faktisch nicht stattgefunden, eine auf das Volk Israel konzentrierte historische Offenbarung gebe es nicht, sondern nur die göttliche Inspiration großer Persönlichkeiten. Die Offenbarung Gottes in Christus 263 Hirsch V, S. 600. Zu Hirschs Verständnis der „Umformungskrise“ siehe Müller, Christliche Wahrheit. 264 Siehe dazu auch Kapitel E. I. 265 Siehe zu dieser Dichotomie Kapitel E. I. Vgl. auch Slenczka, Die Theologische Fakultät, S. 53–54.
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sei davon noch einmal qualitativ unterschieden, weil sich Gott in Christus in einer Weise gezeigt habe, daß der empirisch leere Gottesbegriff nun konkret mit dem Inhalt gefüllt werden könne, den Christus ihm beigemessen habe. Dennoch zeigt Chamberlain keinerlei Verständnis für diejenigen selbsternannten Erneuerer des Christentums, die nichts weiter tun als die alten Anschauungen zu zerstören. Wahre Erneuerung sei dagegen konstruktiv aufbauend, und daher sei ihm die orthodoxe Frömmigkeit wesentlich lieber als die Unfrömmigkeit liberaler Theologie. Chamberlain umwölbt diese Vorstellungen schließlich mit einer völkischen Theorie, nach der Christus eigentlich der indogermanischen Tradition angehöre und nicht der semitischen, was letztlich sogar der die Gültigkeit des Alten Testaments so stark angreifende Delitzsch übersehen habe. Wilhelm II. ist mit Harnack darin einig, daß Glaube etwas anderes ist als Wissen, Religion etwas anderes als Wissenschaft. Gegen Harnack besteht er aber darauf, das Glaubensgeheimnis rational auszudeuten. Wenn das nicht geschehe, dann schwinde die Plausibilität des Christentums und damit letztlich auch der Glaube; das jedenfalls impliziert der Kaiser mit seinem Hinweis auf den drohenden Untergang der christlichen Religion, sollte die Gottheit Christi geleugnet werden. Von Chamberlain ermutigt, äußert er deshalb die Anschauung, daß die alte christliche Frömmigkeit bei all ihrer Unzulänglichkeit die Glaubenssubstanz stärker bewahre als ein diese Frömmigkeit im Namen der Wissenschaft angreifender theologischer Liberalismus. Seine konkreten Anschauungen über die doppelte Offenbarung und die Göttlichkeit Christi versuchen – allerdings nicht systematisch durchdacht, sondern eher in einem ad-hoc-Versuch – Ansätze zu einer modernen Theologie zu bieten, in der sich altkirchliche Frömmigkeit wiederfinden kann. Angesichts der Veröffentlichung des Hollmann-Briefes liegt die Vermutung nahe, daß Wilhelm das aus Rücksicht auf sein religionspolitisches Programm tat, das ja gerade mit einer im weitesten Sinne konservativen Christlichkeit rechnete. Seine Privatäußerungen gegenüber Chamberlain, vor allem aber gegenüber Harnack weisen allerdings eher darauf hin, daß Wilhelm hier auch persönlich getroffen war: Selbst durch traditionelle Frömmigkeit geprägt, versuchte er, sich so über seinen Glauben Rechenschaft zu geben, daß dieser im modernen Welt- und Wahrheitsbewußtsein einen Platz findet.266 Das Ergebnis mag unzulänglich sein; aber schon der 266 Norbert Friedrich meint, daß Wilhelm mit diesem Anliegen „wie nur wenige die [. . .] modern-positive Theologie“ vertreten habe, „wie sie insbesondere Reinhold Seeberg entwickelt hat“ (Friedrich, Christlich-soziale Bewegung, S. 129). Friedrich begründet diese Position mit der inhaltlichen Nähe der Auffassungen Seebergs und des Kaisers und mit der ausdrücklich positiven Würdigung des Kaisers durch Seeberg. Eine Schwäche der Position Friedrichs liegt aber darin, daß er keinerlei Beleg für Korrespondenz zwischen Wilhelm II. und Seeberg liefert; wenn es keine gegeben
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Versuch zeigt, daß Wilhelm sich auch theologisch um Ausgleich bemühte zwischen einem die Freiheit der Wissenschaft betonenden Liberalismus und einem die Bewahrung des Glaubensfundamentes anstrebenden Konservatismus. An der sachlichen Richtigkeit der historisch-kritischen Forschungsergebnisse zweifelte er nicht. Aber instinktiv – durch Chamberlain expliziert – befürchtete er als Folge radikalliberaler Theologie einen kirchlichen Substanzverlust, dem man theologisch gegensteuern müsse. Der Biograph Chamberlains, Geoffrey Field, hat den Hollmann-Brief als Dokument des Übergangs Wilhelms vom Luthertum zu einem rassistischen Deutschchristentum interpretiert.267 Das ist schon deshalb unrichtig, weil Wilhelm gar kein Lutheraner war, sondern Reformierter. Aber es wird immerhin die berechtigte Frage aufgeworfen, ob Wilhelm in seinen theologischen Anschauungen eine Entwicklung durchgemacht hat. Thomas Benner hat die Gegenthese aufgestellt, daß Wilhelms religiös-weltanschauliche Überzeugungen zeitlebens im wesentlichen dieselben geblieben seien; Chamberlain habe im Grunde nur eine geschlossene Form für das angeboten, was Wilhelm ohnehin schon geglaubt habe.268 Für beide Auffassungen bietet der Briefwechsel zwischen Wilhelm und Chamberlain Argumente: Wilhelm selbst behauptete ja, Chamberlain habe in den Grundlagen das ausgesprochen, was ihn selbst schon immer dunkel umgetrieben habe.269 Andererseits übte Chamberlain ja deutliche inhaltliche Kritik am HollmannBrief. Wilhelms Reaktion darauf war bezeichnend: Ein knappes halbes Jahr lang ließ er nichts von sich hören, dann schrieb er Chamberlain einen einzeiligen Dankesbrief, der mit keinem Wort auf die inhaltliche Kritik einging.270 Die Korrespondenz wurde in den folgenden Jahren zwar durchaus freundlich weitergeführt, doch ausführlichere theologische Erörterungen setzten erst wieder im und vor allem nach dem Ersten Weltkrieg ein.271 Überhaupt spricht vieles dafür, daß Wilhelm II. von den überwiegend kritischen Reaktionen der Öffentlichkeit auf den Hollmann-Brief enttäuscht war. Für die Zukunft verzichtete er jedenfalls darauf, sich öffentlich theologisch zu äußern, allerdings mit einer kleineren Ausnahme, der Konfirmationsansprache an seine Söhne. Die Prinzen August Wilhelm und Oskar haben sollte, dann spräche das gegen eine besondere inhaltliche Nähe der beiden zueinander, zumal Seeberg ja in Berlin, also für Wilhelm II. direkt vor der Haustür, Professor war. 267 Vgl. Field, S. 259. 268 Vgl. Benner, S. 66–69, S. 112–113 und S. 120–130. 269 Vgl. Kaiser Wilhelm II. an H. S. Chamberlain vom 31.12.1901, Chamberlain, Briefe II, S. 142. 270 Vgl. Kaiser Wilhelm II. an H. S. Chamberlain vom 24.8.1903, Chamberlain, Briefe II, S. 212. 271 Vgl. dazu Kapitel H. III.
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wurden am 17. Oktober 1903, ein gutes halbes Jahr nach dem HollmannBrief, von Oberhofprediger Dryander konfirmiert. Bei der Feier hielt Wilhelm eine Ansprache, die anschließend als Sonderdruck veröffentlicht wurde als Des Kaisers Worte an seine Söhne und alle Söhne seines Volkes. Wilhelm bezeichnete die Konfirmation darin als „Fahneneid“ und verglich das Leben des Christen mit dem des Kriegers.272 Ziel jedes Christen sei die Ausbildung einer Persönlichkeit nach dem Vorbild Christi, der „persönlichsten Persönlichkeit“ aller Zeiten.273 „Und das sei Euch gesagt, damit Ihr auch in der Lage seid, es zu vertreten, wenn Ihr einst im Strudel des Lebens steht und Meinungsaustausch hört und selber Meinungen austauscht über Religion, vor allem über die Person unseres Heilandes. Es hat niemals eines Menschen Wort fertig gebracht, Leute aller Rassen und Leute aller Völker gleichmäßig zu denselben Zielen zu begeistern, danach zu trachten, ihm gleich zu sein, ja sogar ihr Leben für ihn zu lassen. Und das Wunder ist nur dadurch zu erklären, daß die Worte, die er gesprochen hat, Worte des lebendigen Gottes sind, welche Leben erwecken und lebendig bleiben noch nach Tausenden von Jahren, wenn der Weisen Worte längst vergessen sein werden.“274
Was den Kaiser zur Veröffentlichung seiner Ansprache bewegte, ist nicht ganz klar; der Fokus auf die Christologie legt aber nahe, daß hier noch einmal die Babel-Bibel-Streit-Thematik aufgegriffen werden sollte. Mit dem Begriff der „persönlichsten Persönlichkeit“ und der Betonung der qualitativ exklusiven historischen Bedeutung der Erscheinung Christi nahm Wilhelm dabei erneut Motive auf, die Chamberlain in den Grundlagen ausgeführt hatte.275 Damit erscheint die Ansprache als Nachzügler in der Babel-BibelDebatte, aber sie zeigt auch, daß Wilhelm weiterhin Chamberlain als seinen ersten geistigen Inspirator betrachtete. Der wichtigste Grund aber, weshalb Wilhelm sich als Kaiser nicht wieder öffentlich in theologischen Fragen zu Wort meldete, liegt nicht in seiner gekränkten Eitelkeit, sondern in seinem politischen Kalkül. Schon den Hollmann-Brief hatte er ja nicht ganz freiwillig geschrieben, sondern war von Delitzsch in eine Zwangslage gebracht worden, aus der er ohne öffentliche Klarstellung nicht mehr herauskam. Die ganze Debatte über die theologischen Konsequenzen aus der religionsgeschichtlichen Erforschung der Bibel mußte Wilhelm aber politisch ein Dorn im Auge sein, weil sie tendenziell desintegrativ wirkte: Die Spannungen zwischen Konservativen und Liberalen sowie zwischen Christen und Nichtchristen verschärften sich, und das Christentum drohte an Geltungsanspruch einzubüßen. Das wiederum war Gift für die konservative Religionspolitik des Kaisers, aber auch für seine 272 273 274 275
Des Kaisers Worte (unpaginiert). Auch abgedruckt in Penzler III, S. 194–195. Penzler III, S. 195. Penzler III, S. 195–196. Vgl. Chamberlain, Grundlagen, S. 201. Vgl. Kapitel E. III.
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Selbstpräsentation als Herrscher. Ein Bedeutungsverlust der christlichen Religion wäre schließlich nicht förderlich für Wilhelms Bestreben gewesen, durch politische Mythen nationale Identität zu stiften. Denn das Christentum nahm in der politischen Mythologie des Kaisers einen festen Platz ein, wie im folgenden zu zeigen ist.
V. Zusammenfassung Wilhelm II. war als preußischer König zugleich Summus episcopus, „oberster Bischof“, der preußischen Landeskirche. Diese aus der Tradition des landesherrlichen Kirchenregiments stammende Position versuchte Wilhelm zu festigen, weil er mit Blick auf die preußische Kirchengeschichte die innere Einheit seiner Landeskirche von der Stärke des kirchlichen Einflusses des Landesherrn abhängig glaubte. Ergänzend dazu war er bemüht, die Gegensätze zwischen den kirchlichen Parteien auszugleichen. Auf der Grundlage einer einheitlich gefestigten preußischen Landeskirche sei dann eine Einheit der gesamten deutschen evangelischen Kirche denkbar. Dieses Ziel propagierte Wilhelm durch Einladungen an alle Vertreter des deutschen und europäischen Protestantismus und durch entsprechende Reden, wenn es um die Einweihung symbolträchtiger Kirchen ging. Konkrete Schritte hin zu einer Vereinigung der evangelischen Landeskirchen unternahm er aber nicht. Er selbst begründete das öffentlich und intern mit der gebotenen Rücksicht auf die religiöse und kirchenpolitische Selbständigkeit der anderen evangelischen Kirchentümer. Dieser selbstauferlegten kirchenpolitischen Zurückhaltung widerspricht auch die sporadische kaiserliche Predigttätigkeit nicht unbedingt, da sie keine öffentliche Predigttätigkeit im eigentlich Sinn darstellte; sie zeigt aber, wie sehr privates Handeln und öffentliches Wirken bei Wilhelm II. miteinander verschränkt waren. Der Streit um die Berufung des Kirchenhistorikers Adolf Harnack an die theologische Fakultät Berlins war die erste Belastungsprobe für den zurückhaltend-„mittelparteilichen“ Kurs, den Wilhelm in der Kirchenpolitik verfolgte. Hier brachen die Gegensätze zwischen kirchlicher Rechter und theologischem Liberalismus zum ersten Mal in seiner Regierungszeit aus. Für Wilhelm gab es dabei nichts zu vermitteln; er mußte sich für eine Seite entscheiden. Auf Anraten des Kultusministers Goßler und des ganzen preußischen Staatsministeriums beschloß Wilhelm, die Berufung Harnacks gegen den Willen der theologisch orthodoxen Kirchenbehörde durchzusetzen. Damit hatte er alle diejenigen überrascht und widerlegt, die angesichts der Stoecker-Affäre ein Jahr zuvor erwartet hatten, Wilhelm gehöre der protestantischen „Orthodoxie“ an.276 276
Siehe dazu Kapitel C. III.
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Stärkere kirchenpolitische Gestaltungsmöglichkeiten boten sich Wilhelm im Apostolikumstreit von 1892, in dem wieder Harnack zum Angriffsziel der theologischen Rechten wurde. Harnack hatte aus aktuellem Anlaß eine Stellungnahme zu der Frage abgegeben, ob das apostolische Glaubensbekenntnis abgeschafft und durch ein neues evangelisches Bekenntnis ersetzt werden müsse. Harnack verneinte diese Frage zwar, machte aber deutlich, daß ein neues Bekenntnis durchaus wünschenswert sei, weil das Apostolikum nur noch in stark umgedeuteter Form Gültigkeit beanspruchen könne. Die Welle der Empörung, die von Seiten der Orthodoxie, aber auch des gemäßigteren theologischen Konservatismus über Harnack einbrach, zwang Wilhelm zum Handeln. Er entschied sich für die mildeste der erwartbaren Sanktionen: Harnack wurde intern ermahnt und zu größerer Zurückhaltung aufgefordert, und es wurde ein Lehrstuhl für Systematische Theologie an der Berliner Fakultät geschaffen, der in Zukunft dem theologisch „positiven“, also konservativen Standpunkt mehr Geltung verschaffen solle. Das war ein Kompromiß, mit dem alle Seiten leben konnten; und schließlich hielt Wilhelm in Wittenberg eine viel beachtete Rede, die nicht explizit auf die Apostolikumfrage einging, aus der aber jede der beiden Streitparteien ihre Anschauung herauslesen konnte. Theologisch tat Wilhelm II. sich erst im holländischen Exil wirklich hervor; während seiner Regierungszeit hielt er sich in dieser Hinsicht eher zurück. Dennoch sind seine theologischen Grundvorstellungen auch für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg rekonstruierbar, da er einen intensiven brieflichen Kontakt auch über theologische Themen mit Houston Stewart Chamberlain pflegte. Chamberlain hatte mit seinen Grundlagen des 19. Jahrhunderts weltanschauliche Impulse aufgenommen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts schon einmal in der „Deutschen Bewegung“ virulent geworden waren. Chamberlain konstruierte daraus ein weltanschauliches Gesamtsystem, das durch den Zentralgegensatz zwischen kulturschaffenden Germanen und kulturzersetzenden „Antigermanen“ geprägt war. Mit letzterem war nicht nur, aber vor allem das Judentum gemeint, wobei für ihn aber nicht dessen biologische Identität ausschlaggebend war, sondern die Geisteshaltung des modernen Materialismus, die er im Judentum in besonderer Weise verkörpert sah. Als einen der Kampfplätze zwischen „germanischem“ und „jüdischem“ Geist nannte Chamberlain die Religion, insbesondere die christliche. Die Erscheinung Christi hatte seiner Auffassung nach einen völligen Neubau der Religion ermöglicht, den die christlichen Kirchen nur halbherzig vollzogen hätten. Grund dafür sei deren aus dem Judentum übernommenes Festhalten an gegenständlichen Religionsvorstellungen. Christus dagegen habe den Weg gewiesen zu einer radikalen Verinnerlichung der Religion, und diesen Weg gelte es wieder aufzunehmen, um ein „germanisches Christen-
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tum“ zu schaffen. Damit gehörte Chamberlain innerhalb der sich gerade formierenden „völkischen Bewegung“ zu den „Deutschchristen“, die eine Synthese aus Christentum und „deutschem Geist“ anstrebten. Wilhelm II. war von den Grundlagen begeistert; besonders hatte es ihm Chamberlains Kulturoptimismus in bezug auf die Zukunft des „Deutschtums“ angetan. Es entspann sich ein über Jahrzehnte dauernder Briefwechsel zwischen Wilhelm II. und Chamberlain und schließlich auch mit Harnack über theologische Fragen. Schlagworte wie die „Weiterbildung der Religion“ übernahm Wilhelm von Chamberlain und führte sie über seine Kaiserreden in den öffentlichen Diskurs ein. Einen öffentlichen Kulminationspunkt erreichte diese theologische Korrespondenz des Kaisers mit dem Babel-Bibel-Streit von 1903. Der Assyriologe Friedrich Delitzsch hatte ihn ausgelöst, nachdem er vor der Deutschen Orientgesellschaft unter Anwesenheit Wilhelms den babylonischen Einfluß auf die Entstehung des Alten Testaments dargelegt und dies mit einem Angriff auf den Offenbarungscharakter des Alten Testaments verbunden hatte. Delitzsch nahm dabei explizit auf Wilhelms Wort von der „Weiterbildung der Religion“ Bezug, was diesen wiederum zwang, sich öffentlich von Delitzsch zu distanzieren. Der sogenannte Hollmann-Brief Wilhelms ist ein einzigartiges Dokument der theologischen Vorstellungen, die Wilhelm II. bewegten: Wilhelm widersprach den historisch-kritischen Befunden Delitzsch nicht und gab auch zu, daß große Teile des Alten Testaments nicht göttlich inspiriert seien. Dennoch gebe es eine spezifische religiöse Offenbarung, die das Alte Testament durchziehe und die direkt auf Christus als den geweissagten Messias zulaufe. Daneben existiere allerdings noch eine historische Offenbarung Gottes in herausragenden geschichtlichen Persönlichkeiten. Außerdem habe Delitzsch Zweifel an der Gottheit Christi geäußert, was geradezu grotesk sei. Der eigentliche Fehler Delitzschs bestehe aber darin, theologisch-historische Forschungsergebnisse vor einem Laienpublikum zu erörtern, wo sie nur Verwirrung stifteten und im schlimmsten Fall Glauben zerstörten. Der Brief wurde zeitnah veröffentlicht und intensiv diskutiert. Aufschlußreicher als die Versuche der konservativen und liberalen Presse, den Kaiser anhand des Briefs zu einem der Ihren zu erklären, sind aber die Diskussionen, die Wilhelm mit Chamberlain und Harnack über den Brief führte. Bei aller Kritik, die beide am Hollmann-Brief äußerten, zeigt sich doch eine Übereinstimmung der Anschauungen im Grundsätzlichen. Das betrifft zum einen die Ablehnung der traditionellen Verbalinspirationslehre, zum anderen das daraus folgende vermittlungstheologische Bestreben, unter den Bedingungen des modernen Wahrheitsbewußtseins die Wahrheit des Christentums neu zu formulieren. Harnack erschien dabei als gemäßigter liberaler Theo-
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loge, der zwischen Glauben und Wissen strikt unterscheiden wollte, aber dennoch den Glauben als Grundlage theologischer Wissenschaft akzeptierte. Chamberlain dagegen argumentierte einerseits viel radikalliberaler, indem er die orthodoxe Vergegenständlichung von Offenbarungs- und Gottesbegriff ablehnte. Andererseits aber war er der Meinung, daß man Neues nur auf dem Fundament des Alten aufbauen dürfe und daß eine Zerschlagung traditioneller Frömmigkeit destruktiv und fehl am Platze sei. Das war auch Wilhelms Überzeugung, der in der wissenschaftlichen Infragestellung der traditionellen Frömmigkeit eine Gefahr für die Glaubenssubstanz des Christentums sah. Seine im Hollmann-Brief geäußerten theologischen Vorstellungen sind daher bei allem Mangel an systematischer Stringenz als Ansätze einer modernen Theologie zu betrachten, in der sich auch eine im weitesten Sinne altkirchliche Frömmigkeit wiederfinden könnte. Für die Frage des Verhältnisses von Religion und Politik zwischen Amt und individueller Person ist der Hollmann-Brief besonders aufschlußreich, da es sich um eine dezidiert persönliche Stellungnahme handelte, die der Kaiser aber öffentlich abgab. Zwar war Wilhelm II. durch die Umstände zu einer öffentlichen Äußerung gezwungen; die Art und Weise, wie er sich äußerte, offenbart aber zumindest das persönliche Sendungsbewußtsein des Kaisers. Die irritierten Reaktionen auf den Hollmann-Brief resultierten zu einem guten Teil daraus, daß unklar war, ob Wilhelm sich als Privatperson, als Deutscher Kaiser, als Preußischer König oder als Summus episcopus seiner Landeskirche zu Wort gemeldet hatte. Wahrscheinlich ist, daß Wilhelm das damit verbundene Problem nicht bewußt war, sondern glaubte, durch seine persönliche Authentizität wirken und auch seine politische Stellung stützen zu können.
F. Politische Theologie II: Politische Mythen Bei der Einweihungsfeier der Berliner Siegesallee am 18. Dezember 1901 hielt Wilhelm II. eine Grundsatzrede über die Kunst, in der er scharf gegen die moderne Kunst Front machte. Die Rede wurde teilweise heftig kritisiert, vom bürgerlichen Kulturmilieu aber frenetisch gefeiert.1 Als Begründung für seine Hochschätzung einer an klassischen Schönheitsidealen orientierten Kunst führte der Kaiser den politischen Auftrag des Künstlers an: „Die Kunst soll mithelfen, erzieherisch auf das Volk einzuwirken, sie soll auch den unteren Ständen nach harter Mühe und Arbeit die Möglichkeit geben, sich an den Idealen wieder aufzurichten. [. . .] Wenn nun die Kunst, wie es jetzt vielfach geschieht, weiter nichts tut, als das Elend noch scheußlicher hinzustellen, wie es schon ist, dann versündigt sie sich damit am deutschen Volke. Die Pflege der Ideale ist zugleich die größte Kulturarbeit, und wenn wir hierin den anderen Völkern ein Muster sein und bleiben wollen, so muß das ganze Volk daran mitarbeiten, und soll die Kultur ihre Aufgabe voll erfüllen, dann muß sie bis in die untersten Schichten des Volkes hindurchgedrungen sein. Das kann sie nur, wenn sie erhebt, statt daß sie in den Rinnstein niedersteigt.“2
Die hier geäußerte Auffassung von Kunst als „Staatsaufgabe“3 stand nicht nur in einer hohenzollernschen Haustradition, sondern bewegte sich auch in einem breiten zeitgenössischen Konsens.4 Die Kunst diente in diesem Sinne sowohl der Herrschaftslegitimierung als auch der Stiftung politischer Identität. Letzteres wurde vor allem durch „Großerzählungen“5 erreicht, deren Gehalt in der Kunst dargestellt wurde. Dahinter stand die Überzeugung, daß rationale Einsicht nicht ausreiche, um politische Loyalität und Identität zuverlässig zu gewährleisten. 1 Vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 262–264 und Lehnert, Siegesallee, S. 250–253 sowie Mommsen, Der autoritäre Nationalstaat, S. 281. 2 Die wahre Kunst, 18.12.1901: Penzler III, S. 61–62. Das nur in wenigen Details abweichende Originalmanuskript der Rede befindet sich in GStA, I. HA Rep. 89, Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode, Nr. 31803, Bl. 197–205. Diese Version ist abgedruckt in: Obst, Die politischen Reden, Nr. 141, S. 240–245. 3 Scheuner, S. 13. Vgl. auch Röhl, Aufbau, S. 989. 4 Zur hohenzollernschen Tradition der „Kunst im Dienste der Staats-Idee“ vgl. Malkovsky, vor allem S. 242–243. Vgl. außerdem Straub. S. 228 und Seidel, Die bildende Kunst, S. 298. 5 Münkler, S. 9.
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F. Politische Theologie II: Politische Mythen
Wegen ihrer Überschreitung der ratio werden diese Erzählungen auch Mythen genannt. Dabei ist weder der Alltagsgebrauch des Begriffs Mythos – der unter Mythen falsche Vorstellungen versteht – noch sein spezifisch religionswissenschaftlicher Gebrauch gemeint, nach dem Mythen „heilige Geschichten“ und Ursprungserzählungen sind.6 Etwas von diesem Gehalt bewahren allerdings auch die politischen Mythen, die hier gemeint sind. Der politische Theoretiker Georges Sorel wies in seinem Manifest des revolutionären Syndikalismus, dem Traktat Über die Gewalt, 1906 darauf hin, daß die Handlungsimpulse der Menschen nicht durch rationale Erwägung entstünden, sondern infolge von „Schlachtbildern“. Für jede politische Bewegung seien daher „soziale Mythen“ notwendig, „eine Ordnung von Bildern“, die die entsprechenden Gesinnungen wecken könnten.7 Was Sorel hier als für politische Bewegungen unabdingbar erklärte, gilt ebenfalls von politischen Ordnungen und politischen Gemeinwesen. Politische Mythen in diesem Sinne sind bildhafte und narrative Verdichtungen der eigenen politischen Identität. In ihnen „wird das Selbstbewusstsein eines politischen Verbandes zum Ausdruck gebracht, beziehungsweise dieses Selbstbewusstsein speist sich aus ihnen. Sie sind die narrative Grundlage der symbolischen Ordnung eines Gemeinwesens, die insbesondere dann in Anspruch genommen werden muss, wenn sich Symboliken nicht mehr von selbst erschließen oder wenn es gilt, sie zu verändern. In einer solchen Situation sind politische Mythen und Symbole Angriffen von innen wie von außen ausgesetzt, und dabei stellen mythische Narrationen die wichtigste Verteidigungslinie der symbolischen Ordnung dar.“8 Es leuchtet daher ein, daß das wilhelminische Kaiserreich, nach innen noch nicht gefestigt, nach außen latent bedroht, sich in besonderer Intensität politischer Mythen bediente. Dabei handelte es sich in erster Linie um geschichtspolitische Mythen, die die historische Herkunft des neuen Reiches erzählten und die in diesem Sinne Ursprungsmythen waren.9
6
Vgl. Eliade, S. 85–88. Sorel, S. 30 und S. 138–145. Vgl. dazu auch Kapitel A., wo auf die relativ breite zeitgenössische Debatte um politische Mythen als Ausfluß des Mangels bloß rationaler Erklärungsmuster verwiesen wird. Zur enormen geistesgeschichtlichen Bedeutung Sorels vgl. auch Ohana, Homo mythicus; vgl. Nipperdey, Der Mythos im Zeitalter der Revolution. 8 Münkler, S. 15–16. 9 Vgl. dazu Hardtwig, S. 224–225, S. 237–244 und S. 264–301. Vgl. auch Obst, Einer nur ist Herr, S. 404–405. 7
I. Politischer Mythos I: Wilhelm der Große
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I. Politischer Mythos I: Wilhelm der Große Am 26. Februar 1897 hielt Wilhelm II. eine vielbeachtete Rede beim Festmahl des Brandenburgischen Provinziallandtages, in der er hauptsächlich über seinen Großvater, Kaiser Wilhelm I., sprach. Der habe die unschätzbare Leistung erbracht, durch die Reichsgründung zum ersten Mal seit den Tagen Friedrich Barbarossas Deutschland zusammengeführt zu haben: „Meine Herren, wenn der hohe Herr [Wilhelm I.] im Mittelalter gelebt hätte, er wäre heilig gesprochen, und Pilgerzüge aus allen Ländern wären hingezogen, um an seinen Gebeinen Gebete zu verrichten. Gott sei Dank, das ist auch heute noch so! Seines Grabes Tür steht offen, alltäglich wandern die treuen Untertanen dahin und führen ihre Kinder hin, Fremde gehen hin, um sich des Anblickes dieses herrlichen Greises und seiner Standbilder zu erfreuen. [. . .] Für uns alle, mögen wir sein wer und wo wir wollen, zu dieser Aufgabe ruft uns das Andenken an Kaiser Wilhelm, den Großen, und in dieser wollen wir uns um ihn, um sein Andenken scharen [. . .]. Die Aufgabe, die uns allen aufgebürdet wird, die wir ihm gegenüber verpflichtet sind zu übernehmen, ist der Kampf gegen den Umsturz mit allen Mitteln, die uns zu Gebote stehen. Diejenige Partei, die es wagt, die staatlichen Grundlagen anzugreifen, die gegen die Religion sich erhebt und selbst nicht vor der Person des allerhöchsten Herrn Halt macht, muß überwunden werden. Ich werde Mich freuen, jedes Mannes Hand in der Meinen zu wissen, sei er Arbeiter, Fürst oder Herr – wenn Mir nur geholfen wird in diesem Gefechte! Und das Gefecht können wir nur siegreich durchführen, wenn wir uns immerdar des Mannes erinnern, dem wir unser Vaterland, das Deutsche Reich verdanken, in dessen Nähe durch Gottes Fügung so mancher brave, tüchtige Ratgeber war, der die Ehre hatte, seine Gedanken ausführen zu dürfen, die aber alle Werkzeuge seines erhabenen Wollens waren, erfüllt von dem Geiste dieses erhabenen Kaisers.“10
Wilhelm II. hatte hier zum ersten Mal öffentlich seinen Großvater „Wilhelm den Großen“ genannt.11 Die Rede war Teil einer Propagandaoffensive des Kaisers, seinen Vorvorgänger zum Zentrum eines politischen Mythos zu machen.12 Sein Hauptmotiv dafür war der Glaube, Wilhelm I. sei – neben 10 Rede bei dem Festmahl des Brandenburgischen Provinziallandtages, 26.2.1897: Penzler II, S. 39–40; Obst, Die politischen Reden, Nr. 84, S. 154–156. 11 Noch ein gutes halbes Jahr zuvor, bei der Einweihung des Kyffhäuser-Denkmals, hatte Wilhelm II. den Ausdruck nicht gebraucht und seinen Großvater statt dessen den „Großen Kaiser“ genannt: Vgl. Obst, Die politischen Reden, Nr. 82, S. 150–151; vgl. Penzler II, S. 20–21. Und bei der Grundsteinlegung des KaiserWilhelm-Denkmals in Bremen im April 1890 hatte er in seiner Festrede seinen kaiserlichen Großvater nicht einmal besonders hervorgehoben: Vgl. Penzler I, S. 100– 102. 12 Die auch öffentlich artikulierte Verehrung Wilhelms II. für seinen Großvater ist schon von Jugend an außerordentlich groß gewesen; eine echte Propagandaoffensive wurde daraus anläßlich der Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag Wilhelms I., in de-
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ihm selbst – als Identifikations- und Symbolfigur der nationalen Einheit besonders geeignet.13 Im Dezember 1896 hatte Wilhelm II. mit Reichskanzler Hohenlohe den Plan diskutiert, zum 100. Geburtstag seines Großvaters eine Erinnerungsmedaille an alle Angehörigen der Armee zu verleihen. Hohenlohe äußerte Bedenken wegen der Kosten für die Medaille, die der Reichstag möglicherweise nicht genehmigen werde. Wilhelm II. hielt dem entgegen, das Andenken seines Großvaters sei „der beste Grund, um die staatserhaltenden Parteien zusammenzufassen zu einem patriotischen Entschluß“ – und setzte sich mit seinem Plan schließlich durch.14 Die Rede des Kaisers vor dem Brandenburgischen Provinziallandtag enthält die drei wesentlichen Motive, die für den „Wilhelm-der-Große“-Mythos eine Rolle spielten. Erstens ging es positiv um die nationale Einheit, die Wilhelm I. wiederhergestellt habe und die in Gegenwart und Zukunft bewahrt werden müsse. Zweitens richtete sich dieses Projekt der nationalen Sammlung negativ gegen den „Umsturz“, gegen diejenige „Partei“, die sich gegen den Staat und die Religion richte – sprich: gegen die Sozialdemokratie. Hier nahm Wilhelm II. das Motiv wieder auf, den Kampf gegen die Sozialdemokratie mit dem Versuch zu verbinden, die Arbeiterschaft in die Nation zu integrieren.15 Drittens schließlich versuchte Wilhelm II., mit der Propagierung „Wilhelms des Großen“ der Verehrung Otto von Bismarcks mit Hilfe eines Gegenmythos etwas entgegenzusetzen. So jedenfalls ist die Bemerkung Wilhelms II. zu verstehen, die Reichsgründung sei das alleinige Werk Wilhelms I. gewesen, und seine „Ratgeber“ hätten lediglich seine Gedanken ausgeführt. So lautete nur der offizielle Redetext; alternative Lesarten kursierten, nach denen der Kaiser nicht „Ratgeber“, sondern „Handlanger“ gesagt habe. Ohrenzeugen behaupteten sogar, es habe in Wirklichkeit „Handlanger und Pygmäen“ geheißen – eine Herabwürdigung des ersten Reichskanzlers, die in der öffentlichen Meinung Empörung auslöste.16 ren Zusammenhang eine Fülle von Denkmälern errichtet wurde und eine Reihe offiziöser Festschriften erschienen, die die Verehrung des „Heldenkaisers“ im Volk verbreiten sollten: vgl. Oncken, Unser Heldenkaiser. Vgl. außerdem Nipperdey, Nationalidee, S. 543–546. 13 Zum Selbstpräsentation Wilhelms II. als nationale Integrationsfigur vgl. Kapitel D. 14 Kaiser Wilhelm II. an Hohenlohe, 6.12.1896 (zitiert nach der Abschrift im Bundesarchiv Koblenz, Nachlaß Boetticher, 23), in: Röhl, Aufbau, S. 957. Vgl. auch Röhl, Aufbau, S. 953–960. 15 Vgl. dazu Kapitel D. III. 16 Vgl. Penzler II, S. 40; vgl. Obst, Die politischen Reden, Nr. 84, S. 154–156. Vgl. Kuno von Moltke an Eulenburg, 1.3.1897: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1299, S. 1792. Zu den Pressereaktionen vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 181–186.
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Angesichts der Verbreitung und der latent regierungsoppositionellen Haltung des Bismarckmythos war die Gefahr, die hier der von Wilhelm II. angestrebten nationalen Einheit drohte, nicht von der Hand zu weisen. Zwischen 1888 und 1918 entstanden unter systematischer staatlicher Förderung zwischen dreihundert und vierhundert Denkmäler für Wilhelm I.; Bismarck wurden ohne entsprechende Förderung im selben Zeitraum etwa fünfhundert Denkmäler gestiftet.17 Bismarck selbst hatte seit seiner Entlassung 1890 fortwährend gegen die jeweils amtierende Regierung gewettert. Im Oktober 1896 veröffentlichte er sogar den Inhalt des zwar abgelaufenen, aber noch immer diplomatisch brisanten Rückversicherungsvertrags mit Rußland.18 Die Begeisterung der zumeist bürgerlichen „Bismarckdeutschen“19 für den ersten Reichskanzler mußte Wilhelm II. deshalb beunruhigen. Die als „Handlangerrede“ berühmt gewordene Rede des Kaisers vor dem Brandenburgischen Provinziallandtag hatte die Stimmung im Vorfeld der Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag Wilhelms I. am 22. März 1897 vergiftet. Um die Wogen zu glätten, hielt Wilhelm II. bei der Einweihung des Nationaldenkmals vor dem Berliner Schloß eine maßvolle Rede, in der die doppelte Frontstellung gegen Sozialdemokratie und Bismarckmythos nicht erwähnt wurde. Stattdessen konzentrierte der Kaiser sich auf die angestrebte nationale Einigung: „Für Uns [. . .] soll das Andenken an Ihn [Wilhelm I.] ein erneuter Ansporn sein, für Unsere Völker zu leben und zu arbeiten, wie Er zu gemeinsamem Ziel der fortschreitenden Kultur und zur Aufrechterhaltung des Friedens. Wir aber, indem Wir Uns von neuem zu innigem Bunde fester Freundschaft und Waffenbrüderschaft versprechen, wollen Unsere Gläser erheben und mit dem Rufe auf das Wohl des deutschen Vaterlandes und des deutschen Volkes ihm und Unseren Fürsten Unseren Gruß entbieten.“20
Die Stoßrichtung gegen Bismarck war trotzdem nicht zu übersehen. Der ganze Versuch, Wilhelm I. als nationale Integrationsfigur zu präsentieren, ging von der Annahme aus, nicht Bismarck, sondern Wilhelm I. sei der eigentliche Reichsgründer gewesen.21 Dem entsprachen eine Reihe von Kaiser-Wilhelm-Denkmälern, die zumeist auch anläßlich des 100. Kaisergeburtstages entstanden und Wilhelm I. als Gründer der nationalen Einheit 17
Vgl. Nipperdey, Nationalidee, S. 543 und S. 577. Vgl. Clark, Wilhelm II., S. 74–80. Vgl. auch Straub, S. 180–184. 19 Straub, S. 184. Zur Bismarckverehrung und seiner innenpolitischen Problematik für Wilhelm II. vgl. Pöls, S. 183–201. 20 Trinkspruch bei dem auf die Enthüllung des Nationaldenkmals folgenden Prunkmahle im königlichen Schlosse, 22.3.1897: Penzler II, S. 45; Obst, Die politischen Reden, Nr. 85, S. 156–157. 21 Vgl. Vogel, S. 213–216. 18
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darstellten.22 Bekannt ist das Denkmal am „Deutschen Eck“ in Koblenz, bei dessen Enthüllung Wilhelm II. nicht nur über das Gottesgnadentum seines Großvaters redete, sondern ihm auch das Hauptverdienst an der Reichsgründung zusprach.23 Schon hier deutete sich an, daß Wilhelm II. auch die Christlichkeit seines Großvaters in den Dienst des „Wilhelm-der-Große“-Mythos stellen wollte. Am stärksten versuchte er das mit dem Bau der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin. Die war bereits im September 1895 eingeweiht worden und ist damit eine Art Vorläufer der Initiative von 1897.24 In aller Deutlichkeit hatte Wilhelm II. kurz vor der Einweihungsfeier das politische Motiv des Kirchenbaus in einem Privatbrief an Hohenlohe zum Ausdruck gebracht: „Mit dem Stichwort ‚für das geheiligte Andenken an die Person Wilhelms des Großen‘ vereinigen wir jetzt in diesem Sommer das Volk hinter uns wie mit einem Zauberwort. Haben wir sie erst einmal zusammen, dann werden sie schon nicht auseinanderfallen; sie sind dann ‚im Feuer‘. Also Losung ‚für die Beschützung des Andenkens des großen Kaisers‘ frisch ans Werk und feste auf die Soz. Dem. los geschrieben und gedonnert.“25
Hier klang noch einmal die konservative Religionspolitik des Kaisers an, die das Christentum auch als antisozialistische Kraft stärken wollte.26 Im Falle der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wurde aber deutlich, daß dies nur ein Teil der umfassenderen Hoffnung Wilhelms II. war, mit dem Christentum die nationale Einheit zu sichern. In der Vorhalle der Kirche entstand bis 1906 ein Bilderzyklus, der so etwas wie eine nationale Heilsgeschichte bot, die das Geschick der deutschen Nation einerseits mit dem Christentum und andererseits mit dem Haus Hohenzollern verknüpfte. Mosaikbilder Karls des Großen, Heinrichs I., Ottos des Großen und Rudolfs von Habsburg stellten den Bezug zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation her, während Medaillons der Reformatoren und der zeitgenössischen Fürsten auf die Bedeutung des Protestantismus verwiesen.27 In diesen histo22
Manche dieser Denkmäler entstanden ohne staatliche Initiative, sondern gingen auf Bürgerinitiativen zurück: vgl. Vogel, S. 219. 23 Vgl. Penzler II, S. 60–62; vgl. Obst, Die politischen Reden, Nr. 88, S. 160– 162. Zu dem Teil der Rede, der das Gottesgnadentum betraf, vgl. Kapitel D. I. 24 Trotz einer großen Zahl verschiedener Geldgeber bestimmte Wilhelm II. letztlich allein die konkrete Gestaltung der Kirche. Das gilt für die Wahl des Architekten Franz Heinrich Schwechten ebenso wie für den neoromanischen Baustil und das Bildprogramm: vgl. Hoffmann, Rheinische Romanik, S. 66; vgl. Frowein-Ziroff, S. 40–74. 25 Kaiser Wilhelm II. an Fürst Hohenlohe, 23.8.1895: Hohenlohe, Denkwürdigkeiten, S. 92. 26 Vgl. dazu Kapitel D. V. 27 Vgl. Frowein-Ziroff, S. 247–248 und S. 275–305, dort auch die entsprechenden Abbildungen.
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rischen Rahmen wurde Wilhelm I. mit Hilfe von Reliefs eingebettet, die wichtige Szenen aus seinem Leben mit besonderem Bezug auf die Reichsgründung zeigten.28 Eine weitere Verbindung zum Christentum wurde mit Hilfe eines Fußbodenmosaiks hergestellt, auf dem der drachentötende Erzengel Michael29 zu sehen war, und vor allem durch eine Pietà im Tympanon und durch ein Deckenmosaik mit Christus als Pantokrator.30 Auf Pietà und Christusmosaik lief die Mosaikdarstellung der Hohenzollern-Prozession zu, die im Zentrum des Bildprogramms stand. Ausgewählt wurden für das Mosaik nur diejenigen Hohenzollern, die sich in der Förderung des Christentums besondere Verdienste errungen hatten – Friedrich der Große etwa wurde ausgespart – und diese Verdienste wurden nach Möglichkeit mit Hilfe der Kleidung dargestellt.31 Es ging Wilhelm II. dabei nicht nur um die Stärkung der nationalen Einheit und des christlichen Bekenntnisses, sondern auch darum, das Haus Hohenzollern insgesamt als „neue Reichsdynastie“32 zu legitimieren. Dieser Zweck kam aber nicht nur in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, sondern auch in der Berliner Siegesallee sinnfällig zum Ausdruck.33 Deren Programm erklärte der Kaiser selbst in einer Rede zur Einweihung der Allee im Dezember 1901: Jeder Fürst der Hohenzollern sollte in einer Statue verewigt und ihm zur Seite „die wichtigsten Helfer der Herren an ihrem Werke“ dargestellt werden.34 Das diente einerseits der Huldigung der Hohenzollern an sich, andererseits und vor allem aber der Betonung ihrer Verdienste für die gesamtdeutsche Geschichte.35 Diese Vorstellung, daß vor allem die preußische Geschichte einen wesentlichen Beitrag zur Verwirklichung der nationalen Einheit geleistet habe, kam bereits im Stiftungserlaß für die Siegesallee zum Ausdruck.36 Sie entsprach dem Geschichtsbild der borussischen Schule um Johann Gustav Droysen und Heinrich von Treitschke, die affirmativ von Preußens „deutschem Beruf“ gesprochen hatten.37 28 Vgl. Frowein-Ziroff, S. 248 und S. 305–312, dort auch die entsprechenden Abbildungen. 29 Zur Bedeutung des Erzengels Michael für Wilhelm II. siehe Kapitel F. IV. 30 Vgl. Frowein-Ziroff, S. 247. 31 Vgl. Frowein-Ziroff, S. 249–265, dort auch die entsprechenden Abbildungen. Wilhelm II. trug beispielsweise den schwarzen Johannitermantel. Vgl. dazu auch Hoffmann, Rheinische Romanik, S. 67. 32 Förster, Kulturpolitik, S. 26. Vgl. dazu auch Kapitel D. I. 33 Grundlegend zur Siegesallee vgl. Lehnert, hier vor allem S. 52–63. 34 Die wahre Kunst, 18.12.1901: Penzler III, S. 58; Obst, Die politischen Reden, Nr. 141, S. 240–245. 35 Vgl. Nipperdey, Nationaldenkmal, S. 542–543. 36 GStA I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode, Nr. 31799, Bl. 97. 37 Vgl. Meinecke, Preußen und Deutschland, S. 49–56. Vgl. Lehnert, S. 52–53. Zu Droysen vgl. auch Clark, Preußen, S. 572–573.
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Etwas von dieser „Hohenzollern-Legende“38 ist auch noch in Wilhelms Exilschrift Meine Vorfahren spürbar. Wilhelm gab sich hier alle Mühe, Frömmigkeit und staatspolitische Verantwortung als durchgehende Charakter- und Handlungsmerkmale seiner Vorfahren zu präsentieren.39 Das hinderte ihn aber nicht daran, an den Hohenzollern-Herrschern Kritik zu üben, wenn ihm das notwendig erschien: Weder Friedrich Wilhelm I. noch Friedrich der Große und Friedrich Wilhelm IV. entgingen der Detailkritik des Ex-Kaisers.40 Am härtesten traf es allerdings Friedrich Wilhelm II., dem Wilhelm bescheinigte, das Erbe seines Vorgängers verspielt und den Niedergang Preußens herbeigeführt zu haben.41 Auch die Würdigung Wilhelms I. war erstaunlich differenziert: Zwar wurden Moltke, Roon und Bismarck „Paladine“42 Wilhelms I. genannt, aber Wilhelm II. erkannte durchaus Bismarcks entscheidende Bedeutung für den glücklichen Ausgang der Reichseinigungskriege an.43 Geschickt formulierend schloß Wilhelm II. damit, daß sein Großvater wegen der „historischen Leistungen, die unter seiner Herrschaft zu überwältigenden Tatsachen wurden“, zu Recht den Beinamen „der Große“ trage.44 Es gibt gewisse Anzeichen dafür, daß Wilhelm II. bei aller Verehrung seiner Vorfahren und vor allem seines Großvaters auch zu Regierungszeiten schon zu einer solch differenzierten Einschätzung fähig war. Ein privater Ausspruch Wilhelms gegenüber Eulenburg im Sommer 1896 gibt jedenfalls Aufschluß darüber, wie sehr der Kaiser Bismarck verehrt hatte: „Wie habe ich den Fürsten Bismarck geliebt! Was habe ich ihm geopfert! Ich habe ihm mein Elternhaus zum Opfer gebracht. Um seinetwillen bin ich durch Jahre meines Lebens mißhandelt worden, und ich habe es ertragen, weil ich ihn als den lebendigen Ausdruck des preußischen Vaterlandes empfand. Und er hat mir alles das durch Haß vergolten! Das kann ich nicht vergessen!“ Deshalb, so Wilhelm weiter, wolle er auch die Wahrheit über die Entlassung Bismarcks erst nach seinem Tode veröffentlichen, „denn dann will ich gerechtfertigt erscheinen. So lange ich lebe, will ich die Last tragen, – will nicht dem deutschen Volke sein Ideal zerstören.“45 38 Maurenbrecher, S. 1. Maurenbrecher legte in seiner Widerlegung der „Hohenzollern-Legende“ den Akzent auf das soziale Königtum, behandelte aber auch die Behauptung Wilhelms II., sein Haus habe immer in besonderer Weise dem allgemeinen Staatsinteresse und dem Patriotismus gedient. Vgl. Maurenbrecher, S. 1–27. 39 Vgl. Wilhelm II., Meine Vorfahren, S. 3–4. 40 Vgl. Wilhelm II., Meine Vorfahren, S. 79–90, S. 114–124 und S. 183–197. 41 Vgl. Wilhelm II., Meine Vorfahren, S. 129–132. 42 Wilhelm II., Meine Vorfahren, S. 219. 43 Vgl. Wilhelm II., Meine Vorfahren, S. 218. 44 Wilhelm II., Meine Vorfahren, S. 235. 45 Aufzeichnung Eulenburgs, Unterhaltung mit dem Kaiser an Bord im Lärdalefjord, 12.7.1896: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1239, S. 1704– 1705.
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Kontext des Gesprächs war die Mahnung Eulenburgs, sich in der Politik nicht von persönlicher Zu- oder Abneigung leiten zu lassen; Wilhelms Ausbruch war flankiert von der Bemerkung, gewisse Dinge könne er nicht vergessen, und hängt wahrscheinlich mit neuerlicher Empörung über die Veröffentlichung des geheimen Rückversicherungsvertrags durch Bismarck zusammen.46 Wilhelm deutete in diesem privaten Rahmen aber auch bereits an, daß er aus politischen Gründen zu einer Versöhnung mit Bismarck bereit war. Mit dem Hinweis darauf, daß Bismarck das „Ideal“ des deutschen Volkes sei, hatte Wilhelm II. andererseits schon im Vorfeld seiner Initiative für „Wilhelm den Großen“ einen wichtigen Grund für deren Scheitern benannt. Der „Wilhelm-der-Große“-Mythos konnte nicht wirkungsvoll gegen den Bismarckmythos etabliert werden, weil er dafür zu wenig der historischen Realität entsprach. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang allerdings auch auf Parallelen zu Frankreich, wo etwa von royalistischer Seite versucht wurde, Ludwig XIV. den Beinamen „der Große“ zu geben. Theodor Schieder hat die Vergeblichkeit solcher Initiativen damit erklärt, daß wegen der Verschiebungen des europäischen Zeitgeistes nach der französischen Revolution eigentlich keine Personen mehr, sondern nur noch anonyme geschichtliche Prozesse – die „Großen Revolutionen“ in Frankreich und Rußland, der Erste Weltkrieg als der „Große Krieg“ und der Zweite als der „Große Vaterländische Krieg“ – mit dauerhaftem Erfolg als „groß“ bezeichnet werden konnten.47 Dennoch wird man nicht sagen können, daß der „Wilhelm-der-Große“-Mythos in toto gescheitert wäre. Er funktionierte zwar nicht als Gegenmythos und auch der für Wilhelm I. intendierte Beiname setzte sich nicht durch, aber er leistete zumindest teilweise durchaus seinen Beitrag zur nationalen Einigung. Dafür spricht jedenfalls die außerordentliche Verbreitung des Barbarossa-Barbablanca-Motivs. Diese Vorstellung von der Wiederkehr des Kaisers Barbarossa in „Barbablanca“, eben Wilhelm I., war erfolgreich, weil sie so eingängig war und zudem den bereits etablierten Nationalmythos von Barbarossa aufnahm, der schlafend im Kyffhäuser auf seine Wiederkunft warte, um die Herrlichkeit des alten Reiches wiederherzustellen.48 Das Barbarossa-Barbablanca-Motiv wurde am eindrücklichsten im Kyffhäuser-Denkmal darge46 Vgl. dazu auch Clark, Wilhelm II., S. 76–80, der auf die zwischen Haß und Verehrung changierenden Gefühle Wilhelms für Bismarck hinweist. So äußerte der Kaiser ebenfalls 1896, nachdem Bismarck den Inhalt des geheimen Rückversicherungsvertrags des Reiches mit Rußland veröffentlicht hatte, er wolle den „alten bösen Mann“ einsperren: Clark, Wilhelm II., S. 77. 47 Vgl. Schieder, Friedrich der Große, S. 473–491. 48 Vgl. Vogel, S. 222–224 und Kaul, S. 750–752.
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stellt, das vom Deutschen Kriegerbund angeregt und von 1890–1896 nach Plänen des Architekten Bruno Schmitz errichtet wurde. Das Denkmal zeigt den aus dem Schlaf erwachenden Barbarossa und darüber ein Reiterstandbild Wilhelms I. Bei der Einweihung des Denkmals war Wilhelm II. anwesend und hielt eine Ansprache, die den Verpflichtungscharakter des Andenkens Wilhelms I. für die nationale Einheit hervorhob.49 Zur Einweihung der Goslarer Kaiserpfalz im März 1897 erschien Wilhelm II. allerdings nicht, obwohl deren Bildprogramm das Barbarossa-Barbablanca-Motiv ganz ins Zentrum der Darstellung rückte.50 Aber auch selbst pflegte Wilhelm II. das Motiv: Im Vorraum der Kaiserloge der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wurde ein Mosaik des thronenden Friedrich Barbarossa angebracht, und über dem Bild befand sich eine Darstellung des Reichsadlers. Die Inschrift verband explizit das „neue“ Reich mit dem „alten“, nahm dabei allerdings nicht auf Wilhelm I., sondern auf den gegenwärtigen Kaiser, Wilhelm II. Bezug.51 Die Darstellung macht augenfällig, daß Wilhelm II. mit dem „Wilhelmder-Große“-Mythos nicht nur etwas über die unmittelbare Vergangenheit sagen und nicht nur etwas zum Ruhm seines Großvaters beitragen wollte, sondern daß er hier einen politischen Mythos kreierte, der der Gegenwartsdeutung dienen sollte. Mit der Darstellung Wilhelms I. als des eigentlichen Reichsgründers und mit der Hervorhebung der Leistungen der Hohenzollern für die Entstehung des Reiches wollte Wilhelm II. verdeutlichen, daß er selbst ein legitimer Nachfolger auf dem Kaiserthron sei, der die nationale Aufgabe seines Hauses fortführen werde. Wilhelm I. war in dieser Hinsicht eben auch eine besonders geeignete Figur, in der Wilhelm II. sich selbst verehren lassen konnte.
II. Politischer Mythos II: Reichstradition Die Vorstellung von der Wiederkehr Barbarossas in Wilhelm I. bzw. von der Erfüllung der Barbarossasage in der Reichsgründung ist bereits mit einem zweiten politischen Mythos Wilhelms II. verknüpft: dem Reichsmythos. Wilhelm II. war in dieser Hinsicht von Kindheit an stark von seinem 49
Vgl. Penzler II, S. 20–21; vgl. Obst, Die politischen Reden, Nr. 82, S. 150–
151. 50
Vgl. Kaul, S. 597–598; Kaul vermutet, daß die Rolle Bismarcks für Wilhelms II. Geschmack in dem Bildprogramm zu stark betont wurde. 51 Vgl. Kaul, S. 604–605 und Frowein-Ziroff, S. 234. Der Text der Inschrift lautete: „Guilielmus II Tertius Imperator Germaniae Imperii Novi. Memoriae Friderici I Imperatori et Militi Anno Dom. MDCCCCII.“ Ein Entwurf des Barbarossamosaiks ist abgebildet in Frowein-Ziroff, S. 235.
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Vater geprägt, der als Nationalliberaler immer auch reichsromantische Vorstellungen vertreten hatte.52 Das gilt für das Barbarossamotiv ebenso wie für die damit verbundene Auffassung von der Wiederkunft des alten Reiches im neuen. In einer Rede anläßlich einer Denkmalsenthüllung für seinen Vater schilderte Wilhelm II. 1911 dessen Begeisterung für die Reichsinsignien53 und die alten Kaiser: „Stets schloß er [Friedrich III.] damit: ‚Das alles muß wiederkommen, die Macht des Reiches muß wiedererstehen, und der Glanz der Kaiserkrone muß wieder aufleuchten! Barbarossa muß aus dem Kyffhäuser wieder erlöst werden!‘ Und ihm war es von der Vorsehung beschieden, an der Ausführung des großen Werkes hervorragenden Anteil zu nehmen. Auf blutiger Wahlstatt [!] half er dem ehrwürdigen Vater die Kaiserkrone und dem deutschen Volke die Einigung erringen.“54
Dieselbe Auffassung einer Kontinuität von altem und neuem Reich, die ihm sein Vater vermittelt habe, hatte Wilhelm II. bereits im Herbst 1898 in einem Brief an seine Mutter geäußert. Der Brief entstand kurz nach dem Tod Bismarcks und behandelte die Übermächtigkeit des Reichskanzlers, die erst Wilhelm II. habe brechen können. Wilhelm II. schloß mit der Bemerkung, daß nicht der Kanzler, sondern der Kaiser Herr sei: „Und ich habe es erkannt, in einem ist Papas Anschauung von der Fortsetzung des alten Reiches durch das neue richtig; das hat er immer gesagt, und dasselbe tue ich! Für immer und ewig gibt es nur einen wirklichen Kaiser in der Welt, und das ist der Deutsche Kaiser, ohne Ansehen seiner Person und seiner Eigenschaften, einzig durch das Recht einer tausendjährigen Tradition“.55
Es ist allerdings unverkennbar, daß Wilhelm II. keine ungebrochene Kontinuität der Reichstradition behauptete. Die Beanspruchung dieser Tradition in dem Brief an die Mutter war von dem politischen Motiv einer Selbstrechtfertigung für die Entlassung Bismarcks getragen. Der Hinweis, daß die Kontinuitätsvorstellungen des Vaters „in einem“ richtig seien, impliziert zudem, daß Wilhelm ihnen nicht in allem folgte. Einen ausdrücklichen Bruch zwischen altem und neuem Reich behauptete er allerdings erst im holländi52
Vgl. dazu Kapitel C. V. In gewisser Weise erfüllte Wilhelm II. schließlich den Wunsch seines Vaters nach der Wiederkehr der Reichskleinodien, indem er sie anläßlich einer für 1915 in Aachen geplanten Ausstellung rekonstruieren ließ. Die Reproduktionen befinden sich noch heute im Aachener Rathaus. Zu den Reichskleinodien und ihrer Symbolbedeutung auch für das „protestantische“ Kaiserreich vgl. Schmid, Die Reichskleinodien, vor allem S. 147; vgl. auch Schieder, Kaiserreich, S. 154–159. 54 Eröffnung des Kaiser-Friedrich-Denkmals in Aachen, 18.10.1911: Krieger IV, S. 280. 55 Wilhelm II. an die Mutter, 25.9.1898, gedruckt in: Bülow, Denkwürdigkeiten I, S. 235–237 (englisches Original) und Anhang (deutsche Übersetzung). 53
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schen Exil: In seinem 1938 als Buch gedruckten Vortrag über Das Königtum im alten Mesopotamien schilderte er den historischen Entwicklungsgang des universalen Gottkönigtums von den Sumerern bis zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Durch den Machtanspruch von Papst und Territorialfürsten seien der Gottkönigs- wie der Universalitätsanspruch des Kaisers nachhaltig in Frage gestellt und letztlich zurecht abgeschafft worden.56 Während seiner Regierungszeit hielt Wilhelm II. die Frage nach dem Verhältnis von altem und neuem Reich bewußt in der Schwebe. Seine ausführlichste und berühmteste Rede zu dieser Frage ist die Aachener Rede von 1902, die Wilhelm anläßlich der Neuausstattung des Münsters und der Fassadenerneuerung des Rathauses hielt: „Wer sollte auf so historischem Boden, wie es Aachen ist, nicht mächtig erfaßt werden von dem Wehen und Rauschen der Vergangenheit und der Gegenwart! Wer sollte nicht an eine Fügung des Himmels denken, wenn er die Geschichte der Jahrhunderte überblickt, die unser Vaterland durchgemacht hat in Verbindung mit Aachen! Aachen ist die Wiege des deutschen Kaisertums, denn hier richtete Karl der Große seinen Stuhl auf, und von seinem Glanze gewann auch die Stadt Aachen einen Widerschein. So bedeutend, so groß war die Figur dieses gewaltigen germanischen Fürsten, daß von Rom ihm die Würde der alten römischen Cäsaren angetragen und er ausersehen ward, die Erbschaft des Imperii Romani anzutreten, gewiß eine großartige Anerkennung für die Leistungsfähigkeit unseres eben erst in der Geschichte auftretenden germanischen Stammes; denn entsunken war das römische Zepter den Händen der Cäsaren und ihrer Nachfolger, zerbröckelt und morsch wankte der römische Bau, und erst das Erscheinen der siegesfrohen Germanen mit ihrem reinen Gemüte war imstande, der Weltgeschichte den neuen Lauf zu weisen, den sie bisher genommen. [. . .] Allein die Aufgabe, das Amt des römischen Kaisers mit der Würde des germanischen Königs zu verbinden, war zu schwer. Was er mit seiner gewaltigen Persönlichkeit vermochte, das versagte das Geschick seinen Nachfolgern, und unter der Sorge um das Welt-Imperium verloren die späteren Kaisergeschlechter das germanische Volk und Land aus dem Auge; sie zogen gen Süden, um das Welt-Imperium aufrecht zu erhalten, und vergaßen darob Germaniens. So mußte allmählich unser deutsches Land und Volk verkommen. [. . .] Nunmehr ist ein anderes Kaisertum entstanden. Dem deutschen Volke ist sein Kaiser wieder geworden, den es sich selbst geholt hat. Mit dem Schwert in der Faust auf dem Schlachtfelde ist die Krone erworben, und das Reichspanier flattert wieder hoch in den Lüften. Aus derselben Begeisterung und Liebe, mit der das deutsche Volk an seiner alten Kaiseridee gehangen hat, ist das neue Kaiserreich ins Leben getreten; allein die Aufgaben sind jetzt andere. Nach außen hin be56 Vgl. Wilhelm II., Das Königtum im alten Mesopotamien, S. 41–44. Siehe dazu auch Kapitel D. I.
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schränkt auf die Grenzen unseres Landes, um uns von neuem innerlich stählend, auf die Aufgaben vorzubereiten, die unserem Volke jetzt werden und die im Mittelalter nicht erfüllt werden konnten.“57
Aufschlußreich ist an dieser Rede zunächst das Bild, das Wilhelm vom alten Reich zeichnete: Zum einen habe es die Nachfolge des römischen Weltreiches, im Zuge einer translatio [= Übertragung] imperii, angetreten; zum anderen habe es in der Tradition des germanischen Königtums gestanden.58 Beides miteinander zu verbinden, sei nur unter Karl dem Großen möglich gewesen, vor allem wegen der großen räumlichen Ausbreitung des Reiches nach Süden. Das neue Reich wurde von Wilhelm nun einerseits in die alte Reichstradition gestellt – das Kaisertum sei „wieder geworden“, das Reichspanier flattere „wieder“ in der Luft – andererseits aber als etwas neues bezeichnet, weil die Aufgaben andere seien. Das war von Wilhelm aber unglücklich formuliert, weil er gleich im nächsten Satz darauf hinwies, daß es sich um diejenigen Aufgaben handele, „die im Mittelalter nicht erfüllt werden konnten“. Damit deutete Wilhelm an, daß aus seiner Sicht noch immer die Aufgabe bestehe, im Deutschen Reich die römische Reichsund die germanische Königstradition zu verbinden.59 Wie er sich das konkret vorstellte, deutete er in seiner Rede an späterer Stelle ebenfalls an, wenn er vom zu schaffenden „Welt-Imperium, welches der germanische Geist anstrebt“, sprach. Damit war zumindest ansatzweise eine Fortführung des Weltreichsgedankens angedeutet, deren Möglichkeit Wilhelm II. bereits ein Jahr zuvor in Bonn beschrieben hatte: „Warum sank das Deutsche Reich dahin? Weil das alte Reich nicht auf streng nationaler Basis begründet war. Der Universalgedanke des alten römischen Reiches deutscher Nation ließ eine Entwicklung im deutschnationalen Sinne nicht zu. [. . .] So mußte Barbarossas Glanz erbleichen und des alten Reiches Bestand zerfallen, weil es durch seinen Universalismus an dem Kristallisationspunkt zur Nation gehindert ward [. . .]. Gewaltig sind die Geistesheroen, welche der Stamm der Germanen durch Gottes Gnade hat hervorbringen dürfen, von Bonifacius und Walther von der Vogelweide bis auf Goethe und Schiller, und sie sind zum Lichte und Segen der ganzen Menschheit geworden. Sie wirkten ‚universal‘ und waren doch streng in sich selbst abgeschlossene Germanen, d.h. Persönlichkeiten, Männer! Die brauchen wir auch heute mehr als je!“60 57 In Aachen, 19.6.1902: Penzler III, S. 97–98; Obst, Die politischen Reden, Nr. 142, S. 245–248; Schröder, Tagebuch, S. 9–10. 58 Zur Translatio imperii: Thomas, Translatio Imperii, Sp. 944–946. Zum germanischen Königtum: Höfler, Germanisches Sakralkönigtum. 59 Penzler III, S. 99.; Obst, Die politischen Reden, Nr. 142, S. 245–248. 60 Festkommers in Bonn, 24.4.1901: Penzler III, S. 21–23; Obst, Die politischen Reden, Nr. 135, S. 232–234.
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Wilhelm II. strebte nach eigenem Bekunden kein politisches Weltreich an, sondern ein „Weltreich des deutschen Geistes“61; ein Konzept, in dem sich nationale Bindung und universaler Kulturmissionsauftrag verbanden.62 Dazu nutzte er aber die Möglichkeiten, die sich ihm boten, um das neue Reich symbolisch in die Tradition des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation oder sogar des römischen Imperiums zu stellen. Neben den genannten Reden tat er das hauptsächlich durch symbolische Gesten, durch repräsentative Kirchenbauten oder -erneuerungen und durch die Restauration alter Burgen. Was letzteres betrifft, so pflegte Wilhelm II. eine intensive Freundschaft mit Bodo Ebhardt, der 1899 die Deutsche Burgenvereinigung gründete.63 Zahlreiche Restaurierungsprojekte wurden von Wilhelm II. gefördert oder erst in Gang gesetzt, wobei für die Zeitgenossen drei Burgen besondere politische Bedeutung hatten: die Saalburg, die Hohkönigsburg und die Marienburg.64 Die Saalburg war für Wilhelm II. Zeichen römischer Kulturvermittlung an Deutschland. Er gab den nötigen finanziellen und ideellen Impuls, um den Wiederaufbau der Saalburg und die Errichtung eines Limes-Museums in Gang zu bringen, und seine Motive legte er selbst bei der Grundsteinlegung 1900 dar: „Gleich wie im fernen Osten der Monarchie [. . .] die gewaltige Ritterburg, die einst die deutsche Kultur in den Osten einpflanzte, wieder neu entstand und nunmehr der Vollendung entgegenschreitet, so ist auf dem hohen reizenden Taunus einem Phönix gleich aus seiner Asche emporgestiegen das alte Römerkastell, ein Zeuge römischer Macht und ein Glied in der gewaltigen Kette, die Roms Legionen um das gewaltige Reich legten, die auf das Geheiß des einen römischen Imperators, des Cäsar Augustus, der Welt ihren Willen aufzwangen und die gesamte Welt der römischen Kultur eröffneten, die befruchtend vor allem auf Germanien fiel. So weihe ich diesen Stein mit dem ersten Schlage der Erinnerung an Kaiser Friedrich III., mit dem zweiten Schlage der deutschen Jugend, den heranwachsenden Geschlechtern, die hier in dem neuerstehenden Museum lernen mögen, was 61
Vgl. die 1914 erschienene programmatische Aufsatzsammlung: Kühnemann, Vom Weltreich des deutschen Geistes. 62 Zum damit verbundenen außenpolitischen Programm Wilhelms II. siehe Kapitel F. III.–G. I. Dort werden auch weitere Reden Wilhelms II. analysiert, die die äußere Beschränkung des Deutschen Reiches auf die National- bzw. Reichsgrenzen ganz explizit machen unter dem Stichwort „Außenhin begrenzt, im Inneren unbegrenzt“. Für die Vorstellung eines universalen deutschen Kulturauftrages stand mit Sicherheit Houston Stewart Chamberlain Pate (vgl. Kapitel E. III.); die Verbindung von nationalem und imperialem Selbstverständnis hat im englischen Empire ein Vorbild, das für Wilhelm II. auch in symbolpolitischer Hinsicht Vorbildfunktion hatte: siehe unten und Kapitel F. IV. 63 Vgl. zu Ebhardt: Fischer, Bodo Ebhardt, vor allem S. 9–18 und S. 209–217. 64 Vgl. Seidel, Der Kaiser und die Kunst, S. 26; vgl. Malkowsky, S. 231–232.
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ein Weltreich bedeutet; zum dritten der Zukunft unseres deutschen Vaterlandes, dem es beschieden sein möge, in künftigen Zeiten durch einheitliches Zusammenwirken der Fürsten und Völker, ihren Heere und ihren Bürgern so gewaltig, so fest geeint und so maßgebend zu werden, wie es einst das römische Weltreich war, damit es auch in Zukunft dereinst heißen möge, wie in alter Zeit ‚civis Romanus sum,‘ nunmehr: ‚Ich bin ein deutscher Bürger.‘ “65
Durch die Preisung Roms als Vorbild und Kulturvermittler und die semantische Verknüpfung des römischen mit dem deutschen „Weltreich“ wurde das Kaiserreich in die römische Tradition gestellt. Das galt nicht nur für das Reich im ganzen, sondern auch für den Kaiser im besonderen: Theodor Mommsen, der die Reichs-Limes-Kommission leitete, gab einer in der Saalburg aufgestellten Kaiserbildsäule für Antoninus Pius folgende Inschrift: „IMPERATORI ROMANORUM / TITO AELIO HADRIANO ANTONINO / AUGUSTO PIO / GUILELMUS II / IMPERATOR GERMANORUM“66. Die Formulierung „Imperator Germanorum“ für sich selbst übernahm Wilhelm II. für ein Mommsen-Ehrenmal, das er nach dem Tod des großen Gelehrten ebenfalls in der Saalburg aufstellen ließ. Entsprechend pflegte Wilhelm II. über seine gesamte Regierungszeit hinweg seine Briefe, selbst die an enge Verwandte, mit „Wilhelm I. R.“, „Wilhelm Imperator Rex“, zu unterzeichnen.67 Diese Gewohnheit wirkt aber nur auf den ersten Blick wie eine direkte Bezugnahme auf den römischen Weltreichsgedanken. In Wirklichkeit handelte es sich um die unmittelbare Kopie einer englischen Erfindung: Von Königin Victoria bis zu Georg VI. pflegte das englische Königshaus, Münzen zu prägen, auf denen der amtierende Herrscher als „Rex Imperator“ – König von Britannien, Kaiser von Indien – bezeichnet wurde, ohne daß es dafür ein historisches Vorbild gegeben hätte.68 Die Übernahme durch Wilhelm fand im Kontext einer breiten Adaption englischer Muster in den Formen öffentlicher Repräsentation statt.69 Das gilt für die Anfertigung der 65 Reichs-Limes-Museum, 11.10.1900: Penzler II, S. 235; Obst, Die politischen Reden, Nr. 124, S. 221–222. Zusammen mit der Grundsteinlegungs-Urkunde auch abgedruckt in Seidel, Der Kaiser und die Kunst, S. 54. 66 Zit. nach Seidel, Der Kaiser und die Kunst, S. 52. 67 Möglicherweise ist die Selbstbezeichnung „Imperator Germanorum“ auch als Gegenbegriff zum Verfassungstitel des „Deutschen Kaisers“ zu verstehen, über den sich im Januar 1871 Bismarck, Wilhelm I. und der damalige Kronprinz Friedrich gestritten hatten. Siehe dazu Kapitel C. V. 68 Vgl. Lane, Encyclopedia, S. 248–259. 69 Vgl. Weißmann, Deutsche Zeichen, S. 82. Auf die Wechselseitigkeit der Beeinflussungen aufmerksam gemacht hat Cannadine, S. 35–37. Zu den zahlreichen kulturellen Anregungen, die Deutschland seit der Reichsgründung von England aufgenommen und der parallelen Tendenz Deutschland und Englands, sich zu feindlichen Brüdern zu entwickeln, vgl. Schramm, S. 289–319.
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kaiserlichen Helmzier, für ein eigenes Imperial Banner, ein persönliches Wappen und die Standarten der Mitglieder der kaiserlichen Familie ebenso wie für die Uniformierung der deutschen Marine.70 Und auch Germania und Erzengel Michael als Verkörperungen des deutschen Weltmachtanspruches hatten in Britannia und Sankt Georg englische Vorbilder.71 Letztlich hatten sogar die politisch-mythischen Reklamationen vergangener Weltreiche ein kaum zu übertreffendes Vorbild in England, wo die Vorstellung außerordentlich verbreitet war, legitimer Erbe der Trojaner und des römischen Reiches oder sogar der dreizehnte Stamm Israels zu sein. Gegenüber der Beschwörung der römischen Tradition durch die Saalburg kam der Hohkönigsburg für Wilhelm II. die Aufgabe zu, die Größe des deutschen Mittelalters vor Augen zu führen. Die aus der Stauferzeit stammende Burg wurde von Bodo Ebhardt in enger Zusammenarbeit mit Wilhelm II. restauriert und 1908 als Museum eröffnet.72 Die Eröffnungsfeier wurde als mittelalterliches Fest inszeniert, bei dem ein Herold den Kaiser in einem Vortrag darauf aufmerksam machte, daß die Hohkönigsburg eine besondere symbolpolitische Bedeutung habe: Immer, wenn die Burg sich in fremden Händen befunden habe, sei es Deutschland schlecht gegangen; wenn aber die Burg unter deutscher Obhut aufgeblüht sei, dann sei auch das Reich aufgeblüht.73 In seiner Festrede nahm Wilhelm dieses Motiv wieder auf: „Auf den Trümmern und Fundamenten vergangener Jahrhunderte errichtet bietet die Hohkönigsburg in ihrer jetzigen Gestalt, soweit menschliches Können es vermocht, ein getreues Bild der Vergangenheit, wie sie um das Jahr 1500 hier Wirklichkeit gewesen sein wird. [. . .] Die kühnen Anlagen der Bau- und Verteidigungskunst, wie sie uns hier wieder vor Augen geführt werden, erregen unsere volle Bewunderung, und in dieser Umgebung können wir uns in Gedanken leicht in die Zeiten mittelalterlicher Reichsherrlichkeit zurückversetzen. [. . .] Möge die Hohkö70 Vgl. Neubecker, Zur Geschichte, S. 115–117. Das von Wilhelm II. selbst entworfene Briefwappen nahm ikonographisch auf eine ganze Reihe verschiedener Traditionen bezug: Die Kaiserkrone auf dem Wappen und der schwarze Adler auf goldenem Grund im Wappenschild auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, der preußische Adler auf weißem Grund im Herzschild und die Kette des schwarzen Adlerordens auf Preußen, der Hosenbandorden auf England und der Stern des Johanniterordens auf die christliche Ordenstradition. Eulenburg bezeichnete das Wappen dann auch als schädliche und bedauernswerte „Spielerei“ des Kaisers: GStA, BPH Rep. 53, Nr. 239,3, Bl. 243–244. 71 Siehe dazu Kapitel F. IV. 72 Vgl. zur Hohkönigsburg: Hoffmann, Rheinische Romanik, S. 57–60; außerdem die in der von Ebhardt herausgegebenen Zeitschrift Der Burgwart erschienen Aufsätze „Die wiedererstandene Hohkönigsburg“ und „Der Kaiser auf der Hohkönigsburg“. 73 Vgl. Der Kaiser auf der Hohkönigsburg, S. 106; vgl. Seidel, Der Kaiser und die Kunst, S. 66.
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nigsburg hier im Westen des Reiches, wie die Marienburg im Osten, als ein Wahrzeichen deutscher Kultur und Macht bis in die fernsten Zeiten erhalten bleiben und allen Tausenden und Abertausenden, die nach uns zu diesem Kaisersitz heraufpilgern, in pietätvollem Rückblick auf die Vergangenheit zur Freude und Belehrung dienen! Möge der Adler auf dem stolzen Bergfried seine Schwingen stets über ein friedliches Land und ein glückliches Volk breiten!“74
Mit dem letzten Satz hatte Wilhelm II. implizit die Verbindung des neuen Reiches zur „mittelalterlichen Reichsherrlichkeit“ auch politisch hergestellt. Als „Wahrzeichen deutscher Kultur und Macht“ sollte die Hohkönigsburg ohnehin der geschichtspolitischen Fundierung des Kaiserreiches dienen. Was außerdem an der Rede zur Einweihung der Hohkönigsburg wie auch an derjenigen zur Grundsteinlegung des Saalburg-Wiederaufbaus auffällt, ist die explizite Parallele zur Marienburg. Auch sie diente als Denkmal für das Mittelalter, war aber stärker als die Hohkönigsburg mit dem Christentum und mit Preußen verbunden. Wie schon im Falle der Saalburg führte Wilhelm II. hier ein Anliegen fort, das bereits sein Vater gehabt hatte, dessen nationalromantische Ambitionen durch die Marienburg besonders angeregt worden waren. Das hing auch damit zusammen, daß die Marienburg neben dem Kölner Dom das erste Bauwerk war, das im Zuge der deutschen Romantik des 19. Jahrhunderts rekonstruiert wurde, und das gleichzeitig in noch stärkerem Maße als der Dom von Beginn an als „Nationaldenkmal“75 konzipiert worden war. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts standen dem allerdings finanzielle wie ideelle Hindernisse im Weg: Die evangelische Deutschordensballei Utrecht und der Deutsche Orden in Wien waren nicht bereit, den Wiederaufbau des einstigen Hauptsitzes ihres Ordens in irgendeiner Form zu unterstützen, und in Preußen war man eigentlich gewohnt, die eigene Geschichte als erfolgreiche Emanzipation von der dunklen Deutschordensvergangenheit zu verstehen.76 Eine positive Umwertung der Geschichte des Deutschen Ordens aus preußisch-deutscher Sicht fand erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts statt, und erst Wilhelm II. gelang es, die Differenzen zum Deutschen Orden beizulegen.77 Im Juni 1902 veranstaltete Wilhelm II. anläßlich der Fertigstellung des Wiederaufbaus des Hochschlosses ein Fest, zu dem er den Deutschen Orden in Wien und die Deutschordensballei Utrecht einlud und 74 Einweihung der Hohkönigsburg, 14.5.1908: Obst, Die politischen Reden, Nr. 164, S. 287–289; Krieger IV, S. 109–111. Teilweise abgedruckt in: Der Kaiser auf der Hohkönigsburg, S. 108–109. 75 Boockmann, S. 10. Grundlegend zur Geschichte der Marienburg im 19. Jahrhundert: Boockmann, hier vor allem S. 10–38. 76 Vgl. Boockmann, S. 13–14 und S. 29–30. 77 Zur positiven Umwertung des Deutschen Ordens für die Nationalgeschichte siehe Treitschke, Ordensland. Vgl. außerdem Boockmann, S. 35–38.
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zu dem auch Ritter des neu gegründeten evangelischen Johanniterordens, dem Wilhelm II. vorstand, anwesend waren. In seiner Begrüßungsrede betonte der Kaiser die Aufgabe des Deutschen Ordens, die christliche Religion und Kultur zu verbreiten, worunter vor allem „das erhabene Gesetz der Bruderliebe“ zu verstehen sei. Er führte weiterhin aus, „wie die alte Marienburg, dieses einstige Bollwerk im Osten, der Ausgangspunkt der Kultur der Länder östlich der Weichsel, auch stets ein Wahrzeichen für die deutschen Aufgaben bleiben soll. Jetzt ist es wieder so weit. Polnischer Übermut will dem Deutschtum zu nahe treten, und Ich bin gezwungen, Mein Volk aufzurufen zur Wahrung seiner nationalen Güter. Hier in der Marienburg spreche Ich die Erwartung aus, daß alle Brüder des Ordens St. Johann immer zu Diensten stehen werden, wenn Ich sie rufe, deutsche Art und Sitte zu wahren.“78
Die Bezeichnung der Marienburg als „Bollwerk im Osten“ und die Erwähnung „polnischen Übermutes“ haben Hartmut Boockmann veranlaßt, die Marienburg unter Wilhelm II. als „Monument einer aggressiv gegen Osten gerichteten imperialistischen Politik“ zu interpretieren.79 Dieser Befund ist allerdings zu undifferenziert, um den Wandlungen wilhelminischer „Polenpolitik“80 – also die Frage des Umgangs mit dem polnischstämmigen Bevölkerungsteil in den östlichen Gebieten des Reiches – wirklich gerecht zu werden. Im Hintergrund stand ein unter Bismarck angelaufener Versuch, vor allem durch die Festlegung des Gebrauchs der deutschen Sprache im Volksschulunterricht die Polen im Reich zu assimilieren. Im Rahmen des „Neuen Kurses“ unter Reichskanzler Caprivi wurde dagegen verstärkt auf eine Versöhnungspolitik gesetzt, in deren Zusammenhang vor allem der polnische Adel zu politischer Loyalität Preußen und dem Reich gegenüber gebracht wurde. Seit Mitte der 1890er Jahre begann allerdings erneut der Versuch einer Eindämmung und Zurückdrängung angesichts einer „wachsenden ökonomisch-sozialen und nationalpolitischen Aktivität der Polen“81 sowie angesichts eines ebenfalls wachsenden deutschnationalen Meinungsdrucks. Durch polnische Grundstücksankäufe und durch die Abwanderung vor allem der deutschen Bevölkerung in den industriell besser ausgerüsteten Westen verschärfte sich die Lage. Gegenmaßnahmen der preußischen Regierung wie die Verpflichtung zur deutschen Sprache auch im Religionsunterricht 1900 und 1906 sowie das Verbot der polnischen 78
Johanniter-Ordensfest auf der Marienburg, 5.6.1902: Penzler III, S. 85–88. Boockmann, S. 11. Vgl. zur preußischen Polenpolitik im 19. Jahrhundert Schwendemann/Dietsche, S. 13–26, wo die Position und Rolle Wilhelms II. aber nicht erwähnt wird. 80 Vgl. zum folgenden Broszat, Polenpolitik, S. 152–172; vgl. auch Schot, S. 152–168. 81 Broszat, Polenpolitik, S. 156. 79
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Sprache bei öffentlichen Versammlungen forderten polnischen Widerstand heraus. In dieser Situation blieb Wilhelm II. wenig anderes übrig als darauf hinzuweisen, daß seine polnischen Untertanen stets mit seinem Schutz rechnen könnten und gleichzeitig an die Deutschen im Osten zu appellieren, ihre Heimat nicht in Richtung Westen zu verlassen, sondern die deutsche Kultur auch im Osten zu bewahren.82 Neben dem zu eben diesem Zweck neu gebauten „Kaiserschloß“ in Posen sollte die Marienburg ein Wahrzeichen dieser deutschen Kultur im Osten sein und vor allem integrativ auf die Deutschen selbst wirken.83 Dazu diente die Beschwörung des Deutschen Ordens, der den Christen beider Konfessionen als Vorbild dienen und zeigen sollte, „daß Deutschtum und Christentum untrennbar von einander sind.“84 Das diente natürlich auch der Abwehr einer befürchteten Repolonisierung der „Ostmark“, war aber in erster Linie eine Fortsetzung des Versuches der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Marienburg zu einem integrativen Nationaldenkmal zu machen. Aber nicht nur Christentum und Deutschtum, sondern auch Christentum und Reichstradition wurden von Wilhelm eng miteinander verbunden. An einer ganzen Reihe von Kirchen, die der Kaiser bauen oder restaurieren ließ, erkennt man Wilhelms Selbstverständnis als Kaiser von Gottes Gnaden und als Nachfolger der Herrscher des römischen Reiches.85 Die unter seiner Aufsicht neu gebaute evangelische Kirche in Rom vereinigte staufische, frühmittelalterliche und moderne Bauelemente, während die Inneneinrichtung in römischer Tradition stand, wobei dem Kaiser das Pantokrator-Mo82 Charakteristisch dafür ist eine Rede Wilhelms II. in Gnesen vor der dortigen Bevölkerung am 8.8.1905: vgl. Obst, Die politischen Reden, Nr. 269–270; vgl. Penzler III, S. 262–264; vgl. Schröder, Tagebuch, S. 149–150. Vgl. dazu auch Broszat, Polenpolitik, S. 167. 83 Zum Kaiserschloß in Posen vgl. Schwendemann/Dietsche, S. 38–56; vgl. Palat, S. 55–62; vgl. Seidel, Der Kaiser und die Kunst, S. 38 und Hoffmann, Rheinische Romanik, S. 71. 84 So Wilhelm II. in seiner Rede beim Festmahl für die Provinz Westpreußen, Marienburg, 29.8.1910, in: Vossische Zeitung Nr. 405, 30.8.1910: GStA I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode, Mappe 47. Dort auch eine bis auf stilistische Änderungen identische Mitschrift der Rede. Abgedruckt in: Obst, Die politischen Reden, Nr. 185, S. 317–319. Auch abgedruckt in: Krieger IV, S. 210–212. Siehe dazu auch Kapitel D. I. 85 Vgl. dazu und zu diesem Absatz Krüger, Sakralitätsverständnis, S. 244–264. In welcher genauen Funktion Wilhelm II. jeweils Kirchen stiftete oder Restaurierungen in Auftrag gab – ob als Deutscher Kaiser oder als Preußischer König – ist meist nicht eindeutig. Klar ist aber, daß die öffentliche Präsentation der hier verhandelten von Wilhelm in Auftrag gegebenen Kirchenbauten nie auf die preußische Perspektive beschränkt blieben; seine Reden, die diversen Bildprogramme sowie die Inschriften hatten Wilhelm II. stets auch als Kaiser im Blick.
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tiv, das Christus als siegreichen Allherrscher zeigte, besonders gefiel. Dieses Motiv konnte sich mit dem mittelalterlichen Gottesgnadentum verbinden, wie in der Posener Schloßkapelle, die nach dem Vorbild der Capella Palatina in Palermo und der Klosterkirche von Monreale gestaltet wurde und besonders dem Normannenkönig Wilhelm II. und dessen Krönung durch Gott nacheiferte.86 Das Pantokrator-Motiv verwies allerdings noch stärker auf die römischbyzantinische Antike, vor allem auf Kaiser Konstantin, der für Wilhelm II. ein zentrales Vorbild war. Die in der Bad Homburger Erlöserkirche angebrachten, aus der Kuppel herabhängenden Leuchter in Form eines dreidimensionalen griechischen Kreuzes waren ganz in diesem Sinne als Verbildlichung der Kreuzesvision Konstantins vor der Schlacht an der Milvischen Brücke zu verstehen. Diese Interpretation stützt sich zum einen darauf, daß man das einzige Vorbild eines solchen Kreuzesleuchters, in der Markuskirche in Venedig, für aus Konstantinopel stammend hielt. Zum anderen spielten die Schlacht an der Milvischen Brücke und überhaupt Kaiser Konstantin für die Weltanschauung Wilhelms II. generell eine wichtige Rolle. Das sieht man etwa daran, daß er den anspruchsvollen Versuch unternahm, das Labarum, also das in der Schlacht von Konstantin benutzte Feldzeichen mit dem berühmten Chi-Rho-Zeichen zu rekonstruieren.87 Er fertigte selbst Skizzen dazu an und ließ in Maria Laach zwei Exemplare des Labarum herstellen, von denen er eines selbst behielt und das andere dem Papst schenkte. Und auch im Heiligen Land hatte er das Vorbild Konstantins im Blick: In der evangelischen Erlöserkirche in Jerusalem ließ er nach dem Vorbild der von Konstantin erbauten Laterankirche ein Christusbild anbringen, und mit den drei von Wilhelm II. im Heiligen Land erbauten Kirchen – an den Stätten der Geburt, des Todes und der Himmelfahrt Christi – ahmte er den antiken Kaiser direkt nach.88 Die Erlöserkirche in Bad Homburg ist in bezug auf die im Bildprogramm zum Ausdruck kommende Vergegenwärtigung der Reichstradition ein „Musterbeispiel des wilhelminischen Kirchenbaus“:89 In der Herrscherloge im Stil des 16. Jahrhunderts befindet sich ein Mosaikzyklus im ravennatischen Stil Kaiser Justinians I.; das byzantinische Motiv des „leeren Throns“ – der für Gott bestimmt ist, den der Kaiser aber in Vertretung Gottes einnimmt – taucht auf, an der Decke befindet sich ein Jerusalem-Kreuz mit der Inschrift „W. I. R.“90, und das Bildprogramm der Kanzel weist sogar bis zu König 86 Vgl. Krüger, Sakralitätsverständnis, S. 244–252 und Schwendemann/Dietsche, S. 46. 87 Vgl. Krüger, Sakralitätsverständnis, S. 252–257. 88 Vgl. Krüger, Sakralitätsverständnis, S. 257–261. 89 Krüger, Erlöserkirche, S. 4.
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Salomo zurück.91 Das Generalkonzept der Gestaltung war deutlich: der Kaiser als von Gott eingesetzt, und zwar nicht nur im mittelalterlichen, sondern auch im christlich-antiken und sogar im biblischen Sinne, in erster Linie nach dem Vorbild Konstantins, der das Bündnis von Thron und Altar im Christentum begründet hatte, nach dem Prinzip: „Ein Reich – Ein Kaiser – Eine Religion“92. Dieser Vorstellung entsprach die Vorliebe für den byzantinischen Stil, wenn es um die Gestaltung kirchlicher Innenräume ging. Für die Außenfassaden bevorzugte der Kaiser die Romanik, die als spezifisch „deutscher“ Stil galt und der an die staufische Kaiserzeit erinnerte.93 Im repräsentativen Beiprogramm griff Wilhelm II. bis auf die karolingische Tradition zurück, wenn er etwa am Aachener Rathausportal und an der Fassade des Festsaales im Posener Schloß den Statuen Karls des Großen die eigenen Gesichtszüge geben ließ.94 Das Residenzschloß Wilhelms II. in Posen wurde von 1905–1910 neu gebaut und sollte reine Repräsentationsfunktion haben.95 Seine Ausstattung bietet daher so etwas wie eine Gesamtschau dessen, was Wilhelm II. als 90
Abgebildet in Krüger, Erlöserkirche, S. 67. Dasselbe Motiv war an der Kanzel der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche angebracht, der „Lieblingskirche“ (Seidel, Die bildende Kunst, S. 305) des Kaisers, die auch in dieser Hinsicht der Darstellung kaiserlicher Machtvollkommenheit diente. 92 Krüger, Erlöserkirche, S. 68. 93 Vgl. Hoffmann, Rheinische Romanik, S. 76–77; vgl. Krüger, Sakralitätsverständnis, S. 264. 94 Vgl. Hoffmann, Rheinische Romanik, S. 92. Dort auch eine Abbildung der Aachener Karlsfigur. Die Posener Statue ist abgebildet in Schwendemann/Dietsche, S. 46. Das genaue Motiv für Wilhelm II., sich mit Karl dem Großen zu identifizieren, ist nicht bekannt. Godehard Hoffmann vermutet, daß die Entscheidung des Kaisers damit zusammenhängt, daß er zum einen die Anknüpfung an das alte Reich und an das Gottesgnadentum suchte, zum anderen und damit verbunden „die Nähe zur katholischen Kirche in historischen Ausdrucksformen“. Karl der Große sei besonders geeignet gewesen, weil die Staufer – als das andere große mittelalterliche Vorbild – in dauerndem Konflikt mit dem Papsttum gestanden hätten und somit nicht in Frage gekommen wären: vgl. Hoffmann, Rheinische Romanik, S. 92. Die explizite Nachfolge Barbarossas, in die Wilhelm seinen Großvater und sich selbst stellte, spricht aber eher gegen diese Interpretation. Eine weitere, allerdings ebenso unbelegte Möglichkeit wäre daher, daß die Identifizierung Wilhelms II. mit Karl dem Großen als Hinweis auf eine mit Karl begonnene und von Wilhelm fortgeführte „Germanisierung des Christentums“ zusammenhängt. Siehe zu diesem Stichwort Kapitel E. III. Das Hauptproblem bei der Deutung dieser und ähnlicher Bau- und Gestaltungsmaßnahmen Wilhelms liegt darin, daß es praktisch keine deutenden Äußerungen des Kaisers selbst über die Details seiner Vorhaben gibt; seine öffentlichen Ansprachen bei der Einweihung der jeweiligen Bauten sind viel zu allgemein gehalten, um in dieser Hinsicht weiterzuführen. 95 Vgl. Schwendemann/Dietsche, S. 38–39 und Palat, S. 55. 91
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F. Politische Theologie II: Politische Mythen
eigene Tradition reklamierte.96 Der Thronsaal war byzantinisch nach dem Vorbild der Hagia Sofia in Konstantinopel gestaltet, eine umlaufende Bildergalerie zeigte die wichtigsten karolingischen, ottonischen, salischen und staufischen Kaiser.97 Die Kapelle zitierte die byzantinische Capella Palatina in Palermo und zeigte im Bildprogramm – Christus Pantokrator, darunter Mose, Salomo und David; ein thronender Christus übergibt einem Engel die Kaiserkrone, daneben steht eine Kaiserfigur mit dem Schwert in der Hand – das auf biblische Tradition zurückgeführte Bündnis von Thron und Altar. In der öffentlich zugänglichen Wohnung des Kaisers befanden sich ein modern-romanisierend eingerichtetes Arbeitszimmer mit Reliefs, die Szenen aus dem Leben Karls des Großen zeigten; ein Empfangszimmer, dessen Bildprogramm – etwa die Artuslegende – mittelalterliches Ritterund Christentum beschwor; und ein „nordisches Zimmer“ im Drachenstil. Hier zeigte sich in aller Deutlichkeit das Eklektische an Wilhelms „Reichsmythos“98, sein Spielen mit ganz verschiedenen Traditionssträngen, die er zum politischen Mythos einer Reichstradition verband, indem er sich patchwork-artig überall die gewünschten Elemente heraussuchte.99
III. Politischer Mythos III: Germanentum Das „nordische Zimmer“ des Posener Schlosses ging bereits über die Dimension der Reichstradition hinaus. Der „Drachenstil“, in dem das Zimmer gehalten war, war eine Schöpfung des 19. Jahrhunderts, aber inspiriert durch historische Vorbilder der Wikingerzeit.100 Wilhelm machte den Drachenstil überhaupt erst in Deutschland bekannt. Er selbst setzte den Stil außer für das „nordische Zimmer“ des Kaiserschlosses in Posen noch für sein Jagdschloß in Rominten und eine Potsdamer Matrosenstation ein.101 96 Vgl. zum folgenden Schwendemann/Dietsche, S. 43–56, dort auch zahlreiche Abbildungen. 97 Auch in diesem Fall gibt es leider keinerlei deutende Selbstäußerungen des Kaisers zu dem Bild- und Bauprogramm. 98 Förster, Kulturpolitik, S. 23. 99 Es ist auffällig, daß in bezug auf germanisch-mittelalterliche Repräsentationsbauten wie auch in bezug auf die Begeisterung für Richard Wagner Parallelen zwischen Wilhelm II. und Ludwig II. von Bayern bestehen. Das gilt ebenso für den Eklektizismus in der Ausführung. Im Falle Ludwigs II. ist allerdings zu beachten, daß dessen Bautätigkeit sehr viel spielerischer war als diejenige Wilhelms und wohl nur der Selbstinszenierung diente, während Wilhelm II. gezielte politische, sozusagen nationalpädagogische Absichten verfolgte. Zu Ludwig II., seiner Bautätigkeit und seiner Wagnerbegeisterung vgl. Evers, Ludwig II.; vgl. Reiser, König Ludwig II. Zur Monarchiekonzeption Ludwigs II. vgl. Petzet, Gebaute Träume; vgl. Spangenberg, Thronsaal. 100 Vgl. zum Drachenstil und zu Wilhelms II. Verwendung dieses Stils Halèn, S. 128–131.
III. Politischer Mythos III: Germanentum
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Kennengelernt hatte der Kaiser den Drachenstil auf seinen allsommerlichen „Nordlandfahrten“, die er mit der Yacht „Hohenzollern“ unternahm. Mit „Nordland“ war in erster Linie Skandinavien gemeint, das dem Kaiser als „Wiege des kernigen Germanentums“ galt.102 Die Fahrten dienten der Erholung Wilhelms von den Regierungsgeschäften und der Pflege seiner privaten Interessen an nordischer Mythologie, hatten aber auch eine darüber hinausgehende politische Dimension. Ein Aspekt davon war der „männerbündische“ Charakter der Fahrten, die in einer reinen und ausgewählten Männergesellschaft stattfanden.103 Damit folgte der Kaiser einer Gesamttendenz des Wilhelminismus zu forcierter Männlichkeit, die selbst wiederum Indiz eines Mangels war.104 Die Atmosphäre der Vorkriegsjahre wurde jedenfalls von vielen als „weibisch“105 empfunden, und selbst Männerbünde wurden verbreitet mit Homosexualität assoziiert. Entsprechende Vermutungen wurden seit der Eulenburg-Affäre auch in bezug auf den Kaiser immer wieder geäußert, allerdings zu Unrecht.106 Bei Wilhelm II. wird in erster Linie die Befürchtung eine Rolle gespielt haben, daß ein Verlust der Männlichkeit zu einer umfassenden Degeneration führen würde.107 Der männer101
Vgl. Gammelien, S. 79. Grimm, S. 100. Grundlegend zu den Nordlandfahrten: Marschall. Noch vor Eulenburg war es dabei Wilhelms Vater, der seinem Sohn die Begeisterung für Norwegen und das „Nordische“ beibrachte: vgl. Gammelien, S. 71. 103 Vgl. dazu Marschall, S. 34–51 und Güssfeldt, S. 367–368. 104 Vgl. dazu und grundlegend zum Männerbund Weißmann, Männerbund, hier S. 26–28. 105 Radkau, S. 300. 106 Vgl. Marschall, S. 48–51. Zuletzt hat Nicolaus Sombart sogar behauptet, in der latenten Homosexualität Wilhelms II. liege der Schlüssel zum Verständnis des Kaisers und in der Eulenburg-Affäre der Schlüssel zum Untergang des Reiches: „Natürlich stand der Kaiser offiziell und manifest auf der Seite der patriarchalischen Ordnung und abhorreszierte die Homosexualität. Latent aber neigte er dem männerbündischen Pole zu, wie so viele andere, und erlebte sich in der Rolle des jugendlichen Männerhelden – nicht des Patriarchen. Man darf vermuten, daß er das gewesen ist, was die Engländer eine ‚closet queen‘ nennen. Ein ‚ins Kürrassierkoller vermummte(s) Mädchen‘, so Harden über Eulenburg, ein schönes Bild. Eine, die es ist – aber sich nicht ‚traut‘. Eine Königin im (Panzer-)Schrank.“ (Sombart, Sündenbock, S. 198.) Sombart macht sich nicht die Mühe, seine Vermutungen zu belegen, zumal alle entgegengesetzten Quellenbelege, die vom Entsetzen des Kaisers über die Homosexualität Eulenburgs zeugen, im Rahmen seiner psychologisierenden Theorie als Verdrängung erklärt werden können. Dagegen weist selbst John Röhl, der aus seiner Abscheu gegenüber Wilhelm II. kein Geheimnis macht, darauf hin, daß der Verdacht, der Kaiser sei homosexuell gewesen, unbegründet ist: vgl. Röhl, Abgrund, S. 575. 107 Entsprechend hat Wilhelm II. sich jedenfalls im Exil geäußert: „Das Geschlecht der Völker. Von Kaiser Wilhelm II. (Übersetzung aus „Century Magazine“).“ In: RA Utrecht, Nr. 255 (Fiche 1513). Außerdem war diese Befürchtung zeitgenössisch durchaus verbreitet, was man am Beispiel Walther Rathenaus sieht. 102
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F. Politische Theologie II: Politische Mythen
bündische Charakter der Nordlandfahrten hing daher auch mit Wilhelms Germanenbild zusammen, in dem die germanische „Mannentreue“ eine zentrale Rolle spielte, die er durch symbolische Anknüpfung an das „Germanentum“ auch politisch stärken wollte.108 Die Beschwörung des „Germanentums“ durch Wilhelm II. war für die politisch-mythische Dimension der Nordlandfahrten von zentraler Bedeutung und war der gemeinsame Nenner aller auch realpolitisch mit den Nordlandfahrten verbundenen Bestrebungen.109 Es wurde hier deutlich, daß die Nordlandfahrten keine bloße Spielerei waren und Wilhelms Interesse am „Nordischen“ über die durch Eulenburg vermittelte private Begeisterung des Kaisers an germanischen Sagen hinaus ging:110 Weil Wilhelm II. in großzügiger Weise nach einem Brand in der norwegischen Fischerstadt Ålesund finanzielle und materielle Hilfe geleistet hatte, stiftete Oscar II., König von Schweden und Norwegen, den Norwegischen Löwenorden neu und ernannte Wilhelm II. zu dessen erstem Ritter; in der Stadt selbst wurde Wilhelm ein Denkmal errichtet.111 Zum Dank stiftete Wilhelm II. 1913 über dem Sognjeford eine Statue, die den Saga-Helden Fritjof zeigte. Deren Zweck erklärte er in seiner Rede bei der Einweihung der Statue: „Um Ruhe und Erholung von schwerer, verantwortungsreicher Arbeit zu finden, wandte Ich Mein Schiff nach Norden. Mit echter altgermanischer Gastlichkeit nahm Mich das norwegische Volk auf, so daß Meine Reisen ihren Zweck vollDer traf 1904 die Unterscheidung zwischen „Furcht“- und „Kraft“-Menschen, wobei erstere weibliche, letztere männliche Eigenschaften besäßen, erstere aber zwangsläufig über letztere die Oberhand gewinnen würden: „Wo die Starken herrschen, da gilt Zucht, Tüchtigkeit und Unkultur; wo die Schwachen regieren, wuchert Schwätzerund Tribunenherrschaft, Korruption und Genußsucht. Das Regiment der Starken stürzt, sobald es den Unterdrückten gelungen ist, die Atmosphäre des Geistes mit ihrem Hauch zu erfüllen.“ (Rathenau, Von Schwachheit, S. 32.) 108 Ausführlicher dazu weiter unten in diesem Kapitel. 109 Zu der realpolitischen Dimension der Nordlandfahrten vgl. Marschall, S. 102– 157. Die naheliegende Vermutung, die Nordlandfahrten stünden in engem Zusammenhang mit der wilhelminischen Flottenpolitik, wird von Marschall nicht bestätigt; zwar spiegelten die Nordlandfahrten die allgemeine Flottenbegeisterung in Deutschland, aber realpolitisch ging es in den Nordlandfahrten vornehmlich um die Beziehungspflege zu den skandinavischen Staaten. Das hing im Falle Dänemarks aber durchaus auch mit der Flottenpolitik zusammen, da ein gutes Verhältnis zu Dänemark seestrategisch von großer Bedeutung war. In der Hauptsache ging es dem Kaiser aber darum, Skandinavien als Bündnispartner gegen Rußland in Stellung zu bringen; das gilt sowohl für den angestrebten, aber nicht realisierten Neutralitätspakt zwischen Rußland, Deutschland und Dänemark, als auch für die Versuche des Kaisers, auf eine Wahrung der Union zwischen Schweden und Norwegen hinzuwirken. Die Nordlandfahrten wurden dabei regelmäßig für offizielle Staatsbesuche und politische Unterredungen genutzt. 110 Vgl. dazu GStA BPH Rep. 53 J Lit E Nr. 2 l. 111 Vgl. Henningsen, S. 108; vgl. Gammelien, S. 79; vgl. Marschall, S. 131–133.
III. Politischer Mythos III: Germanentum
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kommen erfüllen konnten. Es drängt Mich, Meiner warmen Dankbarkeit dafür ein sichtbares Zeichen zu verleihen. Das fand Ich in dem herrlichen Sagenkreis des Nordens [. . .]. Aber nicht nur ein Zeichen Meines Dankes an Norwegen allein soll dieser ragende Recke [Fritjof] sein! Nein, ein [!] größere, allgemeinere Bedeutung kommt ihm zu. Er soll ein Wahrzeichen für Skandinavier, Deutsche, Angelsachsen und alle diejenigen Stämme sein, die mit Stolz sich zu der gewaltigen Gruppe der indogermanischen Völker zählen! [. . .] In männlicher Zuversicht und unerschrockenem Selbstgefühl, so soll er alle Indogermanen daran erinnern, daß sie eines Stammes, eines Blutes sind, daß ihnen durch Gottes Gnade vergönnt worden ist, in der Vergangenheit Großes für die Entwicklung der Welt und ihrer Kultur zu leisten, und daß sie treu und fest zusammenhalten sollen, um auch in Zukunft die großen Aufgaben, die Gott ihnen stellen wird, zum Segen der ganzen Menschheit gemeinsam zu lösen.“112
Die Idee des „pangermanischen Bundes“, die Wilhelm II. hier propagierte, wurde in der skandinavischen und englischen Öffentlichkeit wohlwollend zur Kenntnis genommen und auch von Oscar II. geteilt, wurde allerdings nicht politische Realität.113 Dafür gelang es dem Kaiser, nicht nur eine zunehmende Nordlandbegeisterung in Deutschland zu entfachen, sondern auch das Interesse vor allem des Bürgertums an Geschichte und Mythologie der Germanen zu verstärken.114 Das erreichte er auch durch Kunstpolitik jenseits der Nordlandfahrten, so im Falle der Ausschmückung des Thronsaales im Botschaftshotel in Rom, für die Wilhelm II. Motive „deutschen Inhalts“115 anordnete. Der Historienmaler Hermann Prell schuf daraufhin Wandgemälde, die den Wechsel der Jahreszeiten in Formen nordischer Sagen darstellten. Es ging dabei in erster Linie darum, in Rom zu betonen, daß die Germanen als Vorfahren der Deutschen auf geistigem Gebiet ebenso Großes geleistet hätten wie die antiken Griechen und Römer.116 Im Hintergrund stand hier auch die Vorstellung eines besonderen, im Grunde 112 Einweihung des Fritjofstandbildes, 31.7.1913: Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender NF 29 (1913), S. 608–609. 113 Vgl. Gammelien, S. 71; vgl. Marschall, S. 86–88. Zum Pangermanismus des 19. Jahrhunderts vgl. Gollwitzer, Zum politischen Germanismus, S. 341–346. Gollwitzer weist darauf hin, daß pangermanische Ideen zwar verbreitet gewesen seien, aber kaum praktisch-politische Wirkungen gehabt hätten. Zur Idee eines pangermanischen Bundes vgl. auch Grimm, S. 101 und Frowein-Ziroff, S. 40. Im Zuge des Unionsstreits zwischen Norwegen und Schweden bot Wilhelm II. Oscar II. immerhin den Beitritt zum Dreibund an, und Oscar II. stimmte dem Vorschlag zu, da er vor allem den militärischen Eingriff Rußlands zugunsten der norwegischen Unabhängigkeitsbestrebungen fürchtete. Das ganze hatte aber keine politisch wirksamen Folgen: vgl. Gammelien, S. 81–83. 114 Vgl. Marschall, S. 80–101 und S. 184–201 und Gammelien, S. 76–79. 115 Zit. nach Seidel, Der Kaiser und die Kunst, S. 186. 116 Vgl. Malkowsky, S. 237–238 und Seidel, Der Kaiser und die Kunst, S. 185– 187.
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F. Politische Theologie II: Politische Mythen
missionarischen deutschen Kulturauftrags, der sich außenpolitisch in der Beanspruchung einer europäischen Führungsposition für das Reich niederschlug.117 Die besondere Wertschätzung des germanischen Altertums führte aber keineswegs zu einer Geringschätzung der griechischen und römischen Antike. In diesem Sinne könnte man zwar die antiklassische Polemik des Kaisers im Zuge der Debatte um die Schulreform verstehen, als er forderte, in der Schule keine Griechen oder Römer, sondern „junge Deutsche“118 zu erziehen. Seine politisch-mythologische Nutzung auch der römischen Tradition und sein fortlaufendes persönliches Interesse an archäologischen Ausgrabungen etwa auf Korfu zeigen aber ein differenziertes Bild. Am wahrscheinlichsten ist, daß Wilhelm II. diese doppelte bzw. dreifache Begeisterung gar nicht als Widerspruch wahrnahm. Das hängt auch mit der damals populären These vom „nordischen Griechentum“119 zusammen; in jedem Fall aber deutet alles darauf hin, daß Wilhelm II. die germanische Überlieferung nicht als Ersatz, sondern als notwendige Ergänzung der klassischen Überlieferung verstanden wissen wollte.120 Für Wilhelms besondere Wertschätzung der germanischen Überlieferung spielte die Musik Richard Wagners eine entscheidende Rolle. Schon als Prinz war Wilhelm zusammen mit Eulenburg zu den Bayreuther Festspielen gefahren und hatte auch gegenüber Wagners Witwe Cosima seine Verehrung für ihren Mann zum Ausdruck gebracht.121 Auch war er seit der Gründung im Herbst 1884 Protektor des Wagnervereins Berlin-Potsdam.122 Cosima Wagner trat deshalb im Sommer 1888 mit der Bitte an den neuen Kaiser heran, das Protektorat über die Festspiele zu übernehmen.123 Wilhelm II. lehnte den Vorschlag aber auf Anraten Bismarcks ab, der ihm die zu befürchtenden diplomatischen Verwicklungen mit Bayern vor Augen führte und generelle Skepsis über öffentliche Beziehungen des Kaisers zu Privatvereinigungen äußerte.124 Die geistige Welt Wagners und des Bayreuther 117
Ausführlicher dazu weiter unten in diesem Kapitel und Kapitel F. IV. Wilhelm II., Eröffnungsansprache zur Schulkonferenz 1890, in: Giese, S. 197. Vgl. dazu auch Schüler, S. 42–43. 119 Wiwjorra, S. 101. 120 Zur Berufung Wilhelms II. auf die römische Tradition siehe Kapitel F. II. Zu Wilhelms allgemeinem Interesse an der Antike, insbesondere an der Archäologie siehe Kapitel H. II. 121 Vgl. den Brief Wilhelm an Eulenburg, 11.8.1886, in: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz I, Nr. 88, S. 192; vgl. Schüler, S. 130. 122 Vgl. Schüler, S. 140. 123 Brief Cosima Wagners an Kaiser Wilhelm II., 22.8.1888, in: GStA, BPH Rep. 53 J Lit. W Nr. 2., Bl. 2–4. 124 Vgl. Röhl, Aufbau, S. 166–167. 118
III. Politischer Mythos III: Germanentum
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Kreises war Wilhelm II. zuerst durch Eulenburg, dann aber vor allem durch Chamberlain vermittelt worden; vor allem die Suche nach einem „germanischen“ Christentum durch die Anknüpfung an die germanische Überlieferung teilte der Kaiser – vermittelt über Chamberlain – mit Wagner.125 Die Idee, Wilhelms Ablehnung des Protektorats habe damit zu tun, daß er der Musik Wagners im Ganzen „eher ablehnend“126 gegenübergestanden habe, ist vor diesem Hintergrund wenig überzeugend. Es gibt auch keine Anzeichen dafür, daß Wilhelm etwa im Laufe seiner Regierungszeit von seiner jugendlichen Wagner-Begeisterung abgerückt wäre. Die einzige von ihm persönlich in Auftrag gegebene Oper, Der Roland von Berlin, ließ er von dem Italiener Ruggero Leoncavallo komponieren, dessen frühe Opern von Wagner beeinflußt waren.127 Für das 1903 eingeweihte Wagner-Denkmal in Berlin zeichnete der Kaiser 1901 selbst einen Entwurf und gab dem Bildhauer direkte Anweisungen.128 In einem Glückwünschbrief anläßlich der Hochzeit Houston Stewart Chamberlains mit Wagners Tochter Eva nannte Wilhelm II. Wagner 1908 den „markigen gewaltigen Schöpfer unserer neuen germanischen Welt.“129 Die einzige kaiserliche Eigenkomposition, das Männerchorstück Sang an Ägir, knüpfte in ihrer Thematisierung nordisch-mythologischer Inhalte ebenfalls an Wagner an.130 Für die Musikpolitik Wilhelms II. waren Wagners Opern trotz alledem wenig geeignet, weil sie melodisch nicht eingängig genug waren. Dem Kaiser kam es darauf an, das deutsche Volksliedgut zu pflegen, und dafür war einfache Singbarkeit nötig. In einer Rede nach einem vom Kaiser veranstalteten Wettbewerb der Männergesangsvereine tadelte Wilhelm II. die Auswahl der Stücke, die alle viel zu schwierig und zu wenig singbar gewesen seien und kündigte die Herausgabe einer Sammlung aller bekannten deutschen Volkslieder an.131 Den damit verbundenen politischen Zweck hatte Wilhelm II. bereits Anfang 1895 in einem Erlaß zum Ausdruck gebracht: 125
Siehe dazu Kapitel E. III. So Förster, Kulturpolitik, S. 161–164, der auf den demokratisch-völkischen Charakter des Wagnerschen Gesamtentwurfs verweist, der dem Kaiser kaum gefallen haben könne. Angesichts der Begeisterung Wilhelms für Houston Stewart Chamberlain ist diese Behauptung aber nicht plausibel; siehe Kapitel E. III. 127 Vgl. Förster, Kulturpolitik, S. 103. 128 Vgl. Zelinsky, Sieg oder Untergang, S. 87–88. Vgl. auch Zelinsky, Kunstwerk der Zukunft, S. 87 und Seidel, Der Kaiser und die Kunst, S. 180. 129 Kaiser Wilhelm II. an H. S. Chamberlain vom 8.12.1908, Chamberlain, Briefe II, S. 232. 130 Vgl. Marschall, S. 91–93. 131 Das deutsche Volkslied, 6.6.1903: Penzler III, S. 165–170; Obst, Die politischen Reden, Nr. 147, S. 255–258. Vgl. dazu auch Förster, Kulturpolitik, S. 200– 211 und Kaul, S. 448. 126
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F. Politische Theologie II: Politische Mythen
„Eingedenk dessen, dass Deutsches Lied und Deutscher Sang alle Zeit auf die Veredelung der Volksseele einen segensreichen Einfluß geübt und die Nation in der Treue gegen Gott, Thron, Vaterland und Familie gestärkt haben, wünsche Ich am heutigen Tage Meiner warmen Theilnahme an diesen Bestrebungen besonderen Ausdruck zu geben.“132
Zu dieser relativ unkonkret auf Patriotismus und Konservatismus gerichteten Zielsetzung paßt, daß Wilhelm II. das „Germanentum“ kaum als historisches Vorbild begriff, sondern als eher diffusen und bildhaften Vorstellungszusammenhang ins Spiel brachte. Bei den Nordlandfahrten und bei der Popularisierung germanischer Mythologie ging es weniger um tatsächliche oder auch bloß propagierte Anknüpfung an eine germanische Tradition, sondern um politisch nutzbare Gefühlswerte, die Wilhelm im „Norden“ vermutete. Dem entspricht auch der generelle Charakter des politischen „Germanismus“ des 19. Jahrhunderts als einer „elastischen Rahmenideologie“133, die mit politisch konservativen wie liberalen Vorstellungen, mit nationalen wie übernationalen Orientierungen einhergehen konnte.134 Wilhelm sprach etwa von dem „den germanischen Stämmen besonders eigene(n) Schönheitsgefühl“135, das es zu pflegen gelte. Bei der Jubiläumsfeier des Germanischen Museums in Nürnberg nannte er die germanische „Treue zu Kaiser und Reich“136 als wichtigstes Gut germanischer Überlieferung. Auf diesen Aspekt hob der Kaiser auch 1890 bei einem Staatsbesuch in Christiana ab, wo er in einer Rede dem norwegisch-schwedischen König Oscar II. sein Germanenbild erklärte: „Es ist das Volk, welches sich im steten Kampfe mit den Elementen aus eigener Kraft durchgearbeitet hat, das Volk, welches in seinen Sagen und seiner Götterlehre stets die schönsten Tugenden, die Mannentreue und die Königstreue, zum Ausdruck gebracht hat. Diese Tugenden sind in hohem Maße den Germanen eigen, welche als schönste Eigenschaften die Treue der Mannen gegen den König und des Königs gegen die Mannen hochhielten.“137
In politischer Hinsicht gefiel dem Kaiser am Germanentum also vor allem die Königstreue, deren Stärkung er sich durch eine symbolische Anknüpfung an die germanische Überlieferung erhoffte. Das ist auch deshalb aufschlußreich, weil es sich hierbei nicht um die Treue gegenüber einem 132 Erlaß Wilhelms II. an den Magistrat und die Stadtverordneten zu Berlin, 27.1.1895: Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender NF 11 (1895), S. 30. 133 Gollwitzer, Zum politischen Germanismus, S. 359. 134 Vgl. Gollwitzer, Zum politischen Germanismus, S. 305–317 und S. 353–361. 135 Die Hochschulen der bildenden Künste und für Musik, 2.11.1902: Penzler III, S. 132. Auch abgedruckt in Schröder, Tagebuch, S. 46. 136 Jubelfeier des Germanischen Museums in Nürnberg, 16.6.1902: Penzler III, S. 92. 137 Besuch in Christiana, 2.7.1890: Penzler I, S. 119.
III. Politischer Mythos III: Germanentum
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Amt, sondern um die Treue gegenüber der Person des Königs handelte. Insofern sollte das Germanentum dem Kaiser auch eine Stärkung personaler Beziehungen bringen. Neben der Treue waren es aber auch „germanischer Geist“ und „germanische Innerlichkeit“, die er zu stärken und geschichtspolitisch zu nutzen hoffte.138 Das wird vor allem in der schon mehrfach zitierten Aachener Rede von 1902 erkennbar. Wilhelm betonte darin nicht nur die Bedeutung von Christentum und Reichstradition für die geschichtspolitische Verortung des neuen Reiches.139 Er kam auch auf die Rolle des Germanischen in diesem Zusammenhang zu sprechen, die er eben auf den besonderen germanischen „Geist“ und „Charakter“ beschränkte, dessen Wahrung allein das deutsche Volk für die Zukunft rüste: „Und so sehen wir denn das Reich, obwohl noch jung, sich in sich selbst von Jahr zu Jahr kräftigen, während das Vertrauen zu ihm von allen Seiten immer stärker sich befestigt. Das mächtige deutsche Heer aber gewährt einen Rückhalt dem Frieden Europas. Dem Charakter der Germanen entsprechend, beschränken wir uns nach außen, um nach innen unbeschränkt zu sein; weithin zieht unsere Sprache ihre Kreise auch über die Meere, weithin geht der Fluß unserer Wissenschaft und Forschung, kein Werk ist auf dem Gebiete der neueren Forschung, welches nicht in unserer Sprache abgefaßt würde, und kein Gedanke entspringt der Wissenschaft, der nicht von uns zuerst verwertet würde, um nachher von anderen Nationen angenommen zu werden. Und dieses ist das Welt-Imperium, das der germanische Geist anstrebt.“140
Hier entwarf der Kaiser ein Bild von dem, was er sich unter einem deutschen Weltreich vorstellte: deutsche Sprache, deutsche Wissenschaft und deutsche Kultur sollten die Welt erobern; das Militär sei nur zur Verteidigung der bestehenden Landesgrenzen da. Wie immer man dieses Selbstverständnis im Hinblick auf die tatsächliche Außenpolitik des Reiches bewerten will, dem Anspruch nach ging es nicht um einen Eroberungs-, sondern einen Kulturimperialismus. Wie sich dieser außen- und kulturpolitische Vorstellungszusammenhang mit religiösen Inhalten und religiöser Symbolik verband, soll im folgenden Kapitel gezeigt werden.
138 In dieser Hinsicht war der Kaiser ganz von Houston Stewart Chamberlain beeinflußt. Vgl. dazu den Brief, den Chamberlain am 20.2.1902 – vier Monate vor der Aachener Rathausrede – geschrieben hat und indem es unter anderem um die geistigen und wissenschaftlichen Leistungen der Deutschen geht. Selbst die Parole „Äußerlich begrenzt, innerlich unbegrenzt“, die Wilhelm in Aachen ausgab, stammt aus dem Brief Chamberlains: H. S. Chamberlain an Kaiser Wilhelm II., 20.2.1902: Chamberlain, Briefe II, S. 160–161. 139 Christentum: siehe Kapitel D. IV. Reichstradition: siehe Kapitel F. II. 140 In Aachen, 19.6.1902: Penzler III, S. 98–99; Obst, Die politischen Reden, Nr. 142, S. 245–248; Schröder, Tagebuch, S. 10–11.
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F. Politische Theologie II: Politische Mythen
IV. Erzengel Michael Die Verehrung des Großvaters als Reichsgründer, die symbolische Anknüpfung vor allem an die christliche Reichstradition und die Beschwörung eines Weltreichs des deutsch-germanischen Geistes, all das diente für Wilhelm II. der Arbeit am Mythos der deutschen Nation. Innenpolitisch ging es dabei in erster Linie um die Stiftung politisch zuverlässiger nationaler Identität, außenpolitisch um deutsche „Weltpolitik“ in einem spezifischen Sinn. Dieser Sinn und sein Zusammenhang mit dem Gesamt der politischen Mythologie des Kaisers ist am deutlichsten ausgedrückt in Wilhelms Versuch, den Deutschen wieder einen Nationalheiligen zu geben: den Erzengel Michael. Die Bezugnahmen des Kaisers auf Sankt Michael sind auf die Affinität des Kaisers zu „dualistischen“ und „manichäischen“ Denkweisen zurückgeführt worden; auf den Glauben, das absolut Gute zu vertreten und es gegen das absolut Böse zu verteidigen.141 Der Rekurs des Kaisers auf Sankt Michael während des Ersten Weltkriegs mag in diese Richtung deuten; für die 26 Friedensjahre gilt das nicht.142 Aber nicht nur die kaiserlicher Michaelsbegeisterung ist nicht einseitig kriegerisch zu interpretieren, sondern auch die Tradition der deutschen Michaelsverehrung ist differenzierter zu beurteilen. Ein strenger Dualismus jedenfalls ließ sich aus der biblischen Überlieferung nie ableiten. Zwar findet man im Alten Testament auch das gemeinorientalische Bild von Gott als Bezwinger des Chaosdrachens, des Leviathans143, doch von zentraler Bedeutung für die Kirche wurde eine andere Tradition. Deren Ursprung ist bereits im dritten Kapitel des Buches Genesis zu finden: „Aber die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der Herr gemacht hatte [. . .].“144 Weil die Schlange als Manifestation Satans interpretiert wurde, war an dieser Stelle etwas über das Wesen des Bösen gesagt, das es unmöglich machte, von einem Dualismus im strengen Sinn – also einer absoluten Selbständigkeit des Bösen vom Guten – auszugehen. 141
So Benner, S. 121–122 und S. 358–359, aber auch Röhl, Aufbau, vor allem S. 954. 142 Auch die Bezugnahme auf Sankt Michael während des Krieges ist differenzierter zu beurteilen, als etwa Benner das tut; vgl. Kapitel G. II. 143 Vor allem Ps 74,12–14: „Gott ist ja mein König von alters her, der alle Hilfe tut, die auf Erden geschieht. Du hast das Meer gespalten durch deine Kraft, zerschmettert die Köpfe der Drachen im Meer. Du hast dem Leviathan die Köpfe zerschlagen und ihn zum Fraß gegeben dem wilden Getier.“ Über die Verknüpfung des Psalms wie auch von Ps 89 mit der historischen Bedrohung durch den babylonischen König Nebukadnezar vgl. Keel, S. 14. 144 Gen 3,1. Hervorhebung durch den Verfasser.
IV. Erzengel Michael
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„Und es entbrannte ein Kampf im Himmel: Michael und seine Engel kämpften gegen den Drachen, Und der Drache kämpfte und seine Engel, und sie siegten nicht, und ihre Stätte wurde nicht mehr gefunden im Himmel. Und es wurde hinausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt: Teufel und Satan“.145 Der apokalyptische Endkampf im zwölften Kapitel der Offenbarung des Johannes nahm zwar das Motiv von Gottes Sieg über den Leviathan wieder auf, mußte aber gleichzeitig in der Tradition von Gen 3 verstanden werden, in der das Böse kein absolutes, sondern ein abgeleitetes, von Gott geduldetes Böses ist. An der Tatsache des Sieges des Guten änderte das natürlich nichts, ebenso wenig wie an Michael als Verkörperung des Kämpfers für das Gute.146 Nach jüdischer Tradition gehörte Michael mit Gabriel und Raphael zu den Erzengeln, die den Thron Gottes umstanden. Ihm waren die Schlüssel des Himmelreiches anvertraut und er hatte im Jüngsten Gericht die „Seelenwaage“ zu halten, die über das Schicksal der Menschen entschied. Doch er wurde ebenfalls bald als Anführer der himmlischen Heerscharen und Beschützer Israels verehrt. Das christliche Verständnis von Michael als Anführer der Engel Gottes gegen die Engel Satans war demgegenüber eine Weiterentwicklung, hatte aber eine innere Logik. Wichtiger war allerdings, daß Michael dem Christentum einen kämpferischen Zug gab. Das führte dazu, daß er vor allem im um seine Existenz ringenden oströmischen Reich verehrt wurde als der Engel, „der den Kaiser gegen die Barbaren bewaffnet, den Christen den Sieg verleiht und die Feinde verfolgt.“147 Schließlich ernannte man Michael sogar zum Befehlshaber, zum Archistrategos der byzantinischen Armee und gab ihm eine eigene Fahne. In West- und Mitteleuropa wurde der Erzengel wegen seines kriegerischen Charakters vor allem von den germanischen Völkern verehrt. Weil er zudem als Beschützer des Gottesvolkes galt, bot der Heilige Michael sich für das Frankenreich, das das römische Erbe antrat, als Schutzpatron geradezu an.148 Karl der Große schließlich ließ vom Papst den Michaelstag am 29. September als Reichsfest einführen und legte damit den Grundstein 145
Apk 12,7–9a. Daß die hier dargestellten biblischen Motive eine große Nähe zu dualistischen Vorstellungen aufweisen, soll gar nicht bestritten werden. Es geht hier lediglich darum, deutlich zu machen, daß ein strenger Dualismus im Sinne einer metaphysischen Gleichrangigkeit bzw. Gleichursprünglichkeit des guten wie des bösen Prinzips nicht biblisch ist. 147 Pantaleon Diaconus, Encomium in maximum et gloriosissimum Michaelem, caelestis militiae principem: Zit. nach Rohland, S. 144. 148 Gegen Galle, S. 24–33, die das Gegenteil behauptet und meint, Sankt Michael könne wegen seiner universal-christlichen Funktion keine besondere politische Rolle für das Reich gespielt haben. 146
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F. Politische Theologie II: Politische Mythen
für die Verehrung des Erzengels als Patron des Reiches.149 Im ottonischen Reich scheint Michael dann als Reichspatron etabliert gewesen zu sein; dafür sprechen jedenfalls die von Heinrich I. und Otto I. verwendeten Michaelsfahnen.150 Auch die von Heinrich VI. eingeführte „Reichsfahne“ könnte in einem Zusammengang mit dem Erzengel stehen, der oft mit einer entsprechenden Fahne dargestellt wurde: ein weißes Kreuz auf rotem Grund.151 Dieselbe Fahne findet man oft auf Darstellungen des Auferstan149 MGH Leges, Concilia aevi Karolini I, Concilium Moguntinese A. 813, XXXVI. De festivitatibus anni (S. 269–270). Vgl. auch Steffen, Drachenkampf, S. 110 und Grote, S. 16. 150 Andrea Schaller bestreitet eine politische Bedeutung Sankt Michaels für das Heilige Römische Reich: Weder sei der Erzengel von Karl dem Großen als Schutzpatron des Reiches verehrt worden, noch ließen sich die Michaelsfahnen Heinrichs I. und Ottos I. nachweisen; der Bericht des Chronisten Widukind von Corvey, der von Engeln spricht, die dem sächsischen Heer vorausgegangen seien, und an anderer Stelle explizit vom „Bildnis“ eines Engels, sei als Anlehnung an alttestamentliche Erzählungen und insbesondere an die Makkabäerbücher zu verstehen, in denen Engel als Schlachthelfer mehrfach auftauchen, und sei deshalb wohl nicht wörtlich gemeint. (Schaller, Michael, S. 274–287) Gegen diese Auffassung spricht aber schon, daß die Schlacht Ottos I. auf dem Lechfeld von einer Sankt-Michaelsmesse begleitet war, die den Sieg bringen sollte (Erdmann, S. 18). Was die Michaelsfahnen betrifft, so handelt es sich bei Schallers Argumentation um bloße Spekulation, die erklären möchte, warum es keine materiellen Überlieferung der Fahnen gibt. Das ist aber gar nicht nötig; es würde schon der Hinweis darauf reichen, daß Kenntnisse wie Überlieferungslage kaiserlicher Feldzeichen aus dieser frühen Zeit sehr gering sind (vgl. Weißmann, Deutsche Zeichen, S. 32): Das einzige abendländische Fahnentuch, das überhaupt aus dem hohen Mittelalter erhalten ist, stammt aus dem Italien des 11. oder 12. Jahrhunderts und zeigt Christus, Michael, Gabriel und mehrere andere Heilige (vgl. Erdmann, S. 39–40) – es gibt also durchaus einen materiellen Beleg für mittelalterliche Michaelsfahnen. Der Versuch, die Tradition deutscher Michaelsverehrung zu bestreiten oder wenigstens abzuschwächen, scheint daher implizit auch davon motiviert zu sein, die These einer „Erfindung“ der Tradition in späterer Zeit plausibel zu machen. Diese Motivation wird besonders deutlich in der Arbeit von Maja Galle, deren Votum: „Eine Kontinuität der besonderen Beziehung des mittelalterlichen Deutschland zu St. Michael wird in der Literatur immer wieder gerne konstruiert“ (Galle, S. 26) gegen alle auch von ihr selbst angeführten Gegenbelege aufrechterhalten wird, was aber nur dadurch möglich wird, daß sie alle Belege mit dem Vorverständnis interpretiert, eine besondere Michaelsverehrung habe es im Reich nicht gegeben, ja gar nicht geben können, weil überhaupt keine Kontinuität zwischen germanischer und christlicher Tradition existiere. (Vgl. Galle, S. 24–33) Daher rührt wohl auch der gegen die Fakten aufrechterhaltene Widerwille Galles gegen die Vorstellung einer Ersetzung des Wotanskultes durch die germanische Michaelsverehrung, der so weit geht, daß selbst der bloße Hinweis darauf, daß Michaelskirche oft an die Stelle von Wotansheiligtümern traten, als irrige Meinungsäußerung bewertet wird. (Vgl. Galle, S. 20–22). 151 Zur „Reichsfahne“ Heinrichs VI. siehe Wentzcke, S. 30–33. Auch Heinrich VII. und Konradin führten das weiße Kreuz auf rotem Grund: vgl. Valentin/Neubekker, S. 3–4. Ob und wenn ja in welche Richtung hier Einflußlinien verlaufen, kann
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denen, also des siegreichen Christus, als dessen Verkörperung wiederum man den Heiligen Michael verstehen konnte. Die Reichsfahne setzte sich allerdings gegen den Adler als kaiserliches Symbol nicht durch, und der Erzengel Michael verlor im Laufe des Mittelalters und der frühen Neuzeit an Bedeutung. Das hing auch damit zusammen, daß er sein Alleinstellungsmerkmal als Drachentöter einbüßte und „Konkurrenz“ bekam von etwa fünfzig weiteren Drachenkämpfern. Davon waren die meisten „Ritterheilige“152 wie der Heilige Martin oder der Heilige Mauritius, aber niemand wurde so populär wie Sankt Georg. Der wurde seit den Kreuzzügen vor allem in England verehrt und zum Nationalheiligen erkoren. Diese relativ frühe und sehr intensive Verehrung des Heiligen Georgs – Shakespeare etwa ließ Heinrich V. im gleichnamigen Stück bereits „God for Henry, England and Saint George!“153 rufen, die englischen Souvereigns zeigten seit Georg III. den Drachentöter auf der Rückseite – wurde auch durch die Reformation nicht gebrochen. Im 19. Jahrhundert schließlich fand Englands Weltmachtstreben in der Figur Georgs einen adäquaten Ausdruck von kriegerischem Geist und sittlichem Überlegenheitsgefühl. Der englische Hosenbandorden stand unter dem Patronat Sankt Georgs, und die Georgsfahne – ein rotes Kreuz auf weißem Grund – wurde zur englischen Nationalflagge. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts forderte die Royal Society of St. George, den Georgstag als Feiertag im ganzen Empire zu begehen, und die Pfadfinderbewegung wählte Sankt Georg zum Schutzpatron und Vorbild. Wilhelms II. Versuch, den Erzengel Michael als deutschen Nationalheiligen zu retablieren, erscheint vor diesem Hintergrund als Übernahme das englischen Modells. In Friedrich Wilhelm IV. hatte Wilhelm allerdings einen Vorgänger, der zusammen mit Karl Friedrich Schinkel unter dem Eindruck der nationalen Begeisterung durch die Befreiungskriege ganz ähnliches versucht hatte. Nach der gescheiterten Revolution von 1848 wollte Friedrich Wilhelm IV. den Heiligen Michael sogar zur Symbolfigur für den Kampf gegen das Böse im Inneren Deutschlands machen. Damit nahm er nicht nur ein Motiv aus der Reformationszeit auf, in der Michael als Parteigänger der „richtigen“ Konfession eingesetzt worden war, sondern er stellte auch, ebenso wie später Wilhelm II., den Staat in eine sakrale Tradition.154 im Rahmen dieser Arbeit nicht geklärt werden. Das liegt zum einen an der schlechten Überlieferungslage, zum anderen am Fehlen einer systematischen Untersuchung über die Michaelsfahne. Bekannte Darstellungen des Erzengels mit der Kreuzesfahne vor Heinrich VI. gibt es allerdings nicht. 152 Vgl. Englisch/Vocelka, S. 55–58. 153 Shakespeare, Henry V, Act 3, Scene 1. 154 Vgl. Galle, S. 34–36, S. 94–95 und S. 113.
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Wilhelm II. war daher schon früh mit der Gestalt Sankt Michaels vertraut. John Röhl hat wohl mit Recht vermutet, daß die Darstellung des Erzengels von Wilhelm Rottermondt auf dem Koblenzer Tor in Bonn eine wichtige Rolle für das Michaelsbild des Kaisers spielte.155 Während seiner Studienzeit ging Wilhelm täglich an dem Tor vorbei, auf dem der Erzengel selbst sowie Allegorien der Tugenden des katholischen Michaelsordens – Frömmigkeit, Treue, Tapferkeit und Beharrlichkeit – dargestellt sind. Als Kaiser setzte Wilhelm II. den Erzengel Michael jedenfalls immer wieder künstlerisch und symbolpolitisch ein. Schon die erste bildhauerische Arbeit, die er als Kaiser in Auftrag gab, war eine Michaelsstatue für das Hohenzollern-Mausoleum in Charlottenburg. Hier zeigte sich bereits, daß Wilhelm II. gegenüber der traditionellen Darstellung des Drachenkampfes den Erzengel als Seelenführer und Wächter mit gesenktem Flammenschwert bevorzugte.156 Diese „friedlichere“ Interpretation prägte auch das von Wilhelm II. selbst entworfene Denkmal zur Erinnerung an die Gefallenen des 1. Garderegiments zu Fuß in Saint Privat, das den Heiligen Michael ebenfalls mit gesenktem Schwert sowohl als Heerführer wie auch als „Seelengeleiter“ präsentierte.157 In seiner Rede zur Enthüllung des Denkmals am 18. August 1899 führte Wilhelm II. dazu aus:
155
Vgl. Röhl, Jugend, S. 299. Vgl. Galle, S. 132. Deren Versuch, die Michaelsstatuen in Charlottenburg und in St. Privat als aggressiv-kriegerisch gemeint zu interpretieren, widerspricht nicht nur dem Augenschein, sondern auch durch die Stellungnahmen des Kaisers selbst zu den Statuen. Gerade das Denkmal in St. Privat stand ausdrücklich im Zusammenhang mit einem diplomatischen Annäherungsversuch an Frankreich und galt laut Wilhelm II. als Denkmal sowohl für die deutschen als auch für die französischen Gefallenen. Diese Auffassung teilte der Kaiser auch dem Pariser Botschafter Graf Münster mit, ebenso wie die Absicht, im Rahmen der Denkmalsenthüllung einen Kranz auf ein in der Nähe befindliches französisches Grabdenkmal niederzulegen. Vgl. dazu Röhl, Abgrund, S. 100–101. (Kaiser Wilhelm II. an Graf Münster, 16.7. und 4.8.1899: Die Grosse Politik XIII, Nr. 3571 und 3574, S. 269–270 und S. 271.) 157 Inhaltlich in die gleiche Richtung ging ein Entwurf Wilhelms II. von 1912 für ein Gedenkblatt für Armeeangehörige. Das dann von Emil Doepler ausgeführte Blatt zeigt Michael, der auf Kriegsgerät einen Kranz niederlegt und damit seinem irdischen Mitstreiter, dem deutschen Soldaten, die Ehre erweist: vgl. Galle, S. 135 und Seidel, Der Kaiser und die Kunst, S. 201. In diesen Fällen ist die Ikonographie natürlich auch durch den Trauerkontext bedingt. Es ist aber dennoch auffällig, daß diese Art von Michaelsdarstellungen durch den Kaiser derart häufig auftreten und es dagegen mit Ausnahme des Fußbodenmosaiks in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche keinerlei „klassische“ Darstellungen des Drachenkampfes gibt. Selbst die kämpferischeren Michaelsdarstellungen, die im folgenden thematisiert werden, betonen nicht die Kampf-, sondern die Wächterfunktion des Erzengels und haben somit ausdrücklich defensiven Charakter. 156
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„Die gewählte Form des Denkmals ist abweichend von der sonst auf Schlachtfeldern üblichen. Der gepanzerte Engel stützt sich, friedlich ruhend, auf das Schwert, geziert mit dem stolzen Motto des Regiments: ‚Semper talio.“ Ich will daher, daß dieser Figur auch eine allgemeine Bedeutung verliehen werde. Sie steht auf diesem blutgetränkten Felde gleichsam als Wächter für alle hier gefallenen braven Soldaten beider Heere, sowohl des französischen wie unseres. Denn tapfer und heldenmütig für ihren Kaiser und ihr Vaterland sind auch die französischen Soldaten in ihr ruhmvolles Grab gesunken; und wenn unsere Fahnen sich grüßend vor dem erzenen Standbilde neigen werden und wehmutsvoll über den Gräbern unserer lieben Kameraden rauschen, so mögen sie auch über den Gräbern unserer Gegner wehen, ihnen raunen, daß wir der tapferen Toten in wehmutsvoller Achtung gedenken. Mit tiefem Danke und im Aufblick gegen den Herrn der Heerscharen für seine unserm großen Kaiser gnädigst gewährte Führung wollen wir uns vergegenwärtigen, daß auf den heutigen Tag die um des höchsten Richters Thron gescharten Seelen aller derer, die einst in heißem Ringen sich auf diesem Felde gegenüberstanden, in ewigem Gottesfrieden vereint, auf uns herabsehen.“158
Erzengel Michael symbolisierte in diesem Denkmal also nicht etwa eine aggressiv nach außen gerichtete Haltung, sondern eine angestrebte Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich. Einen eher kämpferischen Charakter hatten dagegen die Zeichnungen und Bühnenstücke, in denen Wilhelm II. Sankt Michael verwendete. Drei von Wilhelm selbst entworfene Bilder sind dabei besonders hervorzuheben, weil der Kaiser sie ausführen, reproduzieren und veröffentlichen ließ und weil sie seine politische Weltanschauung prägnant zusammenfassen. Das erste Bild war eine Illustration des Wilhelm-der-Große-Mythos: In der Mitte steht ein Monument mit dem Porträt Wilhelms I. mit der Umschrift: „Exegi monumentum aere perennius“ [= „Ich habe ein Denkmal errichtet, dauerhafter als Erz“].159 Vom Betrachter aus rechts vom Monument kniet Germania und reicht dem Kaiserporträt die Krone auf einem Kissen. Links vom Monument steht Sankt Michael in Ritterrüstung mit dem Hohenzollernadler auf der Brust und hält in der einen Hand einen Lorbeerzweig über den Kopf Wilhelms I., in der anderen Hand das gesenkte Schwert. Das Bild wurde mit der faksimilierten Unterschrift Wilhelms II. und dem Satz: „Dem Andenken Kaiser Wilhelms des Großen“ veröffentlicht. Waren in diesem Bild Germania und Michael Sinnbilder der deutschen Nation, die in Wilhelm I. ihren Reichsgründer verehrte, so war in den beiden anderen Bildern nur noch Sankt Michael als Verkörperung Deutschlands bzw. des Kaisers selbst dargestellt. Beide Bilder basierten auf einem 158 159
Auf dem Schlachtfelde von St. Privat, 18.8.1899: Penzler II, S. 164. Vgl. zu dem Bild Thal, S. 13–19; das Bild ist auf S. 18–19 abgebildet.
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Entwurf Wilhelms II., der von dem Historienmaler Hermann Knackfuß ausgeführt wurde. Das erste Bild zeigt Sankt Michael in Deutschordenstracht mit dem preußischen Adler auf Waffenrock und Schild, der vor einem Tempel steht und die im Inneren versammelten Frauen und Kinder gegen vor dem Portal versammelte Teufelsgestalten verteidigt. Das Bild wurde im November 1896 mit dem Untertitel „Niemand zu Liebe, Niemand zu Leide!“ und der Unterschrift des Kaisers veröffentlicht.160 Das dritte Bild ist zugleich die berühmteste Darstellung des Erzengels Michael durch Wilhelm II. 1895 entworfen und dann auch von Hermann Knackfuß als Heliographie ausgeführt, zeigt es, wie Sankt Michael mit dem Flammenschwert vor den Personifikationen der europäischen Nationen steht und sie angesichts eines auf Wolken schwebenden Buddhas auffordert, ihre „heiligsten Güter“ zu wahren.161 Wilhelm II. schickte die Zeichnung an den russischen Kaiser und erklärte dazu: „Sie zeigt die europäischen Mächte, jede durch ihren Genius vertreten, zusammengerufen durch den vom Himmel gesandten Erzengel Michael, wie sie sich im Widerstande gegen das Eingreifen des Buddhismus, des Heidentums und der Barbarei zur Verteidigung des Kreuzes vereinigen. Besonderer Nachdruck ist auf den vereinigten Widerstand aller europäischen Mächte gelegt, der ebenso notwendig ist gegen unsere gemeinsamen inneren Feinde: Anarchismus, Republikanismus, Nihilismus.“162
Die verbreitete Angst vor der „gelben Gefahr“163, der für die Zukunft befürchteten Weltmachtstellung Ostasiens, stand hier im Hintergrund.164 Wil160 Zeichnung Wilhelms: „Niemand zu Liebe, Niemand zu Leide!“, Heliographie signiert „Berlin, 28.XI.96, W.“, GStA Berlin, BPH Rep. 53 Nr. 270. Die Heliographie ist auch abgebildet in Thal, S. 26–27. 161 Der vollständige Untertitel lautete: „Völker Europas, wahret eure heiligsten Güter“. Die Heliographie ist abgebildet in Thal, S. 28–29. 162 Kaiser Wilhelm II. an Nikolaus II., 26.9.1895: Goetz, Briefe, S. 19. Englisches Original: S. 294–295. 163 Vgl. Gollwitzer, Gelbe Gefahr, S. 206–207. Gollwitzers Buch bietet eine Gesamtgeschichte des Schlagworts der „gelben Gefahr“ und weist im Hinblick auf den Kaiser darauf hin, daß Wilhelm II. die Warnung vor dem Osten vor allem gegenüber Roosevelt und dem russischen Kaiser vertrat. (vgl. Gollwitzer, Gelbe Gefahr, S. 206–218) An letzteren schickte Wilhelm II. im Januar 1898 eine weitere Zeichnung mit den Begleitworten: „Möchtest Du freundlich eine Zeichnung annehmen, die ich für Dich entworfen habe, mit den symbolisierten Gestalten Rußlands und Deutschlands als Schildwachen am Gelben Meer zur Verkündigung des Evangeliums der Wahrheit und des Lichts im Osten.“ (Goetz, S. 45) Im Monat davor hatte Wilhelm II. an Nikolaus II. geschrieben: „Russia and Germany at the entrance of the Yellow Sea may be taken as represented by St. George and St. Michael shielding the Holy Cross in the Far East and guarding the Gates to the Continent of Asia.“ (Kaiser Wilhelm II. an Kaiser Nikolaus II. von Rußland, 19.12.1897, Die Grosse Politik XIV/1, Nr. 3739, S. 129–130.)
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helms Antwortvorschlag auf diese Gefahr war dem Bild entsprechend eine wehrhaft christliche europäische Friedensordnung – unter deutscher Führung. Die drei Michaelsbilder des Kaisers ergeben ein Gesamtbild, das seine politische Mythologie und das Selbstkonzept seines politischen Auftrags als Deutscher Kaiser zusammenfaßt. Genau so wollte Wilhelm II. die Bilder auch verstanden wissen, was das offiziöse, weil vom Kaiser ausdrücklich autorisierte Festspiel Der Deutsche St. Michael von Franz Büttner-Pfänner zu Thal zeigt. Das 1897 uraufgeführte pantomimische Festspiel war nämlich eine Bearbeitung und Illustration der drei Michaelszeichnungen Wilhelms.165 In der Anweisung für das Vorspiel des Stückes hieß es: „Sanct Michael versinnbildlicht das Deutschtum, deutsche Kraft und deutsche Treue. Er befreit die Germania, die von feindlicher Macht und Zwietracht gefangen gehalten wird, mittelst des deutschen Schwertes der Einigkeit, das er selbst erst wieder zusammenschweißen muß. Er führt sie zur Freiheit empor und zeigt ihr die am Horizonte erscheinende Burg Hohenzollern, wo sie unter seinem Schutz für alle Zeit geborgen sein wird.“166 Der erste Teil des Stückes interpretiert das erste Michaelsbild, das die „Wiederkehr des deutschen Reiches“167 durch die Hand Wilhelms I. unter dem Schutz Sankt Michaels darstellt. Es wird ein Geschichtsrückblick von den Germanen an geboten, wobei der Schwerpunkt auf dem Haus Hohenzollern liegt und die Szene schließlich in einer Huldigung des Kaisers durch alle Stämme und Klassen des deutschen Volkes gipfelt. Die Verbindungen zum Wilhelm-der-Große-Mythos und der Hohenzollern-Legende liegen auf der Hand.168 Im zweiten Teil verteidigt Sankt Michael den deutschen Friedenstempel gegen die von dem germanischen Gott Loki, dem „Vertreter der Zwietracht 164 Gollwitzer vermutet, daß der deutsche Diplomat Max August Scipio von Brandt der Anreger der Zeichnung wie überhaupt der damit verbundenen politischen Initiative und womöglich sogar des außenpolitischen Konzeptes gewesen ist. Jedenfalls vertrat Brandt bei einer Audienz beim Kaiser die Vorstellung einer „gelben Gefahr“ und hatte in seinem Buch Die Zukunft Ostasiens, das Wilhelm II. kannte, die Idee eines europäischen Völkerbundes vertreten: Vgl. Gollwitzer, Gelbe Gefahr, S. 210–211. Als Anreger mag Brandt dabei durchaus fungiert haben; das Konzept als solches hat der Kaiser allerdings schon vor 1895 vertreten. Zu Wilhelms Thematisierung der „gelben Gefahr“ vgl. auch zwei 1905 von Wilhelm gehaltene Reden vor deutschen Militärs: Penzler III, S. 229–230 und S. 252–253. Letztere Rede ist auch abgedruckt in: Obst, Die politischen Reden, Nr. 153, S. 268–269. Zur Aufnahme der Reden vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 282–285. 165 Vgl. den Titel bei Thal; vgl. auch Förster, Kulturpolitik, S. 170–175; vgl. Röhl, Aufbau, S. 959–960; vgl. Galle, S. 142–143. 166 Thal, S. 7. 167 Thal, S. 13. 168 Siehe dazu Kapitel F. I.
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und Finsternis“169 angeführten Umstürzler. Die Figuren im Tempel, die der Erzengel beschützt, sind Allegorien von Wissenschaft, Kunst und Gewerbe. Diese Illustration und Interpretation des zweiten Michaelsbildes hatte die Überschrift „Deutschlands Stärke nach Innen.“170 Das Bild war also eine allegorische Darstellung der kaiserlichen Innenpolitik, wobei hier Sankt Michael als Sinnbild des Kaisers selbst zu verstehen ist. Der sah sich selbst als „Herr der Mitte“, als Wahrer des inneren Friedens und Garant der nationalen Einheit, die gegen die inneren Feinde – vor allem die Sozialdemokratie – verteidigt werden müsse.171 Nach seiner Rückkehr von der Orientreise entwarf der Kaiser Anfang 1899 in einer Rede vor dem Brandenburgischen Provinziallandtag ein ganz ähnliches Bild: „Ja meine Herren! Der Baum, den wir wachsen sehen und für den wir sorgen müssen, ist die deutsche Reichseiche. [. . .] Ich hoffe, dann das Bild zu sehen, daß der Baum sich herrlich entwickelt, und vor ihm steht der deutsche Michel, die Hand am Schwertknauf, den Blick nach außen, um ihn zu beschirmen. Sicher ist der Friede, der hinter dem Schild und unter dem Schwerte des deutschen Michel steht.“172
Hier war es allerdings nicht der Erzengel Michael, der den Frieden bewahrte, sondern der „deutsche Michel“, und es ging auch weniger um den inneren als um den äußeren Frieden. Damit weist das Zitat dann auch auf das dritte Michaelsbild des Kaisers; der Titel des dritten Teils von Thals Stück 169
Thal, S. 10. Thal, S. 21. 171 Die Vermutung, daß der Kaiser sich hier selbst als „deutscher Michael“ (Stalla, S. 248) inszenierte, wird durch eine Bronzestatue bestätigt, die ihn selbst in Kreuzrittertracht zeigt und die er Hohenlohe 1898 zu Weihnachten schenkte. (vgl. Röhl, Aufbau, S. 986–987) Hinzu kommt eine Rede, die Wilhelm 1896 zum 25. Jubiläum des Frankfurter Friedens gehalten hat. Laut einer nichtoffiziellen Redefassung hatte der Kaiser die Hoffnung geäußert, „daß auch wie bisher der Erzengel Michael in goldener Wehr strahlend, vor dem Thore des Friedenstempels der Welt stehend, dafür sorgen wird, dass niemals böse Geiste im stande sein werden, den Frieden unseres Landes ungerecht zu stören.“ (GStA, I. HA, Rep. 89, Nr. 3127. Abgedruckt in: Stalla, S. 255, Anm. 135; Obst, Die politischen Reden, Nr. 81, S. 150, Anm. 1. Vgl. die offizielle Redefassung in Penzler II, S. 16–18; Obst, Die politischen Reden, Nr. 81, S. 148–150). Das Bild ist samt Wilhelms Entwurf auch abgedruckt in Paret, S. 44–45. Zum innenpolitischen Selbstkonzept Wilhelms II. siehe Kapitel D. 172 Im Brandenburgischen Provinziallandtag, 3.2.1899: Penzler II, S. 147; Obst, Die politischen Reden, Nr. 104, S. 181–184. Zum „deutschen Michel“ vgl. Riha, Deutscher Michel, S. 146–171. Die Historizität der gängigen Ableitung des deutschen Michels von der Gestalt des Heiligen Michael wird ausdrücklich abgelehnt in der umfassenden Untersuchung von Bernd Grote: Grote, S. 12–37. Wilhelm II. stellte den Bezug zwischen Michel und Michael aber dem Zeitkonsens gemäß explizit her: vgl. Kaiser Wilhelm II. an H. S. Chamberlain vom 15.1.1917, Chamberlain, Briefe II, S. 251. 170
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lautete jedenfalls „Deutschlands Macht nach Außen.“173 Als vom Kaiser autorisierte Interpretation seiner Zeichnung gegen die „gelbe Gefahr“ ist die Beschreibung der Szene zu verstehen: „Der Friede Europas wird durch die Macht gewährleistet. Diese beruht auf dem Heer und dem Ansehen bei den anderen Staaten, welche ein Bündnis mit Deutschland suchen. [. . .] Der von außen drohende Kriegsgott wird durch die Einigkeit im innern [!] und nach außen zurückgedrängt. Der deutsche St. Michael schützt die auf festem Fels vereinigten Mächte Europas und fordert sie auf, ihre heiligsten Güter mit flammendem Schwert gegen den äußeren Feind zu verteidigen.“174 Das hier angedeutete und in der Gestalt Sankt Michaels symbolisierte außenpolitische Konzept einer Vereinigung Europas unter deutscher Führung entsprach tatsächlich einer außenpolitischen Konzeption, die Wilhelm II. immer wieder propagierte.175 Die Regierungserklärungen der ersten zwei Jahre unter dem Einfluß Bismarcks legten die Betonung noch auf die außenpolitische Saturiertheit und die daraus resultierende Friedfertigkeit des Reiches.176 Nach 1890 entwickelte der Kaiser dann ein eigenes Konzept das er 1892 gegenüber Eulenburg prägnant zusammenfaßte: „Ich hoffe, daß Europa allmählich den Grundgedanken meiner Politik durchschauen wird: Die Führung im friedlichen Sinn – eine Art Napoleonischer Suprematie – Politik, die ihre Ideen mit Gewalt der Waffen zum Ausdruck brachte, – in friedlichem Sinn. Ich habe die Ansicht, daß es schon ein Erfolg ist, daß ich, in jungen Jahren zur Regierung gekommen, an der Spitze der deutschen Kriegsmacht mein Schwert in der Scheide gelassen habe und die ewige Beunruhigungspolitik einer friedlichen Lage nach außen Platz gemacht hat, die wir lange Jahre nicht kannten. Man wird allmählich zu diesem Bewußtsein kommen.“177
Die Kommunikation dieses friedlichen Führungsanspruches Deutschlands nach außen geschah in erstaunlicher Offenheit; ganz im Gegensatz etwa zu 173
Thal, S. 28. Thal, S. 29–31. 175 Clark hat einige dieser Äußerungen zusammengetragen: vgl. Clark, Wilhelm II., S. 194, S. 274, S. 302–304 und S. 337–338. Gewisse Ähnlichkeiten zu dieser Konzeptionen weist der kontinentale „Germanismus unter deutscher Führung“ auf – ein „germanisches“ Bündnis ohne England –, das bereits von Ernst Moritz Arndt und Friedrich Schlegel vertreten wurde und das durchaus auch außerhalb Deutschlands auf Sympathie stieß: vgl. Gollwitzer, Zum politischen Germanismus, S. 332–338. 176 Reichstagseröffnung 1888: „In der auswärtigen Politik bin ich entschlossen, Frieden zu halten mit jedermann, soviel an mir liegt. [. . .] Deutschland bedarf weder neuen Kriegsruhmes noch irgendwelcher Eroberungen, nachdem es sich die Berechtigung, als einige und unabhängige Nation zu bestehen, endgültig erkämpft hat.“ (Penzler I, S. 13–14; Obst, Die politischen Reden, Nr. 11, S. 11.) 177 Aufzeichnung Eulenburgs, bei Tromsö, 11.7.1892: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz II, Nr. 688, S. 913–914. 174
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England, das traditionell immer sein machtpolitisches Desinteresse am Kontinent abgesehen von der Wahrung einer „Balance of Power“ betonte.178 Zumeist wurde die hinter dieser kaiserlichen Version von „Weltpolitik“ stehende ehrliche Friedensabsicht auch ernst genommen; in In- und Ausland wurde Wilhelm II. sogar als ängstlicher „Friedenskaiser“ verspottet.179 Dabei gingen für Wilhelm II. die Bemühung um Frieden und die militärische Aufrüstung vor allem der Flotte Hand in Hand. Charakteristisch für die Propagierung seiner Außenpolitik ist eine viel beachtete „Friedensrede“180, die Wilhelm II. im März 1905 in Bremen hielt. Anlaß war die Einweihung eines Kaiser-Friedrich-Denkmals, aber der Bezug auf den Vater bildete nur den Rahmen der Rede. Im Kern ging es darum, im Zuge der MarokkoKrise, die die Gefahr einer „Einkreisung“ des Reiches durch Frankreich, England und Rußland vor Augen führte, ein Signal des Entgegenkommens zu geben: „Ich habe mir damals den Fahneneid geschworen, als Ich zur Regierung kam, nach der gewaltigen Zeit Meines Großvaters, daß, was an Mir liegt, die Bajonette und Kanonen zu ruhen hätten, daß aber Bajonette und Kanonen scharf und tüchtig erhalten werden müßten, damit Neid und Scheelsucht von außen uns an dem Ausbau unsers Gartens und unsers schönen Hauses im Inneren nicht stören. Ich habe Mir gelobt, auf Grund Meiner Erfahrungen aus der Geschichte, niemals nach einer öden Weltherrschaft zu streben. Denn was ist aus den großen sogenannten Weltreichen geworden? Alexander der Große, Napoleon der Erste, alle die großen Kriegshelden, im Blute haben sie geschwommen und unterjochte Völker zurückgelassen, die beim ersten Augenblick wieder aufgestanden sind und die Reiche zum Zerfall gebracht haben. Das Weltreich, das Ich Mir geträumt habe, soll darin bestehen, daß vor allem das neuerschaffene Deutsche Reich von allen Seiten das absoluteste Vertrauen als eines ruhigen, ehrlichen, friedlichen Nachbarn genießen soll, und daß, wenn man dereinst vielleicht von einem deutschen Weltreich oder einer Hohenzollernweltherrschaft in der Geschichte reden sollte, sie nicht auf Eroberungen begründet sein soll durch das Schwert, sondern durch gegenseitiges Vertrauen der nach gleichen Zielen strebenden Nationen, kurz ausgedrückt, wie ein großer Dichter sagt: ‚Außenhin begrenzt, im Inneren unbegrenzt.‘ “181 178
Vgl. dazu etwa Baumgart, Europäisches Konzert. Vgl. Clark, Wilhelm II., S. 199–200. 180 Obst, Einer nur ist Herr, S. 276. Die Rede ist abgedruckt in: Obst, Die politischen Reden, Nr. 151, S. 263–266. Die offizielle Version ist abgedruckt in: Penzler III, S. 240–244; Schröder, Tagebuch, S. 133–135. Zum außenpolitischen Kontext der Rede vgl. Raulff. 181 Enthüllung des Kaiser-Friedrich-Denkmals in Bremen, 22.3.1905: Penzler III, S. 242. Hierbei handelt es sich um die bekannteste, die offizielle Version der Rede. Laut dem mitstenographierten Text hatte Wilhelm II. am Schluß des zitierten Abschnitts den deutschen Führungsanspruch stärker betont und von einer Hohenzollernweltherrschaft gesprochen, die begründet sei „durch gegenseitiges Vertrauen 179
V. Zusammenfassung
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Je nach Anlaß betonte Wilhelm II. entweder das Bemühen um Vertrauen zu den Nachbarstaaten oder die Friedenssicherung durch Aufrüstung.182 In jedem Fall aber kommunizierte der Kaiser sein außenpolitisches Grundkonzept einer Vereinigung Europas unter deutscher Führung in einer Mischung aus Frieden durch Vertrauen und Frieden durch Abschreckung.183 Der Erzengel Michael als christliche und friedliche, aber gleichzeitig kämpferische Figur brachte dieses außenpolitische Programm symbolisch auf den Punkt. Die außerordentliche Popularität der Figur Michaels in der wilhelminischen Gebrauchskunst – etwa bei Fidus, Franz Stassen, Ludwig Thoma, Sascha Schneider und Friedrich Kaulbach – ist zumindest ein Indiz dafür, daß dieser Vorstoß des Kaisers nicht ohne entsprechende Resonanz blieb. Spätestens der Erste Weltkrieg legte den relativen Erfolg der kaiserlichen Michaelspropaganda offen.184
V. Zusammenfassung Das Vorhandensein politischer Mythen Wilhelms II. ist an sich bereits ein Beleg für die Virulenz des politisch-theologischen Problems, Legitimitätsglauben zu erzeugen. Im praktischen Vollzug nutzte Wilhelm seine Amtsstellung, aber auch seine persönlichen Interessen, präsentierte sich als Künstlerkönig und Nordlandfahrer, als Kirchen- und Burgenbauer. Die von ihm angestrebte nationale Identität versuchte der Kaiser unter Zuhilfenahme von im wesentlichen drei politischen Mythen zu erreichen. Der erste war der Mythos um seinen kaiserlichen Großvater, den er seit 1896 „Wilhelm der nach gleichen Zielen strebenden Nationen, welche der deutschen Kultur und ihrem Einfluß erschlossen werden.“ (Stenogramm der Rede vom 22.3.1905 und Abschrift derselben in GStA, I. HA Rep. 89, Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode. Nr. 671, Mappe 3. Abgeruckt in: Obst, Die politischen Reden, Nr. 151, S. 263– 266.) Vgl. dazu auch Obst, Einer nur ist Herr, S. 276–282. 182 Letzteres etwa in der „Kriegsrede“ im Mai 1908 angesichts der zunehmenden diplomatischen Isolierung Deutschlands. Vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 292–296; vgl. Balfour, S. 305. 183 Vgl. dazu Canis, S. 158–164. Vgl. zu dem Konzept, das Wilhelm II. auch während des Krieges noch aufrecht erhielt, außerdem Ferguson, S. 395. Und auch Immanuel Geiss hat ganz in diesem Sinne festgestellt: „Theoretisch stimmte auch die politische Konsequenz aus der deutschen ‚Welt-Anschauung‘ zu Beginn der deutschen ‚Weltpolitik‘: Deutschland und der europäische Kontinent westlich von Rußland würden sich gegenüber den schon bestehenden und hinter ihnen aufsteigenden Weltmächten nur durch einen Zusammenschluß behaupten können. Die Führung eines geeinten Europas aber würde automatisch der stärksten Macht auf dem Kontinent zufallen – Deutschland. [. . .] Deutschland hätte Europa vorher vom gesamteuropäischen Nutzen einer deutschen Führung überzeugen müssen [. . .].“ (Geiss, Weltpolitik, S. 161–162.) 184 Vgl. dazu Galle, S. 129–169.
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F. Politische Theologie II: Politische Mythen
den Großen“ nannte. Die Verehrung Wilhelms I. als Gründer des Reiches sollte auch der Bekämpfung der Sozialdemokratie dienen, vor allem ging es aber um zwei Dinge: Erstens wollte Wilhelm II. damit einen Gegenmythos zur grassierenden Verehrung des „eigentlichen“ Reichsgründers Bismarcks schaffen, zweitens diente „Wilhelm der Große“ als Schlußstück eines Hohenzollernmythos, der das eigene Haus als neue Reichsdynastie legitimieren sollte. Während das erste Ziel nicht erreicht und letztlich auch stillschweigend von Wilhelm II. eingestellt wurde, so war die Propagierung des Großvaters als nationaler Identitätsfigur durchaus tragfähig. Erkennbar wurde das an der großen Verbreitung der Vorstellung, im „Barbablanca“ – Wilhelm I. – sei symbolisch Barbarossa aus dem Kyffhäuser zurückgekehrt, um die Herrlichkeit des Reiches wiederherzustellen. Erfolgreich war das vor allem deshalb, weil der Kaiser hier ein Motiv aufnahm und auf seinen Großvater bezog, das bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts in der deutschen Nationalbewegung Verbreitung gefunden hatte. Das Barbarossa-Barbablanca-Motiv weist bereits auf den zweiten politischen Mythos Wilhelms II. hin, nämlich die geschichtspolitische Bezugnahme auf die Reichstradition. Reichsromantische Neigungen hatte der Kaiser bereits von seinem Vater übernommen, ohne daß er die historischen Brüche zwischen altem und neuem Reich je geleugnet hätte. Nichtsdestotrotz propagierte er in seinen Reden eine Anknüpfung des Kaiserreichs an die besten Traditionen des römischen Universalismus, des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und des germanischen Königtums. Die von ihm geförderten Restaurationen antiker und mittelalterlicher Burganlagen sowie die Kirchen- und Schloßneubauten dienten genau dieser Mischung aus römischen und mittelalterlich-christlich-deutschen Traditionselementen. Daß es dabei weniger um konkrete historische Anknüpfung, sondern um moderne Adaption oder sogar Erfindung von Tradition ging, zeigt sich an Wilhelms Gewohnheit, Schriftstücke mit „Imperator Rex“ zu unterzeichnen. Das war keine Bezugnahme auf die römischen Kaiser, sondern eine Kopie des englischen Königshauses, das dieselbe Praxis seit Königin Victoria pflegte und überhaupt für die öffentliche Repräsentation Wilhelms II. vorbildhaft wirkte. Als dritter politischer Mythos des Kaisers kommt die Überschreitung sogar der Reichstradition hinzu, die er durch die Anknüpfung an das „Germanentum“ vollzog. Die kaiserlichen „Nordlandfahrten“ lösten eine deutschlandweite Skandinavienbegeisterung aus, und Wilhelm II. nutzte die Fahrten, um die politisch nutzbaren Gemeinsamkeiten der germanischen Völker und ihrer Traditionen zu betonen. Konkret bezog sich der Kaiser damit auf die nordische Mythologie, die er zuerst durch Richard Wagners Musik kennengelernt hatte, und auf den „germanischen Geist“, von dem Houston Stewart Chamberlain gesprochen hatte. Für die Gegenwart, so der Kaiser, sei
V. Zusammenfassung
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eine Bewahrung „altgermanischer“ Treue zu König und Vaterland ebenso notwendig wie die Fortführung „germanischer Innerlichkeit“, um ein Weltreich des deutschen Geistes zu errichten. Neben diesen drei eher geschichtspolitischen Mythen gelang es Wilhelm II., eine Figur zu finden, die nicht nur als deutscher Nationalheiliger (wieder-)eingesetzt werden sollte, sondern die darüber hinaus das ganze politische Selbst- und Weltverständnis des Kaisers zu illustrieren imstande war: Erzengel Michael. Auch hier wurde Wilhelm II. von England inspiriert, das Sankt Georg zum Nationalpatron erwählt hatte, aber ebenfalls von entsprechenden Versuchen Friedrich Wilhelms IV. und überhaupt von der deutschen Tradition der Michaelsverehrung, besonders im karolingischen und ottonischen Reich. Die vom Kaiser selbst entworfenen Michaelsstatuen zeigten dabei den Erzengel nicht als Drachentöter, sondern als friedlichen Wächter und „Seelengeleiter“. Wichtiger noch waren drei vom Kaiser entworfene Bilder, die offiziell zu einem politischen Gesamtbild vereinigt wurden. Sankt Michael symbolisierte im ersten Bild den Nationalmythos von den Germanen über das alte Reich bis zur Neugründung unter Wilhelm I. Im zweiten Bild bewahrte der Erzengel als alter ego des Kaisers den innenpolitischen Frieden und die nationale Einheit gegen die Parteien des Umsturzes. Im dritten Bild, das unter dem Titel „Völker Europas, wahret eure heiligsten Güter!“ veröffentlicht wurde, war Sankt Michael als Verkörperung Deutschlands Einiger und Führer Europas gegen äußere Bedrohungen. Tatsächlich verfocht Wilhelm II. immer wieder ein entsprechendes außenpolitisches Konzept einer europäischen Friedensordnung unter deutscher Führung. Der christliche Charakter sowohl der nationalen Einheit nach innen wie auch der Einigung Europas nach außen wurde durch die Verwendung Erzengel Michaels besonders betont.
G. Krieg I. Ernstfall I: Kriegsausbruch Der Philosoph Max Scheler veröffentlichte 1917, während des Ersten Weltkriegs, einen von ihm gehaltenen Vortrag über Die Ursachen des Deutschenhasses. Neben einer Reihe von böswilligen antideutschen Vorurteilen und einigen durch Aufklärung aus der Welt zu schaffenden Mißverständnissen nannte Scheler dabei auch zwei Ursachen, die durch nichts aus der Welt zu schaffen seien. Die eine sei die deutsche Freiheitsidee, die nicht auf politische Teilhabe, sondern auf Bildung und Individualität ausgerichtet sei und daher von den Westmächten nicht verstanden werde. Die andere Ursache beantworte eine entscheidende Frage für den Ausbruch des Krieges: „Wie konnte es zu diesem geradezu rätselhaften Kontraste kommen, daß unser Gesicht nach dem Auslande hin gleichsam gewaltig gespannt, aufs äußerste bedrohlich war, während wir als Volk wie unsere Reichsleitung faktisch der Gesinnung und dem Willen nach tieffriedlich waren, so friedlich, daß keinem Volke der ganzen Erde, auch keinem neutralen Volk dieser Krieg so über alle Maßen überraschend kam wie dem unsrigen? Und wie kam es weiter, daß wir selber von unserem eigenen Gesicht, von seiner Furchtbarkeit, Bedrohlichkeit und Wildheit nicht die leiseste Ahnung hatten?“1 Als Grund für diesen Kontrast nannte Scheler den deutschen „Gesinnungsmilitarismus“, der in einem Gegensatz zum alliierten „Zweckmilitarismus“ stehe.2 Dabei sei nicht der Gesinnungs-, sondern der Zweckmilitarismus die eigentliche Gefahr für die Aufrechterhaltung des Friedens, weil dieser auf Eroberungsdrang basiere. Im Gesinnungsmilitarismus dagegen geschehe die Orientierung am militärischen Vorbild ohne jede zusätzliche Zwecksetzung: „Der Gesinnungsmilitarismus gerade ist es also, der sich mit größter Friedfertigkeit zusammenfinden kann. Dieser psychologische Zusammenhang erklärt erst vollständig, daß Deutschlands Politik in den letzten vierzig Jahren gleichzeitig stärkste Rüstungspolitik und die friedfertigste Politik aller Großstaaten gewesen ist, daß uns auch bei diesem Kriege jeder partikulare ‚Zweck‘, dessen Erreichung der Krieg dienen sollte, in dem Maße fehlt, daß heute noch die tiefgehendsten Differenzen über ‚Kriegs1 2
Scheler, Ursachen, S. 128–129. Scheler, Ursachen, S. 131.
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ziele‘ bestehen. Der Gesinnungsmilitarismus ist eben von Hause aus das gerade Gegenteil eines Militarismus des Eroberungsdranges.“3 Die Charakterisierung der deutschen Außenpolitik bis 1914 als besonders friedfertig hat insofern einen Teil der Wahrheit für sich, als Wilhelm II. nicht nur vielfach als „Friedenskaiser“ wahrgenommen wurde4, sondern auch keine Gelegenheit versäumte, für sein Konzept der „Etats Unis de l’Europe“5 zu werben. Er tat das vor allem gegenüber England, für dessen Politik der maritimen Hegemonie durch eine Balance of Power auf dem europäischen Festland schon die Reichsgründung als Zumutung, ja als „deutsche Revolution“6 erschienen war. Bismarck hatte unter Berücksichtigung dieses Sachverhaltes eine Außenpolitik entwickelt, die letztlich auf eine Restauration des Balance-Systems des Wiener Kongresses abzielte. Wenn England aber schon diesem Versuch gegenüber mißtrauisch war, dann mußte die neue Normalität und die Selbstverständlichkeit, mit der Deutschland unter Wilhelm II. seine nationalen Interessen vertrat, erst recht auf die Feindschaft Englands stoßen. Fatal war deshalb vor allem die Ehrlichkeit, die der Kaiser auch in außenpolitischen Fragen an den Tag legte. So erklärte er 1901 König Edward VII., es gebe „eine alte Schule von Politikern, [. . .] die die Aufgabe der Politik darin sähen, die einzelnen Staaten des Kontinents hin und her zu gruppieren, gegeneinander auszuspielen und zu verhetzen. Mit diesem Rezepte sei jetzt aber nichts mehr anzufangen. Die Politik spiele sich jetzt draußen in der Welt ab, die Gegensätze in Europa seien im Verblassen. Im Laufe der letzten Zeit [. . .] hätten sich die kontinentalen Staaten enger aneinander geschlossen. [. . .] Hier in der Mitte Europas stehe ich mit meiner starken Armee, und ich werde zusammen mit meinen Verbündeten, deren ich sicher bin, dafür Sorge tragen, daß alles ruhig bleibt.“7 3
Scheler, Ursachen, S. 143–144. Gegen die Charakterisierung spricht andererseits die Wahrnehmung der Flottenpolitik als Bedrohung für England, die als Unsicherheitsfaktor empfundenen verbalen Ausbrüche des Kaisers sowie der ganze Komplex der wilhelminischen Außenpolitik seit der Jahrhundertwende, die unter den Stichworten „Einkreisung“ und „Auskreisung“ kontrovers diskutiert wurde. Es spricht allerdings einiges dafür, daß die Wahrnehmung des Kaisers als „Friedenskaiser“ durchaus verbreitet war, zumal gerade im Zuge etwa der Marokkokrisen die Haltung des Kaisers als zögerlich, ängstlich und – negativ verstanden – friedlich empfunden wurde. Zum gegenwärtigen Forschungsstand im Hinblick auf die wilhelminische Außenpolitik vgl. Hildebrand, Deutsche Außenpolitik. 5 Kaiser Wilhelm II., Schlußbemerkung vom 9. September 1904 zum Bericht des Gesandten in Tokio Graf von Arco vom 11. August 1904: Die Große Politik XIX/I, Nr. 6047, S. 211). 6 Benjamin Disraeli: „Das Deutsche Reich und das europäische Gleichgewicht“: Ritter, Kaiserreich, Nr. 69, S. 181. 7 Aufzeichnung Kaiser Wilhelms II, z. Z. in Wilhelmshöhe, 23.8.1901: Die Große Politik XVII, Nr. 5023, S. 96–97. 4
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G. Krieg
Daß diese Vorstellungen Englands bisheriger Außenpolitik völlig widersprachen, war Wilhelm II. durchaus bewußt. Er selbst nannte die britische Außenpolitik den Versuch, „Europa vor der Vereinigung zu wahren um es in permanenter Impotenz zu erhalten“8 und bezeichnete intern die britische Angst vor einer deutschen Vorherrschaft in Zentraleuropa als lächerlich: „Wir sind eben Zentraleuropa. Und daß andere kleinere Staaten sich an uns anlehnen, oder in unseren Wirkungskreis kommen, durch das Gesetz der Schwerkraft, ist ganz natürlich. Das wollen die Engländer nicht, weil es ihre Theorie von der ‚Balance of Power‘ – d.h. die Europäischen Großstaaten gegeneinander ad libitum auszuspielen – absolut zu nicht macht und einen einigen Continent schaffen würde, was sie mit allen Mitteln hintertreiben wollen, daher die Lüge von unseren Gelüsten auf Hegemonie! Wie sie sie schon in der Welt beanspruchen und betreiben! Wir Hohenzollern haben noch niemals nach so ehrgeizigen und nebelhaften Zielen je gestrebt. Und wills Gott werden es niemals!“9
Wilhelm II. versuchte, vor allem durch persönliche Korrespondenz mit der englischen Königsfamilie, die britischen Vorbehalte gegen Deutschland auszuräumen und für sein Europakonzept zu werben.10 Als ihm Ende 1912 deutlich wurde, daß ihm das nicht gelungen war, erkannte er die damit verbundene existentielle Bedrohung für Deutschland: „Jede Macht, die zu haben ist, ist gut genug uns zu helfen. Es geht um sein oder nicht sein Deutschlands.“11 Trotzdem gehörte der Kaiser auch danach nicht zu denen, die die kriegerische Auseinandersetzung um die Hegemonie in Europa für unvermeidlich hielten. Ganz im Gegenteil äußerte Wilhelm II. noch wäh8 Der Botschafter in London Graf von Metternich an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg, 25.10.1909, mit Randbemerkungen Wilhelms II.: Die Große Politik XXVI/2, Nr. 9570, S. 859. 9 Kaiser Wilhelm II., Schlußbemerkung zum Artikel „The Foundations of British Policy, VI. Towards an Anglo-German Detente“ in der Westminster Gazette vom 20. Dezember 1911, weitergeleitet von Müller an Bethmann Hollweg, 8. Januar 1912 (Niedersächsisches Staatsarchiv Bückeburg, Nachlaß Throta, Depos. 18 A 226), in: Röhl, Abgrund, S. 896–897. 10 Auch hierfür sah er die Religion als hilfreich an. So schrieb Wilhelm II. am 31. Januar 1910 an König Edward: „Es ist ein fester Bestandteil meines politischen Glaubensbekenntnisses, daß die Zukunft der Welt gesichert & beschützt wäre, wenn die angelsächsische und die teutonische Rasse zusammenarbeiteten. Sie sind die mächtigen Hüter der Ideale des christlichen Glaubens & der christlichen Zivilisation, & es ist ihre gemeinsame Aufgabe, diese zu verkünden & sie auf der Welt zu verbreiten. Diese Aufgabe ist ihnen von der Vorsehung zugewiesen!“ (Kaiser Wilhelm II. an König Edward VII., 31. Januar 1910, Royal Archives Windsor VIC/X 37/65, übersetzt in: Röhl, Abgrund, S. 824. 11 Aufzeichnung Kaiser Wilhelms II. für den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Kirdelen: Die Große Politik XXXIX, Nr. 15613, S. 124. Auch an Albert Ballin schrieb der Kaiser, es handele sich nun um „eine Existenzfrage für die Germanen auf dem europäischen Kontinent!“ (Kaiser Wilhelm II. an Ballin, 15.12.1912: Huldermann, Ballin, S. 273 f.)
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rend des Krieges die Überzeugung, daß Frieden zu schaffen eine moralische Pflicht für einen Gott verantwortlichen Kaiser sei, der ein Herz nicht nur für das eigene Volk, sondern auch das des potentiellen Feindes habe.12 Die Teilnahme des Kaisers an vielfältigen Überlegungen und Planungen für einen zukünftigen Krieg widersprechen dieser Auffassung nicht, weil es dabei einfach um die staatspolitisch notwendige Vorbereitung auf potentielle Bedrohungen ging.13 Außerdem konnte Wilhelm II. zu recht 1910 gegenüber dem US-Botschafter Hill darauf hinweisen, daß trotz der angeblichen Bedrohung, die von Deutschland ausgehe, immerhin seit 40 Jahren Frieden in Europa herrsche.14 Diese Einschätzung teilten nicht nur die britische, französische und deutsche Presse, die Wilhelm II. meist pejorativ als „Peacemaker“, als den „Furchtsamen“ oder den „Friedlichen“ bezeichnete, sondern auch Emanuel Nobel, der den Kaiser Ende 1912 für den Friedensnobelpreis vorschlagen wollte.15 Im Verlauf der Julikrise 1914 war Wilhelm II. dann auch innerhalb der deutschen Führung der einzige, der sich deutlich gegen einen Krieg aussprach. Eine Mischung aus mangelnder Machtvollkommenheit, fehlendem Durchsetzungsvermögen und der Zwangsläufigkeit der Entwicklung – vor allem aufgrund von systematisch betriebener Konflikteskalation durch die militärischen Führungen aller beteiligten Staaten und fatalen Signalen der 12 Wilhelm II. an Bethmann Hollweg, 31.10.1916, abgedruckt in: Bethmann Hollweg, Betrachtungen II, S. 152–153. Im Wortlaut heißt es in dem Brief: „Es ist klar, die in Kriegspsychose befangenen, von Lug und Trug im Bann des Kampfes und im Haß gehaltenen Völker unserer Feinde haben keine Männer, die imstande wären, die den moralischen Mut besäßen, das befreiende Wort zu sprechen. Den Vorschlag zum Frieden zu machen, ist eine sittliche Tat, um die Welt – auch die Neutralen – von dem auf allen lastenden Druck zu befreien. Zu einer solchen Tat gehört ein Herrscher, der ein Gewissen hat und sich Gott verantwortlich fühlt und ein Herz hat für seine und die feindlichen Menschen, der, unbekümmert um die eventuellen absichtlichen Mißdeutungen seines Schrittes den Willen hat, die Welt von ihren Leiden zu befreien. Ich habe den Mut dazu, ich will es auf Gott wagen.“ 13 John Röhl versucht seine These von der Kriegslüsternheit Wilhelms II. regelmäßig mit solchen Zitaten des Kaisers zu belegen, die alle besagen, daß er den Frieden wünsche, im Notfall aber Krieg zu führen bereit sei, ohne dabei zu erörtern, worin eine staatspolitisch verantwortungsvolle Alternative hätte bestehen sollen. (Vgl. etwa Röhl, Abgrund, S. 931). 14 Vgl. Röhl, Abgrund, S. 825–826. 15 Vgl. Röhl, Abgrund, S. 858–859 und S. 929. Röhl weist darauf hin, daß der Reichskanzler und die kaiserliche Umgebung den Vorschlag abgelehnt habe, aus Angst, daß sich der Gegensatz zwischen Wilhelm II. und die nationalistischen Rechten verschärfen und auf der anderen Seite die Linke und das Ausland den Vorschlag lächerlich machen würde. Letzteres ist aufgrund der erwähnten ausländischen Presseurteile über den Kaiser wenig plausibel. Zu Würdigung des kaiserlichen Friedenswillens in England vor 1914 vgl. Beseler, S. 71–89.
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G. Krieg
Unentschlossenheit aus England – führte aber dazu, daß Wilhelms II. Bemühungen um den Frieden erfolglos blieben.16 Das von Scheler diagnostizierte Doppelgesicht Deutschlands trifft daher auf den Kaiser besonders zu. Das ist vor allem seiner politisch ungeschickten Ehrlichkeit auch auf diplomatischem Parkett geschuldet, mit der er seine Friedensabsichten betonte, zugleich aber „den Panzer ein wenig klirren“17 ließ. Dieser Zwiespalt führte dazu, daß Wilhelm II. sich einerseits als Zielscheibe alliierter Kriegspropaganda eignete, andererseits aber den Deutschen selbst als der Kaiser galt, der den Frieden gewollt habe und dem der Krieg nur aufgezwungen worden sei.18 Der reformorientierte Kaiserkritiker Paul Busching äußerte deshalb in den Süddeutschen Monatsheften bereits 1908 die Meinung: „Wenn die Not des Reiches es gebietet, dann wird kein einziger fehlen an seiner Stelle, die ihm zugewiesen worden ist. Jeder wird dem Kaiser die Treue halten, weil er unser Kaiser ist. Wir werden ihn bewundern, wenn er das Glück an sich fesselt, und seiner Erfolge ehrlich froh sein, wie wir ein Unglück des Reiches getrost mit ihm tragen würden.“19 Daß die Prophezeiung Buschings sich 1914 erfüllte, hatte auch damit zu tun, daß Wilhelms Friedensabsichtsbekundungen in Deutschland ernstgenommen wurden. Das wird charakteristisch deutlich in dem 1914 ergangenen Aufruf „An die Kulturwelt“, der von 93 führenden deutschen Intellektuellen unterzeichnet wurde. In bezug auf den Kaiser hieß es in dem Aufruf: „Es ist nicht wahr, daß Deutschland diesen Krieg verschuldet hat. Weder das Volk hat ihn gewollt noch die Regierung noch der Kaiser. Von 16 Vgl. Clark, Wilhelm II., S. 286–287. Die fatale Rolle, die England für den Kriegsausbruch und vor allem für die Ausweitung des Krieges zum Weltkrieg spielte, hat Niall Ferguson gezeigt: vgl. Ferguson, S. 92–120 und vor allem S. 200–204. 17 Wolff, Abdankung, S. 258. 18 Vgl. zur Wahrnehmung dieses Zwiespalts unter den Zeitgenossen die von Martin Kohlrausch zusammengetragenen Stellungnahmen der Frankfurter Zeitung, Bismarcks, Paul Buschings, Theodor Wolffs und Winston Churchills: Kohlrausch, Samt und Stahl, S. 39, S. 74–74, S. 81, S. 196–197, S. 257–258 und S. 337. Die alliierte Kriegspropaganda berief sich unter anderem auf die sogenannte „Hunnenrede“, die Wilhelm II. im Juli 1900 in Bremerhaven vor den Soldaten gehalten hatte, die zur militärischen Ostasienmission aufbrachen. Dabei hatte sich die Rede gegen China gerichtet, nicht gegen die im Ersten Weltkrieg gegen Deutschland verbündeten Mächte: vgl. Sösemann, Hunnenrede, S. 342–350. Zur Aufnahme der Rede in der alliierten Kriegspropaganda vgl. Sösemann, Hunnenrede, S. 357–358 und UngernSternberg/Ungern-Sternberg, S. 52–53. Vgl. zur explizit gegen Wilhelm II. gerichteten alliierten Kriegspropaganda Reinermann, S. 441–470; Rebentisch, S. 207–236 sowie die 71 französischen und englischen Kaiserkarikaturen, darunter eine Parodie auf die Zeichnung „Völker Europas, wahret eure heiligsten Güter“, diesmal mit einem drohend über den Wolken schwebenden Wilhelm II. anstelle eines Buddhas: GStA BPH Rep. 53 Nr. 294. 19 Busching, Der Kaiser, S. 202.
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deutscher Seite ist das Äußerste geschehen, ihn abzuwenden. Dafür liegen der Welt die urkundlichen Beweise vor. Oft genug hat Wilhelm II. in den 26 Jahren seiner Regierung sich als Schirmherr des Weltfriedens erwiesen; oft genug haben selbst unsere Gegner dies anerkannt. Ja, dieser nämliche Kaiser, den sie jetzt einen Attila zu nennen wagen, ist jahrzehntelang wegen seiner unerschütterlichen Friedensliebe von ihnen verspottet worden.“20 Deutlich wurde hier, daß es nicht unbedingt das Amt das Kaisers war, dem die Treue gehalten wurde, sondern die Person des Amtsträgers, der sich immer ehrlich um Frieden bemüht habe. Wilhelm II. versuchte dieses Potential mobilisierend zu nutzen. Wie wichtig es dabei war, daß der Krieg als aufgezwungener bzw. gerechter Krieg galt, war Wilhelm II. deutlich bewußt. 1905 hatte er angesichts der revolutionären Zustände in Rußland nach der Ermordung des Generalgouverneurs von Moskau einen Brief an den russischen Kaiser geschrieben, in dem er die Unpopularität des russisch-japanischen Krieges als Grund für die Unruhen ins Feld führte: „Nun ist die Verantwortung für einen Krieg etwas sehr ernstes für einen Herrscher; das weiß ich aus Erfahrung durch das, was mein seliger Großvater mir erzählt hat. Er persönlich ein Mann von mildester, friedfertigster Sinnesart, der auch schon im hohen Alter stand, wurde dazu berufen, drei Kriege während seiner Regierung zu führen. Und für jeden von ihnen übernahm er die volle Verantwortung. Doch er hatte ein reines Gewissen, und sein Volk unterstützte ihn loyal und begeistert; die ganze Nation erhob sich wie ein Mann, entschlossen, den Krieg zu gewinnen oder zu sterben, zum Sieg oder Untergang, doch bis zu Ende zu kämpfen; er und seine Untertanen fühlten, daß die Vorsehung auf ihrer Seite war, und das ist so gut, als wäre der Sieg schon gewonnen. Solche Kriege vermag der Herrscher leicht zu tragen, weil sein ganzes Volk die Last mit ihm teilt.“21
Besonders wichtig, so Wilhelm II., sei in diesem Zusammenhang, daß der Herrscher sich in einer öffentlichen Kundgebung an sein Volk richte, um die Ursachen des Krieges zu erklären und patriotische Begeisterung zu entfachen.22 Tatsächlich hielt sich der Kaiser im Sommer 1914 genau an das, was er neun Jahre zuvor seinem russischen Cousin empfohlen hatte. Am 31. Juli, drei Tage nach der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien und einen Tag vor der Kriegserklärung Deutschlands an Rußland, hielt Wilhelm II. eine Rede vom Balkon des Berliner Stadtschlosses aus, in der er die Menge auf den bevorstehenden Krieg „zu gerechter Verteidigung“ vorbereitete.23 Am 4.8. sprach der Kaiser bei der Reichstagseröffnung davon, daß der Krieg dem Reich aufgezwungen und es jetzt nötig sei, 20
„Aufruf ‚An die Kulturwelt‘ “, in: Ungern-Sternberg/Ungern-Sternberg, S. 144. Kaiser Wilhelm II. an Nikolaus II., 21.2.1905: Goetz, Briefe, S. 175. 22 Vgl. Goetz, Briefe, S. 170–173. 23 Ansprache des Kaisers, 31.7.1914: Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender NF 30 (1914), S. 370. Vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 347–348. 21
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G. Krieg
Einigkeit zu demonstrieren; er schloß mit demselben Satz, mit dem er schon in der Balkonrede geendet hatte: „Ich kenne keine Parteien mehr, Ich kenne nur Deutsche.“24 Schließlich erklärte Wilhelm II. am 6.8. in einem Aufruf An das deutsche Volk: „Seit der Reichsgründung ist es durch 43 Jahre Mein und Meiner Vorfahren heißes Bemühen gewesen, der Welt den Frieden zu erhalten und im Frieden unsere kraftvolle Entwicklung zu fördern. Aber die Gegner neiden uns den Erfolg unserer Arbeit. Alle offenkundige und heimliche Feindschaft von Ost und West, von jenseits der See haben wir bisher ertragen im Bewußtsein unserer Verantwortung und Kraft. Nun aber will man uns demütigen. Man verlangt, daß wir mit verschränkten Armen zusehen, wie unsere Feinde sich zu tückischem Überfall rüsten, man will nicht dulden, daß wir in entschlossener Treue zu unserem Bundesgenossen stehen, der um sein Ansehen als Großmacht kämpft, und mit dessen Erniedrigung auch unsere Macht und Ehre verloren ist. So muß denn das Schwert entscheiden. Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Nun auf zu den Waffen! Jedes Schwanken, jedes Zögern wäre Verrat am Vaterland! Um Sein oder Nichtsein unseres Reiches handelt es sich, das unsere Väter sich neu gründeten; um Sein oder Nichtsein deutscher Macht und deutschen Wesens. Wir werden uns wehren bis zum letzten Hauch von Mann und Roß. Und wir werden diesen Kampf bestehen auch gegen eine Welt von Feinden. Noch nie ward Deutschland überwunden, wenn es einig war. Vorwärts mit Gott, der mit uns sein wird, wie er mit den Vätern war!“25
Der Hinweis auf die existentielle Bedrohung des Vaterlandes war hier neben dem auf die deutschen Friedensbemühungen der entscheidende Mobilisierungsfaktor. Beides hat daher vermutlich ebenso eine entscheidende Rolle für das „Augusterlebnis“26 gespielt; den Burgfrieden zwischen den politischen Lagern und die patriotische Begeisterung, mit der der „Verteidi24 Ansprache Wilhelms II. zur Eröffnung des Reichstags am 4.8.1914: GStA, I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode, Nr. 213, Bl. 218. 25 Aufruf „An das deutsche Volk“, 6.8.1914: Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender NF 30 (1914), S. 388. Vgl. auch Harnack, Aufruf, S. 616–617. 26 Vgl. dazu Mommsen, War der Kaiser, S. 222–224. Es existiert mittlerweile eine ganze Literatur, die die historische Realität des „Augusterlebnisses“ mit dem Hinweis auf die geringe Kriegsbegeisterung in der Arbeiterschaft und auf dem Land relativiert oder ganz bestreitet. Vgl. die Auflistung in Besslich, S. 99, Anm. 197 und vgl. stellvertretend für diese Literatur die ausführliche Darstellung in Verhey, S. 129–193. Verhey bestreitet zudem, daß das nationale „Einheitsgefühl“ über das städtische Bürgertum hinaus überhaupt vorhanden gewesen sei. Er begründet das eben mit der mangelnden Kriegsbegeisterung auf dem Land, verkennt dabei aber, daß es sich um zwei verschiedene Dinge handelt. Gerade der Unwille, den Krieg zu führen, und der Glaube, der Krieg sei Deutschland von außen aufgezwungen worden, führte ja zur Bildung bzw. Festigung des nationalen Einheitsgefühls. (vgl. Verhey, S. 191–193.)
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gungskrieg“ aufgenommen wurde. Zwar herrschte auch in den anderen am Krieg beteiligten Staaten die Auffassung, daß die Nation notfalls den Einsatz des eigenen Lebens verdiene. In gewisser Weise kann man sogar davon sprechen, daß im Ersten Weltkrieg erstmals „Völker als Ganzes in den Kampf traten.“27 Aber die Tatsache, daß Deutschland im Hinblick auf den Prozeß der Nationalisierung europäischer Normalität entsprach, war laut Äußerungen wie dem Intellektuellenaufruf eben zu keinem geringen Teil das Verdienst der Person Wilhelms II. In dieser Hinsicht war er nicht etwa „über Nacht populär geworden“28, sondern erntete die Früchte „seiner kaiserlichen Politik, die nationale Einheit zur Realität zu machen“29. Der Krieg als Ernstfall offenbarte jedenfalls, daß die Bemühungen des Kaisers um die Sicherstellung nationaler Identität und die Förderung nationaler Integration grundsätzlich erfolgreich waren. Weder die Katholiken noch die Arbeiter verweigerten sich der nationalen Mobilisierung, und kaum jemand zweifelte mehr an der „Geltung des Kaisertums als politisches Symbol der Einheit der Nation“.30 Natürlich ist der tatsächliche Einfluß von Wilhelms politischer Theologie auf die Bewährung des deutschen Nationalgefühls im August 1914 nicht im empirischen Sinn sicher zu ermitteln. Aber es ist unbestreitbar, daß die nun erreichte innere nationale Einheit dem herrscherlichen Selbstverständnis des Kaisers als „Herr der Mitte“ und Integrator der gesellschaftlichen Ränder genau entsprach. Sein außenpolitisches Konzept einer Vereinigung Europas unter deutscher Führung mochte zudem nicht aufgegangen sein, aber das Bewußtsein der kaiserlichen Friedensbemühungen verstärkte die nationale Einheit der Deutschen noch zusätzlich. Und schließlich ist auch ein positiver Einfluß der politischen Mythen Wilhelms II. wahrscheinlich; Paul Busching jedenfalls hatte als Grund für die im Kriegsfall zu erwartende Treue der Deutschen zu ihrem Kaiser zu Wilhelms Friedensliebe noch hinzugefügt: „er [Wilhelm II.] hat dem Reichsgedanken neue Ideale und neuen Inhalt gegeben. Im Reichsgedanken und in der Kaiseridee begegnen wir uns wieder mit unserem Kaiser. [. . .] Wie stark der deutsche Gedanke, wie ungeheuer groß und schön das ist, was in des Kaisers Hand liegt, das mag er empfunden haben, wenn ihm der Jubel der Hunderttausende entgegenbraust, die in seiner sterblichen Person eine unsterbliche Idee grüßen.“31 27
Weißmann, Der nationale Sozialismus, S. 140. Kracke, S. 277. 29 Straub, S. 223. 30 Obst, Einer nur ist Herr, S. 355. Zur Haltung der deutschen Katholiken vgl. Loth, S. 278–289. Zur Haltung der deutschen Arbeiterschaft vgl. Venohr, Dokumente, S. 250–251. 31 Busching, Der Kaiser, S. 199. 28
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G. Krieg
II. Kriegstheologie Den Aufruf des Kaisers An das deutsche Volk vom 6.8.1914 hatte Adolf von Harnack vorentworfen.32 Der Kontakt zwischen Wilhelm II. und Harnack war nach dem Babel-Bibel-Streit noch intensiver geworden, hatte sich allerdings weitgehend auf wissenschaftspolitische Zusammenarbeit beschränkt.33 Wilhelm hatte sich seit 1903 ohnehin nur noch wenig mit Theologie befaßt. Erst zum Jahreswechsel 1913/1914 kam es wieder zu einem Austausch über theologische Fragen. Harnack hatte einen Vortrag des Bischofs von Ripon, Boyd Carpenter, für die Preußischen Jahrbücher ins Deutsche übersetzt und dem Kaiser auf dessen Bitte zwanzig Exemplare zugeschickt.34 Carpenter hatte eine „Apologie der Erfahrung“ geschrieben, in der er für die objektive Realität religiöser Erfahrung plädierte. Wie jede Erfahrung, so gebe auch die religiöse Aufschluß über die geistige Natur des Menschen. Im Falle der religiösen Erfahrung komme hinzu, daß diese sich nach einem wissenschaftlich beschreibbaren Gesetz vollziehe: Auf Unruhe bzw. Überführung des Ichs folge die Krisis und dann der Gewinn neuen Lebens. Dieses Gesetz der Selbsthingabe des eigenen Ichs im Dasein für Andere und des damit verbundenen Gewinns eines neuen Ichs sei im Christentum auf die Wirkung der Person Christi zurückzuführen. Es handele sich dabei um keine bloß historische, sondern um eine lebendige und gegenwärtige Wirkung Christi.35 In einem Nachwort schloß sich Harnack den Ausführungen Carpenters im wesentlichen an, wies aber darauf hin, daß der Autor die Gesetzmäßigkeit religiöser Erfahrungen und die Person Christi als verursachende Realität dieser Erfahrungen nicht abschließend begründet habe. Dennoch sei Carpenter zuzustimmen, daß große Ideen wie große Erfahrungen immer in einer Person wurzelten: „Man darf nur nicht auf die dogmatischen Formeln schauen – diese sind ja immer nur Hilfslinien und Erklärungsmittel – und muß mindestens zunächst auch noch die Frage fernhalten, ob es sich um Wirkungen der in dem geschriebenen und gepredigten Wort offenbarten Persönlichkeiten handelt oder um ein direktes Wirken des lebendigen Chri32
Vgl. Harnack, Aufruf, S. 613–614. Harnack wurde im März 1914 von Wilhelm II. in den preußischen Adelsstand erhoben. 33 Vgl. zur wissenschaftspolitischen Zusammenarbeit Harnacks und Wilhelms II. in dieser Zeit Nottmeier, vor allem S. 262–279. Zum Babel-Bibel-Streit siehe Kapitel E. IV. 34 Vgl. das Dankschreiben Wilhelms II. an Harnack für die Zusendung der 20 Exemplare vom 16.1.1914 in: Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Berlin, Nachlaß Adolf von Harnack, Bl. 42. 35 Vgl. zu diesem Absatz Carpenter, S. 3–24.
II. Kriegstheologie
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stus. Absichtlich hat der Verfasser [Carpenter] diese Frage ferngehalten, und das ist ihm hoch anzurechnen. Läßt man sie beiseite, so wird jedes tiefere Eindringen in die Fülle der Tatsachen, um die es sich hier handelt, dem Verfasser recht geben, daß es Christus ist, der durch die Jahrhunderte geht. [. . .] Innerhalb des großen Prozesses der Herausforderung der Menschheit aus der Selbstsucht zur Liebe und zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes, ist Jesus Christus nicht nur das Paradigma, sondern auch die lebendige Kraft und deshalb der Vollender.“36 Wilhelm II. schickte Lektüreempfehlungen an seinen Oberhofprediger Ernst von Dryander und an Houston Stewart Chamberlain.37 Warum gerade dieser Text dem Kaiser gefiel, ist aus der Quellenlage nicht zu ermitteln. Carpenter hatte seit 1911 immer wieder eigene Texte an Wilhelm II. geschickt, und soweit erkennbar, ist nur die „Apologie der Erfahrung“ vom Kaiser verbreitet worden.38 Wahrscheinlich liegt der Grund darin, daß der Text die schon im Babel-Bibel-Streit zwischen Harnack, Wilhelm und Chamberlain diskutierte Christologie thematisierte. Zwar ging es nicht explizit um die Frage der Gottheit Christi, doch die zur Debatte gestellte Alternative zwischen einer rein historischen und einer gegenwärtig-lebendigen Wirkung Christi auf das religiöse Subjekt ging zumindest in eine ähnliche Richtung. Der religiös konservative Dryander lenkte in seinem Antwortbrief an den Kaiser den Fokus auch direkt auf diese Frage und wies darauf hin, daß Harnack letztlich doch nur eine Wirkung des in der Schrift offenbarten Christus anerkenne, während Carpenter und mit ihm Dryander selbst der Persönlichkeit Christi eine „noch jetzt von ihm ausgehende lebendige und tätige Kraft“ zuschrieben.39 Chamberlain dagegen ging auf den Inhalt von Carpenters Text gar nicht ein und lobte lediglich den „eigentümliche[n] Thrill, den Boyd Carpenter der Seele mitteilt“.40 Da Wilhelm II. sich selbst auch nicht zum Text äußerte und die Diskussion auch nicht fortsetzte, sollte dieses theologische Intermezzo ein halbes Jahr vor Ausbruch des Krieges nicht überbewertet werden. Es kann aber als Indikator dafür gelten, daß der Kaiser weiterhin grundsätzlich an theologischen Fragen, vor allem der Christologie, interes36
Carpenter, S. 26. Vgl. den Brief Dryanders an Wilhelm II. vom 25.12.1911 in GStA, BPH Rep. 53 J Lit D Nr. 1, Bl. 4–5; vgl. den Briefwechsel zwischen Wilhelm II. und Chamberlain in Chamberlain, Briefe II, S. 242–243. 38 Vgl. die Briefe Boyd Carpenters an Wilhelm II. in GStA, BPH Rep. 53 J Lit B Nr. 17. 39 Ernst von Dryander an Kaiser Wilhelm II., 14.1.1914: Satlow, Korrespondenzen, S. 275. Vgl. dazu auch Andresen, S. 245–246. 40 H. S. Chamberlain an Kaiser Wilhelm II. vom 21.1.1914, Chamberlain, Briefe II, S. 243. 37
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siert war und daß gemäßigter theologischer Konservatismus, Kulturprotestantismus und Deutschchristentum auch weiterhin von einem gemeinsamen Grundkonsens aus miteinander diskutierten. Dieser Konsens bestand zum einen in der gemeinsamen Sorge um die Zukunft der christlichen Kirche,41 zum anderen handelte es sich um einen nationalen Grundkonsens, der über das bloß Politische hinausging. In diesen Zusammenhang gehört die National- und „Kriegstheologie“42, die während des Krieges entstand und von einem Großteil der evangelischen Theologen aller Lager getragen wurde.43 Sie hatte mit einer allgemeinen religiösen Renaissance in Folge der existentiellen Bedrohung durch die Kriegslage zu tun, aber auch mit einer „Tribalisierung“44 christlicher Predigt in allen beteiligten europäischen Staaten. In Deutschland verband sich beides mit der spezifisch nationalreligiösen Tradition der Deutschen Bewegung und jener „vagierende(n) Religiosität“45, von der bereits die Rede war. Die hatte sich bislang hauptsächlich in den verschiedenen neuheidnischen oder deutschchristlichen Strömungen der Völkischen geäußert, allerdings ohne Breitenwirkung zu gewinnen.46 41 Das wird besonders deutlich in der Korrespondenz über den Hollmann-Brief; siehe dazu Kapitel E. IV. 42 So Hammer, S. 137–164 und S. 173–174, der in der Indienstnahme des Christentums für nationalpolitische Belange eine Verschiebung von biblischen und reformatorischen zu außerbiblischen und neuheidnischen Vorstellungen erblickt. Den Begriff der „Nationstheologie“ verwendet Graf, um das Konzept der Nation als gottgewollter Gemeinschaftsordnung unter Aufnahme jüdischer und christlicher Tradition von einer nationalistisch motivierten Abwendung vom Christentum zugunsten von vor- und außerchristlichen Überlieferungen abzugrenzen (vgl. Graf, Nation, S. 305– 308). 43 Dazu gehörten auch Harnack und Seeberg, beide Mitunterzeichner des „Aufrufs der 93“ gegen die Darstellung der deutschen Kriegsführung in der Presse der Westmächte. Zu Dryander vgl. Andresen, S. 317–342; siehe auch die Predigt Dryanders zum Geburtstag Wilhelms II. am 27.1.1917, in der Dryander die Friedensbemühungen des Kaisers erwähnte, aber zugleich darauf hinwies, daß vor Gott niemand ohne Schuld sei. Die Deutschen jedenfalls sollten daran glauben, daß sie noch eine Aufgabe in der Welt hätten. (Ernst von Dryander: Evangelische Reden in schwerer Zeit. Zehntes Heft. Berlin 1917, S. 32–39. In: RA Utrecht, Nr. 256 (Fiche 1514)). 44 Hepp, S. 30–33. Zu Deutschland vgl. Breuer, S. 135; zu Frankreich vgl. Krumreich, Gott mit uns, S. 280, der darauf hinweist, daß die französische Kriegspredigt wesentlich radikaler gewesen sei als die deutsche, die wiederum vor allem durchzogen gewesen sei „von autoritärer, ermutigender, besänftigender Suada. Mit moderner Mobilmachung der Geister hat das noch nicht wirklich zu tun.“ 45 Nipperdey, Religion im Umbruch, S. 151. 46 Zur Deutschen und zur völkischen Bewegung siehe Kapitel E. III. Zur Verbreitung der völkisch-religiösen Impulse vor dem Ersten Weltkrieg vgl. Puschner, Die völkische Bewegung, S. 261–262.
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Durch den Krieg änderte sich das insofern, als eine Mehrheit die militärische Auseinandersetzung ausdrücklich auch als „Kulturkrieg“47 begriff, in dem eine spezifisch „deutsche“ gegen eine spezifisch „westliche“ Weltanschauung miteinander im Kampf stünden. Der Sozialdemokrat Johann Plenge benutzte 1915 zur Bezeichnung der deutschen Weltanschauung als erster den Begriff der „Ideen von 1914“.48 Damit rekurrierte er zum einen auf die nationale Gemeinschaftserfahrung bei Kriegsausbruch, zum anderen wollte er 1914 als symbolisches Datum gegen 1789 zur Geltung bringen. Seiner Ansicht nach war der Krieg eine Revolution, die das Zeitalter der Französischen Revolution ablösen und ein deutsches Zeitalter einleiten würde. Das Reich in der Mitte Europas sei dazu berufen, den Kampf gegen westlichen Liberalismus wie östlichen Despotismus zu führen. Die „Ideen von 1914“ sollten aber keine bloße Antithese zu denen von 1789 sein, sondern als Synthese im Sinne Hegels eine Weiterbildung, ein „Ausgleich“ im Namen von Freiheit und Ordnung.49 Wie genau dieser Ausgleich aussehen sollte, war umstritten; einig war man sich aber darin, daß deutsche „Kultur“ gegen westliche „Zivilisation“ stehe.50 Auch Adolf von Harnack und Reinhold Seeberg vertraten die „Ideen von 1914“ offensiv. Beide beteiligten sich noch im ersten Kriegsjahr an einer Vortragsreihe, die dazu dienen sollte, die nationale Aufbruchsstimmung zu erhalten und den Krieg aus deutscher Sicht zu deuten.51 Harnacks Referat legte dabei den Schwerpunkt auf die nationale Einigung, die durch den 47 Die Formel stammt von Ernst Troeltsch: Troeltsch, Kulturkrieg, S. 4. Vgl. auch Gollwitzer, Weltgedanken, vor allem S. 83–87, der auf die gegenseitige Abhängigkeit von National- und Weltgedanken, von „Identitäts- und Expansionsideologie“ hinweist. 48 In „Der Krieg und die Volkswirtschaft“ schrieb Plenge: „Wenn wir einmal diesen Krieg in einem Erinnerungsfeste feiern werden, so wird es das Fest der Mobilmachung sein. Das Fest des 2. August! Das Fest des inneren Sieges! – Da ist unser neuer Geist geboren: der Geist der stärksten Zusammenfassung aller wirtschaftlichen und aller staatlichen Kräfte zu einem neuen Ganzen, in dem alle mit gleichem Anteil leben. Der neue deutsche Staat! Die Ideen von 1914!“ (Plenge, Krieg, S. 189–190). 49 Vgl. Plenge, 1789 und 1914, vor allem S. 41–44. Vgl. dazu auch Mohler/ Weißmann, S. 59–60. Plenge polemisierte daher auch gegen das Klischee, es handele sich bei den Ideen der westlichen Welt und denen Deutschlands um bloße Gegensätze und meinte, grundsätzlich arbeiteten beide Seiten an dem Gewinn der Freiheit: „Die Franzosen haben sich über Nacht Freiheit gegeben und dann nicht viel damit angefangen. Wir haben hundert Jahre am Inhalt der Freiheit gearbeitet, spät eine Form erhalten und arbeiten weiter an Form und Inhalt; wir haben auf unserem Wege die Kunst der Ordnung gelernt und sind fest geworden in ihr. Was aber möchte wohl schwieriger sein: ein ganzes Volk zu erneuern oder zu bewirken, daß ein Wahlrecht geändert werde?“ (Plenge, 1789 und 1914, S. 174–175.) 50 Prägnant dazu Mann, Gedanken im Kriege. Zu den „Ideen von 1914“ vgl. außerdem Verhey, S. 219–224; Mohler/Weißmann, S. 59–62; Sieferle, S. 139–160; Hoeres, S. 98–99 und S. 579–582.
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Kriegsausbruch schließlich Wirklichkeit geworden sei: „Wir haben ganz neu gewonnen unser liebes, teures, herrliches Vaterland. Sehen Sie, meine Damen und Herren, im Frieden – wie leicht wird ‚Vaterland‘ ein bloßes Wort und eine blasse Idee, um nicht davon zu sprechen, daß es hin und her schien, als wollten manche gar kein Vaterland mehr haben oder als gebe es Ideen und Güter, die an die Stelle dieser Idee und dieses Gutes treten könnten. Es war auch zuviel des Haders und Streites, der Parteikämpfe und der Selbstsucht unter uns und auch zuviel Kleinlichkeit und alles mögliche, was nicht sein sollte. [. . .] Da kam der Krieg, da kam die Erklärung des teuren Kaisers: ‚Ich kenne keine Parteien mehr; ich kenne nur Deutsche.‘ [. . .] In dieser feurigen Bereitschaft: Für das Vaterland jeden Mann und jeden Groschen, zerschmolz alles Eigensüchtige und Parteimäßige, und als eine große Realität stand einzig da: das Vaterland! Jeder Deutsche ist Deutschland, Deutschland ist in jedem Deutschen!“52 Ganz ähnliches hatte Harnack schon im August in einem Brief an Wilhelm II. geschrieben, den er einen „Friedefürsten“ nannte, der das Volk als Ganzes hinter sich gebracht und damit die letzten Reste des „Kastengeistes“ getilgt habe.53 Auch ansonsten nutzte Harnack den Kontakt zum Kaiser während des Krieges nicht nur, um für einen Verhandlungsfrieden und politische Reformen zu werben, sondern auch für die Propagierung der „Ideen von 1914“.54 Dabei hob er die positive Wirkung der Aufsätze Chamberlains besonders hervor; im September 1915 schrieb Harnack an den Kaiser: „Unter den Schriften dieser Kriegszeit stehen, soweit ich es zu beurteilen vermag, die von Chamberlain in erster Linie. [. . .] Chamberlain vermag die deutsche Eigenart und die aus ihr sich ergebenden Ziele besser zu erkennen als die Anderen, weil er sich einst in einer Distanz zu ihnen befunden hat. 51 Vgl. Harnack, Was wir schon gewonnen haben; vgl. Seeberg, Krieg und Kulturfortschritt. Vgl. zu Harnacks Engagement im „Kulturkrieg“ Nottmeier, S. 378– 400. Zu Seeberg vgl. Brakelmann, S. 73–98. Brakelmanns Darstellung ist allerdings ebenso tendenziös wie seine zusammenfassende Behauptung, Seebergs gesamter Argumentationsgang laufe „auf den lückenlosen Nachweis hinaus, daß das deutsche Volk auf Grund seiner geistigen, moralischen und organisatorisch-materiellen Überlegenheit das in den Gesetzmäßigkeiten der Geschichte verankerte Recht hat, sich territorial auf Kosten der schwächeren Nachbarvölker zu vergrößern und zur Sicherung seiner weltvölkischen Zukunft ein Imperium in Europa und ein Kolonialreich in Übersee aufzubauen.“ (Brakelmann, S. 12). 52 Harnack, Was wir schon gewonnen haben, S. 7–8. 53 Harnack an Wilhelm II., 3.8.1914: GStA I. HA Rep. 89, Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode, Nr. 32412, Bl. 45–47. 54 Harnack, Erforschtes und Erlebtes, S. 279–302. Vgl. auch das Telegramm Wilhelms II. an Harnack vom 17.9.1914: „ich danke ihnen herzlich fuer ihre freundlichen worte und wuensche besonders auch fuer ihre treue mitarbeit an der bekaempfung der vierten grossmacht mit ihren ebenso verachtlichen wie verderblichen waffen.“ (Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Berlin, Nachlaß Adolf von Harnack, Bl. 45.)
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Er sieht, was die Anderen mehr oder weniger dunkel empfinden. Dieses klare Schauen, dieser wundervolle Blick macht ihn wirklich zum Deuter und Propheten. Dazu kommt aber noch, daß er zu sagen versteht, was er sieht. Seine Sprache ist so treffsicher wie ein starker Sonnenstrahl, der nicht funkelt, aber leuchtet. Die Metamorphose, die aus einem Engländer einen Deutschen gemacht hat, ist eine gute Schöpfung!“55 Chamberlain hatte solch überschwengliches Lob eigentlich gar nicht nötig. Der Briefwechsel zwischen Chamberlain und dem Kaiser wurde im Krieg noch einmal intensiver als in den Jahren zuvor, und die „Ideen von 1914“ waren Wilhelm II. in erster Linie aus den Texten Chamberlains vertraut. Auf eine entsprechende Zusendung Chamberlains antwortete der Kaiser im November 1914 aus dem Großen Hauptquartier: „Ich hatte schon mit warmer Freude verschiedene Ihrer Aufsätze gelesen, Marksteine am Kriegsweg, den wir wandern. Den Aufsatz ‚Deutschland‘ habe ich mit klopfendem Herzen und gehobener Seele gelesen; er ist meisterhaft. So habe ich stets gedacht, und so denke ich auch heute von meinem geliebten Deutschland. Es ist meine feste Überzeugung, daß das Land, dem Gott Luther, Goethe, Bach, Wagner, Moltke, Bismarck und meinen Großvater schenkte, noch zu großen Dingen berufen ist, zum Segen der Menschheit zu wirken. Gott hat uns in harter Schule wieder auf den Weg gewiesen, zur Arbeit an der fernen Lösung dieser Dinge, damit wir uns auf uns selbst besinnen und kraftvoll einigen sollten, um als Sein Werkzeug zur Rettung der Menschheit wieder besser zu dienen; denn wir waren daran, unserem altbewährten Wesen untreu zu werden. Er, der uns diese Prüfung schickte, wird uns auch sie zu lösen helfen. Ihm stellen wir unsere Sache anheim, Er wird sie zum guten Ende führen, wir unser reines Schwert ‚wo wälsch und falsch hat gleichen Klang und deutsch heißt Herzensüberschwang‘.“56
Bemerkenswert an dem Brief ist, daß die Parteinahme für das „Deutschtum“ ausdrücklich damit begründet wird, daß Deutschland berufen sei, zum „Segen der Menschheit“ als ganzer zu wirken. Das entsprach den Vorstellung der Gemäßigten unter den Verfechtern der „Ideen von 1914“, nach denen das neue Zeitalter zwar unter der Vorherrschaft Deutschlands stehen, aber zugleich diejenige Freiheit und Gleichberechtigung für alle Völker verwirklichen werde, die die Westmächte lediglich im Munde führten.57 Ganz 55 Adolf von Harnack an Kaiser Wilhelm II., 26.9.1915: Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Berlin, Nachlaß Adolf von Harnack, Bl. 47–48). Der Brief ist zitiert bei Kinzig, S. 222 und auch in der ersten Auflage von Zahn-Harnack, Harnack, S. 472. In der zweiten Auflage fehlt das Zitat. 56 Kaiser Wilhelm II. an H. S. Chamberlain vom 25.11.1914, Chamberlain, Briefe II, S. 244–245. In dem erwähnten Aufsatz „Deutschland“ verteidigte Chamberlain das Reich gegen die Vorwürfe der Alliierten und bestand darauf, daß ein kulturell so großes Volk wie das deutsche auch entsprechend politisch groß sein müsse: vgl. Chamberlain, Kriegsaufsätze, S. 68–94. 57 Vgl. dazu etwa Hintze, Der Sinn des Krieges, S. 686.
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in diesem Sinne nannte Wilhelm II. Chamberlain in seinem nächsten Brief vom April 1915 einen „Kämpfer für deutsches Wesen, an dem einmal soll die Welt genesen“58 und verlieh ihm das Eiserne Kreuz. Die Überzeugung, im Namen Deutschlands für das Wohl der Menschheit zu kämpfen, war subjektiv ebenso ehrlich wie die vom Krieg als aufgezwungenem Verteidigungskampf. Das deutsche Friedensangebot vom Dezember 1916 bestätigt die Ernsthaftigkeit dieser Überzeugungen, zumal es sich um eine persönliche Initiative des Kaisers handelte.59 Nur die Ablehnung des Angebots scheint ein vorübergehendes Umdenken bei Wilhelm II. bewirkt zu haben. Im Januar 1917 jedenfalls schickte Chamberlain dem Kaiser einen seiner neuen Kriegsaufsätze, in welchem Chamberlain auch weiterhin darauf beharrte, Deutschlands Aufgabe sei die Überführung der Welt „in einer neue, vernünftigere, sittlichere, einer edlen Menschheit angemessenere Form“.60 Der Kaiser nahm in seinem Antwortbrief die Gedanken des Aufsatzes auf, sprach aber nicht mehr von einem deutschen Beitrag zur Weltwohlfahrt, sondern von dem zu erwartenden „Endkampf“: „Der Krieg ist der Kampf zwischen zwei Weltanschauungen; der germanischendeutschen für Sitte, Recht, Treu und Glauben, wahre Humanität, Wahrheit und echte Freiheit, gegen die Angel-Sächsische, Mammonsdienst, Geldmacht, Genuß, Landgier, Lüge, Verrat, Trug und nicht zuletzt Meuchelmord!‘ Diese beiden Weltanschauungen können sich nicht ‚versöhnen‘ oder ‚vertragen‘, eine muß siegen, die andre muß untergehen! solange ‚muß gefochten werden‘! [. . .] Jetzt wird es dem deutschen Michel mit einemmal klar, daß der Kampf für ihn zum Kreuzzug geworden und daß er jetzt St. Michael geworden ist. Ein Kreuzzug gegen das Böse – Satan – in der Welt, von uns geführt als Werkzeuge des Herrn, die wir nach nichts mehr zu fragen haben, nach keiner Bedingung und keinem anderen Kriegsziel, als das Eine zu erreichen, wir Gottesstreiter schlagen bis das Mommonsdienende Räuberpack zusammenbricht und die Feinde im Reiche Gottes im Staube liegen! Dessen Kommen in der Welt durch die Angel-Sächsische Weltanschauung aber geradezu unmöglich gemacht werden würde, durch unseren Sieg aber gefördert wird! Gott will diesen Kampf und wir sind seine Werkzeuge. Er wird ihn leiten um den Ausgang brauchen wir uns nicht zu sorgen, wir werden leiden, fechten und siegen unter Seinem Zeichen! Dann kommt der Friede, der Deutsche, der Gottes-Friede, in dem die ganze befreite Welt aufatmen wird; [. . .] Darum vorwärts mit Gott! Und wenn die Welt voll Teufel wär!“61 58 Kaiser Wilhelm II. an H. S. Chamberlain vom 24.4.1915, Chamberlain, Briefe II, S. 246. 59 Vgl. Bethmann Hollweg, Betrachtungen II, S. 151–165. Vgl. auch Hindenburg, Aus meinem Leben, S. 210–215. 60 Chamberlain, Der Wille zum Sieg, S. 14. Chamberlain wies in dem Aufsatz auch darauf hin, daß den Deutschen lediglich „der vom heiligen Geist eingesetzte Führer“ (Chamberlain, Der Wille zum Sieg, S. 18) fehle. Daß der Kaiser das nicht als Kritik an seiner Person wahrnahm, ist erstaunlich.
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Diese Zeilen schrieben dem Krieg eine eschatologische Dimension zu: Deutschland kämpfe im Namen des Guten gegen das Böse; der deutsche Sieg im „Endkampf“ würde den „Gottes-Frieden“ herbeiführen. Die Identifikation Deutschlands mit Sankt Michael diente in diesem Zusammenhang der Illustration von Deutschlands Rolle in diesem Kampf als „Gottesstreiter“, als Kämpfer für Gott gegen den Satan. Die Behauptung, Wilhelms Argumentation sei „von dualistischen Positionen geprägt, die eines unmöglich machen: einen vernünftigen Kompromiß mit dem Gegner“62, ist dennoch zu undifferenziert. Sie verkennt nämlich, daß die Argumentation keineswegs im platten Sinne dualistisch ist. Zwar sprach Wilhelm vom „Kreuzzug gegen das Böse“, aber er identifizierte das Böse nicht mit dem Kriegsgegner, sondern mit dessen „Weltanschauung“. Das ist ein feiner, aber bedeutender Unterschied, der den Brief mit den anderen Äußerungen des Kaisers zumindest kompatibel macht. Die Vorstellung eines den Deutschen aufgezwungenen Existenzkampfes, die grundsätzlichen Infragestellung der eigenen geistigen Substanz durch den Feind wie auch die Ablehnung der eigenen Friedensangebote; all das erklärt den Furor, der aus dem Text spricht. Die Vorstellung einer von den Deutschen getragenen universalen Menschlichkeit als zentralem Bestandteil der eigenen geistigen Substanz war damit aber nicht aufgegeben, sodaß eine vollständige Vernichtung des Feindes gar nicht in Frage kam. Absolute Feindschaft bestand deshalb auch nicht gegen den Feind, sondern gegen dessen Auftreten im Namen einer Weltanschauung, die aus Sicht des Kaisers mit der deutschen absolut unverträglich war. Damit hatte Wilhelm II. die letzte Konsequenz seiner Begeisterung für Chamberlains Grundlagen zumindest verbal vollzogen: Die „Germanen“ befanden sich wieder in einem existentiellen Kampf mit den „Antigermanen“.63 Von einem Sieg der „Germanen“ erhoffte Wilhelm sich eine erlösende, tendenziell eschatologische Wirkung. Wie fest der Glaube des Kaisers an diese Interpretation des Krieges war, ist allerdings unklar. Er sprach hier ganz und gar als Privatperson, und er äußerte seine Auffassungen gegenüber dem Mann, von dem er die „Grundlagen“ seiner Auffassungen erst bekommen hatte. Wilhelms Wut über die 61 Kaiser Wilhelm II. an H. S. Chamberlain vom 15.1.1917 (Nachlaß Chamberlain, Richard-Wagner-Gedenkstätte Bayreuth). Zit. nach Röhl, Abgrund, S. 1199. In Chamberlain, Briefe II, S. 250–251 überarbeitet und gekürzt. 62 Benner, S. 121–122. Übrigens wurden auf englischer Seite Positionen geäußert, die derjenigen Wilhelms II. – mit umgekehrter Wertung – entsprachen. So schrieb der englische Staatssekretär des Äußeren, Arthur James Balfour, am 26.7.1918 in der Times: „It is not two nations fighting for territory that are struggling for supremacy. It is two ideals, one from Heaven, the other from Hell, which are striving for the mastery“ (zit. in Hollenberg, S. 1). 63 Ausführlich zu Chamberlains „Grundlagen“ und Wilhelms Begeisterung siehe Kapitel E. III.
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Ablehnung des Friedensangebots, das die Mittelmächte einen Monat zuvor an die Mächte der Entente gerichtet hatten, spielte mit Sicherheit eine Rolle für seine Auffassung, nun sei so etwas wie der apokalyptische Endkampf gekommen. Öffentlich äußerte er sich jedenfalls zu keinem Zeitpunkt in diesem Sinne. In einer offiziellen Reaktion auf die Ablehnung des Friedensangebots, der Kundgebung „An das deutsche Volk“ vom 12. Januar 1917 nannte er lediglich die Notwendigkeit, die „Knechtung der Freiheit Europas und der Meere“ zu bekämpfen, nun, da der Feind die „Maske“ habe fallen lassen und gezeigt habe, daß er zu keiner Verständigung bereit sei.64 Auch die jährlichen Ansprachen des Kaisers an das deutsche Volk betonten immer wieder die eigenen Friedensabsichten, den defensiven Charakter des Krieges, der ein Kampf um „Leben“ und „Freiheit“, um die eigene Existenz sei. Nur ein Sieg werde wirksam die „friedliche[] Arbeit des deutschen Geistes und deutscher Hände für alle Zukunft“ schützen und den Deutschen das Recht sichern, frei „unter den Völkern des Erdballs“ zu wohnen.65 Der Ton dieser öffentlichen Stellungnahmen war wesentlich moderater und vor allem defensiver als der des Briefes an Chamberlain; in der Sache zeigen beide ein ähnliches Bild: Der Kaiser und „seine“ Deutschen fühlten sich von den Alliierten im Grundsätzlichen herausgefordert und kämpften um die eigene kulturelle, geistige und religiöse Existenz. Um so fataler mußte sich dann die Niederlage im November 1918 auswirken: Man hatte den Existenzkampf geführt und ihn verloren.
III. Ernstfall II: Kriegsende Mit Beginn des Krieges hatte Wilhelm II. faktisch seine politischen Befugnisse aus der Hand gegeben, indem er dem Generalstabschef die Vollmacht gab, in seinem Namen Befehle zu erteilen.66 Auch aus der öffentlichen Wahrnehmung wurde der Kaiser zunehmend verdrängt; zwar wirkten vereinzelte propagandistische Auftritte durchaus mobilisierend, aber er hinterließ doch eine symbolische Leerstelle, die schließlich durch Paul von Hindenburg gefüllt wurde.67 Hinzu kamen die zunächst auf Reform, dann auf Revolution ausgerichteten politischen Umwälzungen, die der Krieg mit sich brachte und die die Legitimität des wilhelminischen Reiches und seines obersten Repräsentanten untergruben.68 Die Identifikation der deutschen 64
Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender NF 33 (1917), S. 24–25. Aufrufe Wilhelms II. an das deutsche Volk 1915, 1916, 1917 und 1918: Amtliche Kriegs-Depeschen II, S. 800; Amtliche Kriegs-Depeschen IV, S, 1567–1568; Amtliche Kriegs-Depeschen VI, S. 2366–2367; Amtliche Kriegs-Depeschen VIII, S. 2818–2819. 66 Vgl. Clark, Wilhelm II., S. 291. 67 Vgl. Obst, Einer nur ist Herr, S. 370–403; vgl. Clark, Wilhelm II., S. 312–315. 65
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Monarchie mit der Person des Monarchen, die vor allem auf den Kaiser zielende Kriegspropaganda des Feindes69 und die totale Niederlage im Weltanschauungskampf waren maßgebliche Faktoren für den sang- und klanglosen Untergang der Monarchie im November 1918.70 Von schwer kalkulierbarer, für die Zeitgenossen jedoch entscheidender Bedeutung war dabei außerdem das Verhalten des Kaisers in den letzten Kriegstagen. Durch das Verlassen Berlins am 19.10.1918 in Richtung Spa hatte Wilhelm II. sich selbst aus dem politischen Zentrum entfernt und damit einen Fehler begangen. Als er am 6.11. den Plan äußerte, angesichts der Flottenmeutereien an der Spitze seiner Armee nach Berlin zurückzukehren, erklärten ihm die Truppenkommandeure der nächstgelegenen Armeen mehrheitlich, das Frontheer stehe nicht mehr geschlossen hinter dem Kaiser.71 Die dann erfolgte Abdankung und die Flucht nach Holland in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1918 wurde Wilhelm II. im Nachhinein verbreitet als Desertion aus Feigheit ausgelegt. Als mögliche Alternativen wurden eine militärische Niederschlagung der Revolution im Inland und der Tod an der Front erwogen.72 Vor allem letzterer Vorschlag entfaltete eine ungeheure Wirkung. Besonders deutlich wird das an der 1930 erschienenen Geschichte des Kaiserreichs von dem Historiker Johannes Ziekursch, der darin über das Ende des Reiches schrieb: „Ein anderer Ausweg wäre denkbar gewesen. Von einer Abdankung des Kaisers wollte General Groener als Soldat nichts wissen und hatte diesen Gedanken in Berlin bei den Beratungen des Kriegskabinetts wie im Hauptquartier auf das schärfste bekämpft. Als er aber erkannte, daß Deutschland vor der Revolution stand, weil es im Kaiser ein Friedenshindernis sah, da wünschte er sich, daß der Kaiser nicht sein Amt, aber sein Leben dem Vaterlande opfern würde. Der ehemalige Staatssekretär des Innern, Clemens von Delbrück, hatte im Oktober 1918 an Stelle des 68 Clark, Wilhelm II., S. 242: „Beträchtliche (wenn auch nicht genau quantifizierbare) Reserven des ‚kaiserlich-royalistischen Kapitals‘ bestanden immer noch in der deutschen Gesellschaft. Die gesellschaftlichen Transformationen und politischen Unruhen eines Weltkriegs waren nötig, um sie ganz zu beseitigen.“ 69 Vgl. zur explizit gegen Wilhelm II. gerichteten alliierten Kriegspropaganda Reinermann, S. 441–470; Rebentisch, S. 207–236 sowie die 71 französischen und englischen Kaiserkarikaturen, darunter eine Parodie auf die Zeichnung „Völker Europas, wahret eure heiligsten Güter“, diesmal mit einem drohend über den Wolken schwebenden Wilhelm II. anstelle eines Buddhas: GStA BPH Rep. 53 Nr. 294. 70 Vgl. zu diesem Ineinander von äußeren und inneren Faktoren, die für die Identifizierung Wilhelms II. mit Deutschlands Niederlage und damit für seine Abdankung eine Rolle spielten, Stutzenberger, vor allem S. 204–205. 71 Vgl. Groener, Lebenserinnerungen, S. 448–451. Vgl. auch Röhl, Abgrund, S. 1244. 72 Vgl. Kohlrausch, Monarch im Skandal, S. 365–369.
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Freiherrn von Berg die Leitung des Zivilkabinetts des Kaisers übernommen; er teilte Groeners Wunsch und war entschlossen, das Schicksal seines kaiserlichen Herrn auf dem Schlachtfeld zu teilen. Wie Groener und er dachten noch viele andere. [. . .] Den auf der Walstatt gefallenen Kaiser hätten die Deutschen im Kyffhäuser beigesetzt und dann, in den Jahren der Schmach, mit zusammengebissenen Zähnen gewartet, bis sich der Berg wieder auftat und der Kaiser zurückkehrte, um das Reich in aller Größe, Pracht und Herrlichkeit von neuem aufzubauen. Als der Kaiser nach Holland ging, tötete er die Monarchie in Deutschland.“73 General Groener selbst hatte bereits im Februar 1919 in der Kreuzzeitung einen Artikel veröffentlicht, in dem er die Auffassung äußerte, daß ein freiwilliger Opfertod Wilhelms II. bei Kriegsende die Monarchie hätte retten können.74 Tatsächlich kursierten seit dem 5.11.1918 Pläne für den Angriff einer kleinen Freiwilligentruppe unter Führung des Kaisers, bei der dieser fallen sollte.75 Das Unternehmen sollte am 8.11. stattfinden und Groener sollte dem Kaiser diesen Vorschlag unterbreiten; anscheinend ist es aber auf Bitte des Generaloberst von Plessen, der Wilhelm II. nicht in Lebensgefahr bringen wollte, gar nicht erst dazu gekommen.76 Dennoch ist anzunehmen, daß der Kaiser von entsprechenden Plänen unterrichtet war, da es noch eine zweite „Königstod“-Initiative gab: Der ehemalige Reichskanzler Georg Michaelis hatte zusammen mit einer ganzen Reihe pommerscher Adliger im Oktober 1918 eine Konferenz über die politische Lage abgehalten, bei der auch über die Möglichkeit des Königstodes zur Rettung der Monarchie gesprochen wurde.77 Michaelis sprach am 28.10. bei der Kaiserin vor und empfahl die Abdankung des Kaisers, leitete aber über die Oberhofmeisterin die darüber hinausgehende Bitte an die Kaiserin weiter, der Kaiser solle an der Front fallen.78 Beim anschließenden Mittagessen unterrichtete die Oberhofmeisterin den Kaiser anscheinend von dem Plan; jedenfalls brach Wilhelm II. das Gespräch abrupt ab.79 Für Wilhelms Kenntnis von diesen Plänen spricht auch eine Bemerkung des Kaisers, die sein Adjutant Sigurd von Ilsemann aufgezeichnet hat. Laut Ilsemann lehnte Wilhelm II. am Abend des 9.11., als die Abdankung in seinem 73
Ziekursch, S. 442–443. Vgl. Kaehler, S. 280–281. 75 Vgl. Kohlrausch, Monarch im Skandal, S. 362–363; vgl. Gutsche, Wilhelm II., S. 191. 76 Vgl. Kaehler, S. 290. 77 Vgl. Michaelis, S. 696–697. 78 So die Rekonstruktion des Geschehens bei Kohlrausch, Monarch im Skandal, S. 362–363. 79 Vgl. Kaehler, S. 297. 74
III. Ernstfall II: Kriegsende
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Namen bereits erfolgt und die Überfahrt nach Holland organisiert war, eine Flucht mit den Worten ab: „Und wenn mir auch nur einige mit den Herren meiner Umgebung treu bleiben, mit ihnen kämpfe ich dann bis zum Äußersten, und wenn wir auch alle totgeschlagen werden – vor dem Tode habe ich keine Angst! Nein, ich bleibe hier!“80 In seinen Memoiren nahm Wilhelm II. selbst zu der Diskussion um sein Verhalten bei Kriegsende Stellung: „Es ist viel darüber geredet worden, daß ich die Armee verlassen habe und in das neutrale Ausland gegangen bin. Die Einen sagen: Der Kaiser hätte sich zu einem Truppenteil der Kampffront begeben, mit ihm auf den Feind stürzen und in einem letzten Angriff den Tod suchen sollen. – Dadurch wäre aber nicht nur der vom Volke heiß ersehnte Waffenstillstand, über den bereits die von Berlin zum General Foch entsandte Kommission verhandelte, unmöglich gemacht, sondern auch das Leben vieler, und gerade der besten und treuesten Soldaten, nutzlos geopfert worden. Andere meinen: Der Kaiser hätte an der Spitze seines Heeres in die Heimat zurückkehren sollen. – Eine friedliche Rückkehr war aber nicht mehr möglich; die Aufständischen hatten sich der Rheinbrücken und anderer wichtiger Anlagen im Rücken des Heeres bereits bemächtigt. Ich hätte zwar an der Spitze treuer, aus der Kampffront gezogener Truppen die Rückkehr erzwingen können. Aber damit wäre der Zusammenbruch Deutschlands besiegelt gewesen. Denn zum Kampfe mit dem zweifellos nachdrängenden Feinde wäre noch der Bürgerkrieg getreten. Wieder Andere meinen: Der Kaiser hätte sich selbst den Tod geben sollen. – Das war schon durch meinen festen christlichen Standpunkt ausgeschlossen. Und würde man dann nicht gesagt haben: Wie feige! Jetzt entzieht er sich aller Verantwortung durch den Selbstmord. Dieser Weg schied auch deshalb aus, weil ich darauf bedacht sein mußte, in der vorauszusehenden schweren Zeit meinem Volke und Lande zu helfen und zu nützen. Gerade in der Aufhellung der Schuldfrage, die sich mehr und mehr als der Kernpunkt unseres künftigen Geschicks enthüllte, wußte ich mich besonders berufen, die Sache meines Volkes zu vertreten. Denn mehr wie jeder andere kann ich Zeugnis ablegen von Deutschlands Friedenswillen und von unserem reinen Gewissen. Nach unendlich schweren Seelenkämpfen habe ich auf dringendstes Anraten meiner zurzeit anwesenden höchsten verantwortlichen Ratgeber den Entschluß gefaßt, außer Landes zu gehen, weil ich auf Grund der mir gemachten Meldungen glauben mußte, dadurch Deutschland am treuesten zu dienen, ihm günstigere Waffenstillstands- und Friedensbedingungen zu ermöglichen und ihm weitere Menschenverluste, den Bürgerkrieg, Not und Elend zu ersparen.“81
Die Erklärungen seines Verhaltens nützten Wilhelm II. nicht viel; nur wenige übernahmen seine Deutung der Flucht als „Opfer“ der eigenen Person 80 81
Ilsemann, Amerongen und Doorn, S. 40. Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten, S. 245–246.
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G. Krieg
zum Besten des Vaterlandes.82 Das hing weniger mit gewissen Ungereimtheiten in Wilhelms eigener Erklärung – so war die Virulenz der „Schuldfrage“ im November 1918 keineswegs schon deutlich absehbar – zusammen, sondern eher mit einer tiefersitzenden Enttäuschung über das Verhalten des Kaisers in der Krise. Eine wichtige Rolle spielten dabei der Hinweis auf die preußische Tradition sowie die von Wilhelm selbst formulierten Ansprüche, die – so der Vorwurf – den Königstod zwingend nahegelegt hätten. Ziekursch wies in dem Zusammenhang auf das Beispiel Friedrichs des Großen hin, der während des Siebenjährigen Krieges stets eine Giftampulle bei sich getragen habe, um die Niederlage nicht überleben zu müssen. Auch Bismarck, so Ziekursch, „wäre aus dem Feldzug von 1866 nicht heimgekehrt, wenn das Kriegsglück gegen Preußen entschieden hätte.“83 Am schwersten aber wögen Äußerungen Wilhelms II. selbst, wie diejenige von 1891 bei der Verleihung neuer Feldzeichen: „Was auch immer kommen möge, wir wollen unsere Fahnen und Traditionen hochhalten, eingedenk der Worte und Taten Albrecht Achilles’, welcher gesagt hat: ‚Ich kenne keinen reputierlicheren Ort zu sterben als in der Mitte meiner Feinde.‘ Dies ist auch meine Herzensmeinung.“84 82 Vgl. Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten, S. 245. Dieselbe Interpretation findet sich in der vom „Verband national gesinnter Soldaten“ 1921 herausgegebenen Broschüre Die letzten Tage Seiner Majestät des Kaisers und Königs im Großen Hauptquartier von Graf Detlef von Moltke: GStA, BPH Rep. 53 Nr. 425. In der Broschüre wurde auch eine Stellungnahme Hindenburgs vom 17.3.1919 abgedruckt, in der es über den Königstod hieß: „Der Kaiser konnte sich ferner zu fechtenden Truppe begeben, um an deren Spitze in einem letzten Angriff den Tod zu suchen. Auch dadurch wäre der vom Volk heißersehnte Waffenstillstand hinausgeschoben und das Leben vieler Soldaten nutzlos geopfert worden. Der Kaiser konnte endlich außer Landes gehen. Er wählte diesen Weg im Einverständnis mit seinen Ratgebern nach unendlich schweren Seelenkämpfen lediglich in der Hoffnung, dadurch dem Vaterlande am besten zu dienen, Deutschland weitere Verluste, Not und Elend zu ersparen, ihm Frieden, Ruhe und Ordnung zurückzubringen. Daß der Kaiser sich in diesem Glauben geirrt hat, ist nicht die Schuld Seiner Majestät.“ (S. 11). 83 Ziekursch, S. 443. 84 Rede anläßlich einer Fahnennagelung, 18.4.1891: Obst, Die politischen Reden, Nr. 41, S. 73–75; Penzler I, S. 175; zit. in Ziekursch, S. 443. Laut Ziekursch soll Wilhelm II. zudem kurz vor dem 9.11.1918 bei einem Fliegerangriff zustimmend Shakespeare zitiert haben: „Der Feige stirbt schon vielmal, eh’ er stirbt, / die Tapfern kosten einmal nur den Tod. / Von allen Wundern, die ich je gehört, / Scheint mir das größte, daß sich Menschen fürchten, / Da sie doch sehn, der Tod, das Schicksal aller, / Kommt, wann er kommen soll.“ (Ziekursch, S. 443) Das ist insofern plausibel, als schon früher in bezug auf Wilhelms Verhältnis zum eigenen Tod eine gewisse Sorglosigkeit belegt ist. So meinte Bülow 1906, als man befürchtete, daß es zu Attentaten auf Wilhelm II. kommen könne, dieser sei „von einem hohen Grade Gottvertrauen und einem gewissen Fatalismus erfüllt“. (Protokoll der Sitzung des Preußischen Staatsministeriums vom 31. August 1906, GStA, I. HA Rep. 90a, Staatsministerium, jüngere Registratur, B III 2 b, Nr. 6, Bd. 153, Bl. 16 ff. Teil-
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Die historische Realität einer preußischen „Tradition“ des Königstodes ist in der Forschung bestritten worden. Siegfried A. Kaehler hat sogar vermutet, Michaelis könnte die Vorstellung vom Opfergang der Verantwortlichen durch seine Tätigkeit an einer japanischen Universität und den Kontakt mit der Kultur der Samurai entwickelt haben.85 Kaehler und nach ihm Martin Kohlrausch meinen, daß es kein einziges Beispiel monarchisch-verantwortlicher Sterbebereitschaft in der preußischen Geschichte gebe und daß eine solche Verantwortlichkeit auch der Reichsverfassung wie der monarchischen Tradition widersprochen hätte.86 Entsprechend beurteilt man den an Wilhelm II. herangetragenen Wunsch eines Königstodes wahlweise als absurd, nihilistisch, bonapartistisch, demokratisch, populistisch und unkonservativ.87 Dabei wird vielfach übersehen, daß der Wunsch Wilhelms II., ein „persönliches Regiment“ zu führen, die Fäden der Politik in der eigenen Hand zu behalten und in seinem Tun allein Gott verantwortlich zu sein, gerade eine solche Erwartungshaltung produzierte. Darüber hinaus hat es zwar in der Geschichte der Hohenzollern keinen tatsächlich vollzogenen Fall einer Opferung des eigenen Lebens für den Staat gegeben, aber die entsprechenden Absichtsbekundungen vor allem Friedrichs des Großen sind überzeugend belegt.88 Ob ein symbolischer Tod des Kaisers an der Front noch einmal das monarchistische Potential in Deutschland hätte mobilisieren können oder nicht, hätte nur empirisch ermittelt werden können. Daß Wilhelm II. den Versuch nicht unternahm, trug nach dem Urteil der Zeitgenossen jedenfalls erheblich dazu bei, daß das politisch-theologische Gebäude, das der Kaiser in den Friedensjahren errichtet und das zur erfolgreichen inneren nationalen Einigung beigetragen hatte, quasi über Nacht in sich zusammenbrach.89 weise abgedruckt in Röhl, Abgrund, S. 694) Hans Blüher, der den Kaiser im Exil kennenlernte, äußerte später die Meinung, es gebe nun einmal Menschen, denen der Selbstmord objektiv unmöglich sei. Bei Wilhelm komme noch seine christliche Überzeugung dazu sowie die Erwägung, daß ein Selbstmord als Schuldeingeständnis hätte gewertet werden können. So habe Wilhelm immerhin die Möglichkeit gehabt, in Freiheit Rechenschaft abzulegen gegenüber jedem, der ihn hören wollte. Der Kaiser sei überhaupt eher leichtfertig gewesen als feige, zumal er dem eigenen Tod immer mit Gelassenheit gegenübergestanden habe, der eben komme, wenn es an der Zeit sei. (Vgl. Blüher, Werke und Tage, S. 159–161). 85 Vgl. Kaehler, S. 302. 86 Vgl. Kaehler, S. 302; vgl. Kohlrausch, Monarch im Skandal, S. 378–381. 87 Absurd: Clark, Wilhelm II., S. 318. Nihilistisch und unkonservativ: Straub, S. 326. Demokratisch-Bonapartistisch: Kaehler, S. 290–294. 88 Vgl. beispielsweise Kunisch, S. 395–396 über die wiederkehrenden Selbstmordabsichten aus Pflichtgefühl in Krisensituationen bei Friedrich dem Großen. Paul Sethe behauptete, der Königstod an sich sei tatsächlich nichts Neues in Preußen gewesen, dafür aber der Königstod zu Propagandazwecken: Zuschrift von Paul Sethe, in: Michaelis, S. 701.
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G. Krieg
Wie sehr das Verhalten des Kaisers im November 1918 die Gemüter bewegte, wie bedeutsam es für die Diskreditierung der Monarchie und die Aussichtslosigkeit jeglicher Restaurationsversuche war, welche Erwartungshaltung schließlich die politische Theologie Wilhelms II. produziert hatte, wird noch einmal exemplarisch deutlich an einer Debatte, die Anfang der 1960er Jahre in der Bundesrepublik geführt wurde. Es zeigt sich hieran auch noch einmal, wie sehr Wilhelm II. als Person, nicht als Amtsträger in den Fokus gerückt war. Wilhelm Michaelis, Sohn des ehemaligen Reichskanzlers, der mit dem Königstodplan an Wilhelm II. herangetreten war, veröffentlichte einen Aufsatz, in dem er der Darstellung Kaehlers widersprach: Weder die von Kaehler behauptete Unchristlichkeit des Königstodes lasse sich aufrecht erhalten angesichts der christlichen Ritter- und Märtyrertradition, noch könne von einer Absurdität der Pläne die Rede sein. Ohne romantische Vorstellungen wie die vom Opfertod des Herrschers sei die Monarchie gar nicht vorstellbar; das einzige Argument, das gegen die Verwirklichung der Pläne Groeners und Michaelis’ spreche, sei die Gefahr, daß der Kaiser hätte am Leben bleiben und in Gefangenschaft geraten können. Deshalb habe der Kaiser mit seiner Flucht letztlich das Richtige getan; die Monarchie sei ohnehin nicht mehr zu retten gewesen.90 Der konservative Publizist Paul Sethe, auf dessen Rezension in der Welt Michaelis sich auch bezogen hatte, gab in seiner Antwort ein eindrucksvolles Beispiel konservativer Gemütsverfassung noch vierzig Jahre nach dem Vorfall. Es zeigt, wie sehr es gerade das persönliche Verhalten des Kaisers im Ernstfall des Zusammenbruches war, das den Legitimitätsverlust seiner Monarchie herbeigeführt hatte. Eine aktive Verteidigung der Monarchie gegen die drohende Revolution wäre geboten gewesen, so Sethe, weil „ein wirklicher Kampf für den Thron keinen Propagandazweck, sondern einen ganz sachlichen Sinn gehabt hätte – das Erbe von Jahrtausenden nicht aufzugeben, sondern mit allen Mitteln festzuhalten –, wäre auch ein Tod an den Stufen des Thrones nicht ‚romantisch‘, sondern zwar beklagenswert, jedoch sachlich zu rechtfertigen und ‚vernünftig‘ gewesen. Ob es noch möglich gewesen wäre, die Monarchie zu retten, darüber läßt sich kein sicheres Urteil fällen. Michaelis denkt darüber pessimistisch, und niemand kann beweisen, daß er unrecht hat. Die Frage bleibt aber, ob man eine große Sache aufgeben darf, 89
Das sieht Clark letztlich genauso, auch wenn er die Königstodpläne für absurd hält: „Was die alten, konservativen Eliten betraf, so hemmten die unrühmlichen Umstände von Wilhelms Abschied jede weitere Identifikation mit dem letzten Inhaber des deutschen Throns. Aus dem Monarchismus entwickelte sich deshalb nie ein ideologischer Rahmen, der im Stande gewesen wäre, dem Konservatismus nach dem Krieg eine kohärente und solide, politische Plattform zu bieten.“ (Clark, Wilhelm II., S. 339.) 90 Vgl. Michaelis, S. 696–701.
IV. Zusammenfassung
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wenn auch nur noch eine schwache Möglichkeit besteht, sie zu retten. Vielleicht finden Michaelis und ich uns in der Meinung, daß gewöhnlich im staatlichen Leben große und bedeutende Institutionen nicht ohne Widerstand aufgegeben werden. Der Untergang des preußischen Königtums ist einer der seltenen Fälle, in denen dies doch geschehen ist. Ich werde nicht aufhören, das zu beklagen.“91
IV. Zusammenfassung Wilhelm II. versuchte in politisch wenig geschickter Offenheit, sein Europakonzept zu propagieren. Seine regelmäßig geäußerten Friedensabsichten und seine Hinweise auf die militärische Aufrüstung Deutschlands führten zu einer insgesamt zwiespältigen Außenwahrnehmung des Kaisers. Einerseits wurde er als ängstlicher „Friedenskaiser“ verspottet, andererseits als kriegstreiberischer Rüstungspolitiker geschmäht. Dadurch war er nach Kriegsausbruch geeignet, die Zentralfigur alliierter Kriegspropaganda ebenso wie die Identifikationsfigur der Deutschen im „Verteidigungskrieg“ zu werden. Die in Deutschland verbreitete Überzeugung, vom Feind überfallen worden zu sein und einen Kaiser zu haben, der sich immer wieder um die Aufrechterhaltung des Friedens bemüht habe, trug wesentlich zu der patriotischen Begeisterung im sogenannten „Augusterlebnis“ bei. Bei Kriegsausbruch zeigte sich, daß Wilhelms politisch-theologische Bemühungen, aus den Deutschen eine Nation zu machen, im innenpolitischen Kern erfolgreich gewesen waren. Dabei spielte vor allem die personale Bindung an Wilhelm II. eine Rolle, der sich ehrlich um Einheit und Frieden bemüht habe. Die faktische Herstellung nationaler Einheit zeigte sich auch in dem gemeinsamen kriegstheologischen Engagement verschiedener theologischer Strömungen. Das bezog sich zwar nicht auf theologische Fachfragen, aber auf einen geistigen Konsens, der seinen Ausdruck in den „Ideen von 1914“ fand. Es ging dabei nicht nur um die Beschwörung der parteiübergreifenden nationalen Einigung, sondern auch um den Versuch, den als westlich wahrgenommenen Idealen der Französischen Revolution einen spezifisch deutschen „Weltgedanken“ entgegenzusetzen. Wilhelm II. ging in Privatäußerungen sogar so weit, den Kampf zwischen angelsächsisch-zivilisatorischer und deutsch-kultureller Weltanschauung als eschatologischen Krieg des Guten gegen das Böse zu bezeichnen. Das hinderte ihn aber nicht daran, dem „deutschen Prinzip“ einen universalen Sendungsauftrag zuzuschreiben, der allen Völkern zugute kommen solle. In öffentlichen Äußerungen be91
Zuschrift von Paul Sethe, in: Michaelis, S. 701–702.
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G. Krieg
schränkte der Kaiser sich ohnehin auf die Betonung des Defensivcharakters des Krieges, der ein Kampf um das eigene Existenzrecht sei. Diese verbreitete Wahrnehmung einer existentiellen Dimension der Auseinandersetzung erklärt einiges von der Totalität des Zusammenbruchs im November 1918. Die Abgabe politischen Einflusses an die Oberste Heeresleitung sowie der Kampf der Alliierten gegen Monarchie und Monarchen trugen ebenfalls zum Untergang des preußischen König- und deutschen Kaisertums bei. Von noch größerer Bedeutung für die deutschen Anhänger der Monarchie war aber die als feige wahrgenommene Flucht des Kaisers nach Holland kurz vor Kriegsende. Vor allem in den Nachkriegsjahren wurde intensiv darüber diskutiert, ob Wilhelm II. nicht an der Front den „Königstod“ hätte sterben sollen, um damit den monarchischen Gedanken für Deutschland zu retten. Tatsächlich waren in Wilhelms Umfeld entsprechende Pläne erwogen worden, und der Kaiser selbst äußerte sich von Holland aus zu den Vorwürfen. Unabhängig von der Frage, wie man diese beurteilt, steht fest, daß die Flucht nach Holland endgültig das politischtheologische Gebäude zum Einsturz brachte, das der Kaiser in den Friedensjahren aufgebaut hatte. Es zeigt sich hieran überdeutlich, wie sehr Wilhelm seine Herrschaft „charismatisiert“ hatte, das heißt auf Autorität, Authentizität und damit auch Erfolg seiner Person hin ausgerichtet. Die Flucht wurde ihm als persönliches Versagen angerechnet, womit auch seine politische Autorität untergraben war.
H. Exil I. Monarchie In seiner Verteidigung der Königstod-Tradition wies Michaelis 1962 darauf hin, daß es sich um ein „menschliches Urphänomen“ handle, „das bis in die magischen Zeiten der Menschheit zurückreicht. Ich denke an den Opfertod der Urkönige, die nach Ablauf einer bestimmten Zeit oder bei Beginn des Alters, sich für ihr Volk opfernd, sterben mußten. Herrschaft fußt für die frühe Menschheit [. . .] ausschließlich auf der Bereitschaft zur rituellen Darbringung der eigenen Person als Opfer. Herrschaft und Opfer bedingen sich gegenseitig als komplementäre Institutionen.“1 Auf denselben Sachverhalt wies dreißig Jahre später Nicolaus Sombart hin, der von einem religionssoziologisch erforschten „Sündenbockmechanismus“ sprach. Mit dessen Hilfe überstehe ein Kollektiv eine Krise, indem ein Opfer designiert werde, dem die Schuld für die Krise zugeschrieben werde. Das Opfer müsse dabei eine Ausnahmefigur sein, weshalb sich vor allem der König als Ausnahmefigur schlechthin anbiete. Erst die Tötung des Opfers überwinde die Krise und stelle den Normalzustand wieder her.2 Michaelis und Sombart beriefen sich in ihrer Argumentation auf eine einschlägige religions- und kulturwissenschaftliche Forschung über den sakralen Königsmord.3 Tatsächlich war der rituelle Königsmord seit dem Erscheinen von James Frazers The Golden Bough ein Modethema von Ethnologie und Religionswissenschaft, und selbst Freud bezog sich in seiner Theorie vom Urvatermord auf die Königstodtradition älterer Kulturen.4 Den verschiedenen Funden zum rituellen Königsmord war dabei die Vorstellung gemeinsam, daß es in vorschriftlicher Zeit eine übliche Praxis gewesen sei, den König nach Ablauf einer bestimmten Frist oder in politischen Krisen1 Michaelis, S. 699. Michaelis wies in diesem Zusammenhang auf die Arbeiten Leopold Zieglers hin: vgl. Ziegler, Überlieferung, S. 80–102. 2 Vgl. Sombart, Wilhelm II., S. 206–210. Sombart bezog sich auf René Girards Studie über Das Heilige und die Gewalt: Girard. Sombart vertritt die Auffassung, daß die dem Kaiser aufgezwungene Flucht ins Exil ein viel größeres und persönlich schlimmeres Opfer für Wilhelm II. gewesen sei als der physische Tod, weil das Exil seinen sozialen Tod herbeigeführt habe: vgl. Sombart, Wilhelm II., S. 219–223. 3 Vgl. zur zeitgenössischen Forschungsdiskussion über den rituellen Königsmord Kohl, S. 63–73 und Spöttel, S. 292–298. 4 Frazer, S. 1–3; Freud, Totem und Tabu, S. 171–174. Vgl. Kohl, S. 63–66.
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H. Exil
zeiten zu töten und durch einen Nachfolger zu ersetzen. Auf diese Weise sollte verhindert werden, daß ein schwacher König den Niedergang des ganzen Königtums herbeiführen würde.5 Zu den Pionieren auf diesem Forschungsgebiet gehörte auch der Ethnologe Leo Frobenius, der mit Wilhelm II. in den 1920er und 1930er Jahren intensiven freundschaftlichen Kontakt pflegte. In dem regelmäßigen Austausch spielte Frobenius’ Theorie über das sakrale Königtum eine zentrale Rolle. Frobenius schrieb in seinem Buch Erythräa über den rituellen Königsmord, der sich in Sumer, Indien, Arabien und Afrika nachweisen lasse.6 Das Buch, in dessen Vorwort auch Wilhelm II. dankend erwähnt wurde, war der Ertrag einer Forschungsreise nach Afrika, die Frobenius in den Jahren zwischen 1928 und 1931 unternahm. Während dieser Zeit korrespondierten Wilhelm II. und Frobenius intensiv über Funde und Interpretationen des Ethnologen. Frobenius hielt den rituellen Königsmord für eine Übernahme aus einem religiösen Vorstellungszusammenhang, nach welchem eine Gottheit sich selbst opfere und dann wieder auferstehe, um den Kosmos zu bewahren.7 Der König als Verkörperung der Gottheit übernehme in politischen Krisenzeiten dessen Part und opfere sich selbst, um einem neuen König Platz zu machen. In Sumer und im babylonischen Neujahrsfest habe sich eine bereits abgemilderte Form dieses Rituals erhalten: Der König sei in Sumer lediglich geschlagen und an seiner Stelle ein anderes Opfer getötet worden; in Babylon habe man den König nur noch rituell gedemütigt.8 Wilhelm II. diskutierte die verschiedenen Theorien über den Königstod auf erstaunlich sachlich-wissenschaftliche Weise mit und bezeichnete das Phänomen fasziniert als „ein praehistorisches, altheidnisches Oberammergau“.9 Die naheliegende Parallele zu den Königstodplänen vom November 1918 scheint der Kaiser aber nie vollzogen zu haben. In seinem 1938 als Buch veröffentlichten Vortrag über Das Königtum im alten Mesopotamien 5
Vgl. Kohl, S. 66–72. Frobenius, Erythräa, vor allem S. 221–244. 7 Vgl. Frobenius an Wilhelm II., 23.5.1928: Franzen/Kohl/Recker, Nr. 49, S. 186–192. Frobenius bezog sich auf die grundlegende Forschung von James Frazer über den Dying-and-Rising-God als religionsgeschichtlichem Motiv: vgl. Franzen/Kohl/Recker, S. 46. 8 Vgl. Frobenius an Wilhelm II., 23.5.1928: Franzen/Kohl/Recker, Nr. 49, S. 186–192. Vgl. auch Wilhelm II. an Frobenius, 1.2.1929: Franzen/Kohl/Recker, Nr. 60, S. 217 f.; Frobenius an Wilhelm II., 17.3.–11.4.1929: Franzen/Kohl/Recker, Nr. 62, S. 224–227; Frobenius an Wilhelm II., 20.9.1930: Franzen/Kohl/Recker, Nr. 89, S. 318. Vgl. zur Königstod-Theorie bei Frobenius auch Spöttel, S. 292–293. 9 Wilhelm II. an Frobenius, 20.–23.5.1929: Franzen/Kohl/Recker, Nr. 66, S. 246. Wilhelm besprach das Thema in erster Linie noch mit dem Alttestamentler Alfred Jeremias, der ihn auf die Parallelen zum Opfertod Christi hinwies: vgl. Franzen/ Kohl/Recker, Nr. 66, S. 246. 6
I. Monarchie
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erwähnte Wilhelm II. den rituellen Königsmord und seine abgeschwächte Variation in Babylon, zog aber keinerlei aktuelle politische Konsequenzen und kritisierte statt dessen die bis in die europäische Neuzeit wirksame „Königsvergottung“ als unchristlich.10 Trotzdem spricht einiges dafür, daß Wilhelm II. in den Geschehnissen bei Kriegsende eine abstrahierte Version des rituellen Königsmordes erkennen wollte. In seinen Memoiren schrieb er über die Gründe für seine Flucht nach Holland: „Ich brachte bewußt meine Person und meinen Thron zum Opfer in der Meinung, dadurch den Interessen meines geliebten Vaterlandes am besten zu dienen. Dieses Opfer ist umsonst gewesen.“11
Lehnte der Kaiser die Herbeiführung des eigenen Todes auch kategorisch ab, so interpretierte er das Exil aber doch als Opfer für das Gemeinwesen. In dieser Perspektive bot ihm Frobenius’ Königsmord-Theorie sowohl eine Enthebung von eigener Verantwortung für Deutschlands Niederlage als auch die Hoffnung auf eine Restitution der Monarchie. Denn wenn man Frobenius folgte, dann war die Absetzung des Königs Teil eines zyklischen Ritus, der unabhängig von persönlicher Schuld schicksalhaft vollzogen wurde und der mit der Wieder- bzw. Neueinsetzung des Königs endete. Entsprechend schrieb Frobenius 1933 in seiner Kulturgeschichte Afrikas: „Die Opferung des Königs hatte die Bedeutung der Zeitabschnitte gliedernden Zäsur. Es war ein Tag des Schreckens, der Umkehrung der Verhältnisse, des Rechts auf Gewalttaten für die Einen, der Pflichten der Erduldung für die Anderen. [. . .] Dem Schrecken und Grauen des Untergangs folgte dann ein jubelhaftes Begehen des Einsetzens eines neuen Herrschers und die Wiederkehr in eherner Zucht sich abspielender Ordnung.“12 Dieses Konzept war aber nicht problemlos auf Wilhelm II. anwendbar, da es erstens um die Einsetzung eines neuen Herrschers ging und da zweitens der Königsmord ja eigentlich den Zweck hatte, ein kraftloses Fortleben des Sakralherrschers zu vermeiden.13 Wilhelms Privatexistenz im Doorner Exil paßte in diese Theorie nicht hinein, aber er scheint das zumindest geahnt zu haben, da er ja selbst davon sprach, sein „Opfer“ sei umsonst gewesen – und nicht Teil einer Revitalisierung der Monarchie. An eine solche Wiederherstellung glaubte Wilhelm II. nach 1918 natürlich trotzdem. Fraglich ist aber, ob der Kaiser wirklich mit Elan an seiner Rückkehr auf den Thron arbeitete oder nicht. Gerade der Briefwechsel mit Frobenius deutet eher auf letzteres hin. Frobenius jedenfalls hatte Wilhelm im Januar 1928 10
Wilhelm II., Das Königtum im alten Mesopotamien, S. 7–12 und S. 24. Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten, S. 245. 12 Frobenius, Kulturgeschichte Afrikas, 33. Vgl. dazu auch Franzen/Kohl/Recker, S. 46–49. 13 Vgl. Kohl, S. 77–78; vgl. Franzen/Kohl/Recker, S. 47. 11
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H. Exil
einen Brief geschrieben, in dem er von einer bevorstehenden geistig-politischen Wende in Deutschland sprach, an der man mit aller Kraft arbeiten müsse.14 Wilhelms Antwort fiel ernüchternd aus: „Sie bezeichnen sich als Säemann und fühlen den Druck der Verantwortung, und darunter leiden sie[!],[!] und möchten herumtoben[,] um die keimende Saat zu schützen! That ich in meiner Jugend früher auch, man nennt das ‚Vorsehung spielen wollen‘. Den Unsinn habe ich schon lange aufgegeben! Ich säe; aber überlasse es unserem Herrgott droben, wie u[.] wann er die Saat aufgehen lassen will, das weiss Er am Besten. Ebenso wie es auf dem Acker auch zugeht; da nutzt es auch nichts, wenn der Gutsherr oder der Inspector um die Feldmark alle Tage herumgaloppieren und schimpfen und wettern über Sonne oder Regen. Die Ernte reift doch trotzdem. Machen Sie es ebenso und üben Sie die Kunst geduldigen Wartens!“15
Aus dieser Antwort sprach nicht gerade großer politischer Tatendrang. Wenn man Wilhelms Adjutanten Sigurd von Ilsemann glaubt, dann war es allerdings noch fünf Jahre zuvor Frobenius, der den Kaiser zu Geduld in politischen Dingen ermahnen mußte.16 Es ist daher wahrscheinlich, daß Wilhelm II. im Laufe der 1920er Jahre tatsächlich die Hoffnung – und vielleicht auch die Lust – verloren hat, bald auf seinen Thron zurückzukehren. 1923 betonte er jedenfalls, daß es ausschließlich sein Pflichtbewußtsein sei, das ihn an seiner Reinthronisierung arbeiten lasse.17 Es ist aus diesen Gründen fraglich, ob Wilhelm II. wirklich die treibende Kraft bei den – wenigen – konkreten politischen Kontaktaufnahmen18 des Hauses Hohenzollern zu den Rechtsparteien der Weimarer Republik gewe14
Frobenius an Wilhelm II., 5.1.1928: Franzen/Kohl/Recker, Nr. 42, S. 155–157. Wilhelm II. an Frobenius, 10.1.1928: Franzen/Kohl/Recker, Nr. 44, S. 160. 16 Vgl. Ilsemann, Amerongen und Doorn, S. 289–290 und S. 303–304. 17 Vgl. Ilsemann, Amerongen und Doorn, S. 303. 18 Willibald Gutsche hat in einem Aufsatz über die „Monarchische Restaurationsstrategie“ Wilhelms II. im Exil darauf hingewiesen, daß es bis 1926 gar keine konkreten und planmäßigen Sondierungsversuche gegeben hat, weil die Zersplitterung des rechten politischen Lagers jeden Restaurationsversuch aussichtslos gemacht hätte. Erst danach habe es intensivere Kontakte zu der Dachorganisation „Vereinigte Vaterländische Verbände Deutschlands“ gegeben; konkrete Sondierungen unternahm seit 1928 Admiral von Levetzow im Auftrag Wilhelms II., anscheinend aber nur inoffiziell: vgl. Gutsche, Monarchistische Restaurationsstrategie, S. 288–293. Im Falle des Nationalsozialismus hat es zwei direkte Sondierungsgespräche gegeben, die Wilhelm II. im Januar 1931 und im Mai 1932 mit Hermann Göring führte; die Gespräche verliefen in freundlichem Ton, waren jedoch ergebnislos: vgl. Preußen, Gott helfe unserem Vaterland, S. 56–60. Der Generalbevollmächtigte des Hauses Hohenzollern, Wilhelm von Dommes, führte noch 1934 weitere Sondierungsgespräche, teilweise mit Hitler persönlich, bis sie ergebnislos eingestellt wurden: Unterlagen bezüglich des Verhältnisses Hitlers und der NSDAP zur Hohenzollernmonarchie. v. Dommes: GStA BPH Rep. 53 Nr. 167. Als Admiral von Levetzow Ende 1932 in die NSDAP eintrat, stellte Wilhelm II. die finanzielle Unterstützung für ihn ein: vgl. 15
I. Monarchie
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sen ist.19 Die Umgebung Wilhelms II. antizipierte zwar dessen Glauben an seiner Rückkehr, an der man mit aller Kraft arbeiten müsse, aber das läßt nicht unbedingt Rückschlüsse auf die tatsächlichen Ansichten des Kaisers zu.20 Es kommt hinzu, daß Wilhelms grundsätzliche Bemerkungen über mögliche politische Verbündete stets reaktiv, d.h. Antworten auf entsprechende Anfragen waren. Eine kursorische Darstellung der in diesem Zusammenhang getroffenen Äußerungen des Kaisers gewährt aber über das bloß politische Verhältnis des Kaisers zu DNVP und NSDAP hinaus auch Einblicke in seine Weltanschauung im Exil; vor allem das grundsätzliche Verhältnis Wilhelms II. zum Nationalsozialismus ist dabei von politisch-theologischem Interesse. In den 1920er Jahren galt in erster Linie die DNVP als natürlicher Bündnispartner; der Kaiser erteilte aber im August 1928 in einem Briefkonzept diesen an ihn herangetragenen Vorstellungen eine Absage: „Sie [die DNVP] wollten ihre materiellen Interessen durch das demokratische Majoritätsprinzip möglichst mit Erfolg verfechten, schützen und womöglich die Macht erringen. Ihnen war das Deutsche Vaterland absolut Hecuba! Daher der Aufruf zur Bildung einer Partei, die mit den Waffen des Parlamentarismus, mit dem Gottverfluchten Majoritätsprinzip zu fechten beabsichtigte. [. . .] So bleibt uns nur noch eines übrig: Mit ganzer Leidenschaft, mit schärfster Logik, mit klarstem Zielbewußtsein Entfachung der großen nationalen Bewegung mit dem Ziel der Wiederherstellung der Monarchie, und uns auf diese Weise ein neues Deutsches Reich unter mir erobern. Und das losgelöst von jeder Partei, Parteipolitik, Parteiorganisation, für das Parlament bestimmt. Also gegen jedweden Parlamentarismus in jedweder Form. Er ist vollkommen westländisch, daher ungermanisch, undeutsch, und fristet nur noch sein innerlich durch und durch verlogenes Dasein. Bis dahin ist – nach der nun einmal stattgefundenen Entwicklung der Dinge – noch ein gewisser parlamentarischer Kampf erforderlich. [. . .] Bis der Tag anbricht, an dem die große, reine, heilige deutsche Bewegung für Kaiser und Reich das gesamte durch und durch verlogene parlamentarische Gebilde in Schutt und Trümmer schlägt und mit seinen ganzen Parteien auch mit der D. N. V. P.! [. . .] Ich lehne es ab, mich auf eine ‚Partei‘ überhaupt zu stützen, sicherlich aber nicht Admiral v. Levetzow an Kaiser Wilhelm II. mit Marginalien Wilhelms, Weimar, den 22.12.1932: GStA BPH Rep. 53 Nr. 168. 19 Das behauptet vor allem Willibald Gutsche, dessen Kernthese in bezug auf das Exil Wilhelms II. lautet, daß der Kaiser nichts anderes im Sinn gehabt habe als die Wiederkehr auf den Thron: vgl. Gutsche, Ein Kaiser im Exil, S. 9–10; vgl. Gutsche, Zur Rolle, S. 621–627. 20 Hans Blüher, der den Kaiser mehrmals in Holland besuchte, berichtet davon, daß der Hofmarschall in Doorn Blüher bei seinem ersten Besuch dringend gebeten habe, dem Kaiser nichts über die Aussichtslosigkeit einer Wiedererrichtung der Monarchie zu sagen, da Wilhelm von dieser Idee lebe. Blüher weist aber auch darauf hin, daß der Kaiser den Glauben an seine Wiedereinsetzung im Laufe der Exilzeit ohne Zweifel verloren habe: vgl. Blüher, Werke und Tage, S. 147–148 und S. 169.
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H. Exil
auf die D. N. V. P., die auf Grund ihrer inneren völligen Unwahrhaftigkeit rettungslos dem Zerfall und dem Untergang entgegentreibt.“21
Die Ablehnung von Parlamentarismus und Mehrheitsprinzip als „undeutsch“ ließ Wilhelm II. also nicht nur die Zusammenarbeit mit der DNVP ablehnen, sondern auch mit jeder anderen Partei. Das gilt letztlich auch für die NSDAP, auch wenn Wilhelms Reden von der „nationalen Bewegung“ und von dem zumindest vorübergehend gebotenen „parlamentarischen Kampf“, der den Parlamentarismus selbst besiegen solle, durchaus Ähnlichkeiten mit der politischen Strategie Hitlers nach 1925 aufweist.22 Entscheidend war für Wilhelm II. aber das Ziel des Kampfes, nämlich die Wiederherstellung der Monarchie. Hierüber ließen Hitler und Göring den Kaiser in den Jahren 1932–1934, als es zu vereinzelten Sondierungsgesprächen zwischen nationalsozialistischer Führung und dem Haus Hohenzollern kam, bewußt im Unklaren.23 Man erkennt das an den Unterlagen des Generalbevollmächtigten des preußischen Königshauses, Wilhelm von Dommes, bezüglich des Verhältnisses der Nationalsozialisten zur Hohenzollernmonarchie. Die Unterlagen verzeichnen zwei persönliche Unterredungen Hitlers mit Dommes zwischen Herbst 1933 und Frühjahr 1934, in denen Hitler sich zustimmend zur Monarchie äußerte, aber darauf verwies, daß die Wiederherstellung erst am Ende blutiger und langwieriger Auseinandersetzungen stehen könne, die die nationalsozialistische Regierung zu führen habe. Der Kaiser müsse dafür Verständnis haben.24 Dommes erklärte laut eigener Aussage im zweiten Gespräch mit Hitler, der Kaiser erkenne ausdrücklich das nationale Anliegen der Nationalsozialisten an.25 Genauso hatte Wilhelm II. bereits Anfang 1933 gegenüber Admiral von Levetzow, dessen finanzielle Förderung der Kaiser wegen seines Eintritts in die NSDAP gestrichen hatte, er stehe trotz aller Differenzen den „nationalen Tendenzen des Nationalsozialismus [. . .] nach wie vor durchaus anerkennend gegenüber“.26 Dieses für die Konservativen der Weimarer Zeit typische Urteil über die nationalsozialistische Bewegung wird besonders 21 Aufzeichnung Wilhelms II. zur Restaurationsstrategie (laut Aktenvermerk über Hofmarschall Graf v. Schmettow an Friedrich Wilhelm v. Loebell gelangt, der vermutlich die im Schreiben erwähnte Bitte geäußert hatte, sich auf die DNVP zu stützen), 26.8.1928: RA Utrecht, Nr. 248 (Fiche 1479). Auch abgedruckt in: Gutsche, Zur Rolle, Dokument 2, S. 629–630. 22 Vgl. stellvertretend für die immense Literatur zu Genese und Strategie der nationalsozialistischen Machtübernahme Broszat, Machtergreifung, vor allem S. 77– 121. 23 Vgl. Clark, Wilhelm II., S. 330–331. 24 Unterlagen bezüglich des Verhältnisses Hitlers und der NSDAP zur Hohenzollernmonarchie. v. Dommes: GStA, BPH Rep. 53 Nr. 167. 25 Unterlagen bezüglich des Verhältnisses Hitlers und der NSDAP zur Hohenzollernmonarchie. v. Dommes: GStA, BPH Rep. 53 Nr. 167,6.
I. Monarchie
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deutlich in einem Brief des Kaisers an den Kronprinzen vom September 1932. Wilhelm II. äußerte sein Unverständnis über Hindenburgs Weigerung, der NSDAP die Regierung anzuvertrauen, da Hindenburg doch kein Problem gehabt habe, der extremen politischen Linken Regierungsverantwortung zu geben. Was die Nationalsozialisten und ihre „nationale Bewegung“ betreffe, habe er selbst allerdings auch seine Bedenken: „Es erfüllt mich mit tiefer Betrübnis und Sorge, mit welcher bodenlosen Gewissenlosigkeit die demagogischen Führer der Nazis dabei sind das in ihrer nationalen Bewegung gesammelte Capital nationaler Energien sinnlos zu verwirthschaften! Es kommt vor Allem darauf an heute mit allen Mitteln die nationale Bewegung zu fördern. Es müssen gerade die auch heute noch in der Nazi-Partei vorhandenen nationalen Kräfte aus einem ganz unverantwortlichen demagogierten Getriebe einiger Führer und Redner heraus gerettet und hinter die nationale Regierung geführt werden. [. . .] Diesem Augenblicksdemagogenthum muss unser Haus eine feste, geschlossene Einheitsfront gegenüberstellen, die sich nach Außen hin klar und unmissverständlich dokumentiert; an sie können dann die eventl. unsicher oder rathlos gewordenen nationalen Elemente aus allen Kreisen alliieren.“27
Damit war die politische Marschrichtung im Verhältnis zum Nationalsozialismus angezeigt: Sein „nationaler Kern“ jenseits des Demagogentums seiner Führer sollte bewahrt und für die politischen Ziele des Hauses Hohenzollern nutzbar gemacht werden. Solange noch Unsicherheit über das wahre Wesen der NSDAP herrschte, wurde sondiert und abgewartet; seit 1934 machte der Kaiser sich keine Illusionen über den antimonarchischen und den verbrecherischen Charakter des nationalsozialistischen Staates. Auslöser hierfür könnte die Röhm-Affäre gewesen sein; jedenfalls notierte Wilhelms Adjutant Ilsemann am 2. Juli 1934: „S. M. sprach mir seine Empörung darüber aus, daß man Röhm, dessen unglückliche Veranlagung seit Jahren bekannt sei, so lange im Amte gelassen, daß man Schleicher und vor allem dessen Frau ohne Aburteilung erschossen, ebenso die sieben S.A.-Führer. Wir lebten in Deutschland also nicht mehr in einem Rechtsstaat und jeder müsse nun darauf vorbereitet sein, daß eines Tages die Nazis bei einem eindrängen und einen einfach über den Haufen schössen. [. . .] Am aufgebrachtesten war er über die Erschießung der Frau von Schleicher. Etwas anderes, als gemeiner Mord, sei dies nicht. [. . .] Wie oft hat der Kaiser in den letzten Jahren den nachrevolutionären Machthabern vorgeworfen, daß sie Einzelne nicht direkt an die Wand stellten, aber jetzt spricht er von tollen Rechtszuständen, und vom Fehlen der alten preußischen Auffassun26
Admiral v. Levetzow an Kaiser Wilhelm II., 22.12.1932, Antwort im Auftrag Wilhelms II. vom 14.1.1933: GStA, BPH Rep. 53 Nr. 168. 27 Wilhelm II. an Kronprinz Wilhelm, 7.9.1931 (Abschrift): GStA, BPH Rep. 53 Nr. 176.
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H. Exil
gen und Grundsätze.“28 Dieselbe moralische Entrüstung über die Verbrechen der Nationalsozialisten ist bei Wilhelm II. dann im November 1938 nach den landesweiten Judenverfolgungen zu beobachten. Seinem Doorner Gefolge erklärte er: „Es ist ja eine Schande, was da jetzt zu Hause vor sich geht. Jetzt wird es höchste Zeit, daß die Armee eingreift, viel hat sie sich gefallen lassen, dies darf sie unter keinen Umständen mitmachen, da müssen die alten Offiziere und alle anständigen Deutschen protestieren. Aber alle sahen dieses Morden und Brennen – und rührten keinen Finger. Bisher war das ganze Nazitum der versteckte Bolschewismus, jetzt aber ist es der offene geworden. Länder müßten ihre Gesandten und Vertretungen abberufen, dann würden die Nazis schon klein beigeben. Auch die Auslandsdeutschen müssen sich jetzt von allen Naziverpflichtungen frei machen, dann werden die in Deutschland folgen.“29
Als sein Sohn August Wilhelm die Pogrome billigte, herrschte Wilhelm II. ihn an und belehrte ihn, „daß jeder anständige Mensch dieses Vorgehen als Gangstertum bezeichne“.30 Entsprechend äußerte Wilhelm sich auch gegenüber Queen Mary.31 Damit war eine Trennlinie zwischen den Anschauungen Wilhelms II. und denen der Nationalsozialisten markiert, die nicht zu überwinden war.
II. Kulturkritik Der Austausch über den rituellen Königsmord und die damit verbundenen Hoffnungen auf eine Wiederherstellung der Monarchie machen nur einen Teil der Bedeutung aus, die Frobenius für Wilhelm II. im Exil gewann. Die beiden kannten sich seit 1912, traten aber erst 1923 in ein näheres Verhältnis, nachdem Frobenius in Doorn einen Vortrag gehalten hatte. Ab Sommer 1927 nahmen diese Besuche die Form von Tagungen an, die unter Beteiligung renommierter Fachwissenschaftler bis 1938 stattfanden. Zuerst „Door28 Ilsemann, Monarchie und Nationalsozialismus, 2.7.1938, S. 264–265. Hans Blüher schrieb in seiner Autobiographie, daß Wilhelm II. die Verhältnisse in Deutschland auch am 30.6.1934 bereits als „den schönsten Bolschewismus“ bezeichnet habe. Außerdem habe Blüher die berühmte „Marburger Rede“ nach Holland mitgebracht; ein Dokument des konservativ-revolutionären Widerstandes gegen das NS-Regime. Vizekanzler Papen hatte die Rede vor dem Marburger Universitätsbund gehalten, geschrieben hatte sie aber Edgar Julius Jung, der am 1.7.1934 von SS-Wachen ermordet wurde. In der Rede wurde das Ein-Parteien-System kritisiert, das Recht der Konservativen Revolution behauptet und die Schaffung einer europäischen „Ghibellinen-Partei“ gefordert. Vgl. Blüher, Werke und Tage, S. 169; vgl. Mohler/Weißmann, S. 202–203. 29 Ilsemann, Monarchie und Nationalsozialismus, 14.11.1938, S. 313. 30 Ilsemann, Monarchie und Nationalsozialismus, 24.11.1938, S. 314. 31 Vgl. Röhl, Abgrund, S. 1321.
II. Kulturkritik
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ner Akademie“ genannt, war der Name ab 1932 „Doorner-Arbeits-Gemeinschaft“ (DAG) .32 In diesen Tagungen ging es vor allem um kultur- und religionsgeschichtliche Fragen, und auch Wilhelm II. selbst hielt in diesem Rahmen eigene Vorträge. Die Themen hatten zwar meistens auch mittelbar politische Bedeutung – wenn es etwa über das Königtum in der Geschichte ging –, aber der Charakter der Tagungen war in erster Linie ein wissenschaftlicher.33 Das Interesse Wilhelms II. an den in der DAG verhandelten Fragen erklärt sich aus zwei Motiven. Das eine ist die Leidenschaft des Kaisers für Archäologie, deren Ausgangspunkt der Fund eines Gorgo-Tempels auf Korfu war, als Wilhelm sich 1911 dort aufhielt.34 Die wissenschaftliche Leitung der Ausgrabungen übernahm der Archäologe Wilhelm Dörpfeld, der gemeinsam mit Wilhelm II. die These entwickelte, daß es sich um eine vorgriechische, phönikisch-arabische Gorgo handele, und daß hier ein Indiz für eine Verbindung von östlich-orientalischer und westlich-antiker Kultur vorliege.35 Dahinter stand Wilhelms generelle Suche nach archäologischen Beweisen für eine kulturelle „Brücke“36 von Ost nach West. Damit hängt auch das zweite Motiv für Wilhelms Förderung der DAG zusammen: die Faszination für Frobenius’ Kulturtheorie. Die lernte der Kaiser 1923 kennen, als Frobenius seinen ersten Vortrag in Doorn hielt. Wilhelm war vollkommen begeistert; gegenüber seinem Adjutanten erklärte er: 32
Vgl. dazu Wilderotter, Zur politischen Mythologie, vor allem S. 132–133; vgl. Franzen/Kohl/Recker, S. 28–32. 33 Dafür spricht etwa der Hinweis Franzens darauf, daß nur wenig von den DAG-Vorträgen nach außen drangen und es eher um Selbstvergewisserung und um Pflege des archäologischen Interesses Wilhelms II. ging (vgl. Franzen/Kohl/Recker, S. 28–29). Franzen widerspricht damit Wilderotter, der meint, es habe sich im Grunde bloß um pseudowissenschaftliche Monarchiepropaganda gehandelt: vgl. Wilderotter, Zur politischen Mythologie, S. 133. Franzens Interpretation wird von dem Iranisten und süddeutschen Demokraten Herman Lommel bestätigt, der von Frobenius zu den Doorner Sitzungen mitgenommen wurde und seit 1927 selbst Mitglied der DAG war, über die er in einem Brief urteilte: „Ich habe geglaubt, ich käme in ein lebendiges Museum. Ich kam in ein Reich der Freiheit.“ (zit. nach Stribny, S. 255.) 34 Vgl. Wilhelm II., Erinnerungen an Korfu, S. 78–97 und S. 143–144; vgl. Franzen/Kohl/Recker, S. 27. 35 Vgl. Wilhelm II., Erinnerungen an Korfu, S. 97–121. Vgl. dazu auch Franzen/ Kohl/Recker, S. 26–27, der in bezug auf das Exil von einer Trias von Wilhelm bevorzugter Wissenschaftler spricht: Dörpfeld, Frobenius und der Alttestamentler Alfred Jeremias. Zu Dörpfeld vgl. Ilsemann, Amerongen und Doorn, S. 95–103 sowie den Brief Wilhelms II. an Dörpfeld vom Dezember 1923: GStA, BPH Rep. 53 Nr. 118. Zu Jeremias’ Einfluß auf den Kaiser siehe Kapitel H. III. 36 Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten, S. 168; Wilhelm II., Erinnerungen an Korfu, S. 143.
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H. Exil
„Ich bin wie erlöst! Endlich weiß ich, welche Zukunft wir Deutschen haben, wozu wir noch berufen sind! Die ganzen Jahre nach der Revolution habe ich darüber gegrübelt, jetzt endlich weiß ich es: wir werden Führer des Orients gegen den Okzident! Mein Bild ‚Völker Europas‘ muß ich jetzt ändern. Wir gehören ja auf die andere Seite!“37
Frobenius ging von der Existenz zweier antagonistischer Kulturtypen aus, die er nach afrikanischen Vorbildern „Äthiopen“ und „Hamiten“ nannte. Die „tellurisch-äthiopisch-patriarchale Kultur“ sei dabei durch Ausrichtung auf Ackerbau, Männlichkeit, Mystik und Idealismus geprägt, während die „chthonisch-hamitisch-matriarchalische“ eine Jagd- und Stadtkultur sei, die zu Weiblichkeit, Materialismus und Rationalismus neige.38 Gelegentlich erklärte Frobenius, daß es sich nicht um real existierende Kulturen handele, sondern um Idealtypen, aus denen beiden jede konkrete Kultur letztlich zusammengesetzt sei.39 In der Praxis neigte Frobenius aber dazu, gegen diese harmonisierende Interpretation von tatsächlich geschlossenen und gegeneinander abgegrenzten Kulturkreisen auszugehen, die keine Durchmischungen duldeten.40 Damit wandte sich Frobenius gegen die gängigen Entwicklungstheorien, die verschiedene Stufen annahmen, die jede Kultur irgendwann durchlaufe.41 Was diese Theorie und den mit ihr verknüpften Forschungszweig der „Kulturmorphologie“ für den Kaiser so interessant machte, war der Bezug zur Gegenwart. Frobenius nämlich zählte Westeuropa, insbesondere Frankreich und England, zur hamitischen Kultur, während Deutschland äthiopisch sei. Das Eindringen französischen und angelsächsischen Geistes habe aber das Wesen der Deutschen verzerrt und entstellt.42 Wilhelm II. nahm diese Überlegung nicht nur begeistert auf, sondern propagierte sie auch in der Öf37
Ilsemann, Amerongen und Doorn, 7.10.1923, S. 287. Frobenius, Das unbekannte Afrika, S. 91 und 109–110. Vgl. auch Frobenius, Kulturgeschichte, S. 190–242. Vgl. zu Frobenius’ Kulturtheorie außerdem Franzen/ Kohl/Recker, S. 38–41 und Spöttel, S. 289–291. Entsprechende Theorien kursierten in dieser Zeit mehrfach; ein Bezug besteht möglicherweise zu den Überlegungen des Schweizer Rechtshistorikers Johann Jakob Bachofen (1815–1887) über matriarchale und patriarchale Kulturformen: vgl. Bachofen, Das Mutterrecht. 39 Vgl. Frobenius, Das unbekannte Afrika, S. 78. 40 Vgl. Frobenius an Wilhelm II., 16.1.1927: Franzen/Kohl/Recker, Nr. 23, sowie Frobenius an Wilhelm II., 5.1.1928: Franzen/Kohl/Recker, Nr. 42. Hier sprach Frobenius zwar einerseits von „Rationalismus und Materialismus“ als „Erzieher“ und „Zuchtruten“ für deutsche Kultur und Wissenschaft, meinte aber auch andererseits, das deutsche Volk sei „durch die ihm fremdartigen Einstellungen realistischer und rationistischer[!] und materialistischer Natur verzerrt worden“ (Franzen/Kohl/Rekker, Nr. 42, S. 155–156). 41 Vgl. dazu Spöttel, S. 289–290. 42 Vgl. dazu Franzen/Kohl/Recker, S. 39–41. Die These vom fatalen Eindringen „westlichen“ Geistes in die deutsche Kultur nahm Wilhelm auch in dem Buch über 38
II. Kulturkritik
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fentlichkeit. Dazu entwarf er Anfang 1927 in Zusammenarbeit mit Frobenius ein Interview über Die Archäologie und Kulturmorphologie als Wegweiser der Zukunft, das in den USA veröffentlicht werden sollte.43 Wilhelm benutzte nicht Frobenius’ esoterische Begrifflichkeit zur Kennzeichnung der Kulturtypen, sondern unterschied „weibliche“ – formende, erhaltende, bildende, unkriegerische – von „männlichen – primitiven, schöpferischen, stürmenden, kriegerischen – Kulturen. Historisch entstandene Beeinflussungen der einen durch die andere Kulturgruppe seien schädlich, echter Austausch nur innerhalb der „Kulturkreise“ möglich: „So sind z. B. die Germanen Zugehörige eines ‚Kontinentalen Kulturkreises‘, der Deutsche, Holländer, Skandinavier, Finnen, Russen, Ungarn, Bulgaren und Türken umfasst. Die Deutschen sind also so zu sagen ‚das gegen den Westen gerichtete westliche Antlitz des Morgenlandes‘, sie sind ‚Morgenländer‘, gehören zum ‚Morgenländischen Kulturkreis‘. England, Frankreich, die Mittelmeerländer gehören zum ‚Abendländischen Kulturkreis‘. Der erstere ist der ‚Männliche‘, der zweite der ‚Weibliche Kulturkreis‘.“
In einer in Deutschland veröffentlichten Übersetzung hieß es zum Schluß noch einmal verdeutlichend: „Ost bleibt Ost, und West bleibt West. Nie sollen die beiden einander nachahmen, es sei denn mit unseligen Folgen.“44 Diese Gegenüberstellung und der Hinweis auf ein inneres Gesetz des Kulturkreises, das durch fremden Einfluß verletzt werde, halfen dem Kaiser, eine Erklärung für die Niederlage Deutschlands 1918 zu finden. Die Vorstellung, daß Deutschland grundlegend von Westeuropa getrennt sei, war bereits in den auch von Wilhelm vertretenen „Ideen von 1914“45 zum Tragen gekommen. Der Hinweis auf das Einsickern westlichen Geistes unter Friedrich dem Großen und in der gescheiterten Revolution von 1848 lieferte dazu eine Erklärung für die Kriegsniederlage, die den Kaiser von persönlicher Verantwortung freisprach. Die in Aussicht gestellte „Kulturwende“46, in der Deutschland sich von hamitisch-materialistischem Einfluß befreien werde, war aber noch wichtiger für Wilhelm, weil sie ein optimistisches Zukunftsszenario bot. Die Wichtigkeit einer hoffnungsvollen Aussicht für seine Vorfahren auf und bezog sich dabei in erster Linie auf Friedrich den Großen: vgl. Wilhelm II., Meine Vorfahren, S. 102–124. 43 Entwurf Wilhelms II. vom Dezember 1926: Franzen/Kohl/Recker, Nr. 22a. Korrekturen von Frobenius (16.1.1927) und Bestätigung der Einarbeitung (19.1. 1927): Franzen/Kohl/Recker, Nr. 23 und 24. Eine höchstwahrscheinlich überarbeitete, weil auf den 18.1.1927 datierte Fassung des Interviews befindet sich in GStA, BPH Rep. 53 Nr. 163. Aus dieser Version wird im folgenden zitiert. 44 Das Geschlecht der Völker. Von Kaiser Wilhelm II. (Übersetzung aus ‚Century Magazine‘. Aus der Zeitschrift: ‚Der Aufrechte‘), Bl. 4: RA Utrecht, Nr. 255 (Fiche 1513). 45 Siehe Kapitel G. II. 46 Spöttel, S. 291.
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die psychische Disposition des Kaisers wird bereits in den Erlöstheitsgefühlen deutlich, die dem ersten Frobenius-Vortrag von 1923 gefolgt waren – die eben auch ein Indikator für die Identitätskrise waren, die durch den mit dem Krieg verbundenen Ausschluß aus dem „Abendländischen Kulturkreis“ ausgelöst worden war. Wilhelm schenkte Frobenius 1923 ein Porträt, auf dessen Rückseite er schrieb: „Hiddek, das Abendland kann untergehen, nicht aber die Deutschen! Denn sie gehören nicht dazu, sie sind das Gesicht des Ostens gegen den Westen.“47 Die Anspielung auf den „Untergang des Abendlandes“48 ist nicht zufällig. Frobenius hatte eine Weile mit Oswald Spengler zusammengearbeitet, hatte sich aber mit ihm überworfen.49 In einem Brief an Wilhelm II. behauptete Frobenius 1927 sogar, Spengler haben „den leider in Vielem schwer verfehlten ‚Untergang des Abendlandes‘ “ „auf Basis meiner Lehre“ geschrieben.50 Frobenius kritisierte ausdrücklich den „Zersetzungscynismus“51 Spenglers, also den Pessimismus und Fatalismus seiner Lehre vom unabwendbaren Übergang abendländischer Kultur in die erstarrte Form der „Zivilisation“.52 Das war aus Sicht von Frobenius und Wilhelm nicht hinnehmbar. Der Kaiser selbst äußerte 1928 in einem Brief an Frobenius: „Spengler macht leider nach und nach unsere Geistlichen verrückt, die sogar von der Kanzel den ‚Untergang des Abendlandes, nämlich Deutschlands‘ besprechen! Ich nahm Gelegenheit durch Gespräch diesen Unsinn zu corrigiren auf Grund Ihres Materials. Das Resultat war vorläufig: Fassungslosigkeit, dass wir Morgenländer und keine Abendländer seien. Ich arbeite nach! Man will eben doch zu gerne ‚West-Europäer‘ sein!“53 47 Ilsemann, Amerongen und Doorn, 7.10.1923, S. 287. Ilsemann wies besonders auf diesen Aspekt hin, wenn er notierte: „Wohl am meisten interessierte S. M. die Folgerung von Frobenius, daß alle Westmächte, vor allem England, Amerika und Frankreich, kulturell auf dem absteigenden Aste sind und infolgedessen untergehen werden. Hingegen prophezeite er Rußland und Deutschland eine große Zukunft.“ (Ilsemann, Amerongen und Doorn, 7.10.1923, S. 288) Was „Hiddek“ betrifft, so handelt es sich um ein während des Ersten Weltkrieges anscheinend verbreitetes Akronym, das Wilhelm und Frobenius als eine Art Parole benutzten. Franzen vermutet, daß es sich um eine Abkürzung handelt, deren Auflösung lautet: „Hauptsache ist, daß die Engländer Keile kriegen“: Franzen/Kohl/Recker, Nr. 2, Anm. 17, S. 83–84. Daß die Auflösung im konkreten Fall nicht aufgeht, könnte daran liegen, daß Ilsemann die genaue Bedeutung der Abkürzung nicht kannte und sie deshalb falsch wiedergab. 48 Spengler, Untergang I und II. 49 Vgl. Franzen/Kohl/Recker, S. 32–33. 50 Frobenius an Wilhelm II., 16.3.1927: Franzen/Kohl/Recker, Nr. 27, S. 121. 51 Frobenius an Wilhelm II., 6.9.1931: Franzen/Kohl/Recker, Nr. 120, S. 398. 52 Spengler, Untergang I, S. 42–49. Vgl. dazu auch Mohler/Weißmann, S. 68–69. 53 Wilhelm II. an Frobenius, 10.1.1928: Franzen/Kohl/Recker, Nr. 44, S. 159.
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Als Konsequenz hatte Wilhelm II. selbst zugegeben, daß sein außenpolitisches Konzept einer gesamteuropäischen Friedensordnung, wie er es zu Regierungszeiten vertreten hatte, von falschen Voraussetzungen ausgegangen sei.54 So etwas wie eine Synthese aus seinem alten und neuen politischen Weltbild bot Wilhelm dann in seinem 1931 vor der DAG gehaltenen Vortrag über Das Wesen der Kultur. Spengler, so der Kaiser, habe irrtümlich angenommen, daß die neue Entwicklungsstufe, in die die europäische Kultur nun eintrete, mit dem „Ende der Kulturgestalt“ verbunden sei: „Was in Wirklichkeit seinen Abschluß findet, ist die Erscheinungswelt der ‚Hohen Kulturen auf der Bahn der Verschiebung der Kulturresidenzen‘. Denn das viel Größere und für uns wahrhaft Eminente steht ja der Menschheit noch bevor.“55
Spenglers Fehleinschätzung resultiere auch daraus, daß er die Bipolarität der Kulturtypen übersehen habe und damit die Trennung Deutschlands von Westeuropa. Zwar habe sich der Westen tatsächlich historisch einmalig vereinseitigt und sei materialistisch, nüchtern und zweckorientiert geworden. Aber mit Deutschlands Hilfe werde bald eine Gegenbewegung eintreten: „ein Wiedererwachen des Bedürfnisses nach Problematik, einen Sehnen nach Eigensinn, nach Blick in die Tiefe des Lebens“. Das werde zu einem neuen Nationalismus führen, der aber nicht wie der alte nur den Volksegoismus kultiviere, sondern in der Besonderheit den Blick auf das Gemeinsame richte: das „Konzertspiel“ und das „europäische Orchester“. Das Gelingen hänge in erster Linie vom deutschen Volk ab.56 Mit diesen Überlegungen hatte Wilhelm II. sein altes Konzept von der Aufgabe Deutschlands, Europa unter seiner Führung zu einen, in das neue kulturmorphologische Programm integriert. Entsprechend ließen die militärischen Erfolge Deutschlands im Zweiten Weltkrieg seine Hoffnungen auf die Errichtung der „U. S. of Europe“57 wieder aufleben. Wie er sich das angesichts der außenpolitischen Motive Hitlers genau vorstellte, ist nicht klar. Möglicherweise erwartete er doch noch so etwas wie eine Wiederherstellung der Monarchie, wenn der Krieg erst einmal siegreich zu Ende gegangen sei. Das Glückwunschtelegramm an Hitler vom 17. Juni 1940, in dem Wilhelm zum Sieg über Frankreich gratulierte, war jedenfalls keine späte Hinwendung zum Nationalsozialismus. Wilhelm war vielmehr von seinem Gefolge darauf aufmerksam gemacht worden, daß Hitler über das kaiserliche Schweigen ungehalten sei, und schickte deshalb die Nachricht, daß er 54 Ilsemann, Amerongen und Doorn, 7.10.1923, S. 287. Siehe zum außenpolitischen Konzept Wilhelms II. Kapitel F. III.–G. I. 55 Wilhelm II., Das Wesen der Kultur, S. 13–14. 56 Wilhelm II., Das Wesen der Kultur, S. 26–31. 57 Wilhelm II. an Alfred Niemann, 24.12.1940: RA Utrecht, Nr. 53. Auch abgedruckt in Gutsche, Illusionen, Dokument 5, S. 1032–1034.
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den „von Gott geschenkten gewaltigen Sieg“ für eine „Wendung durch Gottes Fügung“ halte – nicht für eine Leistung des „Führers“.58
III. Predigten und theologische Überlegungen John Röhl hat aus den Sondierungen des Hauses Hohenzollern mit den Nationalsozialisten und aus dem Glückwunschtelegramm von 1940 auf eine weltanschauliche Nähe Wilhelms II. zum Nationalsozialismus geschlossen. Vor allem die Judenfeindschaft als „Kernelement“ der Weltanschauung des Kaisers mache ihn zum „Vorbote[n] Hitlers“.59 Für die politisch relevante Regierungszeit ist dagegen bereits gezeigt worden, daß Wilhelm II. privat einen reaktiven Antisemitismus pflegte, in seinem politischen Reden und Handeln aber eher pro- als antisemitisch agierte.60 Das einzige, was sich daran im Exil änderte, war die Heftigkeit privater antisemitischer Ausbrüche. So sprach er etwa davon, die Juden nach seiner Rückkehr auf den Thron des Landes zu verweisen, zumindest aber nicht in Staatspositionen zu dulden.61 Berüchtigt ist außerdem der Ausspruch des Kaisers gegenüber seinem Jugendfreund Poultney Bigelow in bezug auf eine zu erstrebende Zerstörung von Presse und Judentum, „das Beste wäre wohl Gas“.62 Wie wenig es sich dabei aber um echte weltanschauliche Überzeugungen, sondern vielmehr um Augenblickserregungen handelte, wird bereits deutlich anhand der moralischen Empörung über das Vorgehen der Nationalsozialisten in den Judenpogromen vom November 1938.63 Es liegt deshalb nahe, daß die Doorner Ausbrüche gegen Juden nichts mit nationalsozialistischem Rassenantisemitismus zu tun haben. Wahrscheinlicher ist, daß sie, wie die entsprechenden Ausfälle gegen Freimaurer, Demokraten, Katholiken, Fran58
Telegramm Wilhelms II. an Adolf Hitler, 17.6.1940: Ilsemann, Monarchie und Nationalsozialismus, S. 345. Die Interpretation folgt Clark, Wilhelm II., S. 332 und Straub, S. 341–342, die den Inhalt des Telegramms analysieren und wendet sich damit gegen Röhl, Abgrund, S. 1321, der allein die Tatsache des Telegramms ins Feld führt. 59 Röhl, Aufbau, S. 165; Röhl, Wilhelm II. und der deutsche Antisemitismus, S. 254; Röhl, Abgrund, S. 1289–1321. 60 Siehe dazu Kapitel D. VI. 61 Vgl. dazu Röhl, Abgrund, S. 1291–1295. Röhl erblickt hierin einen Beleg für seine These vom Rassenantisemitismus als einem Kernelement der Weltanschauung Wilhelms II., nimmt allerdings seiner These entgegenstehendes Belegmaterial nicht zur Kenntnis oder spielt es in seiner Bedeutung herunter. 62 Kaiser Wilhelm II. an Poultney Bigelow, 15.8.1927, Nachlaß Bigelow, New York Public Library, zit. nach Röhl, Wilhelm II. und der deutsche Antisemitismus, S. 283. Dort auch eine Zusammenstellung weiterer antijüdischer Äußerungen des Kaisers aus der Exilzeit: vgl. Röhl, Wilhelm II. und der deutsche Antisemitismus, S. 278–285. 63 Siehe dazu Kapitel H. I.
III. Predigten und theologische Überlegungen
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zosen, Engländer und Polen, auf den „extrapunitiven Charakter“ Wilhelms II. zurückgehen.64 Der Kaiser neigte dazu, die Schuld am Scheitern seiner politischen Pläne und an der Niederlage Deutschlands bei anderen zu suchen. Die Juden waren da nur eine Zielgruppe unter anderen, boten sich aus Sicht Wilhelms aber in besonderer Weise an. Das hing einmal mit der verbreiteten Gleichsetzung von Judentum und Materialismus zusammen, die Wilhelm II. bereits aus den Schriften Chamberlains vertraut war.65 Im Exil wurde diese Überzeugung noch gestärkt durch den Kontakt mit dem aus der Jugendbewegung kommenden Schriftsteller Hans Blüher. Blüher besuchte Wilhelm mehrmals in den 1920er und 1930er Jahren, um sich mit ihm über religiöse und philosophisch-politische Fragen zu unterhalten. Den stärksten Eindruck machte dabei Blühers Schrift Secessio Judaica auf den Kaiser.66 Darin unterschied Blüher den „deutschen“ und den „jüdischen“ Geist scharf voneinander: „Es gibt befreundete Ideen der Geschichte: so ist das Deutschtum befreundet mit der Idee Hellas und befreundet mit dem Christentum, so wie es befreundet war mit der italienischen Renaissance. Es ist aber befeindet mit dem Papismus und befeindet mit dem Judentum.“67 Das Judentum verbinde sich historisch zwar mit anderen Völkern, löse sich aber nach einiger Zeit wieder von seinen „Gastvölkern“68 ab, die durch den jüdischen Weg zerstört würden, wenn sie ihm folgten. Der „jüdische Geist“69 sei in der Gegenwart in erster Linie der Materialismus, der sich politisch „inkonsequent im Liberalismus, konsequent im Sozialismus“70 äußere. Wilhelms eigene Äußerungen zeigen außerdem, daß seine Judenfeindschaft religiös begründet war. Grundlage dieser Feindschaft war Wilhelms bereits zu Regierungszeiten geführter Kampf im Namen von Christentum und Monarchie gegen Rationalismus und Republikanismus. Diese Grundlage bildete sich in den „Ideen von 1914“ fort, in der auch der Kaiser die Vorstellung vertreten hatte, die deutsche Kultur gegen die dekadente westliche Zivilisation zu verteidigen. Die im Exil erhebliche Intensivierung der Beschäftigung mit theologischen und religiösen Fragen verstärkte offenbar 64
Vgl. Clark, Wilhelm II., 328–330. Siehe dazu Kapitel C. III. und E. III. 66 Vgl. Blüher, Werke und Tage, S. 164–169, wonach Wilhelm II. ganze Passagen der Schrift auswendig kannte und sie in seinem Bekanntenkreis verbreiten ließ. Siehe auch die Gewohnheit Wilhelms II. in den 1930er Jahren, Briefe über die Judenfrage mit der Zusendung der Secessio Judaica zu beantworten: RA Utrecht, Nr. 263 (Fiche 1554). 67 Blüher, Secessio Judaica, S. 16. 68 Blüher, Secessio Judaica, S. 21. 69 Blüher, Secessio Judaica, S. 37. 70 Blüher, Secessio Judaica, S. 35. 65
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seinen Eindruck, es handle sich beim Judentum um etwas, das in unversöhnlichem Gegensatz zu den eigenen Glaubensüberzeugungen stehe. Damit war für Wilhelms Weltanschauung keine qualitative Änderung verbunden; er hatte im Judentum nur einen Namen und eine gemeinsame geistige Wurzel für das gefunden, was er immer schon bekämpft hatte. Das dabei herrschende Ineinander von politischen und theologischen Erwägungen zeigt ein Brief Wilhelms II. an Blüher vom August 1929: „Bruderliebe ist Christenart, allgem. Menschen- u. Nächstenliebe Jüdisch. Mein Bruder ist, wer mit [!] freiwillig sich verbindet um gemeinsam mit mir Opfer zu bringen zum Wohl und Heil unseres Volkes unseres Königthums, unseres Staates! Genosse ist, wer mit mir das von anderen geraubte Verdienst u. Gut, das ihnen von rechts wegen gehörte, zum eigenen Genuss verbraucht. Jehuda! Es spricht von Nächstenliebe, Brüderlichkeit der sog. ‚Menschheit‘ auf Erden, u. stiehlt dem anderen ‚Nächsten‘ dem nicht-Jehuda alles fort! [. . .] Der ‚Fürst dieser Welt‘ ist der Weltsinn, der Erdensinn, der trotz göttl. Gebote zur Herrschaft über die Menschen über Jehuda kam, wo er das Symbol für den Gewinn irdischer Güter, irdischer Macht, Weltherrschaft wurde, u. nur einen ‚planetarischen Messias‘ zulässt. Die Personifizierung dieser Weltherrschaft ist Jahwe! Er ist himmelweit verschieden von dem Begriff ‚Gott-Vater‘, den Christus uns auf Gottes Befehl überbracht hat, auf dass wir seine Kinder würden! Unser Vater! Gott-Vater und Gott-Sohn, der Erlöser, stehen Jahwe gegenüber, er bekämpft sie hienieden auf Schritt und Tritt. Er der ‚Fürst dieser Welt‘ wird als Symbol des Bösen betrachtet, das Satan genannt wird. Ergo ist letzten Endes Jahwe = Satan zu setzen. [. . .] Jahwe und Gott haben nichts für uns Christen miteinander gemein. Es war Jahwe, der Fürst dieser Welt, der Verbannung, der durch Jehuda seinen Feind den Sohn Gottes ans Kreuz schlagen liess. Damit ist ihm Jehuda ein für alle Mal verfallen, u. bleibt Christi u. seiner Gläubigen Feind!! Die Lüge contra Wahrheit! Wir stehen auf letzterer und streiten für sie! So helfe uns Gott! Ein feste Burg!“71
Wilhelm setzt in diesem Brief bei einer Unterscheidung zwischen Judentum und Christentum in ethischer Hinsicht ein: „Bruderliebe“ vs. „Menschen- u. Nächstenliebe“. Diese Unterscheidung entwickelt er in ethischpolitischer Hinsicht weiter: Orientierung an Volk und Königtum bei den Christen, widerrechtliches Streben nach Weltherrschaft im Namen eines allgemeinen Menschheitsbegriffs bei den Juden. An diesem Punkt schlägt Wilhelms Argumentation dann ins Religiöse um: Die von den Juden ange71 Kaiser Wilhelm II. an Hans Blüher vom 29.8.1929. GStA, BPH Rep. 53 Nr. 352, S. 4–5. Eine ganz ähnliche geistige Welt hatte Wilhelm II. in zwei Briefen an Alwina Gräfin von der Goltz im Sommer 1940 offenbart: Satan und Antichrist würden vom jüdisch-englisch-freimaurerischen Internationalismus unterstützt, um Kirche, Christentum und Deutschland zu zerstören. (Kaiser Wilhelm II. an Alwina Gräfin von der Goltz, 28.7.1940 und 7.8.1940: RA Utrecht, Nr. 263 (Fiche 1556). Auch abgedruckt in Gutsche, Illusionen, Dokumente 3 und 4.
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strebte Weltherrschaft impliziere einen „planetarischen Messias“ und personifiziere sich in Jahwe; der wiederum sei damit „Fürst dieser Welt“; also genau das, was die christliche Tradition unter Satan verstehe. Die christliche Vorstellung von Gott als Vater, als Sohn und Erlöser sei dem diametral entgegengesetzt. Die hier auf die Spitze eines Gegensatzes getriebene Unterscheidung zwischen dem Gott des Alten und dem des Neuen Testaments gehörte im Exil neben der Christologie zu den theologischen Lieblingsthemen Wilhelms II. Von sämtlichen durch das Herrscheramt bedingten Alltagszwängen befreit, führte er von Doorn aus eine ausführliche theologische Korrespondenz. Seine Gesprächspartner waren dabei erstaunlich heterogen und reichten von Fachtheologen wie Alfred Jeremias über evangelische Pfarrer, Deutschchristen wie Blüher und Katholiken wie dem Abt von Maria Laach bis hin zu Indifferenten wie Frobenius.72 Auffällig ist aber nicht nur diese Bandbreite verschiedener Positionen, sondern auch der in allen Fällen freundliche Ton und das teilweise hohe Diskussionsniveau. Gleichsetzungen von Jahwe und Satan bildeten deshalb auch bei Wilhelm die Ausnahme. Für seine tatsächliche Haltung ist eine private Niederschrift von 1923 aufschlußreicher: Das Alte Testament sei zwar keineswegs das Wort Gottes, enthalte es aber: Vom jüdischen Jahwe zum christlichen Gottvater finde schon innerhalb des Alten Testaments eine Entwicklung statt, deren entscheidenden Punkt Deuterojesaja bilde. Der habe in der babylonischen Gefangenschaft die monotheistischen Lehren Zarathustras kennengelernt und im wesentlichen übernommen: „Da war vor allem der ganz neue Gottesbegriff! Der Weltenschöpfer, der Weltenerhalter, der Vater seiner Geschöpfe, also auch aller Menschen, seiner Menschenkinder, nicht nur eines Volkes. [. . .] Er [Deuterojesaja] und seine Schüler nahmen ferner aus dem Avesta: die Vergeltung für Gut und Böse in Himmel und Hölle; den von Gott befohlenen Kampf gegen das Böse, Dualismus, Erbsünde, Sündenfall, Auferstehung und das Eingehen der Guten ins Gottesreich.“ Der Messiasglaube bei Deuterojesaja schließlich stehe ebenfalls im Gegensatz zur traditionellen jüdischen Vorstellung und zeige, daß das Alte Testament lediglich eine Be72 Im Exilnachlaß Wilhelms II. im Reichsarchiv Utrecht befindet sich die „Korrespondenz bezüglich religiöser Angelegenheiten“ für den Zeitraum 1925–1941. Ein großer Teil der sehr umfangreichen Korrespondenz befaßt sich allerdings nicht mit theologischen Fragen im eigentlichen Sinn, sondern mit der Organisation von Predigten oder mit Glückwunschadressen kirchlicher Einrichtungen. Die Korrespondenz Wilhelms II. mit Alfred Jeremias und mit Leo Frobenius ist allerdings gesondert eingeordnet. Eine ausführliche und systematische Erfassung und Einordnung der Gesprächspartner ist im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten; es ist aber auch wenig sinnvoll, da es im folgenden nur darum geht, die inhaltlichen Schwerpunkte der theologischen Exilüberlegungen Wilhelms II. vorzustellen. (RA Utrecht, Nr. 258– 263, Fiches 1520–1557.)
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deutung habe als „Übermittler der Vorstellungen des Parsismus, die das Urchristentum nachher in sich aufnahm, aber nicht religiöser Vorläufer des Christentums, mit dem es nichts gemein hat. Nach diesen Gesichtspunkten gehend, müßte die neuherauszugebende Bibel mit dem ‚Neuen Testament‘ anfangen. In der zweiten Hälfte wären eine Auswahl der schönsten Psalmen, Sprüche, Propheten aufzunehmen. Auszuscheiden wären alle rein historischen Bücher, die nur Schilderungen der jüdischen Volks- und Sittengeschichte enthalten. Diese gehören in den Geschichtsunterricht, nicht in ein deutsch-protestantisches Religionsbuch!“ Die Person und die Erlösungstat Christi müßten im Zentrum religiöser Unterweisung stehen statt eines verzichtbaren Jammertal-Pessimismus. Der sei Ausdruck „jüdischen Geistes“ und eine „Herabsetzung der Erde, der Schöpfung Gottes“, der allgegenwärtig in der Natur und in den großen menschlichen Taten sei. Das Judentum sei darüber hinaus wesenhaft intolerant, wogegen die Person Christi wahrhaft tolerant sei. „Die drei Hauptsäulen des Christenglaubens, die unanfechtbar dastehen, sind: 1. Für Erlösung von unseren Sünden gestorben! 2. Auferstanden von den Toten. 3. Aufgefahren gen Himmel, Christus, der Sohn Gottes, der Heiland der Menschen, Erlöser der Welt!“73
Wilhelm übernahm hier zunächst eine Denkfigur, die schon den Babel-Bibel-Streit von 1903 beherrscht hatte: Das Alte sei nur insofern als legitimer Vorläufer des Neuen Testaments zu verstehen, als es – gegen die eigene, „jüdisch-partikularistische“ Tendenz – aus der babylonischen Tradition stammende Gedanken aufgenommen habe, an die das Christentum dann wieder angeknüpft habe.74 Wilhelm verortete diese Übernahme nun konkret in der Gestalt Deuterojesajas und nannte auch die Inhalte des aus Babel Übernommenen: Die Vorstellung von Gott als Schöpfer und als Vater aller Menschen, die grundsätzliche und eschatologische Scheidung zwischen Gut und Böse, den Vorstellungskomplex von Sündenfall und Erbsünde sowie den Auferstehungsglauben. Alles eigentlich „Jüdische“ am Alten Testament sei demgegenüber defizitär und dürfe deshalb auch nicht als religiöser Vorläufer des Neuen Testaments verstanden werden; das gelte besonders für die Herabsetzung der Schöpfung durch eine pessimistische Grundhaltung und für die religiöse Intoleranz. Interessanterweise folgerte Wilhelm aus diesem Befund, daß ein neuer Kanon erstellt werden müsse, der mit dem Neuen Testament beginnen und in einem zweiten Teil religiös wertvolle Elemente aus den Psalmen, Sprüchen und Propheten bieten sollte. Diese Umdrehung der Reihenfolge erklärte er nicht weiter; auch dieser Vorschlag erscheint aber als eine Anknüpfung an seine Stellungnahme im Babel-Bibel-Streit, in der er bereits angekündigt hatte, daß das Alte Testament im Laufe seiner historisch-kritischen Erforschung seine Gestalt wesentlich ändern werde.75 Mög73 Niederschriften des Kaisers zu Chamberlains Buch „Mensch und Gott“ vom 12.3.1923, Chamberlain, Briefe II., S. 268–273. 74 Zum Babel-Bibel-Streit siehe Kapitel E. IV. 75 Vgl. dazu und zum Folgenden die Analyse des Hollmann-Briefes und die Diskussion darüber in Kapitel E. IV.
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licherweise hatte er schon damals eine entsprechende Änderung des biblischen Kanons im Auge gehabt, aufgrund real- und kirchenpolitischer Rücksichtnahmen – die im Exil nun keine Rolle mehr spielten – aber auf eine Explikation verzichtet. Für eine starke Parallele zum sogenannten Hollmann-Brief von 1903 spricht jedenfalls auch die Bekenntnisform des Endes der Notizen, das die unbedingt festzuhaltenden religiösen „Tatsachen“ nennt. Inhaltlich lehnte sich Wilhelm hier aber eher an das Bekenntnis an, das Chamberlain in der Diskussion über den Hollmann-Brief als Alternative vorgeschlagen hatte: Wilhelm selbst hatte lediglich auf das Festhalten des Monotheismus verwiesen und auf die Notwendigkeit einer religiösen Form, die aber – mit Blick auf das Alte Testament – nicht in Stein gemeißelt sei. Chamberlain hatte dagegen vorgeschlagen, die Christologie stärker zu berücksichtigen, weil die monotheistische Formel sonst „leer“ und vorstellungslos bleibe. Diese Anregung nahm Wilhelm hier insofern auf, als seine drei Bekenntnispunkte sich alle auf die Christologie bezogen: Unbedingt wichtig seien die Erlösung durch Christi Kreuzestod, seine Auferstehung von den Toten und seine Himmelfahrt; in allem erweise sich Christus als Sohn Gottes, als Heiland und Erlöser. Für die These einer Aufnahme der Babel-Bibel-Diskussion mit Houston Stewart Chamberlain spricht auch, daß es sich bei Wilhelms Niederschrift um Überlegungen anhand der Lektüre von Chamberlains Mensch und Gott handelt. In einem Brief im November 1921 hatte Wilhelm II. das Buch als „Gottesgabe“ und „Erlösung“, ja als eine „Luthertat“ bezeichnet, das „die ersehnte neue Reformation“ bringe.76 In Wirklichkeit nahm der Kaiser die Überlegungen des Buches allerdings äußerst eigenwillig auf. Chamberlain nämlich hatte die Möglichkeit einer neuen Reformation im Sinne einer inneren Reform der Kirchen explizit bestritten.77 Grund dafür sei die wesenhaft dogmatische Verfaßtheit der Kirchen, die völlig im Widerspruch zur Religion Jesu stehe: „eine Religion der reinen Glaubenskraft, und weil rein, darum undogmatisch und antidogmatisch, eine Religion, welche Gott durch das einzige Wort ‚Vater‘ unserem ehrfürchtigen und liebebedürftigen Gemüte nahebringt, eine Religion des gegenwärtigen ‚Gottesreiches‘ – nicht eines unermeßlich fernen, durch ungeheuerlich klaffende Schreckenszeiten von uns Armen geschieden.“78 Chamberlain meinte, daß die wahre Lehre Christi nur verborgen in den Evangelien und noch verborgener in den Kirchentraditionen enthalten sei.79 76 Kaiser Wilhelm II. an H. S. Chamberlain vom 21.11.1921, Chamberlain, Briefe II, S. 260. 77 Vgl. Chamberlain, Mensch und Gott, S. 103. 78 Chamberlain, Mensch und Gott, S. 103. 79 Vgl. Chamberlain, Mensch und Gott, S. 104.
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Er traf sich in dieser Esoterik mit Hans Blüher, der in seiner 1922 veröffentlichten Aristie des Jesus von Nazareth den entscheidenden, aber „verborgene(n) Gehalt des Neuen Testaments“ an Licht bringen wollte.80 Blüher entwarf eine Christologie ganz eigenen Zuschnitts, davon ausgehend, daß der Evangelist Johannes der einzige sei, der Christus verstanden habe.81 In Wirklichkeit nämlich sei Christi Lehre konsequent antiegalitär, aristokratisch, prädestinativ, „die antisozialste Lehre, die es bisher je gegeben hat“.82 Blüher behauptete, die Menschheit teile sich in eine „primäre“ und eine „sekundäre Rasse“ – wobei dies nichts mit der ethnischen Abkunft zu tun hatte – und Christus habe ausschließlich die primäre Rasse im Auge gehabt.83 Mit dem „Menschensohn“ habe Christus letztlich die Heraufkunft einer ganz neuen Spezies verkündet, die evolutiv aus den Angehörigen der primären Rasse entstehe.84 Damit vertrat Blüher im Grunde einen christlichen Nietzscheanismus, der Christus als Verkünder des Übermenschen interpretierte. Die gegenwärtige christliche Theologie dagegen, so Blüher, sei mit ihrer Spekulation über die Gottesfrage lediglich „sekundäre Rassentheologie“.85 Ansonsten teile die Theologie sich in die orthodoxe und die liberale Richtung, wobei die orthodoxe Christus angemessen beurteile, aber die Freiheit der Forschung behindere. Die liberale Theologie erfinde das „Märchen von der Gemeindetheologie“, um Christus als reinen Menschen darzustellen, der nur von Innerlichkeit gepredigt habe.86 Gegen diese Auffassung wiederum richte sich die „konsequente Eschatologie“ von Johannes Weiß und Albert Schweizer, die darlegten, daß Jesu Lehre vom Himmelreich nicht innerlich, sondern konkret äußerlich gemeint gewesen sei. Beide, liberale Theologie wie eschatologische Schule, begingen aber einen „Textmord“, da sie jeweils einen Teil der Christusworte ignorieren oder gewaltsam uminterpretieren müßten: „Das Himmelreich ist ein Reich Ektosentos: es ist ausgespannt vom Innenerlebnis des Sohnes her bis zum äußersten Schöpfungsakt der Natur. Alles, was Christus sagt, ist zugleich eschatologisch und entologisch.“87 Der Vorwurf der gewaltsamen Uminterpretation trifft auf Blüher natürlich ebenso zu; anders wäre eine esoterische Lehre gar nicht denkbar. So unter80
Blüher, Aristie, S. 9. Vgl. Blüher, Aristie, S. 24–27 und S. 37. 82 Blüher, Aristie, S. 207. 83 Blüher schrieb explizit von der „Allogenität der Menschheit“ und wies daraufhin, daß diese Zweiteilung quer zu den biologischen Einteilungen der Menschheit liege: vgl. Blüher, Aristie, S. 39–80. 84 Vgl. Blüher, Aristie, S. 168–173. 85 Blüher, Aristie, S. 180. 86 Blüher, Aristie, S. 114–115. 87 Blüher, Aristie, S. 127. 81
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schied Blüher zwischen denjenigen Christusworten, die der primären, und denen, die der sekundären Rasse gegolten hätten – für die letztere sei insbesondere die „bürgerliche“ Bergpredigt gewesen. Auch meinte Blüher, Christus habe willentlich die prophetischen Weissagungen erfüllen wollen und dazu seine Umgebung systematisch manipuliert, bis zu dem Punkt, an dem er Judas per schwarze Magie in eine „Wachsuggestion“ versetzt und ihm den Verrat aufgetragen habe.88 Wichtiger aber ist, daß Blüher als typischen Vertreter liberaler Innerlichkeitstheologie Houston Stewart Chamberlain nannte.89 Diese Charakterisierung traf durchaus etwas Richtiges: Chamberlain ging zwar wie Blüher davon aus, daß die Lehre Jesu von der Kirche mißverstanden worden sei, meinte aber tatsächlich, in Wirklichkeit habe Jesus auf reine Innerlichkeit des Gottesverhältnisses abgezielt. In der Kirche dagegen habe sich eine unglückliche Mischung aus „jüdischem“ Geschichtsglauben und „arischer“ Dogmenbegeisterung durchgesetzt, die diese einfachste aller Lehren durch eine „Vergewaltigung des Hirnes“ verdunkelt habe.90 Diejenigen, die in den Kirchen ihren Frieden gefunden hätten, solle man nicht unnötig aufscheuchen, aber für diejenigen, die angesichts der Kirche ein Ungenügen empfinden, sei eine Gemeinschaftsneubildung vonnöten. Die könne nach urchristlichen Prinzipien organisiert werden und das ganze Leben unter den „Begriff des allgemeinen Sakramentes“ fassen.91 Damit jedenfalls, so Chamberlain, wäre eine entscheidender Schritt getan zu jener „Religion der Unmittelbarkeit, die gar nichts weiter vom Menschen fordert, als Liebe zu dem Erlöser und Glauben an sein Mittleramt.“92 Es liegt auf der Hand, daß Wilhelm II. in seiner Niederschrift zu Mensch und Gott Chamberlains Konzept nicht einfach übernahm. Explizit hielt er – wie schon im Babel-Bibel-Streit 1903 – an einer Erlösung des Menschen durch Jesu Tod und Auferstehung, nicht durch Jesu Lehre, fest. Und auch in der für Wilhelm so wichtigen Frage des Alten Testaments wich seine Auffassung von derjenigen Chamberlains ab, der alle Darstellungen Jesu als geweissagter Messias für unhistorisch erklärte und gegen den „Wahngedanke[n] der Weissagung“ polemisierte.93 Besonders deutlich wird der Unterschied an einem Entwurf Wilhelms für einen Kommentar zum Vorwort einer in Aussicht genommenen zweiten Auf88
Vgl. Blüher, Aristie, S. 86–99 und S. 136–140. Vgl. Blüher, Aristie, S. 115. 90 Chamberlain, Mensch und Gott, S. 227–261. 91 Chamberlain, Mensch und Gott, S. 267–272. 92 Chamberlain, Mensch und Gott, S. 299. 93 Chamberlain, Mensch und Gott, S. 143–159. Zum Babel-Bibel-Streit siehe Kapitel E. IV. 89
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lage von Mensch und Gott.94 Chamberlain setzte sich in dem Vorwort mit dem 1921 erschienenen Buch Adolf von Harnacks über den Häretiker des 2. Jahrhunderts Marcion auseinander. Harnack identifizierte die eigene Position mit Marcions theologischem Ansatz und interpretierte ihn als „ersten Reformator“. Marcion habe nämlich deutlich gemacht, daß die Gottesvorstellung des Neuen Testaments radikal verschieden sei von derjenigen des Alten und daß die jüdische Gesetzesreligion drohe, über das Alte Testament die christliche Liebesreligion zu verdunkeln. Harnack schloß mit dem Vorschlag, das Alte Testament aus dem protestantischen Kanon zu streichen.95 Chamberlain empfahl Harnacks Buch dringend und verschärfte dessen Argumentation dahingehend, daß Jahwe und der Gott des Neuen Testaments nichts miteinander zu tun hätten und daß vielmehr Jahwe ein „böse Geist“ sei. Eine Befolgung der Lehren Marcions hielt Chamberlain für unbedingt geboten, weil nur durch eine Entfernung des Alten Testaments aus dem biblischen Kanon die „Grundverderbnis“ des Christentums, nämlich seine Vermischung mit jüdischen Vorstellungen, aufzuheben sei.96 Wilhelm relativierte in seinem Kommentar die Ausführungen Chamberlains dahingehend, daß Marcion „über das Ziel hinaus“ geschossen sei, wenn er ernsthaft von zwei Göttern rede. In Wirklichkeit handele es sich nur um zwei verschiedene „Auslegungen von ein und demselben Gott: die jüdisch-weltlich-irdische von Jahwe im Gegensatz zur christlichen vom himmlischen Vater Jesu Christi.“97 Ein großes historisches Unglück sei es, 94 Tatsächlich erschien die zweite Auflage von „Mensch und Gott“ mit einem Vorwort, das dem Wilhelm von Chamberlain vorliegenden Text fast vollständig entsprach. Wilhelms ausführliche Bemerkungen dazu wurden aber nicht veröffentlicht. Da das Vorwort auf Weihnachten 1922 datiert ist, stellt sich die Frage nach der Datierung des Entwurfs von Wilhelm: Das handschriftliche Original ist undatiert, die genehmigte maschinenschriftliche Abschrift trägt den handschriftlichen Vermerk: „Doorn 2.V.27“ Das Blatt ist an der Stelle allerdings beschädigt, sodaß nicht auszuschließen ist, daß es „Doorn 2.V.22“ heißen könnte. (Auszug aus einem Vorwort zu einer in Aussicht genommenen 2. Auflage. Buch von Houston Stewart Chamberlain“: RA Utrecht, Nr. 263 (Fiche 1553). 95 Harnack, Marcion, S. 30 und S. 248–249: „Die These, die im folgenden begründet werden soll, lautet: das AT im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu conservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung.“ Vgl. dazu auch Kinzig, S. 152–153. 96 Auszug aus einem Vorwort zu einer in Aussicht genommenen 2. Auflage. Buch von Houston Stewart Chamberlain, Bl. 1–2: RA Utrecht, Nr. 263 (Fiche 1553). 97 Auszug aus einem Vorwort zu einer in Aussicht genommenen 2. Auflage. Buch von Houston Stewart Chamberlain, Bl. 3: RA Utrecht, Nr. 263 (Fiche 1553).
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daß durch die einheitliche Übersetzung des Gottesnamens mit „Herr“ beide Auslegungen vermischt worden seien. Würde man statt dessen in den betreffenden Stellen des Alten Testaments wieder „Jahwe“ setzen, wäre damit ein Verfremdungseffekt erreicht, der deutlich machen würde, daß es sich hauptsächlich um jüdische Religionsgeschichte und nicht um christliche Religion handle.98 Wichtig sei aber, daß es auch innerhalb des Alten Testaments Kritik an der weltlichen und nationalen Verengung des Gottesbegriffes gegeben habe: „Diese Jahwe-Auffassung wurde schon in alter Zeit von den Propheten energisch aber mit geringem Erfolg bekämpft.“99 Damit wie mit den Bemerkungen über Deuterojesaja in seiner Lektürezusammenfassung zeigte Wilhelm II., daß er an eine vollständige Tilgung des Alten Testaments aus dem Kanon nach wie vor nicht dachte. Sein Adjutant Ilsemann, der den Infragestellungen des Alten Testaments verständnislos gegenüberstand, hielt einige Bemerkungen des Kaisers zu dieser Frage fest. 1925 habe Wilhelm die Ansicht vertreten, „daß der größte Teil des Alten Testaments nicht in die Bibel gehöre.“100 1927 habe er mit Bezug auf Chamberlain geäußert, das Alte Testament „sollte man überhaupt aus der Bibel entfernen. Man kann einige große und kleine Propheten, auch wenige gute Psalmen behalten, aber alles andere streichen.“101 Die Korrespondenz Wilhelms II. über die Frage des Alten Testaments zeigt, daß evangelische wie katholische Geistliche ihn von einer solchen Relativierung abbringen wollten. Der Oberkonsistorialrat und Missionsdirektor a. D. Schreiber legte ihm 1925 dar, daß Jesus Christus „im Alten Testament zu Hause“ gewesen sei, und auch wenn das Neue Testament über das Alte hinausführe, so offenbare sich doch in beiden derselbe Gott.102 Hildefons Herwegen, Abt von Maria Laach, versuchte 1926 sogar, den Kaiser für die katholische Offenbarungslehre zu gewinnen. Es gehe in der katholischen Kirche tatsächlich nicht um heilige Bücher, sondern um den lebendigen Christus. Deshalb sei die mündliche und schriftliche Tradition neben der Bibel ebenfalls Offenbarungsquelle. Was die Frage der Inspiration der biblischen Bücher betreffe, so gebe es ein „objektives Kriterium“ durch das „Urteil der durch Christus und seinem heiligen Geiste le98 Auszug aus einem Vorwort zu einer in Aussicht genommenen 2. Auflage. Buch von Houston Stewart Chamberlain, Bl. 3–4: RA Utrecht, Nr. 263 (Fiche 1553). 99 Auszug aus einem Vorwort zu einer in Aussicht genommenen 2. Auflage. Buch von Houston Stewart Chamberlain, Bl. 2: RA Utrecht, Nr. 263 (Fiche 1553). 100 Ilsemann, Monarchie und Nationalsozialismus, 4.3.1925, S. 22. 101 Ilsemann, Monarchie und Nationalsozialismus, 9.4.1927, S. 54. 102 D.A.W. Schreiber, Oberkonsistorialrat, Missionsdirektor a.D. an Wilhelm II., Berlin-Steglitz, 16.12.1925 (Briefkopf der Deutschen Evangelischen Missions-Hilfe). Maschinenschriftlich, unpaginiert, 2 Seiten: RA Utrecht, Nr. 258 (Fiche 1520).
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bendigen Kirche.“ Das Alte Testament habe seinen Wert darin, daß es auf das Neue verweise. Das tue es aber nur verborgen, weshalb es wichtig sei, gegen die jüdische Auslegung am geistigen Sinn des Alten Testaments festzuhalten.103 Direkte Antworten Wilhelms II. sind nicht erhalten, aber zwei andere Dokumente aus demselben Zeitraum deuten darauf hin, daß er sich von diesen Darlegungen wenig beeindrucken ließ. Ein Brief des Pfarrers Ludwig Schneller vom Juli 1926 erwähnt ein Schriftstück von Ernst Sellin über das Alte Testament, das Wilhelm II. an Schneller geschickt hatte. Schnellers Feststellung, er stimme mit den dort geäußerten Ansichten überein, quittierte der Kaiser mit der Bemerkung: „aha! sehr gut!“104 Sellin war Professor für Altes Testament in Berlin; bei dem Schriftstück handelte es sich um eine Zusammenfassung der Thesen Sellins aus seinem Buch über Das Alte Testament und die evangelische Kirche der Gegenwart.105 In der Zusammenfassung hieß es: „Das A. T. ist kein übernatürlich geoffenbartes, göttlich inspiriertes Buch. Das A. T. ist ein menschliches Schrifttum, das Zeugnis von einer göttlichen Offenbarung ablegt, die sich im Laufe der Geschichte eines Volkes vollzogen hat.“106 Auf dem Brief von Herwegen hat Wilhelm II. handschriftlich angeordnet, eine „Abschrift an Prof. Jeremias“ zu senden.107 Der Altorientalist Alfred Jeremias war von Friedrich Delitzsch promoviert worden. Jeremias scheint in den 1920er Jahren für den Kaiser zur Hauptautorität in theologischen Fragen geworden zu sein; er veröffentlichte und kommentierte Wilhelms autorisierte Predigten, korrespondierte mit dem Kaiser und wurde von diesem immer wieder in strittigen theologischen Fragen zu Rate gezogen.108 Ein Brief des Pfarrers Kurth an Wilhelm II. von 1930 bezieht sich auf Wilhelms Übernahme der Auffassungen von Jeremias hinsichtlich einer schar103
Hildefons Herwegen an Wilhelm II., Abtei Maria Laach, den 14. September 1926, mit Randbemerkungen Wilhelms: RA Utrecht, Nr. 258 (Fiche 1521). 104 „Pfarrer D. Ludwig Schneller an den General, Coeln (Marienburg), 28.7.1926“: RA Utrecht, Nr. 258 (Fiche 1525). 105 Sellin, Das Alte Testament. Zu Leben und Werk Sellins vgl. Sauer, Sellin, Sp. 1370–1371. 106 RA Utrecht, Nr. 263 (Fiche 1553). Siehe auch eine ausführlichere, aber zum Teil unleserliche maschinenschriftliche Version in RA Utrecht, Nr. 258 (Fiche 1526). Vgl. auch den Brief Wilhelms II. an Max Buchner vom 11.2.1929, dem er erklärte, das Christentum sei die Erfüllung der vorchristlichen Erlösungshoffnungen, und zwar vor allem der heidnischen und eher weniger der jüdischen: Wilhelm II. an Max Buchner, Doorn, 11.2.1929, in: Rall, Kritische Miscelle, S. 387–389. 107 Hildefons Herwegen an Wilhelm II., Abtei Maria Laach, den 14. September 1926, mit Randbemerkungen Wilhelms. RA Utrecht, Nr. 258 (Fiche 1521). 108 RA Utrecht, Nr. 255 (Fiche 1513), Nr. 258 (Fiche 1521, 1524), Nr. 261 (Fiche 1543), Nr. 263 (Fiche 1553, 1554, 1555), Nr. 266 (Fiche 1561).
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fen „Unterscheidung zwischen dem prophetisch-begründeten Israel und dem rassen-nationalen Jehuda“.109 Damit war eine Positionierung bezeichnet, die Wilhelm II. latent schon zuvor vertreten hatte, die aber offenbar erst durch Jeremias in eine deutliche Begrifflichkeit gefaßt wurde. Den größten Eindruck machte dabei auf den Kaiser eine kleine, 1930 erschienene Schrift Jeremias‘ über Die Bedeutung des Mythos für das Apostolische Glaubensbekenntnis. Jeremias Entwarf hier eine Apologie des Mythos, den er als Träger einer Wirklichkeit jenseits der „Welt der Kausalitäten“ und Sinneserfahrungen verstand.110 Im alten sumerischen Reich habe sich dabei ein Seelenmythos entwickelt, dessen Motive die jungfräuliche Urmutter, das göttliche Kind sowie der sterbende, auferstehende und wiederkehrende Held seien. In Christus sei dieser Mythos historische Wirklichkeit geworden. Zwischen dem Mythos des alten Orients, der wesentlich Naturmythos sei, und der Christusverkündigung stehe aber als Zwischenglied die israelitische Prophetie, die die Messiasweissagung entwickelt, indem sie den Mythos auf die „höhere Stufe der Geschichtsreligion“ gehoben habe.111 Von dieser Überlegung ausgehend, entwarf Wilhelm II. im Austausch mit Jeremias eine scharfe Unterscheidung zwischen „Israel“ und „Juda“, die ihm erlaubte, seine Kritik an Teilen des Alten Testaments und seine Verachtung des „jüdischen Geistes“ aufrechtzuerhalten, gleichzeitig aber eine besondere Offenbarungsqualität des Alten Testaments zu behaupten. In einem Brief an eine befreundete Dame über die Mythos-Schrift von Jeremias faßte der Kaiser diese Unterscheidung prägnant zusammen: „Das alte (vorexilische) Prophetentum des alten Israel (Abrahams Religions- nicht Volksgemeinschaft) hat die Natursehnsuchts-Religion des Mythos: ‚Es muss besser werden‘ auf die Höhe der Geschichts-Sehnsuchts-Religion gehoben: ‚Wir müssen besser werden‘; Das konnte nur durch den Messias Gottes-Sohn erfolgen, Sünden Vergebung. Der Mythos der Heiden kennt keine Sündenvergebung, keine Erlösung von Sünde durch das Kreuz, Kreuzestod, Auferstehung. Diese sind rein christlich. Der Israelitismus der alten Abrahamgemeinde mit dem Prophetentum geht im Babylon-Exil verloren. Da erscheint nach dem Exil das Jehuda des Esra mit seinem Verbot der Mischehe mit anderen Völkern, das ‚Blutjudentum‘ von heute, das Moderne Judentum. Im diametralen Gegensatz zum Israel des Abraham und Mose entwickelt Esras Jehuda den starren, verknöcherten Monotheismus, der den Messias Gottes-Sohn verwirft und an seine Stelle die Erlösung durch genaue, correcte, 109 Pfarrer Dr. Kurth an Wilhelm II., Berlin, April 1930. RA Utrecht Nr. 263 (Fiche 1554). 110 Jeremias, Die Bedeutung des Mythos, S. 9: RA Utrecht, Nr. 678 (Fiche 3512). 111 Jeremias, Die Bedeutung des Mythos, S. 12–19: RA Utrecht, Nr. 678 (Fiche 3512).
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peinliche Befolgung des ‚Gesetzes‘ (Pseudo-Mosaischen durch Esra) setzt. Stufenweise soll die Menschheit durch das ‚Gesetz‘ immer besser werden, bis schließlich der ‚Beste Mensch‘ der Messias wird, der auch das Weltreich Jehuda wieder aufrichtet. Also Selbsterlösung durch das Halten von Gesetzesparagraphen des Pseudo-Mosaischen Gesetzes, wie Esra es zusammengestellt hat. Esra mit seiner Verwerfung des Messias Gottes-Sohns und Blutjudentum ist der Schöpfer des modernen Jehuda. Gegen dieses Jehuda wendet sich der Herr im scharfen Kampf: ‚Ihr habt gehört . . ., Ich aber sage Euch!‘ Der Herr war, wie er Nathanael sagt, selbst auch ‚der Israelit ohne Falsch‘ – d.h. Er vertrat das vorexilische alte Israel von Abraham und Moses gegen das nachexilische Jehuda Esras, welches Ihn als Gottes Sohn verwarf! [. . .] So hat das Jehuda Esras – das gleichbedeutend mit dem jetzigen Judentum ist – unseren Herrn ans Kreuz geschlagen. Israel hat damit nichts zu tun.“112
Diese hier geäußerte Position war eine deutliche inhaltliche Verschiebung gegenüber dem, was Wilhelm noch in der ersten Hälfte der 1920er Jahre unter dem Einfluß von Blüher und Chamberlain zum Alten Testament gemeint hatte; sie markiert insofern auch eine Änderung der theologischen Vorstellungen des Kaisers im Vergleich zu seiner Positionierung im BabelBibel-Streit. Bisher hatte Wilhelm gemeint, das Alte Testament bestehe in wesentlichen Teilen aus jüdischer Volksgeschichte und jüdischer Nationalreligion, die keinerlei religiöse Bedeutung für das Christentum hätten; erst infolge babylonischen Einflusses im Exil seien „arische“ Religionsvorstellungen in das Alte Testament eingesickert, an die das Christentum positiv habe anknüpfen können. Jetzt, unter dem Eindruck der Darlegungen von Alfred Jeremias, kehrte sich die Argumentation im Grunde um: Religiös wertvoll am Alten Testament sei das „Altisraelitische“, für das Abraham und Mose stünden, und erst die Entwicklung Israels seit dem Exil sei eine Pervertierung dieses ursprünglich wertvollen Religionsgutes. Diese Position band der Kaiser in ein evolutionäres Religions- und Offenbarungsverständnis ein, in welchem das alte Israel das Zwischenglied in der Entwicklung zwischen Heidentum und Christentum bildete: Das Heidentum zur Zeit des Alten Testaments sei von naturmythischen Vorstellungen geprägt gewesen, ohne jede Vorstellung von Sünde und Erlösung. Das alte Israel habe eine neue Entwicklungsstufe der Religion herbeigeführt, indem es den Fokus (religiöser) Weltbetrachtung nicht mehr auf die Natur, sondern auf die Geschichte gelegt habe, wodurch erst eine ethische Dimension der Weltbetrachtung und vor allem des Gottesverhältnisses möglich geworden sei. An diese Tradition habe Jesus von Nazareth angeknüpft und die damit verbundene Erlösungssehnsucht durch seinen Kreuzestod erfüllt. Zwischen der zweiten und dritten Stufe in diesem dreistufigen Evolutionsmodell stehe als radikaler Abfall 112 Auszug aus einem Brief Wilhelms II. an eine befreundete Dame über die Jeremiasschrift, undatiert. Vgl. auch einen Brief selben Inhalts an einen Jugendpfarrer. Beide in RA Utrecht, Nr. 266 (Fiche 1561).
III. Predigten und theologische Überlegungen
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das nachexilische Judentum im Gefolge Esras, das den ethischen Impuls des alten Israels verabsolutiert und eine auf Selbsterlösung hinauslaufende Gesetzesreligion geschaffen habe. Auf diese Weise schrieb Wilhelm II. dem alten Israel und dem Alten Testament einen entscheidenden Schritt in der Offenbarungsgeschichte bis Christus zu, hielt aber die Entstehung des nachexilischen Judentums für eine widerchristliche Fehlentwicklung.113 Die habe das moderne Judentum hervorgebracht, das letztlich auch für die Kreuzigung Jesu verantwortlich sei. Von Bedeutung ist hier zudem, daß Wilhelm an „Jehuda“ nicht nur den Gesetzespositivismus kritisierte. Fast schlimmer noch sei die Berufung des modernen Judentums nicht auf Glauben, sondern auf Blut und Rasse. Damit wiederum erteilte der Kaiser völkischen Religionsentwürfen im strengen Sinn eine Absage. Daß sich diese Absage nicht nur auf das Judentum beschränkte, wird aus einem Brief Wilhelms an Jeremias von 1929 deutlich: „Das Christentum ist gegründet auf der unzerstörbaren Wirklichkeit des der Menschheit in Jesu Christo erstandenen Heilandes. Dieser ist durch die in ihm entbundenen Gotteskräfte Erfüller des im Mythos enthaltenen Sehnens der Menschheit nach Errettung aus Schuld und Sünde. Der Heiland ist damit: der im Mythos vorahnend verkündete Erlöser der Welt. [. . .] [D]er Mythos kommt nicht nur dem Sehnen der Menschen nach Erlösung entgegen, sondern er ist bereits eine Offenbarung Gottes an die Menschen auf kommende Erlösung. Das christliche Evangelium von der in Jesus Christus geschichtlich verwirklichten Erlösung ist also nicht ein neuer Mythos. Es ist die frohe Botschaft: ‚Die im Mythos verkündete Erlösung ist durch den völkisch nicht begrenzten, sondern das ganze Weltall umfassenden, also kosmischen Erlöser Jesus Christus nunmehr erfüllt.“114
Wilhelm führte hier zunächst noch einmal ausführlicher aus, was er in seinem Offenbarungsentwicklungsmodell über die Bedeutung Christi bereits angedeutet hatte: Christus sei derjenige, der die sich aus dem Sündenbe113 Thomas Benner nimmt den Brief Wilhelms II. an Max Buchner von 1929 als Beleg dafür, daß die religiösen Anschauungen Wilhelms II. sich seit dem HollmannBrief nicht geändert hätten und man höchstens eine fortschreitende „Relativierung“ des Alten Testaments konstatieren könne. (vgl. Benner, S. 128–130) Wilhelm hatte in dem Brief auf die Erlösungshoffnungen der Heidenwelt hingewiesen, die durch Christus erfüllt worden seien – eine Reminiszenz an die Jeremias-Lektüre – und das Alte Testament als orientalisches, symbolisches Buch bezeichnet, dessen Aussagen nicht wörtlich verstanden werden dürften. (Wilhelm II. an Max Buchner, Doorn, 11.2.1929, in: Rall, Kritische Miscelle, S. 387–389) Benners Analyse ist daher einerseits richtig, da Wilhelm im Hollmann-Brief tatsächlich schon Ähnliches geäußert hatte, ist aber andererseits irreführend, wenn die Beurteilung des Alten Testaments durch Wilhelm im Exil allein auf diesen Brief gestützt und zudem für die persönliche Frömmigkeit des Kaisers beleglos eine Abwertung des Alten Testaments behauptet wird. 114 Wilhelm II. an Alfred Jeremias, 29.11.1929: RA Utrecht, Nr. 678 (Fiche 3512).
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wußtsein des Menschen ergebende Sehnsucht nach Erlösung erfülle. Der „Mythos“, von dem Jeremias in seinem Buch spreche, sei selbst eine das Christusgeschehen ankündigende göttliche Offenbarung; Christus sei dann kein neuer Mythos, sondern die realgeschichtliche Verwirklichung des Mythos. All das verdeutliche schließlich die universale Bedeutung Christi als „kosmischer Erlöser“, der die Erfüllung des Mythos für alle Menschen sei, nicht bloß für ein bestimmtes Volk. Der Brief wurde mit Wilhelms Genehmigung in der dritten Auflage des Mythos-Buches 1938 veröffentlicht. Damit war die Aussage über das die Volksgrenzen überschreitende Christentum auch eine religionspolitische Stellungnahme. Schon in den 1920er Jahren waren dem Kaiser im Zuge der Briefdiskussionen über das Alte Testament Stellungnahmen zugeschickt worden, die den Völkischen ausdrücklich zuerkannten, sich um die Stärkung des Volkstums zu sorgen, ihnen aber vorwarfen, mit ihrem Rassendenken letztlich den „jüdisch-materialistischen Geist“ zu kopieren.115 Die Frage der rassischen Herkunft Jesu erklärte Wilhelm 1927 gegenüber seinem Adjutanten Ilsemann für irrelevant: „Da streiten sich die Menschen, ob er Arier oder Jude sei. Er ist Gottes Sohn gewesen und damit ist die ganze Frage gelöst!“116 1937 bestätigte er diese Auffassung noch einmal gegenüber dem Hofprediger Bruno Doehring: „Wer – wie Christus – aus des Himmels Höhen kam, steht ausserhalb aller Rassenfrage. Dort oben gibt es keine RassenUnterschiede. Es ist selbstverständlich, dass Christus, um nicht aufzufallen, die Gestalt des Volkes und Landes wählte, in dem er erschien.“117 Ab 1933 wurde der Kaiser zudem mit Texten gegen die Deutschen Christen versorgt.118 Über den evangelischen Kirchenkampf äußerte er sich 115 Vgl. vor allem den schon zitierten Brief Schreibers an Wilhelm II. vom 16.12.1925, dem mehrere entsprechende Texte zur völkischen Frage von der „Oberin“ Magdalene von Tiling beigefügt waren: RA Utrecht, Nr. 258 (Fiche 1520). 116 Ilsemann, Monarchie und Nationalsozialismus, 9.4.1927, S. 54. Laut Ilsemann sagte der Kaiser weiter: „Wo er geboren wurde, ist zweifelhaft, wahrscheinlich in Nazareth, aber wir wissen über seine Geburt und über seinen Tod nichts Authentisches, eines Tages war er eben da und ebenso ist er dann plötzlich verschwunden gewesen, wie, darüber brauchen wir uns den Kopf nicht zu zerbrechen.“ Laut Ilsemann bezog sich der Kaiser dabei auf Chamberlains „Mensch und Gott“, der aber nicht etwa geschrieben hatte, daß über Jesu Tod nichts Sicheres bekannt sei, sondern über die Ereignisse, die seinem Tode folgten. (vgl. Chamberlain, Mensch und Gott, S. 83–84) Ob Wilhelm oder Ilsemann das mißverständlich wiedergegeben hat, ist nicht zu ermitteln. 117 Wilhelm II. an Bruno Doehring, 30.6.1937: RA Utrecht, Nr. 263 (Fiche 1555). 118 Vgl. den Brief Pastor Helbigs an Wilhelm II. vom 17.5.1933 in RA Utrecht, Nr. 262 (Fiche 1549). Zur „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ vgl. Meier, Deutsche Christen.
III. Predigten und theologische Überlegungen
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nicht öffentlich, und selbst intern hielt er sich zurück. Nur auf die Anfrage des Haager Pfarrers Herbst, der im Dezember 1933 als Vertreter der evangelischen Pfarrkonferenz für Holland, Belgien und Frankreich an der Amtseinführung des DC-Reichsbischofs Müller in Berlin teilnehmen sollte und Wilhelm um ein Grußwort bat, antwortete der Kaiser mit dem handschriftlichen Vermerk: „Nein! Bin gegen ‚Deutsche Christen‘!“119 Dieser Haltung entspricht es, daß es in den Exilveröffentlichungen des Kaisers keinerlei gegen das Alte Testament gerichtete Äußerungen gibt. Aber auch das persönliche Glaubensleben Wilhelms II., so weit rekonstruierbar, läßt keinerlei Abwertung des Alten Testaments erkennen. In den ihm alljährlich zugesandten und von ihm intensiv benutzten Herrnhuter Losungsbüchern strich er alttestamentliche Sprüche ebenso an wie neutestamentliche, und dasselbe gilt für die Predigttexte für die sonntäglichen Doorner Hausgottesdienste, die er selbst aussuchte.120 Von einer Abwertung des Alten Testaments konnte da keine Rede sein. Für Wilhelms Regierungszeit ist bereits gezeigt worden, daß man zwischen seinen theologischen Überlegungen und seinen religionspolitischen Entscheidungen differenzieren und insofern einen Unterschied zwischen öffentlichen und privaten Stellungnahmen machen muß – der Hollmann-Brief, die Görlitzer Rede von 1902 und in gewisser Weise auch die Konfirmationsansprache an die beiden ältesten Söhne sind dabei Ausnahmen, in denen der Kaiser einen Ausgleich zwischen beidem suchte, dabei aber nicht erfolgreich war.121 Die Hinweise, die die Exilquellen für die persönliche Frömmigkeit Wilhelms II. geben, deuten darüber hinaus darauf hin, daß das Glaubensleben des Kaisers mehr mit seinem öffentlich geäußerten Christentumverständnis als mit seinen privaten theologischen Überlegungen zu tun hatte.122 Das hieß aber natürlich nicht, daß Wilhelm II. eine im weitesten Sinne völkische Inkulturation der christlichen Botschaft abgelehnt hätte. In einer 119
Herbst an Wilhelm II., 27.11.1933: RA Utrecht, Nr. 263 (Fiche 1555). Vgl. zu den Losungsbüchern die Begleitbriefe zu den Zusendungen in RA Utrecht, Nr. 258 (Fiche 152), Nr. 259 (Fiche 1530) Nr. 260 (Fiche 1537) Nr. 262 (Fiche 1550) Nr. 263 (Fiche 1554, 1555). Vgl. außerdem die Liste der Tagestexte in RA Utrecht, Nr. 601 (Fiche 3079). Zu den von Wilhelm ausgewählten Predigttexten vgl. RA Utrecht, Nr. 256 (Fiche 1517, 1518), Nr. 263 (Fiche 1554). Auch Friedrich Wilhelm Kantzenbach kommt in einer Analyse der Losungsbücher der letzten beiden Lebensjahre Wilhelms II. zu der Schlußfolgerung: „Eine Abwertung des Alten Testaments zugunsten neutestamentlicher Kernsprüche ist nicht zu erkennen.“ (Kantzenbach, Die offizielle und die private Einstellung zum Christentum, S. 281.) 121 Siehe dazu die Kapitel D. V. und E. IV. 122 Diese Hinweise sind natürlich relativ spärlich und erlauben daher keine abschließende Beurteilung. Es ist aber doch auffällig, daß die Andachten und Hausgottesdienste in Doorn einen ganz traditionell-protestantischen Charakter hatten und sich keinerlei Diskriminierung des alttestamentlichen Textbestandes erkennen läßt. 120
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von der Vaterländischen Verlags- und Kunstanstalt Berlin 1930 veröffentlichten Predigt über den „Hauptmann von Kapernaum“ wies Wilhelm darauf hin, daß sich zu Lebzeiten Jesu eine germanische Legion in Palästina aufgehalten habe. Der Hauptmann von Kapernaum sei daher möglicherweise ebenso germanischer Abkunft gewesen wie die Soldaten, die aus Mitleid zu Jesus dessen Kreuz abnahmen und es von Simon von Kyrene tragen ließen, und ebenso wie der Hauptmann, der am Kreuz Jesu als erster dessen Gottessohnschaft bezeugt habe. Jesu Bitte: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, gelte auch nicht dem jüdischen Volk, sondern den germanischen Legionären, die auf Befehl ihres Vorgesetzten handeln mußten.123 Der Hinweis auf die germanische Volkszugehörigkeit des Hauptmannes und der Soldaten lief bei Wilhelm auf zwei Pointen heraus: Zum einen werde hier exemplarisch deutlich, wie Christus das „Judenvolk“ mit seiner auf „Gesetzesparagraphen“ beharrenden „Selbsterlösung“ verwerfe – ein Niederschlag der Lektüre und Diskussion über das Mythos-Buch von Alfred Jeremias.124 Zum anderen wies der Kaiser darauf hin, daß man als Soldat und als Deutscher besonders stolz auf den Hauptmann von Kapernaum und den Hauptmann am Kreuz Jesu sein könne. Damit suggerierte Wilhelm ein besonderes Identifikationspotential einerseits über den (soldatischen) Beruf, andererseits über die ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit. Die Predigt ist eine von insgesamt neun erhaltenen Predigten, die Wilhelm II. selbst in Doorn in den Jahren 1925–1930 gehalten hat.125 Gerade im Exil betrachtete der Kaiser sich als christlicher Hausvater, der den Got123 Der Hauptmann von Kapernaum. Ansprache Seiner Majestät des Kaisers an die Hausgemeinde zu Haus Doorn am Sonntag Reminiszere, dem 16. März 1930, dem Gedächtnistage für die Gefallenen im Weltkriege. Gedrucktes Einzelblatt der Vaterländischen Verlags- und Kunstanstalt Berlin: RA Utrecht, Nr. 255 (Fiche 1513). 124 Der explizite Hinweis Wilhelms II. auf die Forschungen von Jeremias verdeutlicht, wie sehr der Kaiser bei der Abfassung der Predigt unter dessen geistigem Einfluß gestanden hat. 125 Die Predigten befinden sich alle im RA Utrecht, Nr. 255 (Fiche 1513). Es handelt sich im einzelnen um eine Predigt über „Das Gleichnis von den Pfunden“ (Frühjahr 1925), eine Predigt über Apg 4,8–12: „Der Pfingstgeist im praktischen Leben“ (6.7.1925), eine Osteransprache „An die Ruhrleute“ (5.6.1926), zwei Predigten über Mt 8,26: „Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?“ (6.6.1926 und 13.6.1926), handschriftliche Notizen zu einer Karfreitagspredigt (7.4.1928), die Predigt über den „Hauptmann von Kapernaum“ (16.3.1930), eine undatierte Predigt über Mk 11,22–24: „Gott im täglichen Leben“ und eine Predigt über Joh 15,5: „Ohne mich könnt ihr nichts tun!“ (18.5.1930). Die Predigten „Der Pfingstgeist im praktischen Leben“, die Ansprache „An die Ruhrleute“ und die Predigt „Ohne mich könnt ihr nichts tun“ sind bereits in Kapitel D. I. im Zusammenhang der Gottesgnadentumvorstellung Wilhelms II. analysiert worden. Die anderen Predigten werden im folgenden kurz vorgestellt.
III. Predigten und theologische Überlegungen
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tesdienst seiner Hausgemeinde leitete, wenn kein ordinierter Pfarrer zugegen war.126 Die Predigten wurden allerdings auch vervielfältigt, im Bekanntenkreis verteilt und in mindestens vier Fällen sogar in Deutschland veröffentlicht.127 Wilhelm wollte mit seinen Predigten also offenbar in der Heimat wirken. Inhaltlich ging es dem Kaiser dabei vor allem um zweierlei: um die Propagierung des Gottesgnadentums als einer spezifischen Variante einer für jeden Menschen geltenden christlichen Lebensführung sowie um die Propagierung einer christlichen Lebensführung überhaupt.128 Allerdings sind auch die nichtveröffentlichten Doorner Predigten von diesen beiden Anliegen geprägt; politisch-historische Analogien und Beispiele waren dabei nicht selten. In den beiden Predigten über Mt 8,26 vom Juni 1926 gab der Kaiser eine ausschmückende Nacherzählung der Sturmstillungsgeschichte, um anschließend die Folgerung zu ziehen: „So lernen wir, meine Lieben, dass ein jeder in seinem Leben mal erst seinen Sturm gehabt haben muß, der ihm alle hohen Gedanken über sich selbst, alle Trugschlösser über sein Können und Leisten – besonders wenn sie ohne Gott gedacht sind – gründlich über den Haufen wirft, und ihm erst klar macht, dass er ohne Gott, ohne Christus eine absolute Null ist und wenn er noch so viel scheinbare, äussere irdische Erfolge hat, das Schlussexamen von sich aus nicht besteht.“129
Solchermaßen die Notwendigkeit eines gottgebundenen Lebens herausgestellt, wandte Wilhelm II. seine Überlegung auf den Untergang des Kaiser126
Siehe zu diesem Selbstverständnis Wilhelms II. Kapitel E. I. Die Predigten wurden entweder von der Vaterländischen Verlags- und Kunstanstalt Berlin oder von den Kirchlich-sozialen Blättern veröffentlicht. Es handelt sich um eine Predigt über Apg 4,8–12 („Der Pfingstgeist im praktischen Leben“), eine Osteransprache „An die Ruhrleute“, eine Predigt über den „Hauptmann von Kapernaum“ und eine Predigt über Joh 15,5 („Ohne mich könnt ihr nichts tun!“). Zu diesen Predigten – mit Ausnahme derjenigen über den Hauptmann von Kapernaum – siehe Kapitel D. I. Im Exilnachlaß findet sich kein Hinweis darauf, weshalb gerade diese Predigten veröffentlicht wurden und die anderen nicht; es ist auch nicht ganz sicher, ob die anderen Predigten möglicherweise an anderer Stelle veröffentlicht wurden und der Nachlaß nur keine Information darüber bietet. Auf den ersten Blick könnte man meinen, daß das Gemeinsame an den veröffentlichten Predigten ihre politische Wirkungsabsicht ist – die Predigt über den Hauptmann von Kapernaum mit ihrem im weiteren Sinne völkischen Inkulturationsangebot, die anderen drei Predigten mit ihrer Propagierung einer religiösen Arbeits- und Berufsethik, zum Teil unter dem Stichwort des Gottesgnadentums. Aber auch die anderen Predigten sind teilweise von politisch-historischen Interpretationsanliegen getragen. Es wäre darüber hinaus auch möglich, daß es noch weitere Predigten des Kaisers aus der Exilzeit gibt, zumal die überlieferten Predigten alle nur aus dem relativ engen Zeitraum zwischen 1925 und 1930 stammen. 128 Ausführlicher zu den drei thematisch auf das Gottesgnadentum bezogenen veröffentlichten Predigten siehe Kapitel D. I. 129 „Doorn, 6.VI.26. ‚Ihr Kleingläubigen warum seid ihr so furchtsam!?‘ “: RA Utrecht Nr. 255 (Fiche 1513). 127
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reichs an: Das Heer habe tapfer gekämpft, aber das Volk zu Hause sei leider – „von Juden und Entente belogen“ – kleingläubig geworden und habe den Untergang herbeigeführt. Dieselbe Grundüberlegung wandte Wilhelm II. dann in der Predigt über Das Gleichnis von den Pfunden auf die von ihm erwartete politische Zukunft Europas an: Fortschritt ohne Gottgebundenheit führe zu pietätlosem „Materialismus“, an dem die Völker zu Grunde gingen. Europa habe das vergessen, während die islamische Welt einen starken Gottesglauben habe: „Nun macht Euch, meine Lieben, klar: wenn diese Muslims, die sich und ihr Leben als von Gott abhängige Werkzeuge des Schöpfers mit von Ihm angewiesenen Platz und Lebensaufgaben, als Teil des gesamten Schöpfungswerkes und Ausführer des Schöpfungswillens ansehen, einmal den Gedanken fassen, Allah befehle ihnen! [!] auf das gottentfremdete Abendland loszurücken, dann ist es um das Letztere unbedingt geschehen, da es ohne Gottesglauben ist. Das kann nur durch uns Deutsche verhindert werden. Nicht durch Eroberungen oder Heereszüge. Nein dadurch, daß wir unserem Herrn und Heiland, unserem Mittler und durch ihn unserem Gott-Vater in alter deutscher Treue, wie ehedem unsere Väter, uns rückhaltlos hingeben als Seine ‚Werkzeuge‘, um Seinen Willen zur Durchführung zu bringen, Seine Befehle auszuführen. Dann haben wir damit eine überragende geistige Grundlage gewonnen, ja sogar die Überlegenheit und können dem Orientalen mit der vollen Wucht des Deutschen Glaubens und Geistes imponierend, überlegen, aber verstehend entgegentreten und den anrollenden Sturm zu fruchtbarer Tat überleiten! Und so retten wir dann, wir geschmähten Deutschen, was man Europa bezw. Europäische [!] Kultur nennt, und eröffnen ihr neue Bahnen im Zusammenarbeiten mit dem Islam, statt im Kampf gegen ihn. In dieser Zusammenarbeit wird dann allmählich unser Herr den Sieg gewinnen im Islam.“130
Aufschlußreicher als die an entsprechend hochschätzende Äußerungen im Verlauf der kaiserlichen Orientreise anknüpfenden Bemerkungen zum Islam131 und als die für das innere Verhältnis Wilhelms zu Westeuropa interessante Rede von der Rettung Europas durch das „geschmähte“ Deutschland ist für die Exilpredigten des Kaisers, daß er regelmäßig dazu tendierte, den Predigttext lediglich als Aufhänger für politische, historische und geschichtsphilosophische oder -theologische Überlegungen zu gebrauchen.132 130 „Ansprache Seiner Majestät des Kaisers an Seine Hausgemeinde. Doorn (Frühjahr 1925). Text: Das Gleichnis von den Pfunden.“: RA Utrecht Nr. 255 (Fiche 1513). 131 Siehe dazu Kapitel D. V. 132 Das gilt auch für die hier nicht weiter analysierte Predigt Wilhelms II. über Mk 11,22–24, in der er ebenfalls das positive Vorbild der Mohammedaner hervorhebt. Eine gewisse Ausnahme ist Wilhelms Karfreitagspredigt von 1928, die nur in stichwortartigen Notizen überliefert ist und neben einer Nacherzählung der Kreuzigung darauf abhebt, daß mit Jesus von Nazareth historisch wirklich ein Mensch ermordet wurde für die Erlösung der Welt. Die Predigt Wilhelms über den Hauptmann von Kapernaum ist darüber hinaus die einzige, die ansatzweise ein exegetisches In-
III. Predigten und theologische Überlegungen
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Jenseits dieser teilweise beständigen, teilweise sehr sporadisch erscheinenden und von einem eindeutigen Interesse an politischer Gegenwartsdeutung geleiteten Interpretationen beschränkt sich die theologische Aussage der Predigten Wilhelms in der immer wiederkehrenden Betonung einer notwendig gottgebundenen Lebensführung und einer damit verbundenen Warnung vor Egozentrismus. Eine beständige politisch-theologische Denkfigur war dabei die Interpretation des Gottesgnadentums als die Unterordnung unter den Willen und Auftrag Gottes in allen Aspekten des menschlichen Lebens. Damit waren auch gewisse realpolitische Absichten verbunden, nämlich eine Monarchisierung der Arbeiterschaft und vor allem eine politische Selbstrechtfertigung. Das war für Wilhelm besonders wichtig, da er nicht nur in Deutschland mit allerlei Schuldzuweisungen konfrontiert war, sondern zumindest in den ersten Exiljahren fürchten mußte, doch noch vor ein internationales Kriegsgericht gestellt zu werden. Einen Brief des Erzbischofs von Köln vom Mai 1919 mit dem Vorschlag, Wilhelm solle sich „einem neutralen Gerichtshof unter Vorsitz des Papstes“133 unterstellen, beantwortete der Kaiser jedenfalls mit dem auch sein Gottesgnadentum begründenden Hinweis auf seine alleinige Verantwortung vor Gott: „Ich kann wegen der Handlungen, die ich als Kaiser und König, also als verfassungsmäßig unverantwortlicher Repräsentant der Nation, nach bestem Wissen und Gewissen begangen habe, das strafrechtliche Urteil eines irdischen Richters, wie hoch er auch gestellt sein möge, unter keinen Umständen anerkennen, ohne die Ehre und Würde meiner Person, meines Hauses, wie des ganzen Volkes tötlich [!] zu verletzen. Mögen die Feinde tun, was sie vor Gott und den Menschen verantworten können. Ich erkenne als Richter über meine Handlungen nur allein Gott an, der in die Herzen sieht und weiß, daß ich diesen Krieg nicht gewollt habe, sondern daß er mir von den Feinden aufgezwungen worden ist.“134
Die pointierte, fast trivial erscheinende theologische Grundaussage der Predigten Wilhelms – die Propagierung christlicher Lebensführung im Sinne einer Unterordnung unter den Willen Gottes – weist eine deutliche Akzentverschiebung im Vergleich zu den privaten theologischen Überlegungen des Kaisers auf, die sich in erster Linie mit dem Verhältnis von Judentum und Christentum befaßten. Ein Erklärungsansatz für diese Akzentverschiebung wäre, daß es Wilhelm II. in seinen theologischen Überlegungen teresse am Bibeltext zeigt; jedenfalls insofern, als Wilhelm hier religionsgeschichtliche Forschungsergebnisse zur Interpretation des Textes nutzt. 133 Kardinal Felix von Hartmann, Erzbischof von Köln, an Wilhelm II., 19.5.1919, in: Ilsemann, Amerongen und Doorn, S. 318. 134 Wilhelm II. an Kardinal Felix von Hartmann, Erzbischof von Köln, 28.5.1919, in: Ilsemann, Amerongen und Doorn, S. 319.
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um Selbstvergewisserung ging, während seine Predigten vor allem eine Außenwirkung im Blick hatten. Dabei, so die These, ging es Wilhelm nicht so sehr um die Abgrenzung zu anderen religiösen Entwürfen wie dem Judentum, sondern vor allem um eine Stärkung des Christentums gegen dessen Bedeutungsverlust zugunsten einer religiös indifferenten oder atheistischen Haltung. Eine solche religiös indifferente Haltung begegnete dem Kaiser in der Korrespondenz sogar in seinem Vertrauten Frobenius, dessen säkulare Kulturtheorien Wilhelm regelmäßig religiös umdeutete. Frobenius selbst vertrat einen Glauben an das Schicksal, das für den gesetzmäßigen Gang der Kulturgeschichte verantwortlich sei.135 Als Frobenius 1932 in einem Brief an den Kaiser diesem Glauben Ausdruck verlieh, fügte Wilhelm handschriftlich hinzu, „Schicksal“ sei ein Pseudonym für „Vorsehung“, und Gott sei der „Herr des Schicksals“.136 Nach Erscheinen von Frobenius Schicksalskunde mahnte Wilhelm II. mit deutlichen Worten eine stärkere Berücksichtigung der Bedeutung des Christentums und der Religion an.137 Aber auch sonst ist zu beobachten, daß es Wilhelm angesichts eines wahrgenommenen gesellschaftlichen Relevanzverlustes des Christentums um die Klarstellung ging, daß man auch unter modernen Bedingungen intellektuell redlich Christ sein könne. 1940 verschickte der Kaiser zu verschiedenen Gelegenheiten die Zusammenfassung eines Vortrags von Max Planck über den Weg des Naturwissenschaftlers zu Gott. Planck hatte darin für eine Harmonie zwischen Religion und Naturwissenschaft plädiert, da beide „zu ihrer Bestaetigung des Glaubens an Gott bedürften“, nur daß Gott in der Religion am Anfang, in der Naturwissenschaft am Ende des Erkenntnisprozesses stehe.138 In einem Brief an eine befreundete Dame schrieb Wilhelm II. im April 1940 über Plancks Vortrag: „Ich sende Ihnen anbei einen Auszug aus einem Vortrage, den der grosse Physiker Professor Dr. Planck vor einiger Zeit gehalten hat ueber ‚Religion und Naturwissenschaft‘. Er beweist: dass beide auf parallelen Bahnen schreiten, die beide zu Gott hinfuehren, sie daher niemals in Konflikt miteinander kommen koennen. Die Religion ist Sache des Herzens und sieht in Gott das Fundament fuer Alles auf Erden und im Himmel. Die Naturwissenschaft ist Sache des Verstandes, fuer sie ist Gott die Krone von Allem.“139 135 136
Frobenius, Schicksalskunde. Vgl. Franzen/Kohl/Recker, S. 33–34. Frobenius an Wilhelm II., 24.2.1932: Franzen/Kohl/Recker, Nr. 140, S. 434–
440. 137
Wilhelm II. an Frobenius, 30.9.1932: Franzen/Kohl/Recker, Nr. 152, S. 460–
464. 138 „Der Weg des Naturwissenschaftlers zu Gott. Max Planck ueber ‚Religion und Naturwissenschaft‘ “: RA Utrecht, Nr. 263 (Fiche 1557). 139 Wilhelm II. an Fräulein Geibel, 3.4.1940: RA Utrecht, Nr. 263 (Fiche 1556).
III. Predigten und theologische Überlegungen
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Damit war Wilhelm II. wieder bei dem angelangt, was er 1903 im Zuge des Babel-Bibel-Streites über die Trennung von Religion und Wissenschaft gesagt hatte.140 Er polemisierte entsprechend vor allem in den letzten Jahren seines Lebens heftig gegen wissenschaftlich-theologisches „Phrasengeklingel“, das keinerlei Anhalt mehr im praktischen Glaubensleben habe.141 Die mangelnde Klarheit der wissenschaftlichen Theologie und die innere Zerstrittenheit der evangelischen Kirche machte der Kaiser als Hauptursachen für die schwindende Bindekraft evangelischen Christentums aus. Bezeichnend ist, daß die einzige öffentliche Erörterung einer theologischen Fachfrage, die Wilhelm seit dem Hollmann-Brief im Babel-Bibel-Streit unternommen hat, den innerreformatorischen Abendmahlsstreit behandelte. In seinem 1929 erschienen Buch Meine Vorfahren erlaubte er sich einen historischen Exkurs über die Reformation, bei dem er die Leistungen Luthers würdigte, aber auch auf den Aspekt der „Unduldsamkeit“ des ganzen Reformationszeitalters zu sprechen kam: „In dem Marburger Gespräch zwischen Calvin [!] und Luther kam die völlig verschiedene Ansicht über die Auffassung des Abendmahls bzw. über die Auslegung der Einsetzungsworte des Herrn derart zum Durchbruch, dass der Riß unheilbar wurde. ‚Ist‘ oder ‚Bedeutet‘ wurde zur Kampflosung, und leider ließ sich Luther hinreißen, schließlich dem Gegner den rechten, wahren Geist abzusprechen, wozu er nicht berechtigt war. Sein ‚Est, est‘ hat schweren Schaden gestiftet. Ist diese Tatsache, der Zwiespalt zwischen der Lutherischen und Reformierten Kirche, schon an sich tief zu beklagen, so wird sie noch beklagenswerter, da man jetzt – durch die Sprachforschung besser orientiert – erklären muß, daß der Kampf zwischen beiden großen Reformatoren vollkommen überflüssig war. Beide kannten die aramäische Ursprache nicht, die jetzt gelesen werden kann. Sie gehört zur Gruppe der semitischen Sprachen und kann als Vorläuferin des heutigen SyrischArabischen angesehen werden. Daher hat das Aramäische keine Verben. Da der Herr im Umgang mit seinen Jüngern aramäisch sprach, so hat er weder ‚Ist‘ noch ‚Bedeutet‘ gesagt, sondern nur die Substantiva gebraucht. Die Auffassung Calvins, die er generell vom Abendmahl als einem ‚Gedächtnismahl‘ vertrat, hat gleichfalls eine Unterlage in den Worten des Herrn und ist vollkommen berechtigt. Aber der Hauptfehler bei dem Streit war das Sich-Festlegen auf die Einsetzungsworte bzw. auf ihren Sinn, wobei man die viel größere, gewaltigere Tatsache total übersah, daß der Herr durch Symbole in greifbarer, irdischer Gestalt – Brot und Wein – den Menschen ihrem leiblichen Auge sichtbare, mit Händen greifbare Garantien darbot, daß ihnen ihre Sünden vergeben seien. Das langdauernde Mönchtum Luthers hatte in ihm die Vorstellung von der Hostie so gefestigt, daß er aus ihr heraus das ‚Ist‘ als die Hauptsache ansah, indem er die Tatsache vergaß, daß der in seinem irdisch-menschlichen Leib vor seinen Jüngern sitzende Herr der Auffassung Luthers absolut widersprach. Nicht ‚Ist‘ oder ‚Bedeutet‘ sind die 140
Siehe dazu Kapitel E. IV. Vgl. auch Wilhelm II. an Graf Luxburg, 14.4.1939: RA Utrecht, Nr. 263 (Fiche 1556). 141
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Hauptursache für uns Menschen, sondern die Garantie der Verheißung: ‚Euch sind Eure Sünden vergeben!‘ Das rufe ich allen Mitgliedern meines Hauses zu, damit auch sie befähigt seien, das Ihre dazu nach Kräften beizutragen, damit der unselige Streit zwischen Lutheranern und Reformierten sein Ende finden möge!“142
Schon 1923 hatte Wilhelm II. von Reinhold Seeberg die für ihn entscheidende Information erhalten, daß Luthers Beharren auf dem „est“ der Einsetzungsworte aus neuerer sprachwissenschaftlicher Sicht keine Grundlage habe.143 Daß Wilhelms auf dieser Grundlage entwickeltes Abendmahlsverständnis – Brot und Wein als „Symbole“ der Sündenvergebung – selbst im Kern reformiert war, scheint ihm kaum bewußt gewesen zu sein. Er glaubte vielmehr, eine Kompromißformel gefunden zu haben, die in der Lage sei, jahrhundertealten konfessionellen Hader zu tilgen.144 Daran änderte auch der Einspruch von seiten seiner katholischen Briefpartner nichts, die aber ohnehin sowohl die lutherische als auch die reformierte Abendmahlslehre ablehnten.145 Neben der mangelnden Einigkeit der evangelischen Kirche befürchtete Wilhelm II. schließlich, daß die gegenwärtigen Amtsträger für eine notwendige kirchliche Erneuerung charakterlich ungeeignet seien. An Blüher schrieb er 1929: „Die Evangel. Kirchenhäupter von jetzt sind alle Hosen . . . und nach allen Seiten sich verbeugende Compromißler, die nicht ‚anstossen‘ wollen. Das wollen die Diener dessen sein, Der sich bis zum Kreuzestod einsetzte für Gottes seines Vaters Sache? Wenn der Herr nicht hätte ‚anstossen‘ wollen, dann wäre die Menschheit sammt und sonders schon in der Hölle, oder ihr sicher! [. . .] Ein feste Burg ist ihnen vollkommen für die Praxis verloren gegangen. Was ich ihnen im Kriege zurief: ‚Ein Mann mit Gott ist immer in der Majorität!‘ ist restlos über Bord geworfen! Es ist abstossend sog. Diener Gottes derart kleingläubig zu sehen, wenn man Luther daneben stellt!“146
Diese Äußerungen Wilhelms II. über die gefährdete Zukunft der evangelischen Kirche und über das zu klärende Verhältnis von Religion und Naturwissenschaft bieten eine Erklärung dafür, daß der Kaiser im Exil in seinen nach außen gerichteten religiösen Stellungnahmen nicht über theologische Streitfragen sprach oder gar seinen Vorschlag zur Neufassung des biblischen Kanons präsentierte, sondern eine Besinnung Europas, vor allem Deutschlands, auf christliche Grundsätze anmahnte. 142
Wilhelm II., Meine Vorfahren, S. 42–44. Vgl. Niederschriften des Kaisers zu Chamberlains Buch „Mensch und Gott“, 3.6.1923, in: Chamberlain, Briefe II, S. 273–275. 144 Vgl. Niederschriften des Kaisers zu Chamberlains Buch „Mensch und Gott“, 3.6.1923, in: Chamberlain, Briefe II, S. 273–275. 145 Vgl. die Briefe Wilhelms an den Grafen Spee und den Grafen Luxburg: RA Utrecht, Nr. 261 (Fiche 1545, 1546), Nr. 263 (Fiche 1556). 146 Wilhelm an Hans Blüher vom 29.8.1929. GStA BPH Rep. 53 Nr. 352, S. 2–3. 143
IV. Zusammenfassung
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IV. Zusammenfassung Im Exil widmete sich Wilhelm II. in erster Linie seinen privaten Interessen, zu denen natürlich auch Politik und Theologie gehörten. Durch den Ethnologen Leo Frobenius lernte Wilhelm die aktuellen Forschungen über den rituellen Königsmord vorschriftlicher Kulturen kennen. Die Tötung des Herrschers nach einer bestimmten Frist oder in Krisenzeiten, so Frobenius, habe dabei dem Zweck gedient, den schwachen Herrscher zu beseitigen und damit das Königtum selbst auf Dauer zu stellen. Die Parallele zu den Königstodplänen vom November 1918 lag auf der Hand, wurde aber weder von Frobenius noch von Wilhelm explizit vollzogen. Statt dessen bot Frobenius’ Theorie vom schicksalhaften Ablauf der Zeitabschnitte, zu denen eben auch der Königsmord und die ihm folgende Anarchie gehörte, dem Kaiser eine Entlastung von persönlicher Verantwortung für das eigene politische Scheitern. Es spricht jedenfalls vieles dafür, daß dies das eigentliche Thema seines Exillebens gewesen ist und er demgegenüber den Versuch einer Wiederherstellung seiner Monarchie gar nicht besonders intensiv betrieb. Die Kontakte zur DNVP und später zur NSDAP waren sporadisch und kamen über erste Sondierungen nicht hinaus. Was die NSDAP betrifft, so lobte der Kaiser den „nationalen Kern“ des nationalsozialistischen Anliegens, befürchtete aber, daß deren revolutionär-demagogisches Gebaren negativ wirken würde. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung wurde Wilhelm relativ schnell klar, daß Hitler nicht ernsthaft an eine Restaurierung der Monarchie dachte. Wilhelms moralische Entrüstung zuerst über die Röhm-Affäre, schließlich über die Pogrome von 1938 zeigt dann endgültig die weltanschauliche Trennlinie zwischen dem Kaiser und dem Nationalsozialismus. Frobenius war aber nicht nur dafür verantwortlich, daß Wilhelm II. sich frei von Schuld für den November 1918 fühlte, sondern gab dem Kaiser auch politisch-theologisch eine optimistische Perspektive. Der pessimistischen Kulturkritik Oswald Spenglers begegnete Frobenius mit dem Hinweis, daß Deutschland zusammen mit Nord- und Osteuropa zu einem eigenen Kulturkreis gehöre, der mit dem westeuropäischen „Abendland“ wenig zu tun habe. Wie eine Weiterführung der „Ideen von 1914“ liest sich Frobenius’ Unterscheidung zweier Kulturtypen, die eine weiblich-materialistisch-rationalistisch, die andere männlich-mystisch-idealistisch. Deutschland, so Frobenius und mit ihm Wilhelm, gehöre zum letzteren Kulturtyp und sei deshalb in der Lage, eine Erneuerung der europäischen Kultur herbeizuführen. In diese spezifisch ausgeprägte Kulturkritik gehörte auch weiterhin die Frontstellung gegen das Judentum. Wilhelms judenfeindliche Äußerungen
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verstärkten sich im Exil im Vergleich zur Regierungszeit erheblich, blieben aber weiterhin ausschließlich privat. Sein Antijudaismus war dabei nicht eigentlich rassisch, sondern geistig-religiös begründet; im Hintergrund stand die Überzeugung, daß Christentum und Judentum religiöse Gegensätze seien. In seiner umfangreichen theologischen Korrespondenz ging es deshalb vor allem um die Frage des Alten Testaments. War er zu Beginn der 1920er Jahre noch davon überzeugt, daß erst infolge babylonischen Einflusses seit dem Exil religiös wertvolles Gedankengut in das Alte Testament eingeflossen war, so entwickelte Wilhelm II. Ende der 1920er Jahre unter dem Einfluß von Alfred Jeremias die Auffassung, daß man im Gegenteil innerhalb des Alten Testaments zwischen dem alten abrahamitisch-mosaisch-prophetischen Israel und dem nachexilischen „Jehuda“ unterscheiden müsse. Letzteres begründe jüdische Identität rassisch und sei die Wurzel des heutigen Judentums. Die altisraelitische Tradition des Alten Testaments dagegen gehöre als vorbereitende Offenbarung in die Vorgeschichte des Christentums. Es paßt dazu, daß Wilhelm II. völkische Religionsentwürfe explizit ablehnte und sich auch als Gegner der Deutschen Christen verstand. Das heißt aber nicht, daß Wilhelm selbst nicht auch eine völkische Inkulturation der christlichen Botschaft propagiert hätte. Die machte allerdings vor der Person Christi Halt – die anfangs noch erörterte Frage nach der rassischen Herkunft Jesu lehnte er schließlich als irrelevant ab – und stand gegenüber dem eigentlichen religiösen Interesse des Kaisers eher im Hintergrund. In seinen selbst geschriebenen, selbst gehaltenen und teilweise veröffentlichten Predigten sparte Wilhelm II. die Verhältnisbestimmung von Judentum und Christentum weitgehend aus und thematisierte seine Vorschläge zur Kürzung des Alten Testaments nicht. Statt dessen redete er einer betont christlichen Lebensführung das Wort. Aus seiner Briefkorrespondenz wird deutlich, daß er damit gegen einen zunehmenden gesellschaftlichen Bedeutungsverlust der christlichen Botschaft kämpfen wollte. Als dessen Ursachen machte er die innere Zerstrittenheit der evangelischen Kirche und die mangelnde persönliche Eignung ihrer Amtsträger verantwortlich.
I. Schlußbetrachtung Die vorliegende Arbeit schließt zwei miteinander verbundene Forschungslücken. Zum einen hat sie das politische Selbstverständnis Wilhelms II. mit besonderer Berücksichtigung seiner religiösen Grundlagen rekonstruiert. Seit Isabel Hull das „persönliche Regiment“ Wilhelms II. als einen modernen, auf das Massenzeitalter zugeschnittenen Regierungsstil interpretiert hat, steht die Analyse des politisch-theologischen Selbstverständnisses des Kaisers eigentlich auf der Tagesordnung.1 Der politische Vollzug Wilhelms II. und seine öffentliche Wahrnehmung ist bereits relativ breit untersucht worden; der Kaiser ist dabei als „dynamisches Image“2, als „ ‚Postmoderner‘ avant la lettre“3, als „Bürgerkaiser“4 und sogar als „Demokrat auf dem Thron“5 in den Blick genommen worden. Eine systematische Untersuchung der zugänglichen Quellen im Hinblick auf die Frage nach dem politischen Selbstverständnis Wilhelms II. und seinen religiösen Grundlagen hat es bislang aber nicht gegeben und wird von der neueren Forschung auch explizit als Desiderat bezeichnet.6 Dabei kommt in aktuellen Arbeiten durchaus das Bewußtsein dafür zum Ausdruck, daß Wilhelms Herrschaftsverständnis nicht einfach ein anachronistischer Versuch gewesen ist, traditionelle Begründungsmuster in modernen Kontexten zu repristinieren, sondern daß bei Wilhelm II. eine Verschiebung von traditioneller, auf die 1
Vgl. Hull, Persönliches Regiment, S. 20–22. Siehe zum folgenden Absatz auch den forschungsgeschichtlichen Überblick in Kapitel B. 2 Clark, Wilhelm II., S. 10. 3 Kohlrausch, Samt und Stahl, S. 18. Siehe auch Benner; Jarchow; Samerski, Wilhelm II. und die Religion; Marschall; Reinermann; Rebentisch; Kohlrausch, Monarch im Skandal; König. 4 Vgl. Pintschovius; vgl. auch Hull, Persönliches Regiment, S. 20–21. 5 Straub, S. 185. 6 Vgl. vor allem Benner, S. 17–25. Benner bietet einen Überblick über die Forschungsgeschichte zu Wilhelm II. und kommt zu dem Ergebnis: „Die politische Theologie Wilhelms II. und die religiöse Rezeption des monarchischen Gedankens um 1900 sind von der kirchen- und theologiegeschichtlichen Forschung zum 19. Jahrhundert bisher wenig beachtet worden, was angesichts der bedeutenden Stellung des Deutschen Kaisers und der Frage nach einer wilhelminischen Leitkultur doch erstaunt.“ (Benner, S. 24) Benners eigene Analyse der politischen Theologie Wilhelms II. konzentriert sich fast ausschließlich auf die Orientreise; sein systematisches Kapitel über die religiöse Weltanschauung Wilhelms II. ist kaum aus den Quellen gearbeitet.
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I. Schlußbetrachtung
Amtsautorität bezogener zu charismatischer, auf die persönliche Autorität und Authentizität bezogener Herrschaft zu beobachten ist.7 Damit ist die systematische Seite der Frage nach der politischen Theologie Wilhelms II. angesprochen: Das Verhältnis von Religion und Politik um die Jahrhundertwende zwischen Tradition und Moderne, Amt und Charisma. Diese Arbeit hat zu zeigen versucht, daß Wilhelms politisch-theologisches Selbstverständnis dabei weder eindeutig der traditionalen noch eindeutig der persönlich-charismatischen Seite zuzuordnen ist. Sein Anspruch, als „Herr der Mitte“ auf eine umfassende nationale Integration hinzuwirken und politisch wirksame nationale Identität zu stiften, stützte sich sowohl auf sein „Amt“ als Deutscher Kaiser als auch auf seine persönliche Überzeugung und Authentizität, mit der es dieses Amt füllen wollte. Die inhaltlichen Anschauungen, die er öffentlich propagierte – Reichspatriotismus, monarchische Gesinnung, christliche Lebensführung – waren inhaltlich meist relativ traditionell oder höchstens moderat modernisiert; die Art und Weise seines Auftretens – seine nicht selten Skandale auslösenden Reden, seine Reise- und Künstlertätigkeit – brachten aber eine persönlich-charismatische Dimension in die öffentliche Wahrnehmung seiner Person und wurden auch als spezifisch moderne Phänomene verstanden. Das betrifft gerade die Individualität und Persönlichkeit des Kaisers, mit der er sein Amt trug. Besonders disparat war allerdings die Rezeption kaiserlicher Selbstdeutung im Falle des Gottesgnadentums, das Wilhelm explizit nicht modern-charismatisch, sondern evangelisch-berufstheologisch begründete, das ihm aber vielfach als reaktionär-absolutistisch oder als persönlich-selbstverherrlichend ausgelegt wurde.8 Dabei gingen die Wahrnehmungen und Vermutungen darüber ineinander über, wie traditionell-amtsbezogen oder wie modern-personenbezogen Wilhelms Selbstdeutung war. Damit zeigt sich vor allem anhand des Gottesgnadentums, daß Amt und Person, Tradition und Moderne bei Wilhelm II. miteinander verbunden waren. Die politische Theologie des Kaisers stellt in dieser Hinsicht tatsächlich eine Art Übergangsphänomen dar und ist damit möglicherweise auch ein Indikator für einen generellen Verschiebungsprozeß. Insgesamt entwickelte sich bei Wilhelm II. im politischen Vollzug ein eigentümlich wechselseitiges Begründungsmuster aus religiösen und politischen Vorstellungen: Einerseits nutzte der Kaiser den beanspruchten Status als „Herr der Mitte“, um für Monarchie, Nation und Christentum zu werben. Andererseits waren es gerade diese persönlichen Überzeugungen vom Wert von Monarchie, Nation und Christentum, die sein Selbstverständnis 7 So Benner, S. 360–364; Clark, Wilhelm II., S. 210–218; Obst, Einer nur ist Herr, S. 358–364. 8 Siehe dazu Kapitel D. I.
I. Schlußbetrachtung
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als „Herr der Mitte“ erst begründeten. Das führte in der Praxis tatsächlich zu dem Versuch einer „Charismatisierung“ traditioneller Herrschaftsbegründung – zu dem Preis, das die Legitimität der Hohenzollernmonarchie damit von der persönlichen Autorität und Authentizität und nicht zuletzt vom politischen Erfolg Wilhelms II. abhing. Die neueren Arbeiten über Wilhelm II. deuten bereits genau in diese Richtung; künftige Forschungen zur öffentlichen Rezeption des Kaiserimages können sich nun auch auf die vorliegende Analyse des politisch-theologischen Selbstverständnisses Wilhelms II. stützen. Wichtige Ursachen dieses Selbstverständnisses liegen dabei in Wilhelms politisch-theologischen Prägungen vor dem Erwerb der Kaiserwürde.9 Von besonderer Bedeutung war die Erziehung durch Georg Ernst Hinzpeter, dessen Erziehungskonzeption in bezug auf die Religion darauf abzielte, dem zukünftigen Kaiser die religiös-ethische Verantwortung vor Augen zu führen, die sein Herrscheramt mit sich bringen würde. Wie sehr Wilhelm davon überzeugt war, daß religiöse Überzeugung und politisches Handeln sich gegenseitig bedingen, wurde in der sogenannten Stoecker-Affäre deutlich. Wilhelm hatte hier seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, daß man sich als Christ selbstverständlich auch sozialpolitisch zu engagieren habe, mußte sich aber von Bismarck darüber belehren lassen, daß Politik und Religion nicht leichtfertig vermischt werden dürften. Wilhelm akzeptierte das aber nur im Hinblick auf die Geistlichkeit, deren politische Agitation im Widerspruch zum eigentlichen geistlichen Auftrag stehe; für sich selbst als politischen Funktionsträger nahm er ein Recht auf religiöse und sich aus seinen religiösen Überzeugungen ergebende (sozial-)politische Parteinahmen weiterhin in Anspruch. Wie sehr das politische Selbstverständnis des Kaisers dann von religiösen Überzeugungen durchdrungen war, zeigt sich an seinen öffentlich geäußerten Bekenntnissen zum Gottesgnadentum.10 Dabei knüpfte er weniger an den politischen Diskussionskontext des 19. Jahrhunderts an, in dem das Gottesgnadentum vor allem als staats- und verfassungsrechtliche Legitimationsformel benutzt wurde, sondern hob in erster Linie auf die persönliche sittliche Verpflichtung ab, die die Verantwortung des Herrschers vor Gott impliziere. Damit verband sich einerseits der Hinweis auf ein allgemeines Gottesgnadentum jedes Christen im Hinblick auf dessen „Amt“ in der Welt, andererseits aber auch die deutlich politische Überzeugung, durch Gottes Gnade in die Lage versetzt zu sein, als unabhängiger und überparteilicher Kaiser das Wohl des Ganzen im Auge zu haben, und zwar besser als jede doch nur einem Partikularinteresse verpflichtete Parteiregierung das könnte. 9 10
Siehe dazu Kapitel C. Siehe dazu Kapitel E. I.
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I. Schlußbetrachtung
Diese Erwägung schlug sich in Wilhelms politischem Selbstverständnis darin nieder, daß er überzeugt war, als Kaiser „Herr der Mitte“ zu sein. Das monarchische als das überparteiliche Prinzip wollte er dazu nutzen, die innenpolitischen Konflikte zu entschärfen und eine umfassende nationale Integration in Gang zu bringen. Dazu inszenierte er sich als Schutzherr von Arbeiterschaft, Katholiken und teilweise auch Juden. Die Religion spielte in diesem Konzept wiederum eine praktische Rolle: Eine Stärkung des – im weitesten Sinne traditionellen, dabei aber überkonfessionell verstandenen – Christentums betrachtete der Kaiser als für seine Integrationspolitik förderlich.11 Die Frage nach den – im weitesten Sinne religiösen – Grundlagen der Legitimität politischer Herrschaft ist die systematische Grundfrage politischer Theologie, wie sie sich zuerst im wilhelminischen Diskussionskontext, später dann im Ausgang von Carl Schmitt entwickelt hat. Wie sehr Wilhelm II. in der politischen Praxis das neuzeitliche Grundproblem der Sicherstellung politischen Legitimitätsglaubens als Aufgabe begriff, wurde im Falle der politischen Mythen deutlich, die Wilhelm II. zur Stiftung nationaler Identität und zur Legitimierung der eigenen Herrschaftsgrundlage propagierte:12 Wilhelm I. wurde als „Wilhelm der Große“ in Form von Denkmälern, Festschriften, Reden und Widmungsbauten als eigentlicher Reichsgründer geehrt und als nationale Identifikationsfigur empfohlen. Dabei betonte Wilhelm II. besonders die Christlichkeit seines Großvaters wie seiner ganzen Dynastie und hob die Verdienste der Hohenzollern um Christentum und Reich hervor – natürlich auch in der Absicht, damit seine eigene Stellung zu sichern und in der Person des Großvaters auch sich selbst zu verehren. Daneben stellte Wilhelm II. mit Hilfe repräsentativer Bauten und programmatischer Reden einen traditionalen Bezug des neuen zum alten Reich her, wobei er an verschiedene Traditionselemente – römisches Reich, Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, germanisches Königtum – anknüpfte. Auch hier versuchte er, das Christentum als politisch nutzbaren Faktor ins Spiel zu bringen, so etwa in dem Hinweis angesichts des Wiederaufbaus der Marienburg, daß Christentum und „Deutschtum“ untrennbar zusammengehörten. Wilhelms dritter politischer Mythos schließlich nahm das „Germanentum“ in den Blick, dessen „Geist“ er wiederbeleben wollte. Das, so war Wilhelm überzeugt, komme dem welthistorischen Auftrag der Deutschen zugute, Kulturmission zu treiben und ein Weltreich des deutschen Geistes zu errichten. Dazu zählte für den Kaiser auch eine christliche Religiosität, die besonders auf die Pflege „germanischer Innerlichkeit“ konzentriert sei. Um die religiöse Dimension seiner politischen Mythen zu verdeutlichen, griff Wilhelm II. regelmäßig auf die Figur des Erzengels Michael zurück, 11 12
Siehe dazu Kapitel D. II.–D. VI. Siehe dazu Kapitel F.
I. Schlußbetrachtung
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den er als deutschen Nationalheiligen (re-)installieren wollte. Der Drachentöter konnte dabei erstens als Allegorie Deutschlands den geschichtsteleologisch gedeuteten Weg des deutschen Volkes von den Germanen bis zur Reichsgründung 1871 symbolisieren, zweitens als Sinnbild des Kaisers selbst dessen auf innenpolitischen Frieden und nationale Einheit ausgerichtete Innenpolitik in eine religiöse Dimension stellen, und drittens das mit der deutschen Kulturmission verbundene außenpolitische Konzept einer europäischen Friedensordnung unter deutscher Führung verkörpern. Durch die Verwendung eines christlichen Heiligen als Symbolfigur kam dabei sinnfällig zum Ausdruck, wie sehr die politischen Grundüberzeugungen und -optionen des Kaisers von christlich-religiösen Vorstellungen durchdrungen waren. Auch bei den politischen Mythen Wilhelms II. wird das Wechselspiel zwischen Tradition und Moderne, Amt und Person deutlich: Die Verherrlichung des Großvaters, der Hohenzollern und des alten Reiches wirkte zunächst traditional ausgerichtet; doch schon der Eklektizismus, mit dem der Kaiser verschiedenste Traditionselemente zu einem Ganze fügte, war unbestreitbar modern und hatte seine Grundlage in den persönlichen Überzeugungen und Vorlieben Wilhelms. Die Rolle des Herrschers als Kirchenstifter mochte noch traditional ausgelegt werden; der „Künstlerkönig“, der seine künstlerischen Erzeugnisse in den Dienst seiner Politik stellte, war bereits etwas Modernes. Und das Germanentum, das der Kaiser auf den Nordlandfahrten beschwor, diente auch dem Zweck, eine personale Bindung an den Herrscher herzustellen. In den beiden Ernstfällen der Regierung Wilhelms II. – der Julikrise 1914 und dem Kriegsende im November 1918 – zeigte sich, daß der Kaiser in der Wirkung tatsächlich eine Art charismatischer Herrschaft errichtet hatte: Die Begeisterung im August 1914 über den „Friedenskaiser“ wie die Enttäuschung über die als feige ausgelegte Flucht nach Holland im November 1918 basierten darauf, daß nicht das politische Amt des Kaisers, sondern dessen persönliche Eignung und Autorität für dessen Legitimität ausschlaggebend seien. Die zweite Forschungslücke, die diese Arbeit schließt, betrifft die „Theologie“ Wilhelms II. Dazu wurde die religiöse und theologische Vorstellungswelt des Kaisers auf Basis der privaten Korrespondenz, der kirchenpolitischen Entscheidungen, der öffentlichen theologischen Stellungnahmen sowie der Exilkorrespondenz und der Exilveröffentlichungen des Kaisers rekonstruiert.13 Wilhelms Positionierungen bei der Frage der Berufung Harnacks 13 Wie in Kapitel B. gezeigt, hat bisher lediglich Thomas Benner einen ähnlichen Versuch unternommen, der aber weder die zeitgenössischen Diskussionskontexte berücksichtigt noch wirklich aus den Quellen gearbeitet ist. Das Desiderat ist in diesem Punkt noch größer; beispielhaft sei in der neueren Forschung Martin Friedrich
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I. Schlußbetrachtung
an die Berliner theologische Fakultät, im Laufe des Apostolikumstreits und auch in der Frage der inneren und äußeren Verfaßtheit der preußischen Landeskirche zeigen, daß Wilhelm keineswegs eindeutig der kirchlichen Rechten zugehörte – wie das spätestens seit der Stoecker-Affäre vielfach vermutet wurde – sondern daß er einen um Ausgleich und Einheit bemühten Kurs der Überparteilichkeit auch in der Kirchenpolitik verfolgte. Für Wilhelms eigene theologische Überzeugungen war dabei der zeitgenössisch vor allem kirchenpolitisch als zentral wahrgenommene Gegensatz zwischen konservativer und liberaler Theologie bestimmend. Wilhelms Gesprächspartner in theologischen Fragen kamen aus beiden „Lagern“, waren aber bevorzugt Personen wie Adolf Harnack und Houston Stewart Chamberlain, deren Positionen dazwischen oder ganz jenseits dieses Gegensatzes standen. Besonders aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die intensive Beziehung des Kaisers zu Chamberlain, dessen 1899 erschienene Grundlagen des 19. Jahrhunderts bei Wilhelm fast eine Art Offenbarungserlebnis auslösten. Der Kontakt zu Chamberlain zeigt nämlich, daß der Kaiser auch für die Art von religiösem Interesse ansprechbar war, die sich im wilhelminischen Kaiserreich jenseits des unmittelbar Kirchlichen entwickelte.14 Im Verlaufe der intensivsten theologischen Diskussion, die Wilhelm II. als amtierender Kaiser geführt hat – der öffentlichen Stellungnahme sowie den privaten Korrespondenzen darüber im Zuge des Babel-Bibel-Streits 1903 – wurde allerdings erkennbar, daß Wilhelms Begeisterung für Chamberlain vor allem aus dessen Hervorhebung einer welthistorischen Vorzüglichkeit des „Germanischen“ resultierte und nicht so sehr aus Chamberlains theologischer Position. Die ging in ihrer – im Grunde radikalliberalen – Verinnerlichung des Glaubens dem Kaiser offenbar zu weit. Aber auch Harnacks im Verlauf der Diskussion geäußerter Hinweis, die Unterscheidung zwischen Glaube und Wissen führe dazu, daß die wissenschaftliche Theologie sich jeder quasimetaphysischen Ausdeutung des Glaubensgeheimnisses enthalten solle, stellte Wilhelm nicht zufrieden. Er selbst gestand unumwunden zu, daß die historisch-kritische Bibelforschung gewisse altkirchliche Traditionsbestände wie die Verbalinspirationslehre obsolet mache, befürchtete aber, daß eine zunehmende wissenschaftliche Infragestellung traditionell-christlicher Frömmigkeit eine Gefahr für die Glaubenssubstanz des Christentums zitiert, der im Rahmen seiner Untersuchung der religiösen Erziehung Wilhelms zu dem Schluß kommt: „Gewiß, über die religiösen Anschauungen des Kaisers müßte erst noch viel gründlicher geforscht werden, bis wir uns auf gesichertem Boden bewegen können.“ (Friedrich, Religion, S. 63.) Siehe zum folgenden Kapitel E. 14 Vgl. dazu vor allem Nipperdey, Religion im Umbruch, S. 143–153; vgl. Bredow/Noetzel, Lehren des Abgrunds, S. 24–33; vgl. Blaschke/Kuhlemann, Religion in Geschichte und Gesellschaft, S. 7–10; vgl. Simon-Ritz, S. 457–459; vgl. Puschner, Die völkische Bewegung, S. 204–262; vgl. Breuer, S. 11.
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bedeute. Aus diesem Grund verteidigte der Kaiser das Recht, den Glaubensgrund rational ausdeuten zu dürfen, und tat das im sogenannten HollmannBrief sogar öffentlich. Er versuchte dabei, Ansätze einer modernen Theologie zu bieten, in der sich auch eine im weitesten Sinne „konservative“ christliche Frömmigkeit wiederfinden konnte. Der Hollmann-Brief ist dabei aus zwei Gründen von besonders hoher Relevanz für die Einordnung der „Theologie“ Wilhelms II.: Erstens liefert es Aufschlüsse über die Frage, in welchem Verhältnis Wilhelms private Überzeugungen zu seinen offiziell und als Amtsträger zum Ausdruck gebrachten Haltungen stehen. Ein Vergleich zwischen den privaten theologischen Überlegungen Wilhelms und den religions- und kirchenpolitischen Äußerungen des Kaisers zeigt im Regelfall, daß Wilhelm II. offiziell eine weitgehend traditionelle Gestalt des Christentums bevorzugte, privat aber durchaus Änderungen und Infragestellungen des christlichen Traditionsbestandes akzeptierte. Der Hollmann-Brief veröffentlichte diese vorher nur privaten theologischen Überlegungen aber und vermischte damit beide Bereiche, was auch tatsächlich gewisse Irritationen auslöste. Für die Analyse des Verhältnisses zwischen privaten und öffentlichen Positionen zeigt der Hollmann-Brief, daß der Kaiser die Trennung entweder selbst gar nicht wahrnahm oder – was wahrscheinlicher ist – daß er hier versuchte, beides miteinander zu vermitteln. Damit verbunden ist zweitens, daß die mangelnde systematische Stringenz dieses Vermittlungsversuchs dessen grundsätzliche Schwierigkeit offenbart. Im Hintergrund des Hollmann-Briefes stand die theologische bzw. theologiegeschichtliche Grundfrage, wie man den Traditionsbestand des Christentums und das moderne Weltbewußtsein miteinander vereinbaren könne. Die systematische Unzulänglichkeit, mit der der Kaiser diese Frage behandelte, ist auch ein Ausdruck seiner religiösen Unruhe und Unentschiedenheit sowie seines individuellen Eklektizismus auch in religiöser Hinsicht. Der Theologiegeschichtsschreibung bleibt es überlassen, zu klären, inwiefern diese religiöse Suchbewegung tatsächlich zeittypisch gewesen ist. Was im Hollmann-Brief nur angedeutet war – die Suche nach Antworten auf das Bedrohungsgefühl angesichts eines gesellschaftlichen Relevanzverlustes des Christentums – kam bei Wilhelm II. im Exil überdeutlich zum Vorschein.15 Dabei befaßte sich der Kaiser auch mit zeitgenössischen Kontextualisierungen des Christentums in Gestalt von völkischen Religionsentwürfen und war vor allem der Auffassung, der biblische Kanon müsse um seine nur für das Judentum bedeutsamen Elemente gereinigt werden. Im Zuge einer neuerlichen Verschiebung seiner theologischen Positionen gegen Ende der 1920er Jahre lehnte Wilhelm II. aber explizit ein völkisch verengtes Christentum ab und betonte statt dessen die Notwendigkeit, gegen reli15
Siehe dazu Kapitel H. III.
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I. Schlußbetrachtung
giöse Indifferenz und Atheismus das Eigenrecht der Religion gegenüber der Wissenschaft festzuhalten und mahnte außerdem die seiner Ansicht nach mangelnde Einheit und defizitäre personelle Zusammensetzung der evangelischen Kirche an. Die Präferenz völkischer Optionen immer dann, wenn Wilhelm theologisch eher „liberal“ – im Sinne einer historischen Infragestellung des Alten Testaments und im Sinne einer ganz auf Innerlichkeit konzentrierten Religionsauffassung – argumentierte, ist besonders interessant, weil er die in der Forschung immer wieder vertretene These zu bestätigen scheint, daß es eine besondere Affinität liberaler Theologie zu völkisch-religiösen Konzepten gebe.16 Diese These ist auch der Hauptgrund dafür, daß der Wilhelminismus nach dem Zweiten Weltkrieg mehrere Jahrzehnte lang theologiegeschichtlich praktisch unberücksichtigt geblieben ist. Die liberale Theologie des 19. Jahrhunderts hat sehr lange unter dem Verdikt der Dialektischen Theologie Karl Barths gestanden, der eine einfache Verbindung des Christentums mit den jeweiligen kulturell-historischen Gegebenheiten grundsätzlich ablehnte.17 Die Behauptung einer besonderen Affinität liberaler Theologie zu völkischen und später nationalsozialistischen Theologien wirkte nach 1945 zusätzlich dahin, die Ansätze liberaler Theologie nicht weiter zu verfolgen.18 Seit einiger Zeit ist allerdings eine Neubewertung der liberalen Theologie im Gange, die sich zum Teil affirmativ auf Schleiermacher bezieht, sich aber auch sachlich mit Harnack oder sogar Emanuel Hirsch auseinandersetzt.19 In diesem Zusammenhang hofft der Verfasser, mit der Rekonstruktion der theologischen Vorstellungswelt des Kaisers und seiner Bezüge vor allem zu Harnack und Chamberlain eine weitere Forschungslücke geschlossen zu haben. Für die theologische Diskussion um den Begriff der politischen Theologie bietet die vorliegende Arbeit schließlich einen Beitrag, der eine bessere historische Einordnung und damit möglicherweise auch sachliche Beurteilung politischer Theologie unter den Bedingungen der Neuzeit ermöglicht. In Kapitel A. wurde darauf hingewiesen, daß der Wilhelminismus in dieser Frage 16
Siehe dazu auch Kapitel E. III.–E. IV. Vgl. Ruddies, S. 259–279. Vgl. dazu auch Fischer, Protestantische Theologie, S. 62–96. 18 Kinzig, S. 24. Vgl. dazu auch Graf, Liberaler Protestantismus, vor allem S. 174–178. Graf meint, die liberalprotestantischen Kulturstaatskonzepte mit ihren Grundelementen „Persönlichkeitspathos, hohe Kulturhomogenität, Kulturstaatsideal“ erklärten die „Ambivalenz im Spektrum der Einstellungen von Kulturprotestanten gegenüber dem Nationalsozialismus“. (Graf, Liberaler Protestantismus, S. 176). 19 Zur Schleiermacher-Forschung vgl. Nowak, Schleiermacher, dort eine Auswahl der wichtigsten Forschungsliteratur (S. 588–600). Zur Forschung über Emanuel Hirsch vgl. Barth, Christologie. Zur Harnack-Forschung vgl. Kinzig; Nottmeier. 17
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bislang praktisch unberücksichtigt geblieben ist. Die breite Debatte über die notwendig religiösen oder religionsartigen Legitimationsgrundlagen politischer Herrschaft, die um die Jahrhundertwende einsetzte und vor allem von George Sorel und Max Weber geführt wurde, zeigt bereits, daß vor allem in wilhelminischer Zeit die Fundamente für das gelegt wurden, was seit Carl Schmitt unter politischer Theologie verstanden wird.20 Die Rekonstruktion der politischen Theologie Wilhelms II. hat diesen Befund erhärtet. Der Kaiser verwendete nicht bloß die (christliche) Religion als Herrschaftsstabilisator, sondern versuchte auch umgekehrt, stabile Herrschaft zur Propagierung der Religion zu nutzen. Nach seiner Vorstellung ergänzten sich Politik und Religion und stärkten sich wechselseitig. Wilhelm II. bewegte sich damit allerdings geistig noch in einem weitgehend traditionellen Kontext religiöser Herrschaftsbegründung bzw. monarchischer Religionspolitik – auch wenn er durchaus versuchte, traditionelle Vorstellungen wie das Gottesgnadentum modern zu reformulieren. Seine politischen Mythen dagegen gehören deutlicher in den von Sorel und Weber geprägten Diskussionszusammenhang, indem sie praktisch-politische Anwendungsfälle des von den verschiedenen politischen Theoretikern erkannten grundsätzlichen Problems politischer Herrschaft waren, Legitimitätsglauben zu erzeugen. Beides – herrscherliches Selbstverständnis wie politische Mythen Wilhelms II. – waren dabei Ausdruck einer Verschiebung von traditionellen, auf das Amt bezogenen, zu modern-charismatischen, auf die Person bezogenen Begründungsmustern. Ohne daß der Kaiser dies jemals theoretisch reflektiert hätte, hat er doch im praktischen Vollzug von seiner Person her das Amt „neu erfunden“. Eine systematische Untersuchung des Phänomens der politischen Theologie kann an das hier erarbeitete personenbezogene historische Material anknüpfen. Das mit Blick auf die wilhelminische Epoche zu tun, wäre besonders reizvoll, weil hier – zumindest in der Gestalt Wilhelms II. – traditionelle und moderne Aspekte des Verhältnisses zwischen Politik und Religion gleichzeitig auftreten und hier also offenbar eine in Gang kommende Verschiebung sichtbar wird. Wie diese Verschiebung in die in der theologischen Forschung gängigen Modernisierungs- und Individualisierungstheorien21 einzuordnen ist, wäre ebenso zu klären wie die Bedeutung der Tatsache, daß die verschiedenen Totalitarismen und die durch „innerweltliche Religiosität“ gekennzeichneten „politischen Religionen“22 historisch erst entstehen, nachdem dieser letzte Versuch einer wechselseitigen Begründung von Politik und Religion gescheitert ist. 20
Siehe dazu Kapitel A.; siehe auch Kapitel F. Vgl. dazu beispielhaft Kaufmann, Religion und Modernität; Gräb/Charbonnier; vgl. auch zur soziologischen Diskussion Kron, Zeitgenössische soziologische Theorien. 22 Voegelin, S. 64. 21
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Personenregister Abdülaziz, Sultan des Osmanischen Reiches 112 Abdülhamid II., Sultan des Osmanischen Reiches 109–112, 114 Abraham 168, 172, 178–179, 281–282 Albrecht Achilles von Brandenburg 252 Alexander der Große 228 Althoff, Friedrich 98 Andersen, Friedrich 155, 158 Andresen, Bernd 78, 167 Antoninus Pius 203 Arndt, Ernst Moritz 147–148, 155, 227 Attila, König der Hunnen 237 August Wilhelm von Preußen (Sohn von Wilhelm II.) 183, 264 Augusta von Sachsen-Weimar-Eisenach (Gemahlin Wilhelms I., Großmutter Wilhelms II.) 31, 35, 47 Augustinus von Hippo 12 Bachofen, Johann Jakob 266 Balfour, Arthur James 247 Ballin, Albert 116, 234 Barkhausen, Friedrich Wilhelm 125– 127, 129, 133 Barth, Karl 173, 302 Bebel, August 92 Benner, Thomas Hartmut 23, 31, 35, 53, 78, 135, 183, 218, 283, 295, 299 Berg, Friedrich Wilhelm Bernhard von 250 Bergmann, Ernst 155 Bethmann Hollweg, Theobald von 71, 234–235 Bigelow, Poultney 270
Bismarck, Herbert von 37, 56, 59, 68 Bismarck, Otto von 20, 32, 37–45, 56–59, 61, 68, 72, 82, 88, 90, 93, 95, 97, 120, 139, 192–193, 196–199, 203, 206, 214, 227, 230, 233, 236, 245, 252, 297 Bitter, Karl Julius von 117 Blüher, Hans 104, 253, 261, 264, 271–273, 276–277, 282, 292 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 10 Bonifatius 201 Bonus, Arthur 155–156, 160 Boockmann, Hartmut 206 Bosse, Julius Robert 110, 142 Boyd Carpenter, William 240–241 Brakelmann, Günter 244 Brandt, Max August Scipio von 225 Breuer, Stefan 155 Bruch, Rüdiger vom 176 Buchner, Max 103–104, 122, 280, 283 Bülow, Bernhard von 52, 110, 114, 252 Busching, Paul 236, 239 Calvin, Johannes 291 Caprivi, Leo von 83, 99, 117, 206 Carlyle, Thomas 78 Chamberlain, Eva 215 Chamberlain, Houston Stewart 52, 108, 144–145, 148–151, 153, 155, 157–165, 169, 171, 176–184, 186– 188, 202, 215, 217, 226, 230, 241, 244–248, 271, 275, 277–279, 282, 284, 300, 302 Chlodwig I., Fränkischer König 65 Christlieb, Wilhelm Theodor 31
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Personenregister
Churchill, Winston 236 Clark, Christopher 20, 22, 26, 58, 77, 81, 108, 116, 118, 227, 254 Claß, Heinrich 116–117 Clausewitz, Carl von 147 Corvey, Widukind von 220 Cremer, Hermann 141 David, König Israels 210 Delbrück, Clemens von 249 Delitzsch, Friedrich 108, 163–172, 175–177, 182, 184, 187, 280 Dilthey, Wilhelm 146 Doepler, Emil 222 Dommes, Wilhelm von 118, 260, 262 Dörpfeld, Wilhelm 265 Douglas, Hugo Graf von 41 Droysen, Johann Gustav 195 Dryander, Ernst von 31, 131, 166– 167, 171, 184, 241–242 Duns Scotus, Johannes 165 Ebhardt, Bodo 202, 204 Edward VII., König von England 233–234 Elias, Norbert 20 Ernst I. (Sachsen-Gotha-Altenburg), der Fromme 131–133 Ernst II. zu Hohenlohe-Langenburg 131 Esra 150, 281–283 Eulenburg-Hertefeld, Philipp Graf (seit 1900 Fürst) zu 45–46, 49–53, 56, 60, 82–83, 103, 113–114, 116– 117, 158–159, 192, 196–197, 204, 211–212, 214–215, 227 Fehrenbach, Elisabeth 78 Fichte, Johann Gottlieb 147, 155 Fidus (Hugo Reinhold Karl Johann Höppener) 229 Field, Geoffrey 183 Fischer, Antonius Hubert Kardinal 99, 101
Foch, Ferdinand 251 Forsboom, Bernhard 52 Förster, Michael A. 78, 82 Frank, Franz Hermann Reinhold von 137–138 Franzen, Christoph Johannes 265, 268 Frazer, James 257–258 Freud, Sigmund 257 Friedrich, Martin 29–30, 299 Friedrich, Norbert 182 Friedrich I. Barbarossa 55, 57, 191, 197–199, 201, 209, 230 Friedrich I., Großherzog von Baden 42, 113–115 Friedrich I., König in Preußen 57, 76 Friedrich I. von Brandenburg 75–76 Friedrich III., Deutscher Kaiser 53– 56, 58–60, 68, 112, 130, 139, 142, 199, 202–203, 205, 211, 228, 230 Friedrich der Große 62, 195–196, 252–253, 267 Friedrich Wilhelm I. 196 Friedrich Wilhelm II. 196 Friedrich Wilhelm III. 108, 128 Friedrich Wilhelm IV. 196, 221 Frobenius, Leo 23–24, 258–260, 264– 268, 273, 290, 293 Fürstenberg, Carl 116 Galle, Maja 220 Geiss, Immanuel 229 Georg III., König von Großbritannien und Irland 221 Georg V., König von Großbritannien und Irland 30 Georg VI., König von Großbritannien und Irland 203 Gneisenau, August Neidhardt von 147 Gobineau, Joseph Arthur de 149 Goethe, Johann Wolfgang von 155, 159, 167–168, 176, 178, 201, 245 Gollwitzer, Heinz 157, 213, 224–225 Goltz, Alwina Gräfin von der 119, 272
Personenregister Göring, Hermann 260, 262 Görtz, Anna 47 Görtz, Emil 47, 53 Goßler, Gustav Konrad Heinrich von 139–140, 185 Graf, Friedrich Wilhelm 160, 242, 302 Groener, Wilhelm 249–250, 254 Grote, Bernd 226 Grützmacher, Richard Heinrich 137 Gschliesser, Oswald 76 Gutsche, Willibald 260–261 Habermas, Jürgen 10, 21 Haller, Johannes 50 Hammerstein, Wilhelm Joachim von 37 Hammurabi I. 168–169, 178 Hampe, Karl 57 Harden, Maximilian 116 Harnack, Adolf (seit 1914 von) 136– 144, 158–160, 171–176, 178–182, 185–187, 240–245, 278, 299–300, 302 Hartmann, Felix Kardinal von 289 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 79– 80, 146, 243 Heinrich I., König des Ostfrankenreichs 194, 220 Heinrich V., König von England 221 Heinrich VI., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 220–221 Heinrich VII., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 220 Heinrich von Preußen 27 Hennis, Wilhelm 13 Hepp, Robert 155–156 Herbst, Ferdinand 285 Herrmann, Wilhelm 169 Herwegen, Hildefons 273, 279–280 Herzl, Theodor 113–116, 122 Hill, David Jayne 235 Hindenburg, Paul von 248, 252, 263 Hintze, Otto 62–63, 66, 76
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Hinzpeter, Georg Ernst 23, 27–32, 43–44, 54, 58, 60, 297 Hirohito 30 Hirsch, Emanuel 18, 147, 181, 302 Hitler, Adolf 118, 260, 262, 269–270, 293 Hobsbawm, Eric 14 Hoffmann, Godehard 209 Hofmann, Johann Christian Konrad von 123 Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig zu 98, 192, 194, 226 Hohenlohe-Schillingsfürst, Gustav Adolf Kardinal Prinz zu 94–95 Hohlwein, Hans 156 Hollmann, Friedrich von 167, 179 Homer 168 Huber, Ernst Rudolf 40 Huber, Wolfgang 40 Hübner, Kurt 15 Hüffmeier, Wilhelm 18, 135 Hull, Isabel 22, 295 Humbert I. von Italien 57 Ilsemann, Sigurd von 250, 260, 263, 268, 279, 284 Jahn, Friedrich Ludwig 148 Jeremias, Alfred 258, 265, 273, 280– 284, 286, 294 Johann Sigismund von Brandenburg 128 Jung, Edgar Julius 74, 264 Justinian I., römischer Kaiser 208 Kaehler, Siegfried A. 253–254 Kant, Immanuel 155, 168, 179 Kantzenbach, Friedrich Wilhelm 285 Karl der Große 55, 99, 168, 194, 200–201, 209–210, 219–220 Kaul, Camilla G. 78, 198 Kaulbach, Friedrich 229 Kessler, Johannes 134–135
338
Personenregister
Kittel, Rudolf 169–170 Knackfuß, Hermann 224 Kögel, Rudolf 35, 68–69 Kohler, Oliver 111, 114 Kohlrausch, Martin 21, 82, 236, 253 Kolb, Victor 103–104 Konradin, König von Sizilien 220 Konstantin der Große, römischer Kaiser 208–209 Kopernikus, Nikolaus 99 Kopp, Georg Kardinal von 94, 99 Kouri, E. I. 175 Kraus, Hans-Christof 21 Kroll, Frank-Lothar 12, 20, 29 Krupp, Friedrich Alfred 90–92 Lagarde, Paul de 155–156 Le Bon, Gustave 14 Leo XIII., Papst 69–70, 94–97, 99– 101, 112, 121, 208 Leoncavallo, Ruggero 215 Levetzow, Magnus Otto Bridges von 260–263 Liechtenstein, Rudolf von 49–50, 53 Loe, Walter von 100 Loebell, Friedrich Wilhelm von 262 Lommel, Hermann 265 Loyola, Ignatius von 149 Lucanus, Hermann von 110, 142 Ludwig II. von Bayern 67, 210 Ludwig XIV., König von Frankreich 197 Luise von Baden (Tante Wilhelms II.) 32, 47 Luise von Mecklenburg-Strelitz (Gemahlin von Friedrich Wilhelm III.) 63 Luther, Martin 37, 77, 129, 156–157, 159, 168–169, 173, 245, 275, 291– 292 Manemann, Jürgen 12 Manteuffel, Heinrich von 117 Marcion 160, 278
Maria Anna von Preußen 103 Maria von Teck (Gemahlin von Georg V.) 264 Maron, Gottfried 156–157 Marschall, Birgit 212 Maurenbrecher, Max 155, 196 Maurenbrecher, Wilhelm 31 Metternich, Paul 234 Metz, Johann Baptist 11 Michaelis, Georg 250, 253–254 Michaelis, Wilhelm 254–255, 257 Michels, Robert 14 Miquel, Johannes (ab 1897 von) 82–83 Mirbach, Ernst von 35–36 Mohl, Robert von 79 Moltke, Friedrich Detlef von 252 Moltke, Helmuth Karl Bernhard von 192, 196, 245 Mommsen, Theodor 98, 203 Mommsen, Wolfgang J. 20, 22, 26 Mose 150, 168–169, 179, 210, 281– 282 Mossner, Walter 117 Müller, Johann Heinrich Ludwig 285 Münster, Georg Herbert zu 222 Napoléon III. 67 Napoleon Bonaparte 147, 227–228 Naumann, Friedrich 92–93, 160 Naville, Ernest 47–49 Neddens, Christian Johannes 10–11 Nehemia 150 Niederland, A. 117 Nietzsche, Friedrich 140 Nikolaus II., Russischer Kaiser 69, 108, 224, 237 Nobel, Emanuel 235 Nohl, Hermann 146 Obst, Michael A. 70, 82, 110 Oscar II., König von Schweden und Norwegen 212–213, 216
Personenregister Oskar von Preußen (Sohn von Wilhelm II.) 183 Otto der Große 194, 220 Overbeck, Franz 140, 176 Papen, Franz von 264 Pareto, Vilfredo 14 Paulus von Tarsus 68, 100, 150, 173 Pezold, Dirk 78 Planck, Max 290 Plenge, Johann 243 Plessen, Hans von 250 Pollmann, Klaus-Erich 125 Prell, Hermann 213 Rampolla del Tindaro, Mariano Kardinal 103 Rathenau, Emil 116 Rathenau, Walther 211 Ratzinger, Joseph Kardinal 10 Ritschl, Albrecht 137, 159 Röhl, John C. G. 20, 22, 26, 29, 46– 54, 60, 78, 115–116, 118, 130, 211, 222, 235, 270 Röhm, Ernst Julius Günther 263, 293 Roon, Albrecht von 196 Rothacker, Erich 79 Rottermondt, Wilhelm 222 Rudolf von Habsburg 194 Saladin 111 Salomo, König Israels 208, 210 Samerski, Stefan 23, 78, 103–104, 122 Schaller, Andrea 220 Scharnhorst, Gerhard von 147 Scheler, Max 146, 232, 236 Schieder, Rolf 11 Schieder, Theodor 197 Schiller, Friedrich 201 Schinkel, Karl Friedrich 221 Schlatter, Adolf 142 Schlegel, Friedrich 227
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Schleicher, Kurt von 263 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 128, 137, 146–148, 157, 302 Schmettow, Eberhard Graf von 262 Schmitt, Carl 9–12, 14, 298, 303 Schneider, Sascha 229 Schneller, Ludwig 280 Schreiber, August Wilhelm 279, 284 Schrempf, Christoph 140 Schwarz, Carl Heinrich Wilhelm 136– 137 Schweizer, Albert 276 Seeberg, Reinhold 123–124, 142, 157, 182–183, 242–244, 292 Seidel, Paul 105, 130 Sellin, Ernst 280 Sethe, Paul 253–255 Shakespeare, William 168, 221, 252 Sombart, Nicolaus 78, 81, 211, 257 Sorel, Georges 14–15, 190, 303 Spahn, Martin 98 Spann, Othmar 74 Spengler, Oswald 268–269, 293 Stassen, Franz 229 Stein, Heinrich Friedrich Karl vom und zum 147 Stein, Lorenz von 79–80 Stoecker, Adolf 23–24, 32–35, 37–45, 60–61, 116, 136, 140, 170, 185, 297, 300 Straub, Eberhard 20, 30–31, 78, 130 Strötz, Jürgen 102 Stumm-Halberg, Carl Ferdinand von 43 Thal, Franz Büttner-Pfänner zu 225– 226 Thoma, Ludwig 229 Tiling, Magdalene von 284 Treitschke, Heinrich von 66, 79–80, 94, 195 Troeltsch, Ernst 243
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Personenregister
Varnbüler, Axel von und zu Hemmingen 49, 53 Verhey, Jeffrey 238 Victoria (Gemahlin von Friedrich III., Mutter von Wilhelm II.) 28, 30–31, 53–54, 56, 59–60, 199 Victoria, Königin von England 31, 203, 230 Wachler, Ernst 157 Wacker, Bernd 12 Wagner, Cosima 145, 159–160, 214 Wagner, Richard 45, 145–146, 148, 210, 214–215, 230, 245 Waldersee, Alfred Graf von 35–37, 40, 43–44, 49–50, 103, 136, 166 Walther von der Vogelweide 201 Warburg, Max 116 Weber, Max 12–14, 16, 303 Wehler, Hans-Ulrich 20–21 Weinel, Heinrich 156 Weiß, Johannes 276
Weißmann, Karlheinz 155–156 Werckshagen, Carl 123 Wilderotter, Hans 76, 265 Wilhelm I., Deutscher Kaiser 30, 32– 36, 53–54, 56–58, 60, 63–65, 68, 71, 87, 91, 106, 136, 168, 191–199, 203, 209, 218, 223, 225, 228–231, 237, 245, 298–299 Wilhelm II., König von Sizilien 208 Wilhelm von Preußen (Sohn von Wilhelm II.) 33, 117–118, 263 Windthorst, Ludwig 46, 97 Witte, Karl 41 Wiwjorra, Ingo 156 Wolff, Theodor 236 Wöllner, Johann Christoph 107–108 Wolzogen, Hans von 145, 158 Zahn-Harnack, Agnes von 175 Zedlitz-Trützschler, Robert von 98, 104 Ziekursch, Johannes 249, 252
Sachregister Antisemitismus, Antijudaismus 25, 33, 41, 60, 113–119, 122, 149–150, 159, 270–271, 293–294 Apostolikumstreit 136, 140–144, 186, 300 Arbeiterkaiser 75, 89–91, 93–94, 121, 298 Arbeiterschaft 30, 34–35, 72–75, 87– 95, 105, 121, 191–192, 238–239, 289, 298 Augusterlebnis 238, 255 Babel-Bibel-Streit 163, 165, 169, 178, 180–181, 184, 187, 240–241, 274– 275, 277, 282, 291, 300 Bayreuther Kreis 145, 148, 157–158, 215 Befreiungskriege 147, 221 Bekennende Kirche 156 Calvinismus 27–28, 128 Charisma, charismatische Herrschaft 16, 23, 25, 78, 120, 152, 256, 296– 297, 299, 303 christlich-soziale Bewegung 18, 32– 33, 36–37, 43–44, 60, 74, 140, 182 Deutschchristentum 17–18, 156–158, 160, 183, 187, 242, 273 Deutsche Bewegung 145–148, 155– 157, 186, 242 Deutschnationale Volkspartei (DNVP) 261–262, 293 Dialektische Theologie 173, 302 Doorner Arbeitsgemeinschaft (DAG) 265, 269 Drachentöter, Drachenkampf 195, 218–219, 221–222, 231, 299
erfundene Traditionen 14, 67, 121 Erster Weltkrieg 20, 92, 111, 119, 173, 183, 186, 197, 218, 229, 232– 233, 235–251, 254–256, 259, 267– 268, 286, 289, 292, 299 Evangelischer Oberkirchenrat (EOK) 34, 41–42, 124–126, 128, 133, 136, 138–140, 142–143 Friedenskaiser 228, 233, 255, 299 Germanentum 54, 100, 145, 147–149, 154–158, 161–162, 165, 180, 182, 186, 200–203, 210–220, 225, 227, 230–231, 234, 246–247, 261, 267, 286, 298–300 Germania 204, 223, 225 Germanische Glaubens-Gemeinschaft 157 Germanisierung des Christentums 156–157, 209 Geschichtspolitik 190, 205, 217, 230– 231 Glaubensbewegung Deutsche Christen 156, 284–285, 294 Gottesgnadentum 9, 16, 22–23, 25, 46, 54, 62–77, 82–86, 106, 109, 119–120, 194, 208, 286–287, 289, 296–297, 303 Herr der Mitte 25, 78, 81–82, 94, 114, 118, 120, 122, 226, 239, 296–298 Hollmann-Brief 25, 108, 170–171, 173, 176–178, 180, 182–184, 187–188, 242, 274–275, 283, 285, 291, 301 Ideen von 1914 147, 243–245, 255, 267, 271, 293 Islam 109–111, 288
342
Sachregister
Judenkaiser 113, 116, 122, 298 Judentum 25, 34, 42, 48, 54, 113– 119, 122, 148–155, 157, 160, 164– 165, 168, 179, 186, 219, 242, 270– 274, 277–284, 286, 288–290, 293– 294, 298, 301
nordische Mythologie, germanische Überlieferung 45, 60, 148, 158, 211–216, 230 Nordland, Nordlandfahrten 50, 52, 134–135, 211–213, 216, 229–230, 299
Katholikenkaiser 78, 97, 102, 298 Katholizismus 11, 39, 43, 46, 78, 81, 86, 95–104, 109, 111–112, 121–122, 126–127, 148, 154, 166, 170, 174– 175, 209, 222, 239, 270, 273, 279, 292, 298 Kirchenbau 23, 104–105, 108, 122, 124, 194, 202, 207–208, 229 Kirchenpolitik 9, 17, 23–25, 108, 124–127, 130–132, 136, 140, 142, 144, 166, 185–186, 275, 299–301 Königstod 250, 252–254, 256–258, 293 Kriegspropaganda 236, 249, 255 Kriegstheologie 240, 242, 255 Kulturkampf 94–96, 121 Kulturkritik 145, 173, 264, 293 Kulturmorphologie 266–267, 269 Kulturprotestantismus 160, 173, 176, 242, 302 Kunst 60, 107, 118, 130, 145–146, 148, 150, 189, 195, 213, 226, 229, 243, 260
Orientfahrt Wilhelms II. 23, 102, 104, 108–109, 113–114, 122, 226, 288, 295
Legitimitätsglaube 16, 27, 229, 298, 303 liberale Theologie 17, 25, 27, 136–138, 156, 160, 165–166, 170, 173, 181– 183, 185, 188, 276–277, 300, 302 Liebenberger Kreis 45, 49, 158, 160– 161, 163 Luthertum 40, 126–128, 135, 137, 156, 176, 183, 291–292
Paritätsdiskussion 97, 112, 121 persönliches Regiment 20, 22–23, 125, 253, 295 politische Religion 10, 303 politische Theologie 9–12, 15–19, 23– 25, 27, 45–46, 48, 54–55, 62, 108, 119, 121, 133, 189, 229, 239, 253– 256, 261, 289, 293, 295–298, 302– 303 politischer Mythos, politische Mythen 14–16, 23–25, 27, 55, 58, 135, 185, 189–191, 198, 204, 210, 212, 214, 218, 225, 229–231, 239, 298–299, 303 Predigten Wilhelms II. 25, 73, 75, 123, 134–135, 145, 185, 270, 280, 285–290, 294 protestantische Orthodoxie 27, 29, 32–33, 35, 37, 60, 126, 136–142, 158, 162, 166, 170, 174, 176, 182, 185–186, 188, 276 Reformation 77, 109, 128–129, 131, 138, 143, 148, 153, 157, 166, 221, 275, 278, 291 Reformierte Kirche, Reformierte 27, 127–128, 183, 291–292 Reichsromantik, Reichstradition 16, 55–56, 58, 60, 198–199, 201, 207– 208, 210, 217–218, 230
modern-positive Theologie 123, 182 Nationalsozialistismus, NSDAP 118, 156, 160, 260–264, 269–270, 293, 302
Säkularisierung 9–10, 15, 63 Sankt Georg 204, 221, 224, 231 Sankt Michael 16, 195, 204, 218–227, 229, 231, 246–247, 298
Sachregister Sozialdemokratie 34, 36–38, 44, 73– 75, 82, 87–95, 105–106, 121, 192– 193, 226, 230, 243
343
völkische Bewegung 17–18, 145, 155–158, 160, 182, 187, 215, 242, 283–285, 287, 294, 301–302
Spiritismus 46–54, 60 Summepiskopat, landesherrliches Kirchenregiment 9, 17, 123–129, 132–135, 171, 185, 188 Tradition, traditionelle Herrschaft 16, 23, 25, 67, 71–72, 78–80, 87, 91, 93, 119, 121, 185, 253, 295–299, 303 Vermittlungstheologie 137–138, 171, 181, 187
Wilhelm-der-Große-Mythos 58, 168, 191–192, 194, 197–198, 223, 225, 230, 298 Wittenberger Bekenntnis Wilhelms II. 142–144, 186 Zentrum 46, 95–97, 99, 102, 121 Zionismus 113–115, 118, 122 Zivilreligion 10 Zweiter Weltkrieg 197, 269, 302