Polis und Politesse: Der Diskurs über das antike Athen in England und Frankreich, 1630-1760 9783110415032, 9783110414936

This book explores the images and ideas that linked people living in the Early Modern era with ancient Athens. Beginning

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German Pages 387 [388] Year 2016

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Table of contents :
Danksagung
Inhalt
I Einleitung
1 Athen als Gegenstand der älteren Altertumswissenschaften und der neueren Rezeptionsgeschichte
2 Athen im classical republicanism: methodische Vorbemerkungen zu einer intellectual history der Athen-Vorstellungen
3 Republik, Polis und Politesse: Athen als Tugendmodell
4 Vorgehensweise
II Athen in der politischen Theorie, ca. 1400–1650
III Von der florierenden zur gescheiterten Republik: Athen im englischen Kampf um politische Teilhabe und Souveränität, ca. 1630–1660
1 Civil government, Blüte und Niedergang: Francis Rous’ Athen-Darstellung
2 Die athenische Demokratie als Bedrohung der englischen Monarchie: Thomas Hobbes’ Klage gegen Athen und seine Denker
3 Vom free state zur gescheiterten Republik: Athen im republikanischen Denken
IV Von der Republik zur Polis: Athen als sozio-kulturelles Modell im grand siècle, ca. 1635–1715
1 Französische Sprachpolitik, Académie française und die sprachliche Eloquenz der alten Römer und Griechen
2 Die Auseinandersetzung mit der lateinischen und griechischen Antike in der ersten Phase der französischen Querelle des Anciens et des Modernes
3 Das Athen der französischen und englischen Griechenlandfahrer
V Von höfischer courtoisie zur urbanen politesse
1 Statuserhalt und sozialer Ehrgeiz: Das Hofmannsideal und das Konzept der courtoisie/courtesy
2 Civilité – die universale Höflichkeit
3 Politesse – die neue aristokratische Tugend
VI Athen als Reformmodell einer urbanen politesse, ca. 1680–1760
1 Athen als Vorbild für Paris: Jean de la Bruyères Konzept der politesse
2 Versailles – Paris – Lyon: Athenische politesse und guter Geschmack als Mittel im Kampf um soziale Anerkennung
3 Jean-Jacques Rousseaus Kritik an der urbanen politesse und ihrem Vorbild Athen
VII Athen im Denken der Whigs: Ein Modell für politeness, Freiheit und diskursive Öffentlichkeit, ca. 1680–1760
1 Das Grecian Coffeehouse und John Duntons Athenianism: Athen als Bildungsmodell
2 Shaftesburys anti-höfisches, urbanes Athen
3 Athen in Zeitungen und Schulbüchern unter der Whig-Supremacy
VIII Résumé
Quellenverzeichnis
Gedruckte Quellen
Zeitungen und Zeitschriften
Manuskripte
Abbildungen
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Personenregister
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Polis und Politesse: Der Diskurs über das antike Athen in England und Frankreich, 1630-1760
 9783110415032, 9783110414936

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Christine Zabel Polis und Politesse

Ancien Régime Aufklärung und Revolution

Herausgegeben von Rolf Reichardt und Hans-Ulrich Thamer

Band 41

Christine Zabel

Polis und Politesse Der Diskurs über das antike Athen in England und Frankreich, 1630–1760

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

ISBN 978-3-11-041493-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-041503-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-041507-0 ISSN 2190-295X Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter De Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Guerard, Nicolas: Le Carnaval perpétuel – Mascarade universelle. Paris 1700. [BnF. Recueil. Collection Michel Hénin: Estampes relatives a l’Histoire de France. Bd. 75, Werke 6608–6718, hier: 6614, der Jahre 1700–1701. Satz: Michael Peschke, Berlin Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Meiner Großmutter Martha

Danksagung Das vorliegende Buch ist eine gekürzte Fassung meiner Inauguraldissertation zur Erlangung der Doktorwürde, die ich im April 2013 an der Philosophischen Fakultät der Ruprecht-Karl-Universität Heidelberg eingereicht habe. Eine Dissertation benötigt den Beistand und die Unterstützung vieler Freunde und Freundinnen, Kolleginnen und Kollegen einerseits und von fördernden Personen und Institutionen andererseits, denen ich an dieser Stelle von Herzen danken möchte. Besonderer Dank gilt meinem Erstbetreuer der Doktorarbeit, Prof. Dr. Thomas Maissen, für die langjährige Begleitung und Unterstützung. Mit seinen fordernden Fragen hat er mich nicht nur zur Präzision und Konsequenz, sondern auch zum Mut zur These herausgefordert. Ebenso danke ich meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Erich Bödeker für den anregenden Austausch über die europäische Antikenrezeptionen und politische Sprachen der frühen Neuzeit. Meinen Heidelberger Kollegen und Kolleginnen bin ich für die unzählbaren engagierten Diskussion, Analysen und Beratungen, aber auch für kreative Ermutigungen und Späße verbunden, die mich tagtäglich zum Nachdenken, aber auch zum Lachen gebracht haben. In besonderer Schuld stehe ich bei meinen treuen, geduldigen und disziplinierten Korrekturlesern und -leserinnen, namentlich bei Pascal Firges und Niels May, aber auch bei Urte Weeber, Sebastian Meurer, Johan Lange und Lina Weber. Auch denjenigen Freunden und Freundinnen, die nicht direkt im geschichtswissenschaftlichen Betrieb eingebunden sind, jedoch mit sportlichen Aktivitäten, Musik oder guten Gesprächen in der Zeit der Recherche und der Niederschrift geduldig an meiner Seite waren, bin ich ausgesprochen dankbar: Patrik, Julia, Juliane und Agathe. Ich weiß Eure freundschaftliche Unterstützung sehr zu schätzen. Mein Dank gilt auch meinen neuen Essener Kollegen und Kolleginnen, die den Heidelbergern in Geselligkeit und Diskussionsfreude nicht nachstehen. Insbesondere Prof. Dr. Stefan Brakensiek begleitete den Veröffentlichungsprozess hier in Essen beratend mit. Herzlichen Dank! Besonders verbunden für die finanzielle wie ideelle Förderung meines Studiums in In-und Ausland sowie meiner Doktorarbeit bin ich der Studienstiftung des deutschen Volkes. Sie hat mir mit der Finanzierung meines In-und Auslandsstudiums sowie meiner Doktorarbeit im wahrsten Sinne des Wortes neue Welten eröffnet. Auch der German-Israeli-Foundation danke ich dafür, mir zahlreiche Workshops und Konferenzen ermöglicht zu haben sowie die erste Projektphase finanziell unterstützt zu haben. Die Graduiertenakademie der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg hat dies wunderbarerweise für die Abschlussphase der Dissertation getan. Dem Historischen Seminar Heidelberg danke ich, mich als

VIII 

 Danksagung

Teil des Wissenschafts-und Lehrbetriebs aufgenommen und mich auf meinen ersten wissenschaftlichen Wegen begleitet zu haben. Die FAZIT-Stiftung und der Deutsche Akademische Austauschdienst ermöglichten mir außerdem zahlreiche Konferenz- und Archivaufenthalte. Der Unterstützung von Seiten der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung verdanke ich schließlich die Finanzierung der Drucklegung dieser Monographie. Vielen Dank! Essen, im August 2015.

Inhalt Danksagung 

 VII

 1 I Einleitung  1 Athen als Gegenstand der älteren Altertumswissenschaften und der neueren Rezeptionsgeschichte   3 2 Athen im classical republicanism: methodische Vorbemerkungen zu einer intellectual history der Athen-Vorstellungen   8 3 Republik, Polis und Politesse: Athen als Tugendmodell   14 4 Vorgehensweise   20  24

II

Athen in der politischen Theorie, ca. 1400–1650 

III

Von der florierenden zur gescheiterten Republik: Athen im englischen Kampf um politische Teilhabe und Souveränität, ca. 1630–1660   65 Civil government, Blüte und Niedergang: Francis Rous’ AthenDarstellung   71 Die athenische Demokratie als Bedrohung der englischen Monarchie: Thomas Hobbes’ Klage gegen Athen und seine Denker   84 Vom free state zur gescheiterten Republik: Athen im republikanischen Denken   97

1 2

3

IV 1 2

3

V 1 2 3

Von der Republik zur Polis: Athen als sozio-kulturelles Modell im grand siècle, ca. 1635–1715   117 Französische Sprachpolitik, Académie française und die sprachliche Eloquenz der alten Römer und Griechen   119 Die Auseinandersetzung mit der lateinischen und griechischen Antike in der ersten Phase der französischen Querelle des Anciens et des Modernes   128 Das Athen der französischen und englischen Griechenlandfahrer   147  160 Von höfischer courtoisie zur urbanen politesse  Statuserhalt und sozialer Ehrgeiz: Das Hofmannsideal und das Konzept der courtoisie/courtesy   163 Civilité – die universale Höflichkeit   174 Politesse – die neue aristokratische Tugend   184

X  VI 1 2 3

VII 1 2 3

 Inhalt

Athen als Reformmodell einer urbanen politesse, ca. 1680–1760   200 Athen als Vorbild für Paris: Jean de la Bruyères Konzept der politesse   202 Versailles – Paris – Lyon: Athenische politesse und guter Geschmack als Mittel im Kampf um soziale Anerkennung   219 Jean-Jacques Rousseaus Kritik an der urbanen politesse und ihrem Vorbild Athen   232 Athen im Denken der Whigs: Ein Modell für politeness, Freiheit und diskursive Öffentlichkeit, ca. 1680–1760   257 Das Grecian Coffeehouse und John Duntons Athenianism: Athen als Bildungsmodell   258 Shaftesburys anti-höfisches, urbanes Athen   284 Athen in Zeitungen und Schulbüchern unter der Whig-Supremacy    304

VIII Résumé 

 327

 346 Quellenverzeichnis  Gedruckte Quellen   346 Zeitungen und Zeitschriften  Manuskripte   359 Abbildungen   359  360

Literaturverzeichnis  Abkürzungsverzeichnis  Personenregister 

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I Einleitung Cette république est la plus célèbre de toutes; vous devinez que je veux parler d’Athènes. … Nous verrons pourquoi de tous les états anciens, Athènes est celui qui ressemble le plus aux modernes.1

Der gebürtige Schweizer Henri-Benjamin Constant de Rebecque (1767–1830), Schriftsteller, Philosoph und französischer Politiker, unterschied in seiner im Jahre 1819 im Pariser Athenäum gehaltenen Rede De la liberté des Anciens comparée avec celle des Modernes2 einflussreich zwei Arten der Freiheit und sprach von ihrer antiken und modernen Ausformung. Durch die französische und amerikanische Revolutionen habe es, so die Interpretation des Wahlfranzosen, einen deutlichen Einschnitt in politischem Denken und politischer Organisation gegeben, eine neue, moderne Freiheitsvorstellung präge seither das politische Leben. Deshalb konnten die antiken Gemeinwesen, die für einige politische Philosophen, Staatsdenker und Publizisten vor diesen Revolutionen ideale Vorbilder eines politischen Gemeinwesens gewesen waren, nun keinesfalls mehr als Modelle moderner, post-revolutionärer Nationalstaaten dienen. Mit diesen Ausführungen verwies Constant im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts auf Fragen, die europäische Theoretiker und Denker bereits seit der italienischen Renaissance umtrieben und die im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert vor allem in Frankreich und England in der sogenannten Querelle des Anciens et des Modernes, in der die streitenden Parteiungen die Antike und Moderne miteinander verglichen, gestellt und verhandelt wurden: Welche Funktion sollte und konnte die Antike in der zeitgenössischen Kunst und Politik einnehmen? Sollte sie imitiert, verbessert, übertroffen oder verworfen werden? Gab es einen Fortschritt in der Geschichte und wenn ja, wer hatte mehr erreicht – die Alten oder die Modernen?3 Nach der Restauration der Monarchie in Frankreich beklagte Constant in seiner Pariser Rede nun jedoch, dass das Ringen um die Bedeutung und die Vorbildhaftigkeit der Antike völlig ins Leere gehe. Für Constant war die 1 Constant, Benjamin: De la liberté des Anciens comparée à celle des Modernes. In: De la liberté chez les Modernes. Écrits politiques. Hrsg. von Marcel Gauchet. Paris 1980. S. 491–515, S. 496. 2 Constant: Liberté (wie Anm. 1). 3 Dazu ist noch immer Hans Robert Jauß’ Studie grundlegend: Jauß, Hans Robert: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der „Querelle des anciens et des modernes“. Kunstgeschichtliche Exkurse zu Perraults „Parallèle des anciens et des modernes“. München 1964. Eine Sammlung von Quellen haben Anne-Marie Lecoq und Marc Fumaroli zusammengestellt: Lecoq, Anne-Marie u. Marc Fumaroli (Hrsg.): La querelle des anciens et des modernes. Précédé de Les abeilles et les araignées: essai de Marc Fumaroli. Paris 2001.

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 I Einleitung

Querelle des Anciens et des Modernes mit den Revolutionen zu einem Abschluss gekommen. Einzig eine Ausnahme räumte Constant bei der Betrachtung antiker Gemeinwesen ein – nur Athen weise Ähnlichkeiten mit modernen Staaten auf. Die Ausführungen Constants, die bezüglich der Vorbildlichkeit antiker Staaten eine Sonderstellung Athens konstatierten, provozieren weiterführende Fragen über den antiken Stadtstaat in Attika: Wie verhielt sich Constants Einschätzung gegenüber denjenigen, die sich schon in den Jahrhunderten zuvor mit der Antike und ihren politischen Vorbildern auseinandergesetzt hatten? Wie beschäftigten sie sich mit dem antiken Athen? Was machte die Rezeption Athens interessant, uninteressant, was machte sie aus? Wurde, wie Constant dies implizierte, Athen im Kontext des Fragens nach der Bedeutung der Antike überhaupt rezipiert? Welche Rolle spielte Athen im Vergleich zu anderen antiken Modellen wie etwa Sparta oder Rom? Während Constant als Endpunkt eines Ringens um die Vorrangstellung von Antike oder Moderne angesehen werden kann,4 stehen Niccolò Machiavellis Discorsi5 und dessen Umfeld der italienischen Renaissance am Anfang: Machiavelli bestätigte in seinem Brief von 1513 an den florentinischen Botschafter in Rom, Francesco Vettori, dass er des Nachts die Alten sorgsam studiere und sie für seine politischen Überlegungen zu Rate ziehe.6 Gerade aus der Beobachtung Athens, Roms und Spartas könne er, so behauptete der Florentiner, seine politischen Prämissen über Stabilität, Macht und Dauer eines Gemeinwesens ziehen. Aus den politischen Werken der Antike lerne er, was gutes und schlechtes politisches Handeln sei.7 Zwischen Machiavelli und Constant liegt eine Reihe von Denkern, Schriftstellern, Lehrern, Antiquaren und Künstlern, die sich mit der Antike im Vergleich zur eigenen Zeit beschäftigten. Und nicht nur für Constant hatte Athen dabei eine Sonderstellung innerhalb der antiken Gemeinwesen inne, sondern auch für die Gruppierung der Verfechter der Anciens: Für sie galt seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert das antike Griechenland, das schließlich älter war als das antike 4 In der Forschung wird bereits der Streit um Homer in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als formales Ende der Querelle angesehen und angenommen, dass sich die Querelle zu Mitte des 18. Jahrhunderts praktisch auflöste, weil man den Gegensatz von Antike und Moderne weithin abkzeptiert hatte. Dennoch kann Constant als endgültiger Schlusspunkt dieser Debatte angesehen werden. Vgl. Jauß, Ästethische Normen (wie Anm. 2), S. 9. 5 Machiavelli, Niccolò: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung. Hrsg. von Rudolf Zorn. 3. Aufl. Stuttgart 2007. 6 Machiavelli, Niccolò: An Francesco Vittori, florentinischer Botschafter in Rom. In: Der Fürst. Übers. von Friedrich von Oppeln-Bronowski. Frankfurt am Main 1990 (insel Taschenbuch 2772). S. 9-14, S. 12. 7 Siehe auch Cambiano, Giuseppe: Polis. Histoire d’un modèle politique. Paris 2003, S. 80.



1 Athen als Gegenstand der älteren Altertumswissenschaften 

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Rom, als Wiege und Ursprung von Kunst und Kultur. Athen war gleichsam das Zentrum der griechischen Welt, weshalb dem athenischen8 Gemeinwesen seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert besondere Aufmerksamkeit von politischen Denkern, Journalisten und Philosophen zuteil wurde. Dabei wurden nicht nur politische Ideen, sondern auch soziokulturelle Vorstellungen und Beobachtungen transportiert und rezipiert. Vergleicht man die Rezeption Athens mit derjenigen Spartas oder Roms, so zeigen sich hier Herausforderungen, die eine genaue Analyse der Athen-Vorstellungen besonders interessant werden lassen: Athen galt schon bei Machiavelli und Bodin als das historische Beispiel einer Demokratie schlechthin, das vor allem für letzteren ein Negativbild im Kontrast zu einer idealen Monarchie war und das er als Ungeheuer mit vielen Köpfen interpretierte. Auch für Thomas Hobbes waren es Athen und seine Philosophen und Denker, die die gesamte westliche Welt mit ihren Freiheitsvorstellungen verseucht hatten und gar Ursache der blutigen Bürgerkriege seiner Zeit waren. Andererseits und teilweise parallel zu dieser negativen Darstellung förderte die in der Querelle intensivierte Auseinandersetzung mit der Antike auch das Wissen über dieselbe, so dass gerade Griechenland und insbesondere Athen zu Ende des 17. Jahrhunderts für viele französische und bald auch englische Denker zum herausragenden kulturellen und imitationswürdigen Beispiel der Antike wurde, namentlich und sehr prominent bei Jean de la Bruyère.9 In diesem Buch geht es also darum, Kontinuitäten, Brüche und Veränderungen der frühneuzeitlichen Athen-Ideen nachzuzeichnen: Wie gingen die Zeitgenossen mit den gegensätzlichen Athenrezeptionen um? Welche Teile der athenischen Geschichte wurden rezipiert, welche nicht, welche Errungenschaften des antiken Griechenlands wurden Athen zugeschrieben?

1 Athen als Gegenstand der älteren Altertumswissenschaften und der neueren Rezeptionsgeschichte In der geschichtswissenschaftlichen Erforschung der frühneuzeitlichen Antikenrezpetion ist bisher ein Narrativ dominant, das davon ausgeht, dass im 8 Im Folgenden wird ausschließlich das Adjektiv „athenisch“ und nicht „attisch“ benutzt, obwohl sich letzteres in französischen oder englischen Quellen häufiger findet. Ich habe mich für athenisch deshalb entschieden, weil sich die vorliegende Analyse auf die Stadt Athen und die Athener Stadtbürger bezieht und weniger das Umland Attika miteinschließt. Dies entspricht auch der Quellendarstellung, in der mit „attic“ oder „attique“ ebenfalls zumeist nur auf die Stadt verwiesen wird. 9 La Bruyère, Jean de: Discours sur Théophraste. In: Œuvres complètes. Hrsg. von Julien Benda. Paris 1978. S. 3–18.

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 I Einleitung

sogenannten konfessionellen Zeitalter die bisher offene Antikenrezeption eingeschränkt und aufgrund der hegemonialen Dominanz theologischer Diskurse die griechisch-pagane Antike vernachlässigt wurde. Die Antikenrezeption wurde so gleichsam an theologische Erfordernisse angepasst und konzentrierte sich nun vor allem auf das römische Erbe.10 Da der Konnex von Christentum und Humanismus erst durch die Aufklärung aufgelöst wurde, sei, so das Narrativ, die nichtchristliche, griechische Antike erst zu Mitte des 18. Jahrhunderts zur Erneuerung von Bildung, ästethischem Geschmacksurteil und Kultur intensiviert studiert worden. Die entscheidende Wende hierzu sei vom deutschen Antiquaren und Griechenlandbegeisterten Joachim Winckelmann und seinen Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauerkunst11 von 1755 eingeleitet worden, dessen Werk die Idealvorstellung der antiken paganen Humanität zugrunde lag.12 Winckelmanns wirkungsmächtige Überzeugung, durch die Nachahmung der alten Griechen die eigene, moderne Zeit zur unnachahmlichen Kunstepoche zu erheben, eine Überzeugung mit der er seit 1740 insbesondere in Deutschland mit seiner Wiederentdeckung der griechischen Tempel dorischen Baustils ein regelrechtes „Griechenfieber“ ausgelöst hatte,13 war jedoch, und das wird die vorliegende Arbeit zeigen, im Europa der Zeit nicht neu: Ähnliche Darstellungen des antiken Griechenlands, aber insbesondere des antiken Athens finden sich, wenn sich die Bewunderung auch nicht in gleichem Maße in die Alltagskultur eingeschrieben hatte, bereits im ausgehenden 17. Jahrhundert in Frankreich und England. Gerade durch den Einfluss der Querelle wurde mit dem Verweis auf die griechische Antike, und bald dezidierter mit dem Rekurs auf Athen, in beiden Ländern gefordert, die eigene Sprache, Architektur und Kunst zu erneuern und so die Fähigkeit zum Geschmacksurteil auszubilden. Athen wurde nun nicht mehr, wie in der politischen Theorie der Jahrhunderte zuvor als Republik, das heißt in seiner politisch-institutionellen Verfasstheit diskutiert, sondern zunächst in Frankreich, bald in England, als sozio-kulturelles Modell einer polis gedeutet. Diese Umdeutung ermöglichte es, dass Athen seit dem ausgehenden 17. Jahrhun10 Landfester, Manfred: ‚Antikerezeption’. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Online Edition 2015. Hier Kapitel 1–2. http://referenceworks.brillonline.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/entries/ enzyklopaedie-der-neuzeit/antikerezeption-a0181000?s.num=0&s.f.s2_parent=s.f.book.enzyklopaedie-der-neuzeit&s.q=Antikerezeption (02.05.2015). 11 Winckelmann, Johann Joachim: Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst, Sendschreiben, Erläuterung. Hrsg. von Max Kunze. Stuttgart 2013 (Reclams Universal-Bibliothek, Nr. 18985). 12 Landfester: ‚Antikerezeption’ (wie Anm. 10), Kapitel 1–2. 13 Die Forschung beschränkt die Wirkung des Neuhumanismus auf Deutschland. Siehe Landfester: ‚Antikerezeption’ (wie Anm. 10), Kapitel 2.



1 Athen als Gegenstand der älteren Altertumswissenschaften 

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dert und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in beiden Ländern zum Reformmodell einer urbanen, nicht-höfischen Verhaltensnorm erhoben werden konnte. Athen wurde so Vorbild einer individuellen Tugend, die durch eine Bildungs- und Leistungsethik geprägt war, die dem gesamten Gemeinwesen nützlich sein sollte und die sich schließlich in Architektur, Stadtgestaltung, Musik, Literatur und Kunst niederschlagen und offenbaren sollte. Weil erst im Laufe des 17. Jahrhunderts in der nicht-politiktheoretischen oder altertumskundlichen Auseinandersetzung mit der Antike römische und griechische Elemente gezielter unterschieden wurden – in der politischen Theorie wurden Athen, Rom und Sparta schon früher explizit auseinandergehalten – und weil erst mit dieser Unterscheidung Athen als Zentrum Griechenlands in den Fokus rückte, fand das frühneuzeitliche Nachdenken über Athen oft vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem antiken Griechenland statt. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts wurden von vielen Autoren Griechenland und Athen damit nicht konsequent unterschieden. Erst in den 1670ern bildet sich mit den ersten Antiquaren und Griechenlandreisenden um Jacob Spon und George Wheler ein dezidierteres Wissen über Athen heraus. Gerade da den frühneuzeitlichen antiquarischen Studien vornehmlich ein Interesse am römischen Erbe bescheinigt wird,14 gibt es auch in der neueren Rezeptionshistoriographie nur wenig Vorarbeiten zu den Perzeptionen des antiken Athens vor der Mitte des 18. Jahrhunderts: Mit Ausnahme von Studien mit einer Reichweite der longue durée15 finden sich in der Forschung vornehm14 Walther, Gerrit: ‚Altertumskunde’ (Humanismus bis 1800). In: Der Neue Pauly. Online Edition 2006. http://referenceworks.brillonline.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/entries/der-neuepauly/altertumskunde-humanismus-bis-1800-rwg-e1301150?s.num=0&s.f.s2_parent=s.f.book. der-neue-pauly&s.q=WAlther%2C+Gerrit. (03.05.2015). 15 Roberts, Jennifer Tolbert: Athens on trial. The Anti-Democratic Tradition in Western Thought. Princeton 1994. Eine weitere Studie der longue durée hat Giuseppe Cambiano mit Polis (wie Anm. 7) vorgelegt. Darin untersuchte er, wie die griechischen poleis, vor allem Athen und Sparta, aber auch griechisches Gedankengut in den verschiedenen politischen Konzepten vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert wiederkehrten. Cambiano geht in seiner Arbeit traditionell-ideengeschichtlich vor, erarbeit hier politische Theorien und Ideen vornehmlich erstranginger Autoren in Bezug auf griechisches Gedankengut und auf die Erwähnung der griechischen poleis. Es findet dabei keine Einordnung der Ideenrezeption in einen weiteren diskursiven Kontext statt. Der Antikenhistoriker Wilfried Nippel verglich dagegen, Benjamin Constant aufnehmend, in seinem Buch Antike oder Moderne Freiheit? Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit antike und moderne Freiheitsvorstellungen und ihre Auswirkungen auf die in der westlichen Welt existierenden Demokratievorstellungen. [Nippel, Wilfried: Antike oder Moderne Freiheit? Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit. Frankfurt am Main 2008.] Ein weiteres Werk Nippels, das sich explizit mit der Mischverfassungstheorie und der Verfassungsrealität in der Antike und Früher Neuzeit, hier vor allem im englischen 17. Jahrhundert beschäftigt

6 

 I Einleitung

lich Arbeiten, die erst im ausgehenden 18. Jahrhundert ansetzen. Nicole Loraux und Pierre Vidal-Naquet etwa untersuchten wegweisend die Verwendung und politische Instrumentalisierung Athens als Athènes bourgeoise für die Jahre 1750– 1850.16 Sie stellten Athen als politisches Konzept für die Jahre vor, während und nach der Französischen Revolution dar und arbeiteten heraus, wie Athen zum Modell für die liberale und bürgerliche Gesellschaft in Frankreich wurde. Mit der Antike als Modell für Amerika beschäftigten sich dagegen Ulrich Niggemann und Kai Ruffing, die die amerikanische Antikenrezeption für die Jahre 1763–1809 erarbeiteten.17 Eine wichtige Rolle spielt hierin die Analyse einer politischen Sprache, die für die politische Ordnung der USA zum Tragen kam und wo das Vorbild Athens besonders wirkungsmächtig war.18 Die vorliegende Studie addressiert also ein Forschungsdesiderat: Sie untersucht Athen-Vorstellungen englisch- und französischsprachiger Autoren, die diese in einem Zeitraum von etwa 130 Jahren verbalisierten, nämlich von circa 1630 bis 1760. Sie beginnt jedoch mit einem zeitlich und räumlich gleitenden europäischen Einstieg, indem das Nachdenken über Athen in der politischen Theorie der italienischen Renaissance, des französischen 16. Jahrhunderts und der niederländischen Republik dargestellt wird. Damit werden auch ältere, poliund die Wirkungsgeschichte antiken Gedankenguts darstellt, ist: Nippel, Wilfried: Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit. Stuttgart 1980 (Geschichte und Gesellschaft 21). Martin Bernal untersuchte ferner in seinem zweibändigen Werk Black Athena [Bernal, Martin: Black Athena. The Afroasiatic Roots of Classical Civilization. 2 Bde. London 1987 u. 1991.] zwei Interpretative griechischer Geschichte und dekonstruierte eine europäische und eine levantinische Lesart. 16 Loraux, Nicole u. Pierre Vidal-Naquet: La formation de l’Athènes bourgeoise: Essai d’historiographie 1750–1850. In: Classical Influences on Western Thought, a.D. 1650–1870. Proceedings of an International Conference Held at King’s College, Cambridge, March 1977. Hrsg. von Robert R. Bolgar. Cambridge 1979. S. 169–222. Siehe auch Vidal-Naquet, Pierre: Paris-Athen und zurück. München 1996 (Die griechische Demokratie von außen gesehen 2). 17 Niggeman, Ulrich u. Kai Ruffing (Hrsg.): Antike als Modell in Nordamerika? Konstruktion und Verargumentierung, 1763–1809. In: Historische Zeitschrift, Beihefte 55. München 2011. 18 Weitere allgemeine oder auch literaturwissenschaftliche Studien zur Griechenlandrezeption, in denen die Wirkungsgeschichte klassischer Texte erarbeitet wurde, sollen hier noch angemerkt werden: Highet, Gilbert: The Classical Tradition: Greek and Roman Influences on Western Literature. Oxford 1951; Bolgar, Robert R.: The Classical Heritage and its Beneficiaries. Cambridge 1954; Wiseman, Timothy P. (Hrsg.): Classics in Progress: Essays on Ancient Greece and Rome. Oxford 2002; Finley, Moses I. (Hrsg.): The Legacy of Greece. Oxford 1981; parallel dazu: Jenkyns, Richard: The Legacy of Rome: A New Appraisal. Oxford [u.a.] 1992; Ferner Ders.: The Victorians and Ancient Greece. Oxford 1980; Turner, Frank M.: The Greek Heritage in Victorian Britain. New Haven 1981; Clark, Graeme W. (Hrsg.): Rediscovering Hellenism: the Hellenic Inheritance and the English Imagination. Cambridge [u.a.] 1989. Siehe zu diesen Werken: Hardwick: Reception Studies (wie Anm. 34), S. 2ff.



1 Athen als Gegenstand der älteren Altertumswissenschaften 

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tiktheoretische Traditionen der Auseinandersetzung mit der Antike aufgearbeitet. Die Untersuchung spiegelt also die Annahme wider, dass eine Geschichte des frühneuzeitlichen Nachdenkens über das antike Athen nicht analysiert werden kann, ohne die insbesondere in der Querelle des Anciens et des Modernes stattfindende Auseinandersetzung mit der Antike mitzudenken. Dabei wird die Querelle in einem weiten Sinn, also als grundlegende Auseinandersetzung und Gegenüberstellung von Antike und Moderne verstanden, die nicht nur auf die Jahre zwischen 1687 und 1698 bzw. 1715 begrenzt war.19 Indem nicht abstrakte antike Denktraditionen oder Ideen untersucht werden, sondern ein konkretes historisches Beispiel eines politischen Gemeinwesens in den Blick genommen wird, erarbeitet die vorliegende Analyse damit auch konkrete zeitgenössische Erfahrungskontexte. Wie Machiavelli in seinen Ausführungen verdeutlichte, ging das Wissen über antike Gemeinwesen mittels der Quellenlektüre in die eigene Erfahrbarkeit und damit auch in die eigenen Überlegungen und Zukunftsplanungen über. Antike Geschichte gehörte damit zum Erfahrungshorizont frühneuzeitlicher Denker, die die Erwartungen an Gegenwart und Zukunft sowie deren Planung prägte. Diese für die Studie zugrunde liegenden Quellen zeigen damit auch eine „historisch-kritische Distanz“ zur Antike sowie eine „Verzeitlichung von Geschichte“.20 Jean de la Bruyère bestätigte im ausgehenden 17. Jahrhundert für den Umgang mit der antiken Geschichte: „l’éloignement des temps nous les fait goûter“.21 Die Beschäftigung mit der vergangenen antiken Zeit wird hier mit Reinhart Koselleck als Teil einer Zukunftsprognose verstanden.22 In diesem Sinne schrieb sich das frühneuzeitliche Nachdenken über Athen also auch in eine Analyse der Gegenwart sowie der Gestaltbarkeit der Zukunft mit ein. Die Beschäftigung mit der Antike ist schließlich mit der Frage nach der Vorbildhaftigkeit und der Rolle der Antike für die Moderne verbunden. Die vorliegende Untersuchung geht also davon aus, dass die Beschäftigung mit der Antike auch Mitte des 18. Jahrhunderts noch einen bedeutenden Teil des politischen 19 In der Forschung wird gemeinhin angenommen, dass die Querelle als die von Charles Perrault ausgelöste, vornehmlich literaturzentrierte Debatte über den Vergleich antiker und moderner literarischer Errungenschaften mit ihrer zweiten Phase, der Querelle d’Homère der Jahre 1713 bis 1715 beendet wurde. Eine andere Grenzziehung nimmt dabei nur die erste Phase bis 1698 in den Blick. Vgl. Jauß: Ästhetische Normen (wie Anm. 3); In der vorliegenden Studie wird die Querelle jedoch mit Constant in einem weiteren Sinn verstanden, nämlich als eine allgemeine, vergleichende Beschäftigung mit der Antike. Siehe auch Landfester: ‚Antikerezeption’ (wie Anm. 10), Kapitel 2. 20 Vgl. Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1989 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 757), S. 18f. 21 La Bruyère: Discours (wie Anm. 9), S. 13. 22 Koselleck: Vergangene Zukunft (wie Anm. 20), S. 33f.

8 

 I Einleitung

Denkens darstellte und die Querelle zwar in einem engeren jedoch nicht in ihrem weiteren Sinn beendet war.23

2 Athen im classical republicanism: methodische Vorbemerkungen zu einer intellectual history der Athen-Vorstellungen Nicht nur in den Altertumswissenschaften spielte der Rekurs auf die Antike eine Rolle, sondern auch innerhalb der frühneuzeitlichen politischen Sprachen, deren Analyse bezüglich der Bedeutung antiker Traditionen und Denkmuster insbesondere von der Republikanismusforschung, vor allem mit dem Konzept des classical oder ancient republicanism einflussreich in den Blick genommen wurde. Letzterer nimmt jedoch meist entweder römische und griechische Elemente der Rezeption undifferenziert zusammen oder konzentriert sich verstärkt auf die römische Tradition. Eine detaillierte Analyse des Nachdenkens über Athen ist deshalb ausgeblieben. 1945 beschrieb Zera Fink in ihrem Buch The Classical Republicans24, dass sogenannte republikanische Autoren des englischen Bürgerkrieges Erben einer Tradition gewesen seien, die von Aristoteles zu Cicero reiche und eine gemischte Verfassung verteidigt hätten. In seinem Buch The Machiavellian Moment25 von 1975 folgte John Pocock diesem Ergebnis und argumentierte, dass die Rechtfertigung der Mischverfassung auf aristotelische Moralvorstellungen und dessen politische Philosophie zurückzuführen sei. Römische politische Philosophie stellte Pocock als Abzweigung einer griechisch-aristotelischen Tradition dar, die er beide zusammen als klassischen Republikanismus bezeichnete, dessen Gedankengut von der florentinischen Renaissance über das England des 17. Jahrhunderts nach Nordamerika gelangt sei. Hans Baron hob dagegen bereits 1955 in seinem Werk The Crisis of the Early Italian Renaissance hervor, dass sich der sogenannte Bürgerhumanismus der italienischen Renaissance auf eine expli-

23 Im Gegegensatz zu Venturi, Franco: Utopia and Reform in the Enlightenment. Cambridge 1971, S.  17. Dem Plädoyer Venturis, für das Verständnis der Aufklärung anstatt antiker Denkmuster verstärkt die Perzeption zeitgenössischer Republiken in den Blick zu nehmen folgt Urte Weeber in ihrer Dissertation, Weeber, Urte: Die Republiken als Bausteine einer frühaufklärerischen Ideenwerkstatt. Venedig, die Vereinigten Provinzen der Niederlande und die Eidgenossenschaft als Referenzobjekte 1650-1750. Heidelberg 2014. (In Druckvorbereitung). 24 Fink, Zera: The Classical Republicans: An Essay in the Recovery of a Pattern of Thought in Seventeenth Century England. Evanston 1945. 25 Pocock, John G.: The Machiavellian Moment. Florentine Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton [u.a.] 1975.



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zit römische Tradition berufe.26 Quentin Skinner nahm dies schließlich auf und unterstrich, dass republikanisch Gesinnte der italienischen Renaissance und des englischen 17. Jahrhunderts weniger Aristoteles für ihre politischen Prinzipien anführten als vielmehr römische Quellen, die in beträchtlichem Umfang unaristotelische Prinzipien politischer Organisation befürworteten.27 Vor allem an Skinner anschließend finden sich in der (Frühneuzeit-) Forschung nun verstärkt Rezeptionsanalysen der Römischen Republik.28 Die einseitige Konzentration der Forschung auf die Rezeption römischen Gedankenguts kritisierte Eric Nelson bereits in seinem Aufsatz Republican Visions29, in dem er betonte, dass es in der Frühen Neuzeit zwei (und nicht etwa nur eine) republikanische Traditionen gegeben habe: Eine sei in der Tat vornehmlich römischer Prägung gewesen, eine zweite habe aber vor allem griechische Ideen und Denkweisen aufgenommen. Während die römische Tradition die Unabhängigkeit und den Ruhm eines Gemeinwesens sowie das Privateigentum betont habe, sei die griechische mehr auf die natürliche Ordnung des Staates ausgerichtet gewesen.30 Nelson stellte mit seinem Buch The Greek Tradition in Republican Thought31 2005 folgerichtig explizit die griechische Tradition im republikanischen Denken des frühneuzeitlichen Europas und Amerikas heraus. Dabei untersuchte er Elemente der antiken griechischen politischen Philosophie im republikanischen Denken und kontrastierte diese mit dem Rekurs auf römische Denklinien.32 26 Baron, Hans: The Crisis of the Early Italian Renaissance. Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny. 2 Bde. Princeton 1955. 27 Skinner, Quentin: Liberty before Liberalism. 8. Aufl. Cambridge [u.a.] 2004. 28 Siehe dazu bspw. Millar, Fergus: The Roman Republic in Political Thought. Hanover [u.a.] 2002. 29 Nelson, Eric: Republican Visions. In: The Oxford Handbook of Political Theory. Hrsg. von John S. Dryzek. Oxford [u.a.] 2006. S. 193–210. 30 Nelson: Republican Visions (wie Anm. 29), S. 193. 31 Nelson, Eric: The Greek Tradition in Republican Thought. Cambridge 2005 (Ideas in Context 69). 32 Patricia Springborg wollte in ihrem Werk Western Republicanism and the Oriental Prince [Springborg, Patricia: Western Republicanism and the Oriental Prince. Cambridge 1992.] das eigene westliche Denken im Kontext des Kalten Krieges herausfordern. Im Zuge dessen legte sie die Wirkungsweise griechischer Texte über die Epochen hinweg offen. Der kanadische Politikwissenschaftler Edward G. Andrew beschäftigte sich in seiner Abhandlung Imperial Republics. Revolution, War, and Territorial Expansion from the English Civil War to the French Revolution [Andrew, Edward G.: Imperial Republics. Revolution, War, and Territorial Expansion from the English Civil War to the French Revolution. Toronto 2011.] mit dem Imperialismus vormoderner Republiken und stellte dabei archetypisch das imperialistische römisch-ciceronische Modell und das auf Handel konzentrierte athenisch-aristotelische Modell einander entgegen, die beide vormodernen Republiken als Vorbild und Schablone gedient hätten. Dabei bearbeitet Andrew

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Obwohl bei der Erforschung eines sogenannten ancient republicanism gerade der Rückgriff auf antike Denkmodelle untersucht wird, zeigen die Ausführungen hier bereits an, dass der griechischen Tradition mit Ausnahme von Nelsons Analyse in der Republikanismusforschung bisher wenig Beachtung geschenkt wurde; noch viel weniger wurde dabei Athen als historisches Beispiel im frühneuzeitlichen politischen Denken untersucht. Auch wenn die hier vorgestellte Studie diese Forschungslücke schließt, soll diese jedoch nicht voranalytisch als Beitrag zur Republikanismusforschung verstanden werden. Vielmehr wird die Idee „Athen“ in ihrer diskursiven Arena in den Blick genommen, womit sie weder auf eine bestimmte politische Haltung noch auf einen bestimmten Diskursort festgelegt wird. Eine derartige intellectual history zeichnet somit den Gang der Idee selbst nach und geht dabei, wo notwendig – wie dies von Arthur Lovejoy, aber auch von zeitgenössischen intellectual historians vor allem in den USA eingefordert wird33 – über Disziplinengrenzen hinaus. Im Fokus der Analyse steht damit Athen und nicht etwa eine bestimmte Lesart Athens. Eine Verortung in die Sprache(n) oder Ideen der frühneuzeitlichen Republikanismen kann für die vorliegende Untersuchung also nur mögliches Ergebnis sein, nicht aber Erkenntnisziel. Indem dem Fortgang der Idee „Athen“ gefolgt wird, wird ein Befund der Analyse dagegen die sozio-kulturelle Rolle antiker Beispiele betonen. Damit zeigt die vorliegende Monographie Grenzen der bestehenden intellectual history oder Ideengeschichte, die sich vorwiegend auf genuin politische und politischvor allem Autoren Pocock’scher Auswahl, bedenkt dabei allerdings Veränderungen innerhalb der frühneuzeitlichen Ideengeschichte nicht genügend mit, die sich nicht mit politikwissenschaftlicher Idealtypsierung erfassen lassen. Raymonde Monnier streifte die rhetorische und politische Funktion des Modells Athen im ausgehenden 18. Jahrhundert kurz in ihrer Monographie Républicanisme, Patriotisme et Revolution française. [Monnier, Raymonde: Républicanisme, Patriotisme et Revolution française. Paris [u.a.] 2006, S. 57ff.] Mit einer anderen antiken Denktradition, namentlich dem sogenannten political Hebraism beschäftigten sich Fania Oz-Salzberger, Gordon Schochet und Meirav Jones in ihrem Sammelband mit dem gleichnamigen Titel. [Jones, Meirav u. Fania Oz-Salzberger u. Gordon Schochet (Hrsg.): Political Hebraism: Judaic Sources in Early Modern Political Thought. Jerusalem [u.a.] 2008.] Darin wird die Wirkung der hebräischen Bibel und jüdischer Texte im europäischen philosophischen und politischen Denken des 16. bis 18. Jahrhundert erarbeitet. Ähnlich angelegt ist auch Eric Nelsons Buch The Hebrew Republic, in dem er die Hebräische Republik und jüdisches politisches Gedankengut und deren Wirkung im europäischen politischen Denken darstellte. [Nelson, Eric: The Hebrew Republic: Jewish Sources and the Transformation of European Political Thought. Cambridge, Mass./London 2010.] 33 Siehe dazu McMahon, Darrin M. u. Samuel Moyn: Introduction: Interim Intellecutal History. In: Rethinking Modern European Intellectual History. Hrsg. von dies. Oxford/Miss. 2014. S. 3–11. Sowie McMahon Darrin: The Return of the History of Ideas? In: Rethinking Modern European Intellectual History. S. 13–27.



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institutionelle Ideen konzentriert und deshalb die Rezeption Athens im frühneuzeitlichen Denken weitgehend übersehen hat und methodisch kaum bearbeiten konnte. Auf diese Art und Weise versucht diese Studie eines der führenden methodischen Konzepte, nämlich dasjenige der sogenannten Cambridge School zu erweitern und eine moderne Methodologie der intellectual history zu entwickeln, die sich nicht ausschließlich auf eine politische Ideengeschichte oder vornehmlich auf den staatlichen Raum bezieht.34 Die Auswahl von England und Frankreich als Hauptuntersuchungseinheiten ab circa 1630 folgt dabei mehreren Überlegungen: Zum einen wurde England deshalb ausgewählt, weil eine Überprüfung der Republikanismusdiskurse, bzw. des sogenannten ancient republicanism nicht umherkommt, die grundlegenden Quellen noch einmal gegen den Strich zu lesen und zu sehen, welche Rolle darin das von der Forschung weitgehend unbeachtete Athen spielte. Ferner wurde Frankreich als Untersuchungsraum gewählt, da hier gerade in der Republikanismusforschung immer wieder aufgrund eines spät einsetzenden Republikanismus am Vorabend der Revolution ein fehlender Rückbezug auf antike Vorbilder konstatiert wurde. Zweitens wurden auf inhaltlicher Ebene Interdependenzen und Austauschprozesse zwischen den beiden Ländern offensichtlich. Damit stehen die jeweiligen Analysen der Athen-Ideen nicht lose komparatistisch nebeneinander, sondern sind inhaltlich und formal in der Konzeption der Studie miteinander verbunden, was sich auch in ihrer Darstellung widerspiegelt. Auf diese Weise ist die Geschichte, die diese Monographie beschreibt, eine sich verflechtende und wechselseitig bedingende, in der die Wahrnehmungen und Interpretationen der athenischen polis sich gegenseitig beeinflussen. Dies zeigt sich in den Quellentexten durch gegenseitigen Bezüge und inhaltliche Ähnlichkeiten. Die beiden Länder bieten sich als Untersuchungseinheit schließlich auch deshalb an, weil sich in Bezug auf Athen gerade für die beiden Länder die Verbindung zu einem Tugenddiskurs, der politesse/politeness belegen lässt. Letzteres hat dann auch Ausschlag für die zeitliche Eingrenzung der Arbeit für die Jahre um 1760 gegeben, in denen der mit der Athenrezeption verbundene Tugenddiskurs um die Höflichkeit in beiden Ländern an seinen Höhepunkt gelangt war. In den Folgejahren gewinnen andere Themen durch neue, innenpolitische Herausforderungen an Bedeutung: In Frankreich wird die Staatsverschuldung zentrales politisches Thema, in England verliert der Gegensatz von Whig und Tory durch das Ende der Whig-Vorherrschaft seine Bindungskraft, sodass auch der Athen-

34 Siehe zum Überblick über die politische Ideengeschichte: Mulsow, Martin (Hrsg.): Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte. Berlin 2010.

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politeness-Bezug als Teil einer Whig-Propaganda in seiner Bedeutung geschwächt wird. Um eine intellectual history mit größerer zeitlicher Reichweite zu unternehmen, die es zum Ziel hat, Denktraditionen und ihre Kontinuitäten und Brüche in den jeweiligen Kontexten des genannten Zeitraums darzustellen,35 sind fünf Untersuchungsebenen von Bedeutung: Erstens werden die sozialen Akteure und die Trägerschaft der Athenrezeption in ihrem sozialen Umfeld kontextualisiert: Wer sprach bzw. schrieb von Athen? Veränderte sich der Autorenkreis innerhab dieses Zeitraumes in räumlicher, machtpolitischer oder sozialer Hinsicht? Zweitens werden die politischen Vorstellungen und Ideen dargestellt, die sich mit dem Nachdenken über Athen verbanden: Wurde das antike Gemeinwesen vornehmlich als eine Demokratie verstanden? Verknüpfte sich mit der Rezeption und Darstellung Athens eine Wertung und Positionierung zu einem bestimmten politischen Regime? Drittens wird nach dem diskursiven und textuellen Zusammenhang gefragt, in anderen Worten wird Kontext als textueller Kontext verstanden: In welchen Texten, an welcher Stelle und in welchen Diskursen sprach man wann und in welchem Zusammenhang von Athen und wozu? Welche Aspekte Athens wurden dabei angesprochen, welche nicht? Viertens werden die mit Athen verknüpften soziokulturellen und gesellschaftlichen Vorstellungen analysiert: Welche kulturellen Errungenschaften Athens interessierten die Rezipienten? Welche kulturpolitischen Zwecke verfolgten Akteure mit dem Rekurs auf die athenische polis? Welche Bilder nutzten Rezipienten möglicherweise für die Diskussion über und um eine Gesellschaft und Öffentlichkeit? Welche Konzepte und Ideen von Urbanität und Höflichkeit verbanden sich mit dem historischen Beispiel Athens? Fünftens wird das im Nachdenken über Athen implizierte und explizierte Geschichtsbild und Forschrittsdenken offengelegt: Wurde die eigene 35 Die Funktion einer Rezeptionsanalyse besteht nach Lorna Hardwick darin, die lingustischen und kontextuellen Aspekte der Migration eines Textes oder von Textkorpora zu beleuchten. Es solle zwar bei einer Rezeptionsanalyse nicht darum gehen, lineare Entwicklungslinien eines antiken Erbes über die Zeit hinweg zu analysieren, dennoch nimmt Hardwick die Perspektive einer Antikenhistorikerin ein, die das Nachwirken antiker Texte untersucht und die die Interdependenz zwischen Quellentext und der den Text aufnehmenden Kultur herstellen möchte. Hardwicks methodische Positionierung zeigt die Schwierigkeit der Definition einer rezeptionsgeschichtlichen Methode an, die zumeist von AntikenhistorikerInnen beansprucht und vielmehr eine Wirkungsgeschichte antiker Texte darstellt und nicht etwa eine Wahrnehmungsgeschichte zu einem konkreten historischen Zeitpunkt schreibt, vgl. Hardwick, Lorna: Reception Studies. Oxford 2003 (Greece & Rome. New Surveys in the Classics 33). S. 1ff. Hardwick gibt in ihrem ersten Kapitel außerdem einen guten Überblick über die Traditionen in der Rezeptionsforschung. Siehe zur Rezeptionsgeschichte v.a. auch den Sammelband Machor, James L. (Hrsg.): Reception Study. From Literary Theory to Cultural Studies. New York 2001. Dieser Band nimmt, wie dies der Untertitel bereits andeutet, eine verstärkt literaturwissenschaftliche Perspektive ein.



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Zeit als fortschrittlicher angesehen als die Antike oder wollte man bestimmte Aspekte Athens imitieren und übernehmen, etwa um die Alten zu übertreffen? Was verursachte für die Quellenautoren Blüte und Niedergang eines Gemeinwesens? Die vorliegende intellectual history, bei der es also nicht um die Interpretationen der antiken griechischen Geschichte geht, rückt mit ihrer Analyse der umkämpften Deutungshoheit der Lesart Athens in die Nähe der historischen Diskursanalyse, da sie Diskursformationen und Themenfelder in Bezug auf Athen untersucht, die sich durch unterschiedliche Texte hindurch ziehen. Dabei wird vorausgesetzt, dass das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt gedacht und gesagt werden kann, durch Denktraditionen und sprachliche Konventionen begrenzt ist. Die diskursive Analyse der verbalisierten Athen-Idee konzentriert sich damit auf die Verwendung, Umdeutung bzw. sprachlichen Instrumentalisierung, aber auch Veränderung der Beschreibung von Ideen und ihrer Deutungsräume.36 Damit ist der hier präsentierten Analyse die Annahme inhärent, dass Sprachen Ideen konstitutieren. Demnach werden Forderungen der Sprachphilosophie, wie sie durch und nach dem sogenannten linguistic turn formuliert wurden, übernommen und mit geschichtswissenschaftlichen Ansprüchen ergänzt.37 Es wird weiter davon ausgegangen, dass Sprache Sinnhaftigkeit vermittelt, transferiert und damit Sinn zuschreiben und Ideen Ausdruck verleihen kann.38 Es soll hier also ganz im Sinne Michel Foucaults ein Archiv derjenigen Diskurse herausgearbeitet werden,39 in denen Athen als Diskursmittel auftauchte. Es werden so der Sprechort, die Wiederholung des Gesprochenen sowie Grenzen der Diskurse dargestellt und analysiert. Stärker als bei Foucault soll in Anlehnung an die sogenannte Cambridge School, vor allem an Quentin Skinner, der Sprechende, d.h. soziale Akteure und Gruppen, die sich an einem Diskurs beteiligen, Beachtung finden.40 Innerhalb der historischen Sprachanalyse ist die vorlie-

36 Landwehr, Achim: Historische Diskursanalyse. Frankfurt am Main/New York 2008 (Historische Einführungen 4), v.a. S. 96ff und Pocock, John G.: The Concept of a Language and the métier d’historien: Some Consideration on Practice. In: The Languages of Political Theory in Early-Modern Europe. Hrsg. von Anthony Pagden. Cambridge 1987. S. 19–38, v.a. S. 27ff. 37 Über die verschiedenen Reaktionen, Herausforderungen und Probleme der Geschichtswissenschaften auf den sog. lingustic turn gibt Philipp Sarasin einen guten Überblick, vgl. Sarasin, Philipp: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse. Frankfurt am Main 2003, S. 10–60. 38 Siehe auch Landwehr, Achim: Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse. Tübingen 2001 (Historische Einführungen 8), S. 12. 39 Siehe Foucault, Michel: Archéologie du savoir. Paris 1969, S. 68–74. 40 Siehe hierzu die Überblicksdarstellung der Historiographie der Ideengeschichte von Stollberg-Rilinger, Barbara: Einleitung. In: Ideengeschichte. Hrsg. von dies. Stuttgart 2010. S. 7–42, hier insbesondere S. 20–24.

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gende Arbeit ferner der historischen Semantik verbunden. Dies spiegelt sich vor allem in der Darstellung des Wortfeldes der Höflichkeit und seiner frühneuzeitlichen Verwendung (siehe Kapitel V).41 Mit der Analyse des Diskursortes und somit auch der Ausweitung der Perspektivität der Lesarten Athens verbunden, ist diejenige der Quellenauswahl: Es wurden in der vorliegenden Untersuchung nicht nur staatstheoretische oder politiktheoretische Schriften analysiert, sondern auch Texte, in denen politische und soziale Tugenden thematisiert oder etwa Bildungsinhalte vermittelt wurden. Auch Werke, die um die Herausbildung und Schaffung einer Gesellschaft und Öffentlichkeit, nicht aber eines Staates kreisen, sind als Teil eines politischen, jedoch nicht notwendigerweise eines politisch-institutionellen Diskurses zu verstehen.42 In der Studie finden sich deshalb sowohl politiktheoretische Texte als auch historische Abhandlungen, Schulbücher, Theaterstücke, Reden, politischmoralische Abhandlungen, Statute, Reiseberichte und antiquarische Untersuchungen.

3 Republik, Polis und Politesse: Athen als Tugendmodell Um die Offenheit der Lesart zu gewährleisten, wird polis (anstatt Republik) als heuristische Kategorie genutzt: Polis (griech. Πόλις) meint im ursprünglichen Sinn des Wortes eine Stadt oder ein politisches Gemeinwesen. Seine politischinstitutionelle Verfasstheit wird durch den Begriff der polis jedoch noch nicht näher definiert. Polis verweist auf einer zweiten Bedeutungsebene aber auch auf die Gesamtkörperschaft von Bürgern. Im herkömmlichen Sprachgebrauch werden die beiden Bedeutungsebenen dessen ungeachtet jedoch oft vermischt. In diesem Sinne werden mit polis bzw. poleis meist die antiken griechischen Stadtstaaten bezeichnet und so mit dem Begriff des Stadtstaates gleichgesetzt. Als neuzeitlicher Quellenbegriff zur Bezeichnung der antiken Stadtstaaten verbreitete sich polis allerdings erst im 19. Jahrhundert.43 In den frühneuzeitlichen Quellen finden sich dagegen vor allem république, republic oder commonwealth, Begriffe also, die den Staat bzw. die Staatlichkeit kennzeichnen. Wenn sich polis in frühneuzeitlichen Quellen findet – was in der vorliegenden Arbeit nur ein einziges Mal der Fall ist – dann zur Bezeichnung der

41 Zur Historischen Semantik siehe Stollberg-Rilinger: Ideengeschichte (wie Anm. 40), S. 24–27. 42 Siehe zum Politikbegriff auch Landwehr, Achim: Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen. In: Archiv für Kulturgeschichte 1 (2003). S. 71–117. 43 Cambiano: Polis (wie Anm. 7), S. 7.

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Acropolis.44 Damit wird deutlich, dass im Begriff der polis, durch die gewisse Diskrepanz zwischen dem ursprünglichen, griechischen Gebrauch, dem für unseren Zeitraum relevanten Quellen zugrunde liegenden (Nicht-) Gebrauch des Begriffes und schließlich unserer heutigen Wortverwendung einige potentielle Missverständnisse inhärent sind. Es ist aus diesem Grund wichtig zu betonen, dass in der vorliegenden Untersuchung polis im Sinne einer Bürgergemeinschaft und eben nicht als Stadtstaat verwendet wird. Der Begriff der polis birgt, im Gegensatz zu Republik, Stadtstaat oder Demokratie trotz seiner verschiedenen Anwendungen folgende Vorteile: Erstens legt polis die jeweilige politische Verfasstheit desjenigen Regimes, auf das er sich bezieht nicht fest und setzt damit die Deutung Athens als Demokratie – und dies ist bei der Interpretation der Athenrezeption verlockend – nicht schon voraus. Polis im Sinne einer Bürgervereinigung ist deshalb als Analysebegriff (nicht aber als Quellenbegriff!) praktikabel. Zweitens hat der Begriff der polis gegenüber demjenigen der Republik – wenngleich dieser auch in Bezug auf Athen ein Quellenbegriff des 17. und 18. Jahrhunderts ist – oder des Staates den Vorteil, dass polis wiederum keine Vorannahmen trifft. Schließlich liegt es nahe, präanalytisch davon auszugehen, dass in den hier untersuchten frühneuzeitlichen Quellen anhand des historischen Beispiels Athen die Organisation von Staatlichkeit, politische Institutionen sowie politische Ziele diskutiert wurden. Es ist jedoch ebenfalls möglich, dass Athen gerade nicht als Republik, also nicht in seiner Staatlichkeit, sondern hinsichtlich ganz anderer, etwa kultureller Aspekte rezipiert wurde. Die Analysekategorie der polis wird hier also durchaus im Sinne Jean Bodins verstanden:45 Bodin fasste die aristotelischen Verfassungstypen, die zunächst vornehmlich die

44 „Du temps d’Athenes florissante, le Chasteau estoit au milieu de la Ville, & non l’appelloit indifferemment Glaucopion, Parthenon, Cecropia, Polis, Acropolis & Ennea-pylon, parce qu’il avoit neuf portes …“, siehe Guillet, George de Saint-George: Athènes ancienne et nouvelle et l’estat présent de l’Empire des Turcs, contenant la vie du sultan Mahomet IV. Le ministere de Coprogli Achmet Pacha, G. Vizir & son Campement devant Candie … 2. Aufl. Paris 1675, S. 177f. 45 Grundlegend für die begriffliche Abgrenzung von republique und polis bzw. cité waren Bodins Ausführungen in seinen Six livres de la republique. Darin grenzte er die cité von der république dahingehend ab, dass erstere eine Rechtsgemeinschaft sei, während république eine Herrschaftsgemeinschaft bezeichne. Eine republique könne also mehrere cités unter einem Souverän subsumieren. Bei Bodin erschien eine polis dementsprechend nicht als politische Gemeinschaft aktiver (Staats-)Bürger, sondern als Verbund verschiedener Familienväter in einer Rechtsgemeinschaft. Vgl. Maissen, Thomas: Die Geburt der Republic. Staatsverständnis und Repräsentation in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft. Göttingen 2006 (Historische Semantik 4), S. 72f. Siehe auch Bodin, Jean: Du citoyen, et la difference d’entre le subject, le citoyen, l’estranger, la ville, cité, et Republique. In: Les six livres de la republique. 6 Bde. Hrsg. von Christine Frémont. Paris 1986, Bd. 1, Kapitel 6, S. 111–150.

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Zahl der Regierenden unterschieden, in seinen Six livres de la republique46 zu einer römischen Kategorie, der respublica und in französischer Sprache als republique zusammen. Republique konnte also im Sinne Bodins zunächst die verschiedenen Verfassungsarten umfassen, während der griechische Begriff der polis für ihn gar nicht auf den staatlichen-institutionellen Raum verwies.47 Bodins republiqueBegriff wurde im 17. Jahrhundert mehr und mehr durch état verdrängt. Republique bzw. republic bekamen, im Gegensatz zu der lateinischen respublica, die weiterhin keine politische Verfasstheit definierte, im Laufe des 17. Jahrhunderts ihre Verknüpfung mit republikanischen oder freistaatlichen Ideen.48 Um diese Assoziationen mit Athen zu vermeiden, eigente sich der Begriff der polis deshalb viel besser für die Zwecke der vorliegenden Studie als derjenige der Republik.49 Ferner birgt der Begriff der Republik die Gefahr, das frühneuzeitliche Nachdenken über Athen wiederum zu schnell im Kontext der verschiedenen europäischen Republikanismen zu lesen. Dieser heuristische Zugriff ermöglicht es schließlich, analytisch eine Bedeutungsverschiebung in der Athen-Idee zu erfassen: Athen wurde ab Mitte des 17. Jahrhundert eben nicht mehr wie zuvor aufgrund seiner staatlichen Verfasstheit, als Republik also, rezipiert, sondern aufgrund seiner Gestaltung der Gemeinschaft der polis. Athen wurde nun Vorbild einer gebildeten und Tugend-ausbildenden Gemeinschaft. Diese politesse der polis war nun Ideal einer urbanen, nicht-höfischen Gemeinschaft. Jedoch: Auch wenn die lautmalerische Ähnlichkeit von polis und politesse eine etymologische Verwandtschaft nahelegt, sind hier zwei Wortfamilien zu unterscheiden: Während polis griechische Wurzeln hat und den öffentlichen oder politischen Raum umfasst, stammt politesse/politeness vom lateinischen Begriff polire (dt. glätten, schleifen). Die vernakularen Formen polir und polish verweisen deshalb in ihrem wörtlichen Sinn auf eine ästethische Sicht auf ein Objekt.50 Politesse/politeness bezeichnet damit einerseits den Prozess, ein Rohmaterial zu einem Edelmaterial zu verarbeiten, es also zu „schleifen“. Andererseits bezeichnet politesse/politeness aber auch den Zustand des Geschliffenseins. In diesem Sinn ist politesse/politeness als eine Tugend zu deuten. Dabei wird jedoch vorausgesetzt, dass das zu verarbeitende Rohmaterial einen gewissen Eigenwert mitbringt, entsprechend ist die politesse/politeness nicht für jeder46 Bodin: Les six livres (wie Anm. 45). 47 Maissen: Die Geburt der Republic (wie Anm. 45), S. 83. 48 Maissen: Die Geburt der Republic (wie Anm. 45), S. 75f. 49 In der Arbeit wird der Begriff der Republik, bzw. der republic, république benutzt, wenn ausdrücklich auf diese freistaatliche Implikation verwiesen werden soll, so etwa im dritten Kapitel, wo von Athen als der gescheiterten Republik gesprochen wird. 50 France, Peter: Politeness and its Discontents. Problems in French Classical Culture. Cambridge [u.a.] 1992, S. 53.

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mann/jederfrau zugänglich, sondern nur für einen erlauchten Kreis vorgesehen. Damit grenzt sich politesse/politeness, und dies wird die vorliegende Untersuchung systematisch aufarbeiten, einerseits von der christlich-universalen Tugend der civilité/civility ab, aber auch von der höfischen Tugend der courtoisie/courtesy. Grundlegend für die Forschung zum Thema der politeness waren und sind noch immer die Arbeiten John Pococks, der die Tugend der politeness bereits in seinem Machiavellian Moment erörtert hat. Darin interpretierte er diese vornehmlich als Tugend der Handelsstaaten. In seinem Virtue, Commerce, and History: Essays on Political Thought and History, Chiefly in the Eighteenth Century arbeitete er weiter heraus, dass politeness in England vor allem nach 1688 das zentrale Element gewesen sei, um Tugend und Handel miteinander in Einklang zu bringen und auf diese Art die republikanische Tradition auch in einen „commercial state“ zu integrieren: Während die antiken Republiken – hier v.a. Rom und Sparta – im 17. Jahrhundert gerade aufgrund der eher schmucklosen, asketischen Tugenden ihrer Bürger rezipiert worden seien, hätten diese Tugenden, und damit auch die antiken Vorbilder selbst, mit dem Aufkommen der Handelsrepubliken im 18. Jahrhundert ausgedient. Die Tugenden wurden mit Hilfe von „manners“ neu definiert und der politeness-Diskurs wurde, so die Analyse Pococks, zum modernen Äquivalent des alten Tugenddiskurses. Wenn also politeness die Tugend der modernen „commercial societies“ war, leitete er daraus ab, dass politeness die Folge von „commerce“ war.51 Pocock, der sich in seiner brillanten Analyse auf die Veränderungen eines Handelsstaates konzentrierte, vernachlässigte jedoch die zahlreichen kulturellen und philosophischen Elemente der politeness, in der „commerce“ zuallerst als soziale Interaktion gewertet wurde und übersah damit auch ein antikes Tugendmodell, das in der Whig-Kultur des 18. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle einnahm: Athen. Für Lawrence Klein, der die Analyse Pococks aufnahm und die Aspekte der politeness im Kontext der englischen Kaffeehauskultur des ausgehenden 17. und 18. Jahrhunderts analysierte,52 ist – wie für die vorliegende Arbeit auch – Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury die zentrale Person für die theoretische

51 Pocock: The Machiavellian Moment (wie Anm. 25); Ders.: The Ancient Constitution and the Feudal Law. A Study of English Historical Thought in the 17th Century. Cambridge [u.a.] 1957; Ders.; Virtue, Commerce, and History: Essays on Political Thought and History, Chiefly in the Eighteenth Century. Cambridge [u.a.] 2002. 52 Klein, Lawrence E.: Coffeehouse Civility, 1660–1714: An Aspect of Post-Courtly Culture in England. In: Huntington Library Quaterly 59/1 (1996). S. 30–51; Ders.: Liberty, Manners and Politeness in Early Eighteenth-Century England. In: Historical Journal 32/3 (Sep. 1989). S. 583–605;

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Ausarbeitung der Tugend der politeness.53 Klein erkannte zwar bereits dessen Interesse an Athen, arbeitete dieses jedoch nicht heraus. Auch die in seiner politeness-Konzeption verarbeitete Frontstellung mit Frankreich ist Klein aufgefallen.54 Darauf aufbauend wird diese Analyse zeigen, dass Shaftesburys Athen ein gegen den Hof, gegen die Tories und gegen Frankreich gerichtetes Vorbild war. John Pocock, der in seinem Konzept der politeness Frankreich außer Acht gelassen hatte, wurde in der französischen Forschung bzw. in der auf Frankreich bezogenen politesse-Forschung entsprechend nur marginal rezipiert. Grundlegend für die französische politesse-Froschung war dagegen Maurice Magendies monumentales und traditionsprägendes Werk aus dem Jahre 1925, in dem er die politesse mondaine bearbeitete.55 In seiner literaturwissenschaftlichen Analyse untersuchte Magendie die politesse nicht als sozio-politische Tugend, sondern wies sie thematisch in den Werken französischer Autoren und Literaten von 1600 bis 1660 nach. Er unterschied dabei nicht zwischen courtoisie, honnêteté und politesse, vermischte die Konzepte vielmehr zu einem gemeinsamen Bild von weltlicher Höflichkeit. Weitere literaturwissenschaftliche Arbeiten zur politesse

53 Dies spiegelt sich sowohl in seinen genannten Aufsätzen, als auch insbesondere in seinem Buch: Klein, Lawrence E.: Shaftesbury and the Culture of Politeness. Moral Discourse and Cultural Politics in Early Eighteenth-Century England. Cambridge 1994. 54 Klein, Lawrence E.: The Figure of France: The Politics of Sociability in England, 1660-1715. In: Yale French Studies 92 (1997). S. 30–45. Auch Steven Pincus’ Aufsatz mit dem Titel “Coffee Politicians Does Create”: Coffeehouses and Restoration Political Culture [Pincus, Steven: “Coffee Politicians Does Create”: Coffeehouses and Restoration Political Culture. In: The Journal of Modern History 67/4 (Dez., 1995). S. 807–834.] beleuchtet das Umfeld der Kaffeehäuser und die in ihnen herrschenden Verhaltensweisen. Markku Peltonen bearbeitete in seinem Aufsatz Politeness and Whiggism, 1688–1732 [Peltonen, Markku: Politeness and Whiggism, 1688–1732, In: The Historical Journal 48/2 (Juni 2005). S. 391–414.] die politeness dagegen verstärkt im Kontext der WhigIdeologie und argumentiert, dass politeness nicht nur ein Konzept der Whigs oder nur einem Whig-Umfeld zuzurechnen sei, noch habe es innerhalb der Whigs eine einheitliche Vorstellung von politeness gegeben. Vielmehr sei die Interpretation von politeness ein am Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts heftig umstrittenes Thema gewesen. Ihre Definition sei dabei jedoch nicht von Parteilinien abhängig gewesen. In seiner Analyse zeichnete Peltonen die Entwicklung der politeness-Forschung nach und stellte ihre Traditionen und ihre Weichenstellungen durch Pocock dar. Iain Hampsher-Monk deutet in seinem Beitrag in Quentin Skinners und Martin van Gelderens Band The Values of Republicanism mit dem Titel From Virtue to Politeness [HampsherMonk, Iain: From Virtue to Politeness. In: Republicanism. A Shared European Heritage, Bd.2: The Values of Republicanism in Early Modern Europe. Hrsg. von Gelderen, Martin van u. Quentin Skinner. Cambridge [u.a.] 2006. S. 85–105.] in der Manier der Republikanismusforschung politeness als Form einer republikanischen Tugend des englischen 18. Jahrhunderts. 55 In dieser Ausgabe wird die Repr. der Edition von 1925 verwendet: Magendie, Maurice: La politesse mondaine et les théories de l’honnêteté, en France au XVIIe siècle, de 1600 à 1660. Genève 1970.

3 Republik, Polis und Politesse: Athen als Tugendmodell 

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finden sich, an Magendie anschließend, in Emmanuel Burys Politesse et littérature56 und Peter Frances Politeness and its Discontents57. Eine ganz andere Perspektive nahm Dena Goodmann mit ihrer Analyse der République des Lettres ein.58 Darin maß sie den Salons des 18. Jahrhunderts, und damit auch den „salonnières“ als weibliche Gastgeberinnen unter männlichen Besuchern eine besondere Rolle bei der Herausbildung einer mondänen politesse zu. Antoine Lilti, der in seiner Monographie Le monde des salons: Sociabilité et mondanité à Paris au XVIIIe siècle59 mit Goodman zwar darin übereinstimmte, dass die Salons Aufschluss über die Konzeption der politesse der Pariser Elite gäben, widersprach jedoch Goodmans These des egalitären Charakters der Salons sowie der bedeutenden intellektuelle Rolle der „salonnières“. Auch Daniel Gordons Untersuchung der Citizens without Sovereignty: Equality and Sociability in French Thought, 1670–178960 fand Liltis Kritik, da dieser nur die intellektuellen Ideen, nicht aber die soziale Praxis der Salons in den Blick genommen habe. Liltie kam ferner zum Ergebniss, dass auch die Salons des 18. Jahrhundert der Pariser Aristokratie, „le monde“, anzurechnen seien und deshalb kein oppositionelles Milieu zum Hof darstellten, die „sociabilité“ der Salons also kein anti-höfisches Konzept darstelle.61 Goodman, Lilti und Gordon werfen damit die Frage nach der sozialen Verortung der Höflichkeits-Diskurse, aber auch des Vorbildes Athen auf: Denn nicht überall, wo Höflichkeit verhandelt wurde, wurde auch Athen als Modell benötigt. Deshalb wird in dieser Arbeit dezidiert zwischen verschiedenen Höflichkeitskonzepten unterschieden, damit ihre jeweiligen sozialen Kontexte erarbeitet werden können.62 Es wird sich dabei zeigen, dass im französischen Fall 56 Bury, Emmanuel: Littérature et politesse, l’invention de l’honnête homme, (1580–1750). Paris 1996. 57 France: Politeness (wie Anm. 50). 58 Goodman, Dena: The Republic of Letters. A Cultural History of the French Enlightenment. Ithaca/London 1994. 59 Lilti, Antoine: Le monde des salons: Sociabilité et mondanité à Paris au XVIIIe siècle. Paris 2005. 60 Gordon, Daniel: Citizens without Sovereignty: Equality and Sociability in French Thought, 1670-1789. Princeton 1994. 61 Lilti, Antoine: Sociabilité et mondanité: Les hommes de lettres dans les salons parisiens au XVIIIe siècle. In: French Historical Studies 28 (Summer 3/2005). S. 415–445, hier S. 416f. Siehe ebenso, Ders.: The Kingdom of Politesse: Salons and the Republic of Letters in Eighteenth-Century Paris. In: Republics of Letters: A Journal for the Study of Knowledge, Politics, and the Arts (May 1/2009), S.  1–11. http://arcade.stanford.edu/rofl/kingdom-politesse-salons-and-republic-letters-eighteenth-century-paris (03.05.2015). 62 Jüngst hat der französische Politikwissenschaftler Philippe Raynaud mit seiner Monographie La politesse des lumières: les lois, les mœurs, les manières [Raynaud, Philippe: La politesse des lumières: les lois, les mœurs, les manières. Paris 2013.] eine Studie vorgelegt, die sich mit der

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 I Einleitung

die politesse-Athen-Verbindung vor allem von der Hof-fernen „noblesse de robe“ eingesetzt wurde sowie von der Provinzelite, die ein Gegengewicht zum Pariser Zentrum setzen wollte. Im englischen Fall war es weniger eine soziale Gruppierung, die sich auf Athen als Vorbild für die politeness konzentrierte, sondern vielmehr nutzten Regierungskritiker in den eigenen Reihen der Whigs das Vorbild Athen dazu, London als neues „Bollwerk“ gegen höfische und hofnahe Interessen aufzustellen.

4 Vorgehensweise Für die vorliegende Studie bot sich zunächst an, nach dem einleitenden Kapitel (I) eine chronologische und regionale Ordnung vorzunehmen (Kapitel II, III, IV). Mit der chronologischen Kapitelfolge können Diskursthemen und -schwerpunkte, aber auch ihre Veränderungen am besten dargestellt werden. Das zweite Kapitel gibt zunächst eine Einordnung in den westeuropäischen Kontext und in die ältere Tradition des politischen Denkens. Die Arbeit beginnt entsprechend im Florenz der Renaissance mit Leonardo Brunis sowie Niccolò Machiavellis Vorstellungen vom antiken Athen. Diese werden in die in der Renaissance vorherrschende Auseinandersetzung mit der Antike eingebettet. Daran anschließend werden Jean Bodins Six livres de la republique auf Athen hin untersucht und die zeitgenössischen Einflüsse auf seine Atheninterpretation dargestellt. Im letzten Teil dieses Kapitels wird schließlich die niederländische Auseinandersetzung mit dem antiken Athen in den neu entstehenden Vereinigten Provinzen thematisiert. Kapitel II erarbeitet damit zum einen das frühneuzeitliche Wissen über griechische Texte, zum anderen setzt es sich mit der Verbindung von Athen und Demokratie sowie mit der Rolle alternativer historischer Beispiele, wie Rom, Sparta oder das mythologische Vorbild der Niederländer, die Bataver, auseinander. Es stellt damit die Hauptanalyse, die mit dem nächsten Kapitel schließlich beginnt, in einen größeren ideengeschichtlichen Kontext. In Kapitel III werden die Athen-Ideen im englischen 17. Jahrhundert in den Blick genommen: Unter dem Titel Von der florierenden zur gescheiterten Republik: Athen im englischen Kampf um politische Teilhabe und Souveränität, ca. 1630–1660 wird Francis Rous’ Lesart Athens dargestellt, die er noch vor dem politikwissenschaftlichen Ideengeschichte der Höflichkeitskonzepte der Aufklärung oder besser mit den Höflichkeitsentwürfen großer politischer Theoretiker der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beschäftigt. Dabei legt Raynaud ein etwas schemenhaftes Bild der Aufklärung zugrunde, unterscheidet aber zwischen civilité und politesse, die er mit der Zivilisationskritik der Moderne in Verbindung bringt.

4 Vorgehensweise 

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Ausbruch des englischen Bürgerkrieges der Öffentlichkeit preisgab. Dabei nahm er vor allem die niederländische Athen-Interpretation auf und konzentrierte sich auf die Blütezeit der Athener, die diese in Rous’ Deutung ihrem free state zu verdanken hatten. In Thomas Hobbes’ Analyse hatten dagegen athenische Philosophen, die ihre politischen Kategorien nicht vom Verstand, sondern von ihrer politischen Erfahrungswelt ableiteten, die Engländer zur Rebellion gegen ihr Königtim verführt. Die von Athen erlernten politischen Prämissen waren für den Theoretiker somit Grund für die blutigen Konflikte seiner Zeit. Im Kontext von Hobbes’ Verdacht wird schließlich auch die andere Seite dieser politischen Propaganda beleuchtet und Athen im republikanischen und anti-monarchischen Denken dargestellt. Dabei wird deutlich, dass Athen in diesem Kontext als gescheiterte Republik angesehen wurde, deren Institutionen einer genauen Politikanalyse unterzogen wurden. Im Kapitel Von der Republik zur Polis. Athen als sozio-kulturelles Modell im grand siècle, ca. 1635–1715 wendet sich der Blick nun nach Frankreich: Hier werden zeitlich parallel liegende Entwicklungen in der Nachbarmonarchie dargestellt. Diese hatte die Bürgerkriegssituation der Fronde bereits hinter sich gelassen und Kardinal Richelieu versuchte nun, die französische Einigung durch eine Politik der Sprach- und Kulturhegemonie zu stärken. Hier kam der Académie française eine bedeutende Rolle zu. Sie sollte die französische Sprache systematisieren und verbessern. Dazu benötigte sie sprachliche und kulturelle Vorbilder und so wurde vor allem in diesem Kontext auf die griechische und römische Antike verwiesen. Eine weitere Ausdifferenzierung der Auseinandersetzung mit der Antike brachte schließlich die Querelle des Anciens et des Modernes, die Gegenstand des zweiten Teils des Kapitels ist. Hier wird auch die regionale Trennung aufgehoben und auf parallele Entwicklungen in England verwiesen, wo die Querelle ebenfalls diskutiert, jedoch mit einem anderen thematischen Schwerpunkt geführt wurde. In Bezug auf England werden diejenigen Aussagen über das antike Griechenland und Athen dargestellt, die nicht im Kontext des politisch-institutionellen Diskurses (der in Kapitel III beleuchtet wurde) zu sehen sind. Schließlich wird die Verflechtung von englischer und französischer Geschichte auch an der Kapitelstruktur offensichtlich, indem englische und französische Antiquaren und Griechenlandfahrer sowie deren Reiseberichte gemeinsam analysiert werden. Damit sollen Parallelen, Gemeinsamkeiten und Verflechtungen im Umgang mit der Antike deutlich gemacht werden, die sich durch die Konkurrenz der beiden Monarchien erklären lassen.

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 I Einleitung

Das fünfte Kapitel hat mit seinem Ansatz der historischen Semantik63 eine Klammerfunktion der ersten und zweiten Hälfte der Monographie. Unter dem Titel Von höfischer courtoisie zur urbanen politesse stellt es die semantische Verschiebung von der höfischen courtoisie zur universalen civilité und schließlich zur elitären politesse dar. Die verschiedenen Konzepte der Höflichkeit werden darin chronologisch und analytisch in ihrer Verwendung und in ihrem sprachlichen Gebrauch beleuchtet. Damit bereitet das Kapitel den Weg für den zweiten Teil des Buches, der die politesse/politeness-Athen-Verbindung unter die Lupe nimmt. Die beiden letzten und inhaltlich bedeutungsschwersten und damit auch längsten Kapitel beschreiben und analysieren den jeweiligen politesse/politenessAthen-Bezug zuerst in Frankreich, dann in England. Auch wenn diese Analyse zunächst in der Gliederung getrennt erscheint, so werden wiederum verbindende Elemente, Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede der Diskussion offenbar. Der Kapitelaufbau, der nun zuerst Frankreich in den Blick nimmt, soll dabei verdeutlichen, wie die französische Athenrezeption insbesondere durch die Vermittlung von Shaftesbury in England Anklang fand und auf die dortigen politischen und kulturellen Bedürfnisse zugeschnitten wurde: Kapitel VI mit dem Titel Athen als Reformmodell einer urbanen politesse, ca. 1680–1760 ist, wie bereits die vorangegangen Kapitel, nach den für die Athen-Idee einflussreichsten Denkern strukturiert und stellt diese im Kontext weiterer Diskursteilnehmer dar. Für die französische Athen-politesse-Verbindung war etwa der Schriftsteller und Moralist Jean de la Bruyère besonders bedeutsam, dessen Athen-Darstellung fortan diskursprägend sein sollte. Ihm ist deshalb der erste Teil des Kapitels gewidmet. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die Athen-Rezeptionen des aus Lyon stammenden prévot des marchands, Laurent Dugas’, sowie anderer Angehöriger der Provinzelite, die die Verbindung von politesse, gutem Geschmack und athenischem Vorbild in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts diskutierten. Das Kapitel schließt mit den Athen-Darstellungen des Zivilisationskritikers Jean-Jacques Rousseaus sowie mit den Entwürfen seiner Widersacher. Im letzten Kapitel mit der Überschrift Athen im Denken der Whigs: Ein Modell für politeness, Freiheit und diskursive Öffentlichkeit, ca. 1680–1760, das die politeness-Athen-Verbindung in England darstellt, ist nun Anthony Ashley Cooper,

63 Siehe dazu Reichardt, Rolf: Historische Semantik zwischen lexicométrie und New Cultural History. Einleitende Bemerkungen zur Standortbestimmung. In: Aufklärung und Historische Semantik. Interdisziplinäre Beiträge zur westeuropäischen Kulturgeschichte. Hrsg. von dems. Berlin 1998 (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 21). S. 7–28; siehe auch Bödeker, Hans Erich: Ausprägungen der historischen Semantik in den historischen Kulturwissenschaften. In: Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte. Hrsg. von dems. Göttingen 2002 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 14). S. 7–27.

4 Vorgehensweise 

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Third Earl of Shaftesbury als regelrechter Theoretiker der politeness zentral. Zunächst wird jedoch das Umfeld der Kaffeehäuser und Zeitungen beleuchtet und die dortige Rolle Athens und Griechenlands dargestellt. Dabei wird vor allem der Athenianism des Buchhändlers John Dunton betrachtet, der sich mit seinem Konzept auf die Wissebegierde der alten Athener bezog und werbewirksam eine neue Zeitschrift für seine Zeitgnossen entwarf, an der sich die Leser und Leserinnen mit Fragen aktiv beteiligen sollten. Der von ihm ins Leben gerufene Athenianism sollte dazu beitragen, dass London wie einst Athen in Griechenland, Licht nach Europa bringe. Den Abschluss des Kapitels bildet die Analyse der Athen-Rezeption bis 1760, die wiederum im Kontext der Zeitungen verortet wird. Die Umrahmung der Shaftesbury’schen Athen-Kampagne durch Zeitungstexte wird deutlich machen, dass der Konnex von Athen und politeness Teil einer öffentlichkeitswirksamen Whig-Propaganda war. Nach einer vergleichenden Analyse der französischen und englischen AthenIdeen und ihren feinen Bedeutungsverschiebungen wird im Schluss des Buches der französische und englische Rekurs auf Athen seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in Abgrenzung zum ancient oder classical republicanism als ancient polisism bestimmt.

II Athen in der politischen Theorie, ca. 1400–1650 Seit dem Hochmittelalter und vor allem durch die Wiederentdeckung aristotelischer Schriften im 13. Jahrhundert und der mit ihr einhergehenden verstärkten Aristoteles-Rezeption wurden politische Ideen durch die Auseinandersetzung und den Vergleich mit antiken Gemeinwesen, vor allem mit Sparta, Rom und Athen geprägt. Letzteres wurde in seiner Wirkungsgeschichte vor allem im Spiegel Platons, Aristoteles’, Thukydides’, Xenophons, Isokrates’ und Ciceros gesehen.1 Die meisten dieser antiken Denker hatten Anstoß daran genommen, dass in Athen die politischen Ämter durch Losverfahren zugeteilt und die Amtsinhaber für ihre politischen Tätigkeiten bezahlt worden waren. Zwar hatte Thukydides ein eher positives Bild der athenischen Demokratie unter der Führung Perikles’ gezeichnet, er hatte dieses jedoch auch mit seiner späteren, für ihn negativen Entwicklung verglichen. Bei Platon und Aristoteles war wiederum gerade die Zeit unter Perikles als diejenige Epoche gekennzeichnet, in der die Tyrannei in Athen eingeführt worden sei. Auch Plutarch hatte kein mildes Urteil über Perikles gefällt: Er gab ihm die Schuld am Peloponnesischen Krieg, da er diesen unnötigerweise provoziert habe. Aus diesem Grund hatte Plutarch ihn als kriegsbringenden Tyrannen bezeichnet. Athen war von den antiken Denkern also vornehmlich mit Unbehagen betrachtet worden.2 Dass die antiken griechischen Gemeinwesen von politischen Denkern des Spätmittelalters und der Renaissance überhaupt rezipiert wurden, ist nicht so naheliegend, wie dies auf den ersten Blick scheinen mag, zumal sich im Frühmittelalter die Griechischkenntnisse, bedingt durch die Spaltung in die okzidentale und orientalische Welt, im westlichen Teil weitestgehend verloren hatten und über Grundkenntnisse meist nicht hinausreichten. Griechische Texte waren hier somit schwer zugänglich und auch in der Theologie berief man sich vor allem auf lateinische Schriften.3 Nur bruchstückhaft waren Bausteine der griechischen Geschichte bei lateinischen Autoren der Antike und des Frühmittelalters zu finden. Sallust berichtete beispielsweise von der Konkurrenz zwischen Athen und Sparta und davon, wie die beiden Stadtstaaten versucht hatten, andere Städte und Völker unter ihren Machteinfluss zu bringen. Sallust endete seinen Bericht mit Spartas Sieg über Athen und mit der von den Spartanern errichteten Regierung der dreißig Tyrannen. Nach einer anfänglichen Akzeptanz dieser Regierung hätten die spartanischen Neuerungen in Athen jedoch zu Massakern und Aufruhr 1 Siehe Nippel, Wilfried: Antike oder moderne Freiheit? Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit. Frankfurt am Main 2008, S. 88ff. 2 Nippel: Antike (wie Anm. 1), S. 88ff. 3 Vgl. Cambiano, Giuseppe: Polis. Histoire d’un modèle politique. Paris 2003, S. 16.



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geführt. Darüber hinaus teilte er der Nachwelt nichts über die Regierungsformen der athenischen oder spartanischen Gemeinwesen mit.4 Erst die Aristoteles-Übersetzung Wilhelm von Moerbekes (ca. 1215–1286) ließ im Spätmittelalter eine Welle der Rezeption der griechischen Antike folgen. Er machte 1260 die Aristotelische Politik5 dem lateinischen Europa zugänglich, wenngleich Aristoteles’ genauere Analyse des athenischen Stadtstaates, seine Abhandlung mit dem Titel Staat der Athener6, der westlichen Welt bis ins 19. Jahrhundert unbekannt blieb.7 Aristoteles’ Politik bot eine bis dato ungekannte Informationsfülle über die politische Welt der griechischen poleis und enthielt zahlreiche Beispiele für die verschiedensten Verfassungen und Institutionen der griechischen Antike. Das zweite Buch der Politik beschäftigte sich explizit mit den Verfassungen Athens und Spartas.8 Darin hatte Aristoteles eine offensichtlich gängige Deutung wiedergegeben, nach der Solon als „hervorragender Gesetzgeber“ anzusehen sei, da „er der Verfassung eine richtige Mischung“ gegeben habe.9 Aristoteles selbst hatte jedoch vielmehr die Ansicht vertreten, dass Solon den demos als politische Kraft begründete, „indem er allen den Zugang zu den Gerichten eröffnet[e]“ habe.10 Aristoteles hatte an dieser Stelle bestätigt, dass Solons Entschluss, den demos als politische Kraft einzurichten, auf Ablehnung gestoßen sei. Im Anschluss daran finden sich in der Politik weitere Kritikpunkte am politischen Gefüge Athens, das von Aristoteles erst in seinen negativen, tyrannischen Auswüchsen als Demokratie bezeichnet worden war.11 Die athenische Demokratie, eine Herrschaft der Massen, habe in dieser Form jedoch nicht der solonischen Verfassung entsprochen, sondern die Tyrannei des demos habe sich 4 Siehe Sallustius, Gaius Crispus: De Catilinae coniuratione. Hrsg. von Dieter Flach. Stuttgart 2007. Kapitel II und LI, S. 49 und S. 65–67. Vgl. auch Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 16f. 5 Aristoteles: Politica. Aristotelis Politicorvm libri octo. Cum vetusta translatione Guilelmi de Moerbeka. Accedunt variae lectiones Oeconomicorum. Lipsia 1872. [Das ist diejenige Ausgabe der Moerbeke-Übersetzung, die noch standartmäßig in den Bibliotheken zu finden ist.] 6 Aristoteles: Der Staat der Athener. Übers. und hrsg. von Martin Dreher. Stuttgart 1993. 7 Siehe Einleitung. In: Aristoteles: Der Staat (wie Anm. 6), S. 5–23. 8 Vgl. Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 23. 9 Diese Mischung wird folgendermaßen erläutert: „Denn der Rat auf dem Areopag stelle ein oligarchisches Element dar, die Besetzung der Staatsämter durch Wahl sei aristokratisch, die Geschworenengerichte eine demokratische Institution.“ Siehe Aristoteles: Politik. Buch II. Über Verfassungen, die in einigen Staaten in Kraft sind, und andere Verfassungen, die von gewissen Männern entworfen wurden und als vorbildlich gelten. Übers. von Eckart Schütrumpf. Hrsg. von Hellmut Flashar. Berlin 1991, Kapitel 12, S. 46. 10 Aristoteles: Politik (wie Anm. 9), Kapitel 12, S. 46. 11 „Nachdem aber dieses Gericht seine Macht gefestigt hatte, haben (einzelne) sich dem Demos wie einem Tyrannen gefällig erwiesen und die Verfassung zur jetzt bestehenden Demokratie umgestaltet.“ Siehe Aristoteles: Politik (wie Anm. 9), Kapitel 12, S. 46.

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aus den weiteren historischen Ereignissen ergeben.12 Solons Verfassung hatte in Aristoteles‘ Interpretation vielmehr das aristokratische Element derselben stärker gemacht und politische Macht und Teilhabe auf Zeit begrenzt.13 Nachdem bereits der florentinische Poet Cino Rinuccini (1350–1417) 1397 seine Heimtstadt für seine kulturelle und literarische Blüte gelobt und Florenz mit Athen verglichen hatte,14 war es Leonardo Brunis (ca. 1369–1444) Laudatio florentine urbis,15 die die entscheidende Wende zur Beschäftigung mit der griechischen Antike brachte. Bruni, der auch Platon, Aristoteles, Xenophon und Aischenes übersetzte, verfasste seine Laudatio vermutlich zwischen 1403 und 1404, nach dem Tod Giangaleazzo Viscontis am 3. September 1402.16 Hans Baron zufolge war Brunis Laudatio das „erste Florentinische Werk, möglicherweise sogar des Humanismus überhaupt, das wesentlich von den Griechischkenntnissen profitierte“.17 In seiner Laudatio auf seine Wahl-Heimatstadt orientierte sich Bruni am Panathenaicus des Sophisten Aelius Aristides, der um 100 v. Chr. geschrieben worden war. Es handelt sich bei Brunis Werk jedoch nicht um eine Übersetzung von Aristides’ Lobrede, sondern um ein eigenständiges Werk, das dem antiken Modell des Sophisten in Themenwahl und in der Abfolge stark ähnelte. Aristides hatte seinen Zuhörern damit geschmeichelt, indem er behauptet hatte, dass Athen seine Freiheit im Kampf gegen die Tyrannei äußerer Mächte bewahrt habe. Damit hatte er Athen als Anführer Griechenlands und als Zentrum der hellenistischen Kultur prästentiert.18 Aristides’ Interpretation der Stellung Athens bot für

12 „Denn weil in den Perserkriegen die militärische Überlegenheit zur See dem Demos zu verdanken war, stieg ihm dies zu Kopfe, und er wählte sich schlechte Demagogen, während die Guten die Gegenpartei bildeten. Solon scheint dagegen dem Demos nur den wirklich unverzichtbaren politischen Einfluss zugewiesen zu haben, nämlich die Beamten zu wählen und ihre Amtsführung richterlich zu kontrollieren, denn wenn der Demos nicht einmal darüber die politische Entscheidung ausübt, dürfte er in die Rolle eines Sklaven hinabsinken und feindlich gesonnen sein.“ Aristoteles: Politik (wie Anm. 9), Kapitel 12, S. 46. 13 „Solon besetze auch alle Ämter aus den Reihen der Vornehmen und der Begüterten, d.h. denen, die einen Ertrag von 500 Scheffeln erwirtschaften, dann den Zeugiten und als dritter Vermögensklasse derjenigen, die Ritterschaft heißt. Die vierte Klasse bildeten die Theten, denen der Zugang zu keinem Amt offenstand.“ Siehe Aristoteles: Politik (wie Anm. 9), Kapitel 12, S. 47. 14 Roberts, Jennifer Tolbert: Athens on Trial. The Antidemocratic Tradition in Western Thought. Princeton 1994, S. 122. 15 Bruni, Leonardo: Laudatio florentine urbis. Hrsg. von Stefano U. Baldassarri. Bottai [u.a.] 2000. 16 Baron, Hans: From Petrarch to Leonardo Bruni. Studies in Humanistic and Political Literature. Chicago/London 1968, S. 121. Siehe zu Bruni auch Skinner, Quentin: The Foundation of Modern Political Thought. Bd. 1: The Renaissance. Cambridge 1978, v.a. S. 83ff. 17 Baron: From Petrarch (wie Anm. 16), S. 151. 18 Baron: From Petrarch (wie Anm. 16), S. 156.



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Bruni den Ausgangspunkt, Athen und Florenz zumindest implizit miteinander zu vergleichen.19 Athen galt Bruni als Beispiel einer in Kunst und Philosophie überlegenen Stadt, die auch im Kampf gegen eine auswärtige Tyrannei ihre Vorrangstellung in Griechenland unter Beweis gestellt hatte. Auch für andere florentinische Schreiber, die ebenfalls die kulturelle und politische Überlegenheit ihrer Heimatstadt betonen und legitimieren wollten, wie etwa Giovanni Gherardi da Prato (ca.1360–ca.1445), bot es sich deshalb an, auf die griechische Stadt in Attika zu verweisen.20 Unter der Herrschaft der Familie der Medici stärkten Gelehrte und Dichter Mitte des 15. Jahrhunderts in Florenz nun eine andere Seite der griechischen und athenischen Geschichte: 1454 wurde in Florenz die Platonische Akademie gegründet, in der die griechische Sprache und Philosophie unterrichtet wurden. Die Platonische Akademie bildete damit den Grundstein einer radikalen Veränderung im Umgang mit der Antike. Der Byzantiner Giovanni Argiropulo (1416–1487) bevorzugte, ganz im Gegensatz zu Leonardo Bruni oder anderen (Bürger-)Humanisten, nämlich Aristoteles’ metaphysische Schriften und lehrte diese schließlich an der florentinischen Akademie.21 1442 zeigte der venezianische Humanist Lauro Quirini (1419/20–ca. 1479)22 in seinem Dialogus in gymnasiis florentinis23 eine Parallele zwischen Athen, der Erfinderin aller Wissenschaften, „Vrbs hec Athene sunt scienciarum omnium inuentrices“,24 und Florenz auf, das für ihn der Glanz Italiens und Vorzeigeobjekt der römischen Tugend war, zu der alle Dichter Italiens strömten, wie vormals die Dichter Griechenlands nach Rom und Athen geeilt seien: „Florencia urbs est, Romanorum colonia et Ytalie decus unicumque exemplar romane uirtutis, genus suum non mentiens. … In ea enim hoc tempore [poetae – Anm. der 19 Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 41. 20 Der in Recht und Mathematik ausgebildete Poet und Literat Giovanni Gherardi da Prato hatte sein Il Paradiso degli Alberti bereits im Jahre 1389 verfasst. Darin pries er Athen als gebildete Stadt und betonte Athens Widerstand gegen äußere Mächte, was an Florenz erinnern sollte: „Io rimirava Attene tanto dottisima, Tebe tanto popolata e ricca, Lacedemona tanto bellicosa e modesta. Vedea li innumerabili trionfi del glorioso popolo ateniese, e ispesso ispesso [sic.] con grandissima dolcezza considerando la tanto loro guardata e dolcissima libertade.“ Vgl. Gherardi da Prato, Giovanni: Il paradiso degli Alberti. Hrsg. von Antonio Lanza. Roma 1975, Buch I, S. 43. 21 Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 65. 22 Zu seinen biographischen Angaben siehe Rashed, Qurini Marwan: Der Averroismus des Lauro Quirini. In: Wissen über Grenzen. Arabisches Wissen und lateinisches Mittelalter [34. Kölner Medeävistentagung vom 7. bis 10. September 2004]. Hrsg. von Andreas Speer. Göttingen 2006. S. 700–714, hier S. 700f. 23 Der Text von Quirini findet sich bei Ludwig Bertalot: Quirini, Lauro: „Dialogus in gymnasiis florentinis“. Ein Nachklang zum „Certamen coronario“ (1442). In: Studien zum italienischen und deutschen Humanismus. Hrsg. von dems., Bd. 1, Rom 1975. S. 339–372. 24 Bertalot, Lauro Quirini (wie Anm. 23), S. 349.

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Verf.] concurrunt ex tota Ytalia, ut Rome condam et Athenis ex omni Grecia.”25 Quirini interessierte sich dabei nicht besonders für Athens politische Geschichte, sondern die Stadt in Attika wurde bei Quirini ausschließlich als Wiege der Kunst und als Zentrum der Kultur präsentiert. Florenz erschien demnach als modernes Athen.26 Der Dichter Angelo Poliziano (1454–1494) übernahm diese Analogie zwischen Athen und Florenz und verbannte dabei jegliche republikanischen Konnotationen, die bei den Schreibern des sogenannten Bürgerhumanismus des 14. Jahrhunderts noch vorhanden gewesen waren. Ohne die politische Lesart aus der Perspektive des bürgerlichen Lebens konnte Poliziano sich mehr auf kulturelle und philologische Aspekte des antiken Griechenlands und insbesondere Athens konzentrieren. Entsprechend interessierte er sich nun verstärkt für das archaische Griechenland, las also Homer sowie die griechische Literatur lieber als die politischen Geschichten von Thukydides.27 In der Konzentration auf die griechische Antike und ihre kulturellen Errungenschaften spiegelte sich dennoch ein politisches Anliegen: In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts sollten bürgerhumanistische Aspekte des athenischen Freiheitskampfes gegen äußere Mächte und Tyrannei in Vergessenheit geraten und mit der Rezeption der griechischen Geschichte und Philosophie und dem Verweis auf seine Blütezeit die Herrschaft der Medici gestärkt werden.28 Andererseits bildete sich zur selben Zeit unter den Opponenten der Medici erneut ein republikanischer Diskurs heraus, der besonders von der Aristokratie gestützt wurde und der sich ähnlich wie die Humanisten der ersten Hälfte des Jahrzehnts auf eine klassische Tradition berief. Alamanno Rinuccini (1426–1499) übersetzte unter den Medici verschiedene Texte Plutarchs, die er zunächst Pietro und Lorenzo de’ Medici widmete. Obwohl er nach einer Auseinandersetzung mit Lorenzo wichtige politische Ämter besetzte, schrieb er 1479 sein De libertate,29 ein regelrechtes Pamphlet gegen die Macht der Medici, in welchem er das korrumpierte, tyrannische Regime des Lorenzo de’ Medici scharf kritisierte. Er forderte darin eine auf bürgerlicher Gleichheit beruhende Regierungsweise sowie

25 Bertalot, Lauro Quirini (wie Anm. 23), S. 351. 26 Vgl. Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 65. 27 Von Bedeutung war auch der Neoplatonismus des Philosophen Marsillo Ficinos (1433–1499), der seine Übersetzung der platonischen Dialoge kurz vor dem Tod Cosimos de Medici im Jahre 1464 veröffentlichte. Dieser Neoplatonismus war vor allem durch ein Interesse an außer-weltlichen und theologischen Aspekten der Menschheit geprägt. Siehe Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 66. 28 Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 66f. 29 Rinuccini, Alamanno: Dialogus de libertate. In: Atti e memorie dell’ Accademia Toscana di scienze e lettere la Colombaria, Bd. 8 (1957). S. 270–303.



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die Auswahl der Magistrate durch Losverfahren – eine Forderung, die zumindest heutige Leser an das athenische Verfahren erinnern.30 Nachdem die Medici 1494 aus Florenz verbannt worden waren, kehrten sie 1512 mit Hilfe spanischer Truppen wieder an die Stadt am Arno zurück, stürzten die bis dahin währende republikanische Ordnung des Stadtstaates und enthoben die führenden Männer aus deren Ämtern. Davon betroffen war auch Niccolò Machiavelli, der inhaftiert, gefoltert und anschließend aus Florenz verbannt wurde.31 In seinem Exil beschäftigte sich dieser nun intensiv mit den Alten, für deren Studium er ein dezidiert politisches Interesse verfolgte:32 Er wollte die Gründe für ihr politisches Handeln sowie für ihre politischen Organisationen begreifen, um seine Erkenntnisse für das Handlungswissen der eigenen Zeit nutzbar zu machen.33 Die Geschichte erschien bei Machiavelli also als Lehrmeisterin für die eigenen Handlungen. Damit nahm der Florentiner das ciceronische Diktum der historia magistra vitae auf.34 Machiavelli ging davon aus, dass sich die Menschen nicht grundsätzlich änderten, dass ihre Leidenschaften die gleichen blieben, „sich der Himmel, die Sonne, die Elemente, die Menschen in Bewegung, in Gestalt und Wirksamkeit, von dem was sie seit altersher waren“ nicht unterschieden.35 Indem man sowohl die Alten als auch die eigene Zeit beobachte, sei festzustellen, dass die Menschen sich über die Jahrhunderte nicht veränderten, es deshalb auch wiederkehrende 30 Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 68. 31 Münkler, Herfried: Geleitwort. In: Niccolò Machiavelli: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung. Hrsg. von Rudolf Zorn. 3. Aufl. Stuttgart 2007. S. XVII–XXX, hier S. XVII. 32 In seinem Brief an seinen Freund Francesco Vettori, der das Glück hatte, trotz seines politischen Wirkens in der Republik die Gunst der Medici zu erlangen, bestätigte er dies: „Wenn der Abend kommt, kehre ich nach Hause zurück und gehe in mein Schreibzimmer, und …betrete … die Hallen der Männer des Altertums, die mich liebevoll aufnehmen …. Da kann ich ohne Scheu mit ihnen reden und sie nach den Gründen ihres Handelns fragen, und freundlich antworten sie mir.“ Machiavelli, Niccolò: An Francesco Vittori, florentinischer Botschafter in Rom. In: Ders.: Der Fürst. Übers. von Friedrich von Oppeln-Bronowski. Frankfurt am Main 1990 (insel Taschenbuch 2772). S. 9–14, hier S. 12. 33 In seinem Brief an Lorenzo de’ Medici, dem er seinem Principe beilegte, schrieb er: „Indem ich mich Euch, erlauchter Herr, nun mit einem Beweise meiner Dienstfertigkeit zu nahen wünschte, fand ich unter meinem Besitze nichts, was mir lieber wäre oder was ich höher schätzte als die Kenntnis der Handlungen großer Männer, die ich durch lange Erfahrung in der Gegenwart wie durch emsiges Lesen der Alten erworben habe. Ich habe sie mit großem Fleiße durchdacht und geprüft und jetzt in einem kleinen Buch zusammengefasst, das ich Eurer Hoheit überreiche.“ Machiavelli: Der Fürst (wie Anm. 32), S. 17. Siehe auch Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 80. 34 Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 82ff. Zu Machiavellis Antikenverständnis, siehe auch Martelli, Mario: Machiavelli e gli storici antichi. Osservazioni su alcuni luoghi dei Discorsi sopra la prima deca di Tito Livi (Quaderini di Filologia e Critica 13). Roma 1998. 35 Machiavelli: Discorsi (wie Anm. 31), I, Vorwort, S. 4f und Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 82f.

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und ähnliche politische Problemlagen gebe. Deshalb sei es möglich, aus dem Studium der Alten Hilfen und Lösungen für die politischen Herausforderungen der eignen Zeit zu finden. Dies mache auch die Zukunft vorhersehbar. Aus diesem Grund sei das Studium der Geschichte gerade und vor allem für die Regierungen von größter Bedeutung. Was von den Alten für gut befunden worden sei und was in der Vergangenheit Lösungen für ähnliche Probleme und Herausforderungen gebracht habe, könne und solle also imitiert werden. Eine Beschäftigung mit der Geschichte müsse deshalb eine exakte Suche nach Beweggründen für jeweilige Taten sowie eine genaue Analyse der politischen Handlungen beinhalten.36 Die Antike war für den Florentiner also ein Modell, das nicht nur, wie bei Bruni zuvor, zum Vergleich herangezogen werden sollte, sondern zur Imitation. Die antiken Gemeinwesen Roms, Spartas und Athens waren dementsprechend nicht Objekte zahlreicher Lobreden, sondern wurden von ihm einer kritischen Betrachtung unterzogen. Die antike Politikgeschichte stellte für Machiavelli ein Arsenal an Methoden und verschiedenen Betrachtungsweisen politischer Problemlösungsmöglichkeiten dar, die allem voran einem Zweck dienen sollte: der Staatserhaltung.37 Das Interesse des Florentiners galt dabei vornehmlich der Römischen Republik. Letztere verglich er nicht nur mit den zeitgenössischen Staatsgebilden, sondern vor allem mit den Gemeinwesen der griechischen Welt. Als Quellen dienten dem Staatsdenker vor allem Sallust, Tacitus und Livius für die römische Welt, für die Studie der griechischen poleis zog er in erster Linie Thukydides, Plutarch, jedoch auch Herodot und die Politik des Aristoteles heran, die ihm nun in Übersetzungen zugänglich war. Sein Hauptbezugspunkt des Vergleiches zwischen Rom, Sparta und Athen war jedoch Polybios. Er war Machiavelli vor allem deshalb hilfreich, weil er im sechsten Buch seiner Historien das zyklische Modell der Abfolge der verschiedenen Verfassungsformen erläuterte sowie gemischte Regierungs- und Verfassungsformen erklärte,38 die diesen Zyklus durchbrechen 36 Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 86ff. 37 Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 91. 38 Zur Problematik des Begriffes der Mischverfassung siehe Nippel, Wilfried: Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und Früher Neuzeit. Stuttgart 1980 (Geschichte und Gesellschaft 21). S. 18–27. Nippel geht auf S. 18f von der folgenden Definition einer Mischverfassungskonzeption aus: „Als Mischverfassungskonzeption soll hier jede Aussage in den Quellen gelten, die besagt, dass eine bestimme (konkrete oder fiktive) Verfassung aus unterschiedlichen einzelnen Verfassungen bzw. aus für die einzelnen Verfassungen charakteristischen Institutionen (was immer in der betreffenden Quelle darunter verstanden wird) zusammengesetzt sei. Es soll sich dabei einerseits um eine Form sui generis handeln, die mit einem Begriff aus dem Dreibzw. Sechsverfassungsschema nicht angemessen beschrieben werden kann, andererseits aber nicht so aus dem Rahmen dieses Klassifzierungsschema fällt, dass nicht spezifische Merkmale



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oder zumindest aufhalten sollten. Außerdem ließ sich bei Polybios bereits ein Vergleich der antiken Stadtstaaten finden sowie auch die Frage, die auch für Machiavelli von zentraler Bedeutung war: Welche Institutionen oder Mittel verleihen einem Gemeinwesen Dauer?39 Die Geschichte zeigte dem Florentiner: Es waren nicht nur herausragende Handlungen großer Individuen, von denen das Überleben eines Staates abhing. Zwar waren es die großen Gesetzgeber wie Lykurg und Solon, die durch einen einmaligen Akt die Verfassung schufen und implementierten, trotzdem konnten auch sie durch ihr persönliches Engagement allein nicht die Dauerhaftigkeit des Gemeinwesens garantieren. Es waren stattdessen die Institutionen eines Gemeinwesens sowie die Tugend der Bürger, die die Dauer eines Staates gewährleisteten.40 Während Rom und Sparta bei Machiavelli im Hinblick auf die Dauer des Gemeinwesens gute Vorbilder waren, ließ der Fall Athens für den Florentiner Fragen offen: Warum war das athenische Gemeinwesen von kürzerer Dauer als es das römische oder das spartanische gewesen waren? Polybios hatte den Niedergang Athens mit der aufsässigen Natur des athenischen Volkes erklärt,41 seine Deutung schien Machiavelli jedoch nicht zu befriedigen, denn der Florentiner teilte dessen Ansicht über die Herrschaft des demos nicht: Ein herausragender Mann sei zwar dazu geeignet, die Verfassung einzuführen, das Volk könne die Verfassung jedoch besser auf Dauer bewahren.42 Machiavelli verglich, um diesen Punkt weiter zu erläutern, die Volksherrschaft und die Alleinherrschaft explizit im 58. Kapitel des ersten Buches seiner Discorsi. Darin stellte er schon in der Überschrift fest: „Das Volk ist weiser und beständiger als ein Alleinherrscher“. In diesem Kapitel wehrte sich der Florentiner gegen die Meinung, die auch Livius propagiert hatte, dass „es nichts eitleres und unbeständigeres gebe als das Volk“.43 Machiavelli verteidigte das Volk gegen diese Ausführungen und stellte fest, dass dieselben Fehler sowohl einem Volk als auch einem Alleinherrscher zur Last gelegt werden könnten, wenn politisch Handelnde in ihrem Tun nicht durch Gesetze begrenzt würden. In seinen Erläuterungen, für die er vor allem das auf die Typen dieses Schemas zurückgeführt werden könnten. Solch eine operationale Definition muss deshalb gegeben werden, weil es in den antiken Quellen keinen festen Sprachgebrauch gibt, der „Mischverfassung“, bzw. „gemischte Verfassung“, „gouvernement mixte“, „mixed constitution“, „governo misto“ usw. entsprechen würde, und es auch in der frühen Neuzeit nicht zu einer eindeutigen terminologischen Verfestigung gekommen ist.“ 39 Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 91ff. 40 Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 93. 41 Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 94. 42 Machiavelli: Discorsi (wie Anm. 31), I, 9, S. 37. 43 Machiavelli: Discorsi (wie Anm. 31), I, 58, S. 155.

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römische Volk vor Augen hatte, machte er deutlich, dass ein Volk weder „sklavisch dient“ noch „übermütig herrscht“.44 Die „Natur der Volksmassen“ sei daher nicht anders und vor allem nicht schlechter zu beurteilen als die eines einzelnen Machthabers.45 Im Gegenteil: Bei Einzelherrschern könne in der Geschichte größere Unbeständigkeit beobachtet werden als bei einer Volksherrschaft.46 Das Volk könne ebenso gut zwischen Gutem und Schlechtem unterscheiden und deshalb auch weise politische Entscheidungen treffen. Es werde gar weniger von Leidenschaften geleitet als ein Einzelherrscher.47 Dass diejenigen Gemeinwesen, in denen das Volk regierte, eine Blütezeit verzeichnen konnten, zeige sowohl die Geschichte Roms nach der Vertreibung der Könige als auch diejenige Athens nach der Befreiung von Peisistratos. Machiavelli kam deshalb zum Schluss: „Der Grund hierfür kann in nichts anderem liegen, als dass die Völker besser regieren als Alleinherrscher.“48 Worin lag für Machiavelli also der Grund für die vergleichsweise kürzere Dauer Athens, wenn nicht an der verführerischen und schlechten Natur des Volkes? Der Florentiner war hier deutlich: Der Grund der kürzeren Dauer des athenischen Staates ist nicht in der Natur des Volks, sondern in einer militärischen Fehlentscheidung zu suchen, nämlich in der Entscheidung zum Angriff auf Sizilien.49 Machiavelli führte hier also nicht die Eroberung Athens durch Makedonien als Grund an, sondern ein eigenes, übermütiges militärisches Unternehmen der Athener.50 Nikias habe, so Machiavelli, gegen seinen eigenen Vorteil vom Krieg abgeraten,51 leider hätten die Athener jedoch nicht auf Nicias hören wollen, weshalb sie ihre Freiheit verloren „sobald sie aber ihr Land

44 Machiavelli: Discorsi (wie Anm. 31), I, 58, S. 157. 45 Machiavelli: Discorsi (wie Anm. 31), I, 58, S. 157. 46 Machiavelli: Discorsi (wie Anm. 31), I, 58, S. 158. Im italienischen Original: „Conchiudo adunque contro alla commune opinione, la quale dice come i popoli, quando sono principi, sono varii, mutabili ed ingrati, affermando che in loro non sono altrimenti questi peccati che siano ne’ principi particulari. Ed accusando alcuno i popoli ed i principi insieme, potrebbe dire il vero; ma traendone i principi, s’inganna: perché un popolo che comandi e sia bene ordinato, sarà stabile, prudente e grato non altrimenti che un principe, o meglio che un principe, eziandio stimato savio; e dall’altra parte un principe sciolto dalle leggi sarà ingrato, vario ed imprudente più che un popolo. E che la variazone del procedere loro nasce non dalla natura diversa, perché in tutti è a un modo e, se vi è vantaggio di bene, è nel popolo, ma dallo avere più o meno rispetto alle leggi dentro alle quali l’uno et l’altro vive.“ Siehe Machiavelli, Niccolò: Opere I (Biblioteca della Pléiade). Turino 1997, S. 317f. 47 Machiavelli: Discorsi (wie Anm. 31), I, 58, S. 159. 48 Machiavelli: Discorsi (wie Anm. 31), I, 58, S. 159f. 49 Machiavelli: Discorsi (wie Anm. 31), I, 53, S. 144f. 50 Machiavelli: Discorsi (wie Anm. 31), III, 16, S. 347. 51 Machiavelli: Discorsi (wie Anm. 31), III, 16, S. 347.



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verließen und mit dem Heer nach Sizilien übersetzten“.52 In seinem 53. Kapitel des 1. Buches erklärte Machiavelli ebenfalls, dass ein „Volk, getäuscht durch den falschen Schein des Guten“ oft sein Verderben begehre und leicht durch falsche Versprechungen verführt werde.53 Dies könne in „unendliche Gefahren und Nachteile“ für einen Freistaat führen, wenn ihm nicht von „einem Mann, in den es Vertrauen setzt, begreiflich gemacht, was verderblich und was nützlich ist“, und der klar darstelle, welche Unannehmlichkeiten und Nachteile eine falsche Entscheidung hervorrufe.54 Als Ursache der kürzeren Dauer Athens machte der Florentiner also eine militärische Fehlentscheidung aus, die das Volk gegen den Willen seiner Führungspersönlichkeiten getroffen hatte. Wie passte das zu seinen vorherigen Ausführungen zur Natur des Volkes? Eine andere Gegenüberstellung Roms und Athens kann diesen offensichtlichen Widerspruch erklären. Im 28. Kapitel des ersten Buches erörterte Machiavelli die Frage, „aus welchem Grund Rom gegen seine Bürger weniger undankbar war als Athen“.55 Um diese Frage zu beantworten, verwies Machiavelli auf die unterschiedlichen historischen Entwicklungen der beiden Gemeinwesen. Diese zeige, dass „die Römer weniger Ursache hatten, ihre Bürger zu verdächtigen, als die Athener“, denn „Rom wurde von der Vertreibung der Könige bis Sulla und Marius nie von einem seiner Bürger der Freiheit beraubt; es hatte daher keinen besonderen Grund, Misstrauen gegen sie zu hegen und sie infolgedessen unbedacht zu verletzen“.56 Das Gegenteil sei jedoch in Athen der Fall gewesen, wo man in der höchsten Blüte von Peisistratos „unter dem Deckmantel guter Absichten“ der Freiheit beraubt worden sei. Die Athener hätten sich dann, nachdem sie ihre Freiheit zurückeroberten, immer daran erinnert und deshalb ein großes Misstrauen gegen ihre führenden Männer entwickelt. „Darauf ist die Verbannung und der Tod so vieler ausgezeichneter Männer zurückzuführen. Daher kommt das Scherbengericht und viele andere Gewalttaten, die sich diese Stadt zu verschiedenen Zeiten gegen ihre hervorragenden Bürger zuschulden kommen ließen.“57

52 Machiavelli: Discorsi (wie Anm. 31), II, 12, S. 206. 53 Die Beobachtung Cambianos, Machiavelli könne aufgrund der positiven Beurteilung des Volkes und seiner Betonung der Weisheit und Konstanz des Volkes schwerlich das athenische Volk für den Niedergang des Gemeinwesens verantwortlich machen, trifft die Sache nicht ganz, da Machiavelli, wie oben beschrieben, eben auch die Verführbarkeit des Volkes darstellte. Vgl. Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 96. 54 Machiavelli: Discorsi (wie Anm. 31), I, 53, S. 142. 55 Machiavelli: Discorsi (wie Anm. 31), I, 28, S. 84f. 56 Machiavelli: Discorsi (wie Anm. 31), I, 28, S. 84. 57 Machiavelli: Discorsi (wie Anm. 31), I, 29, S. 84. Siehe auch zum gesamten Abschnitt Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 96ff.

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Für den Florentiner war der bereits von antiken Denkern viel kritisierte athenische Brauch des Ostrazismus folglich kein Zeichen der grundsätzlich schlechten und korrumpierten Natur des Volkes, noch folgte für ihn daraus, dass eine Volksherrschaft grundsätzlich in eine Tyrannei münden müsse. Es lag für Machiavelli also nicht an der Schlechtigkeit oder Flatterhaftigkeit des demos, dass Athen sich selbst in die Unfreiheit geführt hatte, sondern am Verlauf der partikularen athenischen Geschichte. Dies sei bei der Beurteilung Roms und Athens zu bedenken, – und hier plädierte Machiavelli für eine genaue Kontextualisierung – Athen sei nicht einfach zu tadeln, noch Rom zu loben, sondern man müsse, „für die Verschiedenheit der politischen Ereignisse in beiden Staaten allein die Zwangsläufigkeit der Verhältnisse verantwortlich machen. Denn wer die Dinge sorgfältig prüft, wird einsehen, dass Rom auch nicht gerechter gegen seine Bürger gewesen wäre als Athen, wenn es geradeso wie Athen seiner Freiheit beraubt worden wäre.“58 Man müsse sogar davon ausgehen, dass die römischen Bürger genauso gehandelt hätten.59 Dass sich das athenische Volk jedoch zu diesen Fehlentscheidungen hatte hinreißen lassen und dass es überhaupt zum Freiheitsverlust durch Peisistratos hatte kommen können, hatte für Machiavelli dennoch eine strukturell-institutionelle Ursache: In Athen fehlte nämlich eine Mischverfassung, „So war Athens Macht im Vergleich zu der Spartas nur von sehr kurzer Dauer, weil es die Herrschaft des Volkes nicht mit der Macht eines Fürsten und mit der des Adels verbunden hatte.“60 Machiavelli kritisierte hier also nicht die Beteiligung des Volkes an der Regierung, sondern den fehlenden gemischten Charakter der athenischen Verfassung. Athen hatte demnach für den Staatserhalt notwendige aristokratische und monarchische Elemente entbehrt, denn die gemischte Verfassung war für den Florentiner, ebenso wie für Polybios, die einzige Möglichkeit, aus dem

58 Machiavelli: Discorsi (wie Anm. 31), I, 28, S. 85. 59 Machiavelli: Discorsi (wie Anm. 31), I, 29, S. 85. 60 Machiavelli: Discorsi (wie Anm. 31), I, 2, S. 14 f; Im italienischen Original: „Intra quelli che hanno per simili constituzioni meritato più laude, è Licurgo; il quale ordinò in modo le sue leggi in Sparta, che, dando le parti sue ai re, agli ottimati e al popolo, fece uno stato che durò, più che ottocento anni, con somma laude sua e quiete di quella città. Al contrario intervenne a Solone, il quale ordinò le leggi in Atene; che, per ordinarvi solo lo stato popolare, lo fece di sí breve vita, che, avanti morisse, vi vide nata la tirannide di Pisistrato; e benché, dipoi anni quaranta, ne fussero gli eredi suoi cacciati, e ritornasse Atene in libertà, perché la riprese lo stato popolare, secondo gli ordini di Solone, non lo tenne più che cento anni, ancora che per mantenerlo facessi molte constituzioni, per le quali si reprimeva la insolenzia de’grandi e la licenza dell’universale, le quali non furono da Solone considerate: nientedimeno, perché la non le mescolò con la potenza del principato e con quella degli ottimati, visse Atene, a rispetto di Sparta, brevissimo tempo.“ Siehe Machiavelli: Opere I (wie Anm. 46), I, S. 206.



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zwangsläufigen Kreislauf der sich einander ablösenden Regierungsformen auszubrechen. Indem Machiavelli nun Sparta als erfolgreiches und Athen als Beispiel des Scheiterns anführte, schloss er sich der Meinung an, die Mischverfassung sei die dauerhafteste der Verfassungsformen. Auch Rom schnitt in Machiavellis Beurteilung besser ab als Athen: Während in Athen der ungemischte Charakter der Regierung verhindert habe, dass die besten Bürger sich ganz dem Allgemeinwohl hingeben konnten, sei dies in Rom genau umgekehrt gewesen. Die gegensätzlichen Interessen von Volk und Adel förderten hier, so schlussfolgerte der Florentiner, den gemischten Charakter der Verfassung und trugen somit explizit dazu bei, dass sich die besten Bürger dem Gemeinwohl widmeten.61 Athen konnte im Gegensatz zu Sparta und Rom aufgrund seiner kürzeren Überlebensdauer, die durch das Fehlen einer Mischverfassung bedingt war, nicht als Modell zeitgenössischer Politik dienen. Obwohl der französische Theoretiker Jean Bodin (1529 oder 1530–1596) Athen als Politikmodell ebenfalls ablehnte, war bei ihm die Auseinandersetzung mit dem antiken Stadtstaat ganz anders gelagert. Denn Bodin, der circa 60 Jahre nach den Discorsi sein Hauptwerk Les six livres de la republique62 verfasste und schließlich im Jahre 1576 veröffentlichte, teilte die Ansicht des Florentiners bezüglich der Mischverfassung nicht. In seinen Six livres systematisierte der Politique63 die Kategorie der Souveränität und definierte sie nun nicht mehr als Rechtsspre-

61 Machiavelli: Discorsi (wie Anm. 31), I, 2, S. 106. 62 Bodin, Jean: Les six livres de la republique. 6 Bde. Hrsg. von Christine Frémont. Paris 1986 (Corpus des œuvres de philosophie en langue française). Zur Person Bodins, seinen Six livres sowie dem historischen Kontext, siehe auch: Denzer, Horst (Hrsg.): Verhandlungen der internationalen Bodin Tagung in München 1973 (Münchner Studien 18); Goyard-Fabre, Simone: Jean Bodin et le droit de la République. Paris 1989; Hinrichs, Ernst: Das Fürstenbild Jean Bodins und die Krise der französischen Renaissancemonarchie. In: Ancien Régime und Revolution. Studien zur Verfassungsgeschichte Frankreichs zwischen 1589 und 1789. Hrsg. von Ernst Hinrichs. Frankfurt am Main 1989. S. 9–62; Mayer-Tasch, Peter Cornelius: Jean Bodin. Eine Einführung in sein Leben, sein Werk und seine Wirkung. Düsseldorf/Bonn 2000; sowie Couzinet, Maria-Dominique: Jean Bodin. Paris 2001; Franklin, Julian H. (Hrsg.): Jean Bodin. Aldershot [u.a.] 2006. 63 Politique ist zwar eine Personenzuschreibung, wird im 16. Jahrhundert aber auch als Gesinnung verstanden, die die Zweckbestimmung des Staates so weit gefasst begreift, dass sie mit jeder Religion oder Konfession kompatibel sein konnte. Der Begriff verblieb dabei in der aristotelischen Tradition, denn das Politikverständnis, dass der Staat den Menschen zur tugendhaften Glückseligkeit führen solle, blieb der Vorstellung der Politiques immanent. Siehe dazu Papenheim, Martin: „En ce monde chacun a sa politique“: Aspekte einer Begriffsgeschichte von politique in Frankreich vom 16.–19. Jahrhundert. In: „Politik“. Situationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit. Hrsg. von Willibald Steinmetz. Frankfurt am Main/New York 2007 (Historische Politikforschung 14). S. 162–206, hier S. 166f.

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chung und Rechtsausübung, sondern Hauptkriterium der Souveränität war für ihn nun die Gesetzgebung.64 Ein Gemeinwesen konnte abhängig von der gesetzgebenden Institution deshalb entweder eine Demokratie, eine Aristokratie oder eine Monarchie, niemals aber ein Mischtyp dieser drei Verfassungsarten sein.65 Mit dieser Neudefinition und Systematisierung politischer Souveränität war das seit der Antike rezipierte Konzept der Mischverfassung, das es laut Bodin seit Platon und Aristoteles gegeben habe und das von Polybios, Denis d’Alicarnas, Cicero, Thomas More, Gasparo Contarini und Machiavelli aufgenommen worden sei, für den Franzosen hinfällig:66 Bodin unterschied vielmehr zwischen Staatsform („estat“) und Regierungsweise („gouvernement“) eines Gemeinwesens. Dies habe Aristoteles versäumt, was diesen schließlich zu der fälschlichen Annahme einer historisch existierenden Mischverfassung geführt habe.67 Für Bodin war die Kategorie der Mischverfassung lediglich ein rhetorischer Kniff, der die historische und verfassungsrechtliche Realität in keiner Weise widerspiegele. So etwas wie eine Mischverfassung hatte es nach Bodin in der Geschichte niemals gegeben und konnte es auch nicht geben.68 Tatsächlich liege meistens eine Demokratie vor.69 Der Grund dafür, dass eine Mischverfassung historisch wie theoretisch unmöglich, ja

64 Siehe dazu Maissen, Thomas: Die Geburt der Republic. Staatsverständnis und Repräsentation in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft. Göttingen 2006 (Historische Semantik 4). S. 47–60, v.a. S. 49ff. 65 „…car tousjours la souveraineté indivisible et incommunicable est à un seul, ou à la moindre partie de tous, ou à la pluspart: qui sont les trois sortes de Republique que nous avons posees.“ Siehe Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), II, 7, S. 122. 66 Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), II, 1, S. 9 67 „Toutes les absurditez susdites resultent de ce qu’Aristote a pris la forme de gouverner pour l’estat d’une Republique. Or nous avons dit ci dessus, en passant, que l’estat peut estre en pure monarchie royale, et le gouvernement sera populaire…“ Siehe Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), II, 7, S. 120f. Nach Maissen lehnte Bodin bereits in seiner Methodus [Bodin, Jean: Methodus ad facilem historiarum cognitionem. Lutetia 1566.] die gemischte Verfassung ab, nicht aber eine gemäßigte Verfassungsform. Der Souverän sollte hier selbst auch an die Gesetze gebunden sein, die er erlassen hatte. In seinen Six livres ging Bodin jedoch aufgrund der verschärften innenpolitischen Lage und den Erlebnissen der Bartholomäusnacht über seine ursprüngliche Konzeption hinaus: Hier war der Souverän nun absolut, also nicht an seine eigene Gesetzgebung gebunden. Vgl. Maissen: Die Geburt der Republic (wie Anm. 64), S. 48f. Siehe auch Couzinet, Marie-Dominique: Histoire et méthode à la renaissance. Une lecture de la Methodus ad facilem historiarum cognitionem de Jean Bodin. Paris 1996. 68 Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 163. 69 Siehe Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 162. Bodin bezeichnete dagegen Venedig eindeutig als reine Aristokratie, siehe Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), II, 1, S. 11 und 19f sowie IV, 1, S. 52f; Siehe auch sowie Maissen: Die Geburt der Republic (wie Anm. 64), S. 52.



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nicht einmal denkbar sei, liege an der Unteilbarkeit der Souveränität.70 In seinen weiteren Ausführungen machte Bodin deutlich, dass aufgrund seiner Ablehnung des Mischverfassungsmodells Sparta, Rom und Venedig, die als nachahmenswerte Positivbeispiele hierfür angesehen wurden, für ihn keinen Modellcharakter haben konnten.71 Denn der gewünschte Staatserhalt sowie Frieden im Innern könne am besten von einem Monarchen garantiert werden, „puisque la conservation des Royaumes et Empires, et de tous peuples depend apres Dieu, des bons Princes et sages Gouverneurs“.72 Bodin unterstrich hier, dass seine Six livres zum Zwecke des Staatserhalts geschrieben worden seien und zur Befriedung der politischen Lage im Innern dienen sollten. Um diese Ziele zu erreichen, sei es notwendig, dass jeder Einzelne die Herrschaft des (französischen) Königs unterstütze.73 Denn die Eindrücke der französischen Religionskriege, die Frankreich bereits seit 14 Jahren heimsuchten sowie die Erinnerung an das Massaker der Bartholomäusnacht von 1572, die die Krise des französischen Königtums noch verschärft hatte, prägten und erschütterten die politische Ordnung des Landes und hatten beim Theoretiker die Sorge um das Wohl des französischen Staates ausgelöst. Im Gegensatz zu Aristoteles, dem Bodin vorwarf, dass dessen Begriffe weder universell noch empirisch anwendbar seien, wollte der Politique seine politischen Kategorien zum einen auf moralisch-christliche Werte gründen sowie andererseits aus seinen historischen Beobachtungen heraus konzipieren. Bodin machte klar, dass für ihn eine „monarchie royale“, in der der Herrscher die Gesetze Gottes und der Natur beachte, das ideale Staatskonzept sei.74 Nur ein (einzelner) Herrscher könne als „image de Dieu“,75 die von Gott vorhergesehe Ordnung schaffen und erhalten. Dagegen folge eine Demokratie dieser von Gott instituierten Hierarchie nicht und berge somit Konfliktpotenzial bei der Souveränitätsausübung. 70 Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), II, 1, S. 26; Maissen: Die Geburt der Republic (wie Anm. 64), S. 52. 71 Siehe Maissen: Die Geburt der Republic (wie Anm. 64), S. 52; Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), II, 1, S. 9f. 72 Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), I, préface, S. 9. 73 Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), I, préface, S. 9. Zur Erläuterung von Bodins Urteil über die Vorteile der Monarchie siehe auch Maissen: Die Geburt der Republic (wie Anm. 64), S. 53. 74 Für die Erläuterungen zur „monarchie royale“, siehe Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), II, 3, S.43-53, bezüglich des „estat populaire“, siehe II, 7, S. 113–124. Im berühmten achten Kapitel des ersten Buches, in dem er das Herzstück seiner Theorie, die Souveränität, erläuterte, verwies Bodin auch auf Probleme, die die Souveränitätsausübung in einer Demokratie aufwerfe. Siehe Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), I, 8, S. 205. 75 „… pourvu qu’il [le prince souverain – Anm. d. Verf.] ne face rien contre la loy de Dieu. Car si la justice est la fin de la loy, la loy œuvre du Prince, le Prince est image de Dieu, il faut par mesme suite de raison que la loy du Prince soit faicte au modelle de la loy de Dieu“, Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), I, 8, S. 228.

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Auseinandersetzungen im Innern waren gemäß Bodin zwar für alle Gemeinwesen desaströs. Dennoch hätten diese in einer Demokratie noch drastischere Auswirkungen als in einer Monarchie oder Aristokratie, denn hier werde der Träger der Souveränität in sich selbst gespalten, womit die Souveränität geteilt würde. Da letztere aber per definitionem nicht teilbar sei, löse diese sich in einer Demokratie im Falle innerer Konflikte auf.76 Für die Analyse der Demokratie zog der Politique Athen als Beispiel heran, anhand dessen er die politische Beteiligung des Volkes, die Begriffe des „citoyen“, der „republique“ sowie der „cité“ erarbeitete. Für seine Analyse bediente sich der Franzose der Schriften Plutarchs, Thukydides’ und des Textes Die Verfassung der Athener,77 den er wie die meisten seiner Zeitgenossen Xenophon zuschrieb. Thukydides’ Werk war Bodin durch die postum herausgegebene Übersetzung Claude de Seyssels (1450–1520) aus dem Jahre 1527 zugänglich. Bereits in seiner Methodus hatte Bodin Thukydides, den für ihn modellhaften Historiker, für seine Akribie sowie für die Genauigkeit seiner Informationen gelobt. Als Athener, der selbst bürgerliche wie militärische Aufgaben übernommen und sogar am Krieg gegen Sparta teilgenommen hatte, hatte dieser beobachtend von den Ereignissen berichtet.78 Bodin nutze Thukydides’ Beschreibung des archaischen Griechenlands vor allem dazu, zu zeigen, dass die Antike kein goldenes Zeitalter war. Ferner bestätigte Thukydides Bodins Annahme, dass Athen eine Volksherrschaft, Sparta dagegen eine Aristokratie war.79 Neben Thukydides waren auch Plutarchs Große Griechen und Römer in der Übersetzung Jacques Amyots (1513–1593) aus dem Jahre 1558 eine der Hauptquellen des Theoretikers.80 Bodin nutzte Plutarchs Ausführungen jedoch nicht etwa dazu, um von den großen Taten einzelner Männer zu lernen, sondern um die institutionelle Physiognomie Athens und Spartas nachzuzeichnen. Dazu waren ihm aber auch Pausanias, Athenaios’ und Demosthenes, der Dank der Übersetzung

76 Siehe Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), IV, 7, v.a. S. 198f. Siehe auch Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 182. 77 Xenophon: Die Verfassung der Athener. Hrsg. von Gregor Weber. Darmstadt 2010. 78 Thukydides war für Bodin ein Ausnahme in der Profession der Historiker, da er als Zeitgenosse Bericht erstattete. Eigentlich vertrat Bodin die Ansicht, dass diejenigen Historiker am glaubwürdigsten seien, die lange Zeit nach den eigentlichen Ereignissen schrieben. Vgl. Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 170. 79 Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 169f. 80 Plutarch: Große Griechen und Römer. Hrsg. von Konrat Ziegler. 6 Bde. Zürich 1954–1965 (Übersetzung mit knappen Erläuterungen; zahlreiche Nachdrucke). Siehe auch Plutarch: Les Vies des hommes illustres. Traduction de Jacques Amyot. Bearb. von Gérard Walter. 2 Bde. Paris 1951.



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Louis Le Roys (vermutlich 1510–1577) nun ebenfalls bekannt war, unentbehrlich.81 Bodin zog für seine Analyse Athens aber nicht nur Schriften antiker Autoren heran, sondern auch Werke zeitgenössische Schreiber. Den Impuls, die griechischen Magistraturen zu studieren, hatte Guillaume Budé (1468–1540) gegeben, ein Mann von großer Gelehrsamkeit, der auch Botschafter Franz’ I. war.82 In seinem De asse et partibus ejus libri quinque83 aus dem Jahre 1514 widmete sich Budé den Materialitäten der Antike und erforschte das lateinische und griechische Geldund Finanzwesen sowie die Institutionen und Magistraturen Griechenlands und insbesondere Athens. Sparta war in Budés De asse kaum präsent, während Athen nach Rom dasjenige Gemeinwesen war, das Budés Aufmerksamkeit auf sich zog. Das hieß jedoch im Umkehrschluss nicht, dass Budé eine Demokratie nach athenischem Modell präferierte, sondern dass ihm mehr Informationen über das athenische Finanzwesen überliefert waren.84 Dies bestätigte auch ein Schüler Budés, Guillaume Postel (1510–1581), der in seinem 1541 erschienenen Werk De magistratibus Atheniensium Liber85 die athenischen Magistraturen studierte. Postel war ein Kenner der orientalischen Sprachen und unterrichtete Griechisch, Hebräisch und Arabisch am Collège royal. Nach dem Vorbild Budés fertigte Postel ein Vergleich verschiedener Magistraturen und ihrer Wahlprozeduren an. Postel wollte einen exakten Vergleich der athenischen und französischen respublica liefern und die Organisations- und Verwaltungsformen einer Demokratie und einer Monarchie einander gegenüberstellen. Ein viel größeres Interesse hatte er allerdings an den politischen Institutionen des republikanischen Roms, Venedigs und des Osmanischen Reiches über die er 81 Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 171. 82 Siehe Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), II, 11, S. 41, siehe auch Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 166. 83 Budé, Guillaume: De asse et partibus eius/libri quibqb Guillielmi Bude. Lutetia 1514, siehe auch: Ders.: Extrait ou abrege du Livre de asse de feu monsieur Budé auquel les monnoyes, poix, & mesures anciennes sont reduites à celles de main tenant- Rev. de nouveau, cor. & additionné. Reueu de nouueau, corrigé, & additionné. Lyon 1554. Siehe zu Budés hellenistischen Studien: Sanchi, Luigi-Alberto: Les commentaires de la langue grecque de Guillaume Budé. L’œuvre, ses sources, sa préparation. Genève 2006. Sowie Gadopfre, Gilbert: La révolution culturelle dans la France des humanistes. Guillaume Budé et François Ier. Genève 1997, v.a. Kapitel 10. Ferner Rebitte, D.: Guillaume Budé. Restaurateur des études grecques en France. Essai historique. Reproduktion der Ausgabe 1846. Osnabrück 1969. 84 Siehe Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 166f. 85 Postel, Guillaume: De magistratibus Atheniensium Liber. Ad Gulielmum Poyetum totius Galliae Ca[n]cellarium. Gulielmo Postello Bare[n]tonio, Mathematum professore regio, authore. Lutetia 1541. Siehe auch Tredaniel, Guy (Hrsg.), Guillaume Postel. 1581–1981. Actes du Colloque International d’Avranches, 5–9 sept. 198. Paris 1985.

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schließlich ein vergleichendes Werk verfasste und es seinem König Franz I. und dessen Schwester Margarete widmete. Postel sah allerdings auch eine Parallele zwischen den politischen Institutionen in Athen und denjenigen in Venedig oder des Osmanischen Reiches, namentlich im Losverfahren und den juristischen Prozeduren des Areopags und des osmanischen Kadis. Für diese Vergleiche dienten ihm nicht nur Aristoteles, Polybios und Plutarch als Quellen, sondern auch die Schriften Demosthenes’ und Harpokrations.86 Ein anderer Autor, der sich mit dem antiken Griechenland beschäftigte und den Bodin studierte hatte, war der italienische Historiker Carlo Sigonio (1524–1584), ein Griechisch-Kenner aus Modena, der mit seinem Werk De republica Atheniensium libri IIII87 von 1564 eine minutiöse Studie der politischen und rechtlichen Institutionen Athens lieferte und sich nicht nur, wie Postel das zuvor getan hatte, auf die Magistraturen begrenzte. Sein De republica ist dabei chronikartig angeordnet und nach Olympiaden sortiert, dem Text eine Liste mit den wichtigsten Ereignissen vorangestellt. Sigonio präsentierte die athenische Volksversammlung („concio“) als die die athenische Demokratie definierende Institution und beschrieb mit viel Liebe zum Detail die Funktionen und Prärogativen derselben. Er unterschied in Athen außerdem zwei demokratische Republiken: die Solonische, die die Macht in die Hände der reichsten Bürger legte sowie die Republik Kleisthenes’, die von Aristides und Perikles konsolidiert wurde und die die Macht an alle freien Bürger – und damit auch an die weniger reichen Bürger – verteilte. Während Solon in Sigonios Lesart die Möglichkeit der Amtsausübung an das Vermögen band, wurde der Übergang zur zweiten demokratischen Republik aufgrund der ausgeweiteten Verteilung der öffentlichen Ämter vollzogen. Der Italiener machte dementsprechend den Gegensatz von arm und reich als die die athenische Geschichte prägende Konfliktachse aus. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, Macht und Reichtum und damit die Blütezeit Athens anzuerkennen. Letztere hatte für ihn von Solon bis Demetrios, und nicht wie bei Machiavelli, nur bis Perikles angedauert. Damit rechnete er Athen eine viel längere Lebensdauer und Blütezeit zu als dies der Florentiner getan hatte. Um dies zu belegen wollte Sigonio allerdings keine eigene Geschichte des antiken Athens schreiben, sondern die antiken Autoren in Form langer Quellenzitate selbst sprechen lassen.

86 Siehe Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 167f. 87 Sigonio, Carlo: De republica Atheniensium libri III. Eivsdem de Athenien. Lacedaemoniorumq[ue] temporibus liber propediem edetur. Venetia 1565. Siehe zu Sigonio auch McCuaig, William: Carlo Sigonio. The Changing World of the Late Renaissance. Princeton 1989.



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Diese Darstellungsweise machte sein Werk zu einer Fundgrube für politische Denker seiner Zeit.88 Diese Arbeiten prägten Bodins Wissen über Athen anhand dessen er nachwies, dass eine Demokratie – und hier widersprach er Aristoteles ganz explizit – nicht die politische Gleichheit zum Ziel habe.89 Bodin vertrat vielmehr die These, dass die Rechte und Prärogativen der Bürger in keinem existierenden Gemeinwesen jemals gleich verteilt gewesen waren, nicht einmal in Athen.90 Sowohl Aristoteles als auch Platon hätten die Bürger zwar als gleiche und gleichberechtigte definiert, dies entspreche jedoch keiner Verfassungsrealität historisch existierender Gemeinwesen. Deshalb sei Platons Republik eine Utopie und demokratischer als diejenige Athens, die jedoch die demokratischste Verfassung gewesen sei, die je wirklich existiert hatte: „la Republique de Platon est la plus populaire qui fut onque, voire plus que celle de son païs mesme d’Athenes, qu’on dit avoir esté la plus populaire du monde“.91 Dass alle Bürger gleich seien, sei damit als bloßes Wunschdenken der athenischen Philosophen zu werten. Bodins eigener Analyse

88 Vgl. Sigonio, Carlo: De republica (wie Anm. 87), v. a. S. 21–31. Siehe für diesen Absatz Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 168f 89 Aristoteles’ Politik hatte in Frankreich seit der Übersetzung von Nicolas d’Oresme (ca. 1330– 1382) und der Übersetzungen von Louis Le Roy, die 1568 unter dem Titel Les Politiques d’Aristote erschienen war, einen sehr großen Erfolg. [Aristoteles: Les Politiques d’Aristote, esquelles est monstrée la science de gouverner le genre humain en toutes espèces d’estats publics, traduictes de grec en françois …. Paris 1568.] Bodin wie Le Roy gingen davon aus, dass die Politik sich seit den Tagen der Alten sehr verändert habe, dass also auch die Werke Aristoteles’ und Platons’ für die Königsdisziplin der politischen Wissenschaften nicht ausreichend seien. Siehe Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), I, préface, S. 11. Auch wenn Aristoteles für Bodin eine Bandbreite an Informationen und historischen Details bereitstellte, so wurde er dennoch von Seiten des französischen Politiktheoretikers einer Generalkritik unterworfen. Bereits in seiner 1566 erschienen Methodus hatte Bodin die aristotelischen Kategorien des Bürgers, der Souveränität und der Magistraten usw. verworfen. Diese Kritik zeigte sich nun expliziter und systematisierter in seinen Six livres. Hier verwies Bodin auf Widersprüche und Ungenauigkeiten der aristotelischen Kategorie des Bürgers („citoyen“). Der Politique machte dabei deutlich, dass Aristoteles davon ausgegangen sei, dass es keinen Bürger gebe, der nicht über die Einsetzung der Magistrate sowie über die das Volk betreffende Fragen abstimmen könne. Später habe Aristoteles jedoch eingestanden, dass diese Definition nur für eine Demokratie gültig sei. Gleichzeitig habe er aber auch an anderer Stelle bezeugt, dass politische Kategorien universelle Gültigkeit beanspruchen müssten. In diesem Widerspruch sah Bodin Aristoteles’ größter Fehler. Siehe Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), I, 6, S. 123. Siehe auch Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 160f. 90 Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), I, 6, S. 123. Siehe auch Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 179. 91 Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), II, 1, S. 25.

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zufolge waren die Bürger eines Gemeinwesens nur in einer einzigen Sache gleich: in der Unterordnung und Verpflichtung gegenüber dem Souverän.92 Der Franzose untersuchte anschließend die von Solon instituierte athenische republique und stützte sich dabei auf Plutarchs Ausführungen. Die solonische Verfassung zeigte für ihn an, dass eine Demokratie sowohl mit einer ökonomischen und sozialen als auch mit einer politischen Ungleichheit einhergehen konnte. Um den Adel und das Volk („peuple“) miteinander zu verbinden, habe Solon zwar zugesagt, gleiche Gesetze für alle zu schaffen. Dieses Versprechen barg für Bodin jedoch eine unüberwindbare Schwierigkeit: Während der Adel Gleichheit als geometrische oder verhältnismäßige deutete, wollte das athenische Volk eine arithmetische Gleicheit, bei der alle Ämter, Rechte und Vorteile zahlenmäßig gleich verteilt werden sollten.93 Bodin stellte heraus, dass Solon die athenische Bevölkerung in vier Klassen eingeteilt und die Senatorenämter lediglich den ersten drei Klassen zugänglich gemacht hatte. Dagegen war die Teilhabe an der Versammlung, nach Bodin die souveräne Institution in Athen, sowie an der Wahl ihrer Vertreter allen Bürgern Athens möglich. Bodin beschäftigte sich in diesem Zusammenhang jedoch noch mit einer weiteren Institution der athenischen Demokratie: Der 400 Mitglieder umfassende Areopag war laut Bodin diejenige Institution, die die Moral der Bürger überwachte und die Gesetze interpretierte. Da der Zugang zu den Ämtern am Areopag jedoch nur den reichsten Bürgern Athens offenstand,94 sei die athenische Demokratie demnach aristokratisch regiert worden. Solon habe, so lautete die Analyse des Politique, mit seiner Verfassung vermeiden wollen, dass der arme Anteil der athenischen Bürgerschaft politische Ämter übernehmen konnte. Mit dieser Maßnahme habe Solon die Differenzen im Innern zu kontrollieren versucht.95 Seine Unterscheidung von Staats- und Regierungsform erlaubte es Bodin nun, weitere Aspekte der athenischen Geschichte zu untersuchen, wie bspw. die athenischen Regimetransformationen nach Solons Verfassungsentwurf. Bodin ging davon aus, dass es prinzipiell zwei Ursachen für die Wandlung eines demokratischen Gemeinwesens in eine Alleinherrschaft gab – entweder ein Bürgerkrieg, wie dies Rom für ihn bewies; oder die Unwissenheit des Volkes, das einem einzelnen Magistraten zu viel Macht gibt, wie dies für ihn an der athenischen 92 Bodin definierte den „citoyen“ folgendermaßen: „citoyen: qui n’est autre chose en propres termes, que le franc subject tenant de la souveraineté d’autruy.“ Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), I, 6, S. 112. Siehe auch Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 161. 93 Siehe Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), VI, 6, S. 258 und S. 296, sowie Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 180. 94 Bezüglich des begrenzten Zugangs zum Senat, siehe Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), III, 1, S. 11 und 15. Vgl. auch Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 180f. 95 Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 182f.



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Geschichte ablesbar war. Bodin befürchtete bezüglich des letzteren Falls, dass eine derartige Regimetransformationserfahrung einen tiefen Hass auf die Tyrannei heraufbeschwöre und die Furcht, wieder in diesen Zustand zurückzufallen, ein Volk schließlich so leidenschaftlich mache, dass es Gefahr laufe, von einem Extrem in dessen Gegenteil zu verfallen und damit politische Instabilität zu verursachen.96 In diesem politischen Klima seien den Athenern schließlich kurze Amtszeiten und Ämterrotationen als Garant gegen die Tyrannei eines Einzelherrschers erschienen. Diese Veränderungen rechnete Bodin also nicht den institutionellen Neuordnungen Kleisthenes zu, obwohl Sigonio die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt hatte, sondern der Furcht und Leidenschaftlichkeit des athenischen Volkes. Plutarch folgend machte er vor allem Aristides und Perikles für diese Veränderung verantwortlich. Aristides habe die solonischen Regelungen, die die vierte Klasse von der Ämterbesetzung ausgeschlossen hatte, außer Kraft gesetzt. Da die Magistraturen nun nicht mehr durch Wahl, sondern durch das Los bestimmt wurden, habe sich deren Zahl hierdurch erhöht. Dies habe dazu geführt, dass nicht die besten, sondern die schlechtesten Männer die Macht für sich in Anspruch nahmen. Perikles und Ephialtes waren in Bodins Analyse damit für den Machtverlust des Areopags – für ihn die letzte Bastion einer Regierung der Besten – sowie für die Bezahlung der politischen Amtsinhaber in der Volksversammlung zur Verantwortung zu ziehen. Für den Franzosen hatte sich Athen von einer aristokratisch regierten Demokratie zu einer Demokratie mit demokratischer Regierungsweise entwickelt.97 Trotz seines Argwohns gegenüber diesem Transformationsprozess rechnete Bodin Perikles das Verdienst zu, das athenische Gemeinwesen weiter erhalten zu haben. In diesem Zusammenhang datierte Bodin die Blütezeit Athens auf die Zeit nach dem Sieg über die Perser, als Athen Griechenland in einer Allianz und unter seiner Hegemonie vereinte. Dies habe Athen erlaubt, seine maritimen Kräfte und damit die Grundlagen des athenischen Imperialismus’ zu verstärken. Perikles habe in dieser Zeit erreicht, mit Hilfe öffentlicher Gelder die Stadt Athen prachtvoll umzugestalten und, indem er das Volk mit Festen und Spielen bei Laune hielt, den eigenen Rechtsvorstellungen Gesetzeskraft zu verleihen.98 Um das verführbare athenische Volk zur Vernunft zu führen und es auf rechten Wegen zu leiten, habe Perikles das athenische Volk zum seinem eigenen Vorteil belügen

96 Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), IV, 1, S. 36. Siehe auch Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 183. 97 Siehe Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 183f. 98 Vgl. Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 185.

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müssen.99 Nach dem Tod des Anführers sei Athen schließlich auch Opfer der sich widerstreitenden Meinungen des Volkes geworden und somit in eine Tyrannei verfallen und habe in weniger als hundert Jahren sechs Mal die Staatsform gewechselt. Dies sei nur von den Florentinern übertroffen worden.100 Eine Demokratie aber brauche, und das machte der Franzose am athenischen Beispiel und anhand Perikles’ deutlich, einen starken Mann und Anführer, der das Volk bei Laune halte und Zwietracht zwischen den Bürgern zu vermeiden wisse.101 Bodin, der die Monarchie als beste Staatsform erachtete, konnte Perikles deshalb ein positives Urteil zuteil werden lassen, weil Perikles für ihn wie ein König in einer Demokratie regiert hatte.102 Bodin beendete seine Analyse der athenischen Geschichte jedoch nicht mit Perikles, sondern ging in seiner historischen Betrachtung zeitlich weiter: Wie Budé beobachtete der Politique ebenfalls das Athen des vierten Jahrhunderts und stellte für diese Periode der athenischen Geschichte nun die Rolle der Oratoren heraus. „J’enten [sic.] ceux-là qui avoyent puissance és Republique populaires et Aristocratique de suader ou dissuader au peuple les choses qui leur sembloyent utiles, qu’ils appelloyent aussi Rhetoras. Combien qu’en Athenes, chacun particulier avoit puissance de parler.“103 Die Entscheidung über Krieg und Frieden sowie diejenige über Recht und Gesetz waren in Athen gemäß dem Urteil Bodins fast ausschließlich von guten Rednern und ihren rhetorischen Künsten abhängig, die mit der Macht schöner Worte die Masse der Athener zu überzeugen wussten. Weil es in einer demokratisch regierten Demokratie das Volk sei, das die Regierungsentscheidungen treffe, also politisches Regime und Regierungsart zusammen fielen, seien es in dieser republique immer Einzelpersonen oder Minderheiten, die die Entscheidung der Masse beinflussen konnten.104 Dass es in einer Demokratie akzeptiert sei die Besten aus der Regierung auzuschließen, „les plus meschans“ aber nicht angemessen bestraft würden, 99 „car en ce cas Platon et Xenophon permettoyent aux Magistrats et gouverneurs de mentir, comme on fait envers les enfans et malades. Ainsi faisoit le sage Pericle envers les Atheniens, pour les acheminer a la raison: il les apastoit de festins, de jeux, de comedies, de chansons et danses: et au temps de cherté faisoit ordonner quelque distribution de deniers, ou de blé. Et par ces moyens apres avoir pris ceste beste à plusieurs testes, tantost par les yeux, tantost par les aureilles, tantost par la pance, il faisoit publier les edicts et ordonnances salutaires, et leur faisoit les sages remonstrances, que le peuple mutiné ou affamé n’escouteroit jamais.“ Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), IV, 7, S. 150. 100 Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), IV, 1, S. 37. Siehe auch Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 184ff. 101 Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), IV, 7, S. 200. 102 Vgl. Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 186. 103 Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), III, 3, S. 73f. 104 Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), III, 3, S. 73f.



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bezeugte für Bodin der athenische Brauch des Ostrazismus.105 Letzterer bewies für ihn, dass es in einer Demokratie weder Gerechtigkeit noch maiestas gebe. In einer Volksherrschaft seien gerade die boshaftesten Bürger an der Macht, die Tugendhaften würden dagegen von der politischen Führung ausgeschlossen. Unter keiner anderen Verfassung sorge man deshalb schlechter für den „bien public“ als in einer Demokratie.106 Das historische Beispiel Athen liefere damit die „raisons contraires à l’estat populaire“, wie Bodin ein Unterkapitel des sechsten Buches überschrieb.107 Nach Meinung des Franzosen hatte sich Machiavelli also getäuscht, denn das Volk könne nicht als Bewahrer der Freiheit angesehen werden; vielmehr führe eine Demokratie, die noch dazu demokratisch regiert werde, in eine Tyrannei begabter Redner, die das Volk für ihre eigenen Interessen instrumentalisierten. Und wenn Athen dies beweise, gelte dies auch für alle anderen Volksherrschaften.108 In diesem Zusammenhang führte der Politique ein weiteres Argument gegen die Demokratie ins Feld, namentlich den Hang eines Volkes sich aufgrund von Eigentumsfragen zu fraktionieren. Dies sei in antiken Republiken, für die Bodin auf einen freien Mann 30–40 Sklaven rechnete, besonders problematisch gewesen.109 Gemäß einer Volkszählung, die ihm durch Athenaios überliefert war, gab es zu Zeiten Perikles’, die Zeit von Athens Blüte also, in Athen 20.000 Bürger, 10.000 Metöken und 400.000 Sklaven.110 Dies sei auch der Grund, warum es in der Antike mehrfach zu Auseinandersetzungen zwischen Herren und Sklaven gekommen sei, weil letztere alles daran gesetzt hätten sich freizukaufen. Nachdem diese ihr Ziel erreicht hatten, waren sie ökonomisch jedoch so benachteiligt, dass sich diese armen Bürger nun gegen die reichen auflehnten.111 Die 105 Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), VI, 4, S. 155. Siehe auch Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 186f. 106 Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), VI, 4, S. 147f. 107 Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), VI, 4, S. 148. 108 „Mais veut-on meilleur jugement, ou tesmoignage plus digne que celuy de Xenophon? Je ne puis, dit-il, approuver l’Estat des Atheniens, par ce qu’ils ont suyvi la forme de Republique, en laquelle tousjours les plus meschans ont du meilleur, et les hommes d’honneurs et de vertu sont foulez aux pieds. Si Xenophon, qui a esté l’un des plus grands capitaines de son aage, et qui lors emporta le prix d’honneur d’avoir heureusement conjoint le maniement des affaires avec les armes et la philosophie, a faict un tel jugement de sa Republique, qui estoit la plus populaire, et entre les populaires la plus estimee, et la mieux etablie, ou pour mieux dire la moins vicieuse, comme dit Plutarque, quel jugement eust-il faicst des autres Democraties et Ochlocraties?“ Siehe Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), VI, 4, S. 148. 109 Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), V, 2, S. 59. Siehe auch Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 188 f. 110 Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), I, 5, S. 96. 111 Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), V, 2, S. 59f.

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Konfliktachse bestand für Bodin also nicht im Gegensatz zwischen Freiheit und Sklaverei, sondern zwischen Armut und Reichtum.112 Hier zeigte sich für Bodin ein gewaltiger Unterschied zwischen antiker und eigener Zeit: Bereits in seiner Methodus hatte Bodin bestätigt, dass diejenigen, die sich mit der Verwaltung eines Gemeinwesens beschäftigten bei der Lektüre der Schriften antiker Theoretiker beachten sollten, dass manche Gesichtspunkte von den Alten in ihrer politischen Philosophie noch nicht gesehen werden konnten – wie beispielweise das Aufkommen neuer Religionen, das Feudalrecht oder auch das Verschwinden der Sklaverei.113 Der Politique bemerkte darüber hinaus, dass es in Frankreich – ganz im Gegensatz zum Königreich Spanien, das in seinen Kolonien Sklaven erlaube114 – schon seit mehr als 400 Jahren keine Sklaven mehr gebe und sogar die Sklaven von Fremden, sobald sie französischen Boden betraten, frei seien.115 Anhand der Sklavenfrage zeigte Bodin, dass antike Gemeinwesen keine Modelle für zeitgenössische Staaten darstellten und erinnerte daran, dass die französischen Monarchie sowie die französische Rechte diesen überlegen seien. Bodin, der ähnlich wie Machiavelli die Geschichte beobachtete, um von ihr zu lernen und aus der historischen Beobachtung heraus politische Kategorien zu erstellen, studierte antike Geschichte nicht zum Zwecke der Imitatio. Vielmehr sollte sich jedermann an die seit jeher existierende und von Gott eingesetzte natürliche hierarchische Ordnung halten.116 Bodin versuchte anhand des athenischen Beispiels folglich zu zeigen, dass demokratische Bestrebungen ins Durcheinander und Verderben führen müssten. Ideales Staatsgebilde war für ihn keines der antiken Gemeinwesen – weder Athen, Sparta noch Rom117– sondern allein die französische Monarchie, die „pure monarchie royale“118, die er unter 112 Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), V, 2, S. 60. Siehe auch auch Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 191ff. 113 Vgl. Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 195. 114 Bodin spielte hier auf die spanische Praxis an: Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), I, 5, S. 96, 106f. 115 Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), I, 5, S. 101, 103f. 116 Siehe zum Gebrauch der Begriffe des Naturrechts („loi naturelle“) und des göttlichen Rechts („loi divine“) in den Six livres insbesondere Chanteur, Janine: L’idée de loi naturelle dans la République de Jean Bodin. In: Verhandlungen der internationalen Bodin Tagung in München. Hrsg. von Horst Denzer. München 1993 (Münchener Studien zur Politik18). S. 195–212. Bezüglich Bodins Ordnungskonzept siehe King, Preston: The Ideology of Order. A Comparative Analysis of Jean Bodin and Thomas Hobbes. London 1974, S. 47–94. 117 Bodin verwarf nicht nur Rom als politisches Modell, sondern stellte sich auch gegen die Dominanz des römischen Rechtssystems. Siehe Maissen: Die Geburt der Republic (wie Anm. 64), S. 50f. 118 Siehe Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), II, 1, S. 21f.



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seinem Idealherrscher Franz I. verwirklicht sah.119 Mit diesen Erläuterungen versuchte Bodin sich gegen jegliche monarchomachischen und damit die französische Monarchie reformierenden Schriften, die sich auf antike Modelle stützen könnten, zu widerlegen.120 Bodin zog die Antike der eigenen Zeit also nicht vor, sondern betonte die traditionell französischen, Gott wohlgefälligen Ordnungsvorstellungen, die er nur in dieser Monarchie verwirklicht sah. Der Theoretiker ging ferner davon aus, dass das, was nicht dem Naturrecht entsprach, von der Geschichte gereinigt und sich deshalb verlieren würde – wie schließlich auch die Sklaverei und die Demokratie in Europa fast nicht mehr zu finden seien. Dies war für Bodin als Fortschritt anzusehen. Deshalb brauchte man auch keine Rückkehr zu den demokratischen Verhältnissen Athens. Die Geschichte zeigte ihm, dass das zeitgenössische monarchische Modell das erfolgreichere war. Bodin interpretierte die Stadt in Attika, ähnlich wie Machiavelli zuvor, also in seinem politischen Gefüge. Athen, das für ihn die demokratischste Demokratie aller Zeiten war, diente ihm als empirische Grundlage für seine (überzeitlichen) theoretisch-analytischen Ausführungen in Bezug auf demokratische Verfassungen. Anhand des athenischen Beispiels machte er deutlich, dass in einer Demokratie die schlechtesten und nicht die besten Männer herrschten. Für ihn war damit, anders als für den Florentiner, die Natur des Volkes Ursache des politischen Scheiterns der Athener. Ferner kamen beim Franzosen innerhalb der Athenrezeption neue Themenfelder hinzu: Bodin beschäftigte sich mit den athenischen Eigentumsverhältnissen und mit der in Athen praktizierten Sklaverei, die für ihn Zeichen einer überkommenen Ordnung war. Im Anschluss an Bodin setzten sich politische Denker auch in den gerade entstehenden Vereinigten Provinzen der Niederlande mit Athen auseinander. Hier wurde das Gemeinwesen der Athener neben denjenigen der antiken Bataver, der Römer und der Spartaner diskutiert. Eine wichtige Rolle bei der Auseinander-

119 Bodin: Les six livres (wie Anm. 62), II, 4, S. 66. 120 Nach Thomas Maissen stellen die Six livres einen Bruch mit jeglichen kontraktualistischen Theorien dar. Damit wandte sich Bodin insbesondere gegen monarchomachische Schriften. Denn insbesondere in der Vindiciae contra tyrannos von Hubert Languet (1518–1581) [Languet, Hubert: Vindiciae, contra tyrannos: siue, de principis in populum, populíque in principem, legitima potestate, Stephano Iunio Bruto Celta, auctore. Hrsg. von Philippe de Mornay. Edimburgum 1579.] sollte der Herrscher durch einen doppelten Vertragsschluss mit Gott und dem Volk in seine Schranken gewiesen werden. Ein Herrscher sollte demnach nicht absolut, sondern im Gegenteil nur Amtsträger sein. Siehe Maissen: Die Geburt der Republic (wie Anm. 64), S. 56. Zum Thema Bodin und die Verteidigung der französischen Monarchie gegenüber den Monarchomachen, siehe auch Salmon, John H. M.: Bodin and the Monarchomachs. In: Renaissance and Revolt. Essays in the Intellectual and Social History of Early Modern France. Hrsg. von dems. Cambridge 1997. S. 199–235.

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setzung mit antiken Gemeinwesen spielte hier etwa der Theologe und Jurist Hugo Grotius (1583–1645): In seinem Hauptwerk De iure belli ac pacis121 aus dem Jahre 1625 nutzte er die antike Geschichte, um seine politischen Prämissen über das „Recht des Krieges und des Friedens“ naturrechtlich herzuleiten. Die Geschichte war in diesem Sinne für Grotius ebenfalls magistra vitae. Die Regeln, die man laut Grotius aus der Menschheitsgeschichte ergründen konnte, waren dazu da, den Menschen den göttlichen Willen zu offenbaren. Geschichte erschien bei ihm, ähnlich wie bei Bodin zuvor, als Ereigniskette, in der sich das Naturrecht manifestierte. Die Natur gab nach Meinung des Niederländers damit Aufschluss über das ewige Sein der Dinge, die letztlich in Gott ruhten. Somit stellten Naturrecht und Geschichte für den Niederländer eine Einheit dar.122 Bei der historischen Untersuchung des Naturrechts kam der Beobachtung der Athener deshalb eine besondere Rolle zu, da diese sich in der Auffassung des Niederländers an das den Hebräern in den Gesetzen Mosis’ offenbarte göttliche Recht gehalten hatten.123 Daraus folgte für Grotius, dass aus der athenischen 121 Grotius, Hugo: De iure belli ac pacis libri tres. Hugonis Grotii de iure belli ac pacis libri tres. In quibus ius naturae et gentium, item iuris publici praecipua explicantur. Hrsg. von Philipp C. Molhuysen. Lugdunum Batavorum 1919. 122 Vgl. Nitschke, Peter: Eigentumsfrage im Naturrecht. In: Staat bei Hugo Grotius. Hrsg. von Norbert Konegen u. Peter Nitschke. Baden-Baden 2005 (Staatsverständnisse 9). S.  23–47, hier S. 27f. 123 „Imo contra quis non credat, cum lex Mosis de iudiciis expressam habuerit divinae voluntatis imaginem, recte ac pic facturas fuisse nationes quae inde sibi exemplum peterent? quod certe Graecos, Atticos praesertim, fecisse credibile est: Unde tanta in iure veteri Attico, et quod inde sumtum est Romano XII tabularum cum legibus Hebraeis similitudo est. Sufficere haec videntur, ut appareat omnia eo argumento legem Noae datam non eum habere sensum, quem volunt qui bella omnia eo argumento impugnant.“ Grotius: De iure belli (wie Anm. 121), I, II, § V, 10, S. 42f. Grundsätzlich unterschied Grotius zwischen natürlichem und willentlichem Recht. Dieses natürliche Recht folge der Vernunfterkenntnis von Gut und Böse. Für vernunftbegabte Lebewesen der natürlichen Gesellschaft bestehe darüber hinaus die natürliche Pflicht, das als richtig Erkannte auch zu tun. Weil die universale menschliche Gesellschaft nie aufhöre zu existieren, auch nachdem bürgerliche Gesellschaften instituiert wurden, seien die natürlichen Pflichten auf die bürgerliche Gesellschaft übergegangen. Die vernunftbegabten Menschen behielten entsprechend die Fähigkeit, natürliche Pflichten zu erkennen. In Prol. 9 setzte Grotius folglich das Naturrecht mit dem menschlichen Recht gleich: „et quod tali iudicio plane repugnat, etiam contra ius naturae, humanae scilicet, esse intelligitur.“ Siehe Grotius: De iure belli (wie Anm. 121), Prol. 9, S. 6. Vgl. auch Edwards, Charles S.: Hugo Grotius. The Miracle of Holland. A Study in Political and Legal Thought. Chicago 1981, S. 53f. Das willentliche Recht unterschied Grotius wiederum in göttliches und menschliches Recht. Das göttliche Recht basiere auf dem Willen Gottes und finde seinen Ausdruck in den göttlichen Geboten. Das willentliche menschliche Recht dagegen sei die positivierte Rechtsetzung. Diese gründe wiederum auf dem natürlichen menschlichen Recht, also dem Naturrecht. Dies erkenne der Mensch durch die ihm eingepflanzte Vernunft. Mit der Vernunfterkenntnis von Gut und Böse zeige Gott wiederum, was er zu tun oder zu lassen



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Geschichte naturrechtliche Prinzipien gewonnen werden konnten. Grotius stütze sich für seine Analyse vor allem auf Thukydides’ Ausführungen der griechischen Geschichte, um die von den Bürgern ausgehende Macht, die potestas civilis, sowie den Begriff der Bürgergemeinde, der civitas, erklären und legitimieren zu können. Der von Thukydides beschriebene Text der Einigung zwischen den Spartanern und den Athenern im Nikiasfrieden aus dem Jahre 421 v. Chr. hatte die vera civitas nach drei Kriterien definiert: eine politische Gemeinschaft, die sich selbst Gesetze gibt, eine eigenständige Judikative besitzt sowie über politische Institutionen und Magistrate verfügen kann.124 Die athenische civitas entsprach für Grotius nun diesen Kriterien. In seinem De iure belli ac pacis führte er die Worte Euripides’ an, um Athen als freies und selbstbestimmtes Gemeinwesen darzustellen, in dem die Bürger nach den eigenen Gesetzen lebten: Longe aliter quam Atheniensium republica rex ipse Theseus apud Euripidem loquitur: … - haec iuris sui Parere domino civitas uni negat: Rex ipse populus annuas mandat vices Honoris huic, illive.125

Mit Thukydides’ Definition einer vera civitas, die durch selbst gegebene Rechte und Gesetze bestimmt war und indem Grotius das sich selbst regierende Athen als frei bezeichnete, verwies der Niederländer auf eine Konzeption der Freiheit, die äußere Eingriffe eines als fremd wahrgenommenen Herrschers nicht duldete. Damit traf er ein niederländisches Anliegen, schließlich hatten die sieben Provinzen einen langen Freiheitskampf gegen die spanischen Habsburger geführt.126 geboten habe. Vgl. Grotius: De iure belli (wie Anm. 121), Prol. 7, S. 5f. Damit setzte der Niederländer das Naturrecht, das nichtwillentliche menschliche Recht mit dem göttlichen (nichtwillentlichen) Recht gleich, unterschied es jedoch von dem willentlichen (offenbarten), positiv gesetzten göttlichen Recht: „Ius voluntarium divinum quod sit, satis ex ipso vocum sono intelligimus: id nimirum quod ex voluntate divina ortum habet. quo [sic.] discrimine a iure naturali, quod item divinum dici posse diximus, internoscitur. In hoc iure locum habere potest, quod nimium indistincte dicebat Anarxarchus, non ideo id Deum velle quia iustum est, sed iustum esse, id est iure debitum, quia Deus voluit.“ Siehe Grotius: De iure belli (wie Anm. 121), I, I, § XV, 1, S. 30f. Gemäß dieser Definition bezeichnete der Niederländer die Natur als Mutter des natürlichen Rechtes. Letztere sei die Verbindlichkeit, die aus der Übereinkunft entspringe, so dass die Natur als Großmutter des bürgerlichen Rechtes angesehen werden könne. Vgl. Grotius: De iure belli (wie Anm. 121), Prol. 16, S. 8. 124 „Facultas ergo moralis civitatem gubernandi, quae potestatis civilis vocabulo nuncupari solet a Thucydide tribus rebus describitur, cum civitatem, quae vere civitas sit, vocat … suis utentem legibus, iudiciis, magistratibus.“ Siehe Grotius: De iure belli (wie Anm. 121), I, III, § VI, 1, S. 73, vgl. auch Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 251f. 125 Grotius: De iure belli (wie Anm. 121),I, III, § VIII, 1, S. 79. 126 Siehe dazu Prak, Maarten: The Dutch Republic in the Seventeenth Century. The Golden Age. Cambridge 2005, S. 16.

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Im Sinne dieser Ausführungen war auch die Herrschaft Philipps II. von Spanien als Fremdherrschaft anzusehen, gegen die man aufbegehren konnte und sollte. Andererseits erhielt die Freiheit aber auch eine Funktion nach innen: Athen war frei, weil es sich selbst verwaltete und regierte. Auch diese Definition der Freiheit als Selbstverwaltung war für die Niederländer ein brisantes Thema, denn mit der faktisch erreichten Unabhängigkeit war die innenpolitische Lage noch nicht geklärt. Die Unionsprovinzen standen nun vor der Herausforderung, einen modus vivendi der politischen und sozialen Organisation zu finden. Grotius, der nach der Dordrechter Synode im Kontext der Auseinandersetzungen zwischen Remonstranten und Contraremonstranten auf Burg Loewenstein in Haft genommen worden war, der er 1621 entfliehen konnte, fügte seinem Werk eine weitere, von Thukydides erzählte Episode der athenischen Geschichte an:127 Perikles, der die unzufriedenen athenischen Bürger in Kriegszeiten in Einigkeit wissen wollte, hatte den Athenern erklärt, dass das Wohl des Einzelnen vom Gemeinwohl abhienge und sich dies nicht etwa umgekehrt verhalte.128 Mit Hilfe dieses Auszugs aus der athenischen Geschichte wollte der Niederländer seine Landsleute offensichtlich an die notwendige Einigkeit in Kriegszeiten erinnern. Grotius hatte diese Passage aus Thukydides’ Geschichtswerk bereits im zweiten Kapitel seines De iure praedae zitiert.129 Dort erinnerte er daran, dass eine politische Gemeinschaft, die dem Gemeinwohl verpflichtet sei, respublica heiße, ihre Mitglieder cives genannt würden. Wenn diese durch Parteiungen gespalten seien, müssten sie durch ein gemeinsames Recht zusammengehalten werden. Dementsprechend gelte auch, dass das Gemeinwohl dem Einzelinteresse übergeordnet sein müsse, wie dies schließlich von Thukydides anhand der athenischen Geschichte bewiesen werde.130 Für Grotius grenzte sich eine vera civitas von der Tyrannei durch die Suprematie des Gemeinwohls ab.

127 Nellen, Henk J. M.: Hugo Grotius 1583–1645. Geschichte seines Lebens basierend auf seiner Korrespondenz. Bad Honnef am Rhein 1983, S. 5ff. 128 Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 252. 129 Grotius, Hugo: De iure praedae. Commentarius. Hrsg. von Hendrik G. Hamaker. Haga-Comitis 1868. Grotius’ Manuskript ist in einer Kopie einsehbar, siehe: Grotius, Hugo: De iure praedae Commentarius. In: The Classics of International Law. Hrsg. von James Brown Scott. 2 Bde., Bd. 2: A Collotype Reproduction of the Original Manuscript in the Handwriting of Grotius Belonging to the State University of Leyden. Oxford/London 1950. Sein De iure praedae blieb jedoch bis 1868 unveröffentlicht. Allerdings hatte Grotius 1609 sein zwölftes Kapitel desselben Werkes unter dem Titel Mare liberum veröffentlicht. Vgl. Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 252. 130 Grotius erläuterte: „Hoc ipsum cur et quatenus bonum privatum publico subjaceat ex Periclis apud Thucydidem concione intelligi potest. Sunt enim haec verba: … Ita enim existimo, etiam singulis hominibus plus eam prodesse civitatem, quae tota recte se habeat, quam si qua privatis floreat utilitatibus, ipsa autem universim laboret.“ Grotius: De iure praedae (wie Anm.



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Die athenische Geschichte stellte ferner weitere außenpolitische Überlegungen bereit: Grotius verglich die Athener mit den antiken Batavern, die sich nach der zeitgenössischen Geschichtsinterpretation nicht den Römern unterworfen hatten.131 Zusätzlich stellte der Niederländer aber auch eine Verbindung zwischen den Athenern und den „modernen Batavern“ her, den sieben Provinzen der Vereinigten Niederlande, die sich gegen die Spanier zur Wehr gesetzt hatten.132 Hier gab Grotius wiederum eine von Thukydides überlieferte Episode der athenischen Geschichte wieder, nach der Euphemes als athenischer Botschafter in der Versammlung von Camarina auf Sizilien gesagt habe, dass gegen einen Tyrannen keine Maßnahme unrechtmäßig sei.133 Aus diesem historischen Beispiel destillierte Grotius eine sich in der Geschichte offenbarende naturrechtliche Begründung für den Freiheitskampf der Niederländer gegen die habsburgischen Spanier. Während das imperiale Rom für Grotius ein Feindbild darstellte, waren die antiken, mythologischen Bataver zwar Grotius’ präferiertes Vorbild, das Legitimation für den Freiheitskampf gegen die Spanier und für die Selbstverwaltung der Union bot, mit Athen konnte dieser jedoch ebenfalls begründet werden und gleichzeitig zeigte die Stadt in Attika auch noch, wie ein freies Gemeinwesen nach der gewonnen Unabhängigkeit agieren konnte. Sie bewies, wie man durch Handel an politischer Macht gewinnen konnte, die die sieben Provinzen schließlich auch für sich beanspruchen wollten, um sich im Mächtespiel der europäischen Monarchien zu behaupten. Athen stellte damit eine andere Form des Impe1129), Kapitel II, S. 21f. Siehe aber auch 19–22 sowie Kapitel VI, S. 62f. Siehe auch Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 252. 131 Den Grundstein für diese Geschichtsinterpretation legte Grotius in seinem Liber de Antiquitate reipublicae Batavicae von 1610, worin er sich zunächst auf die gemischt verfassten Gemeinwesen der Bataver und Spartaner konzentrierte. Grotius verglich darin die Könige der antiken Bataver mit den ersten Optimaten der Spartaner. Grotius verfocht damit eine von einer Elite geleiteten Regierung. Vgl. Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 254f. Nach der Einschätzung von Ernst Kossmann kann Grotius’ Liber de Antiquitate jedoch nicht mit den besten niederländischen politischen Theorien in eine Reihe gestellt werden. Grotius selbst sei damit unzufrieden gewesen und habe eingestanden, dass er damit zu weit gegangen sei. Vieles seiner verfassungsrechtlichen Implikationen habe er von François Hotmans Francogallia von 1573 übernommen. Während das Werk des französischen Monarchomachen jedoch dazu geschrieben worden sei, um politische Veränderungen herbeizuführen, habe Grotius’ Werk ein unvollständiges Regime stützen wollen. Grotius’ Theorie eines „ancient aristocratic system“, das unter den monarchischen Regimen verlorengegangen sei, habe, so das Urteil Kossmanns, in den Niederlanden keine weitere Diskussionen über die Verdienste eines aristokratischen Regimes hervorbringen können. Siehe Kossmann, Ernst H.: Political Thought in the Dutch Republic. Three Studies. Amsterdam 2000, S. 32. 132 Siehe vor allem Grotius: De iure praedae (wie Anm. 129), XIV, S. 309, 311f. Vgl. auch Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 253. 133 Grotius: De iure praedae (wie Anm. 129), Prolog., § 3, S. 3, vgl. Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 253.

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rialismus zur Verfügung als dies die römische Geschichte überlieferte, ohne die eigene Freiheitsidee in Frage zu stellen. Athen hatte sich in der Lesart des Niederländers durch Handel, und nicht etwa wie die Römer durch rohe militärische Überlegenheit und politische Unterdrückung durchgesetzt. Damit bot der Imperialismus nach athenischem Vorbild für Grotius entscheidende Überlegungen für das internationale Recht an: Illa ius naturae indicat, hic ius gentium: quorum discrimen non quidem ex ipsis testimoniis (passim enim scriptores voces iuris naturae et gentium permiscent) sed ex materiae qualitate intelligendum est. Quod enim ex certis principiis certa argumentatione deduci non potest, et tamen ubique observatum apparet, sequitur ut ex voluntate libera ortum habeat.134

Einerseits boten die Beispiele aus der athenischen Geschichte also eine Rechtfertigung der Gewaltanwendung im Falle imperialistischer Einmischungsversuche äußerer Mächte – ein Mittel, das so auch von den sieben Provinzen gewählt worden war. Andererseits bot Athen jedoch auch eine Legitimation für eine imperiale Handelsrepublik, die die politische Freiheit der untworfenen Staaten sogar förderte. Denn die Athener hatten sich in der Interpretation des Niederländers nicht wie die Spartaner etwa auch die Staatsgewalt über andere Gemeinwesen angemaßt,135 sondern von den von ihnen abhängigen Staaten eine Volksversammlung verlangt.136 Diese Lesart Athens zeigte sich bereits in Grotius’ Jugendwerk Parallelon rerumplicarum137 von 1601/02. Leider ist der Nachwelt nur noch das letzte der ursprünglich drei Bücher überliefert. Während Grotius in den verlorenen Büchern die Verfassungen der Bataver, der Römer und der Athener einander gegenüber stellte, analysierte er im letzten Buch deren Bräuche, Werte, Kunst und Religion. Der Niederländer stellte Athen auch in seinem dritten Buch als demokratisches, imperialistisches und auf den Handel konzentriertes Gemeinwesen dar. Das beste

134 Grotius: De iure belli (wie Anm. 129), Prolog., 40, S. 15. Vgl. auch Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 253. 135 „Interim verum est accidere plerumque, ut qui superior est in foedere, si is potentia multum antecellat, paulatim imperium proprie dictum usurpet: praesertim si foedus perpetuum sit, et cum iure praesidia inducendi in oppida, sicut Athenienses fecerunt, cum a sociis ad se provocari passi sunt; quod nunquam fecerant Lacedaemonii.“ Grotius: De iure belli (wie Anm. 121), I, III, § XXI, 10, S. 100. 136 Grotius: De iure belli (wie Anm. 121), III, XV, § VIII, S. 626. 137 Grotius, Hugo: Parallelon rerum publicarum liber tertius: de moribus ingenioque populorum Atheniensium, Romanorum, Batavorum. Hrsg. von Johan Meerman, 3 Bde. Harlem 1801– 1802.



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Vorbild war damals für ihn jedoch dasjenige der Bataver gewesen.138 Nun, nach dem erfolgreichen Unabhängigkeitskampf und mit der gesteigerten Handelsmacht der Union, gewann Athen gegenüber dem Frühwerk von 1601 in seinem De iure belli offensichtlich Grotius’ verstärktes Interesse. Die Geschichtsinterpretation, die im niederländischen Unabhängigkeitskampf so wichtig gewesen war und nach der die Bataver als einziges Volk nicht von den Römern kolonisiert worden, sondern Bundesgenossen und also frei gewesen waren, wurde nun durch Überlegungen zu einem weiteren antiken Gemeinwesen ergänzt. Die athenische Geschichte zeigte einerseits innenpolitische Prämissen, die Einigkeit und Gemeinwohl fokussierten und die sich als Klage gegen die Maßnahmen des Statthalters Moritz’ von Oranien lesen ließen, der aus Grotius’ Sicht auf tyrannische Art und Weise seine politischen Gegner unterdrückte. Andererseits konnte mit Athen aber auch die politische Macht einer Handelsrepublik dargestellt werden. In diesem Sinn konnte ein Handelsimperialismus legitimiert werden, ohne den eigenen Freiheitskampf zu diskreditieren. Die Ausführungen des Juristen Grotius wurden auch von anderen Niederländer geteilt, insbesondere von dessen Freund Jan van Meurs (1579–1639). Dieser widmete sich dem antiken Athen in zahlreichen archäologischen Studien, etwa in seinem Werk Cecropia sive de Athenarum arce et ejusdem antiquatibus139 aus dem Jahr 1622, in dem er die Zitadelle, die Mauern sowie die Standbilder Athens untersuchte. Auch in anderen archäologischen Schriften, wie etwa in Athenae Atticae sive de praecipuis Athenarum antiquitatibus libri III von 1624 stellte van Meurs die Bauwerke und Monumente der Stadt in Attika dar. Aus Mangel an Griechischkenntnissen seiner Leser hatte van Meurs die griechischen Inschriften und Zitate ins Lateinische übersetzt. Er wandte sich mit seinen Darstellungen also an eine gebildete Leserschaft, die jedoch nicht aus expliziten Spezialisten der griechischen Sprache, Kultur und Geschichte bestand. Van Meurs bildete darüber

138 Sie Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 253f. Siehe zum Bathaviermythos auch Langreis, Sandra: Geschiedenis als ambacht. Oudheidkunde in de Gouden Eeuw: Arnold Buchelius en Petrus Scriverius. Online Veröffentlichung der Universität van Amsterdam 2001. http://dare.uva.nl/de/ record/86401 (27.04.2015). 139 Meurs, Jan van: Cecropia sive de Athenarvm arce, & ejusdem antiquitatibus. Liber Singvlaris. Lugdunum Batavorum 1622. Im selben Buch findet sich auch Fortvna Attica. Sive, De Athenarvum origine, incremento, magnitudine, potentia, gloria, vario statu, decremento, & occasu. Diese beginnt mit den folgenden Urteil über Athen: „Cvm Athenas illustrassem, visum etiam De Fortunâ eius Vrbis singillatim quædam dicere. Quando autem, qui nobilitatem jactant, quæ Fortunæ primum bonum, annos putant, & ab ijs æstimari illam cupiunt; ita mihi, cùm hæc vrbs sit toto orbe nobilissima, primo loco de antiquitate eius fermo erit, quæ profectò longè maxima.“ Siehe Meurs: Cecropia (wie Anm. oben) I, S. 1.

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hinaus selbst Gräzisten aus und unterrichtete von 1610 bis 1625 an der Leidener Universität griechische Literatur.140 Die Bedeutung der Athenrezeption für Leiden zeigte sich auch in der niederländischen Dichtung der Zeit. Der niederländische Schriftsteller und gelehrte Petrus Scriverius (1576–1660) machte in seinem Gedicht zu van Meurs’ Archontes Athenienses141 folgendes deutlich: Encomivm Operis Nvper Attica terra restitutis Gaudebat Popvlis, labore Meursî: Nunc, vt sit melius, beatiusque, Et perennius, Atticis Athenis: … Quare Cecropias novasque Athenas, Jam salvis populisque regibusque, Cessuras tibi, Roma, ne putato. … Arx Pandionis, Atticæque Athenæ, Belgâ vindice nuper excitatæ, Non minùs (licet invidus repugnet) In nostro sibi Meursio placebunt.142

Darin bestätigte Scriverius, der sich selbst im Studium der antiken Geschichte engagiert und die Bedeutung des batavischen Vorbilds betont hatte,143 dass Athen erst seit kurzem wieder restituiert worden sei und dass van Meurs mit seiner Arbeit das ganze niederländische Volk erfreue. Das von van Meurs dargestellte Athen weigere sich, Rom Gehorsam zu leisten. Scriverius zollte dem Gräzisten für seine Erforschungen Athens große Anerkennung und machte dabei den Aktualitätsbezug der Athenforschungen deutlich: Athen wurde hier als Synonym für die Niederlande und insbesondere für die Stadt Leiden benutzt. Die Verbindung der antiquarischen Studien mit aktuellen Interessen zeigte sich auch in einer Veröffentlichung van Meurs’ aus dem Jahre 1625: Mit dem Titel Athenæ Batavæ sive, De vrbe Leidensi et Academia schrieb er eine Geschichte des geistigen Lebens der Stadt und der Universität Leiden.144 Van Meurs ergänzte

140 Siehe Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 255. 141 Meurs, Jan van: Archontes Athenienses sive, de ijs Athenis summum istum magistratum obierunt, Libri IV. Lugdunum Batavorum 1622. 142 Meurs: Archontes (wie Anm. 141), ohne Seitenzahlen. 143 Siehe dazu Langreis: Geschiedenis (wie Anm. 138). 144 Meurs, Jan van: Athenæ Batavaæ sive, De vrbe Leidensi, & Academiâ, Virisque claris, qui utramque ingenio suo, atque scriptis, illustrarunt. Libri Dvo. Lugdunum Batavorum 1625.



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seine Geschichte mit seiner an der Universität gehaltenen Einführungsrede sowie mit Karten, Plänen und bildlichen Darstellungen Leidens. In Athenæ Batavæ findet sich also keine Abhandlung oder Darstellung des antiken Athens, jedoch wird der Name der antiken Stadt übernommen, um die herausragende Stellung Leidens in den Niederlanden anschaulich darzustellen. Dies zeigt an, dass Athen gerade aufgrund von van Meurs eigenen antiquarischen Studien in den Niederlanden offenbar allgemeinverständlich als die Stadt der Wissenschaften wahrgenommen wurde. Für seine Studien über die athenische Vergangenheit zog van Meurs diejenigen von Carl Sigonio heran, obwohl sich die Untersuchungen des Italieners vor allem auf politische und institutionelle Aspekte Athens bezogen. Van Meurs untersuchte dagegen weniger die politische Geschichte, sondern Aspekte der athenischen Lebensart, die Sigonio bisher noch nicht erarbeitet hatte. In seinem 1617 erschienen Atticarvm Lectionvm145 finden sich Ausführungen zu den religiösen Festen, den Spielen, den Tänzen, den Steuern und den kriegerischen Mitteln, die er katalogartig aufarbeitete. Gleich zu Beginn seines Atticarvm Lectionvm stellte er die Überlegenheit der Stadt in Attika heraus und legte dar, dass Griechenland seine Größe Athen verdanke: „Athenæ Atticæ vrbs celeberrima. Primi domos ibi posuerunt Hyperbius & Euryalus fratres, cùm anteà pro iis sepcus habitarentur. … Posteà magnitudine Græiæ totius cæteras vrbes superârunt.“146 Ähnlich war auch sein De populis Atticis147 von 1615 aufgebaut, wo er auf Grundlage epigraphischer Quellen die 174 Bezirke Attikas untersuchte.148 Zeitlich fokussierte van Meurs die Periode der Könige Athens bis zu Solon. Er verfasste verschiedene Monographien zu den athenischen Königen sowie über Theseus, Peisistratos und Solon. Dabei ging der davon aus, dass Athen seine größte Blütezeit erlebt hatte, als der Areopag besonderes politisches Gewicht hatte, Athen also eigentlich eine Aristokratie war. In van Meurs’ Darstellung wurde Athen also mit den Niederlanden, die ebenfalls eine aristokratische Republik waren, auch in diesem Punkt vergleichbar. Anders als in Grotius’ Jugendwerken wurde Athen also nicht als Demokratie angesehen. In seiner Widmung an den Dogen und den Senat von Venedig, die sich in seinem Areopagus, sive de senatu Areopagitico149 aus dem Jahre 1624 findet, verwies van Meurs auch 145 Meurs, Jan van: Atticarvm Lectionvm Libri VI. In Quibus Antiquitates plurimae, nunc primum in lucem erutae, proferuntur. Lugdunum Batavorum 1617. 146 Meurs: Atticarvm (wie Anm. 145), S. 1. 147 Meurs, Jan van: Theseus sive de eius vita rebusque gestis liber postumus. Accedunt ejusdem Paralipomena de pagis Atticis … Trajectum Batavorum 1684. 148 Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 257. 149 Meurs, Jan van: Areopagvs. Sive, De Senatv Areopagitico. Liber Singularis. Lugdunum Batavorum 1624.

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auf Ähnlichkeiten zwischen Athen und Venedig, die für ihn in der geographischen Lage und der Funktion als legislative Modelle bestanden. Doch die deutlichste Parallele sei, dieser Meinung war der Gräzist, zwischen dem athenischen Areopag und dem venezianischen Senat zu erkennen.150 Damit legte van Meurs noch einmal die Deutung Athens als Aristokratie nahe. Bezüglich der spartanischen Geschichte konzentrierte er sich dagegen in seiner Studie De regno Laconico151 auf dessen Königtum. In seinem Werk Miscellanea Laconica152 widmete er sich den Lebensgewohnheiten der Spartaner. Beide Werke, mit denen er vor allem die Vorarbeiten des Dänen Nicolaus Cragius (ca.1530–1602) ergänzt hatte, wurden allerdings erst postum veröffentlicht.153 Ab 1625 veröffentlichte auch das Haus Elzevier eine Reihe antiquarischer Studien, die sich antiken und modernen Republiken widmeten. Ziel der Veröffentlichungen war es, der intellektuellen Leserschaft der Niederlande einen expliziten Vergleich Roms, Athens und Hollands zugänglich zu machen, aber auch andere Gemeinwesen sollten analysiert und einander gegenüber gestellt werden. Zwischen 1625 und 1634 erschienen ca. 20 Bände, die die Hebräische und die Römische Republik, die Schweizer Eidgenossenschaft und die Hanseatische Liga vorstellten und analysierten. Darin enthalten waren vorrangig Werke, die bereits veröffentlicht worden waren, wie beispielsweise die Werke Gasparo Contarinis (1483–1542)154 oder Donato Giannottis (1492–1573)155, die beide vornehmlich über Venedig berichtet hatten.156 Zur Darstellung der athenischen Geschichte veröffentlichten die Elzeviers Arbeiten Postels und Sigonios, aber auch ein allgemei150 Siehe zum Venedig-Bild in den Niederlanden Mulier, Eco Haitsma: The Myth of Venice and Dutch Republican Thought in the Seventeenth Century. Assen 1980. Vgl. auch Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 258. 151 Meurs, Jan van u. Helladius Antinoupolitanus: De regno Laconico libri II. De Piræeo liber singularis et in Helladii Chresthomathiam animadversiones. Omnia nunc primum prodeunt. Hrsg. von Johannes Georgius Graevius. Trajectum Batavorum 1686. Vgl. auch Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 256. 152 Meurs, Jan van: Miscellanea Laconica, Sive Variarum Antiquitatum Laconicarum Libri IV. Hrsg. von Samuel Pufendorf. Amstelodamum 1661. Über Cragius schrieb van Meurs: „De Republicâ Lacedæmoniorum egregium Opus scripsit Nicolaus Cragius, magnum Daniæ ornamentum. Ego, quæ neglexit ille, ceu minuta, ut sunt certè, nec ad institutum suum pertinentia, hîc proponam: quædam etiam, quæ exposuit, pluribus illustraturus.“ Siehe Meurs: Miscellanea (wie Anm. 152 oben), I, I, S. 1. Vgl. Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 256. 153 Cambiano: Polis (wie Anm. 3), 154 Contarini, Gasparo: De magistratibus, & repub. Venetorum libri quinq[ue]. Opus de magistratibus et Republica Venetorum. libri quinq[ue]. Baslia 1544. 155 Gianotti, Donato: Dialogi De Repvb. Venetorvm. Cum Notis et lib. Singulari de Forma eiusdem Reip. Kommentiert von Niccolò Crasso. Lugudnum Batavorum1631. 156 Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 259.



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nes Werk über die griechische Antike ließ sich in der Serie der Veröffentlichungen finden – nämlich Ubbo Emmius’ Graecorum res pvblicae,157 das 1632 von den Elzeviers in zwei Bänden herausgegeben wurde. Auch hier handelte es sich um eine Neuauflage eines 1626 postum herausgegebenen Werkes des Autors, der in Groningen gelehrt und einen engen Kontakt zu van Meurs gepflegt hatte.158 Der erste Band dieses Werkes enthielt eine Beschreibung der geographischen Lage sowie der Bevölkerung Griechenlands; ferner einen historischen Abriss auf Grundlage von Herodot, Thukydides, Xenophon und Diodorus. Anschließend folgte eine Darstellung der politischen und institutionellen Struktur der einzelnen Gemeinwesen Griechenlands. Für Emmius war die entscheidende Epoche für den athenischen Niedergang diejenige, als man auch der vierten Klasse den Zugang zur politischen Teilhabe ermöglicht hatte und als die Macht des Areopages im Niedergang begriffen war. Diese Maßnahmen hatten in Emmius’ Lesart dem athenischen Volk („plebs“) zu viel Macht gegeben.159 Die Darstellungen Athens und Spartas nahmen den gesamten ersten Band der Edition des Hauses Elzevier ein, ohne dabei neu gewonnenes Wissen zu präsentieren. Im zweiten Band der Elzevierausgabe fanden sich außerdem Emmius’ Untersuchungen Kretas, Argos’, Thebens, Korinths, Syracus’, Corcyrs’ den Inseln Rhodos und Chios und des ätholischen Bundes.160 In den 1620er und 1630er Jahren war das in Holland gelegene Leiden durch die Bemühungen Jan van Meurs’ und des Hauses Elzeviers zum Zentrum antiquarischer Griechenlandstudien avanciert.161 Dabei wurde Leiden als modernes Athen und damit als Wiege der Wissenschaften in den Vereinigen Provinzen präsentiert. Diese Analogie spiegelte sich auch in der zeitgenössischen Dichtung. Wie van Meurs 1625 in seinem Athenæ Bathavæ, bezeichnete auch der in Amsterdam geborene Dichter Jacob Lescaille (1611–1679) 1652 Leiden als batavisches Athen:162 „Bataafs Athene! Leef door voorzicht, trouw en raad/ En vreê en voor-

157 Emmius, Ubbo: Græcorum Res Pvblicae. 2 Bde., Bd. 1: Status Reipublicæ duarum civitatum Atticae & Laconicæ succincta delineatio. Lugdunum Batavorum 1632. 158 Siehe auch Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 259. 159 Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 259f. 160 Im ersten Kapitel des ersten Bandes analysierte Emmius die Republik der Athener: De Republica Atheniensium. Das zweite Kapitel trug den Titel: De Inclinatione & interitu Republicæ Atticæ. Das dritte Kapitel beschäftigte sich dagegen mit der Republik der Spartaner. Emmius: Græcorum (wie Anm. 157), S. 3. Der zweite Band analysierte weitere antike Gemeinwesen, wie diejenigen der Theber, der Karthager etc. Siehe ebd. Vgl. auch Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 260. 161 Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 259. 162 Vgl. auch Weststeijn, Arthur: Commercial Republicans in the Dutch Golden Age: The Political Thought of Johan & Pieter de la Court. Leiden 2012, S. 215.

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spoed, als de zuilen van uw staat“.163 Das Gedicht vereinigte mit seinem Ausruf des „batavischen Athens“ das Narrativ der Bataver, die ihre Freiheit gegen die Römer verteidigt hatten mit dem Bild Athens als Zentrum der Kunst, der Weisheit und Gelehrtheit. Athen erscheint im Gedicht dabei als Tempel Apollos, dem Gott des Lichts und der sittlichen Reinheit und Künste. Ebenso wird auch der Hof Pallas Athenes, Göttin des Kampfes und der Weisheit, in Athen verortet. Indem Leiden nun zum „batavischen Athen“ stilisiert wurde, wurde auch Leidens Vorreiterrolle im Kampf für Freiheit, Sittlichkeit, Weisheit und Wissenschaften bekräftigt. Dementsprechend lobte auch der Dichter und Dramatiker Joost van den Vondel (1587–1679) Leiden als neues Athen, Het nieuwe Athene groeit, nu’t oude in d’assche leit.164 Dieses neue Athen habe, so das Gedicht, sein Licht bewahrt, es sei eine Burg der Gerechtigkeit gegen Lug, Trug und Falschheit. Gott habe geplant und gewollt, dass Leiden als neues Athen das Zepter übernehme und die Herrschaft der Weisheit und des Wissens antrete. Das Interesse am antiken Athen zeigte sich aber auch noch während der ersten statthalterlosen Zeit bei den Brüdern Johan (1622–1660) und Pieter (1618–1685) de la Court, die sich gegen eine Mischverfassung aussprachen und damit auch die viel diskutierten Vorbilder von Rom und Sparta sowie jede Form imperialistischer Politikmodelle ablehnten.165 Vor allem der jüngere der Brüder, 163 „O moedig Leiden! Dat met strenge dapperheden/Pest, honger, zwaard en twist standvastig hebt geleden,/Toen d‘ oceaan voor u te veld ging en met kracht/Der winden u verlost‘ van der beleggers macht/En volle vrijheid gaf. Kon ik uw daden zingen!/O schole van geduld! Herberg der vreemdelingen,/En moeder van een vorst en held, die in zijn jeugd/De Roomse krone droeg. O voedster van de deugd/En alle wetenschap! Toneel der wijste lieden,/Apollo‘s tempel, hof van Pallas, wier gebieden/Gij loffelijk bestuurt! Sieraad van ‚t vrije land,/Der muzen woonplaats en voortteelster van verstand,/Voorspreekster van het recht, geneesvrouw der gebreken,/Die alle volken doet van uwe wijsheid spreken./Bataafs Athene! Leef door voorzicht, trouw en raad/En vreê en voorspoed, als de zuilen van uw staat“, siehe Lescaille, Jacob: Lof van Leiden. In: ‘k Wil rijmen wat ik bouw. Twee eeuwen topografische poëzie. Em. Querido‘s Uitgeverij. Hrsg. von Arie-Jan Gelderblom. Amsterdam 1994, S. 25. Vgl. auch Weststeijn: Commercial Republicans (wie Anm. 162), S. 215. 164 „De Wysheit houdt het roer des staets, en Godts Bestieren/Geeft haer den scpeter der regeeringe in de hant,/Om met voorzichtigkeit de burgers te manieren,/En Leiden handhaeft trou de Vryheit van het lant./Zy wort bevestight met de hooge School grootmoedigh,/En met onsterflyckheit gekroont. Gerechtigheit/Omhelst de Vre, dies vliên Bedrogh en Valschheit spoedigh./Het nieuwe Athene groeit, nu’t oude in d’assche leit.“ Siehe Vondel, Joost van den: Op de geluckige regeeringe van Leiden. In: De Werken van Vondel. volledige en geïllustreerde tekstuitgave in tien deelen; levensbeschrijving, geschieden boekkundige toelichting, literatuuropgave enz. 11 Bde, Bd. 10: 1663–1674. Hrsg. von J. [?] F. M. Sterck [u.a.]. Amsterdam 1937. S. 176. Vgl. auch Weststeijn: Commercial Republicans (wie Anm. 162), S. 215. 165 Zum Überblick über das politische Denken der De la Court-Brüder, siehe Kossmann: Political Thought (wie Anm. 131), S. 60–74.



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Johan, bewunderte Athen für seine Kunst, die durch seinen florierenden Handel begünstigt worden sei. Pieter de la Court interessierte sich für das antike Athen dagegen aus einem anderen Grund: Er suchte im Kontext der ersten statthalterlosen Zeit ein aristokratisches Modell, das einer demokratischen Regierungsform am nächsten kam.166 Haitsma Mulier hatte in seinem Myth of Venice gezeigt, wie sich die Brüder De la Court intensiv mit den Handelsrepubliken des Mittelmeerraumes beschäftigten, die in den 1650er Jahren in den Niederlanden eine weit verbreitete Referenz für die „ware vrijheid“ waren.167 Die Brüder setzten sich vor allem mit Venedig und Genua auseinander, die sie für hervorragende Beispiele wirtschaftlich erfolgreicher und machtvoller Aristokratien hielten sowie mit den Gemeinwesen von Lucca und Ragusa, die in ihrer Interpretation der geographischen Lage Leidens ähnelten. Indem sie die Beschreibung verschiedener europäischer Länder von dem Venezianer Francesco Sansovino übernahmen, priesen die Brüder die handelserfolgreichen italienischen Stadtstaaten, die ihre Unabhängigkeit und Freiheit in einer ihnen feindlichen gesinnten Umwelt bewahren konnten.168 Ihr Interesse an den zeitgenössischen italienischen Stadtstaaten schmälerte dasjenige an den antiken Gemeinwesen jedoch nicht. Vor allem der Vergleich von Leiden und Athen erschien ihnen interessant, denn sie entdeckten in Athen eine demokratisch regierte Handelsrepublik. Diesen Eindruck erhielten sie einerseits von der Studie Herodots und Thukydides’, andererseits aber auch von den im Hause Elzevier veröffentlichten Schriften Ubbo Emmius’, der die griechischen Stadtrepubliken aufgrund der Wählbarkeit der Magistrate als „status populares“ bezeichnet hatte.169 Auch die La Court-Brüder bezeichneten in ihrem Politike Weeg-schaal170 die antiken griechischen Gemeinwesen deshalb als demokratisch. Wahrscheinlich von Johan de la Court verfasst und von Pieter überarbeitet, folgten ihre Aus-

166 Cambiano: Polis (wie Anm. 3), S. 261. 167 Siehe Mulier: Myth of Venice (wie Anm. 150), S. 147–157; sowie Weststeijn: Commercial Republicans (wie Anm. 162), S. 214. 168 Weststeijn: Commercial Republicans (wie Anm. 162), 169 Vgl. Weststeijn: Commercial Republicans (wie Anm. 162), S. 215. 170 La Court, Johan de: Consideratien van Staat, Ofte Polityke Weeg-Schaal, Waar in met veele, Reedenen, Omstandighen, Exempelen en Fabulen werd ooverwoogen; Welke forme der Regeeringe, in speculatie geboud op depractijk, onder de menschen de beste zy. Amsterdam 1662. Der demokratischen Regierung Athens ist im Buch ein ganzes Buch mit vier Kapiteln gewidmet: „Van de Populare Regeering in et particulier Atheenen raakende. Cap. I: Een korte Historie der geschiedenissen raakende de Regeering von Atheenen, Cap. II: Van de Regeeringe der Atheense Republike, Cap III. Eenige conclusien getrokken uit de Griekse Historien, Cap. IV, Particuliere consideratien oover de Historien van Atheenen.“

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führungen weitestgehend Emmius und so verglichen auch sie die Geschichte der alten Athener mit derjenigen Leidens und ganz Hollands.171 Ihre Ausführungen begannen mit einer Beschreibung der geographischen Lage Athens, das sie als maritime Stadt inmitten von flachem und unfruchtbarem Land beschrieben, die vom Fischfang und Handel lebte.172 Die Brüder erklärten dabei, dass letzterer nur deshalb florierte, weil Gilde- und Zunftregeln fehlten und Bürger wie Fremde gleichermaßen Handel treiben konnten.173 Auch hatten alle Athener in der Deutung der La Courts die Möglichkeit, sich frei zu versammeln und Politikinhalte zu diskutieren. Allerdings seien die politischen Ämter mehrheitlich von reichen und gebildeten Bürgern ausgeübt worden – eine Vorstellung, die den politischen Zielen der beiden Brüder entsprach.174 Johan war nämlich der Ansicht, dass Leidenschaften nur durch die ihnen entgegen gesetzten Leidenschaften neutralisiert werden konnten. Deshalb müsse ein politisches Gemeinwesen frei und möglichst demokratisch sein. Eine Monarchie war für ihn hingegen von den Eigeninteressen eines Einzelherrschers geleitet. Auch eine Aristokratie, die er in Genua und Venedig beobachtete, war für ihn nicht ausreichend auf das allgemeine Wohl ausgerichtet. Für den jüngeren der Brüder war die Demokratie deshalb die natürlichste und beste Herrschaftsform.175 Das Ziel eines Staates war für ihn dementsprechend seine Freiheit, in ökonomischer, sozialer und verfassungsrechtlicher als auch in intellektueller Hinsicht176 – eine Annahme, die er von der Geschichte Athens ableitete.177 Das antike Athen schien jedoch nicht in jeder Beziehung der politische Argumentation der La Court-Brüder zu entsprechen und so kritisierten sie den antiken 171 Weststeijn: Commercial Republicans (wie Anm. 162), S. 216. 172 „Athenen in een zeer bar land, maar an zee leggende, moesten de Ingezeetenen noodfakelik vissen en koopmanschap drijven, waar toe, als meede tot alle handwerken, zoo voor Burgers als vreemde Inwoonders, eenparige Vryheid was. Sulks zy, daar dor, eerst met de omleggende Lande begonden te handelen; en vermits zy, door haare volkrijkheid en onvrugtbaare situatie, veel raawe Waaren, en Koorn van nooden hadden, gingen zy het in de overvloedigste Landen te scheep zoeken; en dewijl alle de Landen, aan de Euxinise Zee gelegen, toen zeer veel uitleeverden, was haare principaale handel door de naawte by Constantinopel op de zee; eeven gelijk nu de Hollanders op de Baltzee in Oosten handelen.“ La Court: Consideratien (Wie Anm. 170), III, II, 1, S. 591. 173 La Court: Consideratien (Wie Anm. 170), III, II, 1, S. 591ff. 174 Vgl. Weststeijn: Commercial Republicans (wie Anm. 162), S. 216. 175 Vgl. Kossmann: Political Thought (wie Anm. 131), S. 68. 176 Kossmann: Political Thought (wie Anm. 131), S. 71. 177 „Daar was vryheid voor alle Vreemdelingen, tot alle handwerken en koopmanschappen, en beiden wierden die zeer begonstigt. Van Octroyen, Privilegien, of Gildens en Hallen, wird, naar my voorstaat, in geen Historien van Atheenen gewag gemaakt.“ La Court: Consideratien (Wie Anm. 170), III, II, 4, S. 620. Vgl. auch Weststeijn: Commercial Republicans (wie Anm. 162), S. 216.



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Stadtstaat für die Begrenzungen und Restriktionen der Bürgerschaft, die zur Unzufriedenheit bei einer großen Zahl der Einwohner geführt habe, „een zeer groot misnoegen onder zoo veele duisenden vreemde Inwoonders, en by gevolge een zeer groote swakheid, om uitheems geweld teegen te staan. En daar-en-booven veroorstake dit miscontentement een zeer groote dispositie ten oproer.“178 Unzufriedenheit sei jedoch ein Risiko für die innere Ruhe und berge die Gefahr der Schwäche im Verteidigungsfall nach außen. Die La Courts gingen also davon aus, dass eine zu restriktive Bürgerschaftspolitik zur innenpolitischen Instabilität führe, womit sie auf ein Problem Leidens verwiesen, wo sich viele Immigranten aus den südlichen, katholischen Niederlande fanden, die nicht die gleichen Bürgerrechte genossen oder in Zünfte aufgenommen werden konnten.179 Neben den Restriktionen bei der Vergabe des Bürgerrechts kritisierten die La Courts auch die kriegerische Außenpolitik der Athener. Jedoch war für die beiden Niederländer einer der größten Momente der athenischen Geschichte der Defensivschlag gegen die Perser, bei dem Athen, in Allianz mit anderen griechischen Staaten, die Macht der Perser zerschlug.180 Die Brüder lobten Athen außerdem für seine Fertigkeiten im Bereich der Wissenschaften und Künste und verbanden die Blütezeit Athens mit seiner politischen Freiheit: Erst als die Athener nach ihrem Sieg gegen die Perser vollständig unter einer demokratischen Regierung lebten, hätten Kunst, Wissen und Luxus einen Aufschwung erlebt.181 Anhand Athens forderten die La Courts also eine offene Bürgerrechtspolitik, eine auf Handel basierende Freiheit und eine defensive Außenpolitik sowie eine Regierung, in der die wohlhabenden Bürger in einem Rotationsprinzip politische Ämter ausüben und es keinen alleinigen Herrscher, also keinen Statthalter geben sollte. Durch diese Maßnahmen sollte die Blütezeit und politische Stabilität eines Gemeinwesens dauerhaft erhalten werden.182 Die Rezeption Athens spiegelte auch eine Kritik an anderen historischen Vorbildern, vor allem am antiken Rom. Für die beiden Brüder war das auf Gewalt gegründete Rom das Feindbild schlechthin. Mit seiner kriegerischen Politik habe Rom den Handel unterbunden, indem es die beiden größten Handelsrepubliken 178 La Court: Consideratien (Wie Anm. 170), III, II, 4, S. 627. 179 Weststeijn: Commercial Republicans (wie Anm. 162), S. 216. 180 „En alzoo het oorlog teegen de magtige Persen bleef duuren, maakten de Grieken een onderling verbond tot gemeene bescherminge, uit kragt van welk yder Bondgenoot zeeker getal scheepen ofte somme gelds te schaffen had. En vermits dit een van de voorneemste oorsaken der Atheniensen grootheid is geweest, moet ik daar van wijtlustiger spreeken.“ La Court: Consideratien (Wie Anm. 170), III, II, 1, S. 590f. Siehe auch Weststeijn: Commercial Republicans (wie Anm. 162), S. 216. 181 Weststeijn: Commercial Republicans (wie Anm. 162), S. 217. 182 Weststeijn: Commercial Republicans (wie Anm. 162), S. 217.

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Athen und Karthago kriegerisch unterwarf und eroberte. Mit der Unterdrückung des Handels und der exzessiven Ausweitung des Imperiums sei Rom schließlich der Tyrannei ihrer eigenen militärischen Befehlshaber verfallen.183 Diese Lesart, die sich in eine ältere, erasmische Tradition einordnete, zeigte sich unter anderem auch in den Werken der Leidener Marcus Zuerius Boxhorn (1612–1653) und Antonius Thysius (1565–1640): Thysius lehnte das kriegerische Rom in seinem Überblick über die verschiedenen historischen Republiken ab,184 und Boxhorn widmete sich 1651 dem Thema der veränderten Wahrnehmung der Römischen Republik.185 Auch für die Brüder de la Court war das kriegerische Rom eine „moordkuil“ und seine Regierung eine „doodelike Pest“,186 die territoriale Expansion der Römer hatte für sie die Republiken und damit auch das Erbe des antiken Europas zerstört. Nicht nur Griechenland, auch alle mediterranen Inseln, ganz Italien, Frankreich, Spanien und Deutschland seien zuvor in eine Vielzahl kleiner Republiken aufgeteilt gewesen bevor die mörderische und kriegerische Großmacht der Römer ihre Waffen gegen sie erhoben und diese zerstört habe.187 183 Weststeijn: Commercial Republicans (wie Anm. 162), S. 217. 184 Thysius, Antonios: Memorabilia celebriorum veterum rerum publicarum. Lugdunum Batavorum 1646, siehe Weststeijn: Commercial Republicans (wie Anm. 162), S. 218. Das erste Kapitel von Thysius beschäftigt sich mit De Rep. Hebræorum, S. 3–78. Das zweite Kapitel fokusiert De Rep. Assyriotum & Babyloniorum, S. 78–93. Das dritte Kapitel handelt von De Rep. Persarum, S. 94–128. Das vierte Kapitel trägt den Titel De Rep. Aegyptiorum, S. 128–174. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit De Rep. Carthagiensium, S. 174–192. Kapitel sechs analysiert schließlich die Republik der Athener: De Rep. Atheniensum, S. 192–236. Das Kapitel stellt die Führungsposition in der Wissenschaft und Weisheit heraus. Daraus folge auch die prima potestas. Thysius führte die Republik der Athener mit den folgenden Worten ein: „Nobilissima celeberrimaque Atheniensium Resp., sapientiæ illud civilis Prytaneum, eruditionis Oceanus, omniumque scientiarum vasta vorago, originem suam Ægyptiis debet, & Cecropem autorem habet. Prima potestas penes reges fuit, sed limitibus suis causa. Neque enim imperium libidini regis serviebat, sed populo obnoxium fuit.“ Siehe Thysius: Memorabilia (wie Anm. oben), S. 192. Das siebente Kapitel handelt dagegen von der Republik der Spartaner, S. 236–254. In Kapitel 14 behandelt Thysius dagegen das Kriegsrecht der modernen Bataver: De Rep. Batavorum. Et Iure Belli Belgici, ec., S. 349–370. 185 Boxhorn, Marcus Zuerius: Emblemata Politica. Accedunt Dissertationes Politicæ De Romanorum Imperio, Et quædam aliæ. Amstelodamum 1651; siehe auch Weststeijn: Commercial Republicans (wie Anm. 162), S. 218. Siehe zu Boxhorns politischem Denken außerdem: Kossmann: Political Thought (wie Anm. 131), S. 4–43. 186 „Sulks deese Stad waarelik … een moordkuil, en deese verloekte regeering een doodelike Pest voor den aardbodem was.“ Siehe La Court: Consideratien (Wie Anm. 170), II, IV, 4, S. 511, sowie Weststeijn: Commercial Republicans (wie Anm. 162), S. 218. 187 „Want niet alleen Griekland en alle de Eylanden der Middelanse Zee, maar ook geheel Italien, Vrankrijk en Spanien, jaa ook geheel Duitsland, in ongeloovelik veel Republiken verdeeld was, tot dat die … krijg-lievende, en alles vernielende Roomse Republik. Alle de zelven, d’eene voor d’ander na, door hare wapenen hebbende doen bukken, en verwoest, … een verwoest [sic.], noemden een bevreedigt Land. … In allen gevalle is ten minsten waaragtig dat die vermaarde,



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Die beiden Niederländer bezeichneten die Römer deshalb als Mörder und lehnten Rom als schrecklichstes aller Gemeinwesen, das ganz Europa überfallen und in Sklaverei gebracht habe, ab. Das katholisch-pästliche Rom war als politisches Vorbild im niederländischen politischen Denken vor allem aufgrund des Batavermythos’ diskreditiert worden. Auch die Mischverfassung wurde gerade während der ersten statthalterlosen Zeit nicht als ideale Verfassungsform angesehen. Vielmehr diente Athen neben den mythologischen Batavern als Metapher für Leiden, Holland oder die Unionsprovinzen. Athen erschien als Inbegriff einer freien, handelsstarken und weisen Republik, wurde jedoch nicht als konkretes, zu imitierendes politisches oder sozio-kulturelles Modell eingesetzt. Der Verweis auf Athen sollte nicht zur konkreten Nachahmung anregen, vielmehr hatte der Rekurs auf Athen die Qualität der Legitimation der eigenen politischen und wirtschaftlichen Lage. Es wurden drei Interpretationsansätze in Bezug auf die Athen-Rezeption vorgestellt: Der erste Schwerpunkt lag auf Niccolò Machiavelli, der die Alten vor allem zur Imitatio studieren wollte. Er hatte zwar moralphilosophisch nichts gegen die athenische Volksherrschaft einzuwenden, bemängelte an dieser jedoch die fehlenden gemischten Elemente der Verfassung, worin für ihn der Grund für die relativ kürzere Überlebensdauer Athens lag. Letzteres konnte deshalb kein imitationswürdiges Vorbild für moderne Staaten sein. Sparta und Rom waren für den Florentiner damit bessere politikpraktische Modelle. Der zweite Schwerpunkt lag auf Jean Bodin. Er lehnte aufgrund seiner Souveränitätskonzeption, die keine Teilbarkeit politischer Souveränität vorsah, das Konzept der Mischverfassung ab. Dementsprechend warf er dem antiken Athen auch nicht vor, dass ihm gemischte Elemente fehlten. Vielmehr stellte er dar, dass eine Demokratie verwerflich sei und nicht Gottes Ordnung entspreche. Athen, das für ihn jedoch die demokratischste aller Demokratien war, verurteilte er in seinen Six livres vor allem aufgrund seiner innenpolitischen Instabilität. Damit konnte es kein Vorbild für die durch die Bürgerkriege in Not geratene französische Monarchie sein. Im Kontext der niederländischen Geschichte war der Rekurs auf Athen nicht Teil einer politiktheoretischen Abhandlung, sondern konkreter politischer Legitimation: Hier galt Athen etwa bei Hugo Grotius, Jan van Meurs, Jacob Lescaille, Joost van der Vondel und den La Court Brüdern als ein Gemeinwesen, das Politike Historie-schryver Titus Livius gen genoegsame reeden vinden kann, waarom de Landen der Volsci en Aequi, te vooren zoo volkrijk, en te zijnen tijd zoo weinig bewoond waaren, als om dat zy, te vooren vrye Republiken, onder de slavernye der Romainen waaren gebragt.“ La Court: Consideratien (Wie Anm. 170), I, III, 1, S. 231. Siehe auch Weststeijn: Commercial Republicans (wie Anm. 162), S. 231.

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ähnlich wie die antiken Bataver in Freiheit von äußerer Fremdherrschaft gelebt, sich selbst verwaltet und sich selbst Gesetze gegeben hatte. Nach dem Unabhängigkeitskampf bot das antike Athen mehr noch als die antiken Bataver weitere Vergleichspunkte zu den Vereinigten Provinzen auf: Wie Athen waren diese eine Handelsrepublik. Und noch eine weitere Ähnlichkeit drängte sich auf: Wie Athen war Leiden das Zentrum der Wissenschaften, Athen wurde so zur Metapher für Leiden. Mit dem Veweis auf das „batavische Athen“ wurden zwei Antikenrezeptionen miteinander in Einklang gebracht und eine ältere Legitimationstradition erweitert: Die antiken Bataver, die vor allem als Vorbild während des Unabhängigkeitskampfes dienten, wurden nun mit dem antiken Athen verbunden, das in der Lesart der Niederländer für Freiheit, Handel, Imperialismus und Wissenschaftsblüte stand. Alle drei Modelle sollten in den folgenden Jahrzehnten in England und Frankreich wiederaufgenommen werden.

III Von der florierenden zur gescheiterten Republik: Athen im englischen Kampf um politische Teilhabe und Souveränität, ca. 1630–1660 Bis ins 16. Jahrhundert waren die Quellen und Texte der griechischen Antike auf den britischen Inseln nur sehr eingeschränkt oder gar nicht zugänglich. Thomas Linacre (ca. 1460–1524) war einer der ersten, der in England das Sammeln griechischer Texte sowie deren Übersetzungen ins Lateinische förderte. Für die Veröffentlichung seiner Werke benutzte John Siberch, ein in Cambridge ansässiger Drucker, im 16. Jahrhundert erstmals in England griechische Letter.1 Thomas Linacre hatte um 1489 in Florenz bei Poliziano (1454–1494) und Demetrius Chalcondylas (1424–1511) die griechische Sprache erlernt. In Venedig kam Linacre dann in Kontakt mit dem Kreis um Aldus Manutius (1449–1515), der sogenannten Neakadēmia, einer Gruppe von Humanisten, die das Studium des Griechischen fördern wollte. Das erste Buch, das Linacre veröffentlichte, war eine lateinische Übersetzung griechischer astronomischer Schriften. Während seines Aufenthaltes in Italien sammelte Linacre griechische Bücher, vor allem Manuskripte, die er anschließend mit nach England brachte und deren Übersetzungen ihm Ansehen in ganz Europa verschaffen sollten.2 Er übersetzte zuvor unveröffentlichte griechische Werke ins Lateinische und erweiterte damit den universitären Lehrkanon.3 Als Linacre 1499 nach London zurückkehrte, wurde er mit der Erziehung und Bildung des Kronprinzen Arthur beauftragt. Außerdem wurde er Mitglied einer Gruppe von Humanisten, zu denen auch Sir Thomas More (1487–1535) zählte, den Linacre schließlich in griechischer Sprache unterrichtete. Linacre lehrte aber nicht nur Griechisch, sondern inspirierte und ermutigte die führenden Mediziner Londons des 16. Jahrhunderts, seinem Beispiel zu folgen und bisher in der

1 Roberts, Jennifer Tolbert: Athens on Trial. The Antidemocratic Tradition in Western Thought. Princeton 1994, S. 138. 2 Linacre übersetzte folgende Werke: De sanitate tuenda (Lutetia 1517); Methodus medendi (Lutetia 1519); De temperamentis und De inaequali intemperie (Cantabrigia 1521); De naturalibus facultatibus (Londinium 1523); De usu pulsuum (Londinium 1523–24); De symptomatum differentiis und De symptomatum causis (Londinium 1524). Siehe Nutton, Vivian: Linacre, Thomas (c. 1460– 1524). In: Oxford Dictionary of National Biography. Online Edition 2008. http://www.oxforddnb. com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/view/article/16667?docPos=1 (03.05.2015). 3 Nutton : Linacre, Thomas (wie Anm. 2).

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lateinischen Welt unveröffentlichte griechische Fachbücher und Manuskripte zu kaufen, zu sammeln und zu übersetzen.4 Ein weiterer Name, der mit der Tradition griechischen Denkens in England in Verbindung steht, ist derjenige Erasmus’ von Rotterdam – ebenfalls ein Freund Linacres.5 Erasmus schrieb 1509 seine Mōrias enkōmion6 auf Thomas Mores’ Gut Bucklersbury. Darin stellt die Protagonistin „Torheit“ als Kritikerin der griechischen Philosophie die Frage, welches Gemeinwesen jemals die Gesetze Platons und Aristoteles’ oder die Lehre und Gedanken Sokrates’ übernommen habe. Die Antwort darauf war: Keines, denn alle seien zu sehr damit beschäftigt gewesen, dem Ruhm Roms nachzujagen.7 Die Frage nach dem Stellenwert griechischer Denktradition sollte großen Einfluss auf das Hauptwerk seines Gastgebers ausüben. Thomas More war einer der ersten, die in England griechische Elemente in die Literatur aufgenommen hatte. In seiner Utopia8 von 1516 finden sich diese sowohl in der Struktur als auch im Sprachgebrauch: Die jeweils 30 Familien vorstehenden Phylarchen waren nach athenischen Gerichtsvorstehern benannt und die Rotation der Syphogranten, des Rats der Phylarchen, erinnert an die athenische boule.9 Das im ersten Buch der Utopia erzählte fiktive Zusammentreffen von More und dem Reisenden Raphael Hythlodeus, der im Roman auf Utopia lebte, kann nach Eric Nelson schließlich als Konfrontation von verschiedenen Werten angesehen werden: In seiner Intepretation gab es einerseits Werte, die von einer römisch-republikanischen Tradition geprägt waren und bei welchen es um Freiheit als Unabhängigkeit sowie um den Ruhm des Gemeinwesens ging. Andererseits machte er aber auch Werte aus, die von einer griechischen Ethik beeinflusst waren und die nicht den Ruhm des Geimeinwesen, sondern die gute Regierung sowie das naturgemäße Leben und dem Streben nach Glück zum Ziel hatten.10 Im Tudor-England löste die Veröffentlichung von Thomas Mores Utopia eine regelrechte Flut monarchistischer Schriften aus, die sich gegen den Entwurf einer

4 Nutton : Linacre, Thomas (wie Anm. 2). 5 Roberts: Athens (wie Anm. 1), S. 138. 6 Erasmus, Desiderius: Mōrias enkōmion. Libellus vere aureus, nec minus eruditus, & salutaris, q[uam] festiuus, nuper ex ip[s]ius autoris archetypis dilige[n]tissime restitutus. Strasburgensis 1514. 7 Nelson, Eric: The Greek Tradition in Republican Thought. Cambridge 2005 (Ideas in Context 69), S. 30. 8 More, Thomas: Utopia. Hrsg. von George M. Logan. 5. Aufl. Cambridge 2006. Im Folgenden werden die Buchtitel (Utopia), nicht aber die Namen der Insel Utopia kursiv gesetzt. 9 Roberts: Athens (wie Anm. 1), S. 138. 10 Nelson: The Greek Tradition (wie Anm. 7), S. 21ff.



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Gesellschaftsordnung wandten, die politische und soziale Gleichheit vorsah.11 Der Humanist, Diplomat und Mitglied des king’s council unter Heinrich VIII., Thomas Elyot (ca. 1496–1546),12 der 1531 sein Boke Named the Governor13 veröffentlichte, erteilte darin zwar den Ratschlag, die griechische Sprache schon von Kindesbeinen auf zu erlernen, denn eine gute Bildung und Erziehung der Fürsten und deren Minister hielt Elyot für besonders wichtig. Ihm diente Athen jedoch als Beweis dafür, dass in einer Demokratie die besten Männer des Gemeinwesens aus den politischen Entscheidungen ausgeschlossen würden, die Demokratie, ähnlich der Interpretation Jean Bodins, ein Tier mit vielen Köpfen sei:14 An other publique weale was amonge the Atheniensis where equalitie was of astare amone the people/and only by theyr holle consent theyr citie and dominions were governed: whiche moughte well be called a Monstre with many heedes: nor never it was certeyne nor stable: and often tymes they banissed or flewe the beste citizins: whiche by their vertue and wisedome/bad moste profited to the publike weale.15

John Ponet (ca. 1514–1556), Bischof von Winchester, Theologe und Befürworter einer Gott wohlgefälligen Monarchie, beschäftigte sich in seinem Vorwort zu seinem Werk A Shorte Treatise of Politike Pouuer and of the True Obedience Which Subiectes Owe to Kynges and Other Ciuile Gouernors16 aus dem Jahre 1556 mit dem Untergang antiker Gemeinwesen. Seine Aufmerksamkeit galt dabei vornehmlich Rom, Assyrien sowie den griechischen poleis. Ponet ging davon aus, dass in den antiken Gemeinwesen die Regierung auf dem Axiom der Vernunft aufgebaut war, das die Zeitgenossen der Antike als ausreichendes Prinzip für eine gute Regierung erachtet hatten. Das Problem war nun jedoch, dass diese den einen wahren Gott nicht gekannt hätten, der für alle Menschen und für alle Zeiten festgeschrieben habe, was man tun und lassen solle. Nur die von Gott festgeschriebenen Regeln und Verhaltensnormen könnten einem Gemeinwesen demnach Bestand geben.17 11 Roberts: Athens (wie Anm. 1), S. 139. 12 Siehe Lemberg, Stanford: Elyot, Sir Thomas (ca. 1490–1546). In: Oxford Dictionary of National Biography. Online Edition 2008. http://www.oxforddnb.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/ view/article/8782 (03.05.2015). 13 Elyot, Thomas: Boke Named the Governor, Dev. by Thomas Elyot Knight. London 1531. 14 Roberts: Athens (wie Anm. 1), S. 138. 15 Elyot: Boke (wie Anm. 13), Buch 1, Kapitel 2, S. [o.A.]. 16 Ponet, John: A Shorte Treatise of Politike Pouuer, and of the True Obedience Which Subiectes Owe to Kynges and Other Ciuile Gouuernours, with an Exhortacion to All True Naturall English Men. [o.O.] 1556. 17 „Wher is the wisdome of the Grecianes? Wher is the fortitude of the Aßirianes? Wher is bothe the wisdome and force of the Romaynes become? All is wanished awaye, nothing almost lefte to testifie that they were, but that which well declareth, that their reason was not hable to gouerne them. Therfore were suche as were desirous to knowe the perfit and only gouernour of all, con-

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Elisabeths Minister Sir Thomas Smith (1513–1577) veröffentlichte 1565 eine Schrift mit dem Titel De Repvblica Anglorvm18. Darin nahm er die griechischen Unterscheidungen verschiedener Verfassungen auf. Er definierte die politeia als Gemeinwesen „where the multitude doth governe, the one they call a common wealth by the generall name πολιτειαν, or the rule of the people Δημοκρατιαν“.19 Davon unterschied er jedoch die entartete Form der Demokratie: „the other the rule of the usurping of the popular or rascall and viler sort, because they be moe [sic.] in number Δημοκρατιαν απαντων“.20 Athen, Sparta und Syrakus waren für ihn Beispiele dieser entarteten Form der Demokratie. In seiner Beschreibung dieser Gemeinwesen übernahm er große Teile des Wortlauts seiner Definition der entarteten Demokratie: For the usurping of the rascality can never long endure, but necessarily breedeth, and quickly bringeth forth a tyrant. Of this, hath Athens, Syracuse, of this hath Lacedemon and other old auncient ruling Cities had experience, and a man neede not doubt but that other common wealthes have followed the same rate.21

Der in Oxford ausgebildete Autor Thomas Floyd (15[??]–1603)22 diskutierte in seiner Abhandlung The Picture of a Perfit Common Wealth23 die verschiedenen politischen Systeme, wobei er dabei klar für eine monarchische Verfasstheit optierte. Anhand der Schweiz, Florenz’ und Athens führte er die Vergehen einer Demokratie vor. Dabei zog Athen die meiste Kritik auf sich:

strayned to seke further than themselues, and so at leynght to confesse, that it was one God that ruled all. … This rule is the lawe of nature, furst planted and graffed only in the mynde of man, … In this lawe is comprehended all iustice, the perfite waye to serue and glorifie God, and the right meane to rule euery man particularly, and all men generally: and the only staye to mayntayne euery commonwealthe.“ Siehe Ponet, John: A Shorte Treatise (wie Anm. 16), S. if. Vgl. auch Roberts: Athens (wie Anm. 1), S. 138f. 18 Smith, Thomas: De Repvblica Anglorvm. The Manner of Government or Policie of the Realme of Englande, Compiled by the Honourable Man Thomas Smyth, Doctor of the Civil Lawes, Knight, and Principall Secretarie vnto the Two Most Worthie Princes, King Edwarde the Sixt, and Queene Elizabeth. London 1583. 19 Smith: De Repvblica (wie Anm. 18), Buch I, Kapitel 3. 20 Smith: De Repvblica (wie Anm. 18), Buch I, Kapitel 3. 21 Smith: De Repvblica (wie Anm. 18), Buch I, Kapitel 4. 22 Vlg. Rigg, J. M.: Floyd, Thomas (fl. 1589–1603). Durchgesehen von Sarah E. Trombley. In: Oxford Dictionary of National Biography. Online Edition 2008. http://www.oxforddnb.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/view/article/9774 (03.05.2015). 23 Floyd, Thomas: The Picture of a Perfit Common Wealth, Describing aswell the Offices of Princes and Inferiour Magistrates ouer their Subiects towards their Gouernours. Gathered Forth of Many Authors, aswel Humane, as Diuine, by Thomas Floyd Master in the Artes. London 1600.



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… that Empire of Athens, in which Democratie aforesaid the seede of rashness & lawlesse lust held the superioritie: because in a disordinate multitude the fruites of displeasure, as hate, rebellion, sectes, & factions, and other heynous crimes must needs be nourished, by a confusion of misgouernment, for defect of one sole soueraigne, in whose handes the first & chiefest forme of government depended: which being rightly established, is termed a kingdome, or royaltie ...24

Während Lykurg von Floyd für seine Weisheit gelobt wurde, die Sparta eine über 500 Jahre währende Blütezeit eingebracht habe, wurde Athen dafür kritisiert, seine weisen Männer ausgeschlossen und ins Exil geschickt zu haben.25 Als Elisabeth Tudor 1603 starb, wurde auch ihr Freund und Vertrauter Sir Walter Ralegh (ca. 1554–1618) inhaftiert, weil er unter Verdacht stand, in einem Komplott gegen Jakob I. beteiligt gewesen zu sein. Dort begann er als „tower scholar“ um 1607 seine mehrbändige History of the World26 zu schreiben, die er schließlich 1614 veröffentlichte.27 Im dritten Buch seiner History behandelte er die griechische Geschichte, insbesondere den Verlauf des Peloponnesischen Krieges. Darin ernteten vor allem die Athener sein Missfallen, die aufgrund der Niedertracht der Volksmasse immer wieder den göttlichen Zorn auf sich gezogen hätten. Athen erscheint in der History als Agressor, der Krieg über ganz Peloponnes brachte. Die Niederlage bei der sizilianischen Expedition war für den Autor deshalb als verdiente Strafe für die Schlechtigkeit der Athener zu deuten, die zuvor Pythodorus sowie ihren militärischen Führer Sophokles (nicht mit dem Dichter zu verwechseln) mittels des Ostrazismus’ ins Exil geschickt hatten. Die von den Spartanern in Athen eingesetzten Dreißig Tyrannen waren für ihn demnach die Rache Gottes für die Niedertracht der Athener.28 Athen wurde in England im 16. Jahrhundert also vornehmlich von Verteidigern eines (christlichen) Königtums rezipiert, die sich gegen jegliche utopische Ideen wie etwa diejenigen Thomas Mores’ abzugrenzen suchten. Athen wurde dabei als warnendes Beispiel gegen die Herrschaft des Volkes angeführt. Dazu nutzen die Autoren vor allem religiös-moralische Argumente und folgten damit offensichtlich der Interpretation der im 16. Jahrhundert vielgelesenen Six livres 24 Floyd: The Picture (wie Anm. 23), Kapitel 4, S. 14ff. 25 Floyd: The Picture (wie Anm. 23), Kapitel 14, S. 83ff. sowie Kapitel 18, S. 120. Vgl. auch Roberts: Athens (wie Anm. 1), S. 139. 26 Ralegh, Walter: The History of The World. 2. Aufl. London 1614. 27 Nicholls, Mark u. Penry Williams: Ralegh, Sir Walter (1554–1618). In: Oxford Dictionary of National Biography. Online Edition 2008. http://www.oxforddnb.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg. de/view/article/23039?docPos=1 (03.05.2015). 28 Siehe Roberts: Athens (wie Anm. 1), S. 142. Siehe auch Ralegh: The History, 1. Teil, Buch 3, Kapitel 6–12, S. 59–155.

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de la republique Jean Bodins,29 wo ähnliche Argumente gegen eine Demokratie angeführt wurden und für den Athen die Missstände einer Volksherrschaft verdeutlichte.30 Das athenische Gemeinwesen wurde folglich als Demokratie interpretiert, jedoch war eine Demokratie nach Ansicht der genannten Autoren des 16. Jahrhunderts weder gottgewollt noch politisch stabil. Nur auf den eigenen Vorteil bedacht, schließe ein Volk seine besten Männer von den politischen Entscheidungen des Gemeinwesens aus, was dieses ins Verderben führe. Die Autoren folgten einer christlich-teleologischen Weltsicht, in der Gott als Akteur und im Falle Athens strafend in die Geschichte eingriff. Mit Ausnahme dieser Nennungen der griechischen und insbesondere der athenischen Geschichte, spielte Athen im englischen politischen Denken des 16. Jahrhunderts jedoch keine bedeutende Rolle. Wenn Athen überhaupt erwähnt wurde, dann zumeist im Zuge einer allgemeinen historischen oder politischen Abhandlung, die die Monarchie als gottgewollte Ordnung darstellen sollte. Es ist kein Gesamtwerk über Athen überliefert, ferner waren die Erläuterungen bezüglich Athens in den genannten Werken nicht sehr ausführlich. Erst im 17. Jahrhundert sollte die Rezeption Athens einen quantitativen und qualitativen Sprung erleben und innerhalb eines politisch-institutionellen Diskurses analysiert werden. Dies muss im Kontext der politischen Umwälzungen in England gesehen werden, die Fragen nach den Trägern der Souveränität aufwarfen: Die Konflikte zwischen Krone und Parlament entflammten als Karl I. 1639 versuchte, in Schottland das englische Gebetsbuch sowie die Bischofskirche mit Gewalt einzuführen und es daraufhin zu den sogenannten Bishops’ Wars mit den presbyterianischen Schotten kam, zu dessen Finanzierung er die Zustimmung des Parlamentes in London brauchte. Nach elfjähriger, erzwungener Untätigkeit desselben berief Karl das Parlament im April 1640 wieder ein. Letzteres wollte den geforderten Steuern nicht zustimmen und die finanzpolitischen sowie verfassungsrechtlichen Fragen grundsätzlich klären, woraufhin Karl dieses nach 22 Tagen wieder auflöste. Aufgrund der prekären finanziellen Lage der Krone musste Karl jedoch bereits im November desselben Jahres das Parlament wiederum einberufen.31 Seit 1640 war der Konflikt zwischen Parlament und Krone nun nicht mehr zu kontrollieren: Im Januar 1642 drang Charles gewaltsam ins Unterhaus ein, um den von ihm wegen Hochverrats angeklagten Mitgliedern habhaft zu werden. Damit verletzte Karl anerkannte parlamentarische Privilegien, was dem Ansehen des 29 Bodin, Jean: Les six livres de la republique. 6 Bde. Hrsg. von Christine Frémont. Paris 1986 (Corpus des œuvres de philosophie en langue française). 30 Siehe Kapitel II dieser Monographie. 31 Niedhart, Gottfried u. Hainer Haan: Geschichte Englands vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. 2. Aufl. München 2002, S. 166ff.

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Monarchen dermaßen schadete, dass dieser am 10. Januar 1642 London verlassen musste und die Hauptstadt erst fünf Jahre später als Gefangener des Parlamentes wiedersehen sollte. In Nineteen Propositions schickte das aufgrund von Uneinigkeiten um circa 40 Prozent reduzierte Parlament seine Forderungen an Karl. Als jener jedoch nicht auf die Forderungen eingehen wollte, stellten beide Seiten, nun ohne Hoffung auf eine friedliche Kompromisslösung, Truppenverbände auf, die im Oktober 1642 erstmals aufeinander trafen und schließlich den Bürgerkrieg eröffneten.32 Die Diskussion um die Prärogativen des Parlamentes und der Krone bildeten schließlich den Hintergund für die Debatte um politische Vorbilder, in der nun auch Athen in den Blick genommen wurde.

1 Civil government, Blüte und Niedergang: Francis Rous’ Athen-Darstellung Das erste Buch in England und in englischer Sprache, das das antike Athen zum Fokus der Abhandlung machte, wurde 1637 in Oxford veröffentlicht und von Francis Rous d. J. (1615–1643), Sohn des gleichnamigen Vaters und Politikers verfasst. In seinen Archaeologiae Atticae Libri tres33 beleuchtete dieser die antiken Überreste, die Kultur, die Bräuche sowie die Regierungsweise des antiken Athens. Rous’ Werk war in England schnell erfolgreich und wurde während und nach dem Bürgerkrieg mehrmals wiederaufgelegt. Die dritte Edition von 1649 wurde sogar durch vier Bücher von Zachary Bogan (1625–1659) erweitert.34 Als „Scholler of Merton Colledge“ in Oxford erachtete Rous die genaue Kenntnis des antiken Athens als unabkömmlich für die Erziehung und Bildung seiner 32 Niedhart: Geschichte (wie Anm. 31), S. 162–176. 33 Rous, Francis: Archaeologiae Atticae libri tres. = Three Bookes of the Attick Antiquities Containing the Description of the Citties Glory, Government, Division of the People, and Townes within the Athenian Territories, Their Religion, Superstition, Sacrifices, Account of Their Yeare, as also a Full Relation of Their Iudicatories. By Francis Rous Scholler of Merton Colledge in Oxon. Oxford 1637. Die Ausgabe von 1637 trug den Titel: Archaeologiae Atticae Libri Tres. Three Books of the Attick Antiquities. Containing, The Description of the Citties Glory, Government, Division of the People, and Townes within the Athenian Territories, Their Religion, Superstition, Sacrifices, Account of Their Yeare, as also a Full Relation of the Iudicatories. Die siebte Ausgabe von 1649 übernahm diesen Titel, erweiterte die Bücheranzahl von drei auf sieben und fügte den folgenden Titelzusatz an: With an Addition of their Customs in Marriages, Burialls, Feasting, Divination, & c. 34 Rous, Francis: Archaeologiae Atticae Libri Septem. Seaven Books of the Attick Antiquities. Containing, the Description of the Citties Glory, Government, Division of the People, and Townes within the Athenian Territories, Their Religion, Superstition, Sacrifices, Account of the Yeare, a Full Relation of Their Judicatories. With an Addition of Their Customs in Marriages, Burialls, Feastings, Divinations, & c. Third Edition Much enlarged. Oxford 1649.

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Zeitgenossen. Er kritisierte die Unwissenheit der Lehrer und Philosophen, die sich nur mit griechischer Philosophie beschäftigten, ohne etwas über die Sitten und Gebräuche der Athener zu kennen. In seiner Widmung an den Leser bestätigte er deshalb sein antiquarisches Interesse am antiken Athen.35 Dessen Geschichte zu kennen und zu verstehen war Rous deshalb besonders wichtig, weil es für ihn das kulturell bedeutsamste Gemeinwesen der Antike war. In seinen Ausführungen lobte der Gelehrte Athen für seine Errungenschaften in Philosophie, Kunst, Theater und politischer Eloquenz. In seinem Epistle schrieb er demnach: That Citie once the nurse of reason, which flourisht in eloquence, & braue atchieuments more then [sic.] all Greece, could not, unlesse in her miserable ruines, haue without her disgrace beene spoken of by me. … But you weigh well the excellency of talking with those Champians [sic.] of Learning, hundreds of years since gathered to their former dust. By whose pensils wee see drawne the liuely images of deceased Monarchs, the formes of government, and very liues of states.36

Rous wollte mit seiner Abhandlung erörtern, was die Blütezeit, aber auch den Niedergang Athens begründete. Im ersten Buch behandelte der Autor deshalb die Anfänge Athens und seine politische Geschichte. Darin machte er deutlich, dass Athen erst dann seinen Namen erhalten habe, als das Volk begann, sich ernsthaft mit Selbstverwaltung und Selbstregierung sowie mit der Studie der Künste und der guten Literatur zu beschäftigen: „I conjecture that first it was called Athens, when the people began more seriously to addict themselves to civill government, and studie of good literature; knowledge and art being ascribed to Minerva.“37 Im zweiten Buch erklärte Rous dann die religiösen Vorstellungen und Bräuche der alten Athener, im dritten stellte er schließlich die politischen Institutionen des Stadtstaates dar, wobei der inhaltliche Schwerpunkt auf der athenischen boule lag, die der junge Gelehrte als Senat bezeichnete, und die er mit dem englischen Parlament verglich. Rous, dessen Analyse sich nicht nur aus antiken Quellen speiste, kannte auch zeitgenössische Arbeiten zu Athen: Die Veröffentlichun35 „It is not a thirst of empty glory that makes me runne hazard of your censure, but a consideration of the weaknesse of School.masters, [sic.] who undertake to read the Greeke Orators to raw Schollers, themselves being not ripe in the Attick customes. I have therefore so far endeavoured as you see.“ Rous: Archaeologiae (wie Anm. 33), To the Reader. 36 Rous: Archaeologiae (wie Anm. 33), The Epistle. 37 Rous: Archaeologiae (wie Anm. 33), I, 1, S.  5. Siehe bezüglich der Verbindung von „civil government“ und der kulturellen Blüte Athens, auch Zabel, Christine: The Polis in 17th Century Political Discourse: Athens Mirrored by Francis Rous, Marchamont Nedham, George Guillet de Saint-Georges and Jonathan Swift. In: The Liberal-Republican Quandery in Israel, Europe and the United States: Early Modern Thoughts Meets Current Affairs. Hrsg. von Thomas Maissen u. Fania Oz-Salberger. Brighton/Mass. 2012. S. 49–65.

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gen aus dem holländischen Hause Elzevier sowie die Arbeiten des Franzosen Guillaume Postels waren ihm ebenfalls bekannt.38 Die ersten drei Bücher der erweiterten Ausgabe von 1649 sind, von Veränderungen in der Rechtschreibung abgesehen, mit der ursprünglichen Abhandlung identisch. Bogan, der die drei Bücher von Rous um kulturelle Bräuche, wie die Ehe-, Grab-, Feier- und Wahrsage-Riten erweiterte, war ein Kenner alter Sprachen, vor allem aber des Hebräischen. Seine additiven Bücher, die während der Bürgerkriegsjahre verfasst wurden, widmeten sich zwar ausschließlich den antiken Bräuchen und ließen keine politische Stellungnahme deutlich werden, veränderten jedoch auch den politischen Gehalt von Rous’ Büchern nicht. Bogan schien, so lassen seine Reaktionen schließen, der Position der Parlamentarier näher: Wie Rous studierte Bogan in Oxford, hatte sich aber, als die Universitätsstadt 1641 eine royalistische Garnison wurde, auf das elterliche Gut zurückgezogen. Erst als die Parlamentarier die Stadt 1646 wieder einnahmen, kehrte er an die Universität zurück und beendete sein Studium.39 Rous ließ seine politische Position in seinen Büchern dagegen deutlicher werden. Für ihn stand nicht der Areopag als Exekutive und oberster Hüter der Gesetze in Athen im Zentrum des politischen Regimes, sondern der athenische Rat, die boule, die der Engländer alternierend „Council“ oder „Senate“ nannte. In seinen Büchern stellte er deren Kernkompetenzen heraus: „The authority of this Councel was great, for it handled causes of war, tributes, making of Lawes, civill businesses and events, affaires of confederates, collections of money, performance of sacred rites, accounts of offices discharged, appointing keepers for prisoners, and … of Orphans ….“40 Die Prärogrativen, die Rous dem athenischen Rat zuerkannte, erinnern stark an diejenigen, die das englische Parlament in der Auseinandersetzung mit der Krone für sich beanspruchen wollte, namentlich die Steuerhoheit sowie die Entscheidungsmacht in Sachen der Religions- und Außenpolitik. An diese Textstelle anschließend verglich er die athenischen boule explizit mit dem Großen Rat in Venedig sowie mit dem englischen Parlament und stellte damit dessen politische Kompetenzen heraus: Resembling our Court of Parliament in England, by whose consent all Lawes are abrogated, new made, right and possessions of private men changed, formes of religion established, Subsides, Tailes, Taxes, and impositions appointed, waights and measures altered, & c. As 38 Rous: Archaeologiae (wie Anm. 33), I, 4, S. 19. Siehe zu den Veröffentlichungen des Hauses Elzevier sowie zu den Arbeiten Guillaume Postels Kapitel II. 39 Quehen, Hugh de: Bogan, Zachary (1625–1659). In: Oxford Dictionary of National Biography. Online Edition 2008. http://www.oxforddnb.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/view/article/2763 (03.05.2015). 40 Rous: Archaeologiae (wie Anm. 33), S. 107.

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not unlike also the Venetian Gran Consiglio, or Senate, of which the Contarene. d [sic.] … The whole manner of the Common wealths government [the Athenians’ government – Anm. d. Verf.] belongeth to the Senate. That which the Senate determineth is held for ratified and inviolable. By their authoritie and rule is peace confirmed & war denounced. The whole rents an receipts of the Commonwealth at their appointment collected and gathered in, and likewise laid out againe and defrayed, & c.… that Court is most ample, and iustly and equally decided all sorts of controversies whatsoever.41

In Rous’ Lesart lag die Regierung Athens also in den Händen des Senats (boule), der für ihn die Gesetze beriet und die politischen Entscheidungen traf. Diese Interpretation entsprach auch seiner Deutung des englischen Parlaments, das für ihn schließlich die souveräne, geseztgebende Institution war. Alle Steuererlasse und alle Entscheidungen in Religionsangelegenheiten müssten deshalb von diesem genehmigt werden. Rous’ Ausführungen bezüglich der Kompetenzen des athenischen Senats sowie des englischen Parlamentes erinnern zudem an Bodins Kriterien der Souveränität. Bodin hatte nach dem Hauptmerkmal der Souveränität, der Gesetzgebung, unter anderem auch die fiskalischen Rechte als Souveränitätsmerkmale genannt.42 Dass Rous sich offensichtlich mit den Souveränitätskriterien beschäftigte und die athenischen boule mit dem englischen Parlament verglich, spiegelt den seit den 1630er Jahren in England schwelenden Konflikt zwischen Krone und Parlament und verdeutlicht die politische Brisanz der Souveränitätsfrage. Rous erörterte deshalb genau, welche athenische Institution über die Gesetzgebungskompetenz verfügte, wie die athenischen Gesetze entstanden und welche Gesetzestypen unterschieden werden müssten. Dabei kam er zum folgenden Ergebnis: Of decrees there were two sorts; … such as the Senate by it selfe established, which were but of twelve moneths continuance; to the confirming of which, the people were not convocated, or their consent required ... In other decrees the opinion and good liking of the people was asked, for the giving of the authority unto them, which endured in force a longer time. … The Senate alwaies sate in consultation about that which was to be enacted, whether any damage might accrew to the State by it or no, the Law commanding that no decree should goe forth without deliberation.43

Die Athener hatten in Rous’ Lesart je nach Gesetzestyp zwei Möglichkeiten im Gesetzgebungsprozess: Im einen Fall entschied der Rat allein ohne das Volk zu 41 Rous: Archaeologiae (wie Anm. 33), S. 107ff. 42 Siehe Maissen, Thomas: Die Geburt der Republic. Staatsverständnis und Repräsentation in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft Göttingen 2006 (Historische Semantik 4). S. 51, sowie Bodin: Les six livres (wie Anm. 29), I, 10, S. 306–340. 43 Rous: Archaeologiae (wie Anm. 33), III, 1, S. 99.

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befragen; im anderen wurde das Volk versammelt, wonach der Rat dann anschließend über die Nützlichkeit des Beschlusses und der damit einhergehenden Gesetze beriet. Für Rous war also, anders als für Machiavelli oder Bodin, nicht die Volksversammlung entscheidendes souveränes Organ Athens, sondern der Rat. Auf die Autoritäten Aristophanes’ und Demosthenes’ verweisend, machte der Engländer deutlich, dass auch das athenische Volk nichts gegen die Entscheidungen des Rats einwenden konnte, dass aber der Rat andererseits auch stets das Interesse des Volkes im Sinn hatte. Rous überintrepretierte also die Funktion der boule und schrieb ihr die Hauptkompetenzen der Gesetzgebung zu sowie die Regierungsfunktion des athenischen Gemeinwesens. Indem der Gelehrte den athenischen Rat mit dem englischen Parlament verglich, unterstrich er die gesetzgeberische Funktion des englischen Parlamentes und damit dessen Souveränität. Die Notwendigkeit, sich gegen die Übergriffe des Königs zu verwehren, zeigte sich aus Sicht der Parlamentarier schließlich durchaus in den 1630er Jahren.44 Um die bedeutende Rolle der boule zu legitimieren, war diese in Rous’ Interpretation eng mit der Volksversammlung und damit auch mit dem Volkswillen verbunden. An dieser Stelle erklärte der Oxforder Gelehrte, wie die Athener ihren Willen erklären und politische Entscheidungen diskutieren konnten: that some certaine daies before the Sessions, any Citizen might read what was to be handled; and if any so pleased, he might at the proposall of the Law declare his minde either for, or against it, as at the preferring of a Bill in our High Court of Parliament, where it as not denyed any Burges, or Knight of a shire, to speak his opinion pro or con ….45

Die Funktion der öffentlichen Diskussion in der Volksversammlung, an der jeder Bürger Athens, der über 30 Jahre zählte,46 teilnehmen konnte, verglich Rous wiederum mit den Aufgaben des englischen Parlamentes, das für die politische Meinungsbildung und die Debatte der Gesetzentwürfe („bills“) zuständig sei. Dies spiegelte diejenige Auffassung wider, die das englische Parlament als Vertretung und repräsentatives Organ des englischen Volkes betrachtete. Das englische Parlament hatte in der Lesart des Gelehrten also Funktionen, die vormals in Athen von Volksversammlung und Rat geteilt wurden. 44 Seit dem Mittelalter sollte der englische König von seinen Einnahmen aus den Kronländereien leben, die ihm das Parlament für seine Regierungszeit gestattete. Darüber hinausreichende Einnahmequellen mussten vom Parlament gesondert bewilligt werden. Siehe Niedhart: Geschichte (wie Anm. 31), S. 153f. 45 Rous: Archaeologiae (wie Anm. 33), III, 1, S. 101. 46 Rous betont dieses Mindestalter: „Nay the Scholiast of Aristophanes tels [sic.] us that greene heads were not permitted to speak publickely. The Law prohibiting any to attempt it under fortie, or as some say (which is truest) thirtie ...“ Siehe Rous: Archaeologiae (wie Anm. 33), III, 3, S. 105.

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Die enge Verbindung der englischen politischen Entscheidungsträger zu dem von ihnen repräsentierten Volk verdeutlichte Rous durch eine weitere Gemeinsamkeit zwischen athenischer boule, venezianischem consiglio und englischem Parlament: Ihre Mitglieder wurden gewählt. Die Auswahl der athenischen Ratsmitglieder nach Stämmen interessierte Rous dabei besonders. Durch ihren Eid hätten sich die Amtsinhaber dann dem Gemeinwohl der Athener verpflichtet und versprochen, Frieden und Freiheit zu wahren und niemals eine Tyrannei einzuführen.47 Jedes Ratsmitglied habe sich damit dem Ziel verschrieben, die Demokratie aufrechtzuerhalten, keine ungebührliche Macht an sich zu reißen, unparteiisch zu sein, das eigene Amt nach einem Jahr wieder abzugeben, Privatbesitz zu schützen, keine Staatsfeinde zu unterstützen sowie die Rechte und Gesetze des Gemeinwesens zu wahren.48 Der Autor betonte an dieser Stelle die Bedeutung der „customs“ für die Athener, obwohl diese im Gegensatz zu den Lakedmämoniern geschriebene Gesetze (jedoch keine geschriebene Verfassung) hatten: For although the Lacedamonians governed by tradition of custome and the Athenians by written statues, … yet surely had their customes great force … so did the Greekes divide their Law into …, written and unwritten. … A Law is a written custome, and a custome an unwritten Law. Besides these there were decrees, which they termed. … A Law maintaines iustice once found, common for ever. …And here ought we to note, that no decree is greater then [sic.] a Law.49 47 „I will give sentence according to the Lawes, and decrees of the people of Athens, and Councell of five hundred; I will not consent to bee a Tyrant, or bring in an Oligarchie: Neither shall my approbation be to any that will dissolue the Democracie of Athens by speech of decree I will not cut off private use, or suffer a division of the Athenian lands or houses. I will not bring back exild men, or those that are condemned. I will not thrust out of the citie any innocent against the Lawes and Statutes of the Athenians and Senate of five hundred; neither by my selfe or suffer any other. I will not create a Magistrate, who hath not given an account of his former office, whether of the nine Archons, or agents for the holy things, or they, who at the same day are chosen with the nine Archons by lot, Ambassadors and assistants. Neither shall the same man beare the same office twice, or two in one yeare. I will not take gifts for iudgement, weither my selfe or other for me, or other with my privacy, by fraud or deceit. I am not younger then thirtie. I will hear both parties, the accuser & defendant alike, I will passe iudgement aright on the thing prosecuted.“ Rous: Archaeologiae (wie Anm. 33), III, 3, S. 106. 48 Nach der Erfahrung der von den Spartanern eingesetzten dreißig Tyrannen, habe es, so Rous, zudem noch folgenden Eid gegeben: „To give counsell for the best of the people. To advise according to the Laws. I will not binde any Athenian who shall give three sureties of the same revennewes, unlesse for treason, or hee conspire the subversion of the state popular, or buy custome, or be engaged, or gather publique money and not pay it. I will sit in that order which lot shall direct me to. I will not permit any unless banished, to be acused or imprisoned for what is past.“ Siehe Rous: Archaeologiae (wie Anm. 33), III, 3, S. 106f. 49 Rous: Archaeologiae (wie Anm. 33), III, 1, S. 99.

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Hier wird eine Parallele von Rous’ Ausführungen zur englischen Rechtsphilosophie deutlich: Wie John Pocock in seiner 1987 überarbeiteten Fassung der Ancient Consitution and the Feudal Law50 beschrieb, nahmen englische Rechtsgelehrte des 17. Jahrhunderts an, dass das „common law“ das einzige Recht sei, das in England Geltung habe. Dies habe die Zeitgenossen dazu verleitet, die Vergangenheit so zu interpretieren, als hätte man schon immer nach denselben Rechtsmaßstäben regiert. „Common law“ war demnach ein Gewohnheitsrecht („customary law“), dem ein unerinnerbarer („immemorial“) Charakter innewohne. Die Interpretation der legalen, verfassungsrechtlichen sowie nationalen Geschichtsschreibung wurde demnach in den „common-law“-Schulen gepflegt und avancierte zu einem weit verbreiteten Interpretationsrahmen der englischen „gentry“.51 Diese „common-law“-Schulen verdankten Sir Edward Coke (1552–1634) ihre klassischen Formulierungen und Annahmen, die sich zwischen 1550 und 1600 verfestigten und fortan geronnene Grundannahmen beinhalteten, die von Pocock folgendermaßen zusammengefasst wurden:52 Das „common law“, das als Gewohnheitsrecht („customory law“) interpretiert wurde, regelte das Verhältnis von Regierenden und Regierten. Dieses Gewohnheitsrecht galt wiederum als unerinnerbar alt. Damit konnten Recht und Gesetz nur durch die Annahme eines noch älteren Rechtes, mit dem Verweis auf die „ancient constitution“ etwa, geändert werden.53 Pocock führt ferner aus, dass diese Annahmen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts schon konsolidiert und schließlich bereits unter Jakob I. weit verbreitet waren.54 Für den englischen Poeten und Rechtsgelehrten, Sir John Davis (1569–1626), den späteren Attorney-General für Irland, war das „common law“ damit Garant für die Rechte des Volkes. Nur geschriebenes Recht, das meist von einem Monarchen bzw. einzelnen Personen gemacht werde, könne, so Davis, das Volk in seinen Rechten beschneiden. Das durch die Zeit gerechtfertige, unge-

50 Pocock, John G.: The Ancient Constitution and the Feudal Law. A Study of English Historical Thought in the 17th Century. Cambridge [u.a.] 1957. 51 Pocock: The Ancient Constitution (wie Anm. 50), S. 30f. 52 Pocock: The Ancient Constitution (wie Anm. 50), S. 30ff. Glenn Burgess führt den nicht erinnerbaren Charakter ebenfalls explizit aus. Er verweist dabei auf drei Hauptelemente der „ancient constitution“: „custom“, „continuity“ und „balance“. Siehe Burgess, Glenn: The Politics of the Ancient Constitution. An Introduction to English Political Thought 1603–1642. Basingstoke, Hampshire [u.a.] 1992, S. 4. 53 Siehe Pocock: The Ancient Constitution (wie Anm. 50), S.  261. Siehe Burgess: The Politics (wie Anm. 52), S. 4. 54 Pocock: The Ancient Constitution (wie Anm. 50), S. 262.

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schriebene Recht könne dagegen die Rechte des Volkes und damit den commonwealth wahren.55 Auch François Hotman (1524–1590) hatte die alten Rechte der französischen Generalstände gegenüber der französischen Monarchie mit dem Argument der von alters her geltenden Verfassung verteidigt. Er hatte proklamiert, dass Recht sowohl der Natur als auch den Verhältnissen des Volkes entsprechen müsse und dass nur das (ungeschriebene) Gewohnheitsrecht dieser Forderung nachkomme. Davis nahm diese Interpretation auf und wandte diese explizit auf das englische „customary law“ an.56 Geschriebene Gesetze konnten damit nur die Weisheit eines Mannes oder einer Generation widerspiegeln, wohingegen ungeschriebene Gesetze, die durch Erfahrung geronnene Weisheit vieler Generationen und sogar Jahrhunderte in sich trugen und damit auf die verschiedensten Anforderungen und Fragen antworten konnten. Davis idealisierte also das „customary law“, das die individuelle Weisheit eines Königs oder auch eines Parlamentes, dessen Gesetzgebung mit der Zeit unaktuell oder obsolet werden konnte, überstieg. Die Rechtsgelehrten, die daran festhielten, dass das „common law“ also „customary law“ war, kamen schließlich zu dem Ergebnis, dass das „common law“ und damit auch die Verfassung, immer dieselbe gewesen sei und auch bleibe und dass es deshalb unvorstellbar sei, einen Ursprung dieser Verfassung auszumachen. Das „common law“ ging also dem Erinnerbaren voraus und darüber hinaus. In diesem Zusammenhang wurde auf die „ancient constitution“ verwiesen, die nach dieser Interpretation immer die gleiche gewesen, gleichzeitig aber auch nicht erinnerbar sei. „Customory law“ konnte also keinesfalls „written law“ sein. Der alte, nicht erinnerbare Charakter galt somit als Schutz gegen alleinherrschaftliche Eingriffe.57 Gemäß dieser historischen Auffassung, nach der das ungeschriebene „common law“ ein sehr altes, hergekommenes Recht war, erschienen die Forderungen von Seiten des Parlamentes nach Privilegien und Rechten, die man in der Gegenwart beanspruchte, als Forderungen, die schon seit je her formuliert worden seien. Dies erklärt auch das in der Vor-Bürgerkriegszeit verstärkte Interesse an historischen Präzedenzfällen und Beispielen. Dieses Interesse spiegelte die Tendenz, davon auszugehen, dass es ein fundamentales Recht gäbe, dessen Bewahrer und Schützer nur das Parlament sein konnte, dass also nur das Parlament souverän sei. Diese Deutung einer „ancient constitution“ verfestigte sich gemäß der Analyse von Pocock vor allem während der Unterhaus-Debatten um

55 Pocock: The Ancient Constitution (wie Anm. 50), S. 32f. 56 Pocock: The Ancient Constitution (wie Anm. 50), S. 35. 57 Pocock: The Ancient Constitution (wie Anm. 50), S. 36f.

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die Petition of Right, in der die Magna Charta einen besonderen Platz eingenommen hatte.58 Im Kontext des in den 1630er Jahren aufflammenden Konflikts zwischen Krone und Parlament bezog Rous als Sohn eines Parlamentsmitgliedes Position und versuchte, die Prärogativen des englischen Parlamentes zu stärken. Bereits Francis Rous’ gleichnamiger Vater, der ältere Halbbruder des Parlamentführers John Pym (1584–1643), sprach sich 1629 während der Bishops’ Wars in einer Unterhausrede, die zum einen an die Parlamentsmitglieder, zum anderen an die Öffentlichkeit gerichtet war, gegen das Vorgehen des englischen Königs aus.59 Auch Rous d. J., Autor der Bücher über Athen, betonte das ungeschriebene Recht Athens, das athenische „customary law“ also offensichtlich deshalb, weil er so die Einsprüche des Parlamentes gegen den Machtmissbrauch des englischen Königs stärken und legitimieren wollte. Dazu schrieb er Athen Vorbildcharakter zu, er analysierte die Funktionen des athenischen Rates und verglich diese mit den Kompetenzen des englischen Parlamentes. Indem er auf Aeschines und Polybios verwies, erklärte Rous, dass eine monarchische Einzelherrschaft in der Antike als Tyrannei verstanden worden sei: „The ancients had but three sorts of government. Tyrannis, Democratia Oligarchia … where although the one names it a Tyrannis or Tyranny, the other βαπλεία the rule of a king, yet must we understand the same. For in old time all Kings were called Tyrants …“60 Und in Bezug auf Athen bezeugte er: „But all are accounted and called Tyrants, who have perpetual authority in that Citie, which formerly had enjoyed liberty. The deprivation of which causing murmuring and rebellion …“61 Ein Tyrann war also nach Rous ein Alleinherrscher, der immerwährende Autorität für sich beanspruchte. Die Tugend der Bürger sei in Athen dagegen durch den Areopag garantiert worden. Er habe die Ausführung und Anwendung der Gesetze im Alltag überwacht. Die Zügellosigkeit junger Männer sei vom Areopag geahndet worden.62 Rous verdeutlichte:

58 Pocock: The Ancient Constitution (wie Anm. 50), S. 42-49. 59 Woolrych, Austin: Britain in Revolution 1625–1660. Oxford 2002. 60 Rous: Archaeologiae (wie Anm. 33), I, 7, S. 28. 61 Rous: Archaeologiae (wie Anm. 33), I, 7, S. 29. 62 „Neverthelesse their Areopagus, who had the power of all things consisted of Iudges that were Priests, and the High Priest of all that asked every of their sentences took the suffrages. Their authority was unlimited. For they were overseers of all, Iudges of wilfull murthers, wounds given out of pretended malice: which would make some, having a desire to drive a man out of Athens … They saw that the Lawes sould be put in execution… They inquired into the behaviours of men; and we read in Xenophon that they sharply reproved a young man for his loose living.“ Siehe Rous: Archaeologiae (wie Anm. 33), III, 3, S. 125.

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There is likewise in that Citie the most sacred Councell Areopagus, where they were wont most diligently to enquire, what every of the Athenians did, by what gaine he maintained himselfe, and what his trade and actions were. That men, knowing and remembring that once they must give an account of their lives, might embrace honestie. … For if any one say, quoth Tully, that the Attick Republique can be well governed, without the councell of the Areopagites, he may as well say that the world may bee governed without the providence of God.63

Die athenische Jugend wurde, so interpretierte dies Rous, von der gesamten politischen Gemeinschaft und insbesondere durch die Kontrolle des Areopags in die richtigen Bahnen gelenkt und geführt. Hieran zeigte sich für ihn eine deutliche Diskrepanz zur Erziehung der Jugend in England, wo der Adel seine Zöglinge an die Innes of court, die Rechtsschulen schickte, wo sie höfisches Benehmen und ein der Krone dienliches Rechtsverständnis lernten. Damit war die Sorge um die Ausbildung der künftigen Führungskräfte nicht der politischen Nation, sondern nur dem höfischen Umfeld angetragen – eine Praxis, die Rous an dieser Stelle kritisierte. Seine Landsleute folgten zum Bedauern des Gelehrten damit nicht dem athenischen Beispiel.64 Der Athenkenner betonte dagegen noch einmal die gute Arbeit des Areopags und die gerechten Entscheidungen, die dieser getroffen habe: „For so upright was their sentence, that none, either Appellant or prisoner, could ever say, that he was uniustly condemned.“65 Rous beklagte die Abwesenheit dieser Einrichtung in seinem eigenen Land und wünschte, dass der Hof einen geringeren Einfluss auf die Sitten und das Benehmen der Jugend ausübe, die doch einmal die Führung des Landes übernehmen sollte. Athen war für Rous als ein Vorbild der Tugend, das England dringend brauchte. Wenn es in England zu Unzufriedenheiten komme, dann war dies in seiner Analyse der fehlerhaften Erziehung des höfischen Umfeldes geschuldet. Rous versuchte durch Beispiele aus der athenischen Geschichte die Rechtsposition des englischen Parlamentes zu stärken. Athen eignete sich für ihn gerade deshalb als Vorbild, da es bewiesen hatte, dass es durch die Selbstbestimmung und Selbstregierung seiner Bürger kulturell erfolgreich war. Rous verband also die politische Freiheit mit kultureller Blüte. Dementsprechend sah er den Grund für das Ende dieser Blütezeit auch in der Veränderung des politischen Regimes, weg vom „civil government“. Ferner übte der Gelehrte anhand Athens Kritik am Einfluss des englischen Hofes und forderte mindestens implizit, dass die Erziehung der Jugend in den Händen der politischen Nation liegt, deren Vertreter für ihn das englische Parlament war. 63 Rous: Archaeologiae (wie Anm. 33), III, 3, S. 125. 64 Rous: Archaeologiae (wie Anm. 33), III, 3, S. 126. 65 Rous: Archaeologiae (wie Anm. 33), III, 3, S. 129.

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Möglicherweise als Reaktion auf Rous’ Abhandlung brachte Leonard Lichfield (bap. 1604–1657), Inhaber der offiziellen Druckerei der Universität von Oxford, im Jahre 1643 ein Traktat mit anonymen Verfasser zum Thema The Rise and Fall of XXX. Tyrants of Athens heraus.66 Dass dieses einen aktuellen politischen Bezug hatte, bezeugte bereits der Untertitel: Fitly Applyed to the Tyrants of Our Time. Im Traktat wurde also eine Episode der athenischen Geschichte, nämlich diejenige der Herrschaft der Dreißig, auf die aktuelle politische Situation in England angewendet. Da der Verfasser unbekannt ist, kann möglicherweise der Drucker, Leonard Lichfield, weitere Auskunft über das Umfeld des Autors geben: Lichfield folgte 1642 der königlichen Besatzung der Universitätsstadt und brachte anschließend eine große Anzahl von königlichen Deklarationen und Proklamationen heraus. Sein Haus wurde 1644 durch ein Feuer zerstört, dennoch führte Lichfield seine Arbeit weiter fort, obwohl er seit dem Sieg der parlamentarischen Truppen 1644 nicht mehr für seine offiziellen Tätigkeiten bezahlt werden konnte. Als 1649 der Council of State sein Amt aufnahm, legte dieser ihm, um Lichfields Wirken im Sinne der englischen Monarchie wissend, den Befehl auf, keine aufrührerischen und unzensierten Bücher mehr zu drucken.67 Lichfield setzte sich in den innerenglischen Auseinandersetzungen also auf Seiten der Krone ein. Auch wenn der Verfasser des Traktates unbekannt bleibt, wird schnell klar, dass der Text von einem Parteigängers Karls I. geschrieben wurde und sich gegen eine Suprematie des Parlamentes wandte. Der Text nimmt dabei direkte Belange der innerenglischen Diskussion um die Souveränität und die Tradition des englischen Rechtes und Verfassungssystems auf. Er beginnt mit folgenden Ausführungen: „The Thirty Governours, commonly called the Thirty Tyrants of Athens, were chosen at the first by the people to compile a body of their Law, and make a collection of such ancient Statues as were meet to be put in practices; the condition of the City standing as it did in that so sodain alteration.“68 Im Traktat erscheinen die Dreißig, die nach der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg vom spartanischen Heerführer Lysander unterstützt worden waren und die Macht in Athen an sich gerissen hatten, als vom athenischen Volk ernannte „Governours, commonly called the Thirty Tyrants“. Diese werden hier als Vertretung des Volkes interpretiert, die ein Korpus („body“) aus dem atheni66 Anonymus: The Rise and Fall of the XXX. Tyrants of Athens. Fitly Applied to the Tyrants of our Time. Seen and Allowed. Oxford 1643. 67 Siehe Robert, R. Julian: Lichfield, Leonard (bap. 1604, d. 1657). In: Oxford Dictionary of National Biography. Online Edition 2008. http://www.oxforddnb.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg. de/view/article/16636?docPos=1 (03.05.2015). 68 Anonymus: The Rise (wie Anm. 66), Spalte 1.

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schen Recht geschaffen und die „ancient statues“ versammelt hätten. Der Autor beklagte nun, dass zu dieser rechtssetzenden Funktion noch eine weitere Prärogative hinzugekommen sei: „To this Charge was annexed the Supream authoritie, either as a recompence of their labours, or because the necessity did so require it, wherein the law being uncertain, it was fit that such men should give judgement in particular Causes, to whose judgement the very Lawes themselves (by which the Citie was to be ordered) should become subject.“69 Für den Verfasser bestand das Problem darin, dass die dreißig Oligarchen auch die oberste Gerichtsbarkeit bei Rechtsstreitigkeiten ausübten und alle Bürger Athens somit ihren Entscheidungen unterstellt waren. Dies habe den Dreißig eine Machtfülle gegeben, die das athenische Gemeinwesen, so ließ es der gesamte Text deutlich werden, ins Verderben führte: „But the thirty having so great power in their hands, were more carefull to hold it, then to deserve it, by faithfull execution of that which was committed to them in trust.“70 Die sogenannten Tyrannen hätten außerdem nicht ausreichend gut für die Anliegen des Volkes gesorgt und seien mehr an der Erhaltung der eigenen Macht interessiert gewesen als an einer guten Herrschaft. Im Folgenden führte der Verfasser die Art und Weise dieser Herrschaft aus und machte ihre Konsequenzen deutlich: Die Tyrannen haben ihre politischen Gegner des Landes verwiesen, wohlhabende Bürger enteignet und Blut und Krieg über das eigene Volk gebracht. Hereupon the Tyrants began to take heart, and looking no more after base and detested persons, invaded the principall men of the Citie, sending armed men from house to house, who drew out such as were of great reputation, or likely, or able to make any head against this wicked form of Government: whereby there was such effusion of blood.71

Der Verfasser definierte – anders als Rous – eine Tyrannei nicht als Herrschaft eines Einzelnen, sondern als schlechte oder ungerechte Herrschaft. Nach Ansicht 69 Anonymus: The Rise (wie Anm. 66), Spalte 1. 70 Anonymus: The Rise (wie Anm. 66), Spalte 1. 71 Anonymus: The Rise (wie Anm. 66), Spalte 1. Und weiter: „After the death of Thermanenes, the 30 Tyrants began to use such outrage as excelled their former villanies, for having 3000 (as they thought firm unto them, they robbed all others without fear or shame, despoiling them of lands and goods, and caused them to flie into banishment, for safeguard of their lives; This flight of the Citizens procures their liberty, and the generall good of the City. For the banished Citizens, who were fled to Thebes, entered into consultation, and resolved to hazard their lives in setting free the City of Athens. … It may well seem strange, that whereas their barbarous manner of Government had brought them into such danger, they were so far from seeking to obtain mens good will, that contrawise, … they got all of the place that could bear Armes, into their hands by a traine, and wickedly (tough under form of justice) murdered them all.“ Anonymus: The Rise (wie Anm. 66), Spalte 2.

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des Autors war die Regierung dieser Dreißig deshalb eine tyrannische Herrschaft, weil sie weder zum Besten des Volkes noch der Gerechtigkeit gedient, sondern nur Eigeninteressen verfolgt habe. Damit hatten die Dreißig für ihn anstatt Frieden und Sicherheit zu gewährleisten, Blut und Verderben über ihr Land gebracht. Dass der Autor damit offensichtlich auf politische Akteure seiner eigenen Zeit verweisen wollte, ist schon durch den Untertitel offensichtlich. Geht man vom selben Verfassungsjahr aus wie das Druckdatum, also 1643, dann schrieb der Verfasser sein Traktat nachdem das aufgrund innerer Spaltungen reduzierte Parlament seine Forderungen in den Nineteen Propositions zum Ausdruck gebracht hatte, woraufhin sich die Auseinandersetzungen dermaßen zugespitzt hatten, dass nun beide Konfliktparteien erstmals Truppen aufstellten.72 Indem nun also die athenische Geschichte auf die eigene Zeit angewandt wurde, verwies der Verfasser offensichtlich auf das nun reduzierte englische Rumpfparlament. Mit den dreißig Tyrannen waren augenscheinlich die radikalen Vertreter des Parlamentes gemeint, möglicherweise die Levellers. Deren Mittel, politische Opponenten aus dem Weg zu räumen, erscheinen durch die Schablone der athenischen Geschichte als unverhältnismäßiges und ungerechtes Kalkül. Möglicherweise erinnert der Traktat an dieser Stelle an die Hinrichtung von Karls Minister, dem Earl of Stafford, die das Parlament von Karl gefordert hatte. Das Flugblatt bot also folgende Lesart an: Eine Herrschaft der Rumpfparlamentarier führt zu Ermordungen, Blutvergießen und schließlich auch zu unrechtmäßigen Enteignungen. Der Traktat übte jedoch nicht nur Kritik, sondern versuchte auch Lösungen und Kompromisse anzubieten: Um sich von dieser Unrechtsherrschaft zu befreien, votierte der Autor für den Weg, der auch die Athener aus ihrer Not befreit habe: The remainder of that tyrannical faction having withdrawn …, were shortly after found to attempt some innovation, whereupon the whole City rising against them, took their Captains as they were comming to parley, and flew them: which done, to avoid further inconvenience, a law was made, That all injuries past should be forgotten, and no man called into question so wrongs committed. By which order wisely made, and carefully observed, The City returned to her former quietnesse.73

Die Einwohner der Stadt Athen hatten sich, so der Autor des Traktats, gegen die dreißig Tyrannen aufgelehnt und diese aus der Stadt vertrieben. Anschließend habe man ein Gesetz erlassen, das eine Amnestie für alle versprach, die den Tyrannen gefolgt waren, sodass alle Verfehlungen vergessen werden konnten. Diese weise Verordnung, die die Athener sorgfältig durchgesetzt hätten, habe es ihnen 72 Niedhart: Geschichte (wie Anm. 31), S. 173ff. 73 Anonymus: The Rise (wie Anm. 66), Spalte 2.

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ermöglicht, nach der kurzen, aber schmerzlichen Episode wieder zur ursprünglichen Ruhe zurückzukehren. Überträgt man diese Ausführungen auf England, wie das schließlich der Untertitel des Traktats forderte, so scheint der Verfasser einerseits vorzuschlagen, dass das englische Volk die Anführer des tyrannischen Parlamentes entmachten sollte. Ob der Autor tatsächlich einen Volksaufstand gegen das Parlament forderte oder ob er davon ausging, dass königliche Truppen die Parlamentarier zur Flucht zwingen würden, bleibt unklar. Der Verfasser empfahl jedoch eine Amnestie für die Parteigänger des Parlamentes, um den Frieden im Innern und die Einheit im zerrütteten und gespaltenen England wieder herzustellen. Zur früheren Ruhe zurückzukehren konnte für den Autor offensichtlich nur heißen, die alte Ordnung des Königreiches wiederherzustellen, wie er diese aus der Zeit vor den Auseinandersetzungen zwischen Krone und Parlament kannte, als der englische Monarch seine traditionellen Prärogativen ausüben konnte und das Parlament durch das Einberufungs- und Auflösungsrecht des Königs abhängig war.

2 Die athenische Demokratie als Bedrohung der englischen Monarchie: Thomas Hobbes’ Klage gegen Athen und seine Denker Als Thomas Hobbes 1656 seine The Questions Concerning Liberty, Necessity, and Chance74 veröffentlichte, wollte dieser damit seine Diskussion über die menschliche Freiheit, die er seit 1645 mit dem Arminianer John Bramhall (1594–1663) im französischen Exil geführt hatte,75 zu einem Abschluss bringen. Hobbes, der sich intensiv mit arminianischen Gedanken und ihrer Theologie auseinandergesetzt hatte, zeigte sich ihretwegen sehr besorgt. Die durch Jacobus Arminius verursachte niederländische Kirchenspaltung habe, so Hobbes, auch ihre Auswirkungen auf England und trage Mitschuld am englischen Bürgerkrieg.76 Mit dieser Analyse hatte der Theoretiker nicht ganz unrecht: Der an die Theologie Arminius’ anschließende Disput, in dem die Arminianer vornehmlich von republikanisch Gesinnten, die Gegner des Arminianismus, die Contraremonst-

74 Hobbes, Thomas: The Questions Concerning Liberty, Necessity and Chance. Clearly Stated and Debated Between Dr. Bramhall Bishop of Derry, and Thomas Hobbes of Malmesbury. London 1656. 75 Siehe auch Kapitel II dieser Arbeit. 76 Dzelzainis, Martin: Ideas in Conflict: Political and Religious Thought During the English Revolution. In: Writing of the English Revolution. Hrsg. von Neil H. Keeble. Cambridge [u.a.] 2002. S. 32–49, hier S. 33.



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ranten, dagegen von den Anhängern des Hauses von Oranien unterstützt wurden, hatte die Vereinigten Provinzen an den Rand eines Bürgerkrieges gebracht. Während die Contraremonstranten seit der Synode von Dordrecht in den Vereinigten Provinzen die Oberhand gewonnen hatten, prosperierte der Arminianismus aufgrund zahlreicher niederländischer Migranten nun in England, die dort Zuflucht suchten. Der Einfluss des Erzbischofs von Canterbury, William Laud (1573–1645), verstärkte diesen Effekt, sodass es zu einer regelrechten Arminianisierung der Kirche von England kam. Als König Karl I. zusammen mit seinem Erzbischof schließlich versuchte, dessen Liturgie auch in Schottland durchzusetzen, kam es zum Aufstand der presbyterianischen Schotten und schließlich auch zum Ausbruch der innerenglischen Konflikte zwischen Krone und Parlament.77 Von Seiten des Parlamentes wurden die Verletzungen ihrer „ancient liberties“ in der Grand Remonstrance von 1642 kritisiert: Darin werden Karls Übergriffe und Versäumnisse dargestellt sowie seine das Parlament umgehenden Strategien Geld zu beschaffen, angeprangert: seine exklusiven Handelsrechte, die von ihm verhängten Geldbußen für das Nutzen königlicher Wälder sowie die Gefangennahme einiger Parlamentsmitglieder. Hobbes zeigte für den Verweis auf eine „ancient constitution“ wenig Verständnis. Sein Werk De Corpore Politico. Or the Elements of Lavv, Moral & Politick78, das er 1640 geschrieben hatte, jedoch erst 1650 veröffentlichte, war ein systematischer Versuch, den Argumenten gegen eine monarchische Machtausübung jegliche Grundlage zu entziehen. Als Ursache des Aufbegehrens gegen die englische Krone entlarvte er die Auffassung, dass ein Königsmord legitim sei. Diese falsche Doktrin gehe von der griechischen Schule sowie von den Schreibern des Römischen Staates aus, für die nicht nur der Name eines Tyrannen, sondern sogar der eines Königs schändlich gewesen sei. Die Lektüre von Aristoteles, Cicero, Seneca und anderen antiken Philosophen und Gelehrten habe, so der Theoretiker, ein der englischen Monarchie schadendes Rebellionsstreben hervorgebracht.79 Hobbes führte dieses Argument in seinem Hauptwerk Leviathan,80 das er um 1649/50 im französischen Exil schrieb, noch detaillierter aus. Darin befürwortete er einen absoluten Herrscher, einen Leviathan, den er als einziges Mittel betrachtete, den im Naturzustand herrschenden Krieg aller gegen alle zu überwinden.

77 Siehe Dzelzainis: Ideas in Conflict (wie Anm. 76), S. 32f. 78 Hobbes, Thomas: De Corpore Politico. Or The Elements of Lavv, Moral & Politick. With Discourses upon Several Heads; as of the Law of Nature. Oathes and Covenants. Severall Kind of Government. With the Changes and Revolutions of them. London 1650. 79 Vgl. Dzelzainis: Ideas in Conflict (wie Anm. 76), S. 34f. 80 Hobbes, Thomas: Leviathan. Hrsg. von Richard Tuck. 10. Aufl. Cambridge 2007 (Cambridge Texts in the History of Political Thought).

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Ohne den Vertrag eines jeden mit einem jedem sowie einem zweiten, den Leviathan einsetzenden Vertrag, müsse ein Gemeinwesen demnach im Naturzustand, das heißt im Kriegszustand verbleiben. Eine Auflösung der Machtkonzentration führe deshalb zwangsweise zum Bürgerkrieg wie dies schließlich in England in den Jahren seit 1641 der Fall war. Dies müsse unter allen Umständen vermieden werden. Oberste Pflicht des Leviathans war nach Hobbes deshalb, Frieden im Innern herzustellen und zu garantieren.81 Hobbes versuchte nicht nur künftige innere Kriege durch die Konzeption seines Leviathans zu vermeiden, sondern er analysierte auch die Ursachen der jüngsten Unruhen in seinem Heimatland: Schuld waren für ihn diejenigen, die antike Denker, insbesondere aber Aristoteles studierten und von ihnen die politischen Kategorien übernahmen. Die Lektüre der Schriften des Aristoteles, Cicero, Polybios und anderer Denker hätten einen so gearteten Einfluss, dass Männer gegen die Monarchie rebellierten. And as the Rebellion in particular against Monarchy; one of the most frequent causes of it, is the Reading of the books of Policy, and Histories of the ancient Greeks, and Romans; from which, young men, and all others that are unprovided of the Antidote of solid Reason … receive withall a pleasing Idea, of … the vertue of their popular forme of government: Not considering the frequent Seditions, and Civill warres, produced by the imperfection of their Policy. From the reading, I say, of such books, men have undertaken to kill their Kings, because the Greek and Latine writers, in their books, and discourses of Policy, make it lawfull, and laudable, for any man so to do; provided before he do it, he call him Tyrant.82

Durch die Lektüre der griechischen und römischen politischen Schriften bekämen junge Männer, die offensichtlich noch verführbar und in ihrer politischen Meinung noch nicht genug durch vernunftgeleitetes Denken gefestigt seien, den Eindruck, dass die demokratische Regierung eine tugendhafte und tugendbringende Regierungsform sei und übersähen dabei, dass deren gewaltsame Einführung Krieg und Unfrieden bringe. Durch die Lektüre antiker Schriften würden junge Männer folglich dazu verleitet, Könige als Tyrannen zu diskreditieren und diese zu stürzen. Auch in seinem Werk Behemoth or the Long Parliament83, mit dessen Niederschrift Hobbes um 1667 begann und das schließlich 1679 veröf81 Zu Thomas Hobbes und seinem Leviathan, siehe: Münkler, Herfried: Thomas Hobbes, 2. Aufl. Frankfurt am Main 2000; Skinner, Quentin: Visions of Politics, Bd. 3: Hobbes and Civil Science. Cambridge 2002. Ders.: Hobbes and Republican Liberty. Cambridge 2008; Ders.: Reason and Rhetoric in the Philosophy of Thomas Hobbes. Cambridge 1996; Tuck, Richard: Introduction. In: Thomas Hobbes. Leviathan, Hrsg. von dems., 2. Aufl. Cambridge 1996. S. IX-XLV; Ders.: Hobbes. Oxford [u.a.] 1989. 82 Hobbes: Leviathan (wie Anm. 80), Kapitel 29, S. 225f. 83 Hobbes, Thomas: Behemoth or the Long Parliament. Hrsg. von Paul Seaward. Oxford 2010.



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fentlicht wurde, erörterte Hobbes in vier Dialogen die Ursachen des Bürgerkrieges. Hier finden sich dieselben Argumente: Für den Bürgerkrieg verantwortlich seien – neben Presbyterianern, Papisten und Sekten, die religiöse Freiheit propagierten sowie den Bewunderern der rebellischen Niederlande – diejenigen, die die antiken Autoren der griechischen und römischen Gemeinwesen lasen. In Behemoth führte Hobbes diesen Punkt folgendermaßen aus: Fourthly there were an exceeding great number of men of the better sort that had been so educated, as that in their youth hauing read the books written by famous men of the ancient Graecian and Roman Commonwealths concerning their Policy and great actions, in which books the popular government was extolled by the glorious name of Liberty, and Monarchy disgraced by the name of Tyranny, they became thereby in loue with their formes of government. And out of these men were chosen the greatest part of the House of Commons, or if they were not the greatest part, yet by aduantage of their eloquence were alwaies able to sway the rest.84

Hobbes’ Kritik richtete sich wiederum gegen junge, gebildete Männer wie Francis Rous, die von der griechischen und römischen Geschichte ihren Begriff der Freiheit übernahmen und ihren Monarchen deshalb als Tyrannen diskreditierten. Diese ließen sich, so der Autor, durch ihre Schwärmerei und Verliebtheit in die antiken Schriften täuschen und bewunderten deshalb die demokratischen Regierungsformen der griechischen und des römischen Gemeinwesen. Diese Männer dominierten, so Hobbes, das House of Commons entweder durch ihre physische Überzahl oder sie überzeugten das Unterhaus durch ihre sprachliche Eloquenz. Diese Kritik an der klassischen Bildung sowie die Annahme ihrer verheerenden Folgen mag zunächst überraschen, da Hobbes sich gerade in den ersten Jahren seines eigenen Schaffens intensiv mit der antiken Geschichte, insbesondere mit der griechischen Geschichte befasst hatte: Seit circa 1615 und vor allem in den 1620er Jahren hatte sich Hobbes den kanonischen Themen der studia humanitas gewidmet, namentlich der Rhetorik, der Poesie, der klassischen Geschichte und der Moralphilosophie.85 Er hatte Aristoteles’ Rhetorik, Pausanias, Strabo, Herodot, Livius und Polybios sowie lateinische Hexameter und griechische Poesie gelesen.86 Auch in anderer Hinsicht war Hobbes den Zielen einer humanistischen Erziehung gefolgt – er hatte Grammatik studiert, womit die Fähigkeit gemeint war, griechische und lateinische Texte zu lesen, zu verstehen und imitieren zu können. Diese Fertigkeiten hatte der junge Hobbes mit seiner Überset84 Hobbes: Behemoth (wie Anm. 83), S. 108ff. Siehe auch Cambiano, Giuseppe: Polis. Histoire d’un modèle politique. Paris 2003, S. 231. 85 Zu Hobbes Ausbildung und der studia humanitas siehe Skinner: Hobbes and Civil Science (wie Anm. 81), S. 38–65. 86 Skinner: Hobbes and Civil Science (wie Anm. 81), S. 40ff.

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zung der aristotelischen Rhetorik vom Griechischen ins Lateinische sowie seiner griechisch-englischen Übersetzung von Thukydides erfolgreich unter Beweis gestellt. Insbesondere letzterer hatte Hobbes Aufmerksamkeit erregt. 1629 hatte er Thukydides’ Geschichte des Peloponnesischen Krieges unter dem Titel Eight Bookes of the Peloponnesian Warre veröffentlicht.87 In seinem Vorwort an den Leser hatte Hobbes die Perfektion der antiken Autoren, insbesondere aber der griechischen antiken Historiker und Philosophen herausgestellt.88 Die antiken Autoren wie Homer, Aristoteles, Demosthenes und Thukydides seien, so Hobbes, in ihrer Perfektion unübertroffen und deshalb des intensiven Studiums wert. Vor allem die Bildung in der antiken Geschichte sei wichtig, damit man anhand der Vergangenheit für die eigene Zeit sowie für die rechte Gestaltung der Zukunft ausgebildet werde. Indem Hobbes dargestellt hatte, dass diese Instruierung nicht nur vom Historiker als Autor ausgehe, sondern auch von der von ihm überlieferten Geschichte selbst, hatte er die Bedeutung der griechischen Geschichte und insbesondere diejenige des Peloponnesischen Krieges betont. Über Thukydides’ Geschichte schrieb er: For the principall and proper worke of History, being to instruct and enable men, by the knowledge of Actions past, to beare themselues prudently in the present, and prouidently towards the Future, there is not extant any other (meerely humane) that doth more fully, and naturally performe it, then this of my Author.89

Hobbes war hier offenbar der ciceronischen Doktrin der historia magistra vitae gefolgt. Sein intellektuelles Schaffen zeugt davon, dass er ein treuer Anhänger der studia humanitas und der humanistischen literarischen Praxis war. Dies zeigt sich in Hobbes’ Werken auch in der humanistischen Verbindung von Wort und Bild: Seiner Thukydides-Ausgabe ist ein emblemartiges Titelbild vorangestellt, das bereits die Hauptthemen des Buches anzeigt.90 Als Tutor des Third Earl of Devonshire bekam Hobbes dann jedoch Kontakt zu naturwissenschaftlichen Experimenten durch den Vetter des Earls, Sir Charles 87 Skinner: Hobbes and Republican Liberty (wie Anm. 81), S. 5. 88 „It hath beene noted by diuers, that Homer in Poesie, Aristotle in Philosophy, Demosthenes in Eloquence, and others of the Ancients, in other knowledge, doe still maintaine their Primacy, none of them exceeded, some not approached, by any, in these later Ages. And in the number of these, is iustly ranked also our Thucydides; a Workeman no lesse perfect in his worke, then any of the former; and in whom (I beleeue with many others) the Facutly of writing History is at the highest.“ Hobbes, Thomas: Eight Bookes of the Peloponnesian Warre. Written by Thvcydides the Sonne of Olorvs. Interpreted with Faith and Diligence Immediately out of the Greeke By Thomas Hobbes. Secretary to Your Late Earle of Deuonshire. London 1629, To the Reader. 89 Hobbes: Eight Bookes (wie Anm. 88), To the Reader. 90 Skinner: Hobbes and Republican Liberty (wie Anm. 81), S. 7.



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Cavendish, und dessen älteren Bruder, dem Earl von Newcastle. Als Hobbes seinen Schützling auf seinem Grand Tour nach Frankreich und Italien begleitete, vertiefte sich sein naturwissenschaftliches Interesse, allem voran durch die Bekanntschaft mit Marin Mersenne (1588–1648). Mit letzterem diskutierte Hobbes naturwissenschaftliche Fragen, um sich die Naturgesetze mehr und mehr zu entschlüsseln. Diese Beschäftigung brachte ihn schließlich zur Erkenntnis, dass die gesamte Philosophie eigentlich aus drei Elementen bestehe: dem Körper, dem Menschen, dem Bürger (Corpus, Homo, Civis). Diesen drei Themen wollte Hobbes fortan seine Studien widmen und in logischer Reihenfolge jeweils ein Buch zum Körper, zum Menschen und zum Bürger verfassen. Den aktuellen politischen Ereignissen und dem Ausbruch des Bürgerkrieges war jedoch eine Änderung der Reihenfolge geschuldet, sodass sich Hobbes nun zuerst den aktuellen Themen der Souveränität und der Bürgerschaft widmete und sein Elementia Philosophica de Cive91 schrieb. Das Manuskript The Elements of Lavv, Naturall and Politique, wie dieses ursprünglich hieß, stellte er zwar bereits im Mai 1640 fertig, allerdings wurde dieses Werk erst zehn Jahre später gedruckt und veröffentlicht, nun in zwei Teilen und unter den Titeln Human Nature: Or, The Fundamental Elements of Policie und De Corpore Politico. Or The Elements of Law, Moral & Politick.92 In seinem De Corpore Politico, or the Elements of Law93 wandte sich Hobbes nun gegen die politische Bildung seiner Zeit sowie gegen die universitäre Lehre, in der politische Kategorien von Aristoteles übernommen würden. Dies habe zur Folge, dass gegen die Monarchie rebellierendes Denken produziert werde, was schließlich zum Bürgerkrieg und Aufstand führe: 91 Obwohl schon 1641 verfasst, war die Elementia Philosophica de Cive in der lateinischen Version nur einem engen Kreis bekannt. Viel populärer wurde dagegen die Ausgabe des Hauses Elzevir, die 1647 die englische Übersetzung von De Cive mit dem Titel On the Citizen veröffentlichte. Vgl. Tuck, Richard: Introduction. In: Thomas Hobbes. On the Citizen. Hrsg. von dems. Cambridge 1998. S. vii-xxxiii, hier S. viii. 92 Nachdem Hobbes im Frühjahr 1642 seine Abhandlung über den Bürger, sein De Cive, veröffentlichte, wollte er sich wieder dem ersten Werk seiner Triologie, dem De Corpore, widmen. Doch sah sich Hobbes gezwungen, diese Arbeit aufgrund der politischen Gegebenheiten seiner Zeit – nun aufgrund der Hinrichtung Karls I. und der Behauptung der Ausführenden, dabei dem göttlichen Willen zu gehoren – zu unterbrechen, um sich in einem anderen Werk mit göttlichem und natürlichem Recht auseinanderzusetzen. Bereits seine Trilogie stand also unter dem starken Eindruck der politischen Umbrüche in England und seiner damit verbundenen Flucht nach Frankreich im Jahre 1640. Vgl. Skinner: Hobbes and Republican Liberty (wie Anm. 81), S. 13ff. und S. 18. 93 Hobbes, Thomas: Hobbs’s [sic.] Tripos, in Three Discourses: The First, Human Nature, or the Fundamental Elements of Policy …, the Second, De Corpore Politico, or the Elements of Law, Moral and Politick, … the Third, of Liberty and Necessity; Wherein all Controversie ..., London 3 1684.

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Another Thing necessary, is the Rooting out of the Consciences of Men, all those Opinions which seem to justifie and give Pretence of Right to Rebellious Actions; … And because Opinions which are gotten by Education, and in Length of Time, are made Habitual, cannot be taken away by Force, and upon the sudden; they must therefore be taken away also by Time and Education. And seeing the said Opinions have proceeded from private and publick Teaching, and those Teachers have received them from Grounds and Principles, which they have learned in Universities, from the Doctrine of Aristotle, and others, who have delivered nothing concerning Morality and Policy demonstratively, but being passionately addicted to Popular Government, have insinuated their Opinions by eloquent Sophistry.94

Offensichtlich war der Gelehrte darüber enttäuscht, dass die klassische Bildung den Bürgerkrieg in England nicht hatte vermeiden können, sondern diesen, zumindest interpretierte Hobbes dies entsprechend, sogar verursacht habe. In seinem Leviathan führte der Theoretiker sein Argument schließlich weiter aus als bisher: Zentraler Kritikpunkt war für ihn, dass politische Kategorien, namentlich Freiheit („liberty“) und Tyrannei („tyranny“), von antiken Quellen hergeleitet wurden. Hobbes verurteilte die antiken Philosophen, vor allem aber Aristoteles, weil diese ihre Kategorien nicht auf der Logik des Verstandes aufgebaut hätten, sondern auf ihren Leidenschaften und politischen Neigungen, die durch die Verfassungsrealität der eigenen Gemeinwesen beeinflusst worden waren.95 So sei es dazu gekommen, dass insbesondere die athenische Demokratie, in der Aristoteles gelebt hatte, nun in der gesamten abendländischen politischen Philosophie – ohne dass sich die Zeitgenossen dessen bewusst seien – zur Schablone der politischen Freiheit avanciert sei: Da die Athener gelehrt worden seien, dass man nur unter einer demokratischen Regierung frei sein könne und dass dementsprechend alle, die in einem Königtum lebten, Sklaven eines Tyrannen seien, habe man in England ebenfalls diese Meinung vertreten, die schließlich in die allerschändlichsten politischen Rebellionen und Unruhen gegen die Monarchie geführt hätten: And because the Athenians were taught, (to keep them from desire of changing their Government,) that they were Free-men, and all that lived under Monarchy were slaves; therefore Aristotle puts it down in his Politiques, (lib.6.cap.2) In democracy, Liberty is to be supposed: for ‘tis commonly held, that no man is Free in any other Government. And as Aristotle; so

94 Hobbes: Hobbs’s [sic.] (wie Anm. 93), 2, 9, § 8, S. 251f. 95 „In these westerne parts of the world, we are made to receive our opinions concerning the Institution, and Rights of Common-wealths, from Aristotle, Cicero, and other men, Greeks and Romanes, that living under Popular States, derived those Rights, not from the Principles of Nature, but transcribed them into their books, out of the Practise of their own Common-wealths, which were Popular; as the Grammarians describe the Rules of Language, out of the Practise of the time;“ Hobbes: Leviathan (wie Anm. 80), Kapitel 21, S. 149.



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Cicero, and other Writers have grounded their Civill doctrine, on the opinions of the Romans, who were taught to hate Monarchy, … And by reading of these Greek, and Latine Authors, men from their childhood have gotten a habit (under a falseshew of Liberty,) of favouring tumults, and of licentious controlling the actions of their Soveraigns; and again of controlling those controllers, with the effusion of so much blood; as I think I may truly say, there was never any thing so deerly bought, as these Western parts have bought the learning of the Greek and Latine tongues.96

Hobbes wollte hier offensichtlich ein Ursache-Wirkungsverhältnis für folgende Frage klären: Wer oder was erwirkte die Rebellion gegen die Monarchie? Am Anfang der Ursachen-Kette stand für ihn die athenische Demokratie, in der gelehrt wurde, dass man nur in einer Demokratie frei sein könne, damit niemand gegen die bestehende demokratische Verfassung rebelliere. Da Athen die politische Lebenswirklichkeit von Aristoteles war, der seine Kategorien von Athen ableitete, verbreitete sich diese Meinung bei Aristoteles-Lesern, von Polybios nach Rom und über Cicero, Livius und andere römische Schreiber in der gesamten westlichen Welt. Der Ausgangspunkt für die Rebellion in England war nach Hobbes – so könnte man zugespitzt formulieren – also im athenischen Freiheitsbegriff zu sehen. Hobbes spielte in diesen Textpassagen augenscheinlich auf Argumente und Auffassungen über politische Freiheit und Tyrannei an, die von Autoren wie Francis Rous im Zuge der politischen Auseinandersetzungen in England in den 1630er und 1640er Jahren angeführt wurden. Hobbes erachtete diese Definitionen von Freiheit und Tyrannei als Hauptursache der Rebellion gegen die englische Monarchie. Indem er verdeutlichte, dass die Verteidiger der Parlamentssouveränität Freiheit als Selbstverwaltung und Selbstregierung definierten und der Begriff des Tyrannen dabei an einen Einzelherrscher gebunden wird, stellte er eine Verbindung zwischen demokratischer Freiheit und Königsmord fest, die es nicht geben müsse, folge man nicht den Missinterpretationen und den falschen Theorien der antiken Denker. Hobbes lag also daran, eine Denktradition zu diskreditieren, die das Konzept der Bürgerfreiheit mit demjenigen der freien Bürgergemeinde, der civitas liberta verband. Dieser Konnex war bereits in Machiviavellis Discorsi97 existent und breitete sich nun verstärkt in England aus.98 Hobbes war nun ein scharfer Kritiker derer, die antike Freiheitsideen in irgendeiner Weise rezipierten. In seinem Leviathan griff er diejenige Annahme an, die davon 96 Hobbes: Leviathan (wie Anm. 80), Kapitel 21, S. 149f. 97 Machiavelli, Niccolò: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung. Hrsg. von Rudolf Zorn. 3. Aufl. Stuttgart 2007. 98 Dies wurde in der Forschung von John G. Pocock in seinem The Machiavellian Moment herausgearbeitet. Pocock, John G.: The Machiavellian Moment. Florentine Thought and the Atlantic Tradition. Princeton [u.a.] 1975.

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ausging, dass es eine Verbindung zwischen freien Staaten und individueller Freiheit gebe, wie dies die Analogie des natürlichen und politischen Körpers nahelegte. Hobbes warf hier seinen Zeitgenossen vor, zusätzlich die antiken Denker zu missverstehen. Die Freiheit, die von den antiken Autoren beschrieben werde, sei, so Hobbes, immer diejenige des commonwealth und nicht diejenige des Individuums.99 Denn die Freiheit des Einzelnen verändere sich durch die Regierungsform eines Gemeinwesens nicht: The Libertie, whereof there is so frequent, and honourable mention, in the Histories, and Philosophy of the Antient Greeks, and Romans, and in the writings, and discourse of those that from them have received all their learning in the Politiques, is not the Libertie of Particular men; but the Libertie of the Common-wealth: … The Athenians, and Romanes were free; that is, free Common-wealths: not that any particular man had the Libertie to resist their own Representative; but that their Representative hat the Libertie to resist, or invade other people.100

Athen und Rom waren auch in Hobbes’ Interpretation freie Staaten, jedoch nicht, weil die Bürger die Macht hatten, ihre politischen Führer ab- und einzusetzen, sondern weil ihre Repräsentanten über Krieg und Frieden entscheiden konnten. Mit Freiheit hätten die antiken Autoren also nicht auf diejenige der einzelnen Bürger verwiesen, sondern auf diejenige des Staates. Die Freiheit des commonwealth sei damit die gleiche, die jeder Einzelne auch im Naturzustand habe, in dem es keine politische Gemeinschaft oder bürgerliche Gesetze gebe. Es sei auch dieselbe Freiheit, die zwischen den konkurrierenden und miteinander in Konflikt stehenden Staaten herrsche, bei der es keinerlei Sicherheit oder Schutz gebe.101 Diese absolute Freiheit habe der Einzelne jedoch durch den ersten Vertrag dem Gemeinwesen übertragen.102 Aus diesem Grund bleibe die individuelle Freiheit ungeachtet welche Regierungsweise ein Staat auch habe, immer die gleiche, weil man immer der Autorität des oder der Regierenden unterstellt bleibe. Um zu beweisen, dass die Freiheit des Einzelnen nicht von der Staatsform abhänge und also immer dieselbe bleibe, nutzte Hobbes das Beispiel des athenischen Ostrazismus, der von Jean Bodin als Zeichen der Unzulänglichkeit von Volksentscheidungen angesehen worden war.103 Obwohl der Engländer gegen 99 Siehe dazu auch Pocock: The Machiavellian Moment (wie Anm. 98), S. 59f. 100 Hobbes: Leviathan (wie Anm. 80), Kapitel 21, S. 149. 101 Hobbes: Leviathan (wie Anm. 80), Kapitel 21, S. 149. 102 Siehe zur Staatsbegründung bei Hobbes: Hoffe, Otfried: Thomas Hobbes. München 2010 (Beck’sche Reihe: Denker, Bd. 580), S. 137–158. 103 Der Ostrazismus war bei Bodin der Beweis für die Schlechtigkeit und Verführbarkeit des Volkes, das seine exzellenten und begabten Führer verbannt oder tötet und sich anschließend von leidenschaftsgeleiteten, dem eigenen Vorteil bedachten Männern führen lässt. Bei Bodin



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eine Regierungsweise nach athenischem Vorbild argumentierte, verteidigte er dennoch den Brauch des Landesverweises. Der Ostrazismus galt dem Theoretiker als Beweis dafür, dass die antike Konzeption von Freiheit auf diejenige des Souveräns und damit auf diejenige des Staates verwies und nicht etwa auf die Freiheit des Einzelnen. Der Souverän, sei es nun ein kollektiver Herrscher oder ein Einzelner, habe dementsprechend das Recht, über Leben und Tod seiner Untertanen zu entscheiden.104 Es könne deshalb kein ungerechtes Urteil des Herrschers geben, da alle Gesetze und Taten des Souveräns durch die vertragliche Einsetzung desselben an den Einzelnen rückgebunden seien. Francis Rous’ Definition eines Tyrannen als absoluter Einzelherrscher, der individuelle Rechte und Freiheiten einschränke, war für Hobbes damit ganz und gar unangebracht. Auch in einer Demokratie sei, wie dies der Fall des athenischen Ostrazismus zeige, die Macht des Herrschenden, hier des Volkes, absolut. Für Hobbes hatten zwar die antiken Denker Freiheit und Tyranneit falsch definiert, dann war es aber der entscheidende Fehler seiner Zeitgenossen, deren Definitionen zu übernehmen und dabei auch noch die absolute Freiheit des Souveräns mit der absoluten individuellen Freiheit zu verwechseln – den Effekt dieses Missverständnisse sehe man nun im bürgerkriegsgeplagten England, das nun auch noch den eigenen König auf dem Gewissen habe.105 Hobbes führte deshalb in seinen 14. und 21. Kapiteln aus, was die natürliche Freiheit definiere.106 Freiheit lautet das folgendermaßen: „en Athenes on chassa Aristide le juste, Themistocle mourut exilé, Miltiade en prison, Socrate y fut aussi executé. Et combien que Phocion, le plus entier et vertueux homme de son aage, eus testé quarante et cinq fois esleu capitaine en chef, sans avoir receu aucun blasme: … qui monstre bien qu’il n’y avoit ni justice, ni majesté, quelconque aux estats du peuple. Et tout ainsi qu’en la Republique populaire ainsi gouvernee, tous estats sont vendus au plus offrant, aussi les magistrats revendent en detail, ce qu’ils ont acheté en gros.“ Siehe Bodin: Les six livres (wie Anm. 29), VI, S. 155. Weiter siehe Kapitel II dieser Arbeit. 104 „Nevertheless we are not to understand, that by such Liberty, the Soveraign Power of life, and death, is either abolished, or limited. For it has been already shewn, that nothing the Soveraign Representative can doe to a Subject, on what pretence soever, can properly be called Injustice, or Injury; because every Subject is Author of every act the Soveraign doth; … In the same manner, the people of Athens, when they banished the most potent of their Common-wealth for ten years, thought they committed no Injustice; and yet they never questioned what crime he had done; but what hurt he would doe: Nay they commanded the banishment of they knew not whom: and every Citizen bringing his Oystershell into the market place, written with the name of him he desired should be banished, without actuall accusing him, sometimes banished an Aristides, for his reputation of Justice; And sometimes a scurrilous Jester, as Hyperbolus, to make a Jest of it. And yet a man cannot say, the Soveraign People of Athens wanted right to banish them; or an Athenian Libertie to Jest, or to be Just.“ Hobbes: Leviathan (wie Anm. 80), Kapitel 21, S. 148. 105 Siehe Cambiano: Polis (wie Anm. 84), S. 240f. 106 Hobbes machte keinen qualitativen Unterschied zwischen „liberty“ und „freedom“. Vgl. Skinner, Quentin: Thomas Hobbes on the Proper Signification of Liberty. The Prothero Lecture,

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umfasste für Hobbes einerseits die Möglichkeit, das tun zu können, was man tun wolle. Damit barg Freiheit eine negative Dimension in Form der Abwesenheit von äußeren Hindernissen.107 In Kapitel 21 fügte er der Freiheit jedoch eine zweite, positive Dimension an und stellte sie nun als Möglichkeit eines freien Menschen dar, den eigenen Willen durchsetzen zu können.108 Die natürliche Freiheit des Einzelnen war für Hobbes deshalb absolut, weil sie im Naturzustand, dem vorstaatlichen (Kriegs-)Zustand herrsche. Um jedoch eine politische Gemeinschaft herzustellen und einen Herrscher einzusetzen, gebe der Mensch diese natürliche Freiheit an den Souverän ab. Der Theoretiker bewies anhand Athens, dass eine Diffamierung der Einzelherrschaft als Tyrannei und damit die Legitimation des Widerstandes gegen selbige unlogisch und damit falsch sei. Ferner belegte das Beispiel Athens für ihn seine vom Theorem des Naturzustandes abgeleiteten Kategorien von politischer Freiheit und Tyrannei: Der athenische Ostrazismus war für Hobbes Beweis dafür, dass individuelle Freiheit von der Verfasstheit eines politischen Regimes völlig unabhängig war. Wenn man Athen beobachtete, so implizierte dies die Interpretation des Engländers, dann konnte man nicht zu dem Schluss kommen, dass die individuelle Freiheit unter einer Volksherrschaft größer sei als unter einer Monarchie. Der athenische Ostrazismus zeige vielmehr, dass auch ein demokratisches Gemeinwesen über absolute Macht verfüge, und die Freiheit des Einzelnen einschränken und somit tyrannisch regieren konnte. Athen bewies für den Engländer, dass die menschliche Freiheit kategorisch von der Freiheit eines Staates zu unterschieden war. Der politische Schreiber Robert Filmer (1588–1653), der während der Bürgerkriege an den militärischen Auseinandersetzungen nicht teilgenommen hatte, dessen Schriften jedoch deutlich werden ließen, dass er ein Verfechter der Mon-

Read 5 July 1989. London 1990 (Transactions of the Royal Historical Society 40), S. 123. Für die synonyme Verwendung von „liberty“ und „freedom“ bei Hobbes, siehe Hobbes: Leviathan (wie Anm. 80), Kapitel 21, S. 145: „Liberty, or Freedome, signifieth (properly) the absence of Opposition; (by Opposition, I mean externall Impediments of motion;) and may be applied no lesse to Irrationall, and Inanimate creatures, than to Rationall.“ 107 Hobbes: Leviathan (wie Anm. 80), Kapitel 14, S. 91, vgl auch Skinner: Thomas Hobbes (wie Anm. 106), S. 121–151, S. 123. 108 „But when the words Free, and Liberty, are applyed to any thing but Bodies, they are abused; for that which is not subject to Motion, is not subject to Impediment. And therefore, when ‘tis said (for example) The way is Free, no Liberty of the way is signified, but of those that walk in it without stop. … Lastly, from the use of the word Free-will, no Liberty can be inferred of the will, desire, or inclination, but the Liberty of the man; which consisteth in this, that he finds no stop, in doing what he has the will, desire, or inclination to doe.“ Hobbes: Leviathan (wie Anm. 80), Kapitel 21, S. 146. Vgl. auch Skinner: Thomas Hobbes (wie Anm. 106), S. 123.



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archie war,109 folgte Hobbes in der Annahme, dass Aristoteles seine politischen Kategorien von den politischen Gemeinwesen Griechenlands übernommen hatte.110 In seinen Observations Upon Aristotles Politiques von 1653, in dem sich Filmer vor allem gegen John Milton wehrte, der in seinem Pro populo Anglicano defensio von 1651111 aus Aristoteles einen Partisanen der Demokratie machen wollte, führte Filmer zwar aus, dass Aristoteles für die Erläuterungen der Demokratie Athen vor Augen gehabt habe.112 Allerdings widersprach Filmer dem Autor des Leviathan dessen Ausarbeitung zur Freiheit. In seinen Observations Concerning the Originall of Government, Upon Mr Hobs Leviathan, Mr Milton against Salmasius, H. Grotius De Jure Belli113, die kurz nach Hobbes’ Leviathan im Februar 1652 erschienen, stellte Filmer Hobbes zitierend fest: Here I find Mr Hobbes is much mistaken. For the liberty of the Athenians and Romans is a liberty only to be found in popular estates, and not in monarchies. This is clear by Aristotle, who calls a city a community of freemen, meaning every particular citizen to be free. Not that every particular man had a liberty to resist his governor or do what he list, but a liberty only for particular men to govern and to be governed by turns, (griech archein and archestai) are Aristotle’s words … This was a liberty not to be found in hereditary monarchies.114

Filmer teilte Hobbes Auffassung demnach nicht, dass die Freiheit des Einzelnen ungeachtet des politischen Regimes immer dieselbe sei. Er nahm dagegen an, dass es in Athen sehr wohl eine andere Form der Freiheit gegeben hatte, die es auch nur in einem demokratischen Regime geben könne – nämlich die Freiheit, abwechselnd zu regieren und regiert zu werden. Filmer räumte ein, dass die Freiheit des Einzelnen in einer Demokratie oder in einer Monarchie eine andere sei, jedoch versuchte er anhand Roms und Athens 109 Sommerville, John P.: Introduction. In: Robert Filmer: Patriarcha and Other Writings. Hrsg. von John P. Sommerville. Cambridge [u.a.] 2006. S. IX–XXVIII, hier S. XI. 110 Siehe Cambiano: Polis (wie Anm. 84), S. 236. Allerdings führt Cambiano hierfür das falsche Werk Filmers an. Er verweist hier auf Filmer, Robert: Observations Concerning the Originall of Government, Upon Mr Hobs Leviathan, Mr Milton against Salmasius, H. Grotius De Jure Belli. In: Ders.: Patriarcha and Other Writings (wie Anm. 109), S. 184–234. Hier hätte Cambiano jedoch Filmer, Robert: Observations upon Aristotles Politiques, Touching Forms of Government, Together with Directions for Obedience to Governours in Dangerous and Doubtfull Times. In: Ders.: Patriarcha and Other Writings (wie Anm. 109), S. 235–286 nennen müssen. Dort erläutert Filmer auf den Seiten 244f. Aristoteles Vorgehensweise. 111 Siehe Milton, John: Pro populo Anglicano defensio, contra Claudii anonymi, aliàs Salmasii, Defensionem regiam. Londinium 1651. Vgl. auch Cambiano: Polis (wie Anm. 84), S. 236. 112 Filmer: Observations upon Aristotles (wie Anm. 110), S. 250. 113 Filmer: Observations upon Aristotles (wie Anm. 110), S. 250. 114 Filmer: Observations upon Aristotles (wie Anm. 110), S. 190f.

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darzustellen, dass die Wahl der demokratischen Regierungsform lediglich eine Notlösung gewesen sei. In seiner Patriarcha,115 die erst 1679 postum veröffentlicht wurde, bestätigte er: The vulgar opinion is that the first cause why the democratical government was brought in was to curb the tyranny of monarchies. But the falshood of this doth best appear by the first flourishing popular estate of Athens, which was founded not because of the vices of their last king, but for that his virtuous deserts were such as the people thought no man worthy enough to succeed him – a pretty wanton quarrel to monarchy! … As Athens thus for the love of their Codrus changed their government ….116

Filmers Ziel war es im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Thomas Hobbes eben nicht, die Theorie und Ideen Aristoteles’ in ihrer Gesamtheit zu verwerfen, sondern vielmehr zu beweisen, dass Aristoteles kein Verfechter der Demokratie war.117 Anders als Hobbes fand Filmer bei Aristoteles nämlich eine Kritik an der Demokratie.118 Filmer betonte, dass die Athener nicht die Demokratie eingeführt hätten, weil sie diese als beste Staatsform erachten. Sie hätten sich nicht deshalb für die Demokratie entschieden, weil sie die Tyrannei ihrer Könige habe beenden wollen, sondern weil niemand so würdig gewesen sei, König Kodrus nachzufolgen. Deshalb hätten die Athener nun als Notlösung beschlossen, fortan gemeinsam zu regieren. Filmer fand somit sogar in der Einführung der athenischen Demokratie ein Argument für die Monarchie und kritisierte die demokratische Regierungsweise der Athener anschließend insbesondere für ihre Kurzlebigkeit. Filmer nutzte das Beispiel Athens um zu zeigen, dass ein „popular government“ keinesfalls nachahmenswert sei und argumentierte, dass sogar Xenophon den Athenern verboten habe, dieser Regierungsform zu folgen, da unter einem demokratischen Regime die schlechten Menschen den größten Erfolg hätten, die guten und tugendhaften Männer dagegen nicht anerkannt seien.119 Die Regierungs-

115 Filmer, Robert: Patriarcha. In: Ders.: Patriarcha (wie Anm. 109), S. 1–68. 116 Filmer: Patriarcha (wie Anm. 115), S. 14. 117 Cambiano: Polis (wie Anm. 84), S. 237. 118 Cambiano: Polis (wie Anm. 84), S. 237. 119 „If we will listen to the judgement of those who should best know the nature of popular government, we shall find no reason for good men to desire or choose it. Xenophon, that brave scholar and soldier, disallowed the Athenian commonweal, for that they followed that form of government wherein ‘the wicked are always in greatest credit’, and virtuous men kept under (Bodin book 6, chapter 4, [p.702]). They expelled Aristides the just; Themistocles died in banishment, Miltiades in prison; Phocion, the most virtuous and just man of his age, though he had been chosen forty-five times to be their general, yet was put to death with all his friends, kindred and servants by the fury of the people, without sentence, accusation or any cause at all. … The Athenians sold justice as they did other merchandise, which made Plato call a popular estate



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weise der Athener erscheint bei Filmer damit als ungerecht, da sie die eigenen Werte verriet. Filmer stimmte also mit Hobbes darin überein, dass Aristoteles für die Konzeption seiner politischen Kategorien die griechischen poleis vor Augen hatte, jedoch betonte er, dass dies gerade nicht dazu geführt habe, dass Athen bei Aristoteles ein positives Beispiel einer Demokratie war. Im Gegenteil: Aristoteles habe selbst die Auswüchse der athenischen Demokratie kritisiert. Der Athener war Filmer zufolge somit auch für Befürworter der Monarchie lesbar. Für beide, für Hobbes und für Filmer, galt Athen damit als Beispiel der Tyrannei einer Volksherrschaft, die einer Monarchie keinesfalls vorzuziehen war. Jedoch maß Hobbes Athen einen viel weiteren und gewichtigeren Einfluss auf die politische Geschichte der westlichen Welt zu als dies Filmer tat.

3 Vom free state zur gescheiterten Republik: Athen im republikanischen Denken Während Hobbes vor allem das Erbe der griechischen politischen Ideen beklagte, hat sich die sogenannte Republikanismusforschung vor allem auf die römische Tradition in frühneuzeitlichen Republikanismen konzentriert: Quentin Skinner erarbeitete etwa die sogenannte „neo-Roman-theory of liberty“, die er in Bezug auf die Kategorien von Freiheit und Tyrannei erläuterte:120 In seinem Liberty before Liberalism stellt Skinner eine Gruppe von Schreibenden vor, die römisches politisches Gedankengut verarbeiteten und es auf England anwandten. Dabei konzentriert er sich vor allem auf Schreibende, die diese römischen politischen Ideen nach der Hinrichtung Karls I. propagierten und England als commonwealth oder free state interpretierten und proklamierten.121 Unter die Theoretiker der „neoroman theory of liberty“ zählt Skinner u.a. Marchamont Nedham, den Herausgeber der Zeitung Mercurius Politicus.122 Ferner führt Skinner John Milton an, der Nedham in seiner Arbeit betreute und der im März 1649 zu einem der Sekretäre des neuen Council of State ernannt wurde. Vor allem in seinem Eikonoklastes123 aus dem Jahre 1650 findet sich dessen Konzeption der politischen Freiheit. Im wei‘a fair, where everything is to be sold’ [Republic 8.557e]. The officers, when they entered upon their charge, would brag they went to a golden harvest.“ Filmer: Patriarcha (wie Anm. 115), S. 15. 120 Bspw. in Skinner, Quentin: Liberty before Liberalism, 8. Aufl. Cambridge 2004. 121 Skinner: Liberty (wie Anm. 120), S. 13. 122 Jeffs, Robin (Hrsg.): Mercurius Politicus, 1650–1659, 18 Bde. Reproduktion der Ausgabe London 1650–1659. London 1971 (The English Revolution). 123 Milton, John: Eikonoklastēs in Answer to a Book Intitl’d Eikōn basilikē. The Portrature of His Sacred Majesty in His Solitudes and Sufferings. London 1649.

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teren Umkreis dieser Schreibenden nennt Skinner George Wither124, John Hall125, Francis Osborne126 und John Streater127. Entscheidendes Moment einer umfassenden republikanischen Theorie der Freiheit war für Skinner jedoch das Jahr 1656 als Oliver Cromwell im Mai ein neues Parlament einberief. Cromwells Protektorat wurde noch im selben Jahr von Marchamont Nedham in seinem The Excellency of a Free State128 kritisiert, indem er sich für eine genuin republikanische Lösung aussprach. Kurz danach veröffentliche James Harrington den wohl einflussreichsten Text über einen free state, seinen The Commonwealth of Oceana129. Nach dem Tod Oliver Cromwells 1658 schien jedoch alles auf eine Wiedereinführung der Monarchie hinzudeuten und die republikanischen Hoffnungen schienen endgültig enttäuscht zu werden. John Milton versuchte 1660 noch einmal mit seinem The Readie and Easie Way to Establish a Free Commonwealth130 die republikanischen Ideen wiederzubeleben, ebenso wie Algernon Sidney mit seinen Discourses Concerning Government131 und Henry Neville mit seinem Plato Redivivus132 zu Beginn 124 Wither, George: To the Parliament, and People of the Commonwealth of England. In: Ders.: The Dark Lantern Containing a Dim Discoverie, in Riddles, Parables, and Semi-Riddles, Intermixt with Cautions, Remembrances and Predictions, as they Were Promiscuously and Immethodically Represented to their Author, in His Solitary Musings, the Third of November 1652. About Midnight. Whereunto is Annexed, a Poem, Concerning a Perpetuall Parliament. By Geo. Wither Esquire, 2. Aufl. London 1652, [ohne Seitenangabe]. 125 Hall, John: The Grounds & Reasons of Monarchy Considered. In a Review of the Scotch Story, Gathered out of Their Best Authors and Records. Corrected and Reprinted According to the Edenburgh Copy. [o.O.] 1650. 126 Osborne, Francis: A Perswasive to a Mutuall Compliance under the Present Government. Together with a Plea for a Free State Compared with Monarchy. Oxford 1651. 127 Streater, John: Government Described: Viz. What Monarchie, Aristocracie, Oligarchie, and Democracie, Is. Together with a Brief Model of the Government of the Common-Wealth, or FreeState of Ragouse. Fit for View at this Present Juncture of Settlement. London 1659. 128 Nedham, Marchamont: The Excellencie of a Free-State: Or, the Right Constitution of a Common-wealth Wherein All Objections Are Answered, and the Best Way to Secure the Peoples Liberties, Discovered: with Some Errors of Government, and Rules of Policie. London 1656. 129 Harrington, James: The Commonwealth of Oceana and a System of Politics. Hrsg. von John G. Pocock. Cambridge 1992 (Cambridge Texts in the History of Political Thought). 130 Milton, John: The Readie and Easie Way to Establish a Free Commonwealth, and the Excellence therof Compar’d with the Inconveniencies and Dangers of Readmitting Kingship in this Nation. The Second Edition Revis’d and Augmented. London 1660. 131 Sidney, Algernon: Discourses Concerning Government by Algernon Sidney, So to Robert Earl of Leicester, and Ambassador from the Commonwealth of England to Charles Gustavus King of Sweden. Published From an Original Manuscript of the Author. London 1698. 132 Neville, Henry: Plato Redivivus: Or, a Dialogue Concerning Government, Wherein, by Observations Drawn from Other Kingdoms and States Both Ancient and Modern, an Endeavour Is Used to Discover the Present Politick Distemper of Our Own, with the Causes, and Remedies. London 1681.



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der 1680er Jahre.133 In der Analyse der Freiheit von politischen Gemeinwesen nahmen diese Theoretiker Skinner zufolge Machiavellis Analyse der ursprünglich freien und unfreien Staaten zu Beginn der Discorsi zum Vorbild.134 Und so wurde Rom nicht nur bei Machiavelli, sondern, wie Skinner überzeugend darstellt, auch bei den Theoretikern des englischen Republikanismus zum Vorbild eines freien Staates. Dabei stützen sie sich auf römische Moralisten und Historiker, die ihnen vor allem durch den römischen zivilrechtlichen Kanon der Digesten vermittelt wurden.135 Während sich historisch Forschende eingehend mit der römischen Tradition im republikanischen Denken beschäftigten und dies noch immer tun, wurde der Rekurs auf den athenischen Stadtstaat kaum erforscht, obwohl Hobbes’ Klage gegen den Einfluss Athens dies nahelegt.136 Tatsächlich beschäftigen sich Theoretiker wie etwa Marchamont Nedham (bap. 1620–1678) eingehend und explizit mit Athen. Nedham trat bereits während der Bürgerkriegsjahre auf die Bühne der Öffentlichkeit, als er im Sommer 1643 Autor und Herausgeber der parlamentarischen Wochenzeitung Mercurius Britanicus wurde. Dieser wurde von August 1643 bis Mai 1646 veröffentlicht und war offensichtlich eine Reaktion auf das royalistische Blatt Mercurius Aulicus, das in Oxford herausgegeben wurde und eine sehr große Leserschaft hatte. In seinen Beiträgen machte Nedham aus seiner Abneigung gegen die Presbyterianer sowie gegen Karl I. keinen Hehl. Als er im Mai 1646 im Britanicus sogar ein Editorial schrieb, das den englischen König als Tyrannen bezeichnete, wurde er für zwei Wochen gefangen gesetzt, jedoch gegen eine Versicherung der Besserung seines Verhaltens gegen Kaution freigelassen. Nachdem er 1647 noch einmal an den Hof zitiert worden war, brachte er von September 1647 bis Mai 1649 anstatt des Mercurius Politicus den politisch veränderten Mercurius Pragmaticus heraus. Darin bezichtigte er plötzlich das englische Parlament sowie die Schotten, ihren König zu betrügen und vermutete, dass diese sogar dazu bereit und Planungen in Gange seien, Karl I. zu töten. Was ihn tatsächlich zu diesen Veränderungen führte, bleibt dabei unklar.137 Nach der Hinrichtung Karls wurde Nedham im Juni 1649 für seine monarchietreuen Aktivitäten wiederum vom neu geschaffenen Council of State inhaf133 Vgl. Skinner: Liberty (wie Anm. 120), S. 13ff. 134 Skinner: Liberty (wie Anm. 120), S. 36f. 135 Skinner: Liberty (wie Anm. 120), S. 38ff. 136 Siehe zum Forschungsstand und die Vernachlässigung der Erforschung Athens Kapitel I. 137 Raymond, Joad: Nedham, Marchamont (bap. 1620, d. 1678). In: Oxford Dictionary of National Biography. Online Edition 2008. http://www.oxforddnb.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg. de/view/article/19847 (03.05.2015). Siehe zu Nedham und seinen Veröffentlichungen: Worden, Blair: Literature and Politics in Cromwellian England: John Milton, Andrew Marvell, Marchamont Nedham. Oxford [u.a.] 2007, inbesondere S. 14–81.

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tiert. Im August des selben Jahres schrieb der Publizist das Pamphlet Certain Considerations Tendered in All Humility,138 in dem er sich für seine Vergehen entschuldigte, allerdings auch vorschlug, dass der neu geschaffene free state ihn und andere Missetäter mit Milde und Nachsicht behandle. Um seinen Vorschlag zu untermauern, nutzte Nedham in der Tat zahlreiche Beispiele aus der römischen Geschichte. Nedham hatte diese politische Sprache, Beispiele aus der klassischen Geschichte zu nutzen, durch die sogenannte engagement controversy kennengelernt, in der in den Jahren nach der Hinrichtung Karls die Loyalität zum neuen Regime diskutiert wurde.139 Am 14. November 1649 legte auch Nedham den Loyalitätseid auf das neue Regime ab und wurde daraufhin aus der Gefangenschaft frei gelassen. Nedham bestätigte seine erneute Konversion zu den republikanischen Werten mit seinem Werk The Case of the Common-Wealth of England Stated, or, the Equity, Utility, and Necessity, of a Submission to the Present Government; Cleared Out of Monuments Both Sacred and Civill, Against All the Scruples and Pretences of the Opposite Parties,140 das bereits am 8. Mai 1650 erschien und in dem er Presbyterianer, Schotten, Royalisten und Levellers riet, ebenfalls das neue Regime zu unterstützen und sich dessen Beschlüssen und Anordnungen zu fügen. Über den Rat des Gehorsams und der Loyalität hinaus, wurde diese Schrift zum Zeugnis eines klassischen Republikanismus in dem unter anderem Aristoteles, Sallust, Tacitus, Livius, aber auch Machiavelli und Guiccardini zitiert und rezipiert wurden. Bereits im selben Jahr erschien die zweite Auflage dieses Werkes,141 das Nedham durch Zitate zweier expliziter Royalisten erweiterte, 138 Nedham, Marchamont: Certain Considerations Tendered in All Humility to an Honorable Member of the Councell of State, Aug. 1. 1649. Concerning I. The Discontents of the People. II. Opprobrious Speeches against Government. III. Pasquils and Pamphlets. IV. Invectives Out of the Pulpit. V. Eaves-Droppers, Whisperers, or Informers. Vvherein [sic] Is Represented the Opinion and Practice of Many the Most Eminent Statesmen, in Relation to these Particulars. London 1649. 139 Raymond: Nedham (wie Anm. 137). 140 Nedham, Marchamont: The Case of the Common-wealth of England Stated, or, the Equity, Utility, and Necessity of a Submission to the Present Government Cleared Out of Monuments Both Sacred and Civill, Against All the Scruples and Pretences of the Opposite Parties, viz. Royallists, Scots, Presbyterians, Levellers: Wherein Is Discovered Severally the Vanity of Their Designes, Together with the Improbability of Their Successe and Inconveniences Which Must Follow (Should Either of them Take Effect) to the Extreme Prejudice of the Nation: Two Parts. London 1650. 141 Nedham, Marchamont: The Case of the Common-Wealth of England Stated, or, the Equity, Utility, and Necessity of a Submission to the Present Government Cleared Out of Monuments Both Sacred and Civill, Against All the Scruples and Pretences of the Opposite Parties, Viz. Royallists, Scots, Presbyterians, Levellers: Wherein Is Discovered Severally the Vanity of Their Designes, Together with the Improbability of Their Successe and Inconveniences Which Must Follow (Should Either of Them Take Effect) to the Extreme Prejudice of the Nation: Two Parts: With a Discourse of the Excellencie of a Free-State Above a Kingly-Government. 2. Aufl. London 1650.



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namentlich von seinem Landsmann Thomas Hobbes und dem Franzosen Claude de Saumaise (1588–1653), um im Widerspruch zu ihren politischen Zielen, die Notwendigkeit der Stellungnahme zum aktuellen politischen Regime aufzuzeigen. Nedham setzte sich hier also explizit mit verschiedenen politischen Ideen auseinander.142 Der neu geschaffene Council of State wusste die Bemühungen des Schreibers zu schätzen und belohnte diesen mit einer nicht zu verachtenden Geldsumme sowie einem jährlichen Lebensunterhalt. Von der neu gewonnen Gunst animiert, präsentierte Nedham bereits im Juni ein neues Projekt: sein Mercurius Politicus, der zehn Jahre, von Juni 1650 bis April 1660, fortbestehen sollte.143 Als Herausgeber des Mercurius Politicus hatte Nedham die Erlaubnis, das Büro von John Thurloe (bap. 1616–1668), dem Secretary to the Council und Chef des Secret Service zu nutzen. Dies hatte zur Folge, dass Nedham über ausgezeichnete Informationen über die neuen Staatsinteressen verfügte. Dieses Informationsnetzwerk erweiterte Nedham noch durch Kontakte zu zahlreichen Korrespondenten in In- und Ausland, was den Mercurius Politicus zu einem äußerst aktuellen und distinguierten Journal machte. Mitarbeiter und enge Vertraute Nedhams wurden nun John Milton und John Hall.144 Nedhams Mercurius Politicus wurde schließlich 1656, in einer etwas überarbeiteten Form als The Excellencie of a Free State, or, the Right Constitution of a Commonwealth145 herausgebracht, das zu einem der bedeutendsten Texte des englischen Republikanismus avancierte – ein Text der mit seiner Kritik jedoch die gerade etablierte Beziehung mit dem zunehmend anti-republikanisch agierenden Protektorat in Gefahr brachte:146 Den größten Einfluss auf Nedhams Denken hatten wohl Machiavellis Discorsi, aber auch Aristoteles und Sallust waren wichtige Autoren für den englischen Schreiber. Für Nedham war, wie für den Florentiner vormals, das erste Ziel des Staates dessen Erhalt. Ferner teilte er Machiavellis Ideal der republikanischen Mischverfassung, in der der monarchische Teil allerdings auch von jemand anderem als einem König repräsentiert werden konnte, wie Nedham das schließlich in der niederländischen Republik beobachten konnte. Die Grundlage jeder Regierung war für Nedham die „popular sovereignty“, obwohl sich bei Nedham eine grundlegende Skepsis gegenüber dem (englischen) Volk fand: Das Volk müsse dazu gezwungen werden frei zu sein und durch Bildung zu guten Bürgern erzogen werden.147 142 Raymond: Nedham (wie Anm. 137). 143 Raymond: Nedham (wie Anm. 137). 144 Raymond: Nedham (wie Anm. 137). 145 Nedham, Marchamont: The Excellencie of a Free-State: or, the Right Constitution of a Common-Wealth Wherein All Objections Are Answered, and the Best Way to Secure the Peoples Liberties, Discovered: with Some Errors of Government, and Rules of Policie. London 1656. 146 Raymond: Nedham (wie Anm. 137). 147 Raymond: Nedham (wie Anm. 137).

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In seiner Excellencie fasste Nedham seine politischen Annahmen zusammen und verglich dabei antike Gemeinwesen miteinander und nahm im Zuge dessen insbesondere Athen in den Blick. Seine Betrachtung Athens zeigte folgende Strukturanalyse: Solon habe als weiser Gesetzgeber das athenische Volk dazu gebracht, einen free state zu schaffen. Nedham definierte diesen durch die Selbstbestimmung und Eigengesetzgebung seines Volkes. Die philosophische, militärische und künstlerische Blütezeit war wie bereits bei Francis Rous mit der Selbstverwaltung, dem „civil government“, verbunden. Sein Lob Athens bezog sich deshalb vor allem auf institutionelle Aspekte: where it was the care of Solon, that famous Law-giver, to place both the exercise & interest of Supremacy in the hands of the people, so that nothing of a publick interest could be imposed, but what passed currant by vertue of their consent and Authority: he instituted that famous Council called the Areopagus, for the managing of State-transactions: but left the power of Legislation, or law-making, in a successive course of the people Assemblies; so that avoiding Kingly Tyranny on the one side, and Senatical incroachments on the other, he is celebrated by all Posterity, as the man that hath left the only Pattern of a Free State fit for all the world to follow.148

Das „popular government“ wurde also in der Interpretation Nedhams von einem herausragenden Gesetzgeber eingeführt, der die rechtlichen Grundlagen dafür geschaffen habe, dass in Zukunft die gesamte Bürgerschaft die politischen Entscheidungen gemeinsam treffen könne und müsse. Solon habe den Areopag zur Durchsetzung der Gesetze instituiert, habe die Gesetzgebung jedoch der Volksversammlung überlassen. Er habe damit auch die Voraussetzungen für einen freien Staat geschaffen. Solons Konzept war somit Muster und Schablone für einen freien Staat, dem die Welt nachfolgen sollte. Die Garantien der Freiheit bestanden für Nedham in regelmäßigen Volksversammlungen und in der Rechenschaftspflicht der wählbaren Mandatsträger, der Magistrate. Vor allem habe Solon aber die Exekutive, die vom Areopag ausgeführt wurde und die Legislative, hier wurde nur die Volksversammlung nicht aber der Rat erwähnt, voneinander unterschieden. Durch die solonischen Regelungen für einen freien Staat habe Athen eine unvergleichliche Blütezeit erlebt und habe sich zu einem wohlhabenden und mächtigen Gemeinwesen entwickelt. „It is wonderful to consider, how mightily the Athenians were augmented in a few years, both in Wealth and Power, after they had freed themselves from the Tyranny of Pestratus.“149 Die Größe, Reichtum und Macht Athens hatte in Nedhams Interpretation also erst nach der Absetzung eines Tyrannen begonnen, was implizit einer Bestätigung des Tyrannen148 Nedham: The Excellencie (wie Anm. 145), S. 8. 149 Nedham: The Excellencie (wie Anm. 145), S. 8.



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mords gleich kam. Damit schien Athen als geeignetes Vorbild für die Engländer, die schließlich Karl I. ebenfalls mit der Begründung seiner Tyrannei hingerichtet hatten. Die erste Tat der Athener in Freiheit sei in der Eigengesetzgebung sowie Wahl und Einsetzung der Magistrate und Amtsträger zu sehen: If a People once conceive they ought to be free, this conception is immediatley put in practice; and they free themselves. Their first care is to see, that their Laws, their Rights, their Deputies, their Officers, and all their Dependents, be settled in a state of freedom. This becoms like the Apple of the eye;  the least grain, atome, or touch, will grieve is:  it is an espoused virgin; they are extreme jealous over it.150

Die Athener hatten in Nedhams Interpretation auf ihre Freiheit geachtet und den Geist der Freiheit bewahrt, indem sie gute Gesetze gaben, die auf das Gemeinwohl ausgrichtet waren.151 Nedham diskutierte in diesem Zusammenhang die Grenzen und Möglichkeiten einer Volksregierung. Dabei nannte er folgende Argumente, die für diese sprachen: Zum ersten sei ein freier Staat, der vom Volk gemeinsam regiert werde, weniger anfällig für Luxus und Korruption als dies ein Einzelherrscher sei. Die Tugend könne in einem free state also besser und länger erhalten werden.152 Zum anderen erklärte Nedham in einem Absatz, in dem er „All Objections Against the Government of the People“ besprach, dass auch das Eigentum der Athener so lange gesichert gewesen sei, solange diese in Freiheit lebten. Leider habe das athenische Volk jedoch die königliche Macht, nachdem es seinen König abgesetzt hatte, in anderer Form wieder eingeführt. Die Athener gestanden, und das war nach Nedham ihr größter Fehler, ihrem „Governour“ so viel Macht zu, dass dieser sich zum Alleinherrscher entwickelte.153 Hier klingt 150 Nedham: The Excellencie (wie Anm. 145), S. 2. 151 „… for we see, that both in Athens and Rome, the Great Ones were by this means kept in awe from Injustice; the Spirits of the people were kept warm with high thoughts of themselves and their Liberty (which turned much to the inlargement of their Empire.) And lastly, By this means they came off always with good Laws for their profit, (as in the case of the Law of twelve Tables, brought from Athens to Rome) or else with an Augmentation of their Immunities, and Priviledges (as in the case of procuring the Tribunes, and their Supreme Assemblies and afterwards in the frequent confirmation of them against the Incroachments of the Nobles.“ Siehe Nedham: The Excellencie (wie Anm. 145), S. 110. 152 „to shew, That Free-States, or the People duely qualified with the Supreme Authority, are less devoted to Luxury, than the Grandee or Kingly Powers: but we shall give you onely a few. … The first that comes in our way ist the State of Athens, which, whilst it remained free in the Peoples Hands, was adorned with such Governours as gave themselves up to serious, abdemious, severe course of Life; so that whilst Temperance and Liberty walked hand in hand, they improved the points of Valour and Prudence so high, that in a short time they became the onely Arbitrators of all Affairs in Greece.“ Siehe Nedham: The Excellencie (wie Anm. 145), S. 51 und auch S. 53. 153 Nedham: The Excellencie (wie Anm. 145), S. 87f.

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eine Kritik an der Machtanhäufung Oliver Cromwells an, der 1653 sogar das Rumpfparlament mit Truppenhilfe – 30 an der Zahl – auflöste. Die Kritik daran konnte der Pamphletist gerade am Beispiel Athens erklären: Eine ähnliche Form des Machtexzesses hätten die Athener nämlich mit ihren dreißig Tyrannen erlebt, „who put to death, banished, pill’d, and poll’d whom they pleased, without Cause or Exception; so that the poor people having been tormented under all the Forms of standing Power, were in the end forced (as their last remedy) to take Sanctuary under the Form of a Free-State, in their successive Assemblies“.154 Alle Probleme und Misslagen Athens, die von politischen Theoretikern wie Machiavelli bereits angemerkt worden waren, ließen sich für Nedham daraus erklären, dass die Athener von dem von Solon vorgegebenen Weg eines free state abgekommen seien.155 Diese Gefahr sah Nedham offensichtlich auch für England, denn das Volk liebe Leichtigkeit und Behaglichkeit, deshalb werde seine Macht zu schnell von einzelnen Menschen oder Gruppen missbraucht.156 Hier diente die Geschichte Athens also als Warnung für England gegen den drohenden Machtmissbrauch Cromwells. Anhand Athens stellte Nedham dar, dass ein Gemeinwesen, das den Weg eines free state verlasse und quasi durch die Hintertür wieder das Königtum etabliere, dem Niedergang geweiht sei.157 Nichts könne jedoch einem Volk auferlegt werden, was es selbst nicht wolle und wozu es selbst nicht zustimme, „Since it appears, that the right, liberty, welfare, and safety of a people, consists in a due succession of their supreme Assemblies.“158 Deshalb müsse auch jede militärische Entscheidung beim Volk liegen.159 Hier wird noch einmal Kritik an der Führung der Republik deutlich: Gerade der Verweis auf die militärischen Prärogativen stellt einen deutlichen Bezug zu Cromwell her, der als Lordprotektor den militärischen Oberbefehl im neu geschaffenen commomwealth führte. Dass die 154 Nedham: The Excellencie (wie Anm. 145), S. 88. 155 Nedham: The Excellencie (wie Anm. 145), S. 89, siehe auch S. 221ff oder S. 73: „In Greece we finde, that the Free-State of Athens lost its Liberty upon that account once, when they suffered certain of the Senators to over-top the rest in power: which occasioned that multiplied Tyranny, made famous by the name of the Thirty Tyrants: at another time, when by the same Error they were constrained, through the power of Pestratus, to stoop unto his single Tyranny.“ 156 Nedham: The Excellencie (wie Anm. 145), S. 106f. 157 „But alas, they found the contrary; for, the people not keeping a strict Watch over themselves, according to the Rules of a Free State; but being won by specious pretences, and deluded by created Necessities, to intrust the management of Affairs into some particular hands, such an occasion was given thereby to those men to frame parties of their own that by this means, they in a short time became able to stand upon their own legs, and do what they list without peoples consent: and in the end, not onely discountinued, but utterly extirpated their successive Assemblies.“ Nedham: The Excellencie (wie Anm. 145), S. 152f. 158 Nedham: The Excellencie (wie Anm. 145), S. 242. 159 Nedham: The Excellencie (wie Anm. 145), S. 173.



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militärische Befehlsgewalt in den Händen des Volkes liegen solle, zeigt, dass der Engländer die Macht des Lordprotektors begrenzen wollte. Gleichzeitig warnte Nedham aber auch gegen die Machtexzesse des Volkes. Diese Gefahr verdeutlichte er wiederum anhand der athenischen Praxis des Ostrazismus: The Banishment, called Ostracism, among the Athenians, was instituted (at first) upon a just and noble ground: … to turn such out of the Common-wealth, who had rendered themselves suspected against the common Liberty: but yet the abuse of it afterwards proved most pernicious, to the imbroyling of those States with Civil Dissention, when it was perverted by some petulant spirits, to an opposition of some few (and but few) of their best deserving Citizens.160

Für Nedham fehlte Athen, und das machen die beiden beschriebenen Fälle des Machtmissbrauchs von Seiten eines Alleinherrschers oder des Volkes deutlich, eine Mittlerinstanz zwischen Volk und Regierenden, die im Falle Englands nur im Parlament liegen konnte. Anhand Athens stellte Nedham ähnlich wie Rous dar, wie wichtig die Sorge für die Jugend und eine die Tugend fördernde Erziehung sei, ohne die kein innerer Frieden erwartet werden könne und ohne die Schulen, Akademien und Seminare zu Brutstätten der Rebellion degenerierten, die ihr Mutterland im Innern zerrissen.161 Diese Sorge um die Jugend sei im antiken Griechenland besonders ausgeprägt gewesen. Dort hätten Lehrer gewissenhaft darauf geachtet, was die Jugend lese.162 Anhand der Republik Athen ließ sich zeigen, wie gut es einem Gemeinwesen gehe, ja wie dieses kulturell, militärisch und wirtschaftliche floriere, wenn es dem Weg eines free state folge. Was anhand Athens aber auch bestens gezeigt werden konnte, waren die Folgen von Machtmissbrauch von Seiten der Amtsinhaber. Das Beispiel Athens führte deutlich vor Augen, was passiere, wenn politische Entscheidungsträger die Prinzipien eines free state missachteten und zu viel Macht an sich zogen. Auch bei einem anderen Autor des sogenannten klassischen Republikanismus wurde Athen diskutiert: James Harrington (1611–1677), der bis Januar 1649 zunächst gentleman of the bedchamber bei Karl I. war und diesem in seiner Gefangenschaft diente, versuchte in seinem The Commonwealth of Oceana von

160 Nedham: The Excellencie (wie Anm. 145), S. 195f. 161 Nedham: The Excellencie (wie Anm. 145), S. 180: „That if care be not taken to temper the Youth of a Common-Wealth, with Principles and Humours suitable to that Form, no sure settlement, or peace, can ever be expected: for Schools, Academies, with all other Seed-plots, and Seminaries of Youth, will otherwise be but so many Nurseries of Rebellion, publike Enemies, and unnatural Monsters that will tear the bowels of their Mother-Contrey.“ 162 Nedham: The Excellencie (wie Anm. 145), S. 181.

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1656 den Untergang der englischen Monarchie zu erklären. In seinem Vorwort bezeugte er, nicht länger als zwei Jahre an ihr gearbeitet zu haben, seine Oceana wurde also im Hintergrund der Unzufriedenheit mit der republikanischen Regierung geschrieben und nicht etwa im Transformationsprozess zwischen Monarchie und Republik.163 Sein Werk war jedoch Oliver Cromwell gewidmet.164 Harringtons Hauptanliegen war, ganz in der Tradition Machiavellis, die Beschäftigung und Sorge um die „ancient prudence“, womit er die politische Weisheit der alten Griechen, Römer und Israeliten meinte. In der Auffassung des Engländers hatten die antiken Menschen eine Regierung des Rechtes und nicht der Menschen geschaffen. Die „ancient prudence“ fordere deshalb eine strikte Aufgaben- und Machtaufteilung zwischen dem Volk und seiner „natürlichen Aristokratie“, womit bei Harrington nicht zwangsweise der Adel gemeint war, sondern diejenige Gruppe, deren natürliche Autorität sich durch moralische und kommunikative Kompetenzen auszeichnete und allgemein anerkannt wurde. Diese natürliche Aristokratie habe das exklusive Recht zu debattieren und zu beraten sowie das Volk zu repräsentieren.165 Für den Theoretiker war Athen das historisch älteste Beispiel einer solchen repräsentativen Versammlung: „… the Athenians seem to have ordered their state aright; consisting of a moderate temper both of the few (by which he means the senate of the bean) and of the many, or the five thousand’; … as the first example that I find, or think is to be found, of a popular assembly by way of representative.“166 Harrington stimmte damit mit Nedham bezüglich der für einen free state notwendigen Trennung von Exekutive und Legislative überein. Dennoch zeigt sich ein erheblicher Unterschied bei der Beurteilung der Legislative, die in Harringtons Analyse in Senat (Rat) und Volksversammlung unterteilt war. Letzterer ließ keinen Zweifel daran, dass ein free state ein bikamerales System brauchte,167 in dem der Senat als zweite Kammer beriet, und die Repräsentanten des Volkes in der ersten Kammer Entscheidungen trafen. Der Senat und die Magistrate sollten dabei von der natürlichen Aristokratie übernommen werden.168 Mit diesen Forderungen verbunden war Harringtons zentrales Argument, das die Redistribution des Eigentums betraf: Eine Umverteilung sollte durch die Auflö163 Pocock, John G.: Introduction. In: James Harrington: The Commonwealth of Oceana and a System of Politics of Oceana. Hrsg. von John G. Pocock. Cambridge 1992. S. vii–xxv, hier S. viiif. 164 Siehe Höpfl, H. M.: Harrington, James (1611–1677). In: Oxford Dictionary of National Biography. Online Edition 2007. http://www.oxforddnb.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/view/article/12375?docPos=3 (03.05.2015). Siehe zu Harrington auch: Downs, Michael: James Harrington. Boston 1977. 165 Höpfl: Harrington (wie Anm. 164). 166 Harrington: The Commonwealth, (wie Anm. 163), S. 165. 167 Höpfl: Harrington (wie Anm. 164). 168 Vgl. Cambiano: Polis (wie Anm. 84), S. 276ff.



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sung der Klöster ermöglicht werden. Damit könnten Besitzakkumulationen, die einer natürlichen Aristokratie nur im Wege stünden und eine Erbaristokratie schüfen, vermieden werden. Harrington befürwortete also einen „popular commonwealth“, der ähnlich wie bei Machiavelli expansionistisch und kriegerisch ausgelegt sein solle.169 Wie beurteilte Harrington somit das antike Athen? Harrington beschäftigte sich vor allem mit dem politischen Regime, wie es von Solon geschaffen worden war. Der Engländer bemerkte zunächst dessen Einteilung der Athener in vier Stände.170 Obwohl der vierte, besitzlose Stand zahlenmäßig die ersten drei übertroffen habe, sei dieser von der politischen Teilhabe ausgeschlossen gewesen. Harrington widersprach an dieser Stelle nicht dem Prinzip, politische Teilhabe an Besitz zu binden, er kritisierte anhand Athens vielmehr, dass dort das Eigentum nicht gleichmäßig verteilt war. Dies habe Athen in eine Erb-Aristokratie verwandelt und somit nicht die gewünschte natürliche Aristokratie hervorgebracht. Das Fehlen einer natürlichen Aristokratie habe wiederum Auswirkungen auf das Institutionengefüge in Athen gehabt. Der Rat der Fünfhundert, in Harringtons Sprache „Senat“ genannt, sei in seiner beratenden Funktion ausgehöhlt worden,171 die beratende Tätigkeit sei so ebenfalls der Volksversammlung zugefallen, die aufgrund der großen Zahl dazu jedoch unfähig gewesen sei. Das Fehlen einer funktionstüchtigen, beratenden Aristokratie habe schließlich zum Untergang des Gemeinwesens geführt: whereof if, notwithstanding what was said of dividing and choosing in our preliminary discourses, men will yet be returning unto the question why the senate must be a council apart – though even in Athens, where it was of no other constitution than the popular assembly, the distinction of it from the other was never held less than necessary – this may be added unto the former reasons, that if the aristocracy be not for the debate it is for nothing, but if it be for the debate, it must have convenience for it; and what convenience is there for debate in a crowd, where there is nothing but jostling, treading upon one another and stirring of blood, than which in this case there is nothing more dangerous? … that you think better of football; for such sport is debate in a popular assembly as, notwithstanding the distinction of the senate, was the destruction of Athens.172

Ferner kritisierte Harrington das athenische Auswahlsystem, das nach seiner Analyse ebenfalls einer natürlichen Aristokratie der Besten im Wege stand: Athens in regard that the senate, chosen at once by lot, not by suffrage, and changed every year not in part but the whole, consisted not of the natural aristocracy nor, sitting long 169 Höpfl: Harrington (wie Anm. 164). 170 Harrington: The Commonwealth, (wie Anm. 163), S. 139. Siehe auch ebd. S. 130f. 171 Harrington: The Commonwealth, (wie Anm. 163), S. 38ff. 172 Harrington: The Commonwealth, (wie Anm. 163), S. 146f.

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enough to understand or be perfect in their office, had sufficient authority to withhold the people from the perpetual turbulence in the way which was ruin in the end ...173

Nach Ansicht des Theoretikers hatte das in Athen praktizierte Losverfahren also in zweierlei Hinsicht die natürliche Aristokratie der Besten verhindert: Erstens entschied das Los willkürlich über die Ämterverteilung; zweitens wurde das Los jedes Jahr konsultiert, sodass sich niemand in sein Amt einarbeiten und von Erfahrungen profitieren konnte. Aus diesem Grund sei der Senat unterhöhlt worden und der Volksversammlung zu viel Macht zugekommen. Damit hatte Athen ein weiteres Problem aufzuweisen: Es konnte die Aufgabenteilung von Senat, Volksversammlung und Magistraten in der Praxis nicht aufrechterhalten. Diese Aufteilung der politischen Aufgaben sei aber von höchster Notwendigkeit und könne auch nicht von einer einzelnen Person ausgeführt werden.174 Gegen den Autor des Leviathan führte Harrington an, dass dieser fälschlich angenommen habe, dass ein „popular commonwealth“ immer nur aus einer Kammer, der Volksversammlung bestehe. Dass Aristoteles und Cicero ihre politischen Kategorien aus der Beobachtung ihrer eigenen Gemeinwesen konstruiert hätten, sei ebenfalls kaum denkbar, da ihre politischen Kategorien nicht den von ihnen beobachteten historischen Gemeinwesen entsprächen.175 Anhand der athenischen Geschichte zeigte Harrington vielmehr, dass Hobbes selbst seine Kategorien missverstand.176 „Popular government“ hieße eben nicht, dass das Volk debattieren und beraten solle. Hier schwingt der Vorwurf mit, dass Hobbes nicht nur die Möglichkeit eines bikameralen Parlamentes und der Repräsentation übersehen, sondern auch die 173 Harrington: The Commonwealth, (wie Anm. 163), S. 37f. 174 Harrington: The Commonwealth, (wie Anm. 163), S. 38. Zu Harringtons Entwurf eines Gemeinwesens, siehe Riklin, Alois: Die Republik von James Harrington 1656. Bern/Wien 1999 (Kleine politische Schriften 6), v.a. S. 112–132. 175 Harrington: The Commonwealth, (wie Anm. 163), S. 65. Zum expliziten Vergleich von Hobbes’ und Harringtons Theorie, siehe Fukuda, Arihiro. Sovereignty and the Sword. Harrington, Hobbes, and Mixed Government in the English Civil Wars. Oxford 1997. 176 „For the oligarchy, Thucydides tells us that it was a senate or council of four hundred, pretending to a balancing council of the people consisting of five thousand, but not producing them; wherein you have the definition of an oligarchy, which is a single council both debating and resolving, dividing and choosing;  and what that must come to was shown … is apparent through all experience. Wherefore the thirty set up by the Lacedaemonians when they had conquered Athens are called tyrants by all authors, Leviathan only excepted, who will have them against all the world to have been an aristocracy, but for what reason I cannot imagine, these also as void of any balance having been void of that which is essential to every commonwealth, whether aristocratical or popular; except he be pleased with them in that, by the testimony of Xenophon, they killed more men in eight months than the Lacedaemonians had done in ten years, oppressing the people (to use Sir Walter Ralegh’s [sic.] words) with all base and intolerable slavery.“ Harrington: The Commonwealth, (wie Anm. 163), S. 65f.



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Unterscheidung von Staats- und Regierungsform, die bereits bei Bodin angelegt war, vernachlässigte. Gegen Hobbes führte Harrington aus: Nor shall any commonwealth where the people in their political capacity is talkative ever see half the days of one of these, but being carried away by vainglorious men (that, as Overbury says, piss more than they drink) swim down the sink; as did Athens, the most prating of these dames, when that same ranting fellow Alcibiades fell on demagoguing for the Sicilian war. But whereas debate, by the authority and experience of Lacedaemon and Venice, is not to be committed unto the people in a well-ordered government …177

Bei Harrington zeigte sich also ein ambivalentes Athen-Bild: Einerseits hatte Solons Verfassung gute Ansätze, jedoch zeigte sie in der politischen Praxis eklatante Fehler auf. Zu allererst war für Harrington die Ungleichheit der Eigentumsverhältnisse ein Problem, danach die konkrete Ausführung der Auswahl der politischen Amtsträger. Beides habe die Ausbildung einer natürlichen Aristokratie verhindert und so die eigentlich sinnige Institution der zweiten Kammer obsolet werden lassen. Obwohl Harrington also ein „popular government“ befürwortete, war sein Problem in Bezug auf Athen, dass es, im Gegensatz zum aristokratischen Sparta eine Demokratie war, in der das Volk regierte, was in Anarchie münde. In seinem The Prerogative of Popular Government178 von 1657 führte er deshalb weiter aus: From this that the People had not only the result of the Common wealth, but the debate also; Athens is called a Democracie, and this kind of Government is opposed unto that of Lacedemon, which because the People there had not the power of debate, but of result only, was called Aristocracy, sometimes Oligarchy: thus the Greek; commonly are to be understood to distinguish of these two; while according to my Principles … debate in the People maketh Anarchy, and where they have the result, and no more, the rest being mannaged by a good Aristocracy, it maketh that which is properly and truly to be called Democracy or Popular Government. Neither is this Opinion of mine new, but according to the Judgement of some of the Athenians themselves.179

177 Harrington: The Commonwealth, (wie Anm. 163), S. 149f. 178 Harrington, James: The Prerogative of Popular Government. A Politicall Discourse in Two Books. The Former Containing the First Praeliminary of Oceana, Inlarged, Interpreted, and Vindicated From All Such Mistakes or Slanders as Have Been Alledged Against it Under the Notion of Objections. The Second Concerning Ordination, Against Dr. H. Hamond, Dr. L. Seaman, and the Authors They Follow. In Which Two Books Is Contained the Whole Commonwealth of the Hebrews, or of Israel, Senate, People, and Magistracy, Both as It Stood in the Institution by Moses, and as It Came to Be Formed After the Captivity. As Also the Different Policies Introduced into the Church of Christ, During the Time of the Apostles. 2. Aufl. London 1657. 179 Harrington: The Prerogative (wie Anm. 178), S. 110.

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 III Von der florierenden zur gescheiterten Republik

Harrington befürwortete anhand seiner Athen-Analyse eine bikameral strukturierte Demokratie, ein Gemeinwesen also, in dem das Volk zwar souverän sei, aber eine natürliche Aristokratie die beratende Funktion übernehme. Hierin konnte Athen nicht als politisches Vorbild dienen, jedoch als Warnung dagegen, was passiere, wenn die politische Beratung eben nicht von einer gebildeten Aristokratie ausgehe, die dem Volk die politischen Alternativen zum Beschluss vorlege. Wenn das Volk diskutiere und entscheide, ließe es sich zu schnell verführen und einzelne Männer konnten durch rhetorische Eloquenz und Charisma zu viel Macht an sich ziehen. Harrington nutzte Athen also augenscheinlich ähnlich wie Nedham zur Kritik an der Republik Cromwells. Eine natürliche Aristokratie war für ihn notwendig, um nicht einzelnen Männern die Führung des unstetigen und beeinflussbaren Volkes zu überlassen. Sparta und Rom, die für Harrington keine Demokratien, sondern Aristokratien oder Oligarchien waren, konnten deshalb in der Tradition des Mischverfassungsideals besseres Vorbild für die von Harrington entworfene Oceana sein. Ähnlich urteilte auch der Soldat, Drucker und politische Pamphletist, John Streater (ca.1620–1677) über Athen. Er kritisierte anhand des griechischen Stadtstaates die fehlende repräsentative Volksversammlung, die er auch für England forderte und warnte anhand Athens ebenfalls vor zu viel Macht des Lordprotektors, der das Rumpfparlament gewaltsam aufgelöst hatte. Als Reaktion darauf schrieb Streater, der schon seit den Bürgerkriegen der parlamentarischen Armee diente, Pamphlete und forderte ein sechsmonatiges Parlament, das von den Bürgern nach ihrem unveräußerlichen Recht gewählt werden sollte.180 Danach brachte er weitere Flugschriften in Umlauf, in denen das politische Gefüge einer Republik diskutiert wurde, das erste im Jahre 1653 mit dem Titel A Glympse of that Jevvel, Judicial, Just, Preserving Libertie181. Darin verteidigte er einen klassischen Republikanismus, nach welchem ein commonwealth auf helden- und tugendhaften Bürgern aufgebaut sein sollte, die durch ihre Tugendpflicht an das Recht und die Freiheit ihres Vaterlandes rückgebunden wurden. Die Einberufungszeit des Parlaments sollte, damit es den Interessen der Republik und nicht etwa Privatinteressen folge, dabei nur von kurzer Dauer sein. Amtsinhaber sollten entspre180 Siehe dazu Johns, Adrian: Streater, John (c. 1620–1677). In: Oxford Dictionary of National Biography. Online Edition 2008. http://www.oxforddnb.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/ view/article/26656 (03.05.2015); sowie Streater, John: Secret Reasons of State in Reference to the Affairs of these Nations, at the Interruption of this Present Parliament: Anno 1653. Discovered also, the Power of Parliaments, Touching Imprisonment Debated: with Other Matters Worthy of Observation, in Jo. Streater’s Case, this Being a Narrative of his Two Years Troubles at the Beginning of the Late Monarchie, Erected by General Cromwell. London 21659. 181 Streater, John: A Glympse of that Jevvel, Judicial, Just, Preserving Libertie. By Jo. Streater, a Member of the Army of the Commonwealth of England Serving in Ireland. London 1653.



3 Athen im republikanischen Denken 

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chend nur für ein Jahr bestimmt werden. So sollte eine harmonische Republik nach dem Vorbild der alten Römer entstehen.182 Anders als die antiken Republiken sei England jedoch viel größer, weshalb sich die englischen Bürger nicht an einem öffentlichen Platz versammeln und über politische Entscheidungen abstimmen konnten. Deshalb benötigten die Engländer ein repräsentatives Parlament.183 Streater interessierte sich dennoch für die Volksregierung der Athener, wo sich das Volk auf dem Marktplatz versammelt und mit Solon beraten habe, sodass die Regierung nach Analyse des Soldaten direkt in der Hand des Volkes lag.184 Um die Machtanhäufung einer Person zu verhindern, hätten die Athener zwei Institutionen geschaffen: Erstens hatten die Amtsinhaber ihr Mandat nur für ein Jahr inne, außerdem hatten sie die Möglichkeit zum Ausschluss eines Bürgers, wenn dieser sich zu viel Macht aneignete hatte. and it is clear, that there is no way to preserve a peoples Rights and Liberties, from such as would make themselves Lords thereof, as often or annual elections; for if the people keep the right of often elections in their hands, it will make such as affect Government desire to be always in the peoples favour; to that end, they will endeavour to oblige the people by acts of Honour and Justice; the people here must take heed they lend not such persons too much of their favour: to prevent this kind of evil, the Athenians banished such as had obtained, or did endeavour to grow too great in the peoples favour, they looking upon them as dangerous persons.185

Die Institution des Ostrazismus wurde von Streater nicht als Beweis für die Tyrannei eines Volkes angesehen, sondern als geeignetes Mittel, eine Machtanhäufung innerhalb eines Gemeinwesens zu verhindern. Athen war nicht Beispiel für eine entartete Volksherrschaft, sondern verwies für ihn auf die Geschichte eines weisen 182 Siehe Johns, Adrian: Streater (wie Anm. 180). 183 „But forasmuch as the Common-wealth of England is so large, that it cannot meet as Rome, Athens, or Sparta, or Corinth, in a Market place, or in a Theater, in Councel, Judgement, or matters of State; therefore it hath been the consent of the Commonwealth of England, for many hundred years, to contract their Authority in a Representative Parliament: Indeed, their Kings, never had any other power, then as their chiefest Minister of State and was no other then [sic.] a member of the Common-wealth, bound up by the same Law and Rules of government.“ Streater, John: A Glimpse (wie Anm. 181), S. 2. 184 „It was notably observed by Plutarch, of Solon; being chosen chief in Government of the Common-wealth of Athens, the people being assembled in the Market place he coming to sit in Councel with them, when he drew nigh the Assembly of the people, he caused the Rod that was born before him (which was a mark or ensigne of Government) the head to be turned downward, to signifie, that essentially the Government was in the People.“ Streater, John: A Glimpse (wie Anm. 181), S. 3. 185 Streater, John: A Glimpse (wie Anm. 181), S. 10.

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 III Von der florierenden zur gescheiterten Republik

Gesetzgebers, Solon, der eine gute Verfassung geschaffen und anschließend die Macht in die Hände des Volkes gelegt hatte. Letzteres hatte sich anschließend durch zwei Institutionen gegen Machtexzesse geschützt: Durch Ämterrotation und durch die Verbannung von Freiheitsfeinden. Hierin lag die implizite Aufforderung, dass Cromwell, ähnlich wie Solon, eine gute Verfassung einführen, also einen free state schaffen und anschließend die Macht in die Hände des englischen Volkes legen sollte. Die alten Athener schienen das englische Volk also zu mahnen, sich vor Machtexzessen von Einzelpersonen zu schützen. Der Stadtstaat in Attika konnte außerdem für Streater nicht als Vorbild für England dienen, da es seine Entscheidungen direktdemokratisch getroffen hatte, was für das bevölkerungsreichere und größere England keine Option darbiete. Streaters offensichtliche Kritik an der Macht Cromwells, die er durch Beispiele der antiken Geschichte stütze, brachte ihn schließlich erneut in Haft. Aus dem Gefängnis entlassen, verbreitete er heimlich Harringtons Oceana und forderte in weiteren Veröffentlichungen eine Republik nach Harringtons Modell.186 In seinem The Continuation of this Session,187 ebenfalls von 1659, forderte er, dass nun die politische Macht in die Hand des Volkes gelegt werden müsse, da sonst die Hinrichtung Karls, anstatt einer legitimen Hinrichtung, als Mord zu werten sei. Wie die freiheitlichen Verfassungen von Solon, Lykurg, Dion oder Brutus, müsse auch in England eine Verfassung geschaffen werden, die diese Hinrichtung schließlich legitimiere. Which is much to say, That such an Extraordinary Action, is Justifiable and Legal, if it be converted to the Commodity and profit of his Country: but if it were converted to his own profit, and to Establish himself then it is a Murder. It is so applyed to this great Action now on foot, If the Army had transplanted the Power though usurpt, to plant themselves in their room, it then had been justly to be Condemned, and disapproved: but for as much as the Scene of the Undertaking hath no other Tendency then [sic.] to restore the Captivated Liberty of their Country, it is therefore Honourable, Justifiable, and Commendable. The like did Solon at Athens, and Lycurgus at Sparta, and Dion at Syracuse; and Brutus at Rome …188

186 Im Jahr, als sich das Rumpfparlament schließlich wieder versammelt hatte, griff Streater weitere republikanische Argumente auf und veröffentlichte diese in seinem Government Described. Siehe Streater, John: Government Described. Viz. what Monarchie, Aristocracie, Oligarchie, and Democracie, Is. Together with a Brief Model of the Government of the Common-Wealth, or, Free-State of Ragouse. Fit for View at this Present Juncture of Settlement. London 1659. Vgl. Johns, Adrian: Streater (wie Anm. 180). 187 Streater, John: The Continuation of this Session of Parliament, Justified, and the Action of the Army Touching that Affair Defended. And the Objections to Both Answered According to the Best Rules of Law, Reason, and Just-Preserving Policie. London 1659. 188 Streater: The Continuation (wie Anm. 187), S. 16.



3 Athen im republikanischen Denken 

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In A Shield189 forderte Streater schließlich, dass der englische commonwealth nach den Grundsätzen Harringtons geordnet werden solle, woraufhin Streater wieder inhaftiert wurde. Als 1660 die Monarchie restauriert wurde, schien sich der Publizist jedoch bald an die neuen Gegebenheiten anzupassen und wirkte fortan ausschließlich als Drucker und unterhielt das wie man annimmt größte Druckerhaus Englands.190 Die hier dargestellten Beispiele machen deutlich, dass Athen mehr als die Forschung dieser Tatsache bisher Beachtung geschenkt hat, in der Sprache eines sogenannten klassischen Republikanismus diskutiert wurde. Jedoch wurde es weniger als zu imitierendes politisches Modell besprochen, vor allem wegen seiner fehlenden gemischten Elemente, die sich als Fehlen einer repräsentierenden Arsitokratie auswirkte. Vielmehr war es warnendes Beispiel eines Regimes, das zum Ziel der Freiheit und Selbstverwaltung die Monarchie abgeschafft hatte, dann aber der Versuchung erlegen war, gleichsam durch die Hintertür erneut tyrannische Macht zugelassen zu haben. Damit wurde Athen zur geeigneten Folie der Kritik an der Machtfülle Cromwells, der als weiser Gesetzgeber dem englischen free state die geeignete Verfassung geben sollte, damit dieser die Freiheit wahren und auf Dauer bestehen könne. Athen machte für die Autoren deutlich, wie ein freies Gemeinwesen kulturell, militärisch und wirtschaftlich floriere, wenn es in Freiheit regiert werde. Aufgrund der kürzeren Dauer im Vergleich zu Rom oder Sparta zeigten die Autoren anhand Athens jedoch auch auf, welche Fehler zu vermeiden waren. Auch wenn die Einschätzungen und Beurteilung konkreter athenischer Institutionen etwas variierten, so war diesen Autoren gemeinsam, dass sie anhand Athens zeigten, was mit England passieren würde, wenn es nun, nachdem das Königtum abgeschafft worden war, diese Freiheit nicht schütze. Anders als im Kontext der niederländischen republikanischen Auseinandersetzung mit Athen galt das antike athenische Gemeinwesen bei englischen republikanischen Schreibern nicht vornehmlich als Beispiel für Freiheit und Handelsmacht oder als Metapher eines wissenschaftliches Zentrums, das in den Niederlanden wiederum von der Stadt Leiden verkörpert wurde. Für die hier vorgestellten Autoren galt Athen zwar einerseits als free state, der eine beachtliche Blütezeit in Wissenschaft und Kunst hervorgebracht hatte, jedoch konzentrierten sich die Schreiber aufgrund der offensichtlichen Enttäuschung über die Machtfülle Cromwells auf den Niedergang des einst so florierenden athenischen Gemeinwesens: Bei den Denkern war dieser nicht durch militärische Eroberun189 Streater, John u. John Splittlehouse: A Shield Against the Parthian Dart, or, a Word to the Purpose, Shot into Wallingford-House. Answered in Defence of the Present Actions of State Here in England, that Produced the Late Change of Government. [o.O.] 1659. 190 Siehe Johns, Adrian: Streater (wie Anm. 180).

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 III Von der florierenden zur gescheiterten Republik

gen begründet, sondern darin, dass die Athener den guten Weg des free state verlassen und die Machtkonzentration in den Händen einzelner Amtsträger zugelassen hatten. Athen war für sie im Gegensatz zu Rom oder Sparta nicht Ideal, sondern Abbild einer gescheiterten Republik. Dieses Scheitern fürchteten sie auch für ihren eigenen free state. Der von Hobbes ausgeführte Vorwurf, dass die Engländer und die gesamte westliche Welt von Athen gelernt hätten, dass Freiheit nicht mit einer Monarchie vereinbar und dass Tyrannei als Einzelherrschaft zu deuten sei, kann anhand der Autoren, die das antike Athen diskutierten, einerseits nachvollzogen werden. Allerdings wollten die Autoren Athen nicht imitieren, sondern vielmehr diente es im Kontext der Republik, in der Cromwell quasimonarchische Macht ausübte, als Warnung, dass England, ähnlich wie einst Athen, dem Niedergang geweiht sei, wenn es keine geeigneten, die Freiheit wahrenden Institutionen schüfe. Zuweilen schienen Hobbes’ Vorwürfe jedoch gerade erst eine Diskussion über Athen ausgelöst zu haben. Gerade gegen Hobbes’ Polemik gegen eine humanistische Erziehung verteidigten die meisten Autoren eine gute Bildung der politischen Amtsträger, die gerade von den Athenern abgeschaut werden konnte. So schrieb Harrington etwa: „Athens was the most famous university in her days and her senators, that is to say the Areopagites, were all philosophers. Lacedaemon (to speak truth), though she could write and read, was not very bookish.“191 Und auf England bezogen forderte er: Of this I am sure, the perfection of a commonwealth is not to be attained unto without the knowledge of ancient prudence, nor the knowledge of ancient prudence without learning, nor learning without schools of good literature; and these are such as we call universities. … for studies do not teach their own use, but that is a wisdom without and above them, won by observation. … Wherefore, if you would have your children to be statesmen, let them drink by all means of these fountains, where perhaps there was never any.192

Auch in diesem Punkt wehrte sich Harrington gegen Hobbes’ Vorwürfe, dass gerade die universitäre und gebildete Elite eine Mitschuld an den Unruhen der Zeit habe. Vielmehr stellte Harrington heraus, dass eine gute Bildung für die Existenz einer natürlichen Aristokratie notwendig sei, die allein zur Befriedung der politischen Verhältnisse beitragen könne. Ähnlich sah dies auch ein anderer Autor republikanischer Gesinnung: der Dichter und politische Denker John Milton (1608–1674). Auch er bezeichnete in seinem The Readie and Easie Vvay to

191 Harrington: The Commonwealth, (wie Anm. 163), S. 199. 192 Harrington: The Commonwealth, (wie Anm. 163), S. 199.



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Establish a Free Commonwealth193 von 1660 die Bildung in Athen als vorbildlich und der Imitation würdig: And this I finde to have bin [sic.] practisd in the old Athenian Commonwealth, reputed the first and ancientest place of civilitie in all Greece; that they had in thir [sic.] several cities, a peculiar; in Athens, a common government; and thir [sic.] right, as it befell them, to the administration of both. They should have heer also schools and academies at thir [sic.] own choice, wherin, thir [sic.] own fight to all learning and noble education not in grammar only, but in all liberal arts and exercises.194

Miltons Atheninterpretation erinnert, wie schon diejenige von Francis Rous, an die positive Athenrezeption der Niederländer. Insbesondere Rous hatte in den 1630er Jahren, als der Konflikt zwischen Krone und Parlament gerade erst aufbrach und noch nicht klar war, für welche Seite er entschieden werden würde, Athen dazu genutzt, die Rechte, Freiheiten und Prärogativen des englischen Parlamentes darzustellen. Rous, der die niederländischen Veröffentlichungen des Hause Elzeviers kannte, konzentrierte sich dabei, ähnlich wie die Niederländer, auf die kulturelle Blüte des athenischen Gemeinwesens. Dabei passte er die niederländische Lesart an die englischen Bedürfnisse an, denn die Blütezeit Athens verband er mit dem „civil government“, das er schließlich auch für England forderte. Athen war für Rous vor dem Bürgerkrieg dasjenige Beispiel, das die parlamentarischen Forderungen nach den alten Rechten untermauern und verdeutlichen konnte. Ähnlich wie die Veröffentlichungen des Hauses Elzevier verfolgte der Universitätsgelehrte dabei ein antiquarisches Interesse, das er mit seinen politischen Zielen zu verbinden wusste. Athen war für Rous, der vor der Hinrichtung Karls und vor der Republik Cromwells schrieb, also nicht warnendes Beispiel, sondern Anreiz und Vision für ein kulturell erfolgreiches England, wenn es sich denn für die Parlamentssouveränität entschied. Hobbes, der ähnlich wie der Franzose Jean Bodin im Hintergrund der Bürgerkriegserfahrung schrieb und Souveränität für absolut erachtete, verwarf die athenische Demokratie – allerdings mit einer anderen Begründung als der Franzose. Hobbes leitete seine politischen Kategorien aus seinem Theorem des Naturzustandes und des Gesellschafts- und Herrschaftsvertrages ab, baute seine politischen Kategorien nicht auf einer christlichen Ordnungsvorstellung auf, wie das Bodin getan hatte. Athen galt jedoch für beide als Beispiel einer nicht nachahmenswerten Volksherrschaft. Hobbes warf seinen Zeitgenossen vor, durch die 193 Milton, John: The Readie and Easie Vvay to Establish a Free Commonwealth. And the Excellence Therof Compar’d with the Inconveniences and Dangers of Readmitting Kingship in this Nation. 2. Aufl. London 1660. 194 Milton: The Readie and Easie Vvay (wie Anm. 193), S. 97.

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 III Von der florierenden zur gescheiterten Republik

Vermittlung politischer Theoretiker, die keine logischen, sondern empirische Kategorien erstellt hätten, von Athen gelernt zu haben, was Freiheit und Tyrannei bedeute. Von den Athenern, die Freiheit anti-monarchisch und Tyrannei als Alleinherrschaft definierten, hätten die Engländer deshalb abgeschaut, gegen die Monarchie aufzubegehren. Die Rezeption athenischen Gedankenguts bringe so Rebellionsstreben und Blutvergießen hervor. Anhand des athenischen Brauchs des Ostrazismus zeigte Hobbes dann schließlich auch, dass diesem Denken ein Missverständnis inhärent sei: Die Freiheit des Einzelnen und die Freiheit eines Staates waren für ihn nicht miteinander verbunden. Die Freiheit des Einzelnen vermehrte sich, so zeigte ihm der athenische Verbannungsakt, auch unter einer Demokratie nicht. Nach den Erfahrungen des Bürgerkriegs und während der Republik folgten sogenannte republikanische Schreiber, wie dies von John Pocock in seinem Machiavellian Moment auch für andere Bereiche erarbeitet wurde, vor allem Machiavellis Atheninterpretation: Wie der Florentiner vermissten die unter Cromwells Republik schreibenden Denker zumindest in der politischen Praxis Athens die stabilisierenden gemischten Elemente und somit auch Möglichkeiten der politischen Repräsentation. Athen erschien deshalb als ein Gemeinwesen, das zwar von Solon eine gute Verfassung erhalten hatte, jedoch den Weg eines free state nicht eingehalten hatte. Athen war somit eine gescheiterte Republik. Der Staat in Attika wurde damit zum warnenden Beispiel für England unter Cromwell, das in der Interpretation der sognenannten republikansichen Schreiber ebenfalls Gefahr lief, der Tyrannei zu verfallen. Athen stellte für sie kein Modell zur Verfügung, das imitiert werden sollte, sondern zeigte, welche institutionellen Fehler und praktischen Missstände zum Untergang eines freien Gemeinwesens führen konnten. Anders als bei Machiavelli ging es bei der Interpretation jedoch nicht nur um den Erhalt eines Gemeinwesens, sondern um das dauerhafte Überleben eines free state, der eine bestimmte politische Verfasstheit forderte. Gerade vor der drohenden Restauration der Monarchie war die Analyse Athens deshalb bedeutsam.

IV Von der Republik zur Polis: Athen als sozio-kulturelles Modell im grand siècle, ca. 1635–1715 Athen, das von den englischen republikanischen Schreibern als gescheiterte Republik und als warnendes Beispiel für den englischen commonwealth gesehen wurde und das aufgrund seiner politisch-institutionellen Fehler sorgsam untersucht wurde, wie dies schließlich die Tradition der politischen Theorie bereits vorgezeichnet hatte, sollte zu Ende des 17. Jahrhundert zuerst in Frankreich, dann auch in England neu interpretiert und nun als sozio-kulturelles Vorbild eines Gemeinwesens diskutiert werden. Die entscheidende Wende für diese Neuerung der Athenidee vollzog sich im Frankreich unter Ludwig XIII. und Ludwig XIV., denen daran gelegen war, die kulturelle Überlegenheit Frankreichs zur Schau zu stellen. Der nun neu enstehende Rekurs auf Athen ist deshalb im Hintergrund der französischen Sprach- und Kulturpolitik zu deuten. Während die Respublica litteraria durch die lateinische Sprache vereint wurde, bildete sich in Frankreich zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein neuer Typus von Gelehrten aus, der die französische Sprache favorisierte. Diese neue intellektuelle Elite war mehrheitlich bei Jesuiten ausgebildet worden, andere hielten sich im Umkreis und Einflussbereich des Schriftstellers und Kritikers François de Malherbe (1555–1628) auf und beschäftigten sich mit der Frage des guten Stils und des richtigen Umgangs mit Sprache.1 Malherbe war darum bemüht, ein Idiom zu konstruieren, das dasjenige der gesamten französischen Gesellschaft werden konnte – sowohl des Hofes, der Rechtsgelehrten, der Hafenarbeiter sowie der unteren Bevölkerungsschichten. Für Malherbe war Sprache damit das entscheidende Instrument der Einheitsstiftung und der sozialen Integration.2 Die Weiterentwicklung der französischen Sprache wurde in den folgenden Jahren zum Hauptanliegen französischer Literaten und Dichter, die sich in Salons trafen und die Kunst der Konversation einübten und diskutierten.3 Die Generation von Malherbe war geprägt durch die um 1624 einsetzende Debatte um die in französi-

1 Vgl. Fumaroli, Marc: Le cardinal de Richelieu fondateur de l’Académie française. In: Richelieu et le monde de l’esprit. Hrsg. von der Chancellerie des université de Paris et Académie française. Paris 1985. S. 217–236, S. 220. 2 Vgl. Carrère d’Encausse, Hélène: Des siècles d’immortalité. L’Académie française 1635-… Paris 2011, S. 25. 3 Einer der ersten Salons war derjenige der Marquise de Rambouillet, der sich ab 1615 im chambre bleu des Hôtel de Rambouillet traf, wo „gens lettrés“ wie Malherbe, Voiture, Chapelain, Racan und Godau sowie zahlreiche höfische Adelige und Kunstliebhaber ihre gemeinsames Anliegen besprachen. Siehe Carrère d’Encausse: Des siècles (wie Anm. 2), S. 24.

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 IV Von der Republik zur Polis

scher Sprache verfassten Lettres4 von Jean-Louis Guez de Balzac (1597–1654), der mit diesen für die Qualität und die Schönheit seiner Prosa bekannt wurde. An die Lettres anschließend wurde nun eingehend die „prose élégante“ diskutiert. Armand-Jean du Plessis, Premier Duc de Richelieu (1585–1642), erster Minister im Staatsrat unter Ludwig XIII., der es sich selbst zur Aufgabe gemacht hatte, Paris über Florenz und Madrid zu stellen, aber vor allem Rom, die in der Geschichte des katholischen Europas wichtigsten Stadt zu übertrumpfen,5 hatte sich bereits zu Beginn der 1630er Jahren mit diesen neuen „gens lettrés“ bzw. „gens de lettre“ beschäftigt, in deren Kreis allmählich die Idee einer Akademie heranwuchs. Seit 1629 hatte sich eine Gruppe dieser „gens lettré“ regelmäßig bei dem Literaten Valentin Conrart (1603–1675) in dessen Pariser Wohnung rue Saint-Martin getroffen, um die französische Sprache sowie die neuesten Ereignisse am französischen Hof zu diskutieren. Der Gastgeber war Sekretär des Königs und damit auch Redakteur der offiziellen königlichen Texte, mit seiner Bildung war Conrart ein Prototyp der neuen „gens de lettre“: Seine Kenntnis der lateinischen Sprache war eher spärlich, Griechischkenntnisse hatte er keine.6 Trotz der Nähe zum Hof sah diese Gruppe ihre Aktivität im Haus der rue SaintMartin als private Angelegenheit an, die vom Königshof unabhängig sein sollte und weder religiöse noch politische Vorstellungen kompromittieren durfte. Als Richelieu von den privaten Treffen erfuhr, nutzte er die Gelegenheit jedoch, diese „gens de lettre“ von nun an regelmäßig unter seiner „autorité publique“ zu ver-

4 Balzac, Jean-Louis Guez de: Lettres du sieur de Balzac. Paris 1624. 5 Fumaroli, Marc: Richelieu – Patron der Künste. In: Richelieu (1585–1642). Kunst, Macht und Politik. Hrsg. von Hilliard T. Goldfarb. Montréal 2002. S. 15–47, S. 17. Siehe zu Richelieus kulturellem Engagement: Goldfarb, Hilliard T.: Richelieu und die zeitgenössische Kunst: zwischen Staatsräson und persönlichem Geschmack. In: Richelieu (1585–1642). Kunst, Macht und Politik. Hrsg. von dems. Montreal/Köln/Gent 2002. S. 1–13, hier S. 1. Siehe auch Martin, Henri-Jean: La vie intellectuelle au temps de Richelieu. In: Richelieu et le monde de l’esprit (wie Anm. 1). S. 183–192; siehe auch Mesnard, Jean: Richelieu et le théâtre. In: Richelieu et le monde de l’esprit (wie Anm. 1). S. 193–206 sowie Fumaroli, Marc: Le cardinal de Richelieu fondateur de l’Académie française. In: Richelieu et le monde de l’esprit (wie Anm. 1). S. 217–236 und Grinevald, Paul-Marie: Richelieu et l’imprimerie royale. In: Richelieu et le monde de l’esprit (wie Anm. 1). S. 237–248. Siehe zum Thema Richelieus Kulturpolitik auch den Band zu dem im Jahr 1985 an der Sorbonne veranstalteten Kolloquium: Mousnier, Roland (Hrsg.): Richelieu et la culture. Paris 1987. Darin v.a. Fumaroli, Marc: Les intentions de Richelieu, protecteur de l’Académie Française. S. 69–78 und Feyel, Gilles: Richelieu et la Gazette. S.103–124. 6 Andere Mitglieder dieses Literaturkreises waren Jean Chapelin, Claude Favre de Vaugelas, Antoine Godeau, Jean Desmarets de Saint-Sorlin, Jean-Louis Guez de Balzac, sowie Vincent Voiture. Siehe Fumaroli: Le cardinal (wie Anm. 1), S. 223f.



1 Französische Sprachpolitik, Académie française … 

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sammeln.7 Die unoffiziellen Treffen bei Conrart wurden mit der Protektion des Ministers zur offiziellen Einrichtung, einer Akademie, die nun Namen, Statut, Administration, Kanzler, Direktor, Sekretär und weitere Mitglieder erhalten sollte. Unter den neuen Mitgliedern waren zwei klassische Gelehrte – der Schriftsteller François de la Mothe le Vayer (1588–1672) und Nicolas Bourbon d. J. (1574– 1644), neo-lateinischer Dichter und Professor am Collège royale, die beide die neu gegründete Académie mit der Gelehrtentradition der Renaissance verbanden.8 Ziel der Gruppierung um Richelieu war es, die französische Sprache zu verbessern und zu systematisieren, um sie gegen andere Vernakularsprachen, hautpsächlich aber gegenüber dem Lateinischen abzuheben. Um dies zu erreichen suchten die Mitglieder der neu gegründeten Akademie nach Vorbildern, die sie im antiken Griechenland und Rom entdeckten. Dies sollte einen neuen, veränderten Umgang mit der griechischen, insbesondere mit der athenischen Geschichte einläuten.

1 Französische Sprachpolitik, Académie française und die sprachliche Eloquenz der alten Römer und Griechen Seit 1635, dem Gründungsjahr der Académie française, hatte der Protektor der Académie, Kardinal Richelieu, sein Bestreben deutlich gemacht, die französische Sprache zur Universalsprache zu erheben. Die Akademie war das Symbol, das dieses Anliegen verkörpern und den Grundstein für eine neue Politik legen sollte. Sie war jedoch auch die Konsequenz eines Prozesses, der schon seit einiger Zeit in Gange war: Das Französische entwickelte sich langsam zur Sprache der Diplomatie und des (internationalen) Gesprächs sowie der Philosophie heraus.9 In den 1620er Jahren war Paris deshalb zur regelrechten Werkstatt der Übersetzungen geworden. Alle wichtigen Werke, die bisher nur in Latein oder einer anderen Landessprache zugänglich waren, sollten nun in der eigenen Vernakularsprache erhältlich sein. Einer der bedeutendsten Übersetzer der Zeit, Jean Baudoin (1590– 1650), war dementsprechend auch eines der ersten Mitglieder der neu gegründeten Académie. Gelehrte, die sich internationales Gehör verschaffen wollten, 7 Siehe Fumaroli: Le cardinal (wie Anm. 1), S. 223ff. Conrart war bereits im Dienste des Hofes, Gombauld hatte 1633 eine Panegyrik auf Richelieu verfasst. Antoine Godeau machte 1630 in seiner préface deutlich, dass er das gleiche Ziel wie sein literarischer Meister Malherbe verfolge, nämlich die offizielle Literatur zu fördern. Chapelain war von Richelieu für das Verfassen einer Panegyrik angeworben worden. Siehe ebd., S. 225. 8 Fumaroli: Le cardinal (wie Anm. 1), S. 226. 9 Zur Rolle der französischen Sprache siehe die Arbeiten von Waquet, Françoise: Le modèle français et l’Italie savante. Conscience de soi et perception de l’autre dans la république des lettres (1660–1750). Rome 1989.

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 IV Von der Republik zur Polis

mussten ihre Werke nun immer öfter ins Französische übersetzen lassen und französische „érudits“ scheuten sich nicht mehr davor, ihre Texte in ihrer Muttersprache zu verfassen. René Descartes, der bereits zwischen 1624 und 1626 dem in französischer Sprache veröffentlichenden Balzac seine Wertschätzung bezeugte und ihm den besten französischen Prosastil bestätigte, ging 1637 selbst diesen Schritt und schrieb in seiner Landessprache.10 1637 trat mit Nicolas Perrot d’Ablancourt (1606–1664) und 1640 mit Olivier Patru (1604–1681) eine neue Generation von Übersetzern in die Académie ein, die nach der isokratischen Eleganz und durch Balzacs Sprache ausgebildet wurden. In der Académie begegneten D’Ablancourt und Patru schließlich Jean Baudoin. Die neu gegründete Académie entsprach der literarischen Neuorientierung, die Malherbe und Balzac initiiert hatten: Man wollte die eigene Sprache fördern und nicht vornehmlich Latein erlernen.11 In den Lettres patentes beschrieb der königliche conseiller-secrétaire sowie Gründungsmitglied und Schriftführer der entstehenden Académie, Conrart, im Namen König Ludwig XIII. den Zweck und das Ziel der zu instituierenden Académie française. Sie solle dazu beitragen, dass die Wissenschaft und die Künste in Frankreich florierten, die schließlich sowohl das Glück und das Wohlbefinden eines Staates sowie die Tugend seiner Bürger bestimmten.12 Die nobelste aller Künste sei die sprachliche Eloquenz. Da diese bisher in Frankreich jedoch zu kurz gekommen sei, gründe man nun eine Versammlung, die Académie française, die die französische Sprache perfektionieren solle.13 Das Parlament, das die neue Académie argwöhnisch betrachtete, zögerte das „enregistrement“ der Lettres patentes zwei Jahre, bis zum 10. Juli 1637, hinaus. 10 Als Beispiele seien hier Gabriel Naudé, Pierre Dupuy und Guez de Balzac genannt. Siehe hierzu: Fumaroli, Marc: Les abeilles et les araignées. In: La Querelle des Anciens et des Modernes XVIIe – XVIIIe siècles. Hrsg. von Anne-Marie Lecoq. Paris 2001. S. 7–220, S. 13f. 11 Vgl. Fumaroli: Le cardinal (wie Anm. 1), S. 226. 12 „il [Richelieu – Anm. der Verf.] Nous a représenté qu’une des plus glorieuses marques de la félicité d’un État étoit que les sciences et les arts y fleurissent et que les lettres y fussent en honneur aussi bien que les armes, puisqu’elles sont un des principaux instruments de la vertu…“ Siehe Académie française: Lettres patentes pour l’établissement de l’Académie françoise. Paris, janvier 1635, registrées au Parlement le 19 juillet 1637. In: Status et règlements. http://www.academie-francaise.fr/role/index.html (03.05.2015), S. 7–11, hier S. 8. 13 „Nous ne pouvions mieux commencer que par le plus noble de tous les arts, qui est l’éloquence; que la langue françoise, qui jusqu’à présent n’a que trop ressenti la négligence de ceux qui l’eussent pu rendre la plus parfaite des modernes, est plus capable que jamais de le devenir … il avoit ordonné une assemblée, dont les propositions l’avoient satisfait; si bien que, pour les exécuter et pour rendre le langage françois non seulement élégant, mais capable de traiter tous les arts et toutes les sciences, il ne seroit besoin que de continuer ces conférences; … Voulons qu’elles se continuent désormais en notre bonne ville de Paris, sous le nom de l’ACADÉMIE FRANÇOISE.“ Académie française: Lettres (wie Anm. 12), S. 8f.



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Von Seiten des Parlaments wurde befürchtet, dass es mit der Gründung einer Académie seiner Kompetenz der Zensur beraubt würde und die neue Institution somit ein weiteres Machtinstrument des Hofes werden würde. Die Sorgen der „parlementaires“ verdeutlichen die Bedeutung und die Nähe der Académie zum Hof und zur königlichen Politik.14 In der Tat war die Verbesserung der französischen Sprache zentral für Richelieus politisches Anliegen, namentlich die Vormachtstellung und Kulturhegemonie der französischen Monarchie auszubauen. Obwohl der Gebrauch der Vernakularsprache seit dem 13. Jahrhundert die Einheit des Königreiches förderte,15 konkurrierten die lateinische und die französische Sprache bis ins 16. Jahrhundert auf dem Feld der Rechtswissenschaften miteinander: Während die Parlamente und die verschiedenen Gerichte für ihre Rechtsentscheide die lateinische Sprache nutzten, waren die königlichen Gesetze, die von den Parlamenten registriert werden mussten, in französischer Sprache gehalten. Da die lateinische Sprache wegen ihrer Hermeneutik zu schwierig für zeitgenössische, juristische Belange geworden war, kam der Diplomat, Jurist und Philologe Claude de Seyssel (1450–1520) zu dem Ergebnis, dass die Elite im französischen Staat ausschließlich die Landessprache nutzen sollte und das Französische also zur offiziellen Sprache werden müsse. Er veranlasste deshalb Übersetzungen der wichtigen antiken Texte. Franz I. entschied mit der Ordonanz von Viller-Cotterêts vom August 1539 schließlich, dass alle Urteile, Verträge, Kommissionen etc. von nun an ausschließlich in französischer Sprache erfolgen sollten.16 Die Einrichtung einer königlichen Druckerei im Jahre 1543 stärkte diesen Prozess und bestätige den Status der französischen Sprache als „langue du savoir“. Damit wurde das Französische schließlich auch die Sprache der politischen Eliten und Gelehrten.17 Der Gründung einer Akademie kam im Kontext der Aufwertung des Französischen also besondere Bedeutung zu. In der Akademie herrschte Gleichheit der Mitglieder. Ihre Wahl sowie die Aufgaben der Académie waren in 50 Artikeln festgelegt. Als Mission war in Art. 24 verankert, für die französische Sprache einen Stil zu entwickeln, der „pure“ und „eloquente“ war, damit man in Zukunft auch Kunst und Wissenschaften in

14 Fumaroli: Le cardinal (wie Anm. 1), S. 230. 15 Siehe dazu die Studie von Blanc, Agnès: La langue du roi est le français. Essai sur la construction juridique d’un principe d’unicité de langue de l’état royal. 842–1789. Paris [u.a.] 2011. 16 Vgl. Blanc: La langue (wie Anm. 15), S. 227–231; sowie Carrère d’Encausse: Des siècles (wie Anm. 2), S. 22ff. 17 Vgl. Carrère d’Encausse: Des siècles (wie Anm. 2), S. 24.

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französischer Sprache besprechen könne.18 In Art. 26 erfolgte schließlich der bedeutende Auftrag, ein Dictionnaire zu verfassen.19 Verankert war außerdem, dass die Académie keine Fragen der Religion diskutieren, sondern den kirchlichen Regeln und Aussagen folgen sowie in Fragen der Politik und Moral mit dem Souverän des Königreiches übereinstimmen müsse.20 Vor dem Hintergrund der verordneten Sprachreform wurden nun antike Beispiele nützlich: Zwar war es nicht das Anliegen der Akademisten, die antiken Sprachen zu erforschen, vielmehr sollte Rom, insbesondere aber Griechenland als Vorbild des Umgangs mit der eigenen Sprache dienen. Die antiken Beispiele sollten helfen, adäquate Wege aufzuzeigen, die eigene Sprache zu verbessern. Nur durch das Mittel der Sprache konnte Frankreich, so die Annahme der Akademisten, die gleiche Größe erlangen, wie sie einst die antike Welt in Rom und Griechenland gesehen hatte. Die neu gegründete Académie sollte Frankreich dabei unterstützen, Pracht und Ruhm zu erlangen, das Erbe der antiken Welt zu erhalten und die sprachliche Eloquenz der Alten in Frankreich wiederzubeleben.21 Wenn Frankreich dem antiken Bispiel folge, so werde das Französische das Lateinische als Gelehrtensprache bald ablösen, formulierte Conrart.22 Ziel der Académie war es also, Frankreich zum „siècle d’Auguste“ zu bringen, wie es Charles Perrault 1687 in seinem Gedicht zur Genesung von Ludwig XIV. zum Ausdruck bringen sollte.23 18 Académie française: Lettres (wie Anm. 12), S. 19. Vgl. auch Carrère d’Encausse: Des siècles (wie Anm. 2), S. 28. 19 Académie française: Lettres (wie Anm. 12), S. 19. Vgl. auch Carrère d’Encausse: Des siècles (wie Anm. 2), S. 28. 20 Académie française: Lettres (wie Anm. 12), Artikel XXI und XXII, S.18. 21 Am 22. März 1634 schrieb Conrart: „Que de tout temps les pays que nous habitons, avoient porté de très-vaillants hommes; mais que leur valeur étoit démeurée sans réputation au prix de celle des Romains et des Grecs, parce qu’ils n’avoient pas possédé l’art de la rendre illustre par leurs écrits; qu’aujourd’hui pourtant les Grecs et les Romains ayant été rendus esclaves des autres nations, et leurs langues même si riches et si agréables étant comptées entre les choses mortes, il se rencontroit heureusement pour la France, que non-seulement nous étions demeurés en possession de la valeur de nos ancêtres, mais encore en état de faire revivre l’Éloquence, qui sembloit être ensevelie avec ceux qui en avoient été les inventeurs et les maîtres.“ Olivet, [  ?] u. [  ?] Pellison (Hrsg.): Histoire de l’Académie française. Avec une introduction, des éclaircissements et notes, par M. Ch.-L. Livet. 2 Bde., hier Bd. 1. Paris 1858. S. 21. Vgl. auch Fumaroli: Le cardinal (wie Anm. 1), S. 227. 22 „que notre langue plus parfaite déjà que pas une des autres vivantes, pourroit bien enfin succéder à la Latine, comme la Latine à la Grecque, si on prenoit plus de soin qu’on n’avoit fait jusqu’ici de l’élocution, qui n’étoit pas à la vérité toute l’éloquence, mais qui en faisoit une fort bonne et fort considérable partie.“ Olivet, [ ?] u. [ ?] Pellison (Hrsg.): Histoire (wie Anm. 21), S. 21f. Vgl. auch Fumaroli: Le cardinal (wie Anm. 1), S. 227f. 23 Vgl. Fumaroli: Le cardinal (wie Anm. 1), S. 228.



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Wie wichtig das Thema der Eloquenz in dieser Zeit war, zeigen weitere Ausführungen, wie beispielsweise diejenigen Charles Vialarts (1592–1644), der in seinem Tableau d’éloquence françoise, où se voit la manière de bien escrire24 aus dem Jahre 1632 acht Regeln der „éloquence“ beschrieb, die er aus der Beobachtung und Lektüre der griechischen und lateinischen Oratoren zog.25 Wer Perfektion in der Kunst der „éloquence“ erreichen wolle, müsse diese angesehenen Autoren sorgsam studieren. Einer genauen Untersuchung Wert waren für ihn vor allem Demosthenes, Cicero, Tacitus, Isokrates, Homer und Herodot.26 Und auch wenn Vialart lateinische wie griechische Autoren beobachtete, so machte er deutlich, dass die lateinischen Schreiber bereits die griechischen kopiert hätten und man, um sprachliche Perfektion zu erreichen, deshalb vor allem die Griechen konsultieren müsse: „C’est en cette façõ que Virgil a imité Homere, Cicerõ Demostehene, & nostre grãd Ronsard, tous les anciẽs Poëtes Liriques & heroiques.“27 Wie Künstler die großen Meister kopierten und beobachteten, so müssten dies auch Redner und Männer der Sprache mit ihren Vorbildern tun.28 Auch Jean Wapys (15[??]–1631) Werk aus dem Jahr 1642, das den Titel Adresse pour acquerir la facilité de persuader et parvenir a la vraye eloquence trug29, beschäftigte sich mit dem Thema der rhetorischen und sprachlichen Eloquenz, womit Wapy zur „vtilité publique“ beitragen wollte.30 Sprachgewalt und Redegewandheit („éloquence“) seien von äußerster Wichtigkeit, da man nun in allen Bereichen der Wissenschaft in französischer Sprache schreiben wolle und er es als unwürdig befinde, dies nicht mit der notwendigen Klarheit zu tun, „de donner au iour tant de Livre de tous arts & toutes sciences, & laisser croupir dans l’obscurité les enseignement de l’art [l’art de l’éloquence – Anm. der Verf.] qui

24 Vialart, Charles: Tableau d’éloquence françoise, où se voit la manière de bien escrire. Paris 1632. Siehe auch Fumaroli, Marc: L’âge de l’éloquence. Rhétorique et ‘res literaria’ de la Renaissance au seuil de l’époque classique. Genève 1984 (Publications du Centre de Recherches d’Histoire et de Philologie de la IVe Section de l’Ecole Pratique des Hautes Études, Paris V, Hautes études médiévales et modernes 43). Siehe zum Thema der Konversationskunst auch Craveri, Benedetta: L’âge de la conversation. Paris 2002; Goldsmith, Elisabeth. C.: Exclusive Conversation. The Art of Interaction in Seventeenth-Cenury France. Philadelphia 1988. 25 Vialart: Tableau (wie Anm. 24), S. 9 und 17. 26 Vialart: Tableau (wie Anm. 24), S. 19. 27 Vialart: Tableau (wie Anm. 24), S. 343. 28 Vialart: Tableau (wie Anm. 24), S. 344. 29 Wapy, Jean: Adresse pour aquerir la facilité de persuader et parvenir a la vraye eloquence. Contenant les vrais preceptes pour bien haranguer, plaider, prescher & discourir eloquemment en public ou en particulier sur quelque sujet & matiere que ce soit. 2. Aufl. Paris 1637. 30 Wapy: Adresse (wie Anm. 29), S. 2.

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merite le plus d’honneur“.31 Auch Jean Du Pré de la Porte32 hatte bereits 1621 sein Le pourtraict de l’éloquence françoise veröffentlicht33 und 1627 hatte Jean Goulu (1576–1629) Phyllarque und Aristide, zwei „gentilhommes de la cour“, ein fiktives Gespräch über die französische „éloquence“ führen lassen.34 Die Veröffentlichungen zeigen, wie intensiv das Thema der sprachlichen Eleganz und Redegewandtheit in den 1620er Jahren diskutiert wurde. Für die Kontroverse bedeutsam war der Rückgriff auf die alten Römer und Griechen, insbesondere aber auf die Athener. Es war den Akademisten zunehmend wichtig, die eigene sprachliche Eloquenz mit derjenigen der Alten zu vergleichen: Im Jahre 1636 beschäftige sich Sieur Guillaume Colletet (1598–1659), Inhaber des 23. Fauteuil der Académie und einer der „fameuse compagnie de cinq auteurs“,35 ebenfalls mit dem Thema der „éloquence“. In seiner am 3. Januar an der Académie gehaltenen Rede besprach er deshalb die Frage „Que pour estre Eloquent, il faut imiter les Anciens; & qu’en les imitant, on les peut surpasser“.36 Colletet machte in seiner Abhandlung deutlich, dass die Diskussionen an der Académie ihn dazu veranlasst hatten, über die Ursachen des Vorranges der Alten nachzudenken. Dabei kam er zu dem Schluss, „qu’vne soigneuse & adroite imitation en pouuoit estre vne des principales causes; et en faisant comme eux, nous pourions [sic.] deuenir comme eux, et mesme les surpasser encore dans l’exercice d’vn si bel Art.“37 Colletet hatte den Verdacht, dass die Alten deshalb meisterhaft in ihrer Redegewalt und Überzeugungskraft gewesen 31 Wapy: Adresse (wie Anm. 29), S. 3. 32 Genaue Lebensdaten sind leider nicht bekannt. 33 Du Pré de la Porte, Jean: Le pourtraict de l’éloquence françoise, avec X actions oratoires. Paris 1621. 34 Weitere Werke, die die „éloquence“ behandeln: Saint-Denis, André de: L’Anti-Phyllarque, ou refutation des lettres de Phyllarque à Aristide. Lyon 1630. Doutreville, W.: Le Démocrite de la cour, où il est traitté de l’éloquence à la mode, par le sieur D.P. Paris 1641; Rapin, René: Réflexions sur l’usage de l’éloquence de ce temps. Paris 1671; Ders.: Du grand ou du sublime dans la nature et dans les différentes conditions des hommes, avec quelques observations sur l’éloquence des bienséances. Paris 1686; Perrault, Charles: Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde l’éloquence. 4 Bde.. Paris 1688–1697; Lamy, François [u.a.]: Réflexions sur l’éloquence. Paris 1700; Gombauld, Antoine, chevalier de Méré: Œuvres posthumes de M. le Chev. de M. De la vraie honnêteté. De l’éloquence et de l’entretien. De la délicatesse dans les choses et dans l’expression. Le commerce du monde. Hrsg. von Augustin Nadal. Paris 1700; Baillet, Adrien: Jugemens des savans sur les principaux ouvrages des auteurs. Reproduktion der Ausgabe Amsterdam 1725. Hildesheim/New York 1971; Vgl. auch Fénélon, François de Salignac de la Mothe: Dialogues sur l’éloquence en général et sur celle de la chaire en particulier, avec une Lettre écrite à l’Académie françoise. Paris 1718. 35 Vgl. dazu Mesnard: Richelieu et le théâtre (wie Anm. 5), S. 196. 36 Colletet, Guillaume Sieur de: Discours de l’Eloquence, Et de l’Imitation des Anciens. Paris 1658, S. 3. 37 Colletet: Discours (wie Anm. 36), S. 7f.



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seien, da diese ihre Meister der Sprache imitiert hatten. Indem man nun ihre Imitation imitiere, könne man werden wie die Alten und sie sogar übertreffen. Im Folgenden analysierte Colletet deshalb die Wirkungsweise der sprachliche Eloquenz, wie er sie im athenischen Rat und im römischen Senat beobachtete: C’est cette mesme Eloquence qui a présidé dans le Conseil d’Athenes, & qui a triomphé dans le Senat de Rome. Mais lorsqu’elle a veu que par le changement des Estats, & des Empires, les places publiques, & les frequentes Assemblées, n’estoient plus le Theatre de sa gloire, qu’a-t-elle fait en cette occasion? Elle n’a point refroidy l’esprit de ses Orateurs; de leur langue elle s’est écoûlée dans leurs plumes; & nous la voyons encore aussi pompeuse dans leurs Ecrits, qu’elle parut autresfois superbe en leur bouche.38

Obwohl Rom und Athen Regimetransformationen durchliefen und ihre öffentlichen Plätze und Versammlungen deshalb nicht immer die Ausbildungsorte ihrer Eloquenz sein konnten, hätten die Athener und Römer ihre Redegewalt und Überzeugungskraft aufrecht erhalten, indem sie den „esprit“ der Oratoren gleich welcher Staatsform gefördert hätten. Letztere hätten, wenn notwendig, ihren Geist auch in schriftlicher Form geübt, wovon ihre Werke sichtbares Zeugnis gäben. Athen und Rom waren für Colletet deshalb die beiden „grandes lumieres“ der rhetorischen Kunst.39 Die sprachliche Eloquenz war für ihn zuerst in den demokratischen und damit auch diskursiven Institutionen der beiden Gemeinwesen zu finden gewesen. Trotzdem war für Colletet die Eloquenz nicht von einer demokratischen Verfassung abhängig, sondern konnte auch in einer Monarchie oder einem großen Imperium erhalten werden, wenn man die Oratoren ihre Gedanken schriftlich erörtern lasse. Es liegt nahe, dass Colletet mit seinen Ausführungen die Aufgabe der schriftlichen Geistesübung und Eloquenz den neuen „gens lettrés“ der Académie zuschrieb. Es findet sich hier also, ganz im Gegensatz zu Jean Bodins Urteil ein Jahrhundert zuvor, eine Neubewertung der athenischen Oratoren: Sie waren nun nicht mehr gefährliche Verführer des Volkes, sondern für den Ruhm und die Größe eines Gemeinwesens notwendig: Il n’en est pas icy comme des Chaires publiques, où la foûle du peuple ne laisse que fort peu de place aux honnestes gens, où l’Orateur ne dit bien souuent que de choses communes pour rauir les personnes vulgaires; où les excellentes obseruations ne font que la moindre partie de son discours, puis que les excellens Hommes ne composent pas le plus grand nombre de son auditoire.40

38 Colletet: Discours (wie Anm. 36), S. 10f. 39 Colletet: Discours (wie Anm. 36), S. 24f. 40 Colletet: Discours (wie Anm. 36), S. 4.

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Obowhl Colletet die Bedeutung der Oratoren betonte, implizierte er hier auch, dass Frankreich seine Eloquenz nicht durch schmeichelnde Redner erreiche. Im Gegensatz zur Antike stellten nun die Versammlung der „honnestes gens“, nicht aber diejenigen des gesamten Volks das Auditorium, in dem man debatieren könne. Indem Colletet den Begriff der „honnestes gens“ wählte, verwies er auf die Tradition der cortegiana,41 der Kunstlehre des tugendhaften Adeligen, den man gewöhnlich im Umkreis des Hofes finden konnte.42 Richelieu erschien in Colletets Darstellung deshalb als ein vom Himmel geschickter Retter Frankreichs und der „Lettres & des beaux Arts“. Die Akademisten sollten diesem Retter helfen, die ihnen Vorangegangen zu übertreffen.43 Colletet erachtete dies allerdings nur dann für möglich, wenn man die Alten in humanistischer Manier sorgsam studiere und imitiere.44 Dies schien auch den Anwesenden bereits klar zu sein, „que vous n’auez pas dédaigné d’imiter les Anciens“. Allerdings sollten die Franzosen nicht nur einen einzelnen Autor beachten und nachahmen, wie man das vor allem mit Homer betrieben hatte, sondern alle diejenigen, die zur Qualität dieser Kunst beigetragen hatten.45 Somit avancierten die Griechen, insbesondere aber die Athener zum Beobachtungsobjekt der Akademisten. Um echte Eloquenz zu erreichen, müssten Redner und Schreibende über ein exaktes Wissen dessen verfügen, worüber man spreche oder schreibe. Auch hierzu müsse man stets auf die Alten zurückgreifen: Ce qui rend un homme parfaitement Eloquent, c’est la connoissance parfaite qu’il a des choses. Or cette connoissance se peut tirer des Liures anciens, puis qu’ils sont les veritables 41 Siehe dazu Hinz, Manfred: Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1992. Siehe auch Burke, Peter: The Fortunes of the Courtier. The European Reception of Castiglione’s “Cortegiano”. Cambridge/ Oxford 1995; sowie Kapitel V.1 dieser Arbeit. 42 Vgl. Höfer, Anette u. Rolf Reichardt: Honnête homme, Honnêteté, Honnêtes gens. In: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820. Bd. 7. Hrsg. von Rolf Reichardt u. Eberhard Schmitt. München 1986. Kapitel I: Die Kultivierung des ‘courtisan’ zum honnête homme (etwa 1540–1640). S. 3–19. Siehe außerdem auch Kapitel V.1 dieser Arbeit. 43 Colletet: Discours (wie Anm. 36), S. 52f. 44 Colletet: Discours (wie Anm. 36), S.  37. Siehe zum Bildungsideal der Renaissance: Müller, Gregor: Mensch und Bildung im italienischen Renaissance-Humanismus. Vittorino da Feltre und die humanistischen Erziehungsdenker. Baden-Baden 1984 (Saecula spiritalia 9); Zum Wissen in der Renaissance siehe den Sammelband von Dülmen, Richard van (Hrsg.): Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Köln/Weimar/Wien 2004, Teil I, S. 13–154. 45 „Ce n’est donc pas cette seuere & ridicule imitation que ie propose, celle que ie desire n’a pas pour objet vn seul Autheur, mais bien tout ce que la Nature & l’Art ont répandu de rare & de beau dans leurs Ouurages… il est à propos de consulter les diuers monumens de tous ces grands Genies de l’Antiquité.“ Siehe, Colletet: Discours (wie Anm. 36), S. 41. Siehe zur Rezeption Homers auch Hepp, Noémi: Homère en France au XVIIe siècle. Paris 1968.



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tresors de toutes les Sciences. Mais si nous pouuons sçauoir les choses qu’ils ont sceuês, & les égaler en ce que nous les sçauons des choses qui leur ont esté cachées, que le Temps nous a découuertes, & qu’il semble n’auoir reseruées que pour nous. Et en effet, comme vne long vsage, il est bien croyable que ces derniers siecles, qui sont comme la vieillesse du temps, peut donner aux hommes des connoissances, & des lumieres que l’enfance du monde ne leur pouuoit pas donner encore.46

Die modernen Zeitgenossen konnten nun aber mehr tun als nur die Alten zu imitieren, sie konnten auch auf deren Wissen zurückgreifen und es erweitern. Die Eloquenz, deren Vorbilder vor allem in der athenischen und römischen Vergangenheit gesucht wurden, wurde durch die Kategorie der „honnêtes gens“ sowie der Sozialstruktur der Mitglieder eng an den königlichen Hof und an das Wohl der Monarchie und der französischen Nation gebunden. Die Nähe der Académie zur Krone – und damit auch die Zielsetzung der „éloquence“ – sollte sich in den folgenden Jahrzehnten noch verstärken: Bis zum Tod des Kardinals 1643 hatte die Académie noch keinen festen Sitz, die Gelehrten trafen sich alternierend bei den Mitgliedern Zuhause. Richelieus Nachfolger als Protektor der Académie wurden Gründungsmitglied Pierre Séguier (1588–1672), anschließend Jean-Baptiste Colbert (1619–1683), Finanziminster unter Ludwig XIV. Letzterer rief 1664 die Académie des peintures ins Leben, die sich im Louvre traf, im darauffolgenden Jahr entstand ebenfalls durch sein Engagement die Académie des sciences, die in der Bibliothèque du roi tagte. Nach Colberts Tod im Jahre 1683 wurde die Académie française schließlich dem direkten Schutz Königs Ludwig XIV. unterstellt. Dies veränderte die Struktur der Académie erheblich: Sie bekam ein festes Domizil im Louvre und finanzielle Hilfe von Seiten der Krone. Damit wurde die Académie zu einer staatlichen Institution, die die Größe und den Ruhm der Monarchie mehren sollte.47 Die institutionalisierte Académie trug zur Herausbildung einer Gruppe bei, die sich intensiv mit der französischen Sprache und ihrer Verbesserungsmöglichkeiten beschäftige und die sich im Zuge dessen auch gezielt mit antiken und vor allem griechischen Vorbildern auseinandersetzte.48 Die Akademisten waren mit dieser Zielsetzung ganz auf die Gegenwart ausgerichtet, jedoch galten für sie die Antike, insbesondere das antike Griechenland bzw. Athen als vorbildlich in ihrem 46 Colletet: Discours (wie Anm. 36), S. 46f. 47 Vgl. Carrère d’Encausse: Des siècles (wie Anm. 2), S. 37ff., v.a. S. 40. 48  Carrière d’Encausse kommentierte diese Entwicklung folgendermaßen: „Alors que s’achève le regne du Grand Roi, l’Académie se doit de constater que le monde des lettres qu’elle entendait représenter s’est transformé et se rassemble non plus autour de la Cour, mais dans la ville. Et l’Académie installé au Louvre, qui n’a pas suivi le monarque à Versailles, se trouve ainsi au cœur de cette nouvelle vie sociale.“ Siehe Carrère d’Encausse: Des siècles (wie Anm. 2), S. 63.

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Umgang mit der eigenen Sprache. Für die Gruppe dieser Männer waren die alten Griechen und Athener in ihren sprachlichen Fähigkeiten der eigenen Zeit überlegen, weshalb man sie fleißig studieren und imitieren wollte, damit Frankreich den Ruhm erreiche, den Athen und Rom einst genossen hatten. Damit trug die Académie zu einem neuen Umgang mit dem antiken Griechenland und vor allem mit dem demokratischen Athen bei, das nun als kulturelles Zentrum der Hellas gesehen wurde und nun nicht mehr wie zuvor bei Jean Bodin etwa, in seinem staatlichen Gefüge, also als republique, rezipiert wurde. Vielmehr wurde Athen nun als kulturelles Vorbild begriffen. Die Académie förderte damit eine gezielte Gegenüberstellung der kulturellen Errungeschaften der Antike und Moderne, die schließlich in die Querelle des Anciens et des Modernes mündete, die bezeichnenderweise von einem Akademisten, von Charles Perrault, ausgelöst wurde.

2 Die Auseinandersetzung mit der lateinischen und griechischen Antike in der ersten Phase der französischen Querelle des Anciens et des Modernes 1859 hatte der französische Gelehrte Hippolyte Rigault mit seiner Histoire de la Querelle des Anciens et des Modernes49 die Querelle zeitlich und räumlich auf Frankreich eingegrenzt. Dort habe die Auseinandersetzung um die Alten und die Modernen am Ende des 17. Jahrhunderts und dem beginnenden 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt gefunden und sei schließlich durch die Vermittlung von Charles Marguetel de Saint-Denis de Saint-Evremond (1613–1703) nach England transportiert worden.50 In der Forschung folgte man dieser Eingrenzung Rigaults und teilte die Querelle in zwei Phasen ein:51 Die erste Phase sei geprägt von der Auseinandersetzung zwischen Nicolas Boileau (1636–1711) und Charles Perrault (1628–1703) und lasse sich auf die Jahre um 1687 datieren. Die zweite Phase werde 49 Rigault, Hippolyte: Histoire de la Querelle des Anciens et des Modernes. [Reprint] New York 1963. 50 Deutschland erwähnte Rigault in diesem Zusammenhang nicht. Dort war die Auseinandersetzung zwischen Alten und Modernen erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts und zur Jahrhundertwende durch und in den Schriften Herders, Schlegels und Schillers aufgetreten. Vgl. Buck, August: Die „Querelle des Anciens et des Modernes“ im italienischen Selbstverständnis der Renaissance und des Barocks. Wiesbaden 1973 (Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main 11/1). S. 1–25, hier S. 5. 51 Jauß, Hans Robert: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der ‘Querelle des Anciens et des Modernes’. Kunstgeschichtliche Exkurse zu Perraults „Parallèle des anciens et des modernes“. München 1964. Siehe auch Krauss, Werner u. Hans Kortium (Hrsg.): Antike und Moderne in der Literaturdiskussion des 18. Jahrhunderts. Berlin 1966.



2 Die Auseinandersetzung mit der lateinischen und griechischen Antike 

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durch Anne Daciers (1654–1720) Verteidigung von Homer gegen Vorwürfe von Seiten der Modernen eingeleitet, die sie 1711 im Vorwort ihrer Iliad-Übersetzung formulierte.52 Bereits Rigault hatte eingeräumt, dass die Querelle, die für ihn zwar vornehmlich ein französisches Phänomen war, auf eine lange Tradition in der europäischen Geistesgeschichte zurückblicken konnte – auch darin folgt die Forschung Rigaults Analyse.53 Erste Belege einer modernen „Partei“ in Frankreich finden sich in humanistischen Kreisen des 16. Jahrhunderts, bei Autoren wie Pierre La Ramée (Petrus Ramus, 1515–1572), der unter anderem Initiator einer anti-aristotelischen Reform der Rhetorik war. Ganz anders geartet war die Gegenüberstellung bei Jean Bodin (1529/30–1596), der die historischen Zeiten in seiner Methodus54 von 1566 beurteilte oder aber auch in Louis Le Roys (1510[?]–1577) De la Vicissitude55 von 1575. Bodin wie Le Roy übernahmen die mittelalterliche Doktrin der translatio imperii et studii, um der eigenen, modernen Zeit besondere Bedeutung zuzuschreiben und diese zu legitimieren. Die Diskussion um die Alten und Modernen waren schließlich auch für Michel de Montaignes (1533–1592) Essais56 bedeutsam, wo sich die Gegenüberstellung der Alten und Modernen wiederrum zugunsten ersterer drehte.57

52 Buck, August: Die „Querelle“ (wie Anm. 50), S.  5. Siehe zu Anne Dacier und der Querelle d’Homère Kapitel VI.2. 53 Buck, August: Die „Querelle“ (wie Anm. 50), S. 6. Bereits mittelalterliche Theologen hatten die Alten und die Modernen einander gegenübergestellt. Siehe dazu: Zimmerman, Albert (Hrsg.), Antiqui und Moderni. Traditionsbewusstsein und Fortschrittsbewusstsein im späten Mittelalter; 18. zu Köln veranst. Mediaevistentagung vom 30. August – 2. September 1972. Berlin [u.a.] 1974 (Miscellanea mediaevalia 9). Die Debatte um die antike Vorbildlichkeit oder Überlegenheit begann bereits in der Renaissance mit Francesco Petrarca (1304–1374). Der italienische Dichter, Geschichtsschreiber und Humanist umfasste in seinem pejorativen Begriff der „Modernen“ die neuen Denkrichtungen in Theologie und in der Rechtswissenschaft seiner Zeit sowie den gothischen Stil, der diesen Denkmustern in der Kunst entspreche. Damit wehrte sich Petrarca, die klassische Kunst der Rede verteidigend, gegen jeglichen Formalismus sowie gegen die abstrakte Dialektik der modernen Kleriker. Vgl. Fumaroli: Les abeilles (wie Anm. 10), S. 7ff. Zur Reichweite und Tradition der Querelle über die Antike, das Mittelalter, das Trecento bis in Moderne, siehe Rötzer, Hans Gerd: Traditionalität und Modernität in der europäischen Literatur. Überblick vom Attizismus-Asianismus-Streit bis zur „Querelle des Anciens et des Modernes“. Darmstadt 1979. In seinem ersten Kapitel gibt Rötzer auch einen Überblick der bis dato aufzuarbeitenden Forschungsschwerpunkte, siehe ebd., S. 1–6. 54 Bodin, Jean: Methodus ad facilem historiarum cognitionem. Lutetia 1566. 55 Le Roy, Louis: De la vicissitude ou variete des choses en l’univers, et concurrence des armes et des lettres par les premieres et plus illustres nations du monde. Paris 1575. 56 Montaigne, Michel de: Essais de messire Michel de Montaigne. 2 Bücher. Bordeaux 1580. 57 Fumaroli: Les abeilles (wie Anm. 10), S. 8ff.

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 IV Von der Republik zur Polis

Als Charles Perrault am 27. Januar 1687 vor der versammelten Académie française sein Gedicht Le siècle de Louis le Grand zu Ehren des wieder genesenen Souveräns verlas, ahnte dieser vermutlich nicht, dass der Tag der Lesung später als Stichtag einer Querelle angesehen werden würde, die sich schon seit einigen Jahrzehnten angebahnt hatte und nun durch seine poetischen Zeilen zu einem Höhepunkt gekommen war.58 Perraults Gedicht begann mit der folgenden Darstellung, die sich gegen die Vorbildlichkeit der Alten richtete: La belle Antiquité fut toujours venerable, Mais je ne crus jamais qu’elle fust adorable. Je voy les Anciens sans ployer les genoux, Ils sont grands, il est vray, mais hommes comme nous; Et l’on peut comparer sans crainte d’estre injuste Le Siecle de LOUIS au beau Siecle d’Auguste.59

Perrault war in seinem Urteil über die Antike deutlich: Sie kann den Modernen keine Lehren mehr erteilen, weil sie nichts Neues mehr bietet, sodass selbst Platon von ihr gelangweilt wäre.60 Gegen die Errungenschaften der Modernen verblassten diejenigen der Alten. Non, non, sur la grandeur des miracles divers Dont le souverain Maistre a remply l’univers, La docte Antiquité, dans toute sa durée, A l’égal de nos jours ne fut point éclairée. Mais si pour la Nature elle eut de vains Auteurs, Je la voy s’applaudir de ses grands Orateurs, Je voy les Cicerons, je voy les Demosthenes, Ornemens eternels & de Rome & d’Athenes, Dont le foudre eloquent me fait déja trembler, Et qui de leurs grands Noms viennent nous accabler.61

Perraults Gedicht kann im Folgenden als eine Ode an die modernen Wissenschaften gelesen werden, die denjenigen der Alten weit überlegen seien. Doch trotz aller Erhabenheit der Modernen gab der Franzose zu, dass die Alten in einem

58 Siehe zur Querelle des ausgehenden 17. Jahrhundert die Habilitationsschrift von Mayer, Christoph Oliver: Institutionelle Mechanismen der Kanonbildung in der Académie française. Die „Querelle des Anciens et des Modernes“ im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Frankfurt am Main [u.a.] 2012. 59 Perrault, Charles: Le siecle de Louis le Grand. Paris 1687, S. 3. 60 Perrault: Le siecle (wie Anm. 59), S. 4. 61 Perrault: Le siecle (wie Anm. 59), S. 6.



2 Die Auseinandersetzung mit der lateinischen und griechischen Antike 

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einzigen Bereich überlegen seien: in der sprachlichen Eloquenz.62 Rhetorische Eloquenz und sprachliche Präzision sei in den antiken Republiken deshalb ausgeprägter gewesen, da sich die Bürger regelmäßig an öffentlichen Plätzen zur Diskussion versammeln konnten und mussten: „On pourroit voir alors au milieu d’une place/ S’émouvoir, s’écrier l’ardente Populace.“63 Dass Perrault dabei insbesondere an die griechische Antike dachte, machte er durch seine Beispiele deutlich. An Homer, den großen Dichter der Antike, bei dem sich die ganze Eloquenz der Sprache beweise, richten sich die folgenden Zeilen: Pere de tous les Arts, à qui Dieu des vers Les Mysteres profonds ont esté découverts; Vaste & puissant genie, inimtable Homere, D’un respect infini ma Muse te revere. Non ce n’est pas à tort que tes inventions, En tout temps ont charmé toutes les Nations; … Cependant si le Ciel favorable à la France, Au Siecle où nous vivons eust remis ta naissance, Cent defauts qu’on impute au siecle où tu naquis, Ne prophaneroient pas tes ouvrages exquis.64

Perrault rechterftigte den Vorsprung der Antike damit, dass man in den antiken Gemeinwesen deshalb in der Eloquenz der Sprache ausgebildet wurde, weil die Oratoren eine in sich gespaltene und von Emotionen geleitete Masse überzeugen mussten. Nun lebten die Franzosen aber unter einer wohl geordneten Monarchie, die zwar nicht die brillantesten Redner hervorbringe, wie dies schließlich die antiken, insbesondere die griechischen Gemeinwesen getan hatten, diese hätten jedoch in einer gut geführten Monarchie auch nicht die gleiche Notwendigkeit oder Bedeutung. Auch in der Dichtung konnte Perrault schließlich die Größe Homers gelten lassen, der für den Franzosen ohne jeglichen Zweifel einer der größten Poeten der Antike war. Was nun die anderen antiken Dichter und Schriftsteller betreffe, so hätten diese ihre Reputation erst im Verlauf der Jahrhunderte durch deren Rezeption und nicht etwa durch ihr Genie erhalten. Die Klassiker von Morgen, die diejenigen der griechischen und römischen Antike ersetzen würden, waren für ihn vielmehr die zeitgenössischen französischen Autoren. In der Dichtung habe Molière (Jean-Baptise Poquelin, 1622–1673) bereits seine Zeitgenossen für 62 Vgl. Fumaroli: Les abeilles (wie Anm. 10), S. 20. 63 Perrault: Le siecle (wie Anm. 59), S. 7. 64 Perrault: Le siecle (wie Anm. 59), S. 8.

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 IV Von der Republik zur Polis

sich gewonnen, auch Pierre Corneille (1606–1684) sei schon zu seinen Lebzeiten berühmt. Das gleiche gelte für die schönen Künste: Dort habe Charles Lebrun (1619–1690) bereits Apollo und Raphael in den Schatten gestellt und François Girardon (1628–1715) habe Michel-Angelo übertroffen. Auch die Kompositionen Jean-Baptiste Lullys (1632–1687) ließen die griechischen Harmonien vergessen.65 Von Geburt an begabt, könnten sich diese Franzosen als unnachahmliche Genies beweisen.66 Die Moderne, für Perrault gleichzusetzen mit französischer Perfektion, zeige sich in der Kunst des Schlosses von Versailles und seiner Gärten, der französischen Oper sowie in der Wissenschaft, sie triumphiere aber auch in der Literatur und Dichtung und schließlich in der Musik.67 Beim Vergleich der Jahrhunderte kam Perrault schließlich zu folgendem Ergebnis:68 Man müsse einräumen, dass die Jahrhunderte verschieden seien, dass sie sowohl Genies als auch Unwissende hervorbrächten. Dennoch sei die Weltgeschichte unter Ludwig XIV. zu einem Höhepunkt gelangt. Im Anschluss führte Perrault deshalb alle Errungenschaften seines Monarchen an: die Reinheit seiner Gesetze, die Abschaffung der Duelle, seine Bereitschaft, seine Alliierten zu unterstützen und mit starker Hand zu regieren.69 Perraults poème beinhaltet damit eine Theorie des Fortschritts,70 wonach die Letztgeborenen Erben der vergangen Jahrhunderte waren, die deren Errungenschaften erweiterten und verbesserten. Die Natur sowie das menschliche Genie seien zwar in allen Jahrhunderten gleichermaßen wirksam, jedoch könnten die Umstände diese in ihrer Wirkungsweise entweder verstärken oder zurückhalten. Wenn man jedoch unter einem so hervorragenden Monarchen wie Ludwig XIV. lebe, seien alle Widerstände gegen die Ausbildung des Genies 65 Vgl. Fumaroli: Les abeilles (wie Anm. 10), S. 21 sowie Perrault: Le siecle (wie Anm. 59), S. 11ff. 66 Siehe Perrault: Le siecle (wie Anm. 59), S. 11f. Siehe zur Ideengeschichte des Geniekults während der Querelle McMahon, Darrin: Divine Fury: A History of Genius. New York City 2013, insbesondere Kapitel 3, S. 67–112. 67 Siehe Perrault: Le siecle (wie Anm. 59), S. 14ff.  68 Siehe Perrault: Le siecle (wie Anm. 59), S. 24. 69 Siehe Perrault: Le siecle (wie Anm. 59), S. 25. 70 Vgl. Fumaroli: Les abeilles (wie Anm. 9), S. 21. Siehe auch Perrault: Le siecle (wie Anm. 59), S. 24: „Mais c’est peu, dira-t’on, que par un long progrez,/Le Temps de tous les Arts découvre les secrets,/La Nature affoiblie en ce Siecle où nous sommes,/Ne peut plus enfanter de ces merveilleux hommes,/Dont avec abondance, en mille endroits divers,/Elle ornoit les beaux jours du naissant Univers,/ Et que tous pleins d’ardeur, de force & de lumiere,/Elle donnoit au monde en sa vigeur premiere./A former les Esprits comme à former les corps,/La Nature en tous temps fait les mesmes efforts,/ Son Estre est immuable, & cette force aisée/Dont elle produit tout, ne s’est point épuisée:/Jamais, l’Astre du jour qu’aujourd’huy nous voyons,/ N’eut le front couronné de plus brillans rayons,/Jamais dans le Printemps les roses empourprées,/D’un plus vif incarnat ne furent colorées.“



2 Die Auseinandersetzung mit der lateinischen und griechischen Antike 

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ausgeräumt, sodass Frankreich nun, unter Ludwig XIV., in seinem vollen Glanz erstrahlen könne.71 Obwohl es Perrault in seinem Gedicht also darum ging, der eigenen Zeit einen Vorrang über die Antike zu geben, räumte er jedoch ein, dass in der Antike die sprachliche Eloquenz zu einem Höhepunkt gekommen sei. Die Frage nach der sprachlichen und literarischen Überlegenheit sollte in den folgenden Jahrzehnten zum Hauptstreitpunkt der Querelle werden, die schließlich vor allem einen literarischen Streit zwischen Boileau, Perrault, Mme Dacier und La Motte hervorrief.72 Ein anderer Verfechter der Modernen, Bernard le Bovier de Fontenelle (1657– 1757), hatte bereits in seinen Nouveaux dialogues des morts73 von 1683 die Vorreiterrolle Frankreichs für die Literatur und Sprache betont, eine Aufgabe, wie sie in der Antike von Griechenland ausgeübt worden sei. In seinem Werk gab er fiktive Dialoge der Hölle wieder, wo Anciens und Modernes aufeinandertrafen. In seinem epistre, dem er den Dialogen voranstellte und den er an Lucien richtete – offensichtlich war damit Lukian von Samosata (ca. 120–180), der griechische Satiriker gemeint, der ein gleichnamiges Werk verfasst hatte – schrieb Fontenelle, sich wie jener ebenfalls an einen „illutstre mort“ richtend:74 Je suis sûr qu’à l’heure qu’il est, vous connoissez la France par une infinité de rapports qu’on vous en a fait, et que vous savez qu’elle est aujourd’hui pour les Lettres, ce que la Grèce étoit autrefois; sur-tout votre illustre Traducteur, qui vous a si bien fait parler notre Langue, n’aura pas manqué de vous dire que Paris a eu pour vos Ouvrages le même goût que Rome et Athenes avoient eu. Heureux qui pourroit prendre votre style comme ce grand Homme le prit, et attraper dans ses expressions cette simplicité fine et cet enjouement naïf, qui sont si propres pour le Dialogue!75

71 Perraults Schmeichelei des Monarchen verbindet sich hier also mit der Kategorie eines historischen Fortschritts, die fortan in der Querelle erhitzt debattiert wurde. Perraults Forschrittskonzeption beinhaltete eine astronomische wie eine zyklische Komponente. Das Element, das das menschliche Schicksal regulierte, war bei Perrault „Le ciel“, die Perfektion seines eigenen Jahrhunderts sowie der Fortschritt, der als Grund für diesen zu sehen sei, wurden – ganz in humanistischer Sitte – einer Bewegung der Sterne zugerechnet. Siehe Fumaroli: Les abeilles (wie Anm. 10), S. 21f. 72 Vgl. Jauß: Ästhetische Normen (wie Anm. 51), S. 8. 73 Fontontelle, Bernard de: Nouveaux dialogues des morts. In: Ders.: Œuvres complètes. Bd.1. Texte durchgesehen von Alain Niders. Paris 1990 (Corpus des œuvres de philosophie en langue française). S. 47–105. 74 Siehe Fontontelle: Nouveaux dialogues (wie Anm. 73), S. 47. 75 Fontontelle: Nouveaux dialogues (wie Anm. 73), S. 49.

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 IV Von der Republik zur Polis

Es waren also nicht nur die Verfechter der Alten, die die Rezeption Griechenlands und Athens voranbrachten, sondern beide Lager der Querelle.76 Fontenelle anerkannte an dieser Stelle, dass die Kunst der Rede und der Rhetorik in den antiken Republiken ausgeprägter gewesen sei, weil die Rede und die Diskussion politische Bedeutung hatte. Aus dem selben Grund sei dort die Poesie nicht so weit fortgeschritten gewesen, weil diese keine politische Nützlichkeit gehabt habe.77 Fontenelle räumte ebenfalls ein, dass die Modernen Anhänger der lateinischen Antike seien, da Rom nach Griechenland zur Größe aufgestiegen sei.78 Der Streit zwischen den Modernes und den Anciens trug damit wesentlich dazu bei, die griechische und die lateinische Antike zu unterscheiden: Un temps a été que les Latins étoient Modernes, et alors ils se plaignoient de l’entêtement que l’on avoit pour les Grecs, qui étoient les Anciens. La différence de temps qui est entre les uns et les autres disparoît à notre égard, à cause du grand éloignement où nous sommes, ils sont tous Anciens pour nous, et nous ne faisons pas de difficulté de préférer ordinairement les Latins aux Grecs, parce qu’entre Anciens et Anciens, il n’y a pas de mal que les uns l’emportent sur les autres; mais entre Anciens et Modernes, ce seroit un grand désordre que les Modernes l’emportassent.79

76 In seiner Digression sur les Anciens et les Modernes aus dem Jahre 1688 [Fontenelle, Bernard de: Digression sur les Anciens et les Modernes. In: Ders.: Œuvres complètes. Bd. 2. Texte durchgesehen von Alain Niders, Paris 1990 (Corpus des œuvres de philosophie en langue française). S.  413–431.] machte Fontenelle deutlich, dass es keinen qualitativen Unterschied zwischen Alten und Modernen gebe. Die Alten seien nicht automatisch lobenswerter, nur weil sie „alt“ seien: „Quoi qu’il en soit, voilà, ce me semble, la grande question des Anciens et des Modernes vuidée. Les siècles ne mettent aucune différence naturelle entre les hommes. Le climat de la Grèce ou de l’Italie et celui de la France sont trop voisins pour mettre quelque différence sensible entre les Grecs ou les Latins et nous. Quand ils y en mettroient quelqu’une, elle serait fort aisée à effacer, et enfin elle ne seroit pas plus à leur avantage qu’au nôtre. Nous voilà donc tous parfaitement égaux, Anciens et Modernes, Grecs, Latins et Français.“ Ebd., S. 416. 77 „Je trouve que l’Eloquence a été plus chez les Anciens que la Poësie, et que Démosthène et Cicéron sont plus parfaits en leur genre qu’Homère et Virgile dans le leur. J’en vois une raison assez naturelle. L’Eloquence menait à tout dans les Républiques des Grecs et dans celle des Romains; et il étoit aussi avantageux d’être né avec le talent de bien parler qu’il le seroit aujourd’hui d’être né avec un million de rente. La Poësie, au contraire, n’était bonne à rien, et ç’a toujours été la même chose dans toutes sortes de Gouvernements: ce vice-là lui est bien essentiel… “ Fontenelle: Digression (wie Anm. 76), S. 421f. 78 „Les Latins étoient des Modernes à l’égard des Grecs; mais comme l’Eloquence et la Poésie sont assez bornées, il faut qu’il y ait un temps où elles soient portées à leur dernière perfection; et je tiens que pour l’Eloquence et pour l’Histoire, ce temps-là a été la siècle d’Auguste. Je n’imagine rien au-dessus de Cicéron et de Tite-Live.“ Fontenelle: Digression (wie Anm. 76), S. 422. 79 Fontenelle: Digression (wie Anm. 76), S. 428f.



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Auch wenn die Natur jeder Epoche gleichermaßen große Männer schenke, so seien die neueren Zeiten den alten vorzuziehen, weil ein kultivierter Geist immer auf die Gesamtheit des bereits Erdachten zurückgreifen könne.80 Um diesen Punkt zu verdeutlichen, griff Fontenelle auf eine Analogie zurück: Die Entwicklung der Welt sei derjenigen eines einzigen Menschen gleich, „La comparaison que nous avons de faire des hommes de tous les siècles à un seul homme“,81 jedoch ohne dass die Welt ins Alter käme,82 womit Fontenelle Frankreich einen immerwährenden Glanz zusprechen konnte.83 Damit erschien Zeit bei Fontenelle eben nicht als historische Zeit, sondern wurde von ihm als Fortgang des sich perfektionierenden Geistes angesehen. Für Fontenelle war die historische Entwicklung der Wissenschaft und der Kunst folglich ein naturhafter Ablauf, der auf einen Höhepunkt der Perfektion zusteuerte. Dichtung und Eloquenz könnten diesen Punkt deshalb schneller erreichen, da sie allein von der geistigen Vorstellungskraft abhingen; in den Naturwissenschaften brauchte man dazu mehr Zeit, weil sie der Genauigkeit der Gedanken und Argumente bedurften. Fortschritt war für Fontenelle also eine zielgerichtete Bewegung innerhalb eines notwendigen Ablaufs, der auf einen bestimmten Punkt der Vollendung hinarbeitete. Dieser bestand für ihn, wie für die Partei der Modernes, also vor allem in einer quantitativen Mehrung des Wissens. Damit machte er den Alten auch ihre Irrtümer nicht mehr zum Vorwurf, sondern wusste ihnen zu danken, da man durch Fehler Wissen mehre.84 Obwohl die Modernes die unbefragte Vorbildlichkeit der Antike bezweifelten, blieb ihr Denken, wie dasjenige der Anciens, dennoch einem humanistischen Perfektionsideal treu.85 Für die Modernes stand die unter Ludwig XIV. erreichte kulturelle Blüte Frankreichs damit am Ende einer Entwicklung, die von ihnen nicht als ununterbrochene Fortschrittsgeschichte gedacht wurde, sondern diese von dunklen Jahrhunderten unterbrochen sahen.86 Auch die Modernes bewegten sich 80 Fontenelle: Digression (wie Anm. 76), S. 417ff. 81 Fontenelle: Digression (wie Anm. 76), S. 425. 82 Fontenelle: Digression (wie Anm. 76), S. 428. 83 Fontenelle: Digression (wie Anm. 76), S. 428. 84 Jauß: Ästhetische Normen (wie Anm. 51), S. 14ff. 85 Nach Hans Robert Jauß lag der ersten Phase Querelle weiterhin eine naturhaft-zyklische Vorstellung eines Weltablaufes zu Grunde, der von Aufschwung, Blüte und Verfall gekennzeichnet war. Eine neue Geschichtsauffassung, die von der Bedingtheit des Menschen ausging, hat sich nach Jauß erst im Verlauf der Querelle herausgebildet und sich gerade aus dem Gegensatz zwischen Perfektion in den schönen Künsten und Perfektibilität in den Naturwissenschaften entwickelt. Der Historismus des 18. Jahrhunderts sei so gerade durch die in der Querelle geführten Auseinandersetzung um die ästhetische Urteilsfähigkeit entstanden. Siehe Jauß: Ästhetische Normen (wie Anm. 51), S. 10ff. 86 Jauß fasst dies folgendermaßen zusammen: „Der Vergleich zwischen Antike und Moderne ist nur in einem Geschichtsbild möglich, in dem Vergangenheit und Gegenwart nicht als ein-

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 IV Von der Republik zur Polis

somit innerhalb der Logik einer zu erreichenden Vollkommenheit, die nun aber nicht mehr in einer bereits vergangenen Zeit, sondern in der Zukunft oder Gegenwart gedacht wurde.87 Für die Anciens stand die Vollkommenheit dagegen am Anfang der Zivilisationsgeschichte. Diese Vollkommenheit konnte nur in Form der Nachahmung des schon Dagewesenen erreicht werden, eventuell sogar durch Nachahmung überboten, sie konnte jedoch auch genauso verloren gehen, eine Position, wie sie etwa von Hilaire Bernard de Requeleyne, Baron de Longepierre (1659–1721) vertreten wurde. Als Kind einer Familie der „grande robe“ konnte er schon mit 14 Jahren die griechischen Poeten ins Französische übersetzen. Als Hauslehrer des jüngsten Sohnes von Ludwig XIV. und Madame de Montespan sowie des Duc de Chartres, dem Sohn des zukünftigen Regenten, übte Longepierre wichtige Ämter am königlichen Hof Ludwigs aus: Er war befehlshabender Sekretär des Duc de Berry und gentilhomme ordinaire des Duc d’Orléans.88 In seinem Discours sur les Anciens89 von 1687 machte Longepierre deutlich, dass Griechenland Rom vorzuziehen sei, da Griechenland älter und damit ursprünglicher sei und legte mit seinen Ausführungen den Grundstein für die in den Folgejahren aufkommende politesse-Athen-Verbindung: In Griechenland habe sich rhetorische Kunst und Geschmacksurteil, kurz die politesse herausgebildet, die zur Blüte der schönen Künste beigetragen habe. Die Römer hätten diese schließlich nur durch die Lektüre und das Studium der Griechen imitiert: Par quelle autre voie s’adoucit la vertu brute et sauvage des premiers Romains? Ne fut-ce par le commerce qu’ils eurent avec la Grèce? La politesse commença dès lors à succéder parmi eux à la férocité, et les beaux-arts se perfectionnaient dans Rome à mesure que les ouvrages des Grecs y devenaient communs. Les plus éclairés d’entre ses citoyens ne faisaient-ils pas gloire de s’instruire sous de tels maîtres?90

Auch wenn Rom Griechenland militärisch besiegte, hätten die Römer doch ihren Ruhm den Griechen zu verdanken. Die unterjochten Griechen seien stets die Lehrmeister der Römer geblieben. Auch die Römer hätten dies einzuschätzen vermocht:

malige, qualitativ verschiedene Zeiten erscheinen, vielmehr das Vergangene im Gegenwärtigen wiederkehre oder wiedererreicht und überboten werden kann.“ Siehe Jauß: Ästhetische Normen (wie Anm. 51), S. 27. 87 Jauß: Ästhetische Normen (wie Anm. 51), S. 32. 88 Lecoq: La Querelle (wie Anm. 10), S. 279f. 89 Longepierre, Hilaire Bernard de Requeleyne, Baron de: Discours sur les Anciens. Paris 1687. 90 Longepierre: Discours (wie Anm. 89), S. 12f.



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Et dans le temps que Rome n’était pas moins la première ville du monde par les talents de l’esprit que par la grandeur de son empire, ne tenaient-ils pas à honneur de publier combien ils devaient aux Grecs? N’avouaient-ils pas que ceux qu’ils avaient vaincus étaient demeurés leurs maîtres et pour leur rendre une espèce d’hommage et de tribut d’autant plus glorieux qu’il était plus volontaire, n’allaient-ils pas chercher jusque dans le sein de la Grèce la source de ces beautés dont ils se sentaient épris comme s’ils avaient respiré, les lieux qu’ils avaient honorés de leur présence, les marbres et les jardins qui les avaient entendus discourir, les choses enfin les plus insensibles étaient même capables après tant d’années d’inspirer encore ce feu divin dont elles avaient été échauffées autrefois? Qu’est-il besoin de rapporter ici tous les éloges dont ils les ont comblés, tant de témoignages de respect et de reconnaissance et tant de monuments de l’estime et de l’admiration qu’ils ont eues pour eux, non plus que les imitations et les copies fréquentes qu’ils faisaient gloire de tirer sur de si excellents originaux?91

Die Ausführungen Longepierres zeigen, dass für die Partei der Alten die griechische Antike die Quelle aller kulturellen Errungenschaften war. Griechenland wurde für die Verteidiger der Alten zum Bezugspunkt der Imitiatio schlechthin. Auch die Römer waren für sie nur Schüler und Bewunderer der Griechen, auch jene kehrten an die Stätten der Griechen zurück, um von ihnen zu lernen. Dass in Italien die Kunst, Kultur, Philosophie und Dichtung in den letzten Jahrhunderten so florierte, liege, so Longepierre, ebenfalls an den Griechen, die nach dem Untergang Konstantinopels nach Italien geflohen waren und die schließlich in Italien dafür gesorgt hätten, dass man die alten griechischen Schriften lese, studiere und imitiere. Après la prise de Constantinople plusieurs illustre Grecs ayant cherché leur asile dans l’Italie et les soins et les dépenses des Médicis, dignes d’une mémoire immortelle, ayant rendu ces excellents originaux assez communs, on vit renaître en même temps le bel esprit et le bon goût. On vit éclore au milieu de ces débris de l’ancienne Grèce et de l’ancienne Rome mille beaux ouvrages qui, formés sur ces divins modèles, se sentent de leurs beautés et approchent de leur perfection.92

Das Beispiel Italiens zeige, so Longepierre, dass das Studium der griechischen Kunst und Kultur, Perfektion und kulturelle Blüte fördere. Wo immer man auch die alten Griechen studiere, bringe das eine Vielzahl von großen Männern hervor, die nach langer Nacht Licht in ihre Zeit brächten, weil sie die perfektionnierten Originale der Griechen als Modelle nutzten. Somit würden Barbarei und Unwissenheit ein Ende gesetzt, denn guter Geschmack und Urteilskraft seien die Folge des Studiums der großen Meister.93 Sogar Cicero habe die Dekadenz seiner Zeit 91 Longepierre: Discours (wie Anm. 89), S. 13f. 92 Longepierre: Discours (wie Anm. 89), S. 16f. 93 „Les belles choses commencèrent à reprendre tout leur éclat et tout leur prix et les ténèbres de l’ignorance et de la barbarie furent bientôt entièrement dissipées par une source si abondante

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 IV Von der Republik zur Polis

der vernachlässigten Studie der alten Griechen zugeschrieben.94 Diese Jahrhunderte alte Bewunderung müsse schließlich auch von den Kritikern der Antike anerkannt werden: Les Romains du siècle d’Auguste ont admiré les Grecs; les Romains des siècles suivants ont admiré et leurs ancêtres et les Grecs, comme nos pères les ont admirés tous, et comme nous les admirons nous-mêmes. En vérité un consentement si général et qui dure depuis tant d’années ne devrait-il pas rendre un peu plus retenus ceux qui condamnent des ouvrages si universellement, je ne dis pas approuvés, mais admirés.95

Die Beispiele zeigen, dass die griechische und römische Antike nun im Kontext der Querelle dezidiert unterschieden wurden. Wo vorher nur die Rede von der Antike war, war es nun wichtig, sowohl den Ursprung als auch den Fortgang des Fortschritts genau zu betrachten. Dabei wurde insbesondere das antike Griechenland, dessen kulturelles Zentrum in Athen gesehen wurde, neu betrachtet: Für die Vertreter der Anciens wie für diejenigen der Modernes war Griechenland das Vorbild sprachlicher Eloquenz und kultureller Blüte. Griechenland und sogar das demokratische Athen wurde nun gerade im Umfeld der Académie sowie von Höflingen mit Erziehungspositionen verteidigt und als Ideal propagiert, ungeachtet dessen, auf welcher Seite der Querelle sie sich einordneten. Die im Umfeld der hofnahen Académie stattfindende Querelle trug in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts dazu bei, dass das antike Griechenland und dessen Zentrum Athen in Frankreich als kulturelles Ideal weithin akzeptiert wurde.

Die Querelle in England Dem französischen Beispiel einer königlichen Institution zur Förderung der Bildung folgend, wurde auf den britischen Inseln im Jahre 1660 die Royal Society gegründet, die jedoch vor allem die Mathematik und die Naturwissenschaften fördern sollte. Damit wurden Forderungen nach neuen wissenschaftlichen Maßstäben, die auf Beobachtung und nicht nur auf tradiertem Wissen aufbauen sollten, wie dies bereits von Francis Bacon (1561–1626) formuliert worden war, auf institutioneller Ebene verankert.96 Mit der Gründung der Society bekamen die de lumière. Tant il est vrai que la destinée du bon gôut et du bel esprit sont inséparables de celles des ouvrages de ces grands maîtres.“ Siehe Longepierre: Discours (wie Anm. 89), S. 17f. 94 Longepierre: Discours (wie Anm. 89), S. 18ff. 95 Longepierre: Discours (wie Anm. 89), S. 25f. 96 Dass sich diese Einstellung gegenüber der antiken Autoritäten im 17. Jahrhundert änderte, war vor allem einer zentralen Person geschuldet: Francis Bacon. Seine Kritik war von heraus-



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Naturwissenschaften in England internationale Aufmerksamkeit und als Thomas Sprat 1667 seine History of the Royal-Society of London, for the Improving of Natural Knowledge97 verfasste, verfügte diese nicht nur über ihre eigene Geschichtserzählung, sondern auch über eine Propagandaschrift der Leitlinien ihrer Forschung. Ein Jahr später folgte das die Royal Society unterstützende Pamphlet Plus Ultra98 des Theologen Joseph Glanvill, der darin die Antike vehement angriff. Vor allem Aristoteles wurde für viele Irrtümer verantwortlich gemacht. Die beiden Schriften provozierten aufgrund ihrer Kritik an der Autorität der Antike motivierte Einwände. In diesem Kontext erschien im Jahr 1669 Méric Causabons (1599–1671) A Letter of Méric Casaubon D.D. & c. To Peter du Moulin.99 Zur Verteidigung der Antike gegenüber den modernen Naturwissenschaften verwies der Gelehrte auf die Bedeutung antiker Texte auf dem Gebiet der Ethik, die ihrerseits unabdinglich für das menschliche Streben nach Glück

ragender Bedeutung für die Reform der Lehre in England. Seine Unzufriedenheit mit dem überkommenen Wissen kann in drei Kritikpunkte eingeteilt werden: Zum einen entschied Bacon, dass das herkömmliche Wissen unzulänglich sei und dass man dieses voranbringen und verbessern müsse; er entlarvte die Hindernisse, die einem neuen Wissen im Wege stünden und erarbeitete schließlich Mittel, um die Erneuerung des Wissen umzusetzen. Nach Bacon überschätzten die Menschen ihr bisheriges Wissen. Entsprechend sei das größte Übel, das der Erweiterung des Wissens verhindere, die Annahme, dass alle Wahrheiten bereits entdeckt seien. In seinem Of the Proficience and Aduancement of Learning [Bacon, Francis: The Tvvoo Bookes of Francis Bacon. Of the Proficience and Aduancement of Learning, Diuine and Humane. To the King. London 1605.] aus dem Jahre 1605 griff er die unkritische Haltung gegenüber dem bisherigen Wissen an und versuchte, dessen Grenzen zu erweitern. Mit seiner Kritik wollte Bacon Lernende dazu bringen, sich nicht der Vergangenheit, sondern der Zukunft zuzuwenden. In dieser Sicht beinhaltet war die Idee des Fortschritts. Der fehlende Glaube an diesen Fortschritt und damit auch der Verweis auf die Antike waren für ihn eines der größten Hindernisse für den faktischen Fortschritt in den Wissenschaften. In seiner Analyse unterschätzten Menschen ihre Macht und ihre Kraft, Neues zu schaffen. Bacon wollte diese falsche Bescheidenheit bekämpfen. Siehe zu Bacons Wissenschaftsverständnis den von Markku Peltonen herausgegebene Band: Peltonen, Markku: The Cambridge Companion to Bacon. Cambridge [u.a.] 1996. Siehe darin vor allem Rossi, Paolo: Bacon’s Idea of Science, S. 25–46; sowie Kusukawa, Sachiko: Bacon’s Classification of Knowledge, S. 47–74; sowie Malherbe, Michel: Bacon’s Method of Science, S. 75– 98. 97 Sprat, Thomas: The History of the Royal-Society of London for the Improving of Natural Knowledge. Hrsg. von Abraham Cowley. London 1667. 98 Glanvill, Joseph: Plus Ultra, or, the Progress and Advancement of Knowledge Since the Days of Aristotle. In an Account of some of the Most Remarkable Late Improvements of Practical, Useful Learning, to Encourage Philosophical Endeavours. London 1668. 99 Causabon, Meric: A Letter of Meric Casaubon D.D. & c. to Peter du Moulin D.D. and Prebendarie of the Same Church. Concerning Natural Experimental Philosophie, and Some Books Lately Set Out About It. Cambridge 1669.

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 IV Von der Republik zur Polis

sei und somit auch die Grundlage der Wissenschaften bilden müsse.100 Auch der Mediziner Henry Stubbe kritisierte die neue Philosophie und betrachtete sie als Bedrohung für die Erziehung der künftigen Elite. In seiner Schrift aus dem Jahre 1670 Campanella Revived101 griff er vor allem Sprat mit seiner History of the Royal Society an. Der von dem Verfechter der Modernen ausgelöste Disput stehe einer guten und einheitlichen Erziehung entgegen. Das hiesige Ideal der universitären Bildung sei nämlich von der griechischen Erziehung abgeleitet:102 Upon this account our prudent Ancestors … have been eminent in their cares for the educating of our Youth, Gentry and others to such knowledge and customs as was necessary to the due honouring of God, and the welfare of the Nation and government. From this care had our Universities their original, and that publick breeding in Free schools.103

Für Stubbe war die Ursache des moralischen Verfalls in England die Vernachlässigung der Erziehung,104 die Lektüre der griechischen Texte passten für ihn damit, ganz anders als für Thomas Hobbes zuvor, bestens zur bestehenden Monarchie in England: „Besides these, it was a further security to our Government, that the Education there did qualifie men to a submission to and love of our Government: It being evident that the Politicks of Aristotle suit admirably with our Monarchy …“105 Im Jahre 1690 veröffentlichte der Diplomat und Autor Sir William Temple (1628– 1699) ferner sein Upon Ancient and Modern learning106. Darin bezog sich Temple, die Partei der Modernen kritisierend, auf die beiden französischen Autoren Perrault und Fontenelle, obwohl er sich nicht mit der französischen, auf die Literatur bezogene Querelle auseinandersetzte, sondern sich ebenfalls mit naturwissenschaftlichen Aspekten der Auseinandersetzung zwischen Alten und Modernen beschäftigte. Er 100 Vgl. Spieckermann, Marie-Luise: William Wottons „Reflections upon Ancient and Modern Learning“. Franfurt am Main/Bern 1981, S. 70ff. 101 Stubbe, Henry: Campanella Revived, or, an Enquiry into the History of the Royal Society, Whether the Virtuosi there Do not Pursue the Projects of Campanella for the Reducing England unto Popery. Being the Extract of a Letter to a Person of Honour from H.S. with Another Letter to Sir N.N. Relating the Cause of the Quarrel Betwixt H.S. and the R.S. and an Apology Against Some of Their Cavils. London 1670. 102 Vgl. Spieckermann: William Wottons (wie Anm. 100), S. 73ff. 103 Stubbe: Campanella (wie Anm. 101), S. 11. 104 „that the source of all our evils, and the continuance of them, is derived from the neglect of publick Education; nor doth there appear to me any possibility of remedying thereof.“ Stubbe: Campanella (wie Anm. 101), S. 12. 105 Stubbe: Campanella (wie Anm. 101), S. 12f. 106 Temple, Sir William: Upon Ancient and Modern Learning. In: Ders.: Miscellanea. The Second Part: In Four Essays: I. Upon Ancient and Modern Learning; II. Upon the Gardens of Epicurus; III. Upon Heroick Vertue; IV. Upon Poetry. 2. Aufl. London 1690, S. 4–75.



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nahm die Werke der beiden Franzosen allerdings zum Anlass, das neue naturwissenschaftliche sowie das traditionelle, humanistische Bildungs- und Erziehungsideal zu diskutieren.107 Als Nachkömmling einer aristokratischen Familie wollte er die Wissenschaft nicht nur als Ansammlung von Wissen, sondern als erzieherisches Ideal verstanden wissen. Das Studium war für ihn eine den Charakter schulende und für Angehörige der Aristokratie vorbehaltene Maßnahme. Damit widersetzte sich Temple dem weit „demokratischeren“ Konzept von Bildung, das Francis Bacon propagiert hatte.108 Ersterer kritisierte einen der Kernpunkte der neuen Naturwissenschaften, demgemäß die Natur mittels der Erforschung ihrer Gesetzmäßigkeiten beherrscht werden sollte. Der Autor verwarf diesen Anspruch als Utopie. Sein radikaler Skeptizismus gegenüber den Zielen der Naturwissenschaften führte Temple dazu, den Begriff des Wissens so zu definieren, dass die Naturwissenschaften gar kein Wissen bereitstellten. In seinem Upon Ancient and Modern Learning stellte er die naturwissenschaftlichen Spekulationen der Weisheit der Moralphilosophie gegenüber und kam zu dem Ergebnis, dass man den Alten – und hier nannte er nur die Griechen – alles verdanke, sowohl Wissen als auch Weisheit:109 … in these Soils were planted and cultivated those mighty growths of Astronomy, Astrology, Magick, Geometry, Natural Philosophy, and Ancient Story. From these Sources, Orpheus, Homer, Lycurgus, Pythagoras, Plato, and others of the Ancients, are acknowledged to have drawn all those Depths of Knowledge or Learning, which have made them so Renowned in all succeeding Ages. I make a Distinction between these Two, taking Knowledge to be properly meant of things that are generally agreed to be true be Consent of those that first found them out, or have been since instructed in them; but Learning is the Knowledge of the different and contested Opinions of men in former Ages, and about which they have perhaps never agreed in any; and this makes so much of one, and so little of the other in the World.110

107 Vgl. Spieckermann: William Wottons (wie Anm. 100), S. 76. 108 Dass sich Angehörige der Aristokratie erst sehr spät in die englische Querelle einmischten, lässt sich laut Marie-Luise Spieckermann durch zwei Phänomene erklären: Zum einen war ein großer Teil der englischen Aristokratie in den Jahren zwischen 1649 und 1660 außer Landes und vermied auch jegliche publizistische Aktivität. Zum anderen gab es eine geistesgeschichtliche Erklärung für die einsetzende Einmischung, die mit der Rezeption epikureischen Gedankenguts einherging. Diese Rezeption war mit dem aus dem Exil zurückkehrenden König Karl II. verbunden sowie mit dem französischen Emigranten Saint-Evremond, dessen Werke in England weite Verbreitung fanden. Auch William Temple, ein Freund des Franzosen, verarbeitete epikureisches Gedankengut im zweiten Teil seiner Miscellanea (wie Anm. 106), die er 1690 veröffentlichte. Darin zeigte er eine weitreichende Skepsis gegenüber den modernen Naturwissenschaften, die Dreh- und Angelpunkt seiner Kritik der Moderne waren, mit der er sich schließlich auch in die epikureische Tradition einschrieb. Vgl. Spieckermann: William Wottons (wie Anm. 100), S. 76 ff. 109 Vgl. Spieckermann: William Wottons (wie Anm. 100), S. 81. 110 Temple: Upon Ancient and Modern Learning (wie Anm. 106), S. 10f.

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 IV Von der Republik zur Polis

Wissen war damit das zu „common sense“ generierte allgemeine Einverständnis über eine bestimmte Sache. Die spekulativen (Natur-)Wissenschaften konnten seiner Meinung nach lediglich dann eine Berechtigung haben, wenn sie das menschliche Leben erleichterten und somit Teil einer Morallehre waren.111 Weil Temple nun naturwissenschaftliche Errungenschaften und die aus dem Wissen über die verschiedenen Ansichten und Meinungen früherer Epochen gewonnenen Erkenntnisse nach ihrem Beitrag zu einer Moralphilosophie bewertete, konnte er antikes und modernes Wissen nach den gleichen Kriterien bewerten. Indem Temple die Naturwissenschaften – ausgenommen der Mathematik – zu den spekulativen Wissenschaften zählte, entzog er dem modernen englischen Fortschrittsdenken seine Grundlagen.112 Dagegen erschien das antike Griechenland als intellektuelles Zentrum und Wiege der westlichen „Learned World“. Zwar hätten die Griechen ihr Wissen wiederum von Indien, Ägypten, Persien und China aufgenommen, doch sei es in Griechenland auf ein neues, höheres Niveau erhoben worden. Temples Erläuterungen bezogen sich vornehmlich auf das antike Griechenland, nicht systematisch gezielt auf Athen, jedoch zählt Temple in seiner Lobpreisung der alten Griechen vorrangig Athener auf. Ferner machte er deutlich, dass er für seine Vorstellungen bezüglich Griechenlands vor allem das Athen Epikurs vor Augen hatte: As I believe, there may have been Gyants at some time, and some place or other in the World, of such a stature, as may not have been equalled perhaps again, in several Thousands of Years, or in other parts; so there may be Gyants in Wit and Knowledge, of so overgrown a size, as not to be equalled again in many succession of Ages, or any compass of Place or Country. Such, I am sure, Lucretius esteems and describes Epicurus to have been, and to have risen, like a Prodigy of Invention and Knowledge, such as had not been before, nor was like to be again; and I know not, why others of the Ancients, may not be allowed to have been as great in their kinds, and to have built as high, though upon different Schemes or Foundations.113

Temple unterschied in seinen Ausführungen also nicht systematisch zwischen Athen und Griechenland, dennoch ist für die zu Ende des 17. Jahrhunderts aufkommende Neuerung des Athensbildes die Fähigkeit zur Unterscheidung der römischen und griechischen Antike nicht zu unterschätzen: Nur so konnte Athen schließlich als Zentrum des kulturell erfolgreichen Griechenlands – und darin

111 Vgl. Spieckermann: William Wottons (wie Anm. 100), S. 81. 112 Vgl. Spieckermann: William Wottons (wie Anm. 100), S. 81f. 113 Temple, Sir William: Upon Ancient and Modern Learning (wie Anm. 106), S. 33f.



2 Die Auseinandersetzung mit der lateinischen und griechischen Antike 

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waren sich beide Parteiungen einig – identifiziert werden.114 Die römische Antike spielte bei Temple entsprechend eine weitaus geringfügigere Rolle. Zwar setzte der Engländer den Untergang der antiken Gelehrtheit mit dem Untergang Roms gleich, dennoch erhielt Rom in seinen Erklärungen nicht dieselbe Bedeutung, die Griechenland darin einnahm.115 Allein Griechenland war in seiner Interpretation die Wiege der westlichen Kultur. Die Lektüre der alten Griechen und das Wissen über die antike Hellas waren gemäß dieser Interpretation für das Wohl der Moderne unabdinglich. Das antike Griechenland, vor allem das Athen Epikurs, seien somit wissenschaftliche Modelle für England. „Just the same Fate seems to have attended the highest flights of Learning and of Knowledge, that are upon our Registers.“116 In welchem Maße Bildung bei Temple an das griechische Vorbild gebunden war, zeigt eine andere Argumentationslinie: Nach dem Untergang Roms und nach den dunklen Jahrhunderten, in denen man die griechische Sprache ganz verloren und auch die lateinischen Sprache nur noch stümperhaft in Klöstern und Universitäten gelehrt habe, sei „Learning“ wiederum durch moderne Griechen, die der türkischen Okkupation entflohen seien in die westliche Welt gelangt. Sie hätten die griechische Sprache wieder aufleben lassen und so zur Bildung hierzulande beigetragen:117 Thus began the Restoration of Learning in these parts, with that of the Greek Tongue; and soon after, Reuchlyn and Erasmus began that of the purer and ancient Latin. … Learning of all sorts began to thrive in these Western Regions; and since that time, and in the first suceeding Century, made perhaps a greater growth than in any other that we know of, in such a compass of time, considering into what Depths of Ignorance it was sunk before.118

Die moderne Restauration des Lernens implizierte jedoch für Temple nicht, dass die moderne der alten Zeit in irgendeiner Form gleichkam, sie zeigte lediglich den desolaten Zustand an, in dem die westliche Welt war.119 In der Astronomie etwa gebe es nichts Neues, das nicht schon die Alten entdeckt hätten – ausgenommen 114 „The most Ancient Grecians that we are at all acquainted with, after Lycurgus, who was certainly a great Philosopher as well as Law-giver, were the seven Sages. … And some of these seven, seem to have brought most of the Sciences out of Ægypt and Phœnicia, into Greece, particularly those of Astronomy, Astrology, Geometry, and Arithmetick. These were soon followed, by Pythagoras, (who seems to have introduced Natural and Moral Philosophy) and by several of his followers, both in Greece and Italy.“ Temple: Upon Ancient and Modern Learning (wie Anm. 106), S. 27f. 115 Temple: Upon Ancient and Modern Learning (wie Anm. 106), S. 39. 116 Temple: Upon Ancient and Modern Learning (wie Anm. 106), S. 30. 117 Temple: Upon Ancient and Modern Learning (wie Anm. 106), S. 41f. 118 Temple: Upon Ancient and Modern Learning (wie Anm. 106), S. 42f. 119 Temple: Upon Ancient and Modern Learning (wie Anm. 106), S. 38.

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des kopernikanischem Systems, das sich allerdings auch auf alte Quellen zurückführen lasse. Weiter erörterte Temple insbesondere die Bedeutung der Musik, denn sie habe in Griechenland zur Größe und Stärke beigetragen, in der modernen Welt sei diese Kraft der Musik jedoch verloren gegangen. Auch in der Architektur habe die Antike einen Vorsprung.120 Der Engländer fasste deshalb zusammen: „So far have we been from improving upon those Advantages we have received, from the Knowledge of the Ancients, that since the late Restoration of Learning and Arts among us, our first Flights seem to have been the highest, and a sudden Damp to have fallen upon our Wings, which has hindered us from rising above certain Heights.“121 Temple verglich nun die englischen Institutionen, die die Bildung förderten mit ihren griechischen Äquivalenten.122 Dabei nahm Temple Themen der französischen Querelle auf, die sich vor allem auf den Vergleich der sprachlichen und literarischen Fähigkeiten der Alten und Modernen bezogen. Dem Urteil Tempels zufolge war die Eloquenz der modernen Sprachen nicht in gleichem Maße entwickelt wie die des Lateinischen.123 Auch die Akademien in Frankreich könnten sich nicht mit der athenischen Akademie Platons vergleichen, wo die griechische Sprache und Philosophie diskursiv eingeübt worden seien. Richelieus Akademie sowie sein Versuch, das Französische zur europäischen Sprache der Literatur, Philosophie und Diplomatie zu erheben, wollte Temple als gescheitert ansehen. Aber auch das Spanische oder Italienische könnten mit der Perfektion des in Athen gesprochenen Griechisch nicht konkurrieren: ’Tis easy to imagine, how imperfect Copies these modern Languages, thus composed, must needs be, of so excellent Original, beint patcht up, out of the Conceptions as well as Sounds, of such barbarous or inslaved People. Whereas the Latin was framed or cultivated, by the thoughts and uses of the Noblest Nation that appears upon any Record of Story, and inriched only by the Spoils of Greece, which alone could pretend to contest it with them. ‘Tis obvious enough what rapport there is … and how easily and just preference it must decree, to those of the Greek and Latin, before any of the modern Languages.124

Die griechischen und lateinischen Autoren waren für Temple in ihrer Größe und Exzellenz nicht zu übertreffen.125 Damit wehrte sich Temple gegen die französische Konkurrenz und den von der Académie ausgehenden Versuch, die französische Sprache zu erneuern und zu verbessern: Sie verliere, je mehr sie verfeinert 120 Temple: Upon Ancient and Modern Learning (wie Anm. 106), S.44ff. 121 Temple: Upon Ancient and Modern Learning (wie Anm. 106), S. 52. 122 Temple: Upon Ancient and Modern Learning (wie Anm. 106), S. 57. 123 Temple: Upon Ancient and Modern Learning (wie Anm. 106), S. 58ff. 124 Temple: Upon Ancient and Modern Learning (wie Anm. 106), S. 59f. 125 Temple: Upon Ancient and Modern Learning (wie Anm. 106), S. 62f.



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würde an Kraft und Bedeutung. Dementsprechend sei das Französisch Montaignes demjenigen Rochefoucaulds vorzuziehen.126 An dieser Stelle kritisierte Temple nicht nur die Sprachpolitik der Franzosen, sondern auch die höfische Gelehrtenkultur.127 Seit Franz I., Karl V. und Heinrich VIII. habe es keine Souveräne mehr gegeben, die für ihre Gelehrtheit berühmt seien. Die zeitgenössischen Fürsten und Könige nutzten in der Deutung des Engländers Wissen, Erfindungen und Entdeckungen nur noch dazu, den eigenen Ruhm zu mehren und zu exponieren.128 Um Bildung nicht für politischen Eigennutz zu missbrauchen, propagierte Temple einmal mehr das griechische Vorbild, das für ihn von moralphilosophischem Mehrwert für die Gesamtheit einer Gemeinschaft war, weil es Bildung, Geschmacksurteil und Kunst als Selbstzweck fördere. Für Temple lösten das antike Griechenland sowie sein Zentrum Athen deshalb Italien und Rom sowie die gesamte lateinische Welt, die nur nach Ruhm strebe, als Bildungsvorbilder ab. Griechenland wurde an dieser Stelle zum ersten Mal als nachahmungswürdiges Vorbild für das englische Königreich gebraucht. Mit den Angriffen von Temple bedurften die Verteidiger der „new science“ einer neuen Rechtfertigung. Diese konnte in den Reflections on Ancient and Modern Learning129 des Linguisten und Theologen William Wotton (1666–1727) gefunden werden.130 Wotton fasste die englische Querelle zu Beginn seiner Ausführungen zusammen und machte dabei deutlich, dass der englische Streit der Alten und Modernen mit der Instituierung der Royal Society ihren Anfang genommen habe und dass die französische Querelle um andere Aspekte kreise als die englische.131 Trotz dieses Unterschieds zog Wotton Impulse für seine Widerrede an Temple aus der französischen Querelle, da auch Temple bereits in seiner 126 Temple: Upon Ancient and Modern Learning (wie Anm. 106), S. 63f. 127 Siehe Temple: Upon Ancient and Modern Learning (wie Anm. 106), S. 66f. 128 Siehe Temple: Upon Ancient and Modern Learning (wie Anm. 106), S. 68. Wie wichtig das Thema der Bildung und der antiken oder modernen Vorbilder nach Ansicht Temples für die höfische Ruhmgier geworden waren, zeigen seine abschließende Bemerkungen: „Tis the Itch of our Age and Clymate, and has over-run both the Court and the Stage, enters a House of Lords and Commons, as boldly as a Coffee-House, Debates of Council as well as private Conversation: and I have known in my Life, more than one or two Ministers of State, that would rather have said a Witty thing, than done a Wise one; and made the Company Laugh, rather than the Kingdom Rejoyce.“ Temple: Upon Ancient and Modern Learning (wie Anm. 106), S. 74. 129 Wotton, William: Reflections upon Ancient and Modern Learning. By William Wotton, B.D. Chaplain to the Right Honourable the Earl of Nottingham. London 1694. 130 Die Kontroverse zwischen den beiden bildete nach Marie-Luise Spieckermann den logischen, wenn auch nicht den faktischen Abschluss der englischen Querelle. Spieckermann: William Wottons (wie Anm. 100), S. 88. 131 Wotton: Reflections (wie Anm. 129), S. 4f.

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Kritik an den Modernen Perraults Parallèles sowie Fontenelles Digressions sur les Anciens et les Modernes aufgegriffen und widerlegt hatte. Auch Wotton bezog für seine Verteidigung der Modernen nun Anregungen aus dem französischen Lager. Insbesondere Fontenelle war ihm trotz seiner Kritik an ihm,132 besonders hilfreich. Vom Franzosen übernahm Wotton das Bild des „homme universel“, mit dem ersterer die Menschen aller Jahrhunderte zu einem einzigen Menschen verschmolz.133 Da Bacon dieses Bild bereits in seinem Novum Organum134 gebraucht hatte, schien dieses auch für die Diskussionen innerhalb der englischen Auseinandersetzung geeignet. Fontenelle war in seinen Ausführungen einen Schritt weitergegangen als Bacon und hatte die Metapher des „homme universel“ mit der Analogie des natürlichen Ablaufs des Entstehens, Werdens und Vergehens verknüpft. In diesem Sinne war Fortschritt nicht mehr wie bei Bacon eine quantitative Akkumulation des Wissens, sondern die intellektuelle Befreiung des Menschen von dem naturhaften Zyklus des Werdens und Vergehens.135 Die von Fontenelle angestellte Zusammenführung der „hommes de tous les siècles à un seul homme“ lehnte eine ungleiche Bewertung verschiedener Jahrhunderte damit schlicht ab.136 Die Metapher implizierte jedoch nicht nur die Ganzheit und die Identität der Weltentwicklung, sondern verfocht auch einen weiteren Punkt, den auch Wotton verteidigte: Man konnte der Moderne nicht mehr vorwerfen, dass sie sich mehr mit den Naturwissenschaften als mit Moralphilosophie beschäftige, da jedes Zeitalter seiner natürlichen Bestimmung folge. Die naturwissenschaftliche Beschäftigung konnte so zum Zeichen der Blüte werden.137 Doch trotz Wottons Ablehnung der universellen Vorbildlichkeit der Antike galt auch für ihn, ähnlich wie für die französischen Modernenverfechter, Griechenland dennoch als die Wiege des eloquenten Umgangs mit der eigenen Sprache: I shall first speak of those which relate more particularly to Poetry, because it was much the ancientest [sic.] Way of Writing in Greece; where their Orators owned, that they learned a great deal of what they knew, even in their own, as well as in other Parts of Learning, from their Poets. And here one may observe, that no Poetry can be Charming that has not a Language to support it. The Greek Tongue has a vast Variety of long Words, …All which Things give it a vast Advantage above any other Language that has ever yet been cultivated by Learned Men.138 132 Wotton: Reflections (wie Anm. 129), S. 5f. 133 Wotton: Reflections (wie Anm. 129), S. 6. 134 Bacon, Francis: Franciscy de Verulamio, summi Angliæ cancellarij instauratio magna [Novum Organum]. Londinium 1620. 135 Spieckermann: William Wottons (wie Anm. 100), S. 88ff. 136 Spieckermann: William Wottons (wie Anm. 100), S. 92. 137 Spieckermann: William Wottons (wie Anm. 100), S. 93. 138 Wotton: Reflections (wie Anm. 129), S. 25.



3 Das Athen der französischen und englischen Griechenlandfahrer 

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Das antike Griechenland und sein Zentrum Athen wurden im Hintergrund der Querelle nicht mehr, wie in den Jahrzehnten zuvor, im Kontext einer politiktheoretischen Analyse politischer Institutionen rezipiert, sondern aufgrund seiner kulturellen Blüte. Beide Lager der Querelle teilten die Annahme, dass das antike Griechenland in sprachlicher und rhetorischer Hinsicht der eigenen Zeit überlegen war und sprachen so der Redegewandtheit und rhetorischen Kunst eine zentrale Funktion für die kulturelle Blütezeit der antiken Welt zu. Die demokratische Verfassung Athens, die in der politischen Theorie der vorherigen Jahrzehnte prominent diskutiert wurde, wurde hier entweder nur am Rande erwähnt oder zumeist ganz außer Acht gelassen. So konnte das antike Griechenland und dessen berühmtestes Gemeinwesen, Athen, als kulturelles Vorbild in beiden Monarchien fungieren. Diese Aufwertung führte vor allem dazu, dass Antikenbegeisterte und erste antiquarisch Forschende vermehrt an die antiken griechischen Stätten reisten. Mit ihren Reiseberichten und ihren Forschungsdarstellungen trugen sie erheblich zu einem weit expliziteren und differenzierteren Griechenlandbild bei, womit fortan nun vor allem dessen Zentrum, Athen, in den Vordergrund rückte.

3 Das Athen der französischen und englischen Griechenlandfahrer Nicht nur die Ereignisse und Diskussionen im Inland, sondern auch die Berichte der Griechenlandreisenden waren Grund dafür, dass dem antiken Athen im ausgehenden 17. Jahrhundert größere Beachtung in Frankreich und England geschenkt wurde. Denn englische und französische Hellas-Reisende trugen im 17. Jahrhundert profund zur Professionalisierung der klassischen Studien und zum vertieften und erweiterten Wissen über das antike Griechenland und insbesondere über Athen bei. Obwohl die Reisenden zumeist die Begeisterung für das antike Griechenland teilten, hielten sie sich mehrheitlich zu anderen beruflichen Zwecken in Griechenland auf – sie waren entweder Diplomaten, Kirchenmänner oder Handelnde. Der Franzose Jacob Spon (1647–1685) und der Engländer George Wheler (1650–1723) waren die ersten, die gezielt nach Griechenland reisten, um die antiken Überbleibsel sorgsam zu studieren und diese zu beschreiben. Sie gründeten die moderne Tradition griechischer Reiseliteratur.139 Dass vor allem Engländer und Franzosen nach Griechenland fuhren, lag daran, dass diese von der „aufgeklärten Patronage“140 ihrer um die Kulturhege139 Siehe Constantine, David: Early Greek Travellers and the Hellenic Ideal. Cambridge [u.a.] 1984, S. 7. 140 Constantine: Early Greek Travellers (wie Anm. 139), S. 1.

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monie konkurrierenden Monarchen profitierten. So wurden bspw. der französische Botaniker und Forschungsreisende Joseph Pitton de Tournefort (1656–1708), dessen Reisebericht Relation d’un voyage du Levant fait par ordre du roy141 bei den Hellenisten große Autorität besaß und öfter als jeder andere Bericht zitiert wurde,142 sowie der Geistliche und Philologe Michel Fourmont (1690–1746)143 von der französischen Krone nach Griechenland geschickt. Die Society of Dilettanti unterstützte dagegen den Antiquaren Richard Chandler (1738–1810)144 bei seinem Reisevorhaben. In England und Frankreich gab es zudem eine lange Tradition klassischer Gelehrsamkeit sowie ausgeprägte Handelsbeziehungen, die den ersten Griechenlandreisenden von Nutzen waren.145 Nachdem sich Gelehrte zuvor vor allem mit Rom auseinandergesetzt hatten und die Stadt auf den sieben Hügeln als das Zentrum der Kultur und der Kunst angesehen worden war, begannen Antikenbegeisterte um 1670 das Interesse vermehrt auf Griechenland zu richten. Voller Nostalgie wollten Reisende nun die Ruinen und Überbleibsel einer kulturellen Blütezeit sehen und ihren Verlust betrauern.146 Um 1670 erschien Griechenland vor allem in Frankreich, aber auch in England als ein notwendiges Element in der eigenen kulturhistorischen Positionierung. Bereits der englische Botschafter im Osmanischen Reich, Sir Thomas Roe (1581–1644), hatte seine Agenten über ganz Griechenland verteilt, um alle beweglichen Überreste der griechischen Antike zu beanspruchen und ins englische Mutterland verschiffen zu lassen. Auch Kardinal Richelieu hatte eine beträchtliche Antikensammlung zusammengetragen,147 und Denis de la Haye, von 1665 bis 1670 französischer Botschafter an der Hohen Pforte, engagierte sich in seinem Heimatland als Patron antiker Sammlungen.148 Die römische und griechische Antike wurden nun einerseits durch die Diskussionen im Inland, ander141 Tournefort, Joseph Pitton de: Relation d’un voyage du Levant fait par ordre du roy. Paris 1717. 142 Constantine: Early Greek Travellers (wie Anm. 139), S. 58. 143 Fourmont, Michel: Relation agrégée du voyage littéraire que l’abbé Fourmont a fait dans le Levant par ordre du Roy, dans les années 1729 & 1730. In: Histoire de l’Académie royale des inscriptions et des belles lettres. Paris 1733. Bd. VII. S. 344–358. 144 Chandler Richard: Travels in Greece: Or an Account of a Tour Made at the Expense Of the Society of Dilettanti. By Richard Chandler, D.D. Fellow Of Magdalen College, And of The Society of Antiquaries. Oxford 1776. 145 Constantine: Early Greek Travellers (wie Anm. 139), S. 1ff. 146 Constantine: Early Greek Travellers (wie Anm. 139), S. 4. 147 Diese litten jedoch in ihren Zielländern nicht unerheblich. Die Sammlung Richelieus wurde später von Mazarin größtenteils mit dem Hammer zerschlagen, um die nackten Körper zu vernichten. Die Sammlung Karls I. fiel dem Feuer von London zum Opfer. Vgl. Constantine: Early Greek Travellers (wie Anm. 139), S. 8 und 10. 148 Constantine: Early Greek Travellers (wie Anm. 139), S. 7.



3 Das Athen der französischen und englischen Griechenlandfahrer 

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seits durch die Reisen zunehmend differenziert wahrgenommen. Die Berichte und Sammlungen der Reisenden verstärkten die Öffentlichkeitswirksamkeit der Auseinandersetzung mit dem antiken Griechenland in beiden Ländern.149 Die veränderte politische Situation der Hellas machte es in den 1670er Jahren erst durchführbar, die antiken Stätten zu bereisen, womit sich der Lernprozess über das antike Griechenland drastisch veränderte. Nach einem 25 Jahre andauernden Krieg wurden die Venezianer in Candia 1669 besiegt und die osmanische Herrschaft über die Ägäis besiegelt. Das Ende der Auseinandersetzungen machte fortan Reisen auf dem Seewege leichter. Da der Konflikt 1685 wieder ausbrach, waren Reisen an die antiken Stätten Griechenlands vor allem auf die 1670er Jahren beschränkt. Die 16 Jahre anhaltende Friedenszeit verbesserten die Handelsbeziehungen, die den Griechenlandreisenden zugute kamen, die sich nach Möglichkeit Fernhändlern anschlossen, die die Routen sowie die partikularen Schwierigkeiten und Herausforderungen bestens kannten. Bevor Spon und Wheler in der Levante ankamen, verbesserten sowohl Frankreich wie England die Beziehungen zur osmanischen Regierung und sicherten so die Freiheiten ihrer Kaufleute. Frankreich profitierte dank der Kontakte des französischen Botschafters CharlesFrançois Olier, Marquis de Nointel zunächst erheblich vom größeren Einfluss und Prestige des Amtsinhabers, während seinem britischen Amtskollegen, Sir John Finch, die Reisegenehmigung des Sultans verweigert wurde.150 Nointel ergriff seine Gelegenheit, reiste durch Griechenland und sammelte Antikengegenstände für Ludwig XIV. Von neun Jahren Amtszeit verbrachte Nointel fünf auf Reisen, deren Berichte, falls Nointel welche anfertigte, nicht überliefert sind. Tournefort berichtete jedoch circa 30 Jahre danach von den legendenumwobenen Reisen des französischen Botschafters.151 Cornelio Magni (1638–1692), der ebenfalls mit Nointel auf seinen Reisen unterwegs war, veröffentlichte in den Jahren 1679 und 1688 Berichte aus Kleinasien, den Archipelago und Athen. In seinem Vorwort schilderte er, drei Jahre vor der Veröffentlichung nach Lyon gefahren zu sein und dort den Griechenlandfahrer und Antiquar Spon besucht zu haben, um seine Notizen und Beobachtungen mit ihm zu besprechen und diese zu überprüfen.152 Nointel hatte außerdem auch Jean Giraud angestellt, der zuerst französischer, dann englischer Konsul in Athen war, um einen genauen Bericht von Attika und der Peloponnes zu erstellen. Offensichtlich wollte Nointel eine breit angelegte Darstellung über Griechenland anfertigen und stellte dazu mehrere Reiselustige sowie Antikenbegeisterte in seine Dienste und ließ von 149 Constantine: Early Greek Travellers (wie Anm. 139), S. 7. 150 Constantine: Early Greek Travellers (wie Anm. 139), S. 11. 151 Constantine: Early Greek Travellers (wie Anm. 139), S. 12f. 152 Constantine: Early Greek Travellers (wie Anm. 139), S. 13.

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 IV Von der Republik zur Polis

Künstlern genaue Zeichnungen der antiken Überreste anfertigen. In Konstantinopel zeigte Nointel den beiden Reisenden Spon und Wheler zur Vorbereitung ihrer Griechenlandfahrt seine gesammelten Zeichnungen.153 Das 1674 von Jacques Carrey (1649–1726) angefertigt Gemälde zeigt den französischen Botschafter Nointel mit seiner Entourage vor den Stadtmauern Athens. Die Akropolis wird in der Darstellung überhöht als Festung und Zentrum der Stadt dargestellt. Das Gemälde verdeutlicht, welches erhabene Bild eines prachtvollen Athens den Zuhausegebliebenen vermitteln werden sollte. Obwohl immer unter Beobachtung der Osmanen, die im rechten unteren Bildrand zu sehen sind, positionierten sich die Franzosen damit als Erben des antiken Athens.

Abbildung 1: Carrey, Jacques: Le marquis de Nointel devant l’Acropole d’Athènes, Ölgemälde, Chartres, Musée des Beaux-Arts, nun im Museum der Stadt Athen. Stiftung Vourou-Eftaxia.154

In Nointels Umkreis befand sich ein weiterer Antikenbegisterter und AthenExperte: der Jesuit Jacques-Paul Babin ([?]–1699). Dieser folgte dem Drängen des Abbé Pecoils von Lyon und fertigte schließlich einen Bericht des Zustandes von Athen an und sandte diesen mit dem Titel Relation de l’etat present de la ville d’Athenes155 diesem aus Smyrna zu. Pecoil gab den Berich an den Lyoner Antiquaren und Mediziner Jacob Spon weiter, der diesen 1674 ohne Angabe über den Ver153 Constantine: Early Greek Travellers (wie Anm. 139), S. 13ff. 154 Vgl. auch Pasquier, Alain: A la recherche des vestiges de la Grèce antique: voyageurs des XVIIe et XVIIIe siècles. In: Le Goût à la Grecque. La naissance du néoclassicisme dans l’art français. Chef-d’œuvres du Musée du Louvre. 28 septembre 2009–11 janvier 2010. Hrsg. von Marie-Laure de Rochebrune. Athen 2010. S. 28–37, hier S. 30. 155 Babin, Jacques-Paul: Relation de l’etat present de la ville d’Athenes, ancienne capitale de la Grece, bâtie depuis 3400 ans. Avec un abrégé de l’histoire & de ses Antiquité. Hrsg. von Jacob Spon. Lyon 1679.



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fasser veröffentlichte. Babins Bericht, der 1672 fertiggestellt worden war und der sich aus Kenntnissen speiste, die dieser in seinen ingesamt fünf Wochen Aufenthalt in Athen zusammengetragen hatte, war für die Franzosen eine Enthüllung: Er zeigte den französischen Gelehrten, dass Athen nicht vergessen und vergangen war, sondern viele der Stätten der Zeiten Perikles’ noch immer zugänglich und intakt waren. Der Text entwarf seinen Lesern ein Bild einer Stadt, die, von Kriegen und Wettern zwar zerstört, jedoch noch immer wunderschön war.156 Im Vorwort zeigte sich Spon als Herausgeber von Babins Bericht kritisch gegenüber allen vorausgegangenen Werken über die antike Stadt. Nach Ansicht des Antiquaren zeugten diese von einer eklatanten Unkenntnis der Überreste Athens: Ceux qui parlent d’Athenes dans les relations de voyages ou dans les Geographies, le font avec si peu de conoissance & avec tant de mépris, qu’on voit bien qu’ils s’en rapportent à des Autheurs qui mesurent son ancienne grandeur avec ce qui en reste, qui est assurément tres-peu en consideration de ce qu’elle a autrefois été: peut-étre außi qu’une partie de ceux qui disent l’avoir vûe dans leurs voyages, ne l’ont vûe que de loing cachée de la colline, sur laquelle est placée la Citadelle; ou bien n’ont vû le Port Lyon, où il ne reste que quelques maisons qu’ils prennĕt pour les mazures mêmes d’Athenes, qu’ils s’imaginent avoir été située au bord de la mer.157

Ganz in Spons Sinne begeisterte sich Babin in seinem Brief an den Abbé Pecoil für die Stadt in Attika, wie dies außerdem auch der Geistliche Robert de Dreux getan hatte, der als Verwandter des Botschafters de la Haye-Vantelet bereits 1665–68 in die Türkei und nach Athen und Griechenland gereist war.158 Babin bestätigte in seinem Bericht schließlich, dass die Stadt mit ihren antiken Überresten die Reisestrapazen voll und ganz entschädige.159 156 Vgl. Babin: Relation (wie Anm. 155), S. 15f. Siehe auch Davis, Margaret Daly: Einleitung. In: Babin: Relation de l’etat present de la ville d’Athenes, ancienne capitale de la Grece, bâtie depuis 3400 ans. Hrsg. von Margarete Daly Davis. Heidelberg 2009 (Fontes, Quellen und Dokumente zur Kunst 1530–1750, Bd. 39). S. 3–8, hier S. 3. 157 Spon, Jacob: Préface. In : Babin: Relation (wie Anm. 155). Ohne Seitenangabe. 158 Siehe Pernot, Hubert: Avant-Propos. In: Dreux, Robert de: Voyage en Turquie et en Grèce avec R. P. Robert de Dreux. Aumonier de L’Ambassadeur de France (1665–1669). Hrsg. von Hupert Pernot. Paris 1925. S.VII–XI, hier S. VIII. 159 Siehe Dreux: Voyage (wie Anm. 158). Siehe auch Dreux, Robert de: Visitez la Grèce avec Robert de Dreux, George Wheler, Chateaubriand, Pouqueville... , [o. Hg.]. Paris 1968, S. 14f. De Dreux konkludierte in seiner Voyage: „Enfin tout ce qu’on y voit de sculpture est si beau et sie bien travaillé que nous en étions tous charmés, et j’en restai tellement satisfait que je ne charchai [sic !] plus à voir les autres antiquité, quoique cette ville en soit tellement remplie qu’il y a peu de maison qui n’en aient quelqu’une, ou du moins quelques fragments.“ Siehe Dreux: Voyage (wie Anm. 158), S. 156.

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 IV Von der Republik zur Polis

… je croy que vôtre satisfaction sera plus grande d’entendre parler de ce qui subsiste encore, et d’apprendre des nouvelles d’une ville qui a été et qui pourroit en quelque façon estre appellée l’œil et le soleil de la Grece, qui se piquoit autrefois d’estre le païs le plus éclairé du monde, et qui ne donnoit point d’autre noms à toutes les autres nations, que celuy de sauvages et de barbares.160

Babin kritisierte in seinem Brief jedoch auch, ganz ähnlich wie Spon in seinem Vorwort zur Veröffentlichung, dass sich die Gelehrten bisher vor allem für Rom und Konstantinopel begeistert hätten, man jedoch sehr wenig über das heutige Athen und über seine antiken Ruinen wisse, es bisher kaum ein lesenwertes Buch über Athen gebe. Dies wollte Babin nun ändern.161 Babin beschrieb in der Folge das moderne Athen wie er es sah oder sehen wollte. Er thematisierte darin den allgemeinen Zustand der Stadt, beschrieb den Hafen, er überprüfte antike Beschreibungen, er stellte die Gebäude, die Brunnen, die Situation der christlichen Kirchen, den Tempel, die Moscheen, den Areopag, die Zitadelle, die Marmorsäule, das Amphitheater und sonstige antike Überreste dar. Jacob Spon ergänzte Babins Ausführungen von Lyon aus um einige Inschriften sowie um einen Absatz über Pausanias’ Zeit. Spon, der ein Jahr nach der Veröffentlichung von Babins Athenbeschreibung selbst in die Levante aufbrach, sollte schließlich selbst eine genaue Untersuchung der antiken Überreste anfertigen, die zu einer regelrechten Klassifizierungslehre und Systematik der Antikenforschung wurde.162 In Rom begegnete Spon dem englischen Kleriker und Gelehrten George Wheler. Die beiden Reisenden beschlossen dort, gemeinsam nach Griechenland, mindestens bis nach Athen zu reisen. Sie waren damit unter den ersten, die dezidiert zu antiquarischen Zwecken Richtung Athen aufbrachen. Als

160 Babin: Relation (wie Anm. 155), S. 3f. 161 „Vou [sic.] pourrés trouver dans plusieurs livres la descripion de Rome, de Constantinople, de Ierusalem, et des autres villes les plus considerables du monde, telles qu’elles sont presentement; mais je ne say pas quel livre décrit Athenes, telle que je l’ay vûe, et l’on ne pourroit trouver cette ville, si on la cherchoit comme elle est representée dans Pausanias, et quelques autres anciens Autheurs: mais vous la verrés icy au même état qu’elle est aujourd’huy, qui est tel que parmis ses ruines elle ne laisse pas pourtant d’inspirer un certain respect pour elle tant aux personnes pieuses, qui en voyent les Eglises, qu’aux Savans qui la reconnoissent pour la mere des sciences, et aux personnes guerrieres et genereuses, qui la considerent, comme le champ de Mars, et le theatre où les plus grands conquerans de l’antiquité ont signalé leur valeur, et ont fait paroître avec éclat leur force, leur courage et leur industrie: & ces ruines sont enfin assés précieuses pour marquer sa premiere noblesse, & pour faire voit [sic.] qu’elle a été autrefois l’objet de l’admiration de l’Vnivers.“ Babin: Relation (wie Anm. 155), S. 4f. 162 Er teilte die Antikenforschung in acht Teilwissenschaften ein: Numismatographie, Epigrammatographia, Architectonographia, Iconographia, Glyptographia, Toreumatographia, Bibliographia, Angeiographia, siehe Davis: Einleitung (wie Anm. 156), S. 5.



3 Das Athen der französischen und englischen Griechenlandfahrer 

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Spon und Wheler sich am 20. Juni 1675 gemeinsam auf den Weg machten, hatten sie ein Buch im Gepäck, das in Frankreich gerade erschienen war und das man ihnen nach Venedig geschickt hatte: Athènes ancienne et nouvelle163 von George Guillet de Saint-George (1624–1705). Guillet de Saint-George hatte ein Buch veröffentlicht, das eine Beschreibung der Stadt Athens enthielt und unter dem Namen seines Bruders La Guilletière erschienen war, der gerade aus vierjähriger türkischer Gefangenschaft befreit worden sein sollte. In Wirklichkeit war dieser Bruder jedoch eine Erfindung Guillet de Saint-Georges und dieser selbst der Autor der Athendarstellung. Guillet de Saint-George hatte selbst nie griechischen Boden betreten, sondern bezog seine Informationen von französischen Priestern, die sich in Athen aufhielten. Als Spon und Wheler Athen erreichten, suchten sie die Priester, mit denen Guillet de Saint-George brieflich kommuniziert hatte auf und erfuhren, dass es La Guilletière nie gegeben hatte.164 Trotz des fiktionalen Charakters seines Buches hatte Guillet de Saint-George aber ein ganz beachtliches Werk zustande gebracht, das von einer intensiven Lektüre antiker Autoren und von der Ortskenntnis anderer, namentlich der Kapuzinermönche in Athen zeugte. Er hatte in vier Teilbüchern ein respektables Kompendium an Beobachtungen über das religiöse, kulturelle, politische und wirtschaftliche Leben im alten und neuen Athen zusammengestellt und trug damit erheblich zum Studium Athens in Frankreich und England bei.165 Spon und Wheler überprüften das Buch nun selbst in Athen angekommen sorgsam, woraufhin Guillet de Saint-George großen Spott von ihnen erntete. Um letzteren zu widerlegen fertigte Spon nun einen eigenen Reisebericht an, der im Jahre 1678 veröffentlicht wurde. Whelers und Spons Reisegefährte Francis Vernon (ca. 1637–1677) schrieb einen Brief an die Royal Society, um die gelehrte Welt gegen das erfolgreiche Buch Guillet de Saint-Georges, das mittlerweile in seiner dritten Auflage erschienen war und nun ins Englische übersetzt werden sollte, zu warnen. Letzterer reagierte auf Spons Vorwürfe mit Vehemenz und bezeugte die Authentizität seiner Berichte und warf Spon seinerseits vor, selbst nie in Griechenland gewesen zu sein. Dieser präsentierte daraufhin eine Liste von Fehlern und überführte Guillet de Sainte-George seiner Fiktion. In seinem Brief an den Dauphin, der in Spons Réponse à la critique publiée par M. Guillet166 enthalten 163 Guillet de Saint-Georges, Georges: Athènes ancienne et nouvelle et l’estat présent de l’Empire des Turcs contenant la vie du sultan Mahomet IV. Le Ministere de Coprgli Achmet Pacha, G. Vizir, & son Campement devant Candie… 2. Aufl. Paris 1675. 164 Constantine: Early Greek Travellers (wie Anm. 139), S. 19. 165 Constantine: Early Greek Travellers (wie Anm. 139), S. 19f. 166 Spon, Jacob: Réponse à la critique publiée par M. Guillet sur le Voyage de Grèce de Jacob Spon: avec quatre lettres sur le mesme sujet, le Journal d’Angleterre du sieur Vernon, et la liste des erreurs commises par M. Guillet dans son Athenes ancienne et nouvelle. Lyon 1679.

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 IV Von der Republik zur Polis

ist, bezeugte der Antiquar die Rivalität mit Guillet de Saint-George um Athen: Wie zwei Liebhaber im Duell um ihre Geliebte, so kämpften nun die beiden Autoren in Wort und Schrift um Athen. Spon schrieb: „Nous sommes rivaux d’une Maîtresse qui tout âgée qu’elle est de plus de trois mille ans, a encore des restes considerables de son ancienne beauté. … C’est cette ancienne & cette illustre Athenes, Monseigneur, pour qui avons pris les armes.“167 Trotz aller Kritik am Wahrheitsgehalt und der Exaktheit seines Buches hatte Guillet de Saint-George in der Zwischenzeit mit dem gleichen Stilmittel, ebenfalls mit Hilfe seines fiktionalen Bruders, ein ähnliches Buch über Sparta veröffentlicht, das gern gelesen und noch ein Jahrhundert später von Abbé Jean-Jacques Barthélemy in seinem ebenfalls fiktiven Reiseroman Voyage du jeune Anacharsis en Grèce168 als autoritative Quelle benutzt wurde.169 In Anbetracht von Guillet de Saint-Georges schnellem schriftstellerischem Erfolg kann man die Öffentlichkeitswirksamkeit eines Konfliktes um Athen erahnen. Trotz seines harschen Widerspruchs und seiner Kritik am Wahrheitsgehalt von Guillet de Saint-Georges Buch stimmte Spon mit ihm in seiner Begeisterung für Athen überein. Athen war deshalb besonders interessant für den Antiquar, da es nach Spons Rechnung 830 Jahre älter war als Rom und weil die Athener ihre Errungenschaften aus sich selbst und nicht durch fremde Völker geschaffen und damit eine unvergleichliche Ursprünglichkeit aufzuweisen hätten. Spon führte hierfür an, dass dies selbst die Römer hätten einräumen müssen, denn schließlich habe auch Cicero gesagt: „Voicy les Athéniens, … qui ont donné naissance à la politesse des mœurs, au culte des Dieux, aux Loix & à l’Agriculture, & qui en ont fait part à toute la Terre.“170 Spon nutzte also die bereits akzeptierte Autorität der antiken Römer, um diejenige der antiken Athener zu bestärken. Der Autor unterstrich ferner, dass man den Athenern noch heute, obwohl sie unter osmanischer Herrschaft lebten, den Glanz der antiken politesse ansehen könne: „quoyque les Atheniens ne s’y appliquent que tres-rarement, depuis qu’ils sont tombez sous la domination Othomane, on ne laisse pas de remarquer en eux une politesse d’esprit naturelle & beaucoup d’adresse dans toutes les affaires qu’ils entreprennent.“171 Auch wenn die Gebäude und Monumente nun zerstört seien, sei doch die Größe der alten Athener noch immer sichtbar und erschöpfe sich

167 Spon: Réponse (wie Anm. 166), Epistre à Monseigneur Dophin, ohne Seitenangabe. 168 Barthélémy, Jean-Jacques: Voyage du jeune Anacharsis en Grèce. 5 Bde. Paris 1788. 169 Constantine: Early Greek Travellers (wie Anm. 139), S. 17ff. 170 Spon, Jacob: Voyage d’Italie, de Dalmatie, de Grèce et du Levant: fait aux années 1675 et 1676. Par Jacob Spon, docteur médecin et George Wheler. 3 Bde. Lyon 1678, Bd. 2, Buch V, S. 105. 171 Spon: Voyage d’Italie (wie Anm. 170), Bd. 2, Buch V, S. 121.



3 Das Athen der französischen und englischen Griechenlandfahrer 

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nicht.172 Wenn die politesse an dieser Stelle auch nicht näher erklärt wird, zeigen Spons Ausführungen in den späten 1670er Jahren die früheste Erwähung der politesse-Athen-Verbindung, die sich beim Baron de Longepierre und insbesondere bei Jean de la Bruyère (1645–1696) einflussreich wiederfand. In seinem dem Werk vorangestellten epitre schrieb der Zuhause gebliebene Guillet de Saint-George ebenfalls von der einstigen Größe Athens. Rom habe Athen als einzige Stadt diesen Rang streitig machen können, dies allerdings nur mit Waffengewalt. Doch auch wenn Rom eine kurze Zeit über Athen und Griechenland militärisch triumphiert habe, so werde das athenische Imperium des Geistes, das glücklicherweise nun durch die Wissenschaften wiederentdeckt werde, noch lange bestehen: Il [le livre du voyageur – Anm. der Verf.] vous montrera l’estat present de la fameuse ville d’Athenes, qui passe en nos Quartiers pour aneantie, & qui n’ayant point encore trouvé de Restaurateur, se va faire sous vos auspices une nouvelle & heureuse destinée. Ce n’est pas à Vous, MONSIEUR, qu’il faut apprendre dans quelle splendeur elle parut autrefois. … Athenes a trouvé dans l’heureuse découverte des Sciences & des Arts, le secret de donner des loix par tout, & d’establir un Empire sur l’esprit des Hommes, qui durera außi longtemps qu’ils auront de la raison & de la reconnoissance. … cette superbe Ville où parurent jadis tant d’Exemples de Valeur & d’Erudition, & tant de sages Reglemens pour la Police & le Commerce.173

Der Autor hoffte mit seinem Bericht gerade das Interesse der Gelehrten und Wissbegierigen zu wecken. Auch wenn Athen nun in ganz anderem Licht erscheine als einst, so hoffe er, dass seine Beschreibungen zur Verehrung Athens beitragen würden. Diejenigen, die durch ihre Lektüre schon die großen Männer des Areopags und der athenischen Akademie kannten, würden darüber staunen, wie sehr sich Griechenland unter der osmanischen Herrschaft verändert habe.174 Doch trotz seiner Skepsis gegenüber dem aktuellen Griechenland und seiner Kritik an den modernen Athenern, entdeckte der Franzose durch seinen imaginären Bruder La Guilletière das antike Athen als Stadt der Künste, des Theaters und der Philosophie: 172 Spon: Voyage d’Italie (wie Anm. 170), S. 165. 173 Guillet de Saint-Georges: Athènes (wie Anm. 163), epistre. 174 „Quoyque la celebre Ville d’Athenes se presente icy sous une face bien changée, je croy qu’on aura de la veneration pour ses débris; l’espere même qu’ils ne seront pas inutiles à nos Sçavans. Ceux d’entr’eux qui sont dans le commerce continuel des bons Autheurs, & qui n’en peuvent guere parcourir sans rencontrer à tous momens les grands noms de l’Areopage, de l’Academie, du Lycée, du Prytanée, & beaucoup d’autres semblables, sont alors enlevez dans un pays, où ne reconnoissant pas le veritable terrain, eux mesmes ne se reconnoissent plus.“ Siehe Guillet de Saint-Georges: Athènes (wie Anm. 163), préface.

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Les heureux temps qui l’ont veue florissante, ont esté si fertiles en Miracles, & nous avons si peu de Siecles qui ayent produit de semblables Heros, que vous excuserez bien si je specifie des années si memorables, & consacrées par de si grands evenemens … Ainsi vous y verrez le temps qui s’est passé depuis l’Evenement dont on parle, jusqu’à l’année où nous sommes. De toutes les Villes anciennes qui subsistent dans la Grece, il n’y en a pas une qui ait mieux conservé son nom que celle d’Athenes.175

Die antiken Überbleibsel werden in Guillet de Saint-Georges Werk detailliert beschrieben. Dabei finden sich in den Ausführungen bisweilen Verweise auf antike Autoren und deren Darstellungen der antiken Stadt. Die modernen Griechen ernteten dagegen zumeist den Spott des Autors, namentlich für ihre Naivität und Unwissenheit, während er sich im Lob der antiken Athener übertraf: Aprés la victoire de Salamis, Athenes fut dans le plus haut point de splendeur, où elle ait jamais esté, toûjours sous un Corps de Republique. Ses plus grands Capitaines, ses plus doctes Philosophes, & ses plus habiles Artizans parurent dans cette conjoncture, & jamais Ville n’a esté si feconde en hommes illustres. Sa grandeur luy vint particulierement des soins de Pericles.176

In der Fallhöhe zwischen Lob der antiken und Verspottung der modernen Athener verbarg sich die Frage danach, wer die Erben der antiken Athener waren: Die modernen Griechen oder etwa die Franzosen? Weder die unwissenden Griechen noch die Türken, die für Guillet de Saint-George einer barbarischen Religion folgten und das kulturelle Erbe Griechenlands mit Füßen traten, waren für ihn würdige Nachfolger und Vertreter des antiken griechischen Erbes.177 Wheler und Spon, deren Beobachtungen und Aufzeichnungen bis Mitte des 18. Jahrhunderts als autoritative Beschreibungen gesehen wurden und erst 1762 durch die Bände der Antiquities of Athens178 des Malers und Architekten James Stuart (1713–1788), des sogenannten Athenian Stuart und des Architekten Nicholas Revett (1721–1804) in ihrem Bekanntheitsgrad abgelöst wurden, kamen Ende Januar 1676 in Athen an. Innerhalb kürzester Zeit präzisierten und erweiterten sie Babins Beobachtungen und verbesserten auch diejenigen der Kapuzinerpriester. Spon, der zuerst zuhause ankam, veröffentliche auch zuerst seinen Reisebericht Voyage d’Italie, de Dalmatie, de Grèce et du Levant, der 1678 in Lyon in drei Bänden erschien. Eine zweibändige Ausgabe kam ein Jahr später in Amsterdam heraus und in den Folgejahren gab es zahlreiche Nachdrucke, so 1680, 1689 und 175 Guillet de Saint-Georges: Athènes (wie Anm. 163), S. 132. 176 Guillet de Saint-Georges: Athènes (wie Anm. 163), S. 135f. 177 Vgl. auch Constantine: Early Greek Travellers (wie Anm. 139), S. 8. 178 Stuart, James: The Antiquities of Athens Measured and Delineated by James Stuart F. R. S. and F. S. A. and Nicholas Revett Painters and Architects. 3 Bde. London 1762–1794.



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1724. Es gab außerdem Übersetzungen ins Italienische (1681), Niederländische (1689) und Deutsche (1690). Whelers A Journey into Greece179 wurde dagegen erst 1682 veröffentlicht. In der Zwischenzeit hatte Spon seinem Reisegefährten Wheler schon vor der geplanten englischen Übersetzung eine Kopie seiner Arbeit geschickt, sodass Wheler seinen Bericht von Spon passagenweise abschreiben konnte.180 Wheler führte in seinem fünften Buch, das er mit The Description of Athens überschrieb, aus: ATHENS is the chief City of the Province of Greece, which was called, in times past, Attica; a City now reduced to near the lowest Ebb of Fortune: But of Fame so great, that few Cities in the World can dispute Precedence with her, or few pretend to have been her Equals. For, whether you consider her Antiquity, Valour, Power, Learning, or any other Quality, that may make a Place illustrious, and renowned in the World, she still seems triumphant. … Her people owned no Original, but the Earth they inhabited; and scarce allowed the Sun to be elder than they: Nor would they acknowledge to have received their Name from any, but their chief Goddes Minerva, whom they knew by the name AΘTHNA.181

Und weiter schrieb Wheler: The Athenians, notwithstanding the long Possession, that Barbarisme hath had of this Place, seem to be much more polished, in point of Manners and Conversation, than any other of these Parts; being civil, and of respectful Behaviour to all, and highly Complemental in their Dicourse.182

Diese Zeugnisse Whelers – wie auch diejenigen Spons, Guillets und Babins – machen deutlich, dass sich der seit der Renaissance ausgebildete Blick in die Antike von Rom nach Athen ausgeweitet hatte.183 Auf welches Interesse diese Reiseberichte stießen und wie neugierig die Zeitgenossen auf die antiken Überreste Athens waren, bezeugte Josep Pitton de Tourneforts (1656–1708) Reise von März 1700 bis Juni 1702, die von der französischen Krone initiiert und finanziert wurde und dessen Berichte anschließend der Académie des sciences präsentiert wurden. Tournefort durfte zwei Assistenten wählen, die ihn auf seinen Reisen begleiten sollten. Er entschied sich für den königlichen Miniaturisten Claude Aubriet (1665–1715) und den deutschen Mediziner Andreas Gundelsheimer (1668– 179 Wheler, George: A Journey into Greece by George Wheler, Esq., in Company of Dr. Spon of Lyons. In Six Books. London 1682. 180 Constantine: Early Greek Travellers (wie Anm. 139), S. 30. 181 Wheler: A Journey (wie Anm. 179), S. 337. 182 Wheler: A Journey (wie Anm. 179), S. 356. 183 Constantine: Early Greek Travellers (wie Anm. 139), S. 29.

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 IV Von der Republik zur Polis

1715). Tourneforts Reise war eine botanische, wissenschaftliche Unternehmung, die vornehmlich dem Zeck dienen sollen, die antike und moderne Geographie zu vergleichen. Obowhl die Reisenden also keine ausgewiesenen Hellenisten waren, trugen sie dennoch erheblich zu den hellenistischen Studien bei:184 Zum Abgleich moderner und antiker Verhältnisse zog der Franzose Schriften von Strabo, Pausanias und Herodot zu Rate. Tourneforts Bericht seiner Reise kam 1717, neun Jahre nach seinem Tod, in zwei Bänden unter dem Titel Relation d’un voyage du Levant fait par ordre du roy185 heraus. Fontenelles Eulogie, die er am 10. April 1709 in der Académie des sciences gehalten hatte, diente als Vorwort. Das Buch wurde 1718 ins Englische übersetzt, dort 1741 wiederaufgelegt und 1776–77 ins Deutsche übertragen, kein anderer Reisebericht wurde mehr zitiert als derjenige Tourneforts. Das Buch gestaltet sich in Form von 22 Briefen an den Comte de Pontchartain, den Staatssekretär von Ludwig XIV., dem Mann, der die Reise zuerst vorgeschlagen hatte. Tournefort hatte darin zumeist einen ironischen Ton, der eine französische Arroganz gegenüber den Türken und Griechen zeigte, denen er begegnete. Die Griechen, Nachfahren der begabtesten Architekten, konnten nach Aussagen der Beobachtenden keinen Sinn für die Expertise ihrer Ahnen bewahren.186 Durch die ersten Griechenlandfahrer, die ihre Reiseberichte anschließend veröffentlichten, erhöhte sich das Interesse am antiken Griechenland und vertiefte sich das Wissen über die moderne wie antike griechische Welt. Dies hatte zur Folge, dass dessen kulturell erfolgreiches Zentrum Athen in den Mittelpunkt des antiquarischen Interesses rückte und so zu einem allgemein akzeptierten, sogar von den jeweiligen Kronen geförderten, kulturellen Vorbild in den beiden westeuropäischen Monarchien wurde. Griechenland und Athen wurden zwischen 1630 und 1690 zuerst in Frankreich, dann ab den 1660er und 70er Jahren auch in England Vorbildcharakter zugeschrieben. In Frankreich begann dieser Wandel im Umfeld der Académie française, die im Zuge der Verbesserung der französischen Sprache nach Vorbildern suchte, die sie schließlich in der Antike fand. Im Umkreis der Académie entfachte sich dann auch der Streit um den Vorrang der antiken oder modernen Zeit. Es wurde deutlich, dass sowohl Verfechter der Antike wie der Moderne die Ansicht teilten, dass die antiken Griechen in ihrer sprachlichen Eloquenz und rhetorischen Fähigkeiten der eigenen Zeit überlegen waren. Somit förderten nicht nur die Antikenverteidiger, wie etwa Longepierre, sondern auch Perrault und Fontenelle, die den kulturellen Vorrang der eigenen Zeit herausstellten, die Beschäftigung mit der griechischen Antike. Diese Diskussion um die Antike und Moderne übertrug sich ab den 1660er Jahren schließlich 184 Constantine: Early Greek Travellers (wie Anm. 139), S. 52f. 185 Tournefort: Relation (wie Anm. 141). 186 Constantine: Early Greek Travellers (wie Anm. 139), S. 53ff. und S. 58.



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auf England, wo die Querelle vor allem in naturwissenschaftlicher und methodischer Hinsicht geführt wurde. Trotz dieser naturwissenschaftlichen Ausrichtung der englischen Auseinandersetzung bestätigten dort ebenfalls beide Lager den Vorrang der Griechen in sprachlicher und literarischer Hinsicht. Athen fungierte im ausgehenden 17. Jahrhundert in beiden Monarchien nicht als Modell eines bestimmten politischen Regimes, sondern es wurde trotz (und nicht etwa wegen) seiner demokratischen Institutionen und aufgrund seiner kulturellen Blüte sowie seiner philosophischen, literarischen, künstlerischen und architektonischen Errungenschaften als kulturelles Vorbild begriffen, das auch für das monarchische Frankreich und England nachahmenswert war. Dabei wurde zwar ein Zusammengang zwischen demokratischen Institutionen und rhetorischer Eloquenz gesehen, jedoch sollte nicht das politische Gefüge, sondern ausschließlich die Methoden, die die Athener zur Brillanz geführt hatten, übernommen werden. Anstatt eines öffentlich debattierenden Volkes, das seine Oratoren zur Präzision und Überzeugungskraft zwang, sollte die Gemeinschaft der „honnetes gens“ die Funktion der sprachlichen Ausbildung übernehmen. Nicht die Arena des Volkes war dazu notwendig, sondern diejenige der adeligen, höfischen Welt. Das demokratische Konzept Athens wurde damit gleichsam „aristokratisiert“.

V Von höfischer courtoisie zur urbanen politesse Tous les Peuples illustres ont cultivé leur Langue. La françoise est peut être celle qui a le plus de disposition à la perfection; son caractère consistant dans la clarté, la pureté, la finesse, & la force. Propre à tous les genres d’écrire, elle a été choisie préférablement aux autres Langues de l’Europe pour être celle de la politique générale de cette partie du monde; & par conséquent elle est la seule qui ait triomphé de la Latine.1

Dass die französische Sprache in diesem Maße an Bedeutung gewinnen würde, wie es im Vorwort zu Abbé Gabriel Girards (1677–1748) Wörterbuch von 1740 deutlich wird, hätten sich Schriftsteller so im 16. Jahrhundert vermutlich noch nicht vorstellen können. Die angesehensten Prosaisten des 16. Jahrhunderts wie François Rabelais (ca. 1494–1553) oder Michel de Montaigne (1533–1592) hatten das Französische in seinen Ausdrucksmöglichkeiten und in seiner Grammatik noch als sehr begrenzt erachtet. Was sich unter Richelieus Sprachpolitik und dem Wirken der Académie française verändert hatte, hatte das gesamte Sprachengefüge in Europa modifiziert, wo die Vernakularsprachen bisher nur eine Nebenrolle gespielt hatten.2 Die Gruppe derer, die nun über Geschriebenes urteilte, weitete sich durch die wachsende Bedeutung der französischen Sprache auf die Pariser Gesellschaft und ihren „sociétés lettrées“ der Salons aus. Diese Versammlungen unterschieden sich erheblich von der Welt der gelehrten Akademien, wo man sich regelmäßig bei den Brüdern Dupuy oder in Bibliotheken traf und die antiken Sprachen und Kultur studierte. Der Horizont der neuen „gentilshommes“ war dagegen ganz von der Gegenwart geprägt. Sie kannten antike Texte nur durch den Filter der Übersetzungen.3 Die teilweise sehr freien Übertragungen von Thukydides, Luzian, Cicero, Tacitus und anderen machten die antiken Texte und Gedanken dem modernen Leser zugänglich und leisteten so ihren Beitrag zur literarischen Geschmacks- und Urteilsfähigkeit der Zeitgenossen.4 Mit der veränderten Zugänglichkeit antiker klassischer Texte und mit dem Prozess der Verlagerung literarischer Urteilskraft gingen ein veränderter 1 Girard, Abbé Gabriel: Synonymes françois, leurs différentes significations, et le choix qu’il en fait faire pour parler avec justesse. 3. Aufl. Paris 1740, préface, S. VI u. VIJ. In der Ausgabe von 1736 wurde die französische Sprache als beste aller romanischen Sprachen bezeichnet, nicht als beste überhaupt: „De tous les peuples qui ont démombré & partagé l’Empire Romain, le François est celui dont la Langue a fait le plus de chemin vers la perfection, par la pureté, la clarté, la force, & la finesse.“ Siehe Girard, Abbé Gabriel, Synonymes françois, leurs différentes significations, et le choix qu’il en fait faire pour parler avec justesse. Paris 1736. 2 Siehe Fumaroli, Marc: Les abeilles et les araignées. In: La Querelle des Anciens et des Modernes XVIIe – XVIIIe siècles. Hrsg. von Anne-Marie Lecoq, S. 7–220, hier S. 14. 3 Siehe Fumaroli, Marc: Les abeilles (wie Anm. 2), S. 16. 4 Siehe Fumaroli, Marc: Les abeilles (wie Anm. 2), S. 16ff.



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Gebrauch und eine veränderte öffentliche Deutung der Manieren, Sitten und der Höflichkeit einher. Norbert Elias hatte bereits in seinem 1939 erschienen Werk Über den Prozess der Zivilisation5 den langen Prozess herausgearbeitet, in dem Europäer vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution lernten und lernen mussten, ihr Verhalten, ihre körperlichen Funktionen, ihre Sprache sowie ihre Manieren zu kontrollieren. Dabei erarbeitete er das Argument, dass der absolutistische Königshof des vormodernen Frankreichs für die Entwicklung der Kontrolle und Steuerung der Sitten und Manieren die Vorreiterrolle in Europa eingenommen habe und damit zum Motor des europäischen Zivilisationsprozesses geworden sei. Nach Elias’ Analyse war der Hof in Versailles eine Einrichtung, welche die Nobilität nach unten abgrenzte, jedoch auch die Machtansprüche dieser Gruppe im Zaum halten wollte. Der Höflichkeitskodex war in seiner Analyse ein Zugriffsversuch von Seiten der Krone, Formen der Selbstkontrolle einzuführen und damit auch bestehende Herrschaftsverhältnisse zu wahren und eine politische Zentralisierung zu ermöglichen. Die Regeln der Höflichkeit waren demnach ein von allen Gesellschaftsschichten mehr oder minder akzeptiertes Mittel einer relativ friedlichen sozialen Kontrolle geworden.6 Nachdem Elias’ Studie in den historischen Wissenschaften drei Jahrzehnte lang kaum Beachtung geschenkt wurde, wurde sie von späteren Forschungsrichtungen der historischen Anthropologie, namentlich von Richard van Dülmen und sozialgeschichtlichen Ansätzen um Jürgen Kocka begrüßt.7 In die Kritik geraten ist Elias’ Geschichte des Zivilisationsprozesses dann vor allem durch kulturanthropologische und ethnologische Ansätze, wie etwa diejenigen Anton Blocks oder Hans Peter Duerrs, die Elias einen europäischen Ethnozentrismus vorwerfen, der das Bild fremder, vergangener Kulturen verschleiere und verzerre. Duerr spricht dabei gar vom Mythos vom Zivilsationsprozess.8 Die davon ausgelöste Debatte 5 Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. 19. Aufl. Frankfurt am Main 1995. 6 Siehe auch France, Peter: Politeness and its Discontents. Problems in French Classical Culture. Cambridge [u.a.] 1992, S. 63. 7 Dülmen, Richard van: Norbert Elias und der Prozess der Zivilisation. Die Zivilisationstheorie im Lichte der historischen Forschung. In: Gesellschaft der Frühen Neuzeit. Kulturelles Handeln und sozialer Prozess. Hrsg. von dems. Wien 1993 (Kulturstudien 28). S. 361–371; Kocka, Jürgen: „Über den Prozess der Zivilisation“. Norbert Elias als Historiker. In: Konflikt und Reform. Festschrift für Helmut Berding. Hrsg. von Winfried Speikamp u. Hans-Peter Ullmann. Göttingen 1995. S.  329–337. Dieser Überblick ist dargestellt bei: Schwerhoff, Gerd: Zivilisationsprozess und Geschichtswissenschaft. Norbert Elias’ Forschungsparadigma in historischer Sicht. In: Historische Zeitschrift (BD. 266, H. 3, Juni 1998). S. 561–606, v.a S. 561–565. 8 Siehe dazu Duerr, Hans Peter: Der Mythos vom Zivilisationsprozess, 3 Bde. Frankfurt. a. M. 1993. Siehe auch Schwerhoff: Zivilisationsprozess (wie Anm. 7), S. 561–565.

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hat auch Historiker wie Gerd Schwerhoff dazu veranlasst, Elias’ Paradigma noch einmal aus dezidiert historischer Sicht zu beleuchten und dessen Umgang mit Quellenmaterial, sozialen Konfigurationen, methodischen Prämissen sowie begrifflicher Auswahl einer Kritik zu unterziehen.9 In der neueren Forschung wurden Elias’ Ergebnisse dann vor allem von Jeroen Duindam relativiert: Seine Untersuchungen zeigen anders als Elias’ Studie eine Kontinuität von Regeln und Normen des französischen Hofes vom Spätmittelalter bis zum Ende des Ancien Régime. Ludwig XIV. habe, so Duindam, keine neuen Regeln erlassen, sondern diejenigen seiner Vorgänger in erhöhtem Maße durchgesetzt. Seine Ideen seien nicht neu gewesen, was sich verändert habe, sei der Erfolg ihrer Durchsetzung.10 In der vorliegenden Studie werden die bestehenden Höflichkeitskonzepte des Ancien Régime aus einer anderen Perspektive betrachtet, indem sie nämlich in Bezug zum frühneuzeitlichen Nachdenken über das antike Athen gesetzt werden. Dabei kann genauer herausgearbeitet werden, welche sozialen Gruppen welches Höflichkeitskonzept für ihre Zwecke einsetzten. Denn in den vorausgehenden Kapiteln konnte gezeigt werden, dass Griechenland und Athen gerade im Kontext der französischen Sprach- und Kulturpolitik, der Etablierung der Académie française, durch die sogenannte Querelle des Anciens et des Modernes sowie durch Griechenlandreisende und die daraus entwachsenen antiquarischen Studien über Athen, zwischen 1630 und 1690 verstärkt Modellcharakter zugeschrieben wurde. Jedoch fungierte die Stadt in Attika nicht als Beispiel eines bestimmten politischen Regimes, sondern es wurde aufgrund seiner kulturellen Blüte sowie seiner philosophischen, literarischen, künstlerischen und architektonischen Errungenschaften als kulturelles Vorbild begriffen, das auch für die beiden Nationen Englands und Frankreichs nachahmenswert war. Dabei konnte bereits bei Hilaire Bernard de Requeleyne, Baron de Longepierre und Jacob Spon eine Verbindung von Athen und politesse festgestellt werden.11 Im Folgenden wird entsprechend gezeigt werden, dass sich seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert Teilnehmer des Höflichkeits (politesse)-Diskurses des aufgewerteten Exempels aus der griechischen Antike bedienten: Zwar bestand der im 17. Jahrhundert 9 Schwerhoff: Zivilisationsprozess (wie Anm. 7), S. 573–605. 10 Vgl. Duindam, Jeroen: The Keen Observer versus the Grand-Theorist: Elias, Anthropology and the Early Modern Court. In: Höfische Gesellschaft und Zivilisationsprozess. Norbert Elias’ Werk in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Hrsg. Claudia Opitz. Köln 2005. S. 87–101, hier v.a. S. 100. Mit seiner kritischen Aufarbeitung des Konzeptes von Elias’ wandte sich Duindam vor allem gegen Elias’ Konzept der Modernisierung. Siehe dazu v.a. S. 89f. Siehe zu Elias’ Arbeit und der neueren Forschung auch den Überblick von Ronald Asch im selben Band: Asch, Ronald G.: Hof, Adel und Monarchie: Norbert Elias’ Höfische Gesellschaft im Lichte der neueren Forschung. In: Höfische Gesellschaft und Zivilisationsprozess (wie Anm. oben). S. 199–142. 11 Siehe dazu Kapitel IV.2 und IV.3 dieser Arbeit.



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aufkommende politesse-Diskurs zunächst unabhängig vom Rekurs auf die antike Stadt, jedoch bedienten sich Akteure der Diskussion um die Höflichkeit Ende des 17. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nun des sich bereits aufgewerteten kulturellen Modells Athen und nutzen es dazu, die bestehenden Höflichkeitskonzepte zu reformieren.12 Bereits hier ergibt sich jedoch eine begriffliche Problematik: Während die deutsche Sprache Höflichkeit nur mit einen Begriff wiedergeben kann, bieten die französische wie die englische Sprache mehrere Begriffe um Höflichkeit zu bezeichnen:13 courtoisie/courtesy; civilité/civility und politesse/politeness. Diese Unterscheidung ist für die Entwicklung der Diskussion um die Höflichkeit sowie für die These, dass Athen als Reformmodell der politesse fungieren konnte zentral, weshalb an dieser Stelle eine begriffsgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem semantischen Feld der Höflichkeit notwendig wird.

1 Statuserhalt und sozialer Ehrgeiz: Das Hofmannsideal und das Konzept der courtoisie/courtesy Ihr verlangt also von mir die Darlegung meiner Ansicht, wie das höfische Betragen eines Mannes, der am Hof eines Fürsten lebt, sein müsse, damit es ihm ermögliche, seinem Herrn in allen billigen Dingen angemessen zu dienen, und er sich so seine Gnade und das Lob der übrigen Leute erwerbe, kurz ausgedrückt, wie er beschaffen sein müsse, der den Namen eines vollkommenen Hofmannes verdient, dass ihm auch nichts abgeht. … Nunmehr wollen wir also an unser Vorhaben gehn [sic.] und, wenn es möglich ist, einen solchen Hofmann formen, dass der Fürst, der seiner Dienste würdig ist, den Namen eines großen Herrschers verdient, auch wenn er arm an Land ist.14

12 In der Kapitelüberschrift wurde der französische Begriff gewählt, da die Abgrenzung der verschiedenen Höflichkeitskonzepte deutlich machen wird, dass die Entwicklung, in der Athen zum Reformmodell der Höflichkeit (politesse) avancierte, ihren Ursprung in Frankreich nahm und schließich in England übernommen wurde. Aus diesem Grund wird sich der begriffsgeschichtliche Teil des Kapitels vornehmlich auf die französische Geschichte beziehen und den entsprechenden englischen Teil nur ergänzend darstellen. 13 Möglich wäre allenfalls, den aus der Altgermanistik stammenden Begriff der höveschheit zur Unterscheidung zu übernehmen. Vgl. Bumke, Joachim: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München 2008, S. 78ff und S. 425ff. 14 Castiglione, Baltasar: Der Hofmann. Lebensart in der Renaissance. Berlin 1996, S. 11f. Im Italienischen Original: „Voi adunque mi richiedete ch’io scriva qual sia, al parer mio, la forma di cortegiana piú conveniente a gentilomo che viva in corte de’ príncipi, per la quale egli possa e sappia perfettamente loro servire in ogni cosa ragionevole, acquistandone da essi grazia e dagli altri laude; in somma, di che sorte debba esser colui, che meriti chiamarsi perfetto cortegiano, tanto che cosa alcuna non gli manchi. … Vegnamo adunque ormai a dar principio a quello che è nostro presuposto e, se possibil è, formiamo un cortegian tale, che quel principe che sarà degno

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 V Von höfischer courtoisie zur urbanen politesse

Der 1478 bei Manuta geborene Baldassare Castiglione (1478–1529) arbeitete nicht weniger als zwanzig Jahre an seinem berühmtesten und einflussreichsten Buch Il Libro del Cortegiano,15 dem Archetext der Gattung der Hofmanntraktatistik.16 Das erst 1528 erschienene Buch des Schriftstellers und Diplomaten gibt ein vier Abende andauerndes und am Hof von Urbino abgehaltenes Gespräch über den Hofmann wieder. In einem rhetorischen Spiel, das zur Unterhaltung dienen sollte, erörtern die Anwesenden die Anforderungen und Qualitäten des Hofmannes, sein Verhältnis zum Fürsten und ihre Vorstellungen über eine Hofdame. Im Gespräch werden ferner die Herkunft, die Tugenden und die notwendigen Fähigkeiten eines idealen Höflings diskutiert: Dabei nimmt vor allem der gekonnte Umgang mit Waffen eine besondere Bedeutung ein, die Kühnheit des Hofmannes, seine Treue gegenüber dem Fürsten, seine Bescheidenheit und edle Gesinnung sowie seine sprachlichen und rhetorischen Fähigkeiten. Mit der schriftlichen Fassung des Tischgesprächs sammelte Castiglione die damals vorherrschenden Bilder eines gebildeten und begabten Menschen am fürstlichen Hof und spiegelte damit die in der Renaissance vorherrschenden Idealvorstellungen eines „gentiluomo“, eines „gentleman“ oder „honnête homme“ wieder, der im 16. und 17. Jahrhundert Leitbild eines Höflings werden sollte.17 Castigliones Cortegiano wurde in der Lombardei schnell verbreitet, sogar noch vor seiner Veröffentlichung: Seit 1518 war der Text in Manuskriptform im Kreis von Castigliones Freunden und Bekannten in Umlauf. Vittoria Colonna (1492–1547) kopierte ihn 1524 sogar ohne Wissen des Autors, worüber sich letzterer im Vorwort seines schließlich veröffentlichten Buches beschwerte. Während Castiglione sich am Hof Karls V. aufhielt, wurde sein Buch 1528 in einer Auflage von 1.030 Exemplaren in Venedig gedruckt. Bereits die erste Auflage seines Buches musste erheblichen Zuspruch gefunden haben, denn Castigliones Dialog d’esser da lui servito, ancor che poco stato avesse, si possa però chiamar grandissimo signore. Noi in questi libri non seguiremo un certo ordine o regula di precetti distinti, che ’l piú delle volte nell’insegnare qualsivoglia cosa usar si sòle; ma all foggia di molti antichi, rinovando una grata memoria, recitaremo alcuni ragionamenti, i quali già passarono tra omini singularissimi a tale proposito;“ Siehe Castiglione, Baldassare. Il libro del Cortegiano. Hrsg. von Walter Barberis. Turino 1998, S. 15ff. 15 Castiglione: Der Hofmann (wie Anm. 14). Siehe weiterführend auch: Wanning, Robert W. (Hrsg.): The Ideal and the Real in Renaissance Culture. Papers Presented at a Conference Celebrating the 500. Anniversary of Baldesar Castiglione’s Birth, Held at the Casa Italiana of Columbia Univ. on Oct. 27–28, 1978. New Haven [u.a.] 1983; sowie Roeder, Ralph: Renaissance Lawgivers. Savonarola, Machiavelli, Castiglione, and Aretino. New Brunswick [u.a.] 2012. 16 Hinz, Manfred: Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1992, S. 28. 17 Siehe Vorwort von Beyer, Andreas: Vorwort. In: Baltasar Castiglione: Der Hofmann. Lebensart in der Renaissance. Berlin 1996. S. 5–9, hier S. 6ff.



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über den Hofmann wurde bald nachgedruckt: In den 1520ern gab es drei oder vier Nachdrucke, in den 1530ern und 40ern jeweils sogar 13. Insgesamt gab es in Italien im 16. und 17. Jahrhundert rund 62 Editionen des Textes.18 Die Ausgaben ab 1547 enthielten noch einmal eine Zusammenfassung der Eigenschaften, die die Höflinge charakterisierten: insgesamt 22 für den Herrn, 13 für die Dame. Die Liste beginnt mit den weiblichen Eigenschaften. Sie führt zuerst Adeligkeit und Güte auf, sodann die gute Selbsthaltung/-regierung („bon governo“), darauf folgen weitere Eigenschaften: Besonnenheit, Ehrbarkeit, Freundlichkeit, Lebendigkeit des Verstandes, Stärke der Seele, Schönheit und Eleganz des Körpers sowie Kenntnisse und Fähigkeiten in Literatur, Musik, Malerei und Tanz. Für den Hofmann finden sich dagegen die folgenden Charakteristika: Adeligkeit, Esprit („ingegno“), Schönheit und Anmut, die Befähigung im Umgang mit Waffen, Leidenschaft, Loyalität, Besonnenheit, Großherzigkeit, Mäßigung, körperliche Stärke und Agilität. Diese Liste führt also fünf moralische Qualitäten, fünf intellektuelle und acht physische Fähigkeiten des Hofmannes an.19 In den Jahren zwischen 1528 und 1619 gab es in Mittel- und Westeuropa außerdem 62 übersetzte Editionen des Cortegiano. Dies lässt auf eine breite Rezeption des Buches schließen, wobei zudem davon auszugehen ist, dass zahlreiche Leser ebenfalls das italienische Original lesen konnten, da Italienisch im 16. Jahrhundert eine der ersten Fremdsprachen war, die Hochadelige in Frankreich, England und Spanien erlernten. Der Courtier und Übersetzer, Sir Thomas Hoby (1530– 1566), der den Cortegiano 1552/53 während seiner Auslandsjahre in Paris ins Englische übersetzt hatte,20 forderte, dass ein Hofmann kompetente Kenntnisse in Italienisch, Französisch und Spanisch haben sollte. Die Anforderungen der Sprachenvielfalt fanden sich auch in anderen Verhaltensbüchern, beispielsweise in Louis Guyons21 Abhandlung über den Hofmann von 1604,22 der die französischen Leser aufforderte, Italienisch, Spanisch und wenn möglich, Deutsch zu erlernen und zu sprechen. Nicolas Faret (1596–1646) fordert in seinem L’Honneste homme 18 Burke, Peter: The Fortunes of the Courtier. The European Reception of Castiglione’s “Cortegiano”. Cambridge 1995, S. 39f. Zur Rezeption des Libro del Cortegiano in Italien siehe insbesondere Kapitel 3 desselben Buches. 19 Burke: The Fortunes (wie Anm. 18), S. 51. 20 Siehe Kelly, L. G.: Hoby, Sir Thomas (1530–1566). In: Oxford Dictionary of National Biography. Online Edition 2008. http://www.oxforddnb.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/view/article/13414 (03.05.2015). 21 Genaue Lebensdaten sind leider unbekannt. 22 Guyon, Louis: Les diverses leçons de Loys Guyon, sieur de La Nauche,... suivans celles de Pierre Messie et du sieur de Vauprivaz. Lyon 1604. Vgl. auch Burke: The Fortunes (wie Anm. 18), S. 188.

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 V Von höfischer courtoisie zur urbanen politesse

ou l’art de plaire à la court23 aus dem Jahre 1630 ebenfalls, dass französische Edelmänner des Italienischen und Spanischen mächtig sein sollten. Ein idealer Hofmann sollte also mehrere Sprachen fließend beherrschen.24 Insbesondere in Frankreich fand Castigliones Werk Anklang: Zwischen 1537 und 1592 erschienen 23 Editionen des Cortegiano.25 In der Folge entstand eine Gattung von Hofmannstraktaten, deren inhaltliche Grenzziehung nur ungefähr ausfallen kann, da Hofmannstraktate keinen dogmatischen Verhaltenscodexsammlungen darstellten, sondern nur den Spielraum von angemessen Verhaltensmöglichkeiten in existierenden Verhaltenssystemen aufzeigten. Diese fassten ein weites Themenspektrum, die vom Umgang mit Waffen bis zur Kleidungsordnung, dem Verhalten beim Tanz, Musizieren und der Jagd reichten. In den Traktaten, gleich welche Themenbereiche darin auch erörtert wurden, finden sich keine strikten und eindeutigen Verhaltensanweisungen, sondern Anleitungen, sich im jeweiligen Verhaltenskontext für die richtigen Verhaltensmöglichkeiten zu entscheiden.26 Die in den Traktaten diskutierten Verhaltenscodes wurden dabei von der jeweiligen gesellschaftlichen Praxis oder aus der bereits existierenden Literatur übernommen. Hofmannstraktate schufen also keine Normen, sondern sie fassten bereits bekanntes Wissen zusammen. Dementsprechend baute auch Castigliones Werk auf der ciceronischen Rhetorik, vor allem aber auf dessen De oratore auf.27 Von der Rhetorik übernahmen die Hofmannstraktatisten nicht nur die theoretische Bedeutung der Gattung, sondern auch ihre literarische Form, denn die Hofmannstraktate wie auch die Rhetorik hatten ein gemeinsames Ziel: ein bestimmtes Publikum – im Falle der Traktate handelte es sich um die Gunst des

23 Faret, Nicolas: L’honneste-homme, ou l’art de plaire à la court. Paris 1630. 24 Siehe Burke: The Fortunes (wie Anm. 18), S.  55ff. Zur weiteren Verbreitung des Buches in Europa siehe vor allem Kapitel 4 desselben Buches. 25 Die erfolgreichste Übersetzung war diejenige von J. Colin (vermutlich war mit den Initialien der Diplomat Jacques Colin gemeint), die 1537 veröffentlicht und 1540 noch einmal überarbeitet wurde. Diese Übersetzung wurde in den 1580ern durch diejenige Gabriel Chappuys abgelöst. Vgl. Burke: The Fortunes (wie Anm. 18), S. 63f. 26 Hinz: Rhetorische Strategien (wie Anm. 16), S. 12. Ganz allgemein lässt sich mit Augustine G. Pallikunnen sagen: „Courtesy literature is that part of literature which in general deals with manners, morals, education, conduct, advice, civility or etiquette, and the like sort the purpose of helping an individual of a particular class or society to advance in personal perfection and also sometimes to project that perfection to others for the communal benefit.“ Pallikunnen, Augustine G.: The Treatment of Virtues and Vices in the Courtesy Literature of the Sixteenth Century. Michigan 1970, S. 1. 27 Vgl. auch Hinz: Rhetorische Strategien (wie Anm. 16), S. 13.



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Fürsten – zu überzeugen. Gemeinsam ist den beiden Textgattungen zudem ihre katalogartige, enzyklopädische Darstellung.28 Die literarische Form der Hofmannstraktate wies gewisse Varianzen auf und konnte beispielsweise in Form von Dialogen oder Novellensammlungen, aber auch als eine Mischform aus beiden auftreten. Allen Formen ist jedoch gemeinsam, dass sie Verhaltensregeln niemals explizit benennen. Da Hofmannstraktate die Hofmannskunst beschrieben und Verhaltensanleitung für verschiedenste gesellschaftliche Situationen liefern sollten, mussten sie jedoch stets den jeweiligen situationsbedingten Kontext mitliefern und konnten keine allgemeinen, kontextlosen Prinzipien erstellen. Dabei musste der Zweck der Traktate, nämlich die Gunst des Publikums zu erlangen, immer verborgen bleiben. Die Kunst des Hofmannes sollte natürlich und absichtslos erscheinen.29 Baldassare Castiglione beschrieb in seinem Libro del cortegiano „mit gesamteuropäischer Geltung die Kunstlehre der neuen Profession“.30 In der Folge entstanden in Europa zahlreiche weitere Traktate, die ebenfalls von der neuen Lehre der cortegiana sprachen oder sie implizit voraussetzten.31 Tomaso Garzoni (1549– 1589), der 1587 in seiner La piazza universale di tutte le professioni de mondo32 mögliche Berufe aufführte, zeigte, dass die Profession des Hofmannes zunächst durch seine Abhängigkeit zum Fürsten bestimmt wurde. Jedoch war die Fürst-Hofmann-Beziehung nicht einseitig, denn auch der Herrscher brauchte den Höfling als Schmuck seines Hofes. Dementsprechend hatte der Fürst auch die Aufgabe, die besten Hofleute auszusuchen und an seinem Hof zu verpflichten. Die Art und Weise der Herrschaftsausübung beeinträchtigte dabei die Kunst der cortegiana nicht: Der gute Hofmann sollte unverändert tugendhaft bleiben. Er bemühte sich jedoch stets um die „grazia“ seines Fürsten. In diesem möglichen Spannungsfeld zwischen Tugendhaftigkeit und Schmeichelei musste sich der Hofmann beweisen.33 In den Hofmannstraktaten wurden also konkrete politische Verhältnisse nicht hinterfragt: Weder die Existenz der Höfe wurde in Frage gestellt noch die Bindung der Höflinge an diese. Es wurden keinerlei republikanische oder kommunale Verfassungen diskutiert oder in Betracht gezogen. Der Fokus des Hof-

28 Manfred Hinz bezeichnet die Hofmannstraktatistik deshalb als Spezialdisziplin der Rhetorik. Hinz: Rhetorische Strategien (wie Anm. 16), S. 13ff. und S. 19. 29 Vgl. Hinz: Rhetorische Strategien (wie Anm. 16), S. 22f. 30 Vgl. Hinz: Rhetorische Strategien (wie Anm. 16), S. 39. 31 Vgl. Hinz: Rhetorische Strategien (wie Anm. 16), S. 38ff. 32 Garzonis, Tomaso: La piazza universale di tutte le professioni de mondo. Venezia 1587, v.a. S. 687ff. Vgl. auch Hinz: Rhetorische Strategien (wie Anm. 16), S. 41ff. 33 Hinz: Rhetorische Strategien (wie Anm. 16), S. 41ff.

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 V Von höfischer courtoisie zur urbanen politesse

mannes war ganz und gar auf das seinen Status definierende Umfeld ausgerichtet: auf den Fürstenhof.34 Ausschlaggebend für die Professionalität des Hofmannes waren damit weniger seine persönlichen Voraussetzungen von Bildung und Tugenden als seine Vermittlungsfähigkeiten am Hof selbst. In den meisten Fällen wurde der Adel des Hofmannes zwar vorausgesetzt, musste aber dem Fürsten mit einem deutlichen Abstand untergeordnet werden können. Deshalb eignete sich der gebildete Kleinadel besonders gut für die Profession des Hofmannes.35 Das humanistisch-republikanische Ideal des politisch aktiven und partizipierenden Bürgers wurde mit Castiglione durch das Ideal eines sich an die Situation anpassenden Hofmannes, den „umanesimo cortegiano“ ergänzt.36 Castigliones Cortegiano war somit Lehrbuch für eine Gruppe, die es für notwendig erachtete, die eigene Position nach unten abzugrenzen und gegenüber dem Fürsten zu stärken. Das Ideal der Anpassungsleistung des Hofmannes lässt sich auch in Frankreich und England beobachten und so fand sich das bei Castiglione beschriebene Musterbild des Hofmannes bald auch bei französischen Autoren. Vor allem die enge Verbindung des Hofmannes zum Fürstenhof sowie die Betonung der adeligen Herkunft zeigt sich ausgezeichnet in Nicolas Farets Abhandlung L’honneste homme ou l’art de plaire à la court von 1630. Diese war an den Bruder des Königs gerichtet und bezeichnete das eigene Werk, die Abhandlung über den „honneste homme“, als „portrait de vous mesme“.37 Im Stile Castigliones wollte

34 Hinz: Rhetorische Strategien (wie Anm. 16), S. 51. 35 Hinz erklärt den Erfolg von Castigliones Lehrbuch im 16. Jahrhundert mit dem verstärkten Zufluss zur Profession mit dem Vordrängen des Kleinadels an den Hof. Zunächst einmal setzte dies die Existenz wohlhabender und großer Höfe voraus, die sich überhaupt leisten konnten, viele Hofleute zu versammeln. Vor allem im 15. Jahrhundert hatte in Italien eine Zersplitterung in viele unabhängige Kleinstaaten stattgefunden, deren Höfe bereits für viele scholastisch Gelehrte eine Karrieremöglichkeit boten. Die sich verbreitende Verarmung des Kleinadels führte schließlich dazu, dass sich große Teile dieses Adels neben seinen Verteidigungs- und Dienstpflichten sowie der Bestellung des Landes eine andere Profession am Hofe suchten. Für diese Karrieremöglichkeit war insbesondere die Bildung von Bedeutung. Die Einbindung in einen Hof muss also als Karrieresprungbrett des Hofmannes gedeutet werden, der in der Folge auch an einen anderen Hof wechseln konnte. Hinz: Rhetorische Strategien (wie Anm. 16), S. 53f. 36 Hinz: Rhetorische Strategien (wie Anm. 16), S.  53ff, S.  66. Manfred Hinz widersprach der Annahme, dass es einen wesenhaften Unterschied zwischen dem idealen Bürgerhumanisten, den Hans Baron beschrieb, und dem „cortegiano“ gebe. Dies suchte er zu beweisen, indem er gerade den Dialogus des Aushänge-Bürgerhumanisten Leonardo Bruni mit dem Cortegiano von Baldassare Castiglione verglich. Dabei kam Hinz zu dem Ergebnis, dass sie sich in den wesentlichen Einstellungen nicht unterschieden. Siehe dazu Hinz: Rhetorische Strategien (wie Anm. 16), S. 68ff. 37 Faret: L’honneste-homme (wie Anm. 23), S. iii.



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auch Faret die wichtigsten Prinzipien eines Hofmannes aufführen: „Certes c’est bien mon dessein de representer icy comme dans un petit tableau les qualitez les plus necessaires, soit de l’esprit, soit du corps, que doit posseder celuy qui se veut rendre agreable dans la Cour.“38 Als wichtigstes und elementarstes Charakteristikum des „honneste homme“ nannte Faret ebenfalls dessen adelige Herkunft: „ie diray premierement qu’il me sēble tres-necessaire que celuy qui veut entrer dans ce grand commerce du monde soit nay Gentil-homme, & d’vne maison qui ait quelque bóne marque.“39 Faret machte zwar deutlich, dass er Nichtadelige nicht grundsätzlich aus dem Beruf des Hofmannes ausschließen wolle, dennoch zeige die noble Herkunft einige fast unmöglich zu überwindende Vorteile:40 Die soziale Stellung erscheint bei Faret als von der Natur vorherbestimmt. Aus ihr erwuchsen gute Taten, die zwar manchmal auch Nichtadeligen beschieden seien, dies könne jedoch nur manchmal und nur zufällig, nicht aber regelmäßig vorkommen. Diejenigen, die adeliger Herkunft seien, hätten jedoch das gute Vorbild ihrer Vorväter, das sie, obwohl ohnehin schon von der Natur begnadet, deren vorbildlichem Lebenswandel folgen ließe. Diejenigen von adeliger Herkunft seien vom Himmel und von der Natur mit Tugenden so beschenkt, dass dies für jedermann sichtbar sei: Et n’y a nulle doute que les deux hómes également bien-faits, qui se presenteroient dans vne compagnie sans auoir encore donné aucune impression d’eux qui fist conoistre ce qu’ils pourroient valoir; lorsque l’on viendroit à sçauoir que l’vn est Gentil-homme, & que l’autre n’est pas, il faudroit que ce dernier mist beaucoup de temps, deuant que de donner de soy la bonne opinion que le Gétil-homme auroit acquise en vn moment, par la seule coinnoissance que l’on auroit euë de son extraction.41

Die Wissenschaft der Hofmannskunst, wie Faret sie nannte, sei also umgeben von einem fast unerklärbaren Mysterium der Tugendhaftigkeit und Begabung,

38 Faret: L’honneste-homme (wie Anm. 23), S. 6. 39 Faret: L’honneste-homme (wie Anm. 23), S. 7. 40 „Ce n’est pas que i’en vueille banir ceux à qui la nature a denié ce bon heur. La vertu n’a point de condition affectee, & les exemples sont assez communs de ceux qui d’vne basse naissance se sont efleuez à des actions heroïques, à des grandeurs illustres. Neantmoins il faut aduouër que ceux qui sont de bon lieu ont d’ordinaire les bonnes inclinatiós, que les autres n’ont que rarement; & semble qu’elles arriuent à ceux cy naturellement, & ne se rencontrent aux autres que par hazard. … Ceux de qui les Ancestres se sont rendu signalez par de memorables exploits, se trouuent en quelque façon engagez à suiure le chemin qui leur est ouuert: Et la Noblesse qui comme vne belle lumiere éclaire toutes leurs actiós les excite à la vertu par ces exemples domestiques, ou les retire du vice par la crainte de l’infamie.“ Faret: L’honneste-homme (wie Anm. 23), S. 8. 41 Faret: L’honneste-homme (wie Anm. 23), S. 10f.

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das allerdings nur mit einer adeligen Herkunft in Verbindung stehen kam. Damit könnten Adelige fast ohne Anstrengung und ganz nach Castiglionischem Ideal, fast ohne es selbst zu bemerken oder daran zu denken, Exzellentes hervorbringen und so zum Wohlgefallen anderer werden: „… Les autres au contraire [la noblesse– Anm. der Verf.] ont vne facilité si grande à faire le bien, qu’auec vn mediocre trauail, & presque sans y penser, ils deuiennent excellents en tout ce qu’ils entreprennent, & se rendent agreable à quiconque a des yeux pour les regarder.“42 Keiner könne also vorgeben Hofmann zu sein, der nicht tatsächlich von adeliger Herkunft sei, denn ein Vorspielen der Hofmannskunst könne zu Situationen führen, in denen man sich selbst beschäme, denn dem aufmerksamen Publikum am Hof entgehe diese Peinlichkeit nicht: Outre, ces raisons, ie dis encore apres tout, que les preeminences qui sont attachees à la Noblesse sont si grandes, qu’vne personne de bó sens & de bon cœur, qui se trouueroit embarquee auec vn vent fauorable dans la Cour, sans auoir cét auantage, pourroit tomber tous les jours en mille occasiós de rougir, & de baisser les yeux. Il est bien vray qu’en toutes sortes de conditions il s’en rencontre, qui par vne secrette faueur du Ciel ont le bon heur de n’estre accompagnez de tant de dons de l’ame & du corps, qu’il semble que la nature mesme ait pris plaisir à les former de ses propres mains, & à les enrichir de toutes les graces les plus charmantes & les plus capables de gaigner les volontez.43

Die Hofmannskunst sei eine angeborene Tugend, ein Geschenk des Himmels, die jedoch sorgsam gepflegt und erlernt sein wolle: Eine gute Herkunft allein genüge nicht, um ein „honneste homme“ zu werden. Dazu gehörte auch, dass man die Tugenden und Begabungen fördere und studiere.44 Am wichtigsten sei wiederum – ganz nach Castigliones Vorbild – die Kunst des Waffenhandwerkes zu verfeinern.45 Aber nicht nur die Befähigung im Umgang mit Waffen seien für den Hofmann zentral, sondern auch, ganz in der Tradition des mittelalterlichen Ritterideals, die Galanterie der Damen am Hofe, die ausgeprägten rhetorischen Fähigkeiten und ein schöner und gut gebauter Körper. Die Attribute des von Casitglione beschrie-

42 Faret: L’honneste-homme (wie Anm. 23), S. 13. Und weiter beschreibt Faret: „C’est icy l’vn des plus hauts mysteres de nostre Art, & qui se decouurira en son lieu, apres que i’auray representé les principales qualitez que doit auoir celuy qui pretend passer pour Honneste homme deuant tant d’yeux dont l’on est éclairé à la Cour, & parmy vn si grand nombre d’esprits delicats, à qui les defauts les plus cachez ne sçauroient estre long-temps.“ Ebd., S. 14f. 43 Faret: L’honneste-homme (wie Anm. 23), S. 11f. 44 „Il me semble donc que comme la bonne naissance ne suffit pas, si elle n’est pas heureuse, ny l’vne, ny l’autre ne profiteront de guere si elles ne sont soigneusement cultiuees.“ Siehe Faret: L’honneste-homme (wie Anm. 23), S. 15. 45 Faret: L’honneste-homme (wie Anm. 23), S. 20ff.



1 Statuserhalt und sozialer Ehrgeiz 

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benen Hofmannes finden sich also auch bei Faret wieder, bei dem der „cortegiano“ begrifflich zum „honneste homme“ wurde. Dies zeigt, dass sich um das Ideal des Hofmannes ein ganzes Begriffsfeld herausbildete, das jeweils Adeligkeit, die von Castiglione beschriebenen moralischen, intellektuellen und physischen Tugenden sowie die enge Verbindung zum Hof miteinbezogen: Sowohl „cortegiano“, „courtier“, „courtisan“ oder „honneste homme“ als auch (zumindest zunächst) die Begriffe „gentiluomo“, „gentilhomme“ und „gentleman“ verwiesen auf eben diese Punkte. Auch in Farets Beschreibungen des „honneste homme“ zeigen sich die Abgrenzung nach unten sowie die Manifestierung der Privilegien und die Stabilisierung der sozialen Stellung des traditionellen Adels.46 Für England lässt sich eine ähnliche Entwicklung nachverfolgen: Hier entstand die courtesy-Literatur in den Jahren zwischen 1540 und 1640 als die aristokratische Identität von Adeligen von einer Gruppe junger, aufstrebender Männer in Frage gestellt wurde.47 In den letzten Jahren seiner Herrschaft vergab Heinrich VIII. zahlreiche neue Titel. Der entscheidende Faktor zugunsten dieser Öffnung für soziale Mobilität war die Auflösung klösterlicher Ländereien, deren Verkauf an die „gentry“ und die Freibauernschaft die Gruppe derjenigen vergrößerte, die Bestätigung für ihren neuen sozialen Status suchten.48 In den 1530er Jahren kam es deshalb zu einer regelrechten Invasion der englischen Universitäten durch diese neue Gruppe von Landebesitzenden, gleichzeitig wurden die klösterlichen colleges aufgelöst und königliche colleges eingesetzt. Dabei kam es auch zu inhaltlichen Neujustierungen der Lehrpläne, die nun die Studenten auf ein höfisches Leben vorbereiten sollten und die nun vor allem in Fächern unterrichtet wurden, die einen Bezug zur höfischen Politik aufzeigten: in moralischer und politischer Philosophie, in Geschichte, Recht und modernen Sprachen. Die humanistischen Vorstellungen, dass eine regierende Klasse qua guter Ausbildung dem Fürsten und dem Gemeinwesen dienen könne, kamen aus Italien vor allem durch Übersetzungen nach England und veränderten auch hier die Anforderungen an eine 46 Siehe zum Thema „honnête homme“ auch Höfer, Anette u. Rolf Reichardt: Honnête homme, Honnêteté, Honnêtes gens. In: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680– 1820. Bd. 7. Hrsg. von Rolf Reichardt u. Eberhard Schmitt. München 1986. S. 7–73. 47 Wigham, Frank: Ambition and Privilege. The Social Tropes of Elizabethan Courtesy Theory. London 1984, S. 5. 48 Die Säkularisierung der Kirchengüter trug also erheblich zur Vergrößerung der „gentry“ bei. Von 1540 bis 1640 stieg die Zahl der „peers“ von 60 auf 160, die Zahl der Ritter von 500 auf 1.400, von Gutsbesitzern von wahrscheinlich 800 auf 3.000 und die der waffenfähigen „gentry“ von 5.000 auf ca. 15.000. Dagegen wuchs die Gesamtpopulation von 1561 bis 1601 von vermutlich rund drei Millionen auf ca. vier Millionen an. Auch wenn die Anzahl der Oberschicht noch immer eine Minderheit darstellte, so wurde die soziale Mobilität von den Zeitgenossen doch als erheblich verändert wahrgenommen. Siehe Wigham: Ambition (wie Anm. 47), S. 8ff.

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 V Von höfischer courtoisie zur urbanen politesse

gute Ausbildung der Elite.49 Dementsprechend war auch Castigliones Libro del Cortegiano zum wichtigsten Buch des englischen „gentleman“ geworden.50 Die inns at court stellten neben der Ausbildung an den Universitäten den Ort für das Erlernen der courtesy-Regeln dar. Die inns zogen sowohl diejenigen an, die gerne zur Elite zählen wollten als auch diejenigen, die tatsächlich zur etablierten Elite gehörten. Sie boten den Gästen die Möglichkeit, sowohl das Leben am Hofe als auch die Stadt London kennenzulernen.51 Die inns sowie die Universitäten wurden also zu den Orten, wo junge, aufstrebende Aristokraten die Kunst der courtesy erlernen konnten. Zwischen 1560 und 1650 wurden die Universitäten zu Orten der Konkurrenz um einen guten Stand am Hofe.52 Der zunehmende Druck von unten und die Möglichkeit vieler junger, gut ausgebildeter Männer, Teil der herrschenden Klasse zu werden, bedrohte die traditionelle Aristokratie. Deshalb wurden die ersten courtesy-Bücher vor allem dazu genutzt, die soziale Mobilität zu zügeln und zu unterdrücken. Die ursprüngliche Funktion des von Castiglione beschriebenen Ideals des Hofmannes diente der alten Elite also dazu, diejenigen zu diskreditieren, die versuchten, sich ohne aristokratische Einübung in der Kunst der cortegiana den Namen eines guten Hofmannes käuflich zu erwerben.53 Die Beschreibung des Hofmannes diente einer sich bedroht fühlenden Aristokratie, den eigenen Status festzuschreiben und gegen Aufstrebende abzugrenzen.54 Sowohl für Neuaufstrebende als auch für Mitglieder der traditionellen Elite war das Leben am Hof durch ein Performativitäts-Prinzip geprägt: Der eigene

49 Frank Whigham drückte dies folgendermaßen aus: „So the ruling classes of the English Renaissance came to share a political and intellectual and stylistic self-concept, rather than the limited military one of the armed knight. Sir Thomas Elyot’s “governor” was a gentleman, a fluent denizen of the urban court, whose textual hero was not Lancelot but Cicero. The combative chivalric ideology of moralized force was altered by new cooperative pressures of nationally centralized life; problems of power once solved by force were now submitted to a rule of words, of laws and principles that often seemed to the old order to be effete fraud and trickery.” Siehe Wigham: Ambition (wie Anm. 47), S. 13. 50 Wigham: Ambition (wie Anm. 47), S. 15. 51 Wigham: Ambition (wie Anm. 47), S. 17. 52 Wigham: Ambition (wie Anm. 47), S. 17. 53 Wigham: Ambition (wie Anm. 47), S. 18. 54 Jedoch ging die Strategie insofern nicht auf, als dass auch die aufstrebende Elite den Cortegiano las und ihn für eigene Zwecke nutzbar machte. Dies wurde von der traditionellen Aristokratie mit Misstrauen aufgenommen und sie fürchtete die Verderbung des Cortegiano durch unwürdige Leser. Die Übersetzungen des Buches des Hofmannes sollten vielmehr die bestehende Hierarchie festigen und die als illigitim wahrgenommenen Ambitionen unterdrücken. Frank Wigham stellte heraus, dass der Cortegiano in England weniger dazu beitrug, bestimmte Schichten der Gesellschaft zu demütigen, als vielmehr allen Befürchtungen zum Trotz die Ambitionen der Aufstrebenden zu stärken. Wigham: Ambition (wie Anm. 47), S. 18ff.



1 Statuserhalt und sozialer Ehrgeiz 

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Status war nicht mehr länger ausschließlich durch die Geburt garantiert, vielmehr wurde er durch Tun und vor allem durch vorzeigbares Handeln definiert. Diejenigen, die nun eine privilegierte Stellung einnehmen wollten, mussten sich von anderen Mitbewerbern hervorheben. Daraus entstand schließlich eine Strategie der Selbstbestätigung, die das aristokratische Sein typisierte. Ein „gentleman“ konnte sich nur in einer bestimmten Art und Weise verhalten, ihm wurde eine Identität zugesprochen, die allerdings nicht allein durch menschliche Anstrengungen erreicht werden konnte. Daraus erwuchs das Prinzip der „effortlessness“, die Casitgliones „sprezzatura“ entsprach, die den natürlichen oder gegebenen sozialen Status eines „gentleman“ implizierte. Das Argument dieses Tropus war also folgendes: Es gibt typisch aristokratische Tugenden, die jedoch nicht erlernt, sondern eine Folge und Konsequenz des sozialen Status’ sind und nicht etwa umgekehrt. Wer über diese Tugenden verfügt, kann auch den ihnen entsprechenden Status einnehmen. Mit diesem Prinzip wurden von der traditionellen Elite die jeweiligen sozialen Stellungen festgeschrieben. Andere konnten die Tugenden der Aristokratie nachahmen, sie jedoch nicht „properly“ ausüben. Der adelige Aristokrat hatte also dieses undefinierte Etwas mehr, das von niemandem wirklich erreicht werden konnte, der nicht schon von Geburt an zu dieser sozialen Gruppe gehörte. In diesem Zusammenhang kam wiederum dem Publikum dieser rhetorischen Strategie Bedeutung zu, denn die Zugehörigkeit zu dieser sozialen Gruppe wurde vor allem durch Zuordnung von außen bestimmt. Jede alltägliche Handlung wurde so zum symbolischen Akt, dem stets die Frage zugrunde lag: Wie kann ich diese Handlung als gut erscheinen oder wenigstens als an mir gut erscheinen lassen? Die vorrangige Eigenschaft des Hofmannes war also diejenige, vorspielen zu können.55 Die courstoisie/courtesy in der Tradition der cortegiana war damit Teil der Abgrenzungs- und Verhaltensstrategie des höfischen Adels.56 55 Wigham: Ambition (wie Anm. 47), S. 36. 56 Zur Rolle des Adels siehe der Sammelband von Asch, Ronald G. (Hrsg.): Der europäische Adel im Ancien Régime. Von der Krise der ständischen Monarchien bis zur Revolution (ca. 1600– 1789). Köln/Weimar/Wien 2001; darin vor allem den Beitrag von Ronald Asch: Ders.: Ständische Stellung und Selbstverständnis des Adels im 17. und 18. Jahrhundert. In: Der europäische Adel (wie Anm. oben). S. 3–48. Vgl. auch Ders. (Hrsg.): Adel in der Neuzeit. Göttingen 2007 (Geschichte und Gesellschaft, Heft 33). Siehe aber auch Gehrsmann, Gudrun: ‚Adel’. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Online Edition 2015. http://referenceworks.brillonline.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg. de/entries/enzyklopaedie-der-neuzeit/adel-a0026000?s.num=0&s.f.s2_parent=s.f.book.enzyklopaedie-der-neuzeit&s.q=ADel (03.05.2015). Orest Ranum kritisiert in seinem Artikel Courtesy, Absolutism, and the Rise of the French State, 1630–1660, dass die Begriffe courtesy, etiquette or civility in der Forschung kaum in Verbindung mit dem Aufkommen des modernen Staates gebracht worden seien. Höflichkeitsgesten, wie die Konversation, das Sich-die-Hände-Reichen, das Briefe-Schreiben etc. seien vor allem als Zeichen sozialen oder familiären Verhaltens ge-

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 V Von höfischer courtoisie zur urbanen politesse

2 Civilité – die universale Höflichkeit Der Begriff der civilité und ihre englische Entsprechung civility lassen sich vom lateinischen Begriff der civilitas ableiten. Letztere „bekundet die positive Bewertung des Urstaates, der Polis, des Stadtstaates und der mit ihm beginnende Zivilisation“.57 Mit dieser Implikation erhält „civilis“ einen politischen Gehalt und verweist sowohl auf das Individuum des Bürgers als auch auf die politische Gemeinschaft. Civilitas bezeichnet dagegen zunächst den Stand des Bürgers, jedoch auch seinen Bürgersinn in Form von Höflichkeit oder Leutseligkeit.58 Nach Roger Chartiers Handbucheintrag in den politisch-sozialen Grundbegriffen in Frankreich hat der Begriff der civilité im Französischen drei Bedeutungsebenen:59 Die erste ist durch die etymologische Nachbarschaft zu „civil“, „civilisation“, „civiliser“ und „civique“ gegeben. Diese Begriffsgruppe kann dem „öffentlichen Leben einer Gesellschaft von Bürgern“ zugeordnet deutet worden, nicht aber als Teile einer Machtpolitik. Dagegen macht Ranum deutlich, dass gerade die Regeln, die in Höflichkeitsbüchern festgehalten wurden, dazu dienten, die Macht des französischen Königtums zu stärken und sich gegenüber den Untertanen klar abzugrenzen. Gerade für die Zeit von Kardinal Richelieus Wirken müsse man die sozialen und familiären Höflichkeitspraktiken als Teil einer Machtpolitik betrachten. Als eines der wichtigsten Werke, das die gültigen Regeln sammelte, führte Ranum Theodore Godefroys (1580–1649) Le ceremonial de France aus dem Jahre 1619 an. [Godefroy, Théodore: Le cérémonial de France, ou description des cérémonies, rangs et séances observées aux couronnemens, entrées et enterremens des roys et roynes de France. Paris 1619.] Ranum interpretierte dieses Werk als Kompendium, das Verhaltensregeln in ritualisierten Situationen beschrieb und das Individuen wie korporative Gruppen davor schützen sollte, die ihnen Höhergestellten zu beleidigen und sich so Schimpf und Schande einzuhandeln. Ranum deutete Godefroy damit als Autor von Höflichkeitsregeln, der wie die Autoren der Hofmannstraktate bereits existierendes Wissen zusammenfasste. Ranum folgerte daraus, dass die courtoise die Grundlagen für die absolute Herrschaft des französischen Königs gelegt habe. Neu sei gewesen, dass seit den 1630er Jahren das Konzept der courtoisie systematisch dazu genutzt wurde, des Königs Untertanen in sozialdisziplinierend in ständigen Gehorsam zu verweisen. Somit sei dieses Konzept zu einem wichtigen Machtinstrument der Krone geworden. Auch wenn Ranums Artikel interessante Impulse für die courtoisie-Forschung gibt, wird an dieser Stelle in Frage gestellt, ob Godefroys céremonial, in dem es vor allem um Krönungsriten und Herrschereinzüge geht, als Höflichkeit und damit als courtoisie gedeutet werden kann. Hier handelt es sich nicht um eine Tugenddiskussion im Sinne der cortegiana, sondern um Hofzeremoniell. Siehe zur weiteren Lektüre Ranum, Orest: Courtesy, Absolutism, and the Rise of the French State, 1630–1660. In: The Journal of Modern History 52/3 (Sep.1980). S. 426–451. 57 Elwitz, Siegfried: Civil und Civility. Eine wortgeschichtliche Untersuchung zweier Höflichkeitsbeziehungen. Dissertation. Bonn 1974, S. 18. 58 Elwitz: Civil und Civility (wie Anm. 58), S. 18f. 59 Chartier, Roger: Civilité. In: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680– 1820, Bd. 4: Civilité, Fanatique, Fanatisme. Hrsg. von Rolf Reichardt u. Eberhard Schmitt. München 1986. S. 7–5.

2 Civilité – die universale Höflichkeit 

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werden; zum anderen kann der Zusammenhang der Begriffe als Gegensatz zu den Konzepten der Despotie sowie der Barbarei der unzivilisierten Völker gesehen werden. Damit ist der Begriff der civilité nach Chartier „mit einem kulturellen Erbe verbunden, das die abendländischen Völker mit der Geschichte des antiken Griechenlands – der ersten zivilisatorischen Macht verknüpft, wie mit einer Gesellschaftsform, die die Freiheit der Untertanen im Verhältnis zur Staatsmacht voraussetzt.“60 Ferner macht Chartier eine Reihe von Adjektiven aus, die sich den Begriffen „civil“ oder „civilement“ zuordnen lassen. Diese sind: „honnête“, „poli“, „courtois“, „gracieux“, „affable“ und „bien elevé“. Adjektive wie „traitable“ und „sociable“ erweitern nach seiner Analyse dagegen den Begriff der civilité, weshalb in späteren Wörterbüchern der Gegenbegriff „rustique“ erscheint. Dieser Kreis von Adjektiven, die die Wortgruppe um civilité ergänzt und erweitert, zeigt nach Chartier die zweite Bedeutungsebene auf, die etwas „äußerer und mondäner“ ist, indem vor allem der äußere Augeinschein, das Auftreten einer Person sowie deren Lebensart in Betracht gezogen werden.61 Die dritte Bedeutungsebene macht Chartier durch Abgrenzungsbegriffe zur cilivité aus: Honnêteté, bienséance und politesse sind demnach „in einer wechselseitigen Beziehung zu civilité, weil dessen Konzeption manchmal auf ihre Kosten aufgewertet, manchmal zu ihren Gunsten abgewertet wurde.“62 Die Unterscheidung dieser drei Bedeutungsebenen helfen, den Gebrauch des Begriffes der civilité einzuordnen: Seit Mitte des 17. Jahrhunderts gehörte der Begriff der civilité zum gängigen Sprachgebrauch in Frankreich. Pierre Richelet (1631–1698) machte in seinem Dictionnaire françois63 aus dem Jahre 1680 deutlich, dass für die Bezeichnung von höflichem Verhalten einzelner Personen der Begriff der civilité denjenigen der courtoisie abgelöst habe. Richelet definierte die civilité dabei folgendermaßen: Civil, civile: Honnête, poli, qui a de la civilité. Il est civil, elle est civile. Civilité: Science qui enseigne à ne rien faire, & à ne rien dire que d’honnête & de bien à propos dans le commerce de la vie. Civilité: Livre qui enseigne les régles de la civilité.64 60 Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 8. 61 Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 8. 62 Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 9. 63 Richelet, Pierre: Dictionnaire françois. Contenant les mots et les choses, plusieurs nouvelles remarques sur la langue françoise. Ses expreßions propres, figurées & burlesques, la prononciation des mots les plus difficiles, le genre des noms, le regime des verves: Avec les termes les plus connus des arts & des sciences. Le tout tiré de l’usage et des bons auteurs de la langue françoise. Reproduktion der Ausgabe Genève 1680. Hildesheim/New York 1973. 64 Richelet: Dictionnaire (wie Anm. 63), S. 141.

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Ferner grenzte er die civilité von courtoisie ab, die er in folgender Weise beschrieb: COURTOIS, Courtoise. Ce mot signifie civil, mais quoi qu’on le trouve dans le bons Auteurs on ne s’en sert plus guere. On dit en sa place civil, honnête, galand. ... Courtoisie: Ce mot vieillit, & en sa place on dit civilité, honnêteté.65

In allen drei Wörterbüchern des ausgehenden 17. Jahrhunderts, dem Dictionnaire françois von Pierre Richelet, dem Dictionnaire universel66 von Antoine Furetière (1619–1688) von 1690 und dem Dictionnaire de l’Académie67 von 1694 erscheint der Begriff der civilité als verwandt, sogar als synonym mit demjenigen der honnêteté und dem dazugehörigen Adjektiv „honnête“. Diese Begriffe beschrieben nicht nur ein moralisches, sondern auch ein sozial distinguiertes Verhalten.68 In den drei genannten Wörterbüchern des 17. Jahrhunderts wurde außerdem der Zusammenhang von civilité und sozialem Handeln und damit der Aspekt der Gesprächskunst und des angemessenen Verhaltens in einer gegebenen Gesellschaft betont. Gerade der Plural verstärkte den mondänen Gebrauch und verwies auf den Austausch von gesellschaftlich vereinbarten Höflichkeitsformeln. Schließlich war den Quellen gemeinsam, dass civilité als eine zu erlernende Kunst angesehen wurde, die man bereits von Kindesbeinen an pflegen müsse. In ihr spiegle sich der Zweck der Erziehung und die Mahnung an die Erziehungsverantwortlichen.69 In den Definitionen der Wörterbücher des 17. Jahrhunderts findet sich jedoch kein Hinweis auf die ältere Bedeutung der civilité, die Nicolas d’Oresme (ca. 1325– 1382) in seiner Aristoteles-Übersetzung Ende des 14. Jahrhunderts noch als die die Gemeinschaft charakterisierenden Sitten und Bräuche betrachtete.70 Die etwas neuere Deutung der civilité schrieb sich dagegen in die Tradition des Erasmus ein. 65 Richelet: Dictionnaire (wie Anm. 63), S. 193. 66 Furetière, Antoine: Dictionnaire universel, contenant généralement tous les mots françois tant vieux que modernes, et les termes de toutes les sciences et des arts. 2 Bde. Reproduktion der Ausgabe von La Haye 1690. Paris 1972. 67 Académie française: Le dictionnaire de l’Académie françoise, dédié au Roy. 2 Bde. Reproduktion der Ausgabe Paris 1694. Paris 1972. 68 Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 12. Furetière definierte die civilité folgendermaßen: „Manière honneste, douce & polie d’agir, de converser ensemble. On doit traitter tout le monde avec civilité. on [sic.] apprend aux enfants la civilité puerile. il [sic.] n’y a que les paysans, les gens grossiers, qui manquent à la civilite.“ Siehe Furetière: Dictionnaire (wie Anm. 66), [ohne Seitenangabe]. Im Dictionnaire de l’Académie wurde civilité so definiert: „Honesteté, courtoisie, maniēre honneste de vivre et de converser dans le monde“, siehe Académie française: Le dictionnaire (wie Anm. 67), S. 193. 69 Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 12f. 70 Vgl. Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 13f.

2 Civilité – die universale Höflichkeit 

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Bereits 1537 wurde in Frankreich die Übersetzung Pierre Saliats (1537–1556) veröffentlicht, in der dieser zwei pädagogische Abhandlungen Erasmus’, namentlich die Declamatio de pueris statim ac liberaliter instituendis71 und die De civilitate morum puerilium libellus72 miteinander verband und diese schließlich unter dem Titel Déclamation contenant la manière de bien instruire les enfants dès leur commencement, avec un petit traité de la civilité puérile et honnête, le tout translaté nouvellement de latin en français73 in Umlauf brachte. Dem Text des Rotterdamer Gelehrten kam schließlich zentrale Bedeutung für die Entwicklung des civilitasBegriffes zu, gerade aufgrund seiner zahlreichen lateinischen Ausgaben – circa 80 im 16. Jahrhundert und 13 im 17. Jahrhundert – sowie seiner mannigfaltigen Übersetzungen, die den lateinischen Begriff in die verschiedenen Landessprachen hinüberbrachte. Durch den Einfluss des Erasmus wurde anhand des civilitéBegriffes fortan ein wesentliches Ziel der Kindererziehung formuliert, in der nun das ritterliche Ideal sowie mittelalterlich-höfische Tafelsitten der Anerkennung einer gesteigerten Abhängigkeitsbeziehung aller Menschen weichen mussten und sich deshalb auch an alle Menschen gleichermaßen richtete. Deshalb definiert die civilitas nach Erasmus ganz im Gegensatz zur mittelalterlichen courtoisie nach dem Ideal der cortegiana auch dasjenige gute Verhalten, das für alle Menschen angemessen war, und nun also universale, auf ethischen Prinzipien beruhende Regeln der civilitas festlegte. Damit wandte sich die civilité nicht nur einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe zu, sondern der Moral der Erziehung aller Kinder und versuchte somit, Emotionen und Verhalten zu disziplinieren. Dies zeigt sich ebenfalls in der Übersetzung und Bearbeitung des Werkes von Erasmus durch Claude Hours de Calviac74 aus dem Jahre 1559, der seiner bearbeiteten Übersetzung den Titel Civile honnêteté pour les enfants, avec la manière d’apprendre à bien lire, prononcer et écrire qu’avons mise au commencement75 gab. Die Analyse von Siegfried Elwitz der Verwendung und Bedeutung von civil und civility in der englischen Sprache hat dagegen gezeigt, dass in England civi-

71 Erasmus, Desiderius: Declamatio de pueris statim ac liberaliter instituendis. Hrsg. von JeanClaude Margolin. Genava 1966. Siehe auch Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 15. 72 Erasmus, Desiderius: De civilitate morum puerilium per Des. Erasmum Roterodamum libellus, ab autore recognitus. Basilia 1530. Vgl. auch Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 14. 73 Erasmus, Desiderius: Déclamation contenant la manière de bien instruire les enfans, dès leur commencement, avec ung petit traicté de la civilité puérile, le tout translaté nouvellement de latin en françois, par Pierre Saliat. Paris 1537. Vgl. auch Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 14ff. 74 Für Claude Hours de Claviac sind keine genauen Lebensdaten bekannt. 75 Erasmus, Desiderius: La civilité honneste pour l’institution des enfans. En laquelle est mis au commencement la maniere d’apprendre à bien lire, prononcer, & escrire. Paris 1583. Vgl. auch Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 17.

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 V Von höfischer courtoisie zur urbanen politesse

lity als Höflichkeitsbezeichnung erstmals für das Jahr 1561 zu belegen ist.76 In der Bibliotheca Eliotae77 des 16. Jahrhunderts wird Civilitas, atis folgendermaßen definiert: „curtesy, ciuilitee, gentylnesse, good humanite“,78 im Abcedarium79 finden sich unter dem Eintrag „civilitie“ die Synonyme „curtesy, politia, Vrbanitas“.80 Weder das Adjektiv „polite“ noch das Substantiv politeness finden sich hingegen in den Wörterbüchern des 16. Jahrhunderts.81 Während sich die Tradition der civilitas nach Erasmus gerade aufgrund des Ziels, Verhalten und Emotionen für alle gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen zu maßregeln, um die elementare Kindererziehung kümmerte, kam im 17. Jahrhundert ein weiterer, mondäner Aspekt der civilité/civility-Bedeutung hinzu. In der ersten Jahrhunderthälfte schien die Verwendung des Begriffes zunächst beträchtlich zurückzugehen und es bildete sich eine neue Konzeption für Anständigkeit (bienséance), Rechtschaffenheit (honnêteté) und Ehre/Ehrbarkeit (honneur) heraus. Ausarbeitungen, die sich mit diesen Konzeptionen beschäftigten,82 hatten eines gemeinsam: Ihre Vorlagen waren italienischer Herkunft, die ihrerseits verstärkt dem Ideal der cortegiana folgten. Dies hatte zur Folge, dass diese Abhandlungen verstärkt die Verhaltensformen einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich von Adeligen mit sozialer Nähe zum Hof zu normieren suchten. Mit diesem Rückgriff auf die italienische Tradition entfernten sich diese Bücher wiederum von der universalistischen Konzeption des Erasmus und reihten sich vielmehr in die höfische Erziehungsliteratur ein.83 In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gewann die breitere soziale Komponente des Begriffes wiederum an Bedeutung und öffnete sich damit auch unteren sozialen Schichten. Insbesondere Antoine de Courtins (1622–1685) Nouveau traité 76 Civility als Bezeichnung für Zivilisation ist bereits 1549 belegbar, im Sinne einer „politisch gefärbte[n] Höflichkeitsbezeichnung“ ist es dagegen schon für das Jahr 1533 nachweisbar. Erstbelege von „civil“ und civility als politische Begriffe, die das zivile Recht und Zivilangelegenheiten betreffendes bezeichnen, finden sich bereits für die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts. Siehe Elwitz: Civil und Civility (wie Anm. 58), S. 21 und S. 31. 77 Cooper, Thomas: Bibliotheca Eliotae Eliotis librarie. 2. Aufl. Londinium 1542. 78 Cooper: Bibliotheca (wie Anm. 77), Eintrag: c ante i, ohne Seitenzahl. Vgl. Elwitz: Civil und Civility (wie Anm. 58), S. 25. 79 Huleoet, Richard: Abcedarium anglico latinum, pro tyrunculis Richardo Huloeto exscriptore. Londinium 1552. 80 Huleoet: Abcedarium (wie Anm. 79), c ante i, ohne Seitenzahl. Vgl. auch Elwitz: Civil und Civility (wie Anm. 58), S. 25f. 81 Kein Wörterbuch belegt bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts „civil“ und civility als Höflichkeitsbezeichnungen. Vgl. Elwitz: Civil und Civility (wie Anm. 58), S. 25f. 82 Bspw. Périn, Léonard: Bienséance de la conversation entre les hommes. Pont-à-Mousson 1617; Faret: L’honneste-homme (wie Anm. 23). Vgl. Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 18. 83 Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S.18f.

2 Civilité – die universale Höflichkeit 

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de la civilité qui se pratique en France parmi les honnête gens aus dem Jahre 167184 suchte an die erasmische Tradition anzuschließen, indem er vor allem die Instruktion der jungen Leute vor Augen hatte, die er auf universellen, unwandelbaren Regeln der Moral aufbaute.85 Indem die civilité nun mit der christlichen Tugend der Nächstenliebe in Verbindung gebracht wurde, wurde sie zu einem für alle Menschen notwendigen Charakteristikum, das Mensch und Tier voneinander unterschied.86 Die Universalität des Konzepts implizierte jedoch auch bei Courtin nicht, dass soziale Hierarchien negiert wurden. Im Gegenteil: Gerade die civilité musste sich nach den gesellschaftlichen und sozialen Hierarchien richten. Damit inkorporierte Courtin in seinem Konzept der civilité auch die höfische Erziehungstradition der cortegiana. Nach Ansicht des Autors war die Kenntnis des richtigen Verhaltens gemäß dem jeweiligen sozialen Rang eine regelrechte Wissenschaft.87 Courtin gab der civilité vier grundlegende Regeln, die, wolle man sich angemessen verhalten, stets zu beachten seien: La Civilité dont nous prétendons ici donner des regles, n’est que la modestie & l’honnêteté que chacun doit garder dans ses paroles & dans ses actions: … Or nous ne sçaurions pratiquer cette science, si nous observons exactement les quatre circonstances qui suivent. La premiere est, de se conduire chacun selon son âge et sa condition. La seconde, de prendre toujours garde à la qualité de personne avec laquelle on traite. La troisième, de bien observer le tems. Et la quatrième, de regarder le lieu où on se rencontre. Ces regles qui vont à se connoître soi-même, à connaître les autres, à observer les lieux & le tems sont si necessaires, que si l’une des quatre manque, toute nos actions de quelque bonne intention qu’elle partent, paroissent inciviles & difformes.88

Auch wenn Verhaltensregeln von universalen ethischen Prinzipien abgeleitet werden konnten und diese für alle Menschen Gültigkeit besaßen, so war das für eine bestimmte Person angemessene Verhalten nach Courtin immer von der sozialen Stellung dieser Person sowie von den jeweiligen Beziehungen zu anderen Situationsteilnehmern abhängig. Die civilité, die ihrem Grundsatz nach immer dieselbe bleibe, müsse dennoch in unterschiedlichen Situationen von unterschiedlichen Akteuren verschiedentlich ausgelebt werden. Dem Autor zufolge gab es sieben Professionen – oder im Falle der Frauen eine Rolle –, die eigene Maßstäbe und Normen in der Ausübung der civilité beinhalteten: an der Spitze 84 Courtin, Antoine de: Nouveau traité de la civilité qui se pratique en France parmi les honnestes gens. Paris 1728 (Erstausgabe: 1671). 85 Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 19. 86 Siehe zur Universalität der civilité und zu ihrer christlichen Moralvorstellung auch Raynaud, Philippe: La politesse des Lumières. Les lois, les mœurs, les manières. Paris 2013, S. 13–25. 87 Siehe Courtin: Nouveau traité (wie Anm. 84), S. 17. 88 Courtin: Nouveau traité (wie Anm. 84), S. 15 und 17f.

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stand der Fürst, ihm folgten seine Magistrate, dann die Krieger, die Kaufleute, die Handwerker, die Bauern und schließlich die Geistlichen und ganz zum Schluss die Frauen.89 Nach Roger Chartier hatte civilité aufgrund ihrer Konzeptualisierung entlang der Hierarchie der Gesellschaft im 17. Jahrhundert also einen zweideutigen Status und kennzeichnete ebenso das Verhalten des Herrschers, wie dies in Pierre Corneilles Tragödien besonders deutlich zum Ausdruck kommt, wie das seiner Untertanen. Jedoch implizierte Corneille, ganz im Gegensatz zu den civilitéTraktaten, die auch die Echtheit der in Verhalten geformten Gefühle postulieren, eben keine Authentizität der zutage getragenen Emotionen. In Form einer „weltmännischen Höflichkeit zwischen Prinzen“90 konnte sie auch gespielter Schein oder Maske sein. Die civilité war in dieser Interpretation eine rein äußerliche Darstellung, die nichts oder zumindest nicht zwangsweise die Innerlichkeit des Menschen Preis gab.91 Dies brachte dem Begriff schließlich – wie auch derjenige der politesse – die Kritik ein, die innere Bosheit des Menschen zu verdecken, die Molière beispielsweise in seinem Le Bourgeois gentilhomme92 zutage treten ließ. Die civilité erscheint auch bei Molière als eine Maske, die Lüge und Betrug verdecke.93 Die civilité-Traktate trugen der Kritik an der Äußerlichkeit von Verhaltensregeln Rechnung, indem sie, wie dies etwa Antoine de Courtin getan hat, über das Gegenteil der civilité nachdachten. Letzteres sah der Franzose nicht in der incivilité, sondern in der fausse oder mauvaise civilité, die entweder die Ausuferung von Gefälligkeiten oder diejenige von peinlichen Genauigkeiten meinte. Die übertriebene und übersteigerte Höflichkeit wurde also keineswegs positiv gewertet, sondern im Gegenteil als Ausdruck von Niedertracht und eigennütziger Schmeichelei angesehen. Die civilité befand sich damit immer im Spannungsfeld zwischen Sein und Schein.94 Eine sehr einflussreiche Abhandlung über die civilité, die den Begriff fortan entscheidend prägen sollte, war diejenige Jean-Baptiste de la Salles (1651–1719) aus dem Jahre 1703, der in seinem Werk Les regles de la bienséance et de la civilité

89 Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 20f. 90 Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 21. 91 Hier differiert die hier vorliegende Intepretation der civilité von derjenigen Philippe Raynauds, der in dieser den Anspruch der Kongruenz von Innerlichkeit und Äußerlichkeit des Menschen entdeckt. Siehe Raynaud: La politesse (wie Anm 86), S. 14–20. 92 Molière (Jean-Baptiste Poquelin): Le Bourgeois gentilhomme. In: Ders.: Le Misanthrope, suivi de: le Tartuffe, l’Avare, le Bourgeois gentilhomme, les Femmes savantes. Paris 1666. S. 229–334. 93 Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 22. 94 Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 23f.

2 Civilité – die universale Höflichkeit 

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chretienne divisés en deux parties à l’usage des écoles chrétiennes95 den Begriff rechristianisierte. La Salle unterschied demnach zwischen einer christlichen und einer mondänen civilité. Die weltliche Form werde lediglich vom Bedürfnis nach weltlicher Achtung getragen und suche deshalb ständig nach äußerlicher Anerkennung. La Salle diskreditierte die weltliche civilité und forderte eine auf dem Evangelium gegründete Form der Höflichkeit. Letztere sei eine Art, Gott durch ehrbahres Verhalten auf Erden die ihm zugemessene Ehrfurcht zu erweisen. Civilité wurde von La Salle dementsprechend als Rechtschaffenheit gedeutet, es bestand für ihn demnach auch eine direkte Verbindung zwischen äußerem Auftreten und der Innerlichkeit des Menschen. Das äußere Auftreten war für ihn keine schönende Maske des innerwendigen Menschen, sondern Indikator für dessen Charakter. Für Vertreter der civilité chretienne war jeder Mensch Abbild seines Schöpfers und schuldete gerade deshalb seinen Mitmenschen den notwendigen Respekt und Höflichkeit. Da die civilité von der göttlichen Vollkommenheit abgeleitet wurde, sollte auch jedes menschliche Verhalten innerhalb einer Gesellschaft auf die Güte Gottes verweisen:96 Comme nous devons considerer nos corps que comme des temples vivans, où Dieu veut être adoré en esprit et en vérité, et des tabernacles que Jésus-Christ s’est choisi pour sa demeure, nous devons aussi dans la vuë de ces belles qualités qu’ils possedent, leur porter beaucoup de respect; & c’est cette consideration qui nous doit particulierement engager à ne les toucher, & à ne les pas même regarder sans une nécessité indispensable. Il est à propos de s’accoutumer à souffrir plusieurs petites incommiditez, sans se tourner, frotter, ni grater …97

Trotz des universalen Anspruchs den La Salles formulierte, übersah er die soziale Hierarchie der bestehenden Gesellschaft nicht, nahm entsprechend auch Antoine de Courtins vier Regeln der civilité auf und forderte ein angemessenes Verhalten gemäß des jeweiligen sozialen Ranges, der sich auch in der Kleiderordnung manifestieren sollte.98 Nach Norbert Elias waren La Salles Regeln, die zum schulischen Gebrauch verfasst worden waren, einer der wichtigsten Bausteine, die Elitenkultur des Hofes in der Gesamtgesellschaft zu verankern.99 Indem die Höflichkeit christianisiert wurde, wurde der Status Quo der Sozialstruktur durch Gehor-

95 La Salle, Jean-Baptiste de: Les regles de la bien-seance de la civilité chrétienne. Divisées en deux parties. A l’usage des Ecoles chrétiennes. Paris 1708. 96 Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 25ff. 97 La Salle: Les regles (wie Anm. 95), S. 55f. Vgl. auch Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 26f. 98 Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 19ff. 99 Norbert: Über den Prozess (wie Anm. 5), S.  136. Vgl. auch Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 28.

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sam manifestiert und einem kindlichen Publikum aus allen sozialen Schichten vermittelt. Inhärentes Ziel der règles war es demnach, die Gefühle der sozialen Akteure zu zügeln und so zu disziplinieren, dass sie den gesellschaftlichen Vorstellungen entsprachen. Damit brach La Salle mit der aristotelischen Tradition, die die Emotionen als Ausdruck einer gesellschaftlichen Ordnung interpretierte. La Salle ging es mit der Disziplinierung des Gefühlshaushaltes nicht nur um ein äußeres Disziplinieren, sondern um eine in der Einsamkeit waltende Selbstdisziplin.100 Durch die Verbreitung von Sittenspiegeln sowie durch schulische Unterweisung wurde die civilité von weiten Bevölkerungsteilen rezipiert. In dem Maße in dem das Konzept der civilité popularisiert wurde, verlor es jedoch besonders im 18. Jahrhundert an Bindungskraft innerhalb der französischen Elite, die ihr vormaliges Konzept, das sie sozial distinguieren sollte, nun nur noch als weltmännisches Auftreten interpretierte und damit abwertete. Gabriel Girard definiert die civilité in seinen Synonymes françois aus dem Jahre 1736 schließlich als situationsbedingtes Benehmen, wohingegen er die honnêteté als Achtung der gesellschaftlichen Regeln betrachtete und die politesse als diejenige Umgangsform bezeichnete, die alltägliche Beziehungen zu nahestehenden Menschen ordne und regle.101 Civilité wurde schließlich nur noch als den gesellschaftlich respektierten Umgang mit nicht-vertrauten Personen gedeutet. Sofern man im 18. Jahrhundert im Milieu der Elite in positiver Weise von civilité sprach, so wurde sie als „vertu de société“ verstanden, die den gesellschaftlichen Umgang zwischen bekannten und unbekannten Menschen regeln sollte. Auf diese Weise wurde die civilité im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer einfachen Tugend eines jeglichen angenehmen und vergnüglichen Zusammenkommens. Sie wurde als Geduld gegenüber

100 Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 29. 101 „HONNETE. CIVIL. POLI. GRACIEUX. AFFABLE: Nous sommes honnêtes par l’observation des bienséances & des usages de la société. Nous sommes civils par les honneurs que nous rendons à ceux qui se trouvent à notre rencontre. Nous sommes polis par les façons flateuses que nous avons, dans la conversation & dans la conduite, pour les personnes avec qui nous vivons. Nous sommes gracieux par des airs prévenans pour ceux qui s’adressent à nous. Nous sommes affables par un abord doux & facile à nos parler. Les manières honnêtes sont une marque d’attention. Les civiles sont un témoignage de respect. Les polies sont une démonstration d’estime. Les gracieuses sont une preuve d’humanité. Les affables sont une insinuation de bienveillance. Il faut être honnête sans cérémonie, civil sans importunité, poli sans fadeur, gracieux sans minauderie, & affable sans familiarité.“, siehe Girard: Synonymes françois (wie Anm. 1), S. 174. Vgl. auch Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 29.

2 Civilité – die universale Höflichkeit 

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anderen definiert, die jeglichen menschlichen Kontakt und Austausch gewährleisten sollte.102 Mit der Verkürzung des Begriffes auf höfliche Umgangsformen des geselligen Lebens ging schließlich eine weitere Entwicklung einher, die den Begriff als Höflichkeit ohne Echtheit der Gefühle abwertete. In dieser Abwertung traten das Sein, das Gefühlsleben des innwendigen Menschen, und das Auftreten nach außen, der Schein, auseinander. Der Eintrag von Louis de Jacourt (1704–1779) zu Civilité, politesse, affabilité103 in der Encyclopédie trug dieser Einengung und Abwertung der civilité Rechnung. Zuerst bezeichnete Jacourt alle drei Begriffe als „manieres honnêtes d’agir & de converser avec les autres hommes dans la société“.104 Weiter schrieb er:105 La civilité & la politesse sont une certaine bienséance dans les manieres & dans les paroles, tendantes à plaire & et à marquer les égards qu’on a les uns pour les autres. Sans émaner nécessairement du cœur, elles donnent les apparences, & font paroître l’homme au-dehors comme il devroit être intérieurement. C’est, dit la Bruyere, une certaine attention à faire, que par nos paroles & nos manieres les autres soient contens de nous.106

Obwohl hier die civilité und die politesse gemeinsam dargestellt werden, beschrieb Jacourt die civilité nur als Teilbereich der politesse: „La civilité ne dit pas autant que la politesse, & elle n’en fait qu’une portion; c’est une espece de crainte en y manquant, d’être regardé comme un grossier; c’est un pas pour être impoli.“107 Die civilité wird hier gegenüber der politesse also ausschließlich negativ bestimmt und als Angst definiert, für unhöflich gehalten zu werden. Dieser Eindruck verstärkt sich auch noch durch die Feststellung, dass die politesse allein Edelleuten vorbehalten sei, die civilité dagegen ein Begriff „aux personnes d’une condition inférieure, au plus grand nombre de citoyens“ sei.108 Die civilité stellte also sowohl bezüglich der Manieren als auch der sozialen Stellung Mitte des 18. Jahrhunderts die niedrigste Stufe der Höflichkeit dar. Jacourt machte darüber hinaus deutlich, dass der Begriff der civilité seine ursprüngliche Bedeutung eingebüßt hatte und zum bloßen Regelwerk und Konformitätskatalog verkommen sei. Auf diese Weise habe er sich jedoch in großen Teilen der Bevölkerung durchgesetzt. Gerade 102 Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 29f. 103 Jacourt, Louis de: Civilité, politesse, affabilité. In: Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, etc. Hrsg. von Denis Diderot u. Jean le Rond d’Alembert. Bd. 3. Paris 1753, S. 497. 104 Jacourt: Civilité (wie Anm. 103), S. 497. 105 Vgl. Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 35ff. 106 Jacourt: Civilité (wie Anm. 103), S. 497. 107 Jacourt: Civilité (wie Anm. 103), S. 497. 108 Jacourt: Civilité (wie Anm. 103), S. 497.

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deshalb habe die civilité jedoch ihre mondäne Bedeutung verloren.109 Der Eintrag in der Enzyklopädie macht deutlich, dass diejenige soziale Schicht, die zuvor den Begriff der civilité getragen und voran gebracht hatte, sich von dem modifizierten und viel formalisierteren Konzept entfernte und nun einen neuen Entwurf der Höflichkeit als politesse prägte, der noch unbelasteter war als derjenige der civilité. Jacourt zeigte hier, dass die civilité popularisiert und den unteren Schichten der Bevölkerung als starre Prinzipien mechanisch antrainiert worden sei und nun nur noch in Formalitäten bestand. Die Universalisierung und Popularisierung der civilité führte schließlich dazu, dass man in aristokratischen Kreisen ein neues Modell der Höflichkeit suchte, das der Natürlichkeit der Manieren, die die Aristokratie für sich beanspruchen wollte, eher Rechnung tragen konnte.110 Für die civilité lässt sich also zusammenfassen: Der Begriff wurde im 16. Jahrhundert vor allem im Zuge von Erasmus’ Einfluss und im Gegensatz zur höfischen courtoisie als Höflichkeit definiert, die für alle soziale Schichten galt und in Form der Selbstdisziplinierung schon von Jugend an eingeübt werden musste. Im 17. Jahrhundert kam zum Begriff der civilité ein mondäner, von der Hofmannslehre beeinflusster Aspekt hinzu, sodass in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die civilité zwar in ihrem breiten, universalen Verständnis gebraucht wurde. Allerdings wurden, wie dies etwa das Beispiel Antoine de Courtins verdeutlicht, nun verstärkt die Distinktionen der sozialen Schichten im Begriff inkludiert. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde der Begriff der civilité aufgrund seiner Universalität von den oberen sozialen Schichten als minderwertige Höflichkeit entwertet und durch den Begriff der politesse ersetzt.

3 Politesse – die neue aristokratische Tugend Um die politesse zu definieren und den Gebrauch des Begriffes einzuordnen, müssen zunächst zwei Wortfamilien, die etymologisch ähnlich scheinen, unterschieden werden. Eine Gruppe leitet sich aus dem lateinischen „polire“ (dt. glätten, schleifen) ab und umfasst die Worte „poli“, „polir“ und politesse (oder in Englisch: „polish“, „polite“ und politeness). Die zweite Wortfamilie entspringt dem Bedeutungsfeld der griechischen polis und enthält etwa „poli109 „J’ai lû des livres sur la civilité, si chargés de maximes & de préceptes pour en remplir les devoirs, qu’ils manqueroient fait préférer la rudesse & la grossiereté à la pratique de cette civilité importune dont ils font tant d’éloges. … Mais la civilité cérémonieuse est également fatiguante & inutile, aussi est – elle hors d’usage parmi les gens du monde.“ Jacourt: Civilité (wie Anm. 103), S. 497. Siehe auch Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 35f. 110 Chartier: Civilité (wie Anm. 59), S. 36.

3 Politesse – die neue aristokratische Tugend 

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tique“, „police“, „policer“ (oder in Englisch: „politics“, „policy“ und „police“).111 „Polir“ verweist in seinem wörtlichen Sinn auf eine ästhetische Sichtweise auf ein Objekt. Ein unbearbeitetes, rohes Material wird geschliffen und geformt, sodass es geschmeidig und glatt wird. Damit ist das Geschliffene und Polierte („poli“/ „polished“) der (natürlichen) Rauheit oder Rohheit entgegengesetzt. In Bezug auf die Manieren und das Verhalten verweist „polir“ auf die Fähigkeit zu reden, zuzuhören und sich für die Gesellschaft, in der man sich befindet, in angenehmer Weise zu verhalten. Die Begriffsfamilie um politesse ist damit von derjenigen um police abzugrenzen: Im 16. Jahrhundert gebrauchten politische Theoretiker den Begriff police als Übersetzung des griechischen Begriffes der politeia, der die Verfassung bzw. die Verfasstheit eines Gemeinwesens bezeichnete. Wenn der Begriff der police benutzt wurde, um ein monarchisches Regime zu beschreiben, dann implizierte dieser die religiösen und juridischen Bräuche und überkommenen Rechte, die vom König nur mit der Gefahr, das Gleichgewicht des Gemeinwesens zu destabilisieren, verändert werden konnten. Mit dem Wort police konnte man aber ebenso auf die Überlegenheit eines politischen Regimes über ein anderes verweisen. In diesem Sinne meinte „policé“ ebenfalls „geschliffen“, „kultiviert“ oder „fortgeschritten“. In moralischer Hinsicht war der Begriff gemäß Daniel Gordons Analyse von seiner Ähnlichkeit zum griechischen Begriff der polis geprägt, die nach Aristoteles ein Gemeinwesen war, das nicht nur das Überleben sichern, sondern auch das gute Leben ermöglichen sollte, in dem man Freundschaften führen, kommunizieren und politische Autonomie erlangen konnte.112 111 France: Politeness (wie Anm. 6), S. 53. Siehe dazu auch der Eintrag in Pierre Richelets Dictionnaire zu police, policé und polir, poli, politesse: „Police: Mot qui vient du Grec & qui veut dire règlement de ville. La police consiste à faire divers réglemens pour la commodité d’une ville, & ces divers réglemens doivent regarder les dentées, les métiers, les ruës & les chemins. [La police de Paris est fort bonne]. Policé, policée: Bien réglé, où il y a une bonne police. [Un Etat bien policé, Républiquue bien policée. Peuples fort policez. Ablancourt]. Poli, polië, adj. Net, rendu plus beau, rendu luisant. [Marbre bien poli. Lame de couteau bien polië.]* Poli, polië. Civilisé, honnête, qui a quelque chose de galand. [C’est un homme fort poli. Avoir les mœurs poliës.]* Poli, polië. Ce mot se dit du stile & du discours & veut dire éxact, châtié, [C’est un discours extrément poli.]. Polir: rendre plus beau, plus net & plus poli. Polir: civiliser. Rendre plus-civil, plus galand & plus honnête [Il faut polir les mœurs et l’esprit, c’est là le point.]. Polir: ce mot se dit en parlant de discours & de stile. Politesse: Ce mot ne se trouve point au propre. Il consiste à avoir quelque chose d’honnête, de civil, de poli & de galand. Civilité honnête & polië. Exactitude châtiée, polië & galante. [La politesse de l’esprit consiste à penser des choses honnêtes & délicates. Mémoires de Monsieur le Duc de la Roche-Foucaut. La politesse de ses écrits est l’image de celle de ses mœurs. Avoir de la politesse.]“, siehe Richelet: Dictionnaire (wie Anm. 63), S. 186. 112 Gordon, Daniel: Citizens Without Sovereignty: Equality and Sociability in French Thought, 1670-1789. Princeton 1994, S. 18f. Vgl. auch France: Politeness (wie Anm. 6), S. 60ff.

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 V Von höfischer courtoisie zur urbanen politesse

Der Humanist Henri Etienne (1528 o. 1531–1598) bestätigte im 16. Jahrhundert, dass police keine andere Bedeutung habe als diejenige, die auch mit dem griechischen Begriff der politeia bezeichnet werde. Jedoch räumte er auch ein, dass politeia falsch verwendet werde und mit ihm auf die Prosperität und die Sicherheit in einer Stadt verwiesen werde. Auch wenn diese Bedeutungsebene von police im 16. Jahrhundert nur eine geringfügige Rolle spielte, so wurde sie doch zur dominanten Verwendungsweise im 17. Jahrhundert: Anstatt auf institutionelle Elemente zu verweisen, bezeichnete police die administrativen Kompetenzen, die praktischen Ziele sowie deren Umsetzung durch eine Regierung. Indem die police der Barbarei und den Wilden Amerikas gegenübergestellt wurde, behielt police eine ethnische Komponente und fiel somit oft mit dem Bedeutungsgehalt von Zivilisation zusammen.113 Wenn police und politesse also voneinander abzugrenzen sind, so gibt es doch Gemeinsamkeiten: Police ist insofern mit politesse verbunden, als dass sie politesse in Form von Sicherheit, Frieden und Ordnung verwirklicht. Dies schafft police, indem sie Selbstkontrolle und Achtung anderer erzwingt. Aggressive Handlungen und Gefühle werden durch Regeln in die rechte Bahn gelenkt, damit Menschen schließlich harmonisch miteinander zusammenleben können. Wenn also im 18. Jahrhundert einige davon ausgingen, dass Frankreich die meist „polierte“ Nation sei, so hieß das implizit auch, dass sie die am besten regierte war.114 Für die Zeitgenossen des französischen 18. Jahrhunderts konnte das Individuum in seinen Umgangsformen vor allem durch das Leben in der Welt („le monde“) „poliert“ oder „geglättet“ werden. Im Zentrum dieser Welt stand der königliche Hof. Antoine Furetière schrieb in seinem Dictionnaire zur Beschreibung von „polir: La cour polit bien les gens de province“.115 Es waren also die Menschen aus den ländlichen Provinzen, fernab von Paris und dem Hof in Versailles, die durch höfische Umgangsformen geschliffen werden mussten. Im Dictionnaire de l’Académie française war ebenfalls festgehalten: „La cour, l’estude, la conversation des honnestes gens, des Dames polit [sic.] les mœurs. L’estude des belles lettres polit les jeunes gens.“116 In diesem Absatz bezieht sich das Polieren, das Schleifen auf den Geist und das Verhalten („l’esprit et les mœurs“), das nicht nur Höflinge, sondern „les honnêtes gens“ inkludierte. Der Ort der poli113 France: Politeness (wie Anm. 6), S. 19f. 114 Vgl. dazu France: Politeness (wie Anm. 6), S. 60. 115 Furetière: Dictionnaire (wie Anm. 66), [ohne Seitenangabe]. Vgl. auch France: Politeness (wie Anm. 6), S. 55. 116 Académie française: Le dictionnaire (wie Anm. 67), Bd. 2, S. 271f. Vgl. auch France: Politeness (wie Anm. 6), S. 56.

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tesse ist in diesem Absatz nicht weiter erläutert, jedoch indiziert die Anwesenheit der Damen, dass es sich um die Salons handelte. Nach Peter France zu urteilen ist gerade die Beschäftigung mit der Rolle der Frau die Konstante – sofern man überhaupt von einer ausgehen kann – im französischen politesse-Diskurs des 18. Jahrhunderts: Wenn sich dieser meistens vor allem an Männer richtete, wurde Frauen dennoch eine zentrale Rolle bei der Erlangung der politesse zugerechnet. Männer konnten hier von Frauen lernen und profitierten.117 In der Interpretation des Abbé Jean-Baptiste Morvan de Bellegarde (1648– 1734) förderte der Umgang mit Frauen die politesse der Männer, da erstere von Natur aus feiner, geschliffener, schöner und reinlicher seien und Männer stets versuchten, diesen feinen Wesen zu gefallen: „Les femmes qui sont naturellement plus douces, plus complaisantes, plus gracieuses que les hommes, ont aussi plus de politesse; & c’est principalement dans le commerce qu’on a avec elles, que l’on apprend à être civil, & poli, par l’envïe qu’on a de leur plaire.“118 Der Ort, um politesse zu erlangen, waren laut der Analyse Dena Goodmans deshalb die Pariser Salons, die meist von einer „salonnière“ angeführt und geleitet wurden.119 Gemäß ihrere Studie gaben die Salons der République des Lettres eine soziale Basis und hatten eine Struktur nach republikanisch-egalitären Prinzipien. Dementsprechend sei auch die Regierung der „salonnières“ ein „government by consent“ gewesen.120 Goodman zufolge sei der französische Salon der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der aus Mitgliedern des französischen Adels bestand, deshalb als Ausdruck des adeligen Widerstands gegen die Absorbierung des Hofes zu werten. Das Konzept der politesse zeige das Aufkommen einer Kultur, die Leistung und Bildung weit mehr betonte als Blut und Herkunft.121 117 Vgl. France: Politeness (wie Anm. 6), S. 56. 118 Bellegarde, Abbé Morvan de: Reflexions sur la politesse des mœurs, avec des maximes pour la societé civile. Suite des reflexions sur le ridicule. Paris 1698, S. 5. Vgl. auch France: Politeness (wie Anm. 6), S. 56. 119 Siehe Goodman, Dena: The Republic of Letters. A Cultural History of the French Enlightenment. Ithaca/London 1994, S. 3: „The central discursive practices of the Enlightenment Republic of Letters were polite conversation and letter writing, and its defining social institution was the Parisian salon.“ Siehe zu den französischen Salons im 18. Jahrhundert: Clergue, Helen: The Salon. A Study of French Society and Personalities in the Eighteenth Century. 2. Aufl. New York 1971 (Research Source Works Series, Bd. 768); sowie Lilti, Antoine: Le monde des salons. Sociabilité et mondanité à Paris au XVIIIe siècle. Paris 2005. 120 Goodman: The Republic (wie Anm. 119), S. 105f. 121 Goodman: The Republic (wie Anm. 119), S.  111. Siehe auch S.  113: „If polite conversation served first as a way of redefining the nobility as a social group at a time when its existence was threatened from above, below, and within, it also permitted more flexibility than had been possible before. Politeness allowed the nobility defined by it to respond to a social topography that, thanks to the monarchy, could no longer be viewed as terra firma. It came to function as a

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Demensprechend seien die Salons „schools of politeness“ und „politeness only could be learned in salons“.122 Antoine Lilti, der mit Goodman darüber übereinstimmt, dass die Salons Aufschluss über die Konzeption der politesse der Pariser Elite geben, widerspricht dagegen Goodmans These, in der diese einen egalitären Charakter der Salons annimmt und dabei die intellektuelle Rolle der „salonnières“ betont. Auch Daniel Gordons Analyse findet Liltis Kritik, da dieser nur die intellektuellen Ideen, nicht aber die soziale Praxis der Salons in den Blick genommen habe. Liltie kommt ferner zum Ergebniss, dass auch die Salons des 18. Jahrhundert der Pariser Aristokratie, „le monde“, anzurechnen seien und also kein oppositionelles Milieu zum Hof darstellten.123 In England begegnete das Konzept der französischen Auslegung der politesse dagegen einem anderen sozialen Kontext. Hier wurde die politeness nicht wie in Frankreich von einer kleinen, privaten, und sozial distinguierten Gruppe getragen, sondern hatte eine urbane, weitaus öffentlichere Trägerschaft. Auf der britischen Insel waren die weitverbreiteten Kaffeehäuser derjenige Ort, an dem man politeness als soziale Tugend erlernen konnte. Dena Goodmann zeigt diesbezüglich, dass der Wert der englischen Auslegung der politeness nicht in der Möglichkeit der Elitendefition lag, sondern in seiner Funktion, private Tugenden zu politisieren, indem sie öffentlich diskutiert und zu „civic virtues“ umgedeutet wurden.124 So schufen die englischen Kaffeehäuser, die nur Männern zugänglich waren, eine Atmosphäre, in der jeder das Recht hatte zu sprechen.125 Die Kaffeehäuser nährten also öffentliche Diskussionen, jedoch waren diese deshalb nicht zwangsweise von einer republikanischen Gesinnung getragen. Es gab Kaffeehäuser mit den verschiedensten politischen Prägungen und in allen konnte der Besucher diskutieren.126 Folglich wurden Kaffeehäuser zu dem Ort, „where one went to collect intelligence“.127 Nach Lawrence Klein konnte in Kaffeehäusern deshalb Höflichkeit außerhalb des königlichen Hofes gelebt werden, womit substitute not only for the martial definition of nobility but for birth itself. … The ideology of the salons rested on this substitution of behaviour for birth.“ 122 Goodman: The Republic (wie Anm. 119), S. 114. 123 Lilti, Antoine: Sociabilité et mondanité: Les hommes de lettres dans les salons parisiens au XVIIIe siècle. In: French Historical Studies 28/3 (Summer 2005). S. 415–445, hier S. 416f. Siehe auch Ders.: The Kingdom of Politesse: Salons and the Republic of Letters in Eighteenth-Century Paris. In: Republics of Letters: A Journal for the Study of Knowledge, Politics, and the Arts (May 1/2009), S.  1–11. http://arcade.stanford.edu/rofl/kingdom-politesse-salons-and-republic-letters-eighteenth-century-paris (03.05.2015). 124 Goodman: The Republic (wie Anm. 119), S. 120. 125 Goodman: The Republic (wie Anm. 119), S. 122. 126 Pincus, Steven: “Coffee Politicians Does Create”: Coffeehouses and Restoration Political Culture. In: The Journal of Modern History 67/4 (Dez. 1995). S. 807–834, hier S. 834. 127 Pincus: “Coffee” (wie Anm. 126), S. 820.

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die Kaffeehaus-Höflichkeit laut seiner Analyse Motor eines Prozesses war, in dem sich eine höfische und um den Hof kreisende Elitenkultur in eine post-höfische verwandelte.128 Lawrence Klein stellt in seinem Forschungsüberblick Politeness and the Interpretation of the British Enighteenth Century129 die Verwendung und Interpretation des Begriffes der politeness dar und zeigt auf, wie politeness in der Forschung mit verschiedenen sozialen Akteuren verknüpft wurde: Edward Thompson identifiziert die „polite culture“ mit dem Patriziat, diese Interpretation wird von James Rosenheim in seiner Analyse der „landed gentry“ des späten 17. und 18. Jahrhundert untermauert. Auch Tom Williamson unterstützt mit seiner Arbeit über die landbesitzende Elite Thompsons Ergebnisse.130 Dagegen wurden für Charles Saumarez Smith die Grenzen der „polite society“ im 18. Jahrhundert von der höfischen Gesellschaft und der „gentry“ auch auf die Londoner Kaufleute und andere Professionen ausgeweitet. Weitere Untersuchungen verweisen auf die Verbindung mittelständischer Akteure und politeness:131 J. Jefferson Looney stellt dar, dass politeness von einer neuen, wohlhabenden und zahlenmäßig nicht unerheblichen Klasse von Staatsdienern, Militärs und Navy-Offizieren, von Bürgerlichen und Kirchenmännern, von Ladenbesitzern und Handwerkern aufgenommen wurde.132 In seinem Artikel Liberty, Manners, and Politeness in Early Eighteenth Century England133 betont Klein wiederum, dass politeness im 18. Jahrhundert Hauptgegenstand des englischen Diskurses war und ideologisches Gewicht bekommen habe: Seiner Analyse zufolge ist das Wort „polite“ schon seit dem 15.  Jahrhundert in der englischen Sprache und bezeichnete zunächst den Zustand „of being 128 Klein, Lawrence E., Coffeehouse Civility, 1660–1714: An Aspect of Post-Courtly Culture in England. In: Huntington Library Quaterly 59/1 (1996). S. 30–51, S. 50. 129 Die folgende Darstellung folgt Kleins Überblick, siehe Klein, Lawrence E.: Politeness and the Interpretation of the British Eighteenth Century. In: Historical Journal 45/4 (Dez. 2002). S. 869–898, hier S. 872ff. 130 Siehe Thompson, Edward P.: The Patricians and the Plebs. In: Ders.: Customs in Common. New York 1991. S. 16–96 und 42–46 und 71f.; Rosenheim, James: The Emergence of a Ruling Order: English Landed Society, 1650–1750. London/New York 1998, S. 174–214; Williamson, Tom: Polite Landscapes: Gardens and Society in Eighteenth-Century England. Stroud/Gloucesterhire 1995. 131 Siehe Smith, Charles Saumarez: Eighteenth-Century Decoration: Design and the Domestic Interior in England. New York 1993, S. 45. Vgl. auch Langford, Paul: A Polite and Commercial People: England, 1727–1783. Oxford 1989, S. 59–121. 132 Looney, J. Jefferson: Cultural Life in the Provinces: Leeds and York, 1720–1820. In: The First Modern Society: Essays in English History in Honour of Lawrence Stone. Hrsg. von A. L. Beier u. David Cannadine u. James Rosenheim. Cambridge 1989, S. 483–510, hier S. 485. 133 Klein, Lawrence E.: Liberty, Manners and Politeness in Early Eighteenth-Century England. In: Historical Journal 32/3 (September 1989). S. 583–605.

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polished“. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts erhielt politeness dann eine weitere Bedeutungsebene und verwies nun auch auf „studied social behaviour“, das zunächst mit den fürstlichen Höfen in Verbindung gebracht wurde. Im späten 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts deckte politeness dagegen eine Bandbreite von Bedeutungen ab, die von Assoziationen mit Fürstenhöfen befreit waren. Politeness umfasste demnach einen moralischen und einen verhaltensbezogenen Standard („polite gentleman“, „polite lady“) und beschrieb einen ästhetischen Maßstab für menschliche Artefakte und Produkte („polite arts“, „polite towns“, „polite learning“). Und schließlich traf man mit dem Begriff der politeness Aussagen über den Charakter einer Gemeinschaft oder einer Kultur („polite age“, „polite nation“). In dieser letztgenannten Bedeutungsebene wurde politeness zumeist retrospektiv gebraucht, um die Antike zu charakterisieren. Demnach waren die vornehmsten („politest“) Nationen das antike Griechenland und das antike Rom. Wie die Analyse Kleins verdeutlicht, wurde die Sprache anständigen und feinen Verhaltens dann, nachdem sie ursprünglich eine höfische Sprache war, im späten 17. Jahrhundert auf den englischen „gentleman“ übertragen. Dies brachte zum Ausdruck, so folgert Klein, dass der Hof kulturelle Bindungskraft verloren hatte und nun die Kultur der „gentles“ zum Referenzmodell wurde. Damit hatten sich schließlich zwei verschiedene Sprachen in ein und derselben sozialen Schicht wiedergefunden und somit wurde auch das Verhältnis eines tugendhaften, freien und eines höflichen („polite“) Volkes zu einer bedeutenden Frage der kulturellen Positionierung. Dies habe die Zeitgenossen schließlich dazu gezwungen, sich über die Beziehung von Kultur und Politik sowie über Kulturpolitik Gedanken zu machen.134 Neben der Erziehung in „le monde“ sowie die Gesellschaft von Frauen war eine dritte Handlungsstrategie bedeutsam, um politesse zu erlernen. Nach dem Le dictionnaire de l’Académie war diese das Studium der Literatur: „L’estude des belles lettres polit les jeunes gens“.135 Der Literatur trauten die Akademisten zu, den Charakter sowie die Manieren schleifen. Auch das Theater hatte aufgrund seines darstellenden Charakters eine wichtige Funktion für die Ausbildung und

134 Vgl. Klein: Liberty (wie Anm. 133), S. 583ff. Helen Berry hat den gegenwärtigen Umgang mit politeness in der Forschung kritisiert, siehe: Berry, Helen: Rethinking Politeness in Eighteenth-Century England: Moll King’s Coffee-House and the Significance of “Flash Talk”. In: Transactions of the Royal Historical Society 11/2011. S. 65–81. Michèle Cohen untersuchte dagegen politeness mit einer gender-Aspekte: Siehe Cohen, Michèle: “Manners” Make the Man: Politeness, Chivalry, and the Construction of Masculinity, 1750–1830. In: Journal of British Studies 44/2 (April 2005). S. 312–329. 135 Académie française: Le dictionnaire (wie Anm. 67), Bd. 2, S. 271. Vgl. France: Politeness (wie Anm. 6), S. 56.

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charakterliche Stärkung junger Menschen.136 Besondere Bedeutung für die Förderung der politesse hatten auch die Akademien: Die Académie française und die Académie des sciences waren wichtige Pariser Institutionen, deren Vorbilder viele andere Akademien in den Provinzen folgten.137 Die provinziellen Akademien bezogen vor allem die lokale Elite mit ein, um dem Geschehen an der Akademie mehr Bedeutung zu verleihen. Sie unterschieden sich jedoch gerade von den Salons dahingehend, dass sie reine Männerinstitutionen waren.138 Politesse konnte jedoch nicht nur von Individuen durch Studium und Charakterstärkung erworben werden, sondern konnte auch Attribut einer ganzen Nation sein. Furetière unterschied in seinem Dictionnaire deshalb zwischen den Barbaren und den „peuples civilisés“. In diesem Sinne war politesse synonym zu „civilisation“ und implizierte die Annahme eines Fortschrittes in der Geschichte, die sich von barbarischen Völkern zur Zivilisation der modernen Nationen entwickelte.139 Während civilité vor allem Tischmanieren, Begrüßungsformeln und Verhaltenskodexe beinhaltete, meinte politesse viel mehr als das: Jeder konnte sich an die Verhaltensnormen der civilité halten, auch jemand aus den schlechter gestellten Kreisen der Gemeinschaft. Geschliffen („poli“) konnte jedoch nur ein „homme du monde“ sein. Eine entsprechende Person verkehrte und gehörte also in den Kreis der Bessergestellten, der Oberschicht, die sich am Hof, den Akademien und in den Salons bewegte. Die politesse, deren Ziel vor allem ästhetischer Natur war, war damit mehr als die von der courtoisie abgeleitete civilité. In diesem Sinne konnte die politesse als Zusatz zur Tugend gewertet werden.140 Man konnte also ein tüchtiges und tugendhaftes Leben ohne politesse gestalten, doch in manchen gesellschaftlichen Situationen war dies nicht genug: Nur der richtige Schliff, die politesse, konnte einem Diamanten den ihm eigenen Wert verleihen.141 Molière hatte das Ringen um politesse in seinem Le Misanthrope142 theatralisch verarbeitet. Das Stück des namhaften französischen Theaterschriftstellers wurde am Ende des 17. Jahrhunderts Referenzpunkt der Debatte über die politesse. Im Stück beschrieb Molière eine homogene Welt, die nur deshalb funktioniere, weil persönliche Beziehungen mittels politesse eingeübt und in erwartbares 136 France: Politeness (wie Anm. 6), S. 57. 137 Siehe zu der Rolle der Akademien in den Provinzen Roche, Daniel: Le siècle des lumières en province: académies et académiciens provinciaux, 1680–1789. 2 Bde. Paris/La Haye 1978. Vgl. auch France: Politeness (wie Anm. 6), S. 57. 138 France: Politeness (wie Anm. 6), S. 57. 139 France: Politeness (wie Anm. 6), S. 57. Siehe zum Konnex von politesse und Zivilisation auch Raynaud: La politesse (wie Anm 86), S. 7. 140 France: Politeness (wie Anm. 6), S. 58. 141 France: Politeness (wie Anm. 6), S. 57. 142 Molière: Le Misanthrope (wie Anm. 92), S. 1–66.

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Verhalten gelenkt würden. Der Protagonist Alceste lehnt diese Verhaltensformen jedoch im Namen der Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit ab.143 Molière ließ Alceste auf die Frage seines Gegenübers, was man schließlich tun solle, antworten: „Je veux qu’on soit sincère, et qu’en homme d’honneur/ On ne lâche aucun mot, qui ne parle du cœur“.144 Auf diese Aussage hin entbrennt in der Komödie eine Diskussion über das Spannungsfeld von Authentizität und Maskerade. Molière ließ Philinte die Kunstform der politesse verteidigend behaupten: Lorsqu’un homme vous embrasse vous vient embrasser avec joie Il faut bien le payer de la même monnoie, Répondre, comme on peut, à ses empressements, Et rendre offre pour offre, et serments pour serments.

Darauf erwidert Alceste, der Verfechter der ehrlichen politesse: Non, je ne puis souffrir cette lâche méthode Qu’affecte la plupart de vos gens à la mode; … Non, vous dis-je, on devrait châtier, sans pitié, Ce commerce honteux de semblants amitiés: Je veux qu’on soit l’homme, et qu’en toute rencontre, Le fond de notre cœur, dans nos discours, se montre; Que se soit lui qui parle, et que nos sentiments Ne se masquent jamais, sous de vains compliments.145

Philinte und Alceste diskutieren daraufhin, ob man immer sagen solle und könne, was man denke. Philinte hält dies für unmöglich und das menschliche Zusammensein zerstörend. Man müsse die menschliche Natur unterdrücken, damit sozialer Austausch in „le monde“ überhaupt möglich sei. Deshalb müssten sich Menschen auch an gewisse Spielregeln halten.146 Dass Molière das Thema aufnahm, zeugt wohl von der Virulenz desselben, deutet jedoch auch an, dass es durch die Performanz eines Theaterstückes eine große öffentliche Wirkung erhielt. Schreiber, die sich Ende des 17. Jahrhunderts über die politesse Gedanken machten, wie etwa Abbé Morvan de Bellegarde, zeichneten ein Bild der politesse als höfliche Konversationsform, die eine schwierige Übung in Selbstkontrolle darstellte. Eine solche höfliche Konversation sei der Höhepunkt jeglichen zivilisierten Zusammenlebens und sei damit – da Theoreti143 Vgl. France: Politeness (wie Anm. 6), S. 60. 144 Molière: Le Misanthrope (wie Anm. 92), S. 4. 145 Molière: Le Misanthrope (wie Anm. 92), S. 5. 146 France: Politeness (wie Anm. 6), S. 61.

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ker der politesse davon ausgingen, dass die höchste Zivilisationsform in Frankreich erreicht worden sei – eine Errungenschaft der Franzosen. Diese meisterliche Konversationsform könne jedoch auch große Anstrengungen mit sich ziehen, da alle Menschen aufgrund ihrer Selbstliebe ihr Eigeninteresse verfolgten. Nur die politesse erlaube es schließlich, mit anderen egozentrischen Menschen zusammenzuleben:147 La Politesse est un précis de toutes les Vertus Morales: C’est un assemblage de discretion, de civilité, de complaisance, de circonspection pour rendre à chacun les devoirs qu’il a droit d’éxiger. Il faut que tout cela soit revétu d’un air agréable & insinuant, qui se répande sur tout ce que l’on dit, & sur tout ce que l’on fait. Cette vertu ne consiste pas précisément dans l’exterieur & dans le dehors; il faut qu’elle ait son principe dans l’ame: c’est une suite d’un esprit bien fait, qui se possede, qui est le maître de ses sentimens & de ses paroles, qui aime à rendre justice à tout le monde; à sacrifier ses propres interêts, plûtôt que de blesser ceux des autres; qui se met au dessus des bruits du Vulgaire;148

Die politesse war nach Abbé Bellegarde damit ein Kompendium aller moralischen Tugenden, die in sich das angemessene Benehmen sowie die angenehme Erscheinung vereinigte, und die von der rechten Herzenshaltung abgeleitet war. Die politesse wohne in einem gut geformten Geist, der die eigenen Leidenschaften im Zaum halte, der seine eigenen Interessen, wenn nötig, auch opfere, der sich aber auch nicht in Kleinlichkeiten und strengen Verhaltensregeln verliere. Um das Rechte Maß der politesse zu erreichen, müsse man die Gegebenheiten und Sitten der Welt gut kennen und sich an den ihm zugedachten Platz und Rang halten und sich dementsprechend verhalten. Damit sei die politesse das Herzstück einer jeglichen „société civile“. Der Geistliche konnte sich folglich nicht mit einer rein äußerlichen Höflichkeit zufrieden geben: „Il ne faut donc pas faire un grand fonds sur cette politesse purement exterieure, qui ne consiste que dans de certaines manieres compassees, ou affectées; il faut qu’elle ait ses racines dans le cœur, & qu’elle soit fondée sur de veritables sentimens.“149 Damit die politesse wahre Tugend und Kitt einer „société civile“ sein konnte, gehörte nach Bellegarde zur politesse deshalb auch, die impolitesse zu ertragen. Denn wären alle Menschen höflich, fordere die politesse weniger zur Überwindung der menschlichen Natur heraus. Deshalb sei sie gerade für die intelligenten und feinfühligen Menschen 147 France: Politeness (wie Anm. 6), S. 61. 148 Und weiter schreibt Bellegarde: „On ne peut nier que la Politesse ne soit le plus grand charme de la societé civile: cette vertu nous apprend à compâtir aux foiblesse des uns, à supporter patiemment les caprices & les bizarreries des autres, à entrer dans leurs sentimens, pour les ramener à la raison par des voïes douces & insinuantes, en se faisant au goust de tout le monde, par un veritable desir de plaire.“ Bellegarde: Reflexions (wie Anm. 118), S. 1ff. 149 Bellegarde: Reflexions (wie Anm. 118), S. 7f.

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eine größere Herausforderung, da diese die dummen, rohen und unverschämten Menschen ertragen müssten. Ferner müsse man als höflicher Mensch auch vermeiden, über sich selbst zu reden, was jeder Mensch aber eigentlich gerne täte.150 Mit der Herausforderung der impolitesse spielte Pierre Carlet de Marivaux (1688–1763) in seiner La double Inconstance151 von 1723. Darin beschrieb er die Geschichte zweier liebender „bourgeois“, Silvia und Arlequin, die von der Zuneigung eines fiktiven Fürsten zu Silvia in ihrer Liebe herausgefordert werden. Der Fürst versucht die beiden zu trennen, um nicht nur die Hand, sondern auch das Herz Silvias zu erobern. In seinem Stück stellte Marivaux den Gegensatz des höfischen und des einfachen, bescheidenen Lebens der beiden „bourgeois“ dar. Zu Anfang des zweiten Aktes beschwert sich die in ihrer Liebe zu Arlequin herausgeforderte Silvia über den sie umgarnenden Hof, da dort niemand ihren Widerspruch gegen die Versuchungen hören wolle: C’est quelque chose d’épouvantable que ce Pays-ci! je n’ai jamais vû de femmes si civiles, des hommes si honnêtes, ce sont des maniéres si douces, tant de révérences, tant de complimens, tant de signes d’amitiés; vous diriez que ce sont les meilleurs gens du monde, qu’ils font plein du cœur & de conscience. … Ils ne m’entendent pas; ils ne sçavent ce que c’est que tout cela, c’est tout comme si je leur parlois Grec; ils me rient au nez, me disent que je fais l’enfant, qu’une grande fille doit avoir de la raison: eh cela n’est il pas joli? Ne valoir rien, tromper son prochain, lui manquer de parole, étre fourbe & mensonge; voilà le devoir des grandes personnes de ce maudit endroit-ci. Qu’est-ce que c’est que ces gens-là? d’où [sic.] sortent-ils? de [sic.] quelle pâte sont-ils?152

Die Entdeckung der geschliffenen Gesellschaft durch die Augen einer Person aus einer anderen Welt war ein geläufiger Topos in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Zumeist gab es dabei eine doppelte Bewegungsrichtung: Einerseits wurde auf satirische Art und durch unschuldige Augen die „hypocrisie“ der höfischen Welt („le monde“) betrachtet, andererseits wurde damit aber auch der höhere Wert einer echten politesse akzeptiert.153 In diesem Zusammenhang muss schließlich gefragt werden, welche Beziehung zwischen politesse und der politischen Autorität bestand: Inwiefern diente und stärkte sie die bestehende politische Macht oder strukturierte und manifestierte sie politische und soziale Hierarchien oder stellte sie diese in Frage? Peter France kommt dabei zu folgendem Urteil: Anders als die Abhandlungen über civilité bezogen sich diejenigen Schriften, die sich im ausgehenden 17. und begin150 France: Politeness (wie Anm. 6), S.6 1. 151 Marivaux, Pierre de: La double Inconstance. Comedie en trois actes. Representée pour la premiere fois par les comediens italiens du Roi le mardi 6. avril 1723. Paris 1724. 152 Marivaux: La double Inconstance (wie Anm. 151), S. 49f. 153 Siehe France: Politeness (wie Anm. 6), S. 67.

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nenden 18. Jahrhundert mit der politesse beschäftigten, ausschließlich auf Teilnehmer der adeligen Welt. Innerhalb dieser Welt, vor allem in den Salons, sollten soziale Ränge jedoch negiert werden. Unterschieden wurde vielmehr zwischen geschliffenen und ungeschliffenen Menschen: Während Höflichkeit im Sinne der civilité von allen Menschen ausgeübt werden konnte, war dies mit der politesse schwieriger. Die Rede von der politesse war also ein sprachliches Mittel der französischen adeligen Elite, die dazu dienen sollte, das bestehende Sozialgefüge zu konservieren. 154 Anders als Peter France dies herausstellte, gab es jedoch auch alternative Modelle, die die höfisch-adelige politesse der Manieren herausforderte und die inwendige politesse des Geistes propagierte, eine politesse, die sich für den Umgang zwischen Gleichen besser eignen sollte. Es handelte sich bei diesem Alternativmodell um die politesse der polis. Eine solche Auffassung der politesse findet sich insbesondere in dem einflussreichem Werk des Juristen Jean de la Bruyère (1645–1696), dessen Caractères155 als Handbuch der politesse gedeutet werden können. Zwar teilte La Bruyère einige der konventionellen Ansichten über die politesse, er betrachtete beispielsweise Frankreich als Zentrum des guten Geschmacks und der politesse, er teilte eine gewisse Akzeptanz und Forderung nach einer grundlegenden Höflichkeit, die Menschen einander in sozialen Situationen entgegenbringen sollten. Er beobachtete ebenfalls eine gewisse Hierarchie in der Nachahmung der Umgangsformen: Während die Provinz der Hauptstadt Paris nacheifere, imitiere die Stadt an der Seine den Hof und jede Instanz suche sich von seinen Nachahmer abzugrenzen: „La ville dégoute de la province; la cour détrompe de la ville, et guérit de la cour.“156 Nach Ansicht des Juristen konnte der königliche Hof jedoch nicht die grundlegenden und bedeutenden intellektuellen Bedürfnisse seiner Nachahmer stillen, denn dort begnüge man sich mit der bloßen Erscheinung.157

154 Mit Peter France lässt sich also sagen: „Nevertheless, even if hierarchy might be ignored within the salon, politeness retained its politically conservative role in establishing a clear, almost unbridgeable gap of distinction between the polite and the not polite. … The general run of writings on the question suggest that politesse, like that other ineffable quality gout, served among other things to keep people in their place.“ France: Politeness (wie Anm. 6), S. 64. 155 La Bruyère, Jean de: Les caractères ou les mœurs de ce siècle. In: Ders.: Œuvres complètes. Hrsg. von Julien Benda. Paris 1978. S. 61–478. 156 La Bruyère: Les caractères (wie Anm. 155), De la cour, Absatz 101, S. 247. Vgl. auch France: Politeness (wie Anm. 6), S. 65.  157 France: Politeness (wie Anm. 6), S. 65. 

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Avec cinq ou six termes de l’art, et rien de plus, l’on se donne pour connaisseur en musique, en tableaux, en bâtiments et en bonne chère. L’on croit avoir plus de plaisir qu’un autre à entendre, à voir et à manger; l’on impose à ses semblables, et l’on se trompe soi-même. Il y un certain nombre de phrases toutes faites que l’on prend comme dans un magasin, et dont l’on se sert pour se féliciter les uns les autres sur les événements. Bien qu’elles se disent souvent sans affection et qu’elles soient reçues sans reconnaissance, il n’est pas permis avec cela de les omettre, parce que du moins elles sont l’image de ce qu’il y a au monde de meilleur, qui est l’amitié, et que les hommes, ne pouvant guère compter les uns sur les autres pour la réalité, semblent être convenus entre eux de se contenter des apparences.158

Diese kritische Einstellung gegenüber dem königlichen Hof wird in seinem Kapitel De la cour deutlich, worin der Gelehrte den Königshof für seine oberflächlichen Höflichkeitsregeln angriff und in seiner Kritik sogar noch weiter ging als Molière in seinem Le Misanthrope: Während für Molière die höfischen und eleganten Verhaltensregeln vor allem lächerlich waren, versteckte falsche politesse für La Bruyère einen schroffen Egoismus.159 La Bruyère kehrte in der Folge das Argument des französischen Fortschrittsdenkens um, in dem er Frankreich mit barbarischen Völkern verglich. Gerade Frankreich könne mit seiner falschen politesse der Barbarei anheim fallen: „Avec un langage si pur, une si grande recherche dans nos habits, des mœurs si cultivées, de si belles lois et un visage blanc, nous sommes barbares pour quelque peuples.“160 Die in Frankreich gelebte politesse war für den Juristen zudem mit der Unterdrückung des „peuple“ verbunden. La Bruyère stellte „les grands“ und „le peuple“ einander gegenüber und verband erstere wiederum mit der die politesse und unterstrich nun: „Un homme du peuple ne saurait faire aucun mal; un grand ne veut faire aucun bien, et est capable de grands maux. … Là, se montrent ingénument la grossièreté et la franchise; ici se cache une sève maligne et corrompue sous l’écorce de la politesse.“161 Weil die Großen sich mit falscher politesse begegneten, kam La Bruyère zu dem Schluss: „Je veux être peuple.“162 Man könnte zunächst also meinen, dass La Bruyère die politesse vollständig ablehnte. Dieser Eindruck täuscht jedoch; vielmehr wollte er die politesse reformieren und eine neue, vom königlichen Hof losgelöste politesse propagieren: Ein Grund für La Bruyères kritische und oppositionelle Haltung gegenüber der höfischen Lebensart war in der Missachtung der Bildung zu suchen. Er unterschied

158 La Bruyère: Les caractères (wie Anm. 155), De la cour, Absatz 82, S. 242. 159 France: Politeness (wie Anm. 6), S. 65f. 160 La Bruyère: Les caractères (wie Anm. 155), Des jugements, Absatz 23, S.  351. Siehe auch France: Politeness (wie Anm. 6), S. 66. 161 La Bruyère: Les caractères (wie Anm. 155), Des grands, Absatz 25, S. 256. 162 La Bruyère: Les caractères (wie Anm. 155), Des grands, Absatz 25, S. 256 ; Vgl. auch France: Politeness (wie Anm. 6), S. 66.

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hier also zwischen einer oberflächlichen, banalen und unaufrichtigen Form der politesse und zwischen einer echten, aufrichten politesse des Geistes. Es ging dem Moralisten also nicht darum, eine soziale Rolle graziös und gekonnt zu spielen, sondern darum, das soziale Leben durch den Verstandes- und Vernunftsgebrauch für alle erträglich zu gestalten. Die menschliche Natur durch den Geist zu überwinden und in ein sozialverträgliches Verhalten zu verwandeln, erforderte jedoch erheblichen Einsatz und gute Vorbilder.163 In seinem Kapitel De la société et de la conversation führte La Bruyère die Definition der politesse aus und machte deutlich, dass die in Frankreich ausgeübte politesse von den Gegebenheiten, der Situation und dem Geschlecht abhängig sei. Keiner könne sie allein mit dem Geist erdenken, man müsse die Bedingungen der politesse kennen (also im entsprechenden Umfeld geboren sein), um ihr folgen zu können, es sei deshalb schwer, sich allein durch beachtliche Qualitäten und Begabungen in der politesse zu beweisen.164 Die politesse, wie sie in Frankreich gelebt werde, sei somit eine soziale und keine geistige oder moralische Qualität, die zu einer Höflichkeit der Worte, des Lobes, der Manieren degeneriert sei, „Il me semble que l’esprit de la politesse est une certaine attention à faire que, par nos paroles et par nos manières, les autres soient contents de nous et d’eux-mêmes“.165 Sie führe dazu, dass man nur noch gefallen und beeindrucken wolle. Diese Unart habe bereits unter den jungen Leuten und am Hof um sich gegriffen.166 Ein Höfling wisse dementsprechend genau, wie er sich zu bewegen, zu geben und zu verhalten habe, wie er reden und wie er anderen begegnen müsse. Dies sei jedoch nichts anderes als lasterhafte Schmeichelei und Falschheit, die Ernst und Tiefgründigkeit vermissen ließen. In seinem Kapitel De la cour unterstrich La Bruyère, dass es vielmehr ein Kompliment sei, wenn jemand als dem Hof nicht angehörig erkannt werde: Le reproche en un sens le plus honorable que l’on puisse faire à un homme, c’est de lui dire qu’il ne sait pas la cour; il n’y a sorte de vertus que l’on ne rassemble en lui par ce seul mot. Un homme qui sait la cour est maître de son geste, de ses yeux et de son visage; il est profond, impénétrable; il dissimule les mauvais offices, sourit à ses ennemis, contraint son humeur, déguise ses passions, dément son cœurs, parle, agit contre ses sentiments: tout ce grand raffinement n’est qu’un vice, que l’on appelle fausseté, quelquefois aussi inutile au courtisan pour sa fortune que la franchis, la sincérité et la vertu.167 163 France: Politeness (wie Anm. 6), S. 66. 164 La Bruyère: Les caractères (wie Anm. 155), De la société et de la conversation, Absatz 32, S. 160f. 165 La Bruyère: Les caractères (wie Anm. 155), De la société et de la conversation, Absatz 32, S. 160f. 166 La Bruyère: Les caractères (wie Anm. 155), De la société et de la conversation, Absatz 71, S. 170. 167 La Bruyère: Les caractères (wie Anm. 155), De la cour, Absatz 1 und 2, S. 215.

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Nur aus der Perspektive der Provinz, aus der Ferne also, erscheine der höfische Lebensstil als begehrenswert.168 Wenn man sich den Hof aber nähere, dann verschwänden die zuvor ersehnten Vorzüge schnell. Ein „honnête homme“ dürfe sich deshalb nur mit Vorsicht dem Hof nähern und ihn wie ein fremdes Land nur schrittweise „ertasten“: Il faut qu’un honnête homme ait tâté de la cour; il découvre, en y entrant, comme un nouveau monde qui lui était inconnu, où il voit régner également le vice et la politesse, et où tout lui est utile, le bon et la mauvais. L’on va quelquefois à la cour pour en revenir, et se fait par là respecter du noble de sa province.169

La Bruyère unterstrich hier jedoch auch, dass der Hof für die Bedeutung der eigenen Stellung wichtig sei und die Beziehung zum Hof die soziale Stellung eines Individuums definiere. Diese Machtkonzentration komme jedoch einer Versklavung des Einzelnen gleich. Die Franzosen seien somit „Affen des Königtums“: Les hommes veulent être esclaves quelque part et puiser là de quoi dominer ailleurs. Il semble que l’on livre en gros aux premiers de la cour l’air de hauteur, de fierté et de commandement, afin qu’ils le distribuent en détail dans les provinces; ils font précisément comme on leur fait, vrais singes de la royauté.170

Die Anwesenheit des Königs verändere die Höflinge derart, dass man ihr Inneres nicht mehr erkenne. Ihre Gesichtszüge seien reines Schauspiel, die Geltungssucht mache auch die stolzesten Menschen unterwürfig. Die höfische Lust zu imponieren sei so ansteckend, dass sich ihr keiner entziehen könne, sodass am Hof nur die Erscheinung nicht aber Talente und Fähigkeiten zählten.171 Auch wenn La Bruyère an seiner Kritik an den Höflingen nicht zurückhielt, so wird aus seinen Abhandlungen über Les grands und Du souverain ebenfalls deutlich, dass er weder die Monarchie noch den Monarchen kritisierte. Sein Spott galt ausschließlich den ihn umgebenden Adeligen, den imitierenden Affen, die versuchten, ihren Platz am Hof um den Preis ihrer Authentizität zu erkaufen. Während der Hofadel als oberflächliche, auf den eigenen Vorteil bedachte Schauspieler einer sozialen Rolle dargestellt werden, erschien der Souverän bei La Bruyère als Mensch, der 168 La Bruyère: Les caractères (wie Anm. 155), De la cour, Absatz 6, S. 216. 169 La Bruyère: Les caractères (wie Anm. 155), De la cour, Absatz 9, S. 216. 170 La Bruyère: Les caractères (wie Anm. 155), De la cour, Absatz 12, S. 216f. 171 „L’air de cour est contagieux. … Un homme d’un génie élevé et d’un mérite solide ne fait pas assez de cas de cette espèce de talent pour faire son capital de l’étudier et se le rendre propre. Il l’acquiert sans réflexions et il ne pense point à s’en défaire.“ La Bruyère: Les caractères (wie Anm. 155), De la cour, Absatz 14, S. 217.

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die gleichen Bedürfnisse hatte wie andere, der seine privaten Wünsche jedoch in ständiger Sorge für das Wohl seiner Untertanen für den Dienst am Vaterland aufgab.172 Damit die ansteckende Falschheit des Hofadels nicht in ganz Paris und Frankreich um sich greife, sprach sich La Bruyère nicht gegen die politesse, jedoch für eine Reform derselben aus. In seinem Kapitel Des jugements unterstrich der Schriftsteller, dass Frankreich mehr brauche als eine bloße politesse des manières. Sie müsse einer echten politesse de l’esprit weichen, die bisher von der Mehrheit der Höflinge verachtet, verlacht und unterdrückt werde: Il y a une sorte de hardiesse à soutenir devant certains esprits la honte de l’érudition; l’on trouve chez eux une prévention tout établie contre les savants, à qui ils ôtent les manières du monde, le savoir-vivre, l’esprit de société, et qu’ils renvoient ainsi dépouillés à leur cabinet et à leur livres. … s’ils osent même citer les grands noms de Condé, d’Enghien et de Conti, comme de princes qui ont su joindre aux plus belles et aux plus hautes connaissances et l’atticisme des Grecs et l’urbanité des Romains, … Il semble néanmoins que l’on devrait décider sur cela avec plus de précaution, et se donner seulement la peine de douter si le même esprit qui fait faire de si grands progrès dans des sciences raisonnables, qui fait bien penser, bien juger, bien parler et bien écrire, ne pourrait point encore servir à être poli. Il faut très peu de fonds pour la politesse dans les manières; il en faut beaucoup pour celle de l’esprit.173

In Frankreich, und wie in Ausschnitten auch für England gezeigt werden konnte, bestanden Ende des 17. Jahrhunderts und zu Beginn des 18. Jahrhunderts drei Höflichkeitskonzepte nebeneinander: Zum einen wurde mit der courtoisie/courtesy, die von Castigliones Konzept der cortegiana abgeleitete höfische Höflichkeit bezeichnet. Zum anderen wurde Ende des 17. Jahrhunderts mit civilité/cility auf eine universale, für alle sozialen Schichten geltende christliche und durch Selbstdisziplinierung eingeübte Höflichkeit verwiesen. Weil die courtoisie in der civilité mit aufgegangen war, wollte der höfische Adel zu Ende des 17. Jahrhunderts nun eine neue Höflichkeit der geschliffenen Manieren und Umgangsformen propagieren, die nur für sie gelten sollte und die nur in der höfischen Welt erlernt werden konnte: die politesse. Dieses Konzept wurde bald aber von Kritikern des Hofes, wie etwa von La Bruyère, aufgenommen und reformiert und als nicht-höfische, jedoch aristokratische Höflichkeitsform des Geistes propagiert. Wie sollte aber diese Reform erreicht werden? Dazu bedurfte es einem passenden Vorbild, das man imitieren konnte, das aber auch die Regierungsweise des Monarchen oder die französische Monarchie nicht in Frage stellte. Dieses Vorbild fand La Bruyère schließlich bei den alten Athenern. 172 La Bruyère: Les caractères (wie Anm. 155), Du Souverain, S. 269–288. 173 La Bruyère: Les caractères (wie Anm. 155), Des jugements, Absatz 18, S. 347f.

VI Athen als Reformmodell einer urbanen politesse, ca. 1680–1760 In seiner literaturwissenschaftlichen Studie Littérature et politesse1 geht Emmanuel Bury davon aus, dass Frankreich im 17. Jahrhundert für den Rest Europas das Modell der civilité war. Bury wertet dabei die Querelle des Anciens et des Modernes als Krise des Humanismus, in der Bewertungskriterien für Vorbilder neu überdacht wurden. Die Querelle habe demzufolge dazu beigetragen, dass der Geschmack, „le goût“, und die französische Redlichkeit, „l’honnêteté à la française“, unter die zivilisatorischen, auf Vervollkommnung zielenden Elemente der Geschichte gezählt wurden. Dies habe dazu geführt, dass im 17. Jahrhundert das Ideal des „honnête homme“ in fiktionalen Texten zum Modell der politesse weiterentwickelt wurde. Ausschlaggebend für diese Entwicklung sei die Verarbeitung griechischer, antiker Quellen in der französischen Literatur der Zeit, womit griechische Quellen die Bedeutung der modernen paedeia geprägt hätten.2 Gegen Ende des 17. Jahrhunderts, genauer zwischen 1680 und 1700, habe die Philosophie Platons wieder erheblich an Bedeutung gewonnen und so zur Wandlung des Diskurses über den „honnête homme“ beigetragen. Andererseits hätten sich jedoch auch die reellen Lebensbedingungen der Höflinge verändert, vor allem deshalb, weil Ludwig XIV. 1682 mit seinem gesamten Hofstaat nach Versailles umzog. Diese Veränderung habe die theoretische Diskussion über den „honnête homme“ beeinflusst, den man nun in einem neuen Kontext denken musste. Bei Autoren wie Jean de la Bruyère lasse sich diese Veränderung der Diskussion feststellen, in der, so Bury, der „honnête homme“ nun weniger in der Tradition des „cortegiano“ als in der Form eines Philosophen gesehen wurde und diesen in der griechischen Tradition als Weltbürger interpretierte.3 Nachdem unter Ludwig XIII. vor allem die römischen Tugenden nach dem ciceronischen Ideal des mos maiorum goutiert worden seien, sei die zweite Hälfte des Jahrhunderts von einem literarischen Hellenismus geprägt gewesen, der griechische ästhetische Abhandlungen (in deren Übersetzungen) sowie die Philosophie Platons rezipiert habe.4 Aber 1 Bury, Emmanuel: Littérature et Politesse. L’invention de l’honnête homme, (1580–1750). Paris 1996. 2 Bury: Littérature (wie Anm. 1), S. 6f. 3 Bury: Littérature (wie Anm. 1), S. 169. 4 In diesem Zusammenhang erhielten auch die Werke Platons eine neue Bedeutung. Der Dichter Jean de la Fontaine (1621–1695) hatte Platon bereits in seinem Vorwort zur Übersetzung der Dialoge gelobt, die François de Maucroix (1619–1708) angefertigt hatte. Andere Übersetzungen folgten. Maucroix übersetzte den Eutyphron, den Hippias und Euthydeme, siehe Maucroix, François de: Traduction des Philippiques de Demosthène, d’une des Verrines de Cicéron, avec l’Eutiphron,



VI Athen als Reformmodell einer urbanen politesse 

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nicht nur Platons Philosophie, sondern auch das griechische Theater wurde diskutiert: Im préface zu Phèdre machte Racine deutlich, weshalb er dieses schätze: „Leur Theatre estoit une Ecole où la vertu n’estoit pas moins enseignée que dans les Ecoles des Philosophes.“5 Bury zeigt in seiner Analyse, dass fast alle großen französischen Schriftsteller in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einen griechischen Autor zum Vorbild hatten: La Fontaine hatte sich Äsop ausgewählt, Racine Euripides, La Bruyère Theophrast, Fénélon schließlich Homer. Welche Idealbilder und Tugendvorstellungen standen aber tatsächlich hinter diesem von Bury konstatierten literarischen Rückgriff auf griechische Texte? Wie konnte die Tugend der politesse mit dem Rekurs auf das antike Griechenland, genauer auf das antike Athen, das Ideal des „honnête homme“ ablösen?

l’Hyppias du beau, et l’Euthidemus de Platon, des Srs de Maucroy et de La Fontaine – Ouvrage de prose et de Srs de Maucroy et de La Fontaine. 2 Bde. Amsterdam 1678. Bury nennt hier außerdem die Übersetzungen von Louis Giry, L’Apologie und Le Criton von 1643, siehe Giry, Louis: Apologie de Socrate et Criton, dialogue, ouvrages de Platon, traduits en françois. Paris 1643; die Übersetzung Platons von Tanneguy Le Fèvre, siehe: Platon: Le premier Alcibiade. Übers. von Tanneguy Le Fèvre. Saumur 1666; und diejenigen von André Dacier, siehe Dacier, André: Les œuvres de Platon traduites en françois. Avec des remarques et la vie de ce philosophe, avec l’exposition des principaux dogmes de sa philosophie. 2 Bde. Paris 1699. Siehe Bury: Littérature (wie Anm. 1), S. 171. Auch Racine hatte eine Teilübersetzung des Symposion angefertigt, die allerdings erst nach seinem Tod 1732 der Öffentlichkeit zugänglich wurde, siehe Platon: Le banquet de Platon. Traduit un tiers par feu M. Racine,... & le reste par Madame de***. Paris 1732. Dies lässt ein Interesse am platonischen Denken deutlich werden, das in Joseph Beauforts Extrait de Platon von 1698 sogar in aphoristischer Form verarbeitet wurde. Platon u. Joseph Beaufort: Extrait de Platon. Paris 1698. Siehe zu Platonismus auch die ausführliche Analyse von Neschke-Hentschke, Ada Babette: Platonisme politique et jusnaturalisme chrétien. La tradition directe et indirecte d’Augustin d’Hippone à John Locke. Louvain-la-Neuve 2003. Im Zusammenhang des Platonismus wurde vor allem Socrates als idealer Philosoph und als Grieche par excellence große Aufmerksamkeit zuteil. Siehe dazu Charpentier, François: La vie de Socrate. 2. Aufl. Paris 1657 (Erstausgabe: 1655). Fleury schrieb 1670 ebenfalls seinen Discours sur Platon, der schließlich erst 1686 mit seinem Traité du choix et de la méthode des études kurz vor dem Ausbruch der Querelle veröffentlicht wurde. Fleury, Charles: Traité du choix et de la méthode des études. Paris 1686; vgl. dazu noch einmal Bury: Littérature (wie Anm. 1), S. 171f. 5 Siehe Racine, Jean: Phèdre et Hippolyte, tragédie par M. Racine. Paris 1677, préface. Vgl. auch Bury: Littérature (wie Anm. 1), S. 174.

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1 Athen als Vorbild für Paris: Jean de la Bruyères Konzept der politesse In seinem Jugement sur les sciences où peut s’appliquer un honnête homme6 aus dem Jahre 1662 erklärte Charles de Saint-Evremond (1613–1703), dass es keine Wissenschaften gebe, „qui touchent particulierement les Honnêtes-gens, que la Morale, la Politique, & la connoissance des Belles-Lettres.“7 Saint-Evremond, der aus einer angesehenen normannischen Familie des Provinzadels stammte, war nach seiner Ausbildung am Collège de Clermont in Paris mit wichtigen Persönlichkeiten des französischen Staates vertraut: Mit dem französischen Finanzminister Nicolas Fouquet war er zusammen zur Schule gegangen, Henri II de Bourbon, dem Prince de Condé, war er durch seinen Dienst in dessen Regiment bekannt. Kardinal Mazarin begleitete er zu den französisch-spanischen Friedensverhandlungen und Ludiwg XIV. belohnte Saint-Evremond für seine militärische Tapferkeit.8 Als „homme de guerre“ verbrachte er seine Sommer zunächst im Dreißigjährigen, dann im französisch-spanischen Krieg, seine Winter verbrachte er in Paris, wo er verschiedene Pariser Salons frequentierte. Durch den Einfluss dieser Salons versuchte sich Saint-Evremond nun als Schriftsteller und veröffentliche als Antwort auf Les sentiments de l’Académie française touchant les observations faites sur la tragi-comédie du Cid,9 1638 seine Comédie des académistes pour la réforme de la langue française10. Saint-Evremonds spöttische Zunge brachte den Autor jedoch bald in Bedrängnis. 1648 musste er wegen unpassender Bemerkungen über den Grand Condé aus der Armee ausscheiden, aufgrund von Beleidigungen des Kardinals Mazarin wurde er zweimal in der Bastille inhaftiert und 1661 floh er schließlich, weil er den traité des Pyrénées kritisiert hatte, ins englische Exil, wo er 42 Jahre, bis an sein Lebensende bleiben sollte.11 Dort wurde er von den englischen Königen, von Jakob II. und Wilhelm III., protegiert, sodass er in England ein Leben im Umkreis 6 Saint-Evremond, Charles de Marguetel de Saint-Denis, seigneur de: Jugement sur les sciences, où peut s’appliquer un honnête-homme. In: Ders.: Œuvres meslées de Mr. de Saint-Evremond, publiées sur les manuscrits de l’auteur. Bd. 1. London 1705. S. 136–140. 7 Saint-Evremond: Jugement (wie Anm. 6), S. 138. 8 Siehe Barwig, Martina: Interkulturelle Vermittlung: Fallstudie über Saint-Evremond im Kontext der République des Lettres. Berlin 2002, S. 15. 9 Académie française: Les sentiments de l’Académie française touchant les observations faites sur la tragi-comédie du Cid. Paris 1678. 10 Saint-Evremond, Charles de Marguetel de Saint-Denis, seigneur de: La Comédie des académistes pour la réformation de la langue françoise, pièce comique avec le role des présentations, faites aux grands jours de ladite Académie. Paris 1650. 11 Barwig: Interkulturelle Vermittlung (wie Anm. 8), S. 16f.



1 Athen als Vorbild für Paris: Jean de la Bruyères Konzept der politesse 

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des Hofes führen konnte. Er verkehrte vornehmlich im Salon der ebenfalls aus Frankreich geflohenen Nichte des Kardinals, der Duchesse de Mazarin, was ihm ermöglichte, weiterhin am intellektuellen Leben und den literarischen Debatten seiner Zeit teilzunehmen. In seinem Heimatland wurden seine Gedanken und Veröffentlichungen gerade aufgrund seiner Distanz zu Frankreich mit Begeisterung aufgenommen. 12 Trotz seiner Zugehörigkeit zum traditionellen Adel hatte Saint-Evremond durch seine Emigration nach England die Möglichkeit, das höfische Leben in Fankreich aus der Ferne zu betrachten und auch zu kritisieren. Der Franzose widmete sich dabei insbesondere dem Thema des (guten) Geschmacks, das Mitte des 17. Jahrhunderts in Frankreich im Zuge der Rezeption des spanischen Moralisten Baltasar Gracián (1601–1658) und seines Werkes El discreto13 bedeutsam geworden war. Das Werk des Spaniers aus dem Jahre 1646 stand ganz in der Tradition der cortegiana und enthielt Überlegungen zum guten Höfling. Graciáns „discreto“ entsprach damit dem französichen „honnête homme“, der gemäß den Ausführungen des Spaniers zu gutem Geschmack („buen gusto“) befähigt war, womit die Fähigkeit gemeint war, durch ständige Selbstreflexion geschult, in verschiedenen Kontexten die richtigen Entscheidungen zu treffen.14 Die Ideen des Spaniers wurde in Frankreich vor allem im Kreis der sogenannten Moralisten rezipiert, namentlich von François de La Rochefoucauld (1613– 1680), Antoine Gombauld de Méré (1607–1684), von Dominique Bouhours (1628– 1702), von Saint-Evremond, aber auch von Jean de la Bruyère (1645–1696).15 Bei Saint-Evremond findet sich zwar keine genaue Definition des guten Geschmacks, jedoch ging er davon aus, dass Menschen, die über diesen verfügten, eine Gruppe mit homogenem Geschmacksurteil darstellten, inbesondere in Sachen der Literatur und Musik, aber auch was die Auswahl ihrer Getränke und Speisen betraf. Der Moralist teilte die Menschen damit in diejenigen ohne und diejenigen mit gutem Geschmack ein.16 An der obersten Spitze der Menschen mit „bon goût“ standen für Saint-Evremond die jeweiligen Monarchen der kulturell bedeutenden Länder Frankreich und England, also Ludwig XIV. und Wilhelm III. Die „multitude“ folge 12 Vgl. Barwig: Interkulturelle Vermittlung (wie Anm. 8), S. 17f. 13 Gracián, Baltasar: El discreto. Hrsg. von Aurora Egido. Zaragoza 2001. 14 Barwig: Interkulturelle Vermittlung (wie Anm. 8), S. 117f. 15 In Rochefoucaulds postum veröffentlichten Überlegungen zu „Le goût“ tauchte Graciáns Konzept zum ersten Mal in der französischen Literatur auf. Dabei deutete sich bereits die Problematik einer Definition des „bon goût“ an, der bei Rochefoucauld als instinkthafter Richter über das Schöne, „le juge de la beauté“, erschien. Auch in den Werken Saint-Evremonds war der gute Geschmack von zentraler Bedeutung. Siehe Barwig: Interkulturelle Vermittlung (wie Anm. 8), S. 117ff. 16 Barwig: Interkulturelle Vermittlung (wie Anm. 8), S. 120.

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 VI Athen als Reformmodell einer urbanen politesse

dagegen allem, was neu und in Mode sei. Dies zeuge jedoch nicht von gutem, sondern von schlechtem Geschmack.17 „Le bon goût“ war für den Moralisten also zunächst eine höfische Tugend. Dennoch waren für ihn nicht alle Höflinge mit einem guten Geschmack ausgestattet noch sprach Saint-Evremond an irgendeiner Stelle von einem angeborenen Sinn für diesen. Die Fähigkeit zum guten Geschmack war für ihn zwar in der menschlichen Natur angelegt, müsse jedoch, um zur vollen Entfaltung zu gelangen, kultiviert und geschult werden, am besten durch den Umgang mit Menschen, die selbst über guten Geschmack verfügten.18 Dementsprechend konnten auch Menschen nicht-adeliger Herkunft durch den Umgang mit „le monde“ guten Geschmack erlangen. Dass letzterer eine soziale Komponente enthielt, zeigt ferner die Bedeutung, die Saint-Evremond der Konversation zumaß: Sie stand für den Franzosen im Zentrum der Geschmacksausbildung. Sein Konzept des „bon goût“ war damit zwar einerseits ein aristokratisches, war jedoch gleichzeitig auch für Menschen geöffnet, die es sich leisten konnten, eine gute Erziehung zu erhalten, in die Oper oder ins Theater zu gehen, zu lesen und gute Konversation zu betreiben. Guter Geschmack war damit nicht zwangsweise Attribut des Höflings, sondern konnte auch von den aufstrebenden Neuadeligen, der „noblesse de robe“, erworben werden.19 Obwohl guter Geschmack gerade in „le monde“ zu finden war, sollten diejenigen, die ihr Geschmacksurteil ausbilden wollten, ihren Blick dennoch nicht auf die französischen Höflinge, sondern auf die antiken Griechen richten: In Bezug auf die Moral, die Politik und das Studium der Literatur führte Saint-Evremond an, dass sich die Alten dieser drei Themen besonders sorgsam gewidmet hatten. Jeder wisse zudem, dass Griechenland darin am erfolgreichsten gewesen sei und deshalb die größten Philosophen und die besten Gesetzgeber hervorgebracht habe. Alle nachfolgenden Generationen hätten demnach von Griechenland die politesse erlernt: „Les gens de qualité chez les Anciens, avoient un soin particulier de s’instruire de toutes ces choses. Chacun sait que la Grece a donné au Monde les plus grands Philosophes, & les plus grands Législateurs; & on ne sauroit nier que les autres Nations n’ayent tiré d’elle toute la Politesse qu’elles ont euë.“20 Jean de la Bruyère führte die Verbindung von Geschmack, politesse und antiken, griechischen Vorbildern noch genauer aus als dies Saint-Evremond tat:

17 Saint-Evremond, Charles de Marguetel de Saint-Denis, seigneur de: Observations sur le gôut et le discernement des François. In: Ders.: Œuvres meslées de Mr. de Saint-Evremond, publiées sur les manuscrits de l’auteur. Bd. 3. Amsterdam 1706. S. 230–238, hier S. 233. Der Text wurde verschiedentlich auf 1660 oder 1684 datiert. 18 Barwig: Interkulturelle Vermittlung (wie Anm. 8), S. 120f. 19 Barwig: Interkulturelle Vermittlung (wie Anm. 8), S. 121. 20 Barwig: Interkulturelle Vermittlung (wie Anm. 8), S. 139.



1 Athen als Vorbild für Paris: Jean de la Bruyères Konzept der politesse 

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In seinen Les caractères de Théophraste traduits du grec avec les caractères ou les mœurs de ce siècle21 übersetzte der französische Schriftsteller und Jurist La Bruyère nicht nur die Charaktere des griechischen Aristoteles-Schülers aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert, sondern fügte ihnen auch eigene Beobachtungen seiner Zeitgenossen an.22 Dabei folgte er der theophrastischen Methode: Er wollte menschliche Qualitäten und Eitelkeiten aufdecken und so eine Charakteristik der eigenen Zeit erstellen, um schließlich die zeitgenössischen Manieren und Lebensart zu reformieren. In seinem Werk, das 1688 veröffentlicht wurde, zeigte La Bruyère also das Bestreben, sich sowohl mit der Vergangenheit und ihren Erkenntnissen als auch mit den Eigenheiten der eigenen Zeit zu beschäftigen.23 Wie ein Zuschauer eines Theaterstückes des Lebens, der „comédie humaine“, beobachtete er die Menschen der Vergangenheit und der Gegenwart, deren Handlungen er als performativen Akt auffasste.24 Dabei kritisierte er diejenigen, die nur die Vergangenheit oder Gegenwart betrachteten, nicht aber beides miteinander zu verbinden wussten. Er beklagte vor allem, dass gerade die Menschen am Hof zwar geistreich („beaucoup d’esprit“), aber ohne Gelehrtheit („érudition“) seien und sich nur dafür interessierten, was um sie herum geschehe, aber nicht das geringste Interesse an Dingen zeigten, die ihnen fern waren – weder für die vergangene Geschichte noch für Menschen außerhalb des Hofes.25 In diesem Zusammenhang unterstrich La Bruyère, dass die Menschen am Hof und die Städter die Gepflogenheiten der jeweils anderen nicht kannten und Fremde füreinander seien: La cour on ne connaît pas la ville, ou par le mépris qu’elle a pour elle néglige d’en relever le ridicule, et n’est point frappée des images qu’il peut fournir; et si au contraire l’on peint la cour, comme c’est toujours avec les ménagements qui lui sont dus, la ville ne tire pas de cette ébauche de quoi remplir sa curiosité, et se faire un juste idée d’un pays où il faut même avoir vécu pour le connaître.26

21 La Bruyère, Jean de: Les caractères de Théophraste traduits du grec avec les caractères ou les mœurs de ce siècle. In: Œuvres complètes. Hrsg. von Julien Benda. Paris 1978. S. 1–500. 22 Siehe zur Tradition der Cacractères und der ihr immanenten Anthropologie Delft, Louis van: Littérature et anthropologie. Nature humaine et caractère à l’âge classique. Paris 1993. 23 La Bruyère, Jean de: Discours sur Théophraste. In: Œuvres complètes (wie Anm 21), S. 3–18, hier S. 5. 24 Michel Guggenheim formulierte das 1966 folgendermaßen: „… elle [la comédie humaine – Anm. der Verf.] revient comme un leitmotiv tout au long des Caractères. L’homme y est dépeint comme un être se donnant sans cesse en représentation à autrui, attaché à se faire voir et se délectant du plaisir d’être regardé – à moins qu’il ne soit lui-même un spectateur observant avec fascination la comédie que lui présentent les autres.“ Siehe Guggenheim, Michel: L’homme sous le regard d’autrui ou le monde de la Bruyère. In: PMLA 81/7 (Dez. 1966). S. 535–539, hier S. 535. 25 Siehe zu dieser Kritik Kapitel V.3 dieser Arbeit. 26 La Bruyère: Discours (wie Anm. 23), S. 4.

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 VI Athen als Reformmodell einer urbanen politesse

Nach Ansicht des Moralisten waren Hof und Stadt im Frankreich unter Ludwig XIV. zwei voneinander getrennte Lebenswelten, die er mit scharfsinniger Beobachtung und Beschreibung einander näher bringen wollte. Um dies zu erreichen, folgte er dem Vorbild Theophrasts, dessen Analyse der Charaktere der Athener für ihn ein Meisterwerk der Beobachtungskunst war. Von keinem Werk könne man besser vom Geschmack der Athener und von der Eleganz der Griechen lernen als von Theophrast: „En effet, il a toujours été élu comme un chef-d’œuvre dans son genre: il ne se voit rien où le goût attique se fasse mieux remarquer et où l’élégance grecque éclate davantage; on l’a appelé un livre d’or.“27 Der Franzose bekundete damit bereits zu Beginn seiner Ausführungen sein Interesse an der Lebensart der antiken Athener: Was wollte er aber von ihnen lernen, was kritisierte der Gelehrte mit Hilfe Theophrasts’ Beschreibungen der Athener? La Bruyère lud seine Leser zu einem Gedankenspiel ein: Eines Tages würden nachfolgende Generationen, wenn die nun Lebenden selbst die Alten seien, auf Frankreich unter Ludwig XIV. schauen. Was würden die Nachfolgenden sehen, was würden sie, so stelle man sich vor, loben oder kritisieren? La Bruyère kam zu konkreten Schlussfolgerungen, die vor allem die französische Praxis der Ämtervergabe betraf: „Nous, qui sommes si modernes, serons anciens dans quelques siècles: alors l’histoire de nôtre fera goûter à la postérité la vénalité des charges, c’est-à-dire le pouvoir de protéger l’innocence, de punir le crime, et de faire justice à tout le monde, acheté à deniers comptants comme une métairie.“28 Der Autor befürwortete an dieser Stelle die Käuflichkeit der Ämter und bezeichnete diese Praxis als Möglichkeit, die Unschuld zu beschützen, das Verbrechen zu ahnden sowie Gerechtigkeit zu üben. Ämter sollten La Bruyère zufolge nicht ausschließlich vom Geburtsrecht abhängen. Er implizierte hier, dass deren ausschließliche Erblichkeit Ungerechtigkeiten und Verbrechen mit sich führe. Dies entsprach La Bruyères eigener Lebenswirklichkeit: Als Jurist bürgerlicher Herkunft hatte er es 1673 geschafft, nachdem er von einem reichen Onkel beerbt wurde, ein Amt in der Finanzverwaltung von Caen zu kaufen und damit einen Adelstitel zu erhalten. Durch Kontakte zu Jean-Bénigne Bossuet (1627–1704) wurde er Tutor des Duc de Bourbon, des Enkelsohns des Prince de Condé, und lebte nun in Paris, rue des Grands Augustins. Im Rahmen dieser Erziehungsaufgabe folgte der Tutor seinem Schüler wenn dieser sich am Hof in Versailles aufhielt, um ihn in Philosophie, Geschichte und Literatur zu unterrichten. Als sein Zögling im Januar 1686 nach dem Tod des Grand Condé, Duc d’Enghien wurde und seine Studienjahre deshalb vorzeitig beenden musste, band La Bruyère sich endgültig an das Haus Bourbon und wurde fortan als gentilhomme ordinaire de M. le 27 La Bruyère: Discours (wie Anm. 23), S. 6. 28 La Bruyère: Discours (wie Anm. 23), S. 11.



1 Athen als Vorbild für Paris: Jean de la Bruyères Konzept der politesse 

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Duc bezeichnet. Im Dezember des selben Jahres verkaufte er jedoch sein Amt als Schatzmeister in Caen wieder und wurde schließlich im Mai 1693, nach einigem Widerstand der Modernen, insbesondere von Fontenelle und von Seiten der Mitglieder der Gazette Mercure Galant, Mitglied der Académie française. 29 Während er der Praxis des Ämterverkaufs ein positives Urteil der nachkommenden Generationen bescheinigte, vermutete er jedoch deren Kritik an anderen zeitgenössischen Praktiken. Die zukünftigen Generationen würden, so imaginierte La Bruyère, allem voran das fehlende öffentliche Leben in Frankreich bemängeln. Sie würden erfahren, dass sich die Menschen nur im Innern ihrer Häusern aufhielten und ihre Mitbürger nicht kannten, noch miteinander vertraut waren: L’on entendra parler d’une capitale d’un grand royaume, où il n’y avait ni places publiques, ni bains, ni fontaines, ni amphithéâtre, ni galeries, ni portiques, ni promenoirs, qui était pourtant une ville merveilleuse. L’on dira que tout le cours de la vie s’y passait presque à sortir de sa maison pour aller se renfermer dans celle d’un autre; … L’on saura que le peuple ne paraissait dans la ville que pour y passer avec précipitation: nul entretien, nulle familiarité;30

Das Paris, das der Schriftsteller kannte, war im Begriff sich grundlegend zu verändern. Jean-Baptiste Colbert, der seit 1664 surintendant des bâtiments war, verfolgte das Ziel, die Pariser Prestigebauwerke in neuem Glanz erscheinen zu lassen. Er vollendete die Arbeiten an den Tuilerien, schloss den Hof des Louvre mit einem orientalischen Flügel zu einem Carré, das nun zum Säulengang des Collège des Quatre-Nations wies. Die Champs-Elysées erhielten ebenfalls ihren heutigen Kreisel.31 Obwohl, oder möglicherweise gerade weil Paris prunkvoll umgebaut und verbessert wurde, kritisierte La Bruyère hier, dass es in der französischen Hauptstadt, obwohl Zentrum eines Königreiches, das so gut wie kein 29 Siehe dazu bspw. das Urteil von Michel Guggenheim: „Pour la Rochefoucauld, La Bruyère et Saint-Simon, la littérature semble avoir été dans une large mesure une compensation, voire même une manière de se venger d’une fortune séculière décevante. Lucides et désabusés, ces moralistes se plaisent à observer de loin et sans aucune indulgence les échantillons humains qui se pavent autour d’eux.“ Siehe Guggenheim: L’homme (wie Anm. 24), S.  535; Bourguinat, Elisabeth [u.a.] (Hg.): Les parisiens de la Bruyère. Paris 1996 (Bibliothèque historique de la Ville de Paris), S. 9f. Zu Biographie und Werk La Bruyères siehe auch Bertrand, Dominique: Les caractères de la Bruyère. Paris 2002. Für die weitere Lektüre siehe auch Ricord, Marine: „Les caractères“ de la Bruyère ou les exercices de l’esprit. Paris 2000; Badiou-Monferran, Claire: Les Conjonctions de Coordination ou „l’art de lier ses pensées“ chez La Bruyère. Paris 2000; Delft, Louis van: Les spectateurs de la vie. Généalogie du regard moraliste. Quebec 2005. 30 La Bruyère: Discours (wie Anm. 23), S. 11f. 31 Zur weiteren Stadtentwicklung und Veränderung siehe Bourguinat: Les parisiens (wie Anm. 29), S. 12.

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 VI Athen als Reformmodell einer urbanen politesse

anderes regiert werde, keine öffentliche Plätze, keine Bäder, keine Brunnen, kein Amphitheater, keine Galerien, keine Säulenhalle oder Wandelgänge gebe. Es existierten in Paris keine öffentlichen Plätze, wo sich die Einwohner aufhalten konnten, um miteinander in Kontakt zu treten. Im Gegenteil, in Paris finde jede Art menschlichen Austausches im Geheimen, im Schutz der privaten Häuser statt. Hier verwies La Bruyère möglicherweise auf die Praxis der Salons, die aus einer exklusiven Gruppe bestanden und von Frauen, den „salonnières“, geleitetet wurden, die per Einladung darüber entscheiden konnten, ob man Mitglied der elitären Gruppe sein durfte. Ferner seien die Pariser, so kritisierte der Moralist weiter, einander selbst in Friedenszeiten feindselig. Könnte man nachkommenden Generationen nicht ein besseres Bild der eigenen Zeit vermitteln? Welches Mittel sollte helfen, die eigene Lebensart zu verbessern?32 La Bruyère blickte nicht nur in die Zukunft, um den Charakter der eigenen Zeit zu entlarven, sondern auch in die Vergangenheit, genauer nach Athen, das für ihn ähnlich wie Paris die bedeutendste Stadt seiner Zeit war. Im Vergleich der Lebensgewohnheiten, der Manieren und des Sozialverhaltens schnitten Paris und die Pariser gegen die Bürger des antiken Athens jedoch schlecht ab. Die Einfachheit der alten Athener sei der politesse der Pariser weit überlegen: Alors ni ce que nous appelons la politesse de nos mœurs, ni la bienséance de nos coutumes, ni notre faste, ni notre magnificence ne nous préviendront pas davantage contre la vie simple des Athéniens que contre celle des premiers hommes, grands par eux-mêmes, et indépendamment de mille chose extérieures qui ont été depuis inventées pour suppléer peut-être à cette véritable grandeur qui n’est plus.33

Die athenische Einfachheit übertreffe die geschliffenen Manieren und den Anstand der Pariser. Der Moralist zeichnete ein Bild von den vergangenen Zeiten Athens, in dem selbst die Natur in einem Zustand der Reinheit gewesen sei. Auch die Manieren und der Umgang miteinander waren in seiner Lesart von Luxus und Eitelkeiten noch unberührt. Ferner ernährten sich die Menschen von ihrer Hände Arbeit und nicht mittels Ämter und Pensionen. Ihre Lebensweise sei natürlich, die Kleidung einfach, das Familienleben friedlich gewesen. Das Bild, das Athen versprach stand für den Moralisten damit in einem eklatanten Gegensatz zu seinen Beobachtungen der eigenen Zeit.34 Trotz aller Bewunderung war sich La Bruyère des zeitlichen wie räumlichen Abstands zu den Athenern der Antike gewahr. Doch gerade diese Distanz ermögliche es, das vergangene Leben zu bewundern: „l’éloignement des temps 32 La Bruyère: Discours (wie Anm. 23), S. 11f. 33 La Bruyère: Discours (wie Anm. 23), S. 12. 34 La Bruyère: Discours (wie Anm. 23), S. 12f.



1 Athen als Vorbild für Paris: Jean de la Bruyères Konzept der politesse 

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nous les fait goûter, ainsi que la distance des lieux nous fait recevoir tout ce que les diverses relations ou les livres de voyages nous apprennent des pays lointains et des nations étrangères.“35 Die Geschichte der alten Athener zeuge von anderen Gepflogenheiten der Ernährung, des gemeinsamen Zusammenlebens, von anderen Sitten, sich zu kleiden, Krieg zu führen und von vielen anderen Unterschieden. Doch trotz dieser Divergenzen, die durch die zeitliche und räumliche Distanz zu erklären seien, könnten sich die Franzosen in den Beschreibungen Theophrasts wiedererkennen. Denn die Menschen hätten sich in ihrem Herzen und in ihren Leidenschaften nicht grundlegend verändert. Gerade deshalb könne man auch – ganz nach ciceronischem Ideal – von der Geschichte lernen und die guten Beispiele zum Vorbild nehmen.36 Nach diesen Vorbemerkungen, in denen La Bruyère die Bedeutung und den Lehrgehalt der antiken Geschichte verdeutlichte, kam er nun zum Kern dessen, was er mit der Übersetzung von Theophrasts Caractères nun vermitteln wollte. Nachdem er dargestellt hatte, dass die Franzosen dringend einer Reform der eigenen Manieren, der politesse des mœurs bedurften,37 bot der Schriftsteller ein Modell dieser politesse des Geistes an: Athen und die Athener. Diese hätten das Leben in Einfachheit und Öffentlichkeit geführt, das er sich auch für Paris wünschte. La Bruyère beschrieb die Athener und ihr Leben in der Öffentlichkeit, das die Stadt an der Seine vermissen ließ, folgendermaßen: Il est vrai, Athènes était libre, c’était le centre d’une république, ses citoyens étaient égaux, ils ne rougissaient point l’un de l’autre; ils marchaient presque seuls et à pied dans une ville propre, paisible et spacieuse, entraient dans les boutiques et dans les marchés, achetaient eux-mêmes les choses nécessaires.38

Athen bot sich für Paris als Modell an: Es war genau wie die französische Hauptstadt Zentrum des Gemeinwesens. Es unterschied sich jedoch von Paris darin, dass seine Bürger gleich waren und sich nicht aus Standesdünkeln zierten, sich in einer Stadt aufzuhalten, die Raum für ein in der Öffentlichkeit und Gemeinsamkeit geführtes Leben bot. In Athen konnten die Bürger auch selbst in die Boutiquen oder auf die Märkte gehen und das für das Leben notwendige erwerben. Der Schriftsteller machte hier deutlich: Die Menschen in Athen genierten sich 35 La Bruyère: Discours (wie Anm. 23), S. 13. 36 „En effet, les hommes n’ont point changé selon le cœur et selon les passions; ils sont encore tels qu’ils étaient alors et qu’ils sont marqués dans Théophraste, vains, dissimulés, flatteurs, intéressés, effrontés, importuns, défiants, médisants, querelleux, superstitieux.“ La Bruyère: Discours (wie Anm. 23), S. 13. 37 Siehe dazu auch Kapitel V.3 dieser Arbeit. 38 La Bruyère: Discours (wie Anm. 23), S. 13f.

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 VI Athen als Reformmodell einer urbanen politesse

nicht, Geld zu besitzen und mit ihm zu handeln. In Frankreich dagegen war der persönliche Umgang mit Geld vor allem ein Zeichen für die neu aufstrebende „noblesse de robe“, die vom traditionellen Adel, der mit der prunkvollen Selbstdarstellung der Emporkömmlinge oft nicht konkurrieren konnte, als unehrenhaft und unmoralisch denunziert wurde.39 La Bruyère wehrte sich hier implizit gegen den altadeligen Vorwurf, dass man mit Geld nicht handle. Der Umgang mit Geld war für den Moralisten nicht notwendigerweise Ausdruck von Luxus oder moralischem Verfall, sondern war für ihn ein zum Leben notwendiges Mittel. Der Moralist beschrieb anhand Athen außerdem ein Zusammenleben, das nicht durch von sozialen Rängen distinguierten Höflichkeitsformeln geprägt war, sondern eines, das ermöglichte, dass sich jeder gleich begegnen konnte, ohne sich durch standesgemäße Höflichkeitsformeln anderen unterordnen zu müssen („ils ne rougissaient point l’un de l’autre“). La Bryuère wandte sich also gegen die traditionelle Definition des französischen Adels: Neben dem unerinnerbaren Alter der „lignage“ oder des Hauses war Nobilität durch einen gewissen Lebenswandel bestimmt. Damit war Adel vor allem eine soziale Anerkennung. Ein Adeliger verlor diese Qualität, wenn er sich mit niederen Geschäften einließ, wozu vor allem Handwerk und Handel und damit auch der Umgang mit Geld gezählt wurden.40 Die Athener hatten in La Bruyères Vorstellung dagegen das einfache, natürliche, unprätentiöse Leben gelebt, das er sich auch für Paris wünschte. Dass dies möglich war, erklärte er sich durch die Abwesenheit eines Königshofes, 39 Dies zeigen beispielsweise die Ausführungen des Abbé Jean-Baptiste Morvan de Bellegarde (1648–1734). In seinen Reflexions sur le ridicule deklamierte dieser die Versuche der neuen „noblesse“, mit Pomp und Luxus die fehlende Adelstradition zu überspielen, als Verkleidung der „bourgeoisie“. Er erachtete diese Mittel als lächerlich, des guten Stils sowie guter Erziehung ermangelnd. Für seine Ausführungen nutzte der Abbé immer wieder konkrete Beispiele von Personen, die sich außerhalb des üblichen Protokolls bewegten. Bspw. Ariste, mit dem Bellegarde vermutlich auf das Werk L’excuse à Ariste des Schriftstellers und Theaterautors Pierre Corneille verwies, der als Mann nicht-adeliger Herkunft zwei Richterämter erkauft hatte. Der Geistliche führte aus: „La folie d’Ariste est de vouloir passer pour un homme de qualité: ce n’est qu’un Bourgeois revêtu: il est riche, il est magnifiquement logé, il donne souvent à manger à des personnes de haute naissance, qui se moquent de lui, qui empruntent son argent, & qui ont la complaisance de lui entendre dire vingt fois le jour, qu’il est noble, & que ses ayeux ont fait la guerre sous les Rois de la seconde Race: il l’a tant dit de foit qu’il le croit enfin: il a même trouvé des dupes, qui le croïent aussi.“ Siehe Bellegarde: Reflexions (wie Anm. 118), S. 211. Hier machte der Abbé deutlich, dass Aristes Benehmen unangemessen sei. Seine Versuche, durch eine opulente Lebensart bei der traditionellen „noblesse“ Eindruck zu machen, seien zum Scheitern verurteilt, denn er bemerke gar nicht, wie man sich über ihn lustig mache. Seine beständige Bestätigung des Alters und der Würde seiner Herkunft seien ebenso unglaubwürdig. Dagegen sei die traditionelle „noblesse“ durch die Tugend ihrer Vorfahren geadelt, deren Vorbild der althergebrachte Adel Frankreichs stets folgen solle. Bellegarde: Reflexions (wie Anm. 118), S. 212. 40 Vgl. Bély, Lucien: La France moderne, 1498–1789. Paris 1990, S. 62f.



1 Athen als Vorbild für Paris: Jean de la Bruyères Konzept der politesse 

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„l’émulation d’une cour ne faisait point sortir d’une vie commune.“41 Der Schriftsteller bürgerlicher Herkunft zielte hier – wie dies bereits die Kritik an den Höflinge deutlich machte42 – keineswegs darauf ab, die Monarchie zu beklagen, sondern kritisierte das Verhalten der Höflinge und derjenigen, die ihre Stellung am Hof sichern wollten und forderte, dass nicht die Nähe zum Hof das gesamte soziale und öffentliche Leben strukturieren und hierarchisieren und durch schwer überwindbare soziale Grenzen beschränken sollte. Hier zeigt sich die zunehmende Konkurrenz zwischen Paris und Versailles seitdem Ludwig XIV. und sein Hofstaat 1682 das neue Schloss bezogen hatten. La Bruyère missfiel die Abhängigkeit der Pariser vom Hof – nicht nur die Höflinge wurden von ihm als Affen bezeichnet, sondern auch die Pariser: „Paris pour l’ordinaire le singe de la Cour, ne sait pas toujours la contrefaire.“43 Seinen Observationsposten bezog der Schriftsteller deshalb in der Stadt und nicht in Versailles, denn gerade diese war für ihn die Bühne des Maskentheaters der Menschen, weil man sich aufgrund der Durchmischung aller sozialen Gruppen hier von den anderen abzugrenzen suchte: In der Stadt traf der traditionelle und der neuaufstrebende Adel aufeinander, begegnete sich der Klerus und das einfache Volk. Dank seiner Stellung im Hause Bourbon konnte La Bruyère aber auch „les grands“ der Gesellschaft beobachten, die nach Meinung des Schriftstellers nichts anderes kannten als das, was ihrem eigenen Vorteil dienlich war.44 Der Schriftsteller bürgerlicher Herkunft arbeitete anhand Theophrasts Charaktere eine regelrechte Sozialkritik der Franzosen heraus. Im Gegensatz zu „les grands“, die keine für das Zusammenleben wichtigen und keine lebensnahen Kenntnisse hätten, verfügten die „citoyens“ über jenes Wissen: … des citoyens s’instruisent du dedans et du dehors du royaume, étudient le gouvernement, deviennent fins et politiques, savent le fort et la faible de tout un Etat, songent à se mieux placer, se placent, s’élèvent, deviennent puissants, soulagent le prince d’une partie des soins publics; les Grands qui les dédaignaient les révèrent, heureux s’ils deviennent leurs gendres.45

Die „citoyens“ hielten für den Moralisten das Königreich mit ihrem lebenspraktischen Wissen und ihrer Weisheit in Dingen der Politik zusammen und nicht etwa

41 La Bruyère: Discours (wie Anm. 23), S. 14. 42 Siehe Kapitel V.3 dieser Arbeit. 43 La Bruyère: Les caractères (wie Anm. 21), De la ville, Absatz 15, S. 210. 44 La Bruyère: Les caractères (wie Anm. 21), Des grands, Absatz 24, S. 255. Vgl. auch Bourguinat: Les parisiens (wie Anm. 29), S.16. 45 La Bruyère: Les caractères (wie Anm. 21), Des grands, Absatz 24, S. 255. Vgl. auch Bourguinat: Les parisiens (wie Anm. 29), S.16.

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 VI Athen als Reformmodell einer urbanen politesse

die traditionelle Elite, die sich nur dem Schein der Masken hingebe. La Bruyère machte hier noch einmal deutlich: Ämterkauf war nicht verwerflich, weil die neue Elite, die ihre Wurzeln im Bürgertum hatte, die für das Wohlergehen des gesamten Königreichs notwendigen Leistungen erbringe. Sie besitze schließlich auch die notwendigen Kenntnisse, namentlich „esprit“ und „érudition“. Für La Bruyère war die höchste Form der Urbanität mit „esprit“ verbunden. Die Passage, in der er erklärte „il faut très peu de fonds pour la politesse dans les manières; il en faut beaucoup pour celle de l’esprit“46 folgte auf eine Abwehr des Vorurteils, dass gelehrte Männer keine soziale Anmut noch Grazie hätten. Der Franzose ging in seiner Verteidigung der Gelehrten noch einen Schritt weiter: Für ihn war die politesse sogar eine Folge von Gelehrtheit. Die Verfeinerung, die Geschliffenheit, kurz die Höflichkeit einer zivilisierten Gemeinschaft hing für ihn von der Fähigkeit zum ästhetischen Geschmackurteil ab; für letzteres sei wiederum eine gute Bildung in Rhetorik, Philosophie und Kunst unabdinglich: „Il y a dans l’art un point de perfection, comme de bonté ou de maturité dans la nature. Celui qui le sent et qui l’aime a le goût parfait; celui qui ne le sent pas, et qui aime en deça ou delà, a le goût défectueux.“47 Die höchste Form der Perfektion erlange man schließlich durch Poesie und Musik sowie durch die bildenden und rhetorischen Künste.48 Die in Versailles und Paris vorherrschende, den guten Schein wahrende und vortäuschende politesse sei damit durch das Studium der Literatur, der Kunst sowie durch das Einüben des Geschmackurteils zu reformieren. Wer konnte für den guten Geschmack besseres Vorbild sein als die in Kunst und Kultur so erfolgreichen Athener? La Bruyère beschäftigte sich folglich ausführlich mit dem Leben in Athen und beschrieb es wie folgt: … ils passaient une partie de leur vie dans les places, dans les temples, aux amphithéâtres, sur un port, sous des portiques, et au milieu d’une ville dont ils étaient également les maîtres. Là le peuple s’assemblait pour délibérer des ailleurs; ici il s’entretenait avec les étrangers; ailleurs les philosophes tantôt enseignaient leur doctrine, tout à la fois la scène des plaisirs et des affaires; il y avait dans ces mœurs quelque chose de simple et de populaire, et qui ressemble peu au nôtres, je l’avoue.49

46 La Bruyère: Les caractères (wie Anm. 21), Des jugements, Absatz 18, S. 348. 47 La Bruyère: Les caractères (wie Anm. 21), Des ouvrages de l’esprit, Absatz 10, S. 67. Siehe auch Mourgues, Odette de: Two French Moralists. La Rochefoucauld & La Bruyère. Cambridge [u.a.] 1978, S. 168. 48 La Bruyère: Les caractères (wie Anm. 21), Des ouvrages de l’esprit, Absatz 7, S.  66; sowie Mourgues: Two French Moralists (wie Anm. 47), S. 168. 49 La Bruyère, Discours (wie Anm. 23), S. 14.



1 Athen als Vorbild für Paris: Jean de la Bruyères Konzept der politesse 

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Die Lebensart der Athener habe dazu eingeladen, ein gemeinsames Leben in Einfachheit und in der Öffentlichkeit zu führen. Die Athener hätten nicht den Großteil ihres Lebens in exklusiven und verschlossenen Räumen verbracht, sondern in ihrer Stadt, in den Tempeln, am Hafen oder im Amphitheater. Dort hätten sich die Athener inmitten ihrer Stadt, in der sie alle gleichermaßen Herren waren, versammelt. Was machten die Athener mit der gemeinsamen Zeit? Sie hätten voneinander gelernt, seien miteinander ins Gespräch gekommen, hätten gar Ausländer kennengelernt, den Vorträgen ihrer Philosophen gelauscht, denen aufgrund der Öffentlichkeit des Lehrortes alle Athener, gleich welcher Herkunft, hatten zuhören können. Sie hätten an diesen öffentlichen Plätzen sowohl Privates, Vergnügliches, aber auch ihre professionellen Geschäfte besprochen. Wie wenig ähnelte dieses Leben demjenigen in Paris, wo das städtische Leben noch immer neben dem höfischen und dem privaten verblasse. Die athenische Einfachheit war für den Autor nicht nur vereinbar mit der wahren politesse, sie war sogar wichtigster Bestandteil derselben. Gerade die Komponente der Einfachheit ließ die politesse nach athenischem Vorbild kein Maskenspiel sein, sondern ermöglichte eine Art der Höflichkeit, die nicht von Luxus und Eitelkeiten korrumpiert würde. Die Einfachheit der Sitten und des Umgangs miteinander war für La Bruyère also mit der Geschliffenheit des Geistes kompatibel, sogar mit ihr verbunden. Der Schriftsteller bewunderte Athen deshalb für sein einfaches, öffentliches Leben. Im Gegensatz dazu inkarnierte für ihn das imperiale Rom Korruptheit, Luxus und Pomp. La Bruyère kontrastierte in der Folge das ausschweifende Leben in Rom mit der einfachen Lebensart, die es einstmals auch in Frankreich gegeben habe. Dabei beklagte der den Rom ähnlichen Pomp der zeitgenössischen aufstrebenden „bourgeoisie“:50 Les empereurs n’ont jamais triomphé à Rome si mollement, si commodément, ni si sûrement même contre le vent, la pluie, la poudre et le soleil, que le bourgeois sait à Paris se faire mener par toute la ville: quelle distance de cet usage à la mule de leurs ancêtres! Ils ne savaient point encore se priver du nécessaire pour avoir le superflu, ni préférer le faste aux choses utiles. On ne les voyait point s’éclairer avec des bougies, et se chauffer à un petit feu: la cire était pour l’autel et pour le Louvre. Ils ne sortaient point d’un mauvais dîner pour monter dans leur carrosse; ils se persuadaient que l’homme avait des jambes pour marcher, et ils marchaient. … On n’avait pas encore imaginé d’atteler deux hommes à une litière; il y avait même plusieurs magistrats qui allaient à pied à la Chambre ou aux Enquêtes, d’aussi bonne grâce qu’Auguste autrefois allait de son pied au Capitole.51

50 Siehe dazu auch Berk, Philip R.: De la ville xxii: La Bruyère and the Golden Age. In: The French Review 47/6 (Mai 1974). S.  1072–1080; sowie Bourguinat: Les parisiens (wie Anm. 29), S. 22ff. 51 La Bruyère: Les caractères (wie Anm. 21), De la ville, Absatz 22, S. 213f.

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 VI Athen als Reformmodell einer urbanen politesse

La Bruyère wünschte, dass sich nicht auch die städtische „bourgeoisie“ von der Krankheit der künstlichen Selbstdarstellung anstecken ließe und nicht danach eiferte, ein höfisches Leben von Pomp und Luxus zu imitieren. Das urbane Leben, das der Schriftsteller dagegen visionierte, war eines, das dem einfachen Landleben glich. Er befürwortete damit eine Urbanität der Einfachheit, wie sie einst in Athen gelebt worden sei: „La nature se montrait en eux dans toute sa pureté et sa dignité, et n’était point encore souillée par la vanité, par le luxe, et par la sotte ambition. Un homme n’était honoré sur la terre qu’à cause de sa force ou de sa vertu; il n’était point riche par des charges ou des pensions …“52 La Bruyères Argument war also folgendes: Die „bourgoisie“ hat es nicht nötig, sich mit Geld zu schmücken oder zu versuchen, ebenfalls zu Affen des Hofes zu werden, sie sollten vielmehr dem lobenswerten, einfachen Lebensstil der Athener folgen. Der Schriftsteller kritisierte also nicht nur die lakaienhafte Ehrerbietung und Schauspielerei des höfischen Adels, sondern auch die Praxis der „nouveaux riches“, die versuchten mittels Luxus und Pomp ihren sozialen Status zu verbessern. Ziel des Moralisten war es dagegen, seine Zeitgenossen zu demaskieren und offenzulegen, was diese zu verbergen suchten. Das Werk des schreibenden Porträtisten war damit eine Warnung gegen eine maskenhafte Erscheinung sowie gegen eine oberflächliche politesse der Manieren.53 Auch andere zeitgenössische Quellen, wie etwa der Stich La masquarade universelle (Abbildung 2) von Nicolas Guérard (1648[?]–1719) diffamierten das in Frankreich als üblich erachtete Maskenspiel. Auf Augenhöhe des Betrachters steht zwischen dem maskierten Herrn links und der in Masken verhüllten Dame rechts: „Le temps découvre tout“, darüber erscheint ein satyrartiges Geschöpf mit einer beflügelten Sanduhr auf dem Kopf, das, als Verkörperung der Zeit, ihnen die Masken abnimmt. Über den beiden Personen finden sich folgende Zeilen: „Nous donnons en deux aux plus fins/A deviner quel gens nous sommes/Fussent-Sorcier fussent devins/Nos masques trompent tous les hommes/Ils en seront eux-mêmes les témoins/Quand le temps leur fera connaître/Qu’en tout nous ne sommes rien moins/Que ce que nous paraissons être.“ Auch am Ende der Grafik wird noch einmal mit den folgenden Worten der ewige Karneval kommentiert: Bien des gens sont masqués sans être au Carnaval/Soit campagnards, soit gens de ville/De tout sexe, de tous etats, tout est habile/A déguiser le vray, le faux, le bien, le mal/Soit pour tromper, soit pour detruire/Pour se venger, pu pour médire./Chacun dessous le masque des vertus/Tâche à cacher sa fourbe et sa malice/Son ambition, son envie, son avarice/Sa haine et ses moêurs corrompus/Et quoy que déguise autant qu’on le peut =être/Personne néantmoins ne veut passer pour l’être. 52 La Bruyère, Discours (wie Anm. 23), S. 12. Vgl Berk: De la ville (wie Anm. 50), S. 1077. 53 Siehe Bourguinat: Les parisiens (wie Anm. 29), S. 36.



1 Athen als Vorbild für Paris: Jean de la Bruyères Konzept der politesse 

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Abbildung 2: Guérard, Nicolas: Le Carnaval perpétuel – Mascarade universelle. Paris 1700. [BnF. Recueil. Collection Michel Hénin: Estampes relatives à l’histoire de France. Bd. 75, Werke 6608–6718, hier: 6614, der Jahre 1700–1701. Vgl. auch Bourguinat: Les parisiens (wie Anm. 29), S. 63.

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 VI Athen als Reformmodell einer urbanen politesse

Dazu passten die Ausführungen La Bruyères, der zwar anders als Nicolas Guérard, der in seinem Stich auch die „campagnards“ in seiner Kritik inkludiert hatte, sich vor allem auf die höfische Elite bezog, jedoch wie Guérard das zeitgenössische Maskenspiel beklagte: Hauptobjekt von La Bruyères Attacke waren jedoch die Höflinge, die ihre Selbstdarstellung und Selbstrepräsentation am Hof zu einer raffinierten Kunst ausgearbeitet hatten. Der neue Adel solle nicht dem höfischen Maskenspiel nacheifern, sondern Legitimation ihrer neuen sozialen Rolle durch Leistung suchen. Darauf könne die neue Elite ein wahres Selbstbewusstsein aufbauen. Zur Rechtfertigung dieser Leistungsethik brauchte der neue Adel jedoch auch neue Vorbilder. Um also das Übel der bloßen Erscheinung zu beheben, bot der Moralist das öffentliche Leben der Athener, nicht etwa das der ruhmsüchtigen Römer als Vorbild an: Mais cependant quels hommes en général que les Athéniens, et quelle ville qu’Athènes! quelles lois! quelle police! quelle valeur! quelle discipline! quelle perfection dans toutes les sciences et dans tous les arts! mais quelle politesse dans le commerce ordinaire et dans le langage!54

La Bruyère bewunderte Athen nicht nur für seine Einfachheit. Er war vor allem beeindruckt von der Tugend seiner Einwohner, von der Schönheit der Stadt, seinen gerechten Gesetzen, seiner öffentlichen Ordnung, seinen Werten, seiner Disziplin, seiner Perfektion und Führungsposition in Wissenschaft und Künsten. Höhepunkt dieser Aufzählung war aber die politesse der Athener, die sich in ihrer Sprache und ihrem natürlichen, und nicht von künstlichen und unechten Sozialregeln belasteten Umgang miteinander zeigte. Dass ein natürlicher, geschliffener und höflicher Umgang die sprachliche Sorgfalt fördere, machte La Bruyère durch ein weiteres Beispiel aus der Geschichte Athens deutlich: Die Sprache der Athener war in seiner Lesart so verfeinert, dass sogar der von La Bruyère hoch gelobte Theophrast nach vielen Jahrzehnten des Lebens in Athen und des Studiums der athenischen Sprache bis an sein Lebensende von einfachen Marktfrauen als Ausländer erkannt wurde.55 In dieser Lesart verfügte die athenische Sprache Dank der politesse der Athener über eine unvergleichliche sprachliche Präzision und Eleganz und umfasste deshalb im Vergleich zum Französischen auch ein Vielfaches an Wörtern. Diese Armut der eigenen Sprache sei beschämend, „cette pauvreté embarasse“.56

54 La Bruyère, Discours (wie Anm. 23), S. 14. 55 La Bruyère, Discours (wie Anm. 23), S. 14. 56 La Bruyère, Discours (wie Anm. 23), S. 17.



1 Athen als Vorbild für Paris: Jean de la Bruyères Konzept der politesse 

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Indem der Franzose wiederum darlegte, dass seine Übersetzung der Charaktere Theophrasts nur eine einfache Instruktion zur weisen Lebensführung sei, „n’est qu’une simple instruction sur les mœurs des hommes, et qu’il vise moins à les rendre savants qu’à les rendre sages“, verdeutlichte er sein Ziel, seinen Zeitgenossen ein Ideal der wahren und aufrichtigen politesse anzubieten. Sein Reformversuch der politesse bestand gerade darin, sie nicht nur auf die alltäglichen Manieren und festgefahrenen, standesgemäßen Normen zu reduzieren, sondern sie als authentisches, standesübergreifendes, gemeinsames Leben in der Öffentlichkeit zu etablieren. Es ging also nicht darum, soziale Spielregeln gekonnt zu erfüllen, die die Franzosen zu Affen des Hofes machten, sondern um die Geisteshaltung, die es ermöglichte, dass sich (traditioneller und neuer) Hofadel und hofferner (Neu-)Adel als Gleiche begegnen konnten. Damit war die politesse eben nicht nur eine oberflächliche Regelerfüllung, sondern eine Höflichkeit des „esprit“. Zwar scheint La Bruyère dem Volk positiv gesinnt gewesen zu sein,57 dennoch bezogen sich seine Ausführungen zur Gleichheit nur auf die Pariser Aristokratie. Dies verdeutlicht, dass die Gleichheit nach athenischem Vorbild für ihn eine Gleichheit der zur politischen Partizipation befähigten Elite – in athenischem Vokabular der Büger – bezog, die nicht alle Teile der französischen Gesellschaft inkludierte, sondern sich an den traditionellen und neuen Adel, und nicht etwa an das Volk richtete. Da er die Existenz des Neuadels durch dessen Leistungsfähigkeit legitimierte, könnte man La Bruyères Gleichheitskonzept als aristokratische Egalität bezeichnen. Wer in Athen vom öffentlichen Leben und von politischer Partizipation ausgeschlossen war, interessierte den Moralisten dementsprechend nicht. Gleichheit sollte in Frankreich für die aus der „bourgeoisie“ stammende Pariser „noblesse de robe“ gelten, die neue Elite sollte innerhalb des Königreiches folglich gleiche Geltung und Anerkennkung erhalten, wie der traditionelle oder höfische Adel (La Bruyère machte hier keinen systematischen Unterschied). Um dies zu erreichen, entwertete er das soziale Verhalten der alten Elite und ihren ständigen Bezugspunkt, den Hof, und etablierte schließlich ein neues Referenzmodell, das die Hof-ferne Elite nicht ausschloss. Nur mit Athen konnte La Bruyère die Position der Aufstrebenden, und damit auch die eigene Rolle, legitimieren und stärken.58 Jean de la Bruyère war damit der erste, der Athen explizit und elaboriert als Reformmodell und Vorbild einer neuen politesse proklamierte, einer politesse, die nicht mehr das höfisch-aristokratische Leben als Mittelpunkt haben sollte, sondern ein von aristokratischer Gleichheit geprägtes öffentliches, urbanes Zusammensein, das durch Einfachheit, Bildung, Diskussion und Begegnung definiert war. Die reformierte politesse sollte ein neues soziales Gefüge etablieren, 57 La Bruyère: Les caractères (wie Anm. 21), Des grands, Absatz 25, S. 256. 58 Dieser Punkt wurde in der Forschung zu La Bruyère bisher noch nicht gesehen.

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 VI Athen als Reformmodell einer urbanen politesse

das die Neuaufstrebenden (jedoch Hof-fernen) in die französische Elite inkludieren konnte. Die bisher ausgeübte Höflichkeit, die in der Tradition der cortegiana stand, konnte diese Inkorporierung einer neuen Elite nicht leisten – sie diente vielmehr dazu, sich gegen soziale Mobilität zu verwehren. La Bruyères Erneuerung der politesse sah damit keine politischen Reformen vor, sondern gesellschaftliche: Sie richteten sich nicht gegen die Monarchie, sondern gegen das korrumpierte, luxuriöse, nur auf den eigenen Vorteil bedachte, vorgespielte, unehrliche und in Formen und Floskeln degenerierte Verhalten derjeniger, die ihren Einfluss und ihre Stellung am Hof geltend machen wollten und konnten. Athen, das sich von seiner Lebensart grundsätzlich von derjenigen Frankreichs unterschied, schien für ein nicht-höfisches Leben (aristokratischer) Bürger das ideale Vorbild. Und da sich Menschen in ihren Leidenschaften und ihrem Charakter nicht grundsätzlich änderten, konnte das Leben in dieser antiken polis auch als Vorbild einer modernen Gemeinschaft gelten. Das konkrete politische Regime Athens spielte für La Bruyère, von der Gleichheit der Bürger abgesehen, keine weitere Rolle. Der Schriftsteller griff in seinen Ausführungen also diejenigen sozialen Mechanismen an, die Aufstrebende bürgerlicher Herkunft von der französischen Elite auszuschließen suchten. Nirgends aber findet sich eine Analyse oder eine Kritik am politischen System Frankreichs unter Ludwig XIV. Indem La Bruyère Athen und die Athener als Modell und Vorbild etablieren wollte, stellte er also die politisch-institutionellen Grundfesten des Königreiches nicht in Frage, sondern rüttelte and den gesellschaftlichen Strukturen, die seiner Meinung nach formbar und durch Wissen und Bildung veränderbar waren. Zentral für das Erlangen einer politesse d’esprit war in der Tradition der Moralisten die Ausbildung des Geschmackes („le goût“)59 und der Fähigkeit zum Geschmacksurteil. Für La Bruyère, ein regelrechter „théoricien du beau“, war, ähnlich wie für Saint-Evremond, hierfür die Konversation zentral.60 Nach La Bruyère hatte gerade das von Konversation geprägte öffentliche Leben in Athen zur Folge, dass seine Bürger in Philosophie, Politik, Kunst und Rhetorik gebildet waren. Er zeigte an dieser Stelle auf, weshalb die Athener kulturell erfolgreich sein konnten, namentlich aufgrund ihres sozialen Zusammenlebens, ihres egalitären Umgangs miteinander und ihrer politesse d’esprit. Welch besseres Modell konnte La Bruyère also finden, um seinen Forderungen Geltung zu verschaffen als Athen, das durch Richelieus Sprach- und Kulturpolitik sowie durch die Arbeit der Académie bereits ein akzeptiertes positives Modell der Eloquenz und der kulturellen Blüte geworden war? Schlug er damit nicht die höfische Elite mit ihren 59 Roukhomosky, Bernard: L’esthétique de la Bruyère. Hrsg. von Gabriel Conesa. Paris 1997 (Collection esthétique), S. 11. 60 Roukhomosky: L’esthétique (wie Anm. 59), S. 15.



2 Versailles – Paris – Lyon: Athenische politesse und guter Geschmack 

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eigenen Überzeugungen? Paris sollte das neue Athen werden und dazu brauchte man, dies implizierte La Bruyère, eine neue, leistungsorientierte Elite. 61 Allein die Wirkungsgeschichte von La Bruyères Caractères legt nahe, dass sein Versuch, die politesse zu reformieren und die Athener als Vorbild einer politesse d’esprit zu etablieren, von vielen aufgenommen und diskutiert wurde. Vermutlich gab es zwischen 20.000 bis 40.000 Exemplare der Caractères für die zwölf Jahre vor 1700, vermutlich weitere 40.000 bis 80.000 in den Jahren bis 1725.62

2 Versailles – Paris – Lyon: Athenische politesse und guter Geschmack als Mittel im Kampf um soziale Anerkennung Nicht nur La Bruyère, sondern auch der Abbé Jean-Baptise Morvan de Bellegarde (1648–1734) beschäftigte sich in seinen 1696 veröffentlichten Réflexions sur le ridicule mit den Erfolgsmitteln der aufstrebenden „noblesse de robe“. Darin diffamierte der Abbé zwar nicht deren Vorbild Athen, aber ihren Versuch, die „gens de la cour“ zu kopieren. Der Geschmack der Aufsteiger war für Bellegarde damit „ridicule“.63 Das Thema des „bon goût“ und die Sorge um dessen Dekadenz und Niedergang wurde in der sogenannten Querelle d’Homère, die von 1713 bis 1715 dauerte, schließlich besonders bedeutsam. 1713 publizierte Antoine Houdar de La Motte (1672–1731) eine neue Übersetzung von Homers Ilias.64 Seine Übertragung folgte seinem Discours sur Homère, in dem er seine Vorgehensweise erklärte. Mit seiner veränderten Fassung der Ilias stieß er jedoch auf Widerspruch von Anne Dacier (1654–1720), die im folgenden Jahr ihre La Motte widersprechende Meinung in Des causes de la corruption du goût65 veröffentlichte. Darin machte die Übersetzerin und Schriftstellerin deutlich, dass die antiken Griechen geignete Vorbilder für guten Geschmack und eloquenten Stil seien. Nicht die grie61 Elisabeth Bourguinat bestätigt dies: „Les caractères ou les mœurs de ce siècle sont présentés, du reste, comme une simple continuation des Caractères de Théophraste, dont La Bruyère fournit une traduction qui lui sert tout ensemble de parrainage et, … la continuation implique transposition dans le cadre d’une Athènes modern qui n’est autre que Paris.“ Siehe Bourguinat: Les parisiens (wie Anm. 29), S. 7. 62 Bertrand, Dominique: Les caractères de La Bruyère. Paris 2002, S. 186f. 63 Bertrand: Les caractères (wie Anm. 63), S. 211ff. 64 Homerus: L’Iliade. Poème. Avec un discours sur Homère. Hrsg. von Antoine Houdar de La Motte. Paris 1714. 65 Dacier, Anne: Des causes de la corruption du gout. Amsterdam 1715. Siehe auch Cammagre, Geneviève: De l’avenir des Anciens. La polémique sur Homère entre Mme Dacier et Houdar de la Motte. In: Les époux Dacier. Hrsg. von Christine Dousset-Seiden. Paris 2010 (Littératures classiques 72). S. 145–156. Siehe auch Guion, Bétrice: Le savoir et le goût: être philologue dans la France classique. In: Les époux Dacier (wie Anm. oben), S. 65–84.

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 VI Athen als Reformmodell einer urbanen politesse

chische Literatur sei verbesserungswürdig und bedürfe einer Adaption, sondern der Geschmack der eigenen Zeit, der das Ideal griechischer Poesie und Literatur nicht mehr erkenne. Diese Ablehnung greife wie eine Krankheit um sich: „Que dis-je, notre Eloquence? Notre Poësie même ne s’est-elle pas garantie aussi de cette contagion, & n’est-elle pas devenuë la rivale de la Poësie des Grecs entre les mains des grands Poëtes qui ont honoré le dernier siècle?“66 Selbst die alten Römer seien so einsichtig gewesen und hätten die Bedeutung der griechischen Werke und Literatur erkannt und mit ihrer Hilfe den eigenen Stil verbessert und so selbst eine eloquente Sprache herausgebildet: Le bon goût, qui avoit commencé après cette premiere Guerre, se polit & se lima beaucoup de la seconde, à mesure qu’on étudia davantage ces Grands Originaux; & enfin la Poësie Latine reçût toute sa Perfection d’Horace & de Virgile sous le regne d’Auguste … C’est ainsi que l’imitation acheva de former le goût des Romains. Et voilà pourquoi Horace recommandoit avec tant de soin d’étudier nuit & jour les Ecrits des Grecs, qui étoient si utiles.67

Griechen und Römer hätten so ihrer Nachwelt ein perfektes Beispiel hinterlassen. Dieses habe die französische Literatur bereits aus der ersten Plumpheit und Ungehobeltheit befreit. Sorgenvoll berichtete die Übersetzerin jedoch, dass man in Frankreich nun im Begriff sei, diesen Weg zu verlassen und das Vorbild der griechischen Antike vernachlässige. Deshalb drohe nun Frankreich, möglicherweise gerade aufgrund des Ablebens Ludwigs XIV. im Jahre 1715 noch mehr von Dacier gefürchtet, wieder in Barbarei und Rohheit zu verfallen: Nous avons vû d’une manière convainquante que c’est l’étude des Grecs & des Latins qui nous a tirez de la grossiereté où nous étions; & nous allons voir que c’est l’ignorance & le mépris de cette même étude qui nous y replonge. En effet, on n’a pas eû plûtôt negligé ces excellents Originaux, & les études qui en donnent seules l’intelligence, qu’on a vû des flots de méchants Ouvrages inonder Paris & tout le Royaume. Mais il est important de voir par quels degrez ce bon goût, qu’on avoit eu tant de peine à former, est retombé dans sa premiere barbarie, où, si on n’y prend garde, il entraînera bientôt tous les Arts.68

Grund für diese missliche Lage und für den gefürchteten Niedergangs des Geschmacks sei die schlechte Bildung, die Unwissenheit der Lehrer sowie die Vernachlässigung der Erziehung der jungen Leute.69 Den Franzosen fehle es an 66 Dacier: Des causes (wie Anm. 65), S. 19 67 Dacier: Des causes (wie Anm. 65), S. 14, siehe auch S. 61. 68 Dacier: Des causes (wie Anm. 65), S. 15f. 69 „… trois choses avoient sur-tout contribué à la faire tomber dans le précipice où elle étoit de son temps: La premiere, la mauvaise Education. La seconde, l’Ignorance des Maîtres. Et la troisiéme, la Paresse & la Negligence des jeunes gens.“ Dacier: Des causes (wie Anm. 65), S. 15f.



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wirklichen Kennern der griechischen Sprache und Kultur.70 Diese sei jedoch notwendig, um den eigenen Stil zu vollenden: Et c’est ce qui acheve la preuve que j’ai voulu donner de cette importance verité, que c’est la connoissance & la familiarité que l’on contracte avec ces grands personnages de l’Antiquité Grecs & Latins, & sur tout avec les Grecs, qui forment & nourrissent & que le mépris & l’éloignement qu’on a pour eux le corrompent & le perdent.71

Antoine de la Motte liege ganz und gar falsch, wenn er wie die Modernen glaube, dass Frankreich die antiken Schriftsteller übertreffe. Es gebe in Frankreich zwar sehr gute Autoren, dennoch könnten diese keinesfalls an diejenigen der Antike, besonders aber Griechenlands heranreichen. Der Grund hierfür liege in der Vielfalt der griechischen Sprache. Im Vergleich zu ihr sei das Französische arm, weshalb sich die Franzosen auch nicht mit derselben Eleganz auszudrücken vermochten.72 Die Griechen hätten aber gerade mit ihrem sprachlichen Talent zur inneren Harmonie ihrer Gemeinwesen beigetragen. Deshalb müsse man die griechische Sprache und damit auch die griechische Kultur unbedingt als vorbildhaft und imitationswürdig ansehen.73 N’est-ce pas raisonner profondement? Est ce que les Grecs & les Latins n’ont pas eu de bons Auteurs? Est ce qu’ils n’ont jamais écrit sagement? C’est dans leur plus grande sagesse que leur Langue, & sur-tout celle des Grecs, paroît la plus libre & la plus Maîtresse de ses expressions. Mais si les bons Auteurs nous ont accoûtumez à ne rien souffrir que de sensé, d’où vient que M. de la M. n’a pas profité de cette coûtume dans son Poëme?74

70 „Par tout ce que je viens de dire, on voit que la Langue Grecque a été florissante jusqu’au quinziéme siécle, de sorte qu’elle étoit encore une Langue vivante il n’y a que deux cens soixante ans. Depuis ce temps-là encore nous avons eu des Grecs naturels tres savans. Ils ont pû considerablement aider nos Critiques qui ont parû dans le seiziéme siècle, comme un Budé dont nous avons les doctes Commentaires sur cette Langue.“ Siehe Dacier: Des causes (wie Anm. 65), S. 169. 71 Dacier: Des causes (wie Anm. 65), S.20. 72 Dacier: Des causes (wie Anm. 65), S. 29. 73 Siehe Dacier: Des causes (wie Anm. 65), S. 231 u. 237. Die Vorbildlichkeit Griechenlands findet sich auf S. 11f. Ähnlich auch das M.[?] La Grange, der das Werk von Lambert Bos über das antike Athen übersetzt hatte. In seinem Vorwort zur Übersetzung hielt er fest: „Puisse le goût de l’Antiquité, qui commence à s’éteindre, devenir, comme autrefois, la base de nos études! Puissions-nous, à la lecture de tant d’ouvrages superficiels qui gâtent tous les jours notre littérature, suppléer celle de ces modeles mâles & vigoureux que nous a transmis l’Antiquité, & dont les éditions ne deviennent peut-être si rares, que par la rareté des lecteurs.“ Bos, Lambert: Antiquité de la Grèce en générale et d’Athènes en particulier. Komm. von M. Frideric Leisner. Übers. von M. La Grange. Paris 1769, S. 9. 74 Dacier: Des causes (wie Anm. 65), S. 234.

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Anne Dacier, geb. Le Fèvre stammte aus einer hugenottischen Familie, ihr Vater war humanistischer Gelehrter. In einer Vorlesung ihres Vaters an der Akademie von Puylaurens lernte sie schließlich den Rechtsstudenten André Dacier kennen und heiratete diesen 1682 in zweiter Ehe. Das ehrgeizige Paar bürgerlicher Herkunft zog nach Paris und versuchte, mittlerweile zum Katholizismus übergetreten, seinen Einfluss in der Hauptstadt geltend zu machen. 1695 wurde André Dacier in die Académie française aufgenommen, deren ständiger Sekretär er 1713 wurde. 1708 wurde der Ehegatte außerdem zum königlichen Bibliothekar am Louvre ernannt. Beide Ehepartner übersetzten bedeutende antike Werke.75 Den Höflingen wurde wie schon von Saint-Evremond und La Bruyère die Fähigkeit abgesprochen, stets das angemessene und damit richtige Geschmacksurteil zu treffen, weil sie ihren Geschmack nicht sorgsam ausbildeten. Dazu müsse man die antiken, v.a. die griechisch-athenischen Beispiele der Eleganz und Eloquenz, kurz der politesse, sorgfältig studieren, um von ihnen für die Gegenwart zu lernen. Eine höfische Position der Modernen, die nur den eigenen, französischen Geschmack für vortrefflich und die Gegenwart der Antike als überlegen ansehe, führe in Barbarei. Implizit spiegelte sich damit auch bei Dacier der Anspruch, dass, um den guten Geschmack in Frankreich zu erhalten, die städtische Elite einspringen müsse, die mit dem Studium der Alten, insbesondere der Griechen, Frankreichs Vormachtstellung erhalten konnte. Das Vorbild Griechenlands mit seinem Zentrum Athen war hierfür geeignetes Aufstiegsmodell. 1737 schrieb Anne Dacier in ihrem Brief de Mme à Monsieur“:76 „Nous commençâmes par rassembler les régles établies par les Grecs, & suivies par les Romains; nous nous y assujetîmes tant que nous pûmes; mais comme nos mœurs n’étoient pas tout-àfait celles des Grecs & des Romains, il n’y eut pas moïen de suivre toujours la loi à la lettre.“77 Dacier machte deutlich, wie sehr sich das Paar bemühte, – vermutlich meinte sie mit dem Plural auch ihren Ehemann – nach dem Beispiel der Griechen zu leben und deren Ideal in Sprache, Bildung und Umgangsformen zu folgen. Nicht nur die Daciers, die versuchten, durch den Rekurs auf das antike Griechenland ihre eigene Position als Übersetzer und Antikenkenner zu stärken, auch Laurent Dugas (1670–1748), prévôt des marchands de Lyon,78 besorgte sich 75 Dousset-Seiden, Christine u. Jean-Philippe Grosperrin: Monsieur et Madame Dacier. Un couple de philologue entre absolutisme et Lumières. In: Les époux Dacier (wie Anm. 65), S. 5–22. Siehe zu den Daciers auch weiter: Itti, Étienne: Tanneguy Le Févre et le couple Dacier, entre mécénat privé et mécénat royal. In: Les époux Dacier (wie Anm. 65), S. 23–47. 76 Dacier, Anne: Lettre de Madame de *** à Monsieur de ***. Avec la réponse de M. de ***. sur le Goût & le Génie, & sur l’utilité dont peuvent être les Régles. Paris 1737. 77 Dacier: Lettre (wie Anm. 76), S. 49. 78 Vgl. Hartmann, Peter Claus: Französische Verfassungsgeschichte der Neuzeit (1450–2002). 2. Aufl. Berlin 2002, S. 51, zum Thema der prévôts des marchands siehe auch Zeller, Gaston: Les institutions de la France au XVIe siècle. Paris 1948, S. 55f.



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um die Entwicklung des guten Geschmacks im Frankreich seiner Zeit. Dugas bezog sich dabei ebenfalls auf das antike Griechenland, genauer auf die athenische politesse, um den Geschmack seiner Zeit zu retablieren. Dugas gehörte einer Lyoner Adelsfamilie an, die das Amt des Stadtoberhauptes vererbte; er hatte am Collège de Trinité in Paris studiert bevor er in Lyon 1698 das Amt des président au siége présidial kaufte. Er war der erste, der mit Autorisation des Königs unter seinem Namen die beiden Titel des prévot des marchands und des président de la Cours des monnaies, sénéchaussée et présidial de Lyon vereinigte. Dugas war also, ähnlich wie La Bruyère oder die Daciers, sehr gut ausgebildet, insbesondere vom Studium der Sprachen war er angetan und war selbst mehrerer Sprachen mächtig: Er beherrschte neben seiner Muttersprache English, Spanisch, Italienisch, Latein, Griechisch und Hebräisch. Es ist deshalb auch nicht überraschend, dass Dugas im Jahre 1700 eines der sieben Gründungsmitglieder der Académie de Lyon wurde, wo er sich insbesondere für das Studium der antiken Sprachen einsetzte.79 Dugas schrieb vermutlich während seiner Amtszeit von 1724 bis 1730 seine Réflexions sur le goût,80 die erst 1767 postum in Amsterdam erschienen. In diesen Réflexions verglich er ähnlich wie La Bruyère den Geschmack der antiken Athener mit demjenigen seiner Zeitgenossen. Seiner Sorge um die ästhetische Bildung seiner Zeit stellte er damit ebenfalls das Exempel der Athener entgegen, deren Geschmack er für vorbildlich hielt. Dieser habe sich allem voran in deren rhetorischer Exzellenz und dem gepflegten Umgang miteinander gezeigt. Nés dans un air pur, sous un Ciel Serain, menans d’ordinaire une vie assez frugale; ils avoient l’esprit vif, subtil, pénétrant, des mœurs douces, de l’humanité & de la politesse entr’eux, & beaucoup d’affabilité pour les étrangers. Ils étoient envieux, avides des nouveautés, & même un peu legers, suite naturelle de la vivacité: ces defauts leur étoient reprochés par les Orateurs les plus sensé, qui avoient quelquefois le courage de s’exposer à leur déplaire pour les ramener à leur véritables intérêts.81

Sogar die großen Römer waren für ihn nur Schüler der Griechen, „Les Athéniens, entre tous les Grecs excelloient dans l’art de bien parler, & de bien écrire; les Romains, Maîtres du monde, ne dédaignoient point de se faire leurs Disciples …“82 Dugas unterstrich hier, dass die Griechen, und hier meinte er die Athener, in der Kunst der Rede und des geschriebenen Wortes brillierten. Für Dugas war die 79 Siehe Benoit, Bruno: ‘Dugas, Laurent’. In: Dictionnaire historique de Lyon. Hg. von Patrice Behain u. Bruno Benoit [u.a.]. Lyon 2009. S. 407. 80 Dugas, Laurent: Réflexions sur le goût. In: Recueil d’opuscules littéraires. Hg. von [?]. Pellison. Amsterdam 1767. S. 287–308. 81 Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 295f. 82 Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 287.

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sprachliche Kunst damit der Grundstein für Athens Erfolg. Der prévot hatte es sich deshalb zum Ziel gemacht, den Geschmack der beiden großen Nationen Roms und Athens mit dem eigenen zu vergleichen, „de faire à cet égard un parallèle de ces deux célèbres nations & de la nôtre, & de comparer l’atticisme & l’urbanité Romaine au Goût François.“83 Da das Thema jedoch ausladend sei, begnüge er sich damit, den athenischen Geschmack zu analysieren. Dazu müsse man den Gründen für die Eleganz und der sprachlichen Geschliffenheit nachgehen, denn: „Les langues les plus riches & les plus polies n’ont pas atteint tout d’un coup le point de perfection: il faut commencer par défricher un champ, enlever le roc, arracher les ronces, les brossailles, & les préparer par une longue culture, pour en faire un jardin agréable, qui produise des fleurs, des fruits, & des plantes utiles.“84 Eine Sprache müsse, so Dugas, kontinuierlich verbessert werden und durchlaufe deshalb verschiedene Entwicklungsstufen. Das Niveau der sprachlichen Eleganz sei dabei eng verbunden mit dem Schicksal der jeweiligen Nation.85 Als prévôt des marchands sah Dugas als erste Vorraussetzungen für die Entwicklung der eigenen Sprache finanzielle Stabilität und ein sich gut entwickelnder Handel: „On n’a jamais vû de peuple pauvre, sans commerce, malheureux, opprimé, exceller dans l’art d’écrire.“86 Als Beweis führte Dugas die wilden Völker Amerikas an. Diese hätten nicht einmal das Notwendige zum Leben, deshalb gebe es in ihren Sprachen auch nur die grundlegendsten Begrifflichkeiten für das, was sie im Leben betreffe. Sie seien nicht im Stande, diejenigen Dinge zu bezeichnen, die in ihrem Leben nicht in Gebrauch seien. Die Wilden seien deshalb unfähig, Gefühle oder Bewegungen der Seele auszudrücken, weil sie den ganzen Tag mit der Jagd und der Nahrungssuche beschäftig seien.87 Dugas zog daraus folgenden Schluss: ce n’est donc que dans un Etat florissant, au milieu du commerce mutuel que forment entr’eux les hommes dans les divers besoins, & la recherche des commodités, où la douceur de la societé nous engage, qu’on s’accoûtume à faire bien entendre ses pensées, qu’on choisit les termes propres, qu’on donne à ses expressions un tour vif & agréable. Alors ceux qui se distinguent par le talent de l’esprit & qui jouissent d’un loisir tranquile, veulent amuser celui des autres ou les instruire, & par là se rendre utiles à la societé, ils meditent, ils écrivent avec soin & composent des ouvrages dignes d’être lûs.88

83 Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 287. 84 Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 288. 85 Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 288. 86 Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 288. 87 Diese Ansichten belegte Dugas mit den Schriften eines jesuitischen Missionars, R. P. Lombard. Siehe Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 289. 88 Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 290.



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Nur in einer wirtschaftlich florierenden Gemeinschaft, in der man durch Handel die gegenseitigen Bedürfnisse befriedige, in der man von einer „société“ sprechen könne, könnten diejenigen, die geistreich seien mit ihren Begabungen der gesamten Gesellschaft nützlich sein, indem sie deren Mitglieder unterhielten, bei Unstimmigkeiten vermittelten und Werke schrieben, die es wert seien, gelesen zu werden. Ähnlich wie die Niederländer im 17. Jahrhundert beobachtete Dugas also eine Verbindung von Handelserfolg und kultureller Blüte: Das antike Athen habe die notwendigen ökonomischen und sozialen Voraussetzungen erfüllt, um die Kunst der Rhetorik und der Eloquenz ausbilden zu können: „La Ville d’Athènes étoit dans cette heureuse situation, quand elle devint la patrie des beaux Arts, le domicile des Muses, le théâtre de l’Eloquence, & le centre de la Politesse; au seul nom d’Athènes, toute ces idées se reveillent encore dans nos esprits.“89 Weil in Athen zuerst die lebensnotwendigen Bedürfnisse durch einen florierenden Handel befriedigt wurden, konnte Athen das Vaterland der schönen Künste, der Muse, das Forum der Eloquenz und das Zentrum der politesse werden. Dugas beschrieb dieses Phänomen als „Atticisme“.90 Die Athener bildeten für ihn eine Nation, die ihre Freiheit eifersüchtig überwachte. Aus diesem Grund habe es auch die Institution des Ostrazismus gegeben, die eine extreme Unbarmherzigkeit des Volkes gegenüber den Angeklagten zeigte. Die Athener waren in seiner Lesart mutig, stark und immer bereit, die eigene Freiheit sowie ihre Hegemonie über ganz Griechenland stets zu verteidigen.91 Die Liebe zur Freiheit, die Stärke nach außen, der Willen, andere Völker zu unterwerfen, all dies waren Eigenschaften, die Dugas Athen zuschrieb, die seine Leser an das französische Königreich erinnern sollten. In der Interpretation des prévot kamen die Athener, und das schien Dugas besonders interessant, in der Öffentlichkeit zusammen, um gemeinsam politische und philosophische Belange zu diskutierten. Die zentrale Funktion der Oratoren, die mittels Überzeugungkraft Meinungen und somit politische Entscheidungen beeinflussten, verdeutlichte für ihn die Bedeutung der rhetorischen Fähigkeiten und Eloquenz in Athen und erklärte, warum sich die Athener mit Sorgfalt um ihre Sprache bemühten: 89 Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 290. 90 Dugas machte hier den Zeitraum der athenischen Geschichte deutlich, der ihn interessierte: „je parle du siécle, qui vit fleurir Socrate, Platon, Aristote, Thucydide, Euripide, Xenophon, Sophocle, Aristophane, Demosthène, Eschide, & plusieurs autres célèbre Auteurs, tous Athéniens, environ 400 ans avant la naissance de notre Seigneur.“ Siehe Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 291. Siehe zum frühneuzeitlichen Attizismus-Asianismus-Streit auch Rötzer, Hans Gerd: Traditionalität und Modernität in der europäischen Literatur. Ein Überblick vom Attizismus-Asianismus-Streit bis zur ‘Querelle des Anciens et des Modernes’. Darmstadt 1979. 91 Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 292f.

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Les plus grandes affaires se tratoient en Public, les Orateurs étoient les mobiles de toutes les délibérations. Ceux-ci dans leurs harangues, exposoient aux peuples les affaires dont il s’agissoit, proposoient les divers partis qu’on pouvoit prendre, & conseilloient ce qu’ils croyoient convenir au bien public, au bien commun. On peut juger de-là, quel crédit donnoit l’Eloquence dans Athènes, quelle considération elle attiroit aux Orateurs, non seulement dans la Patrie, mais aussi dans les Etats qui avoient quelques intérêts à démêler avec cette République. … On concevra naturellement que le talent de la parole devoit être cultivé avec grand soin, aussi le vœu commun de tous les parents étoit, de voir leurs enfans devenir Orateurs, & se distinguer dans cette profession, c’étoit l’ambition des jeunes gens, quand ils se servoient des talens que la nature leur avoit donné.92

Als prévot des marchands der einflussreichen Stadt Lyon forderte Dugas hier implizit ein Mitspracherecht in politischen Angelegenheiten des Königreiches. Wie ein athenischer Orator schien er dabei eine intermediäre Funktion einnehmen zu wollen, schließlich entsprach auch seine Bildung derjenigen eines athenischen Redners. Nachdem Dugas also zuerst dargelegt hatte, dass für die politesse und die Eloquenz notwendig sei, die grundlegenden materiellen Bedürfnisse des Lebens zu befriedigen – dazu gehörte für ihn ein funktionierendes Gemeinwesen sowie ein blühender Handel, Attribute, die auf Frankreich und speziell auf Lyon zutrafen – kam Dugas zum grundlegenden Faktor, der die politesse der Athener befördert habe: das öffentliche Leben. Er beschrieb dieses folgendermaßen: Presque tous les Athéniens, si l’on excepte ceux qui étoient obligés de travailler pour vivre, passoient la plus grande partie de la journée dans les places, dans les temples, dans les portiques, c’est-là que se traitoient également les affaires politiques & les particulières, c’est-là qu’on s’entretenoit avec les étrangers, qu’on écoutoient les philosopohes, qui avoient chacun leurs cantons, où ils assembloient leurs disciples; en un mot tout se passoit en public. Les manières étant simples & populaires, chacun achetoit dans les boutiques, ou dans les marchés, ce qui lui étoit nécessaire, & ne croyoit point s’abaisser par-là; la police étoit exacte, on étoit soumis aux loix; tous avoient un intérêt égal à les faire observer, ce qui entretenoit le bon ordre. Comme il n’y avoit point de différence & de distinction, entre les honnêtes gens & le peuple, tous étoient égaux, ainsi que je l’ai dit, tous parloient également bien, & rien n’approche jamais de la douceur, & de la politesse du langage.93

Dugas’ Ausführungen ähneln denjenigen La Bruyères: Der prévôt vermittelte ebenfalls das Bild einer Stadt, in der die Bürger frei und gleich waren, in der die Oratoren eine besondere Rolle einnahmen und in der sich Bürger an öffentlichen Plätzen versammelten, um politische und private Angelegenheiten zu bespre92 Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 293f. Dies lasse sich auch am Beispiel Alkibiades’ zeigen, der von Sokrates diesbezüglich sehr gute Ratschläge erhalten habe. Siehe Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 294. 93 Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 296f.



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chen. Dort begegneten sie Fremden und Ausländern, lauschten sie den Philosophen, die ihre Schüler in der Öffentlichkeit unterrichteten. Es ist augenfällig, dass Dugas hier sowohl die gleichen Orte nannte wie La Bruyère als auch dessen Wortfolge gebrauchte, „dans les places, dans les temples, dans les portiques“. Ferner nannte er die gleichen Gesprächs- und Diskussionsinhalte: „les affaires politiques & les particulières, … on s’entretenoit avec les étrangers, … on écoutoient les philosopohes“. Genau wie La Bruyère stellte er die Lebensgewohnheiten der Athener als einfach, ihre Sprache und Umgangsformen jedoch als geschliffen dar. Darin seien alle Bürger Athens unabhängig ihres sozialen Ranges gleich gewesen. Wie La Bruyère kritisierte er die sozialen Distinktionen, die mit den herkömmlichen Formen der Höflichkeit verbunden waren und die sich je nach sozialem Rang unterschieden. Zwar stammte Dugas aus einem angesehenen Adelsgeschlecht aus Lyon, doch formulierte er hier ähnliche Forderungen wie zuvor der in Paris lebende Neuadelige La Bruyère. Es liegt nahe, dass sich Dugas als Provinzadel hier zum einen gegen den Vorwurf der Ungeschliffenheit der „gens de province“ wehrte. Zum anderen mochte er sich nach dem Ableben des Sonnenkönigs aber auch ein Wiedererstarken der Provinzen gegenüber dem Pariser Zentrum erhofft haben. Damit ähnelten sich die Kritikpunkte und die Forderungen der Pariser „noblesse de robe“ und des Provinzadels. Dugas präsentierte wiederum wie La Bruyère das öffentliche Leben als zentralen Ausgangspunkt für die kulturelle Überlegenheit und die politesse der Athener. In seinen Réfléxions sur le goût hatte politesse dabei zwei Bedeutungsebenen. Politesse erschien einerseits als breites Konzept, das rhetorische Eloquenz, Kenntnisse in Literatur, Philosophie und Kunst sowie angemessenes und distinguiertes soziales Verhalten beinhaltete. Andererseits hatte politesse auch einen begrenzten Bedeutungsgehalt und meinte vor allem nur die geschliffene Konversation („conversation polie“). Nach der Einschätzung des prévôt war die diskursive Erziehung allen Bürgern Athens gleichermaßen zugänglich, weshalb auch alle Bürger gleichermaßen gebildet und in ihrer Sprache gleichermaßen eloquent gewesen seien. Dugas interessierte sich für die athenische Bürgergemeinde, nicht aber für diejenigen, die von der Bürgerschaft ausgeschlossen waren. Er erwähnte diejenigen, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten mussten und deshalb nicht am Leben der polis teilnhemen konnten nur kurz am Rande. Dies zeigt Dugas’ aristokratische Lesart der athenischen Geschichte: Das Leben eines athenischen Bürgers – der für seinen Lebensunterhalt nicht arbeiten musste – habe sich in der Öffentlichkeit abgespielt. Und auch wenn ein derartiges Leben in der Öffentlichkeit den Anschein von Luxus gebe, waren die Sitten und die Lebensart der Athener, die in der Darstellung nur das zum Leben notwendige kauften, einfach. Entscheidend für dieses Leben in der Öffentlichkeit war demnach nicht ungleich verteilter Luxus, sondern, ganz im Gegenteil, die Gleichheit der Bürger, die alle Zugang zu

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Bildung hatten und in ihrer ästhethischen Urteilskraft geschult wurden. Diese Gleichheit der Bürger habe sich auch darin gezeigt, dass für alle die gleichen Gesetze galten. Die Feinheit der Sprache, die in viele unterschiedliche Akzente untergliedert und nicht wie die französische Sprache einem Vereinheitlichungsprozess unterzogen war, hätten sogar die Römer bezeugt. Auch für die Musik hätten sich die Athener interessiert, die sie als wichtigen Bestandteil der Erziehung betrachteten.94 Dugas spielte als Gründungsmitglied der südfranzösischen Académie de Lyon an dieser Stelle wohl an die von der Pariser Académie française vorgenommene Vereinheitlichung der Sprache an, was einem Kritikpunkt der Provinzeliten entsprach, die sich eine gewisse Autonomie gegenüber der île de France bewahren wollten. Dugas erläuterte weiter: Selbst als die Athener ihre Freiheit verloren und von den Römern besiegt wurden, hätten sie stets das Reich der Worte („l’empire des Lettres“) bewahrt, sodass diejenigen Römer, die eine gute Ausbildung für ihre Kinder wünschten, diese nach Athen schickten. Sogar Ciceros Sohn habe deshalb in Athen studiert.95 Was aber lernten die Römer von den Athenern, was definierte den athenischen Geschmack? J’en ai dit assez pour faire connoître les mœurs, les coutûmes, le génie & les talens des Athéniens, & l’on pourroit juger de-là quel goût ils cultivoient, & quel genre d’Eloquence pouvoit leur plaire. Le vrai & le naturel dans les pensées, la justesse dans les raisonnemens, la pureté & la précision dans le stile, distinguoit particulièrement l’Atticisme & le goût attique, c’est à ces traits qu’on le reconnaissoit. … Ils ne souffroient, ni vide, ni superflu. Les termes étoient propres; les expressions justes, on n’usoit point de vaines locutions, pour exprimer ce qu’on pouvoit dire simplement; on ne souffroit pas un synonyme qui n’ajoûtoit rien.96

Der athenische Geschmack war für Dugas also durch wahre und natürliche Gedanken und Ideen geprägt, der athenische Stil war für ihn rein und präzise. Die Athener hätten weder Oberflächlichkeit noch leere Worthülsen erlaubt, ihre Begrifflichkeiten waren, so der Athenliebhaber, genau, ihre Ausdrücke angemessen. Ihre Sprache habe nicht der Eitelkeit gedient und habe das Einfache nicht durch Wortüberladungen verdeckt. All dies könne man unter athenischem Geschmack und Atticisme verstehen. Les Athéniens n’aimoient pas ces figures qui ne consistent que dans les mots, & qui ne servent que d’un vain ornement; mais ils aimoient les grandes, & les véhéments figures,

94 Vgl. Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 298. 95 Vgl. Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 299. 96 Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 299.



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quand elle naissoient du sujet & de la vive émotion de l’Orateur. … Toute affectation leur deplaisoit, & ce qui est remarquable, on ne trouve dans les Auteurs aucun de ces traits brillans qu’on ne recherche que trop aujourd’hui, & qui ne produisent d’autre effet, que celui de montrer, que l’Orateur, ou l’écrivain a beaucoup d’esprit.97

Hier machte Dugas noch einmal deutlich: Die Athener mochten keine überflüssigen Verzierungen, weder in ihrer Kunst noch in der Sprache. Jede Affektiertheit und Übertreibung war ihnen zuwider, ihr Stil war vielmehr von Ehrlichkeit, anstatt von Selbstdarstellung geprägt, weil sie den Inhalt einer Sache bedachten. Deshalb seien ihre Ausführungen auch weiterhin nützlich und informativ.98 Einen Topos der antiken Rhetorik aufnehmend,99 konstatierte Dugas dagegen, dass der Asianismus ungenau, ausladend und voller bedeutungsloser Synonyme, Paraphrasen und unnötiger Ausschweifungen gewesen sei. Dies sei auch der Fehler der meisten Leute, die zu Dugas’ Zeit ihre Texte noch immer in Latein verfassten: Sie überschütteten den Leser mit Verzierungen und suchten damit zu beeindrucken.100 Wie viele Autoren und Schriftsteller gab es nach Ansicht des prévot im Frankreich des 18. Jahrhunderts, die dem Asianismus verfallen waren!101 Doch auch ein zu einfacher, roher und ungehobelter, spartanischer Stil war für ihn kein geeignetes Vorbild für die Schreibenden seiner Zeit.102 Nur die Athener hatten für ihn die geeignete Mischung von Präzision und Ästhetik gefunden. Der athenische 97 Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 300. 98 „De quel air pense-t-on que cette Nation libre, fière, spirituelle, auroit écouté un Orateur, qui, dans des affaires graves, importantes, où il s’agissoit quelquefois du salut de l’Etat, se seroit avisé de vouloir briller, de debiter des artifices, de hazarder de nouveaux mots, des expressions bizarres, de courir après ce qu’on appelle esprit; ils se seroient bientôt apperçus [sic.], qu’un tel Orateur étoit moins occupé de son sujet que de soi-même. … Les Athéniens vouloient du nouveau, mais qui fût vrai, ou sensé; de l’agréable, mais qui fût solide & utile; tout ce qui étoit puérile, frivole, hors de propos, les choqoit à coup sûr.“ Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 301f. 99 Calboli, Gualtiero: ‚Asianismus’. In: Der neue Pauly. Online Edition 2006. http://referenceworks.brillonline.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/entries/der-neue-pauly/asianismus-e203120?s.num=0&s.f.s2_parent=s.f.book.der-neue-pauly&s.q=Asianismus (03.05.2015). 100 „Voilà aussi le défaut ordinaire de la plûpart de ceux qui Ecrivent [sic.] aujourd’hui en Latin; ils font des phrases, parce qu’ils ne connoissent pas l’expression juste qui conviendroit, pour rendre leur pensée, & en assemblant de grands mots, il s’imaginent écrire élegamment.“ Siehe Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 304. 101 Der attische Stil sei weder schwülstig noch trocken: „Mais il faut bien se garder de croire, que le Stile Attique fût sec & sans ornemens; ils tenoient un juste milieu entre le Stile Asiatique, dont nous venont de parler, & le Stile Laconique. Pour ce dernier, il n’a guère eu de lieu dans l’Eloquence, que les Lacedemoniens méprisoient. Ils étoient avares de paroles, & auroient voulu s’exprimer par signes.“ Siehe Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 305, siehe ebenfalls zu diesem Vorwurf S. 306f. 102 Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 305.

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 VI Athen als Reformmodell einer urbanen politesse

Stil, in der Sprache der Rhetoriker als Attizismus bezeichnet, galt Dugas auch in anderen Lebensbereichen, wie der Kleiderwahl etwa, stets als dasjenige Vorbild, das das angemessene Mittel der verschiedenen Extreme in sich vereinte. „Les Athéniens, propres & modestes, cherchoient principalement dans leurs habits, la commodité & l’utilité, sans négliger la bienséance, & la bonne grace.“103 Um seine Ausführungen bezüglich des athenischen Stils zu untermauern, schloss er seine Abhandlung über den athenischen Geschmack mit zwei Zitaten von römischen Autoritäten, nämlich von Cicero und Quintilian. Ersterer habe gesagt „Tout ce qu’est dit avec grace, tout ce qui est judicieux, est dans le Goût Attique“, letzterer habe bestätigt: „Croyez … que parler Attiquement [sic.], n’est autre chose que parler excellement.“104  Die von La Bruyère übernommene Konzeption der athenischen politesse bot Dugas offensichtlich neue Handlungsräume: Mit dem Fokus auf Bildung und Leistung gab die Rezeption Athens – in Form der Konzentration auf die politesse als neuer Leittugend – neue Möglichkeiten der Selbstdefinition innerhalb der französischen politischen und sozialen Gemeinschaft. Wie la Bruyère stellte er die Monarchie nicht in Frage, betonte jedoch ausdrücklich die Gleichheit der athenischen Bürger. Er schrieb diesbezüglich: Athènes autrefois gouvernée par des Rois, ou des Tyrans, avoit depuis longtems, sécoué le joug, & s’étoit formée en Republique Démocratique, c’est-à-dire, où le peuple avoit la suprême autorité. Chaque particulier se croyoit souverain, & l’étoit en effet, puisqu’il décidoit par son suffrage de la guerre ou de la paix, & qu’il ne reconnoissoit d’autre superieur que de Magistrats, qu’on élisoit tous les ans. Une égalité parfaite régnoit entre tous les citoyens: on ne connoissoit ni le faste, ni le luxe, dans cette grande ville.105

Französische Adelige wie Laurent Dugas forderten hier also Gleichheit der Bürger ohne daraus politische Konsequenzen zu ziehen oder politische Veränderungen zu wünschen. Ganz im Gegenteil: Nur die Forderung nach Gleichheit ohne die Forderung nach demokratischen Institutionen konnte die Position der aufstrebenden Neuadeligen oder, wie in Dugas’ Fall, des Provinzadels stärken. Das von Dugas propagierte athenische Beispiel der politesse eignete sich wie bereits beim Autor der Caractères dazu, der eigenen Position Gewicht gegenüber den innerfranzösischen Konkurrenten zu verleihen. Die Ähnlichkeit der Positionen wird durch Dugas’ Wortwahl verdeutlicht: Er übernahm fast wörtlich La Bruyères Beschreibung Athens. Indem die Autoren und die Autorin Dacier durch die Bezugnahme auf Athen auch auf Leistung, Eleganz und kulturelle Überlegenheit, 103 Siehe Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 306. 104 Siehe Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 307f. 105 Dugas: Réflexions (wie Anm. 80), S. 287.



2 Versailles – Paris – Lyon: Athenische politesse und guter Geschmack 

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kurz auf das Konzept der politesse verwiesen, konnten sie die ritterlichen Ideale nach der Tradition der cortegiana, die qua Geburtstatus oder durch die Entfernung zum Hof von Versailles, nicht auf sie zutreffen konnten, aufweichen und ein neues Ideal propagieren, das größere soziale Handlungsspielräume zuließ und das die soziale Position innerhalb des Königreiches nicht nur von der Hofnähe abhängig machte. Dabei bedeutete der Verweis auf Athen in den hier aufgezeigten Quellen keine Öffnung gegenüber dem demos, dem Volk, sondern nur gegenüber denjenigen, die sich als Aristokratie verstanden. Dies erklärt auch, warum bei keinem der Autoren athenische Exklusionsmechanismen, die noch bei James Harrington eine zentrale Rolle gespielt hatten, erwähnt oder kritisiert wurden. Der Rekurs auf Athen verwies also nicht auf eine republikanische Gesinnung, wie das zuvor in den Niederlanden und in England der Fall gewesen war. Vielmehr sollte der Rückbezug auf Athen in Frankreich eine Blütezeit unter einem starken Monarchen erhalten, jedoch, und das ist entscheidend, mit einer erneuerten Elite von politischen und sozialen Amtsträgern. Diese Auffassung zeigte sich auch beim Geistlichen Nicolas Gedoyn (1677– 1744), der ebenfalls eine Abhandlung über den Geschmack verfasste, die im selben Band abgedruckt wurde wie diejenige Laurent Dugas’.106 Auch wenn sich der Geistliche nicht wie der Lyoner ausschließlich mit dem athenischen Geschmack beschäftigte, gab auch er die ciceronische Meinung wieder, dass sich die Athener durch einen exzellenten und feinen Geschmack ausgezeichnet hätten, „les atheniens [sic.] dont le goût étoit si bon & si fin, qu’ils ne pouvoient rien entendre , qui ne fût extrêmement pur & élegant.“107 Weiter führte Gedoyn aus: En effet où prendre ce bon Goût, c’est-à-dire un juste idée du beau, que dans les sources mêmes du beau & du bon? Et qu’elles sont ces sources? Si ce n’est les monumens que nous ont laissés les Grecs & les Romains; ces deux nations si savantes & polies, à qui nous devons tous les beaux arts. Il est constant que l’Architecture, la Sculpture, la Peinture & la Gravure modernes ont fait pour le moins d’aussi grands progrès que l’Eloquence & la Poësie modernes. Cependant l’Architecte, le Sculpteur, le Peintre & le Graveur croient ne pouvoir assez imiter, assez étudier le Goût Grec ou l’antique.108

Deshalb kam Gedoyn ganz im Stile der Verfechter der Alten zum Schluss, dass man bei den Alten sowohl die Idee der Perfektion finde, als auch das gegeignete

106 Gedoyn, Abbé Nicolas: Réfléxions sur le goût. In: Recueil d’opuscules littéraires. Hrsg. von [?]. Pellison. Amsterdam 1767. S. 217–286. 107 Gedoyn: Réfléxions (wie Anm. 106), S. 225. 108 Gedoyn: Réfléxions (wie Anm. 106), S. 242.

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 VI Athen als Reformmodell einer urbanen politesse

Vorbild dafür.109 Und auch wenn die römische Sprache des Theaters elegant gewesen sei, sei die griechische, besonders diejenige, die man in Athen gesprochen habe, noch viel reicher gewesen.110 Seine Ausführungen über den guten Geschmack der Griechen stellte der Abbé wiederum dem im Niedergang begriffenen Geschmack am französischen Hof entgegen: „La Cour n’est plus ce que nous l’avons vûe. Le bon gôut n’y règne pas aujourd’huy comme il y a trente ans, ni par conséquent à la ville.“111 Mit dem Verweis auf ein goldenes Zeitalter, das in Frankreich erhalten werden sollte – was für die Autoren nur durch den Rekurs auf das Vorbild Athen möglich war – sollte Frankreichs Vorrangstellung in Europa unter dem vorzufindenden Regime gestärkt werden. Kritik erntete nicht der Monarch, sondern die Höflinge, die in ihrer Interpretation zur Korruption des Geschmackes beitrugen. Diese die französische Monarchie stabilisierende Funktion der Athen-politesse-Verbindung wurde schließlich auch von ihrem ersten Kritiker erkannt: Jean-Jacques Rousseau.

3 Jean-Jacques Rousseaus Kritik an der urbanen politesse und ihrem Vorbild Athen Der bis zu diesem Zeitpunkt noch unbeachtete Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) antwortete 1750 auf die von der Académie des sciences & des belles lettres de Lyon gestellte Frage „Si le rétablissement des sciences et des arts a contribué à épurer les mœurs“, indem er seinen Discours sur les avantages des sciences et des arts112 verfasste, der schließlich auch den Preis der Akademie erhielt. Seine Abhandlung begann er mit der Kritik an dem vorherrschenden Diskurs eines französischen goldenen Zeitalters, Rousseau sprach in diesem Zusammen109 Gedoyn: Réfléxions (wie Anm. 106), S. 244. 110 „La langue grecque, sur-tout celle qui se parloit à Athènes, étoit encore plus riche …“ , siehe Gedoyn: Réfléxions (wie Anm. 106), S.  264. Dennoch wehrt sich Gedoyn gegen die Meinung, dass alles, was am französischen Theater gut sei, nur eine Imitation des griechischen, bzw. athenischem Theaters sei. Siehe ebd. S. 268. 111 Gedoyn: Réfléxions (wie Anm. 106), S. 229f. 112 Rousseau, Jean-Jacques: Discours sur les avantages des sciences et des arts. Prononcé dans l’assemblé publique de l’Académie des sciences & belles-lettres de Lyon, le 22 Juin 1751. Avec la réponse de Jean J. Rousseau, citoyen de Genève. Genève 1752. Im Folgenden wird nicht die Pléiade-Ausgabe von Rousseau benutzt, da anhand der zeitgenössichen Veröffentlichungen die Reaktionen und, wie sich zeigen wird, auch Rousseaus Antwort darauf besser darstellen lassen. Zu Rousseaus Leben und dem Einfluss antiken und christlichen Denkens auf Rousseaus Werke siehe: Touchefeu, Yves: L’Antiquité et le christianisme dans la pensée de Jean-Jacques Rousseau. Oxford 1999 (Studies on Voltaire and The Eighteenth Century, Bd. 372).



3 Jean-Jacques Rousseaus Kritik an der urbanen politesse 

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hang sogar von einem Missbrauch, der diese Mär vorgaukle: „On est désabusé depuis longtems de la chimere de l‘âge d’or.“113 Es werde in Frankreich gelehrt, dass Griechenland alles den Wissenschaften, die Welt alles Grichenland zu verdanken habe:114 „Tandis que la plus grande partie du monde étoit inconnue, que l’Europe étoit sauvage, & l’Asie esclave, la Gréce pensa, & s’éleva par l’esprit à tout ce qui peut rendre un peuple recommandable: Des Philosophes formerent ses mœurs & lui donnerent des loix.“115 Weiter führte Rousseau die in Frankreich gängige Meinung aus, dass Athen die gebildeteste und kulturreichste Stadt in Griechenland gewesen sei,  die jede erdenkliche Art der Kunst hervorgebracht habe „elle [Athènes] fut de plus sçavante, ingénieuse & magnifique; elle enfanta tous les arts & tous les talents; & dans le sein même de la corruption qu’on lui reproche, elle donna le jour au plus sage des Grecs.“116 Wie war diese Traditionslinie, die nach Ansicht der Franzosen von Athen nach Frankreich führte jedoch zu bewerten? Trug diese tatsächlich zu einem goldenen Zeitalter bei oder führte sie Frankreich etwa ins Verderben? Rousseau wog ab: Wenn man diesen Wandel der Wissenschaft in Athen, diese „heureuse révolution“, die so viele weise und gebildete Männer hervorgebracht habe, erklären wolle, dann müsse man doch zu dem Schluss kommen, dass diese aus den praktischen Künsten und der Wissenschaft hervorgegangen sei. Man müsse, so Rousseau, hier weiter darüber nachdenken, wer die ersten Gesetzgeber Griechenlands gewesen seien, dass diese Revolution der Künste und der Wissenschaften hatte stattfinden können. Rousseau fragte an dieser Stelle also: Kann man bestreiten, dass sie die tugendhaftesten und weisesten Männer ihres Zeitalters waren, da sie dem Walten des Geistes Raum gaben und das politische System so gestalteten, dass die Leidenschaften und Interessen der Einzelnen durch die Wissenschaft und Kunst gezähmt wurden und sie so zum Gesamtwohl beitrugen? Der Philosoph fasste die in Frankreich gängige Interpretation der griechischen Geschichte an dieser Stelle noch einmal zusammen, damit er diese in 113 „On est désabusé depuis longtems de la chimere de l’âge d’or: partout la Barbarie a précédé l’établissement des Sociétés; c’est une vérité prouvée par les annales de tous les Peuples. Partout les besoins & les crimes forecerent les hommes à se réunir, à s’imposer des loix, à s’enfermer dans des remparts. ... A travers ce vaste spectacle des passions & des miseres des hommes, nous appercevons à peine quelques contrées plus sages & plus heureuse.“ Siehe Rousseau: Discours (wie Anm. 112), S. 1f. 114 „En un mot la Gréce dut tout aux sciences, & le reste du monde dut tout à la Gréce.“ Rousseau: Discours (wie Anm. 112), S. 4f. Siehe zu Rousseau als Gegner der Zivilisations- und Aufklärungskritiker: Völkel, Barabara: Karl Philipp Moritz und Jean-Jacques Rousseau. Außenseiter der Aufklärung, New York [u.a.] 1991 (German Life and Civilization 10). 115 Rousseau: Discours (wie Anm. 112), S. 2. 116 Rousseau: Discours (wie Anm. 112), S. 7f.

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 VI Athen als Reformmodell einer urbanen politesse

seinem Discours widerlegen konnte: Dabei stellte Rousseau in Frage, dass man, wie die Erzählung in Frankreich spätestens seit Perraults Gedicht Le siècle de Louis le Grand ging, davon ausgehen konnte, dass der Stand der Künste und der Wissenschaft etwas über die Beschaffenheit und das Wesen einer Herrschaft aussage. In Frankreich nehme man fälschlicherweise an, dass sich anhand Athens zeigen ließe, dass seine weisen Gesetzgeber das Gemeinwesen so beschaffen hatten, dass sich die Künste und die Wissenschaften ausbreiten konnten. Und wenn die Künste und die Wissenschaften nun in Frankreich auf einem höheren Niveau waren als in der Antike, so war das für die Franzosen der Beweis, dass die Herrschaft von Ludwig XIV. und Ludwig XV. noch besser sein müsste als die der weisen Gesetzgeber Griechenlands. Tugend würde, so fürchtete Rousseau, in diesem Narrativ mit philosophischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Kenntnissen und Leistungen gleichgesetzt.117 Der Philosoph beobachtete also: Von den Griechen oder vielmehr von den Athenern hätten die Franzosen ihren Begriff der Tugend übernommen. Rousseau wollte in seinem Discours nun aber im Gegensatz zur gängigen Meinung behaupten, dass dieser von Athen übernommene Tugendbegriff ein „unheilvolles göttliches Geschenk“ sei, das „unverträglich mit der Tugend“ und folglich ein „eitles Phantom“ sei.118 Rousseau gab an dieser Stelle zu bedenken, dass Geschichte von den Geschichtsschreibern, Philosophen und politischen Denkern selektiv geschrieben werde und der athenische Weg als der tugendhafte vorgegaukelt werde. Was wäre aber gewesen, wenn ganz Griechenland nach den Gesetzen und Sitten der armen, kriegerischen und jeglichen Luxus verweigernden Spartanern gelebt hätte?119 Die Generationen und Jahrhunderte hätten sich akkumuliert, Menschen hätten gelebt, ohne voneinander zu wissen oder sich gegenseitig zu beeinflussen. Auf diese Art und Weise wäre die Welt ewig in einem Zustand der Kindheit verblieben.120 Rousseau hatte sich mit seinem Discours zum Ziel gesetzt, die Rede von einem goldenen Zeitalter und den darin immanenten Verweis auf das antike Athen als Chimäre zu entlarven. Seine folgenden Ausführungen sollten deshalb aufzeigen, dass man nicht dem athenischen, sondern vielmehr dem spartanischen Beispiel folgen solle.121 Für Rousseau konnten Athen und auch Rom vielmehr beweisen, dass die Blüte in der Wissenschaft den Ruin dieser Gemeinwesen herbeigeführt, ihnen 117 Rousseau: Discours (wie Anm. 112), S. 9ff. 118 Rousseau: Discours (wie Anm. 112), S. 10. 119 Rousseau: Discours (wie Anm. 112), S. 9. 120 Rousseau: Discours (wie Anm. 112), S. 10. 121 Siehe dazu auch Raynaud, Philippe: La politesse des Lumières. Les lois, les mœurs, les manières. Paris 2013, S. 124.



3 Jean-Jacques Rousseaus Kritik an der urbanen politesse 

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den „coup mortel“ verpasst habe: „Euripide & Demosthene ont vû Athénes livrée aux Spartiates & aux Macédoniens; … les uns & les autres ont été témoins des malheurs de leur Pays; ils en ont donc été la cause.“122 Wie konnte der wissenschaftliche und künstlerische Fortschritt aber zum Untergang dieser Gemeinwesen führen? In Rousseaus Interpretation waren Athen und Rom ursprünglich klein und arm, ihre Bürger verdingten sich als Soldaten, die nur vom notwendigsten lebten. Mit der Zeit nahmen die beiden Gemeinwesen aber an Reichtum und Macht zu, sodass ein Teil der Bürger nicht mehr das Gemeinwesen verteidigen wollte, sondern das Genussleben und die Welt des Denkens kennenlernte. Die einen verschrieben sich so dem Luxus, die anderen erweiterten die Grenzen des Geistes und führten somit eine neue Form des Ruhms ein, die nicht von militärischer Natur war.123 Während die einen nun die Sitten verdarben, riefen die anderen die Philosophie und die Kunst ins Leben und brachten so eine falsche Tugend hervor: „Ainsi tandis que les uns, par le spectacle des richesses & des voluptés, prophanoient les Loix & les mœurs; les autres allumoient le flambeau de la Philosophie & des Arts, instrusoient ou célébroient les vertus & donnoient naissance à ces noms si chers aux gens qui sçavent penser, l’atticisme & l’urbanité.“124 Diese neuen Tugenden waren nach Rousseau unter zwei Begriffen zu fassen, dem „atticisme“ und der „urbanité“. Mit dem Verweis auf den Attizismus machte Rousseau zweierlei deutlich: Erstens, dass die Sorge und die Bevorzugung der eigenen Sprache Teil dieser neuen philosophischen und künstlerischen Kultur war; zweitens zeigte er an, dass diese Entwicklung ihren Ursprung in Athen genommen hatte. Die philosophischen und rhetorischen Fähigkeiten, die Rousseau im Begriff des „atticisme“ zusammenfasste, konnten nach Meinung des Philosophen zudem nur in einem urbanen Raum gepflegt werden, wo sich Menschen ständig versammeln und miteinander diskutieren konnten und nicht, wie in einer ländlichen Gegend etwa, mit ihrer Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen mussten. Mit dem „atticisme“ hatten die Athener, so die Interpretation des Philosophen, ein neues Tugendverständnis eingeführt, das zuerst von den Römern und nun von den Franzosen kultiviert werde.125 In Frankreich erzähle man sich, dass die Blüte der Literatur mit dem Wohlbefinden eines Gemeinwesens einhergehe – dafür sei Frankreich schließlich der Beweis.126 Rousseau fragte nun aber, ob man deshalb annehmen könne, dass

122 Rousseau: Discours (wie Anm. 112), S. 11. 123 Rousseau: Discours (wie Anm. 112), S. 12f. 124 Rousseau: Discours (wie Anm. 112), S. 13. 125 Rousseau: Discours (wie Anm. 112), S. 13f. 126 Rousseau: Discours (wie Anm. 112), S. 19f.

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 VI Athen als Reformmodell einer urbanen politesse

die Musen die Freiheit, den Ruhm, das Glück liebten?127 Die Franzosen seien der Meinung, dass sich in Frankreich eine neue, bessere Ordnung herausgebildet habe, die in einem großflächigen Königreich deshalb Bestand habe, weil sie von einem Monarchen gefürt werde und wo man sich nicht wie im antiken Athen in einer Stadt versammeln und über politische Angelegenheiten entscheiden müsse. Ferner müssten sich nicht ständig alle um die Sicherheit und das Fortleben der eigenen politischen Gemeinschaft sorgen. In dieser großflächigen und bevölkerungsreichen Monarchie konnte deshalb eine Professionalisierung und Aufgabenteilung stattfinden: Während die einen für die Verteidigung des Königreichs zuständig seien, könnten andere in Ruhe leben, Handel treiben, sich mit Kunst, Literatur oder mit der Juristerei beschäftigen.128 Dies war für Rousseau das wenig überzeugende Bild, das die Franzosen von sich selbst zeichneten: „Telle est la foible image du beau règne de Louis XIV, & de celui sous lequel nous avons le bonheur de vivre: la France riche, guerriere & sçavante, est devenue le modéle & l’arbitre de l’Europe; elle sçait vaincre & chanter ses victoires: ses Philosophes mesurent la Terre, & son Roi la pacifie.“129 Wer aber, so fragte der Philosoph nun, traue sich ihnen zu sagen, dass sie nicht eine Blütezeit erlebten, sondern ihre Nation vielmehr im Niedergang begriffen sei, seitdem sie sich mit Literatur und Kunst beschäftigten: „Qui osera soutenir que le courage des François ait dégénéré depuis qu’ils ont cultivé les Lettres?“130 In der Analyse des Genfers war die Korruption der Sitten bei denjenigen besonders weit fortgeschritten, die in der französischen Hauptstadt lebten.131 Im Zusammenhang seiner Stadtkritik ging Rousseau auf die politesse ein, die von den Franzosen so gelobte Tugend, die die Künste, Wissenschaften und Literatur hervorgebracht habe.132 Für ihn war die politesse nichts anderes als eine Verschleierung der Eitelkeiten. Dass Rousseau die politesse im Zusammenhang mit Luxus erwähnte und den „atticisme“ mit der Urbanität verband, legt nahe, dass er in seinem Discours sur les sciences et les arts das Leben in Paris kritisierte. Sein Konzept der modernen Stadt und des urbanen Lebens zeigt dabei vier wiederkehrende Themen.133 Das erste bezog sich auf die physische Beschaffenheit einer Stadt: Rousseau ging davon aus, dass das Zusammenleben von vielen Men127 Rousseau: Discours (wie Anm. 112), S. 18. 128 Rousseau: Discours (wie Anm. 112), S. 20f. 129 Rousseau: Discours (wie Anm. 112), S. 21. 130 Rousseau: Discours (wie Anm. 112), S. 21. 131 Rousseau: Discours (wie Anm. 112), S. 51f, siehe auch S. 23f. 132 Rousseau: Discours (wie Anm. 112), S. 29f. Siehe zu Rousseaus politesse-Begriff auch Raynaud: La politesse (wie Anm. 121), S. 121–150. 133 Vgl. dazu Ellison, Charles E., Rousseau and the Modern City: The Politics of Speech and Dress. In: Political Theory 13/4 (Nov. 1985). S. 497–533.



3 Jean-Jacques Rousseaus Kritik an der urbanen politesse 

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schen auf engem Raum direkte soziale Konsequenzen habe. Die Einwohner einer Stadt seien von dem natürlichen Leben weit entfernt. Außerdem träfen sie ständig mit Fremden zusammen, was neue Formen des Umgangs miteinander einführe.134 Das zweite Thema bezog sich auf die ökonomischen Voraussetzungen, die die moderne Stadt schaffe und die wiederum Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen der Städter hätten: In der Stadt werde nicht mit landwirtschaftlichen Produkten gehandelt, sondern herrsche der Austausch von Geld, der die Kunstproduktion finanziere. Letztere war für Rousseau jedoch eine oberflächliche Arbeit, die nicht von Notwendigkeit oder Funktionalität bestimmt war und die deshalb einen korrumpierten Lebensstil hervorbringe, der von Luxus, Konsum und Überfluss geprägt sei und der in der Stadt sozial belohnt und anerkannt werde.135 Diese Voraussetzungen prägten, und das war Rousseaus dritter Themenschwerpunkt, die urbane Konzeption eines öffentlichen Lebens: Dieses bestand für ihn aus einer Zusammenkunft von Fremden und werde von einer Form der Soziabilität geprägt, die den Wunsch verfolge, Fremden zu gefallen. Diese Form der Begegnung fördere wiederum einen Lebensstil, der von Vergnügungssucht und Überfluss gekennzeichnet sei. Die Kunstproduktion und die urbane Tugend brächten somit eine Gesellschaft hervor, das wie ein Theater funktioniere. Für Rousseau waren die städtischen Theater, Opern und Gärten somit eine Bühne des urbanen Lebens, auf der sich die Einwohner und Einwohnerinnen präsentierten, ihre Talente zeigten und ihr Ansehen zu verbessern suchten.136 Viertens zeigte Rousseau auf, dass dieses urbane, von der Kunstproduktion geprägte öffentliche Leben, moralische und psychologische Auswirkungen auf das Individuum habe. Indem sich dieses auf der urbanen Bühne ständig selbst ausdrücken und präsentieren wolle, werde es moralisch und ästhetisch korrumpiert und verliere somit seine Authentizität. Das Individdum gehe in diesem urbanen Leben seiner emotionalen Ehrlichkeit verlustig, weil es in einer ständigen performativen Maske lebe und Emotionen als Konvention eines sozialen Lebens auslebe.137 Rousseau lehnte dieses urbane Leben in der Öffentlichkeit ab, das für ihn wie ein Theater funktionierte. Er wehrte sich damit gegen Verhaltens- und Sprechcodes, die vor allem in der französischen Hauptstadt herrschten.138 Ähnlich wie La Bruyère beobachtete er seine Mitmenschen also wie in einer „comédie humaine“ und entlarvte deren Schauspiel als korrumpierendes Maskenspiel. Rousseau wollte jedoch das urbane Leben bekanntlich nicht reformieren, sondern stellte 134 Ellison: Rousseau (wie Anm. 133), S. 497f. 135 Ellison: Rousseau (wie Anm. 133), S. 498. 136 Ellison: Rousseau (wie Anm. 133), S. 498. 137 Ellison: Rousseau (wie Anm. 133), S. 499. 138 Ellison: Rousseau (wie Anm. 133), S. 499.

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 VI Athen als Reformmodell einer urbanen politesse

ihm das ländliche Leben gegenüber: Während die Bewohner in kleinen Städten und auf dem Land von der Arbeit ihrer Hände und von der Natur lebten und soziale Beziehungen in Familien pflegten, hätten Stadtbewohner einen Lebensstil herausgebildet, der von Müßiggang, Wohlstand und Luxus geprägt sei und in dem unpersönliche und unehrliche soziale Beziehungen herrschten. Politesse und öffentliches, städtisches Leben galten ihm dementsprechend als künstlich, die politesse war für den Philosophen demzufolge nicht als Tugend zu werten.139 Rousseau missfiel also sowohl La Bruyères Ziel, ein öffentliches, von einer urbanen Höflichkeit gesprägtes Leben sowie dessen Vorbild der Athener bzw. Athens. Weil er in seinem Discours den korrumpierten Lebensstil der Pariser besprach, spielte die Ablehnung des Tugendmodells Athen eine entsprechend dominante Rolle: Rousseau wehrte sich gegen den Diskurs, Athen als Vorbild eines goldenen Zeitalters zu sehen. Vielmehr lag für Rousseau im antiken Griechenland und insbesondere in der athenischen polis der Ursprung der verdorbenen, korrumpierten Sitten und sozialen Beziehungen des aktuellen Frankreichs. Im antiken Athen hatte für ihn die Herrschaft des öffentlichen Lebens mit Fremden, des Schauspielerns und der Selbstdarstellung begonnen. Indem er immer wieder auf die in Frankreich und insbesondere in Paris herrschende Meinung verwies, verdeutlichen seine Ausführungen noch einmal, wie interessiert La Bruyères Modell eines öffentlichen, höflichen Lebens nach athenischem Vorbild diskutiert wurde. Rousseau bestätigte damit den von seinen französischen Zeitgenossen wahrgenommenen Zusammenhang von politesse, öffentlichem Leben und dem Vorbild Athen. Rousseaus erster Discours löste erheblichen Widerspruch aus, wurde aber auch gerade deshalb viel gelesen.140 Er wurde in den ersten Tagen des Jahres 1751 im Mercure de France, der wichtigsten literarischen Zeitung der Zeit veröffentlicht und machte Rousseau über Nacht berühmt. Noch im selben Jahr gab es allein mehrere Ausgaben, unter anderem im Journal des savants und im Le petit réservoir. Einer dieser Ausgaben wurde der Widerspruch des damals berühmten Chirurgen Claude-Nicolas Le Cat (1700–1768) angehängt.141 In seiner Réfutation142 139 Ellison: Rousseau (wie Anm. 133), S. 500. Siehe auch Raynaud: La politesse (wie Anm. 121), S. 123–135. 140 Trousson, Raymond: Introduction. In: Jean-Jacques Rousseau jugé par ses contemporains. Du Discours sur les sciences et les arts aux Confessions. Hrsg. von dems./Antony McKenna. Paris 2000 (Les dix-huitième siècles, Bd. 57). Hier ohne Seitenangabe. 141 Trousson: Introduction (wie Anm. 140), S. 11ff. 142 Le Cat, Claude-Nicolas: Réfutation, qui a remporté le prix à l’Académie de Dijon, en l’année 1750. Sous le nom d’un académicien de la même ville, par M. Le Cat, Secretaire perpetuel de l’Académie des sciences de Rouen. In: Jean-Jacques Rousseau Discours qui a remporté le prix à l’Académie de Dijon, en l’année 1750 … Nouvelle édition. London 1751. S. 1–91.



3 Jean-Jacques Rousseaus Kritik an der urbanen politesse 

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bestätigte Le Cat zunächst die Verbindung von Athen und politesse und stellte heraus, dass diese Tugend zuerst die Athener, dann die Römer zu ihrer Größe gebracht habe und nun auch die Franzosen anderen Völkern überlegen mache. C’est par cette sorte de politesse, d’autant plus aimable qu’elle affecte moins de se montrer, que se distinguérent autrefois Athénes & Romes dans les jours si vantés de leur magnificence & de leur éclat; c’est par elle, sans doute, que notre siécle & notre Nation l’emporteront sur tous les tems & sur tous les Peuples. Un ton philosophes sans pédanterie, des maniéres naturelles & pourtant prévenantes, également éloignées de la rusticité Tudesque & de la Pantomine ultramondaine: Voilà les fruits du goût acquis par de bonnes études & perfectionné dans le commerce du monde.143

Le Cat widersprach Rousseau also sowohl in seinem Befund, dass die politesse keine Tugend sei als auch in seiner Parteinahme gegen Athen. Er widersetzte sich dem Philosophem auch darin, dass die Menschen in der Stadt weniger tugendhaft seien als Menschen auf dem Land. Um Beispiele der Barbarei zu finden, müsse man nicht in andere Länder gehen. Es reiche, sich in den ländlichen Gebieten Frankreichs umzuschauen. Hunderte versammelte Pariser seien tugendhafter als ein paar junge Bauern aus den Provinzen Frankreichs. Le Cat steigerte dies sogar noch: In einer Stadt mit einer Million Einwohner gäbe es in drei Monaten weniger Gewalt als an einem Abend unter 30 jungen Bauern der Provinz.144 Der Mediziner bezeugte damit die Verbinung „de la vertu, de la raison avec les Sciences, les Arts, l’urbanité.“145 Le Cat widersprach Rousseau auch in dessen Behauptung der allgemeinen Anonymität in der Stadt, die die lasterhafte soziale Schauspielerei hervorbringe. Er behauptete dagegen, dass städtische Beziehungen durch Freundschaften geprägt seien, die Einwohner einer Stadt also durchaus nicht nur Fremden begegneten.146 Damit war die urbane politesse für ihn nicht nur ein oberflächliches Schauspiel. Der Mediziner lobte vielmehr die Gesetze Frankreichs, die diese städtische Tugendhaftigkeit ermöglichten. Rousseau verwechsle hier Essentielles: „L’auteur confond par-tout la vertu guerriere du soldat, la férocité avec la véritable vertu, la probité, la justice.“147 Der Zivilisationskritiker Rousseau habe die Tugenden eines Soldaten und die wahren Tugenden der Rechtschafftenheit und Gerechtigkeit durcheinander gebracht. Le Cat verteidigte damit die soziale Hierarchie in Frankreich, die die Menschen in zwei Klassen einteile: Die eine sei nicht von gutem 143 Le Cat: Réfutation (wie Anm. 142), S. 9. 144 Le Cat: Réfutation (wie Anm. 142), S. 15f. 145 Le Cat: Réfutation (wie Anm. 142), S. 16. 146 Le Cat: Réfutation (wie Anm. 142), S. 23. 147 Le Cat: Réfutation (wie Anm. 142), S. 34.

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 VI Athen als Reformmodell einer urbanen politesse

Stande und ohne Bildung und Erziehung, die andere sei von guter Geburt und bringe die Wissenschaft und Künste voran: Je ne présume pas que le Discours de notre Orateur fasse réformer ces dénominations universellement reçues, & vraisemblablement bien fondées, par lesquelles on distingue communément les hommes de la société en deux classes: l’une sans naissance, sans éducation, & qu’en conséquence on désigne par des épithètes qui marquent qu’elles a peu de sentimens, peu d’honneur & de probité; l’autre bien née & instruite de toutes les parties des Sciences & des Arts qui entrent dans la belle éducation & que pour cette raison on regarde comme la classe des honnête gens.148

Der gebürtige Normanne Le Cat, der als Sohn eines Chirurgen in Paris an den Écoles de Médécine studiert hatte und nun selbst erfolgreicher Mediziner war und zunächst in seiner Heimatstadt Rouen, dann in Reims praktizierte bevor er in Rouen eine Schule für Anatomie und Chirurgie eröffnete, hatte auch einigen Grund, das soziale Gefüge Frankreichs, in dem er gerade seinen Status verbessert hatte, zu verteidigen: 1737 war er nämlich zum königlichen Prosektor der Chirurgie ernannt worden und war Gründungsmitglied der Rouener Académie des sciences, wo er auch selbst unterrichtete. Für seine wissenschaftlichen Verdienste hatte ihn Ludwig XV. dann auch nobilitiert.149 Dementsprechend lobte Le Cat Frankreich dafür, dass es hier einen Monarchen gebe, der die Wissenschaften und Künste fördere und der sogar Adelstitel an herausragende Wissenschaftler verleihe.150 Als Neuadeliger wehrte sich Le Cat auch gegen Rousseaus Vorbild Sparta, das in der Lesart des Mediziners überhaupt erst die Tyrannei nach Athen gebracht hatte. Die Athener waren demnach nicht der Korruption verfallen, sondern waren die Kinder der schönen Künste, „enfans d’Athènes, enfans des beaux-arts.“151 Vielmehr seien in Athen die führenden Männer von Philosophen, Künstlern und Wissenschaftlern ausgebildet worden – und so sei dies auch heute in Frankreich: La férocité n’est pas capable d’une si grande élevation d’ame, elle est reservée à l’Eleve d’Homère & d’Aristote, au Protecteur des Appelles & des Phidias; comme on voit dans notre siécle qu’elle est encore annexée aux Princes éleve des Descartes, des Newtons, des Volfs; aux Princes fondateurs & protecteurs des Académies; aux Princes amis des Savans, & Savans eux-même. Toute l’Europe m’entend, & je ne crains pas qu’elle desavoue ces preuves recentes, actuelle même, de l’union intime & naturelle du savoir, de la vraie valeur & de l’équité.152 148 Le Cat: Réfutation (wie Anm. 142), S. 34f. 149 Vetter, Théodore: Le Cat, Claude-Nicolas. In: Complete Dictionary of Scientific Biography. 27 Bde. Detroit 2008. Bd. 8. S. 114–116. 150 Le Cat: Réfutation (wie Anm. 142), S. 77. 151 Le Cat: Réfutation (wie Anm. 142), S. 40f. 152 Le Cat: Réfutation (wie Anm. 142), S. 41.



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Indem Le Cat nach platonischem Vorbild und mit griechisch-athenischen Beispielen die Bedeutung von Gelehrten und Philosophen für die Erziehung der Herrscher darstellte, bestärkte und legitimierte der Chirurg seinen eigenen Rang und Einfluss im Königreich. Athen war für den Neuaufsteiger Vorbild der Glück und Wohlstand bringenden politesse: Athénes devint le séjour de la politesse & du bon goût, le pays des Orateurs & des Philosophes. L’élégance des Bâtimens y répondait à celle du langage. On y voyait de toutes parts le marbre & la toile animés par les mains des Maîtres les plus habiles. C’est d’Athènes que sont sortis ces ouvrages surprenans qui serviront de modéles dans tous les âges corrompus.153

Gegen Rousseau wandte er abermals ein, dass das Bild der spartanischen Geschichte, wenn man diese mit derjenigen Athens vergleiche, weniger herausragend sei: „Le Tableau de Lacedemone est moins brillant“. Zudem könne man Athen nicht die Korruption der Sitten und Tugenden vorwerfen, da diese erst in Rom zum Problem geworden sei.154 Dass Rousseaus Discours solchen Widerspruch hervorrief, zeigt einmal mehr, wie virulent das Thema der politesse nach athenischem Vorbild zur Mitte des 18. Jahrhunderts diskutiert wurde.155 Noch aufschlussreicher als sein eigentlicher Discours ist deshalb Rousseaus Dernière réponse,156 mit der er auf den Widerspruch reagierte. Gleich zu Beginn seiner Antwort erörterte er noch einmal im Detail, ob die politesse überhaupt als Tugend zu werten sei. Hierzu stellte er die Auswirklungen dar, die die Kultur und Literatur auf ein politisches Gemeinwesen hätten: Plus intérieur se corrompt & plus l’extérieur se compose: c’est ainsi que la culture des Lettres engendre insensiblement la politesse. Le goût naît encore de la même source. L’approbation publique étant le premier prix des travaux littéraires, il est naturel que ceux qui s’en occupent réfléchissent sur les moyens de plaire; & ce sont ces réflexions qui à la longue forment le style; épurent le goût, & répandent par tout les graces & l’urbanité. Toutes ces choses seront, si l’on veut, le supplément de la vertu: mais jamais on ne pourra dire qu’elles soient la vertu, & rarement elles s’associeront avec elle.157

153 Le Cat: Réfutation (wie Anm. 142), S. 41f. 154 Le Cat: Réfutation (wie Anm. 142), S. 42.  155 Siehe zu den Diskussionen um Rousseaus Discours sur les sciences et les arts Trousson: Jean-Jacques Rousseau (wie Anm. 140), Kapitel 1, S. 11–57. 156 Rousseau, Jean-Jacques: Dernière réponse. In: Ders.: Discours sur les avantages des sciences et des arts (wie Anm. 133), S. 63–130. 157 Rousseau: Dernière réponse (wie Anm. 156), S. 68f.

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Auch in seiner réponse zeigte er die Verbindung von politesse und Luxus auf: „La vanité & l’oisiveté qui ont engendré nos sciences, ont aussi engendré le luxe. Le goût du luxe accompagne toujours celui des Lettres, & le goût des Lettres accompagne souvent celui du luxe: toutes ces choses se tiennent assez fidelle [sic.] compagnie, parce quelles sont l’ouvrage des mêmes vices.“158 Die ersten Menschen waren für ihn dagegen unwissend und deshalb unkorrumpiert. So resultiere die Tugend nicht aus Wissen, sondern aus Unwissenheit. Die Geschichte beweise, dass alle gebildeten Völker dagegen korrumpiert waren, so eben auch und vor allem Athen.159 Rousseau ging in seiner Dernière réponse auf die Einwände ein, die gegen seinen Discours eingebracht worden waren, fasste diese zusammen und erläuterte sie. Der erste Widerspruch bezog sich auf das antike Griechenland, dessen Philosophen nach Ansicht der Griechenlandbewunderer die Sitten, Bräuche und Gesetze geformt und somit das Volk zum Guten angeleitet hätten.160 Der zweite Einspruch bezog sich auf Rousseaus Vorstellungen von Sparta, das nach Ansicht des Philosophen bewusst auf Luxus verzichtet hatte, dessen Sitten jedoch dennoch korrumpiert worden seien.161 Mit der dritten Widerrede wurde die Ansicht vertreten, dass der Zustand der Wissenschaft und der Kunst etwas über die politische Führung und Herrschaft in einem Gemeinwesen aussage – ein Zusammenhang den Rousseau in seinem Discours bestritten hatte.162 In den Einwänden wurde die Meinung offenbar, dass die französische politische Überlegenheit in Europa und der Fortschritt in Wissenschaft und Kunst für die französische Monarchie und die gute Herrschaft Ludwigs XIV. und XV. sprächen. Die Sitten und Bräuche in Frankreich seien deshalb die besten: „Cette vérité se confirme par l’éxpérience des derniers tems, où l’on voit dans une Monarchie vaste & puissante la prospérité de l’état, la culture des Sciences & des Arts, & la vertu guerriére 158 Rousseau: Dernière réponse (wie Anm. 156), S. 70. 159 Siehe Rousseau: Dernière réponse (wie Anm. 156), S. 71, 73, 74. 160 Rousseau fasst diese Meinung folgendermaßen zusammen: „La Gréce seule dans les anciens tems pensa & s’éleva par l’esprit à tout ce qui peut rendre un Peuple recommandable. Des Philosophes formerent les mœurs & lui donnerent des loix.“ Rousseau: Dernière réponse (wie Anm. 156), S. 76. 161 Rousseau gibt diesen zweiten Einwand folgendermaßen wieder: „Sparte, il est vrai, fut pauvre & ignorante par institution & par choix; mais les loix avoient de grands défauts, ses Citoyens un grand penchant à se laisser corrompre; sa gloire fut peu solide, & elle perdit bientôt ses institution, ses loix & ses mœurs.“ Rousseau: Dernière réponse (wie Anm. 156), S. 76. 162 Der dritte Widerspruch wird in folgenden Worten wiedergegeben: „Athènes et Rome dégénérent [sic.] aussi. L’une céda à la fortune de la Macédoine, l’autre succomba sous sa propre grandeur; … l’on peut observer, au contaire [à ce que dit Rousseau – Anm. d. Verf.] que le progrès & la décadence des lettres est toujours en proportion avec la fortune & l’abbaissement des Empires.“ Rousseau: Dernière réponse (wie Anm. 156), S. 76 f.



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concourir à la fois à la gloire & à la grandeur de l’Empire.“163 Und weiter waren die Gegner Rousseaus der Meinung: „Nos mœurs sont les meilleures qu’on puisse avoir; plusieurs vices ont été proscrits parmi nous; ceux qui nous restent appartiennent à l’humanité, & les sciences n’y ont nulle part.“164 Zuletzt wurde gegen den Philosophen eingewandt, dass die Einführung des Luxus’ nichts mit der Entwicklung der Wissenschaften und Künste zu tun habe. Außerdem sei Luxus in großen Staaten nicht schädlich, sondern notwendig und richte mehr Gutes als Übel an, denn erst der Luxus für die einen, ermögliche die Fürsorge der Armen.165 Ein letzter, schwerwiegender Widerspruch betraf aber Rousseaus Einschätzung der politesse. Sie sei notwendig, damit Menschen überhaupt erträglich miteinander zusammenleben könnten.166 Die Einwände zeigen die enge diskursive Verwendung von politesse, der Blüte von Wissenschaft und Künsten und dem Vorbild Athen. In seiner réponse ging Rousseau deshalb auch weiter auf das antike Griechenland und Athen ein, um seine Kritik an dem von ihm beobachteten Diskurs zu verdeutlichen: J’ai dit que les premiers Grecs furent vertueux avant que la science les eût corrompus; & je ne veux pas me rétracter [sic.] sur ce point, quoiqu’en y regardant de plus près, je ne soit pas sans défiance sur la solidité des vertus d’un peuple si babillard, ni sur la justice des éloges qu’il aimoit tant à se prodiguer & que je ne vois confirmés par aucun autre témoignage. Que m’oppose-t’on à cela? Que les premiers Grecs dont j’ai loué la vertu étoient éclairés & sçavans, puisque des Philosophes formerent leurs mœurs & leur donnerent des loix.167

Das antike Griechenland bzw. Athen bewiesen für den Genfer, dass erst die Entwicklung und Herausbildung der Wissenschaften ein Gemeinwesen korrumpierten. Die ersten Griechen seien dagegen tugendhaft gewesen. Der Philosoph führte das Argument weiter aus: „quand on commença à ouvrir des écoles publiques de Philosophie, la Gréce avilie & dégénérée avoit déjà renoncé à sa vertu & vendu sa liberté.“168 Rousseau wollte in seiner réponse noch einmal die Präferenz, die man den alten Griechen über alle anderen Völker gab, genauer betrachten. Mit einem ironischen Unterton, den er schon in seiner gesamten Abhandlung gezeigt hatte, erläuterte er bezüglich der Athenbewunderung, dass man dafür nur ein blindes Volk brauche:

163 Rousseau: Dernière réponse (wie Anm. 156), S. 78. 164 Rousseau: Dernière réponse (wie Anm. 156), S. 78. 165 Rousseau: Dernière réponse (wie Anm. 156), S. 78. 166 Rousseau: Dernière réponse (wie Anm. 156), S. 79. 167 Rousseau: Dernière réponse (wie Anm. 156), S. 87. 168 Rousseau: Dernière réponse (wie Anm. 156), S. 89.

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Cette admiration est en effet très-digne d’un vrai Philosophe: il n’appartient qu’au peuple aveugle & stupide d’admirer des gens qui passent leur vie, non à défendre leur liberté, mais à se voler & se trahir mutuellement pour satisfaire leur mollesse ou leur ambition, & qui osent nourrir leur oisiveté de la sueur du sang & des travaux d’un million des malheureux.169

Die Franzosen sollten sich nicht die Geschwätzigkeit der Griechen bzw. Athener zum Vorbild nehmen, vielmehr solle jeder Mann – wie einst in Sparta – Soldat sein, um die Freiheit des Gemeinwesens zu verteidigen und nicht, wie dies das antike Athen getan habe, anderen Völkern die Freiheit nehmen und diese unterwerfen.170 Rousseau führte damit ein für Frankreich neues, republikanisches Argument in die französische Athenrezeption ein: politische Freiheit und Selbstbestimmung. Das demokratische Athen erschien dem Philosophen jedoch kein Vorbild hierfür, sondern stand in seiner Lesart bürgerlicher Selbstbestimmung sogar im Wege. Weil Athen die vorherrschenden Hierarchien bestätige, missfalle es seinen Gegnern, wenn er dagegen das Modell Spartas propagierte: Was gäben diejenigen, die nur ihren eignen Ruhm im Sinn hatten doch darum, wenn es dieses Sparta niemals gegeben hätte! C’est une terrible chose qu’au milieu de cette fameuse Gréce qui ne devoit sa vertu qu’à la Philosophie, l’Etat où la vertu a été la plus pure & a duré le plus long-tems ait été précisément celui où il n’y avoit point de Philosophes. Les mœurs de Sparte ont toujours été proposées en exemple à toute la Gréce; toute la Gréce étoit corrompue, & il y avoit encore de la vertu à Sparte; toute la Gréce étoit esclave, Sparte seule étoit encore libre: cela est désolant. Mais enfin la fiére Sparte perdit ses mœurs & sa liberté, comme les avoit perdues la sçavante Athénes; Sparte a fini. Que puis-je répondre à cela?171

Im Folgenden interpretierte Rousseau Spartas militärische Überlegenheit als Zeichen für seine Tugend. Rousseau malte seinen Lesern vor Augen, dass man die spartanische Tugend deshalb vergessen habe, da die Spartaner nicht an ihrem Ruhm interessiert waren und sie ihre Geschichte nicht schriftlich festhielten. Zur Verdeutlichung seines Arguments nutzte er folgenden literarischen Kniff: Er schrieb eine Rede eines Spartaners, der an der Bescheidenheit seiner Landsleute verzweifelte und versuchte, sie dazu zu animieren, etwas für ihr eigenes Andenken zu tun. Sie sollten sich nicht nur um militärische Überlegenheit und ihre Tugend sorgen, sondern auch darum, dass man sich an diese erinnere.172 Diese imaginierte Rede verglich er dann mit dem Vorgehen des Atheners Perikles, der Athen durch Skulpturen und Bauwerke habe verschönern und so ein ewiges 169 Rousseau: Dernière réponse (wie Anm. 156), S. 90. 170 Rousseau: Dernière réponse (wie Anm. 156), S. 91. 171 Rousseau: Dernière réponse (wie Anm. 156), S. 94f. 172 Rousseau: Dernière réponse (wie Anm. 156), S. 99.



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Andenken habe schaffen wollen: „Pericles avoit de grands talens, beaucoup d’éloquence, de magnificence & de goût: il embellit Athénes d’excellens ouvrages de sculpture, d’édifices somptueux & de chef-d’œuvres dans tous les arts. Aussi Dieu sçait comment il a été prôné par la foule des écrivains!“173 Für Rousseau war die Schönheit der Stadt jedoch kein Beweis für die Überlegenheit oder Tugend der Athener, denn auf die kulturellen Errungenschaften komme es bei der Bewertung der Amtszeit eines Magistraten nicht an. Bedeutender als Städte zu verschönern und die eigene Pracht und Herrlichkeit darzustellen, sei es, gut zu regieren und seine Bürger zur Tugenhaftigkeit zu erziehen. Für Rousseau waren diese kulturpolitischen Maßnahmen also keineswegs Beweise für eine gute Herrschaft, sondern vielmehr Indikatoren für eine falsche politische Zielsetzung. Am Beispiel Perikles machte er abermals deutlich: Cependant il reste encore à sçavoir si Périclès a été un bon Magistrat: car dans la conduite des Etats il ne s’agit pas d’élever des statues, mais de bien gouverner les hommes. Je ne m’amuserai point à développer les motifs secrets de la guerre du Péloponnese, qui fut la ruine de la République; … je demanderai seulement si les Athéniens devinrent meilleurs ou pires sous son gouvernement; je prierai qu’on me nomme quelqu’un parmi les Citoyens, parmi les Esclaves, meme parmi les propres enfans, dont ses soins aient fait un homme de bien.174

Was allein bei der Beurteilung der Regierung zähle sei die Frage, ob die Athener unter seiner Herrschaft besser oder schlechter geworden seien. Denn dies sei das erste Ziel eines jeden Magistraten, die Menschen gut zu erziehen, damit die Menschen glücklich zusammen leben konnten.175 Damit suchte der Genfer zu verdeutlichen, dass es keinen Zusammenhang zwischen guter Herrschaft und kultureller Blüte gebe. Am Beispiel Athens warnte Rousseau die Franzosen davor, dass der Staat, weil dieser zu viel Geld in Wissenschaften und Künste investiere und den Schriftstellern und Schauspielern zu viel bezahle, dieser schließlich kein Geld mehr haben werde, die eigene Freiheit zu verteidigen – eine Warnung, die angesichts der schwindenden französischen Staatsfinanzen und der ständigen Bedrohung, die französischen Kolonien in Nordamerika durch den Konkurrenten England zu verlieren, nicht auf taube Ohren gestoßen sein dürfte. Um seiner Warnung Gewicht zu verleihen, nutzte Rousseau hierfür erneut das Beispiel Athens:

173 Rousseau: Dernière réponse (wie Anm. 156), S. 100. 174 Rousseau: Dernière réponse (wie Anm. 156), S. 100. 175 Rousseau: Dernière réponse (wie Anm. 156), S. 100.

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Il fut un tems où la République d’Athénes étoit assez riche pour dépenser des sommes immenses à ses spectacles, & pour payer très cherement les Auteurs, les Comediens, & meme les Spectateurs: ce même tems fut celui où il ne se trouva point d’argent pour défendre l’Etat contre les entreprises de Philippe.176

Etwas versöhnlicher stellte Rousseau dar, dass er schließlich nicht vorschlage, die Bibliotheken und Akademien niederzureißen.177 Trotzdem verspüre er die moralische Verpflichtung, den Franzosen gewissermaßen die Augen zu öffnen und ihnen zu zeigen, dass man ihnen von Seiten der politischen und sozialen Elite der Wissenschaftler und Philosophen und Künstler vorgaukle, dass Frankreich in einem goldenen Zeitalter und deshalb auch unter der besten Führung lebe. Um diese Chimäre aufrechtzuerhalten, beziehe sich die Elite auf das antike Athen. Rousseau bestritt also keineswegs die diskursive Verbindung von der polis Athen und politesse, er bestritt jedoch, dass politesse eine Tugend sei, die das Gemeinwesen stabilisiere und die Menschen glücklicher mache. Für ihn war die politesse, ähnlich wie für den Protagonisten Alceste in Molières Tragödie Le Misanthrope, ein unechtes Maskenspiel, eine korrumpierende Eitelkeit, die in den Ruin führe. Und mit der politesse verwarf er auch deren wichtigstes Modell: das antike Athen. In seinen Erläuterungen über das Luxusstreben und der Sucht nach Ruhm und Geld178 – Attribute, die vornehmlich der zu Geld gekommenen aufstrebenden „noblesse de robe“ zugesprochen wurden – erwähnte Rousseau wiederkehrend die politesse und ihr Vorbild Athen. Es scheint hier nahezuliegen, dass der Genfer den Amtsadel kritisierte, der sich zumeist seine politischen Ämter erkaufte. Der Autor des Discours verfocht hier jedoch auch nicht die Position des traditionellen Adels oder der höfischen Elite. Seine Beschreibung des Perikles erinnert vielmehr an Richelieu und Colbert, die ähnlich wie Perikles einst in Athen, die Kulturhegemonie Frankreichs manifestieren wollten und Paris zu einer prachtvollen Stadt ausbauen ließen. Die Elite Frankreich bediente sich laut Rousseau also der Rede von einem goldenen Zeitalter zu eigenen Zwecken und verhinderte somit jegliches Streben der „citoyens“ nach Freiheit und Selbstbestimmung. Rousseau zeigte so erstens, dass es die politische und soziale Elite sei, die mit dem Verweis auf die Antike und insbesondere auf das antike Griechenland 176 Rousseau: Dernière réponse (wie Anm. 156), S. 111. 177 Rousseau: Dernière réponse (wie Anm. 156), S. 128. 178 Siehe zur Luxusdebatte und Luxuskritik auch Berg, Maxine u. Elisabeth Eger: The Rise and the Fall of Luxury Debates. In: Luxury in the Eighteenth Century. Debates, Desires and Delectable Goods. Hrsg. von dies. Basingstoke [u.a.]. S. 7–27; Zur ökonomischen Idee Rousseaus siehe auch Hundert, Edward: Mandeville, Rousseau and the Political Economy of Fantasy. In: Luxury in the Eighteenth Century. Debates, Desires and Delectable Goods (wie Anm. oben). S. 28–40.



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eine Mär geschaffen habe, um die Erzählung eines goldenes Zeitalters unter einem absolutistischen Königs aufrecht zu erhalten und ihre eigene Position im Königreich zu legitimieren. Zweitens diskreditierte er mit seinem immer wiederkehrenden Verweis auf Luxus und Schein sowohl die höfische Kultur als auch diejenigen, die durch ihr Kapital versuchten, ihren Platz in diesem hierarchischen Gefüge zu finden. Hier richtete sich sein Vorwurf gegen die „noblesse de robe“. Drittens zeigte er auf, dass der Verweis auf die politesse, auf das öffentliche Leben und auf Athen keinerlei reformerisches oder republikanisches Potential bot, sondern im Gegenteil, das bestehende Regime in Frankreich stützte und die Franzosen blende. Anstelle Athens wollte er seinen Lesern ein anderes Modell zur Hand geben: Sparta, das ihm durch sein Luxusverbot, durch seine Ländlichkeit und die militärische Ausbildung seiner Bürger als natürlicher, einfacher und damit als weniger korrumpiert erschien. Rousseau wehrte sich nicht gegen einen Rekurs auf und einen Vergleich mit der Antike,179 er demaskierte jedoch den Diskurs des goldenen Zeitalters als „chimère“ und kritisierte, dass man sich in Frankreich auf die falschen antiken Vorbilder bezog: Denn auch wenn Sparta ebenfalls seine Fehler hatte, gab es für ihn dennoch ein Bild tugendhafter, mutiger, ehrlicher und fleißiger Männer. Die Spartaner hätten ihre Freiheit als Soldaten stets behauptet und ihre Tugendhaftigkeit durch ihre selbsterwählte Armut bewahrt: „Sparte ce phénoméne politique, cette république de soldats vertueux, est le seul peuple qui ait eu la gloire d’être pauvre par institution & par choix.“180 Rousseau führt damit das republikanische Argument der politischen Freiheit in die französische Athenrezeption ein. Dass sich die Franzosen gerade im Anschluss an Rousseaus Kritik mit dem Thema der Korruption der Sitten beschäftigten, zeigt ein Preisausschreiben, das 1753 von der Académie de belles-lettres de Montauban, einer Provinzstadt nördlich von Toulouse, veröffentlicht wurde. Das Thema, das im Wettbewerb besprochen werden sollte, lautete: „La corruption du goût suit toûjours celles des mœurs.“181 Die Frage nach der Korruption des Geschmacks war eng verbunden 179 Dies hatte auch Benjamin Constant in seinem De la liberté des Anciens et des Modernes festgestellt. Vgl. Kapitel I dieser Arbeit. 180 Rousseau: Discours (wie Anm. 112), S. 6. 181 Teuilières, Bernard-Armand: Discours sur le sujet proposé par l’Académie des belles-lettres de Montauban, Pour l’année 1753, par M. Teulieres, de Montauban, âgé de 16 ans, Étudiant en droit. Montauban 1753. Teulières ging in seinem Discours folgender Frage nach: „Qu’il est affligeant pour un homme ami des arts & des talens, d’être témoin de le décadence du goût dans sa nation! En vain, la nôtre a coûté tant de travaux à nos père pour la retirer de la barbarie où elle étoit plongée, elle est sur le point d’y retomber pour jamais. Quel avant-coureur plus certain de la chûte du goût, que l’état déplorable où nous voyons le cœur de l’homme? Les mauvaises mœurs, non contentes d’y avoir établi leur empire, regnent encore sur son esprit, & l’entraînent dans la

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mit Themen der Manieren, des Verhaltens und der politesse. Für Bernard-Armand Teulières (ca. 1737–[?]), sechzehnjähriger Rechtsstudent und späterer avocat au Parlement de Toulouse,182 war das, was sich im Geist eines Menschen abspielte das Abbild seines Herzens.183 Der in seinem Herzen korrumpierte Mensch verlor entsprechend auch einen wichtigen Teil seines Geschmacks. Teulières kam so zum Ergebnis, dass das Schöne in der Größe der Gedanken, in der Vornehmheit der Gefühle sowie in der Pracht der Worte liege. Diese Qualitäten erforderten ein reines Herz, aber auch viel Engagement, den eigenen Geist zu kultivieren: „Le beau consiste dans la grandeur des pensées & la noblesse des sentimens, la magnificence des paroles & le tour harmonieux, vif & animé du discours. Toutes ces qualités demandent un cœur noble & une ame élevée, un travail pénible & assidu, avec un génie cultivé: y eut-il jamais rien de plus incompatible avec la corruption du cœur?“184 Mit diesen Ausführungen konnten kulturelle Überlegenheit, guter Geschmack und politesse also nur Ausdruck eines tugendhaften Herzens sein. Damit waren für ihn auch die kulturell erfolgreichen Athener als Vorbild der Tugendhaftigkeit zu werten. In diesem Zusammenhang gab Teulières die Meinung eines antiken Philosophen wieder, den er jedoch nicht näher benannte.185 Dieser habe behauptet, dass nur die Freiheit allein Genies hervorbringe und dass der Grund, weshalb es in seiner Zeit nur so wenige Talente gebe, an der monarchischen Regierung liege. Nur die Demokratie, die diese Freiheit garantiere, könne die richtigen Voraussetzungen für einen Geist schaffen, das Schöne und Außerordentliche zu erkennen. Dieser Ansicht widersprach Teulières ausdrücklich und behauptete im Gegenteil: Nicht die Demokratie, sondern die Monarchie bringt mehr Freiheit hervor. Von Sklaverei könne man in einer Monarchie keinesfalls sprechen: „Mais de quel esclavage veux-je parler? est-ce d’une servitude telle corruption générale. Quelle funeste erreur vient aujourd’hui révolter la raison? Quel vénin contagieux empoisonne la république des lettres?“ Ebd., S. 1f. 182 Siehe Teuilières, Bernard-Armand: Dissertation qui a remporté le prix au jugement de l’Académie royale des sciences, des belles lettres et des arts de Rouen, en l’année 1755, par M. Teulières. Paris 1756. 183 Teulières eröffnete seine Abhandlung deshalb mit den folgenden Worten: „Quoi! ses propres membres, qui devroient être ses soûtiens & ses appuis, conspirent maintenant sa ruine? Oui, l’homme de lettre veut allier la corruption des mœurs avec la pureté du goût, ce souverain de la littérature, & de qui les ouvrages empruntent leur éclat; il veut qu’un homme tourmenté par les plus violentes passions, puisse les combattre dans ses ouvrages, & fasse aimer la vertu, pour laquelle son cœur a tant de dégoût & de mépris. Dangereux paradoxe, on ne peut pas dire que tu sois l’ouvrage de l’ignorance, c’est l’amateur des sciences & des beaux arts qui t’a enfanté. Mais tu es bien l’ouvrage d’un cœur avili par les passions, & qui veut vivre désormais sous leur tyrannique empire.“ Teuilières: Discours (wie Anm. 181), S. 2. 184 Teuilières: Discours (wie Anm. 181), S. 24. 185 Teuilières: Discours (wie Anm. 181), S : 24.



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que l’entend ce Philosophe? Qu’on se resouvienne que c’est à des François que je m’adresse, & sous un regne heureux & paisible où nous ne connoissons que la liberté.“186 Was die politischen Verhältnisse betreffe, seien in Frankreich also schon ideale Voraussetzungen geschaffen. Weiter müsse man sich deshalb nicht mit der Frage des Vergleichs der Regierungen beschäftigen. Dennoch seien die Alten in ihrem Genie herausragend gewesen. Der Grund hierfür sei nicht in ihrer demokratischen Verfassung zu suchen, sondern in der präzisen Arbeit, die sie in die Bildung ihres Geistes steckten: Que dis-je! les anciens même, malgré la supériorité de leur génie, n’ont-ils pas passé presque toute leur vie dans les travaux d’une étude pénible? Ils ont été les premiers qui ont embelli la nature; ils nous ont frayé la route: & dans tous les arts les premiers pas sont toûjours les plus difficiles. Voluptueux, jetez les yeux sur les grands hommes de l’antiquité, la mollesse a-t-elle filé leurs instans?187

Dass er dabei Athen im Sinn hatte als er von den Alten sprach, machte er deutlich, indem er sich bei der Ausführung des Arguments auf den athenischen Orator bezog, der sogar widerspenstigste Mitbürger mit vernünftigen Argumenten zu überzeugen wusste: Si l’Orateur d’Athènes entraîna autrefois les suffrages de ses concitoyens par la force de ses raisons; si comme un torrent impétueux, il ramena à son sentiment les plus féroces, les plus indociles & les plus décidés; s’il nous présente dans ses écrits, des images sublimes, des traits hardis, des coups frappans; s’il soûmet notre cœur en éclairant notre esprit, est-ce dans une coupable oisiveté qu’il a acquis ces rares talens? Interrogeons la caverne, les rochers escarpés, le rivage, la mer même, qui le virent si long-temps.188

Der Rechtsstudent verdeutlichte im folgenden Abschnitt, wie viel Arbeit der athenische Panegyriker in seine Kunst und sein Studium investieren musste, um diese Grazie und Eloquenz im Umgang mit Worten zu erlangen: Le Panégyriste des Atheniens, qui paroit plus accommoder en apparence à la tranquillité d’un esprit oisif, comment auroit-il pû mettre dans ses portraits & dans ses tableaux tant de grace & tant de finesse, s’il n’avoit étudié avec soin les règles épineuses de l’éloquence? J’ose dire que son genre exige plus d’application & de travail que celui de Démosthène.189

186 Teuilières: Discours (wie Anm. 181), S. 24f. 187 Teuilières: Discours (wie Anm. 181), S. 28f 188 Teuilières: Discours (wie Anm. 181), S. 29. 189 Teuilières: Discours (wie Anm. 181), S. 30. Auch der große Demosthenes habe für sein Genie die notwendige Arbeit getan. Siehe für die ausführliche Beschreibung: Ebd., S. 28ff.

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Nach der Analyse der athenischen Beispiele kam Teulières zum Schluss, dass es eitel und ein Zeichen der Korruption der Manieren sei, wenn man zur Vollendung seiner Talente nicht hart arbeiten wolle. Die Schönheit und das Genie müssten sich notwendigerweise mit Arbeit und Studium verbinden, „Le beau ne peut donc s’allier qu’avec un génie sublime, & perfectionné par un travail opiniâtre & assidu.“190 Das Beispiel der Alten und insbesondere das der Athener zeige, dass man sich um Kunst, um Geschmack, um die Schönheit und das Genie redlich bemühen müsse: C’est donc en vain, hommes corrompus, que vous croiriez acquérir le beau dans l’oisiveté. Après l’exemple de ces grands hommes, qui avoient un génie si étendu, douterez-vous de la nécessité du travail, si opposé à la mollesse, fille de la corruption des mœurs. … Ainsi vous voyez de toutes parts que le travail est inévitable. D’ailleurs le génie sans culture est un feu qui s’éteint.191

Das gegenwärtige Leben in Frankreich sei leider nicht genügend auf das Studium und die Verfeinerung des Geistes ausgerichtet. Gelehrte vernachlässigten, so Teulières, das Quellenstudium, die sogenannten „gens de lettre“ läsen nur noch Wörterbücher, Journale und Vorworte. Hier zeigt sich eine deutliche Kritik an den aufklärerischen Pariser Zirkeln, die in Salons diskutierten, die Encyclopédie schrieben, sich aber zu wenig um die Ausbildung ihres Geistes bemühten. Tuilières Kritik an diesen Männern war, ganz ähnlich wie diejnige Anne Daciers, dass diese die Alten zu gering schätzten und deren Vorbild zu wenig Beachtung schenkten.192 Für die Ausbildung von Geschmacksurteil, Schönheit des Geistes und Genie sei das Studium der griechischen Sprache und Kultur jedoch unabdinglich.193 In Toulouse sei glücklicherweise gerade ein Lehrstuhl für hebräische und griechische Sprache eingerichtet worden. Wenn also nicht die Stadt Paris die Lehrmeis-

190 Teuilières: Discours (wie Anm. 181), S. 32. 191 Teuilières: Discours (wie Anm. 181), S. 31. 192 „… les études solides ont passé de mode; on n’approfondit plus les matières; les sources sont négligées; on ne lit que les dictionnaires, les journaux & les préfaces; & parmi tous ceux qui se disent gens de lettres, les veritables lettrés sont bien rares. Pour mettre le comble à tous ces désordres, on néglige, que dis-je! on méprise les anciens.“ Siehe Teuilières: Discours (wie Anm. 181), S. 36. 193 Teulières verdeutlichte im folgenden Absatz: „Qui sans savoir le grec, cette langue abondante & harmonieuse, eût autrefois osé aspirer au titre d’homme de lettres? qui l’étudie maintenant? n’est-elle pas devenue une langue barbare? ses sectateurs ne sont-ils pas autant de phénix? Au lieu des fruits utiles que l’on pourroit eneillir dans les anciens, ne court-on pas après des faux-brillans qui n’ont rien de solide, & des fleurs qui n’ont qu’un éclat passager?“ Teuilières: Discours (wie Anm. 181), S. 36.



3 Jean-Jacques Rousseaus Kritik an der urbanen politesse 

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terin Frankreich sein wolle und die Vorreiterrolle innerhalb des Königreichs einnehme, müsse dies eben die zweite Stadt, Toulouse, übernehmen, um Frankreich die Schatzkammern Athens zu öffnen, „pour leur ouvrir les trésors d’Athènes.“194 Toulouse müsse deshalb die Wissenschaften schützen: Que la seconde ville du royaume venge ainsi l’antiquité du mépris qu’elle reçoit dans la capitale, je suis sensible à la gloire qui t’en revient; admirateur zélé des anciens, j’applaudis à tous les pas que l’on fait vers eux. Sois toûjours la protectrice des sciences; les obélisques & les pyramides, ces superbes ouvrages de l’orgueil sont fragiles & périssable, ce que tu fais pour les lettres ne périra jamais.195

Die Pariser waren ähnlich wie die antike römische Jugend für Tuilières in ihren Sitten und Manieren korrumpiert.196 Dass er die Rolle der Frauen für die Ausbildung des Geschmacks beklagte, deutet noch einmal daraufhin, dass er mit seiner Kritik auf die Pariser Salons und Aufklärungszirkel und den höfischen „le monde“ zielte, der schließlich auch Frauen miteinbezog. Weil die französischen Männer versuchten Frauen zu gefallen (im Gegensatz dazu versammelten sich in der Athener Agora schließlich nur Männer), bestehe die Gefahr ihrer Korruption, wenn diese Frauen, was für Tuillière wahrscheinlich war, ihrerseits korrumpiert seien: … on a rendu, je ne sais par quelle erreur, les femmes arbitres du goût. Non contentes d’être les tyrans de nos cœurs, elles le sont de notre esprit. Cet usage qui paroîtroit bisarre en Angleterre & dans les autres pays, où elles ne sont juges que des modes & des autours, est établi en France; il faut s’y conformer, il faut plaire au beau sexe; & s’il est corrompu, nous devons nous corrompre avec lui.197

Bei jeglicher literarischer Produktion sollten die Autoren dagegen an das Vorbild des Atheners Thukydides denken, der stets die nachfolgenden Generationen vor Augen gehabt haben. Deshalb habe er nur Zeugnisse hinterlassen, die dem Andenken auch würdig seien. Diesem Weg sollten auch die Franzosen folgen, anstatt dem Urteil der Frauen zu folgen. Sie sollten wie die Athener lernen, studieren und ihre Manieren und ihre Herzen nicht korrumpieren lassen. Dann könne man in Frankreich die Corneilles, die Racines und die Despréaux unter

194 Teuilières: Discours (wie Anm. 181), S. 37 195 Teuilières: Discours (wie Anm. 181), S. 37. 196 „Seroit-ce trop d’avancer que le siècle brillant de la France est à son déclin? N’y a-t-il pas uns vrai rapport entre la jeunesse Romaine des derniers temps, & la jeunesse Françoise de nos jours? n’est-ce pas la même éducation? que voit-on aujourd’hui dans Paris.“ Teuilières: Discours (wie Anm. 181), S. 38f. 197 Teuilières: Discours (wie Anm. 181), S. 40.

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 VI Athen als Reformmodell einer urbanen politesse

einem Souverän wiedererstehen sehen, der den Künsten zugeneigt sei und diese fördere.198 Mit dem Vorbild Athen wollte Teulières den Provinzstädten ebenfalls, ähnlich wie Dugas in Lyon, Gewicht gegenüber der Hauptstadt Paris verschaffen. Offensichtlich befasste sich die gebildete Elite in den Provinzstädten nach Rousseaus Discours mit der Korruption des Geschmacks, die sie, anders als der Genfer, nicht den Wissenschaften und Künsten zuschrieben, sondern den Parisern. Wenn Paris seine Aufgabe und Vorreiterrolle vernachlässige, und die Manieren, Sitten und Tugend korrumpiere, dann müssten und könnten Universitätsstädte wie Toulouse diese Vorreiterrolle übernehmen. Gerade die Provinzakademien, die ihre Bedeutung gegenüber der Akademie von Paris stärken wollten, wählten zur Mitte des 18. Jahrhunderts Themen des Geschmacks bzw. seiner Korruption für ihre Preisausschreibungen. Auch nach Rousseaus Discours hielt sich also das athenische Modell, das La Bruyère für die aufstrebenden Franzosen entworfen hatte und das von der „noblesse de robe“ genutzt wurde, nun insbesondere bei der Provinzelite. Dass Athen weiterhin als Modell der politesse und als Vorbild der Bildung, der Kunst und Kultur galt, zeigt ein Gedicht des sechzehnjährigen Dramaturgen LouisSébastien Mercier (1740–1814). 1756 wurde sein Gedicht Le génie, le goût et l’esprit, poëme en quatre chants veröffentlicht.199 Darin lobte der junge Mercier Griechenland für seine Errungenschaften, für seine Musen sowie seine Helden. Das antike Griechenland, worin Athen zu erkennen war, sei die Lehrmeisterin der Welt. Le climat heureux de la Grèce Fut le premier séjour des Muses, des Héros: On voyoit chaque jour des prodiges nouveaux, Du monde entier la rendre la maîtresse, Elle peuple le Ciel des Dieux. La Terre de Héros, le l’inde de Génies: Des prodiges sacrés, des beautés inouies Nacquirent de son sein heureux. Tout être ou visible ou palpable.200

Nachdem der Autor als Beweis zahlreiche athenische Autoren aufgezählt hatte, fuhr er mit dem Lob des alten Griechenlands fort, das sich in jeglicher Hinsicht als der Bewunderung würdig erwiesen habe: „Il n’eurent bientôt plus qu’une Religion: Les Arts étoient les Dieux, la Grèce étoit le Temple.“201 Während Grie198 Teuilières: Discours (wie Anm. 181), S. 46. 199 Mercier, Louis-Sébastien: Le génie, le goût et l’esprit, poëme en quatre chants, par l’auteur du poëme sur les sens. La Haye 1756. 200 Mercier: Le génie (wie Anm. 199), S. 15f. 201 Mercier: Le génie (wie Anm. 199), S. 18f.



3 Jean-Jacques Rousseaus Kritik an der urbanen politesse 

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chenland als Ausgangspunkt des Geschmacks dargestellt wurde, erschien Frankreich im Gedicht des Jünglings als das neue Griechenland: Richelieu du Génie osa venger les pertes Par des prodiges inouis: Et plus heureux encor [sic.] en découvertes; Colbert l’introduisit à la Cour de Louis. Bientôt l’éclat de cent merveilles Fit oublier les désastres passés: Par ce siécle fameux vingt siécles effacés N’opposoient rien à l’aîné des Corneilles.202

Frankreich, in dem das Genie sich nun zeige, inspiriere, ähnlich wie einst Athen nun die Denker anderer Länder und bringe sie gar erst hervor.203 Dass auch die französische Jugend in griechischer Geschichte unterrichtet werde und vom kulturellen Modell Athens lernen sollte, zeigte sich darin, dass ein entsprechendes Schulbuch zum Gebrauch für die collèges erarbeitet wurde. Der Abrégé de l’histoire grecque, à l’usage des collèges204 von Jean Baptise Bernard (1710–1772), Domherr von Sainte Geneviève, Probst von Nanterre stellte in seinem Werk von 1763 die Bedeutung der griechischen Geschichte für die Erziehung von jungen Menschen dar:205 Bien plus, la Grece fut toujours la source des plus belles connaissances. Dans le tems les plus florissans de la République Romaine, du tems de Cicéron, Athenes étoit regardée comme le domicile de toutes les Sciences. Horace, cet arbitre immortel du bon goût, exhortoit ses contemporains à étudier nuit & jour les Auteurs Grecs. Il leur déclaroit que les Muses elles-mêmes avoient appris à parler aux Grecs avec cette grace & cette élégance qui leur est comme naturelle. En un mot, la Grece fournit à l’Histoire des monumens précieux pour les Arts & pour les Sciences; & c’est avec raison qu’on l’a appellée l’École du genre humain.206

Darin machte der Geistliche deutlich, dass die Geschichte Athens nicht etwa wie Rousseau dies angenommen hatte zur Korruption verführe, sondern vielmehr neben der Sakralgeschichte bedeutsam für die Unterrichtung der Jugend 202 Mercier: Le génie (wie Anm. 199), S. 25. 203 Mercier: Le génie (wie Anm. 199), S. 25f. 204 Bernard, Jean-Baptiste: Abrégé de l’histoire grecque, à l’usage des collèges. Paris 1763. 205 Michaud, Louis-Gabriel: Bernard, Jean-Baptiste. In: Biographie universelle, ancienne et moderne. Supplément. Suite de l’Histoire, par ordre alphabétique, de la vie publique et privée de tous les hommes qui se sont fait remarquer par leurs écrits, leurs actions, leurs talents, leurs vertus ou leurs crimes, hg. Société de gens de lettres et de savants. 85 Bde. Paris 1811–1862, 1835, Bd. 58, S. 54f. 206 Bernard: Abrégé (wie Anm. 204), S. vj und vij.

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 VI Athen als Reformmodell einer urbanen politesse

sei. Athen galt, davon zeugte das Werk des Geistlichen, als Beispiel der Tugend, die nun als wissenschaftliche, künstlerische und rhetorische Begabung gedeutet wurde. Der gebürtige Pariser war von seiner Kongregation dazu bestimmt worden, die „eloquence“ am Collège royal von Nanterre zu unterrichten und zu verbessern.207 Offensichtlich auch zu diesem Zwecke schrieb Bernard das Schulbuch mit der Geschichte desjenigen Landes, „où les Beaux Arts ont pris naissance“.208In seinem Abrégé stellte er die Leistungen des Perikles heraus, die den Athenern ihre sprachliche Eloquenz erst ermöglicht hätten. Cet homme que tout un Peuple, entraîné par son éloquence impérieuse, écoute en silence; qui rassemble dans Athenes les chef-d’œuvres des beaux Arts; qui prépare à ses Citoyens des Spectacles & des Fêtes, qui couvre les mers des Flotes de sa Republique: Quel autre seroit-ce que Péricles ? … Image naïve de l’Abrégé bien entendu d’une grande Histoire.209

Zur Erlangung dieser Sprachkunst sei es wichtig, diese von Jugend an zu erlernen, damit sie über Jahre reife und den Geist sorgsam ausbilde: Education de la jeunesse: Les exercices de l’esprit: Il y avoit pour cela des Maîtres qui apprenoient à sentir les beautés. De-là vint ce goût délicat qui étoit propre aux Athéniens, le plaisir qu’ils avoient à entendre les beaux vers & à les apprendre par cœur; avantages qui n’étoient pas indifférent puisqu’ils leur attiroient un accueil distingué lorsqu’ils étoient chez les autres Peuples. Mais le talent dont ils faisoient le plus de cas, & auquel ils aspiroient, étoit l’éloquence: car elle ouvroit la porte aux premieres Charges de la Republique, et avec ce talent on primoit bientôt parmi les Concitoyens. Ils apprenoient encore la Philosophie, du moins les Sciences qui y ont rapport. On appeloit Sophistes les Maîtres de cette Science: c’étoient des gens présomptueux, discoureurs éternels, & qui faisoient sonner fort haut leur savoir.210

Die Ausführungen des Probstes machen noch einmal deutlich, weshalb Athen als Vorbild für Eloquenz und politesse gerade bei der aufstrebenden „noblesse de robe“, aber auch bei der Provinzelite beliebt war: Es legitimierte, die „premieres charges dans la republique“ einzunehmen. Athen zeigte also den Weg zu einem alternativen Gesellschaftssystem auf, in dem soziale Rollen nicht nur qua Geburt oder der Nähe zum Hof bestimmt waren, sondern Leistung, guter Geschmack und höfliches Verhalten, schlicht politesse, belohnte.

207 Michaud: Bernard (wie Anm. 205), S. 54. 208 Bernard: Abrégé (wie Anm. 204), S. xi. 209 Bernard: Abrégé (wie Anm. 204), S. xvj. 210 Bernard: Abrégé (wie Anm. 204), S. 138.



3 Jean-Jacques Rousseaus Kritik an der urbanen politesse 

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Griechenland und Athen, die zuerst in einem höfischen Umfeld zum kulturellen Modell avancierten,211 wurden seit dem Ende des 17. Jahrhunderts vor allem von denjenigen als Vorbild gebraucht, die ihre Position innerhalb der französischen Monarchie verbessern wollten. Sie gebrauchten Athen als Beispiel einer wahren politesse, die sich von der höfischen, maskenhaften Höflichkeit klar abgrenzen ließ. Die athenische Höflichkeit bot ein Vorbild dafür, sich durch Leistung abzuheben und so den sozialen Status durch „mérite“, anstatt durch „tradition“ zu verbessern. Es ist auffällig, dass es zwar Widerspruch gegen diese Bestrebungen des neuen Adels gab, etwa vom Abbé de Bellegarde Ende des 17. Jahrhunderts, dieser Widerspruch jedoch das athenische Vorbild nicht verwarf. Das antike Griechenland bzw. Athen hatte bereits seit einigen Jahrzehnten großes Ansehen in Frankreich genossen, auch bei den traditionellen Amtsträgern. Doch erst die „noblesse de robe“ hatte Athen in den 1680er Jahren mit der Tugend der politesse verbunden und sich das bereits positive Bild Athens zu Nutzen gemacht, um die eigene Position im Königreich zu legitimieren und zu stärken. Dazu wurde von den Emporkömmlingen ein Vorbild gewählt, das erstens bereits allgemein anerkannt war und das zweites mit der Betonung der eigenen Leistungsfähigkeit und Exzellenz sehr gut zur eigenen Lage passte und drittens nicht im gleichen Maße mit republikanischen Werten konnotiert war wie Rom oder Sparta. Athen, das zuvor von Jean Bodin als „Tier mit vielen Köpfen“ und als Beispiel einer Demokratie schlechthin gegolten hatte, wurde so zum Idealbild für die Ehrgeizigen, die in der Monarchie, in der sie lebten, die bis dato fest geformten Regeln des sozialen Aufstiegs auflockerten und nun ihren sozialen Status verändern und ausweiten wollten. Nach dem Tod Ludwig XIV. und verstärkt noch nach Rousseaus Discours nutzten nun jedoch vor allem die Provinzeliten das Vorbild Athens, um ihre Stellung im Königreich zu stärken. Zur Mitte des 18. Jahrhunderts betonten sie, ähnlich wie die „noblesse de robe“ um die Jahrundertwende, ihre eigene Leistungsfähigkeit und verdeutlichten, dass sie die Führungsrolle einnehmen wollten und mussten, weil die Pariser und Versailler Eliten durch die Korruption ihres Geistes und ihrer Sitten an ihren Aufgaben für das Königreich scheiterten. Nun forderten die Provinzeliten aus Lyon und Toulouse dem athenischen Beispiel zu folgen und so zum Wohlergehen des gesamten Königreichs beizutragen und ihm die „Schatzkammern Athens“ zu öffnen, mit anderen Worten, um dem französischen Staat aus seiner Misere der Verschuldung heraushelfen zu können. Die Provinzeliten erschienen so als Rettung gegen einen Lebensstil in „le monde“, der Frankreich ja gerade erst diese Verschuldung eingebracht hatte.

211 Siehe dazu Kapitel IV dieser Arbeit.

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 VI Athen als Reformmodell einer urbanen politesse

Im Gegensatz zu den im Frankreich des 16. Jahrhundert geführten Diskussionen um die athenische Demokratie wurden die Institutionen des Stadtstaates nun nicht mehr von Seiten politischer Theoretiker einer detaillierten Politikanalyse unterzogen. Athen wurde spätestens seit Mitte des 17. Jahrhunderts nicht mehr als république diskutiert, also auch eben nicht mehr vornehmlich als Demokratie wahrgenommen, sondern zuerst als sozio-kulturelles Vorbild einer Blütezeit entdeckt. Seit den 1680er Jahren war Athen sogar Vorbild einer wahren politesse des Geistes, das nicht das politische Regime Frankreichs in Frage stellte, sondern die Gesellschaft der polis neu strukturieren sollte. Athen wurde, wie der Fall Rousseaus zeigte, erst von demjenigen kritisiert, der die französischen „citoyens“ zu politischem Reformstreben aktivieren wollte. Athen war für Roussau zu einem die (absolute) Monarchie in Frankreich stützendes und den „citoyen“ unterdrückendes Vorbild avanciert. Rousseaus Kritik, die zwar prominent, jedoch bis zur Jahrhundertmitte singulär war, sowie die Reaktionen auf seine Ausführungen bestätigen die enge diskursive Verbindung von politesse, Urbanität und Athen – eine Verbindung, die einen großen Einfluss auf die englische politische Sprache des 18. Jahrhunderts haben sollte.

VII Athen im Denken der Whigs: Ein Modell für politeness, Freiheit und diskursive Öffentlichkeit, ca. 1680–1760 Öffentlichkeit als struktureller Ort ist der Analyse Jürgen Habermas’ zufolge in England nach der Glorious Revolution 1688/89 als Konsequenz eines frühen Finanzund Handelskapitalismus entstanden.1 In seiner Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit aus dem Jahre 1962 erklärte der Soziologe einflussreich: „... eine politisch fungierende Öffentlichkeit entsteht zuerst in England mit der Wende zum 18. Jahrhundert. Kräfte, die auf die Entscheidungen der Staatsgewalt Einfluss nehmen wollen, appellieren an das räsonierende Publikum, um Forderungen von diesem Forum zu legitimieren.“2 Habermas’ Studie hat trotz der Kritik an seinen Idealtypen der bürgerlichen und repräsentativen Öffentlichkeit die Frühneuzeitforschung bis heute nachhaltend geprägt und zahlreiche Publikationen zum Thema ausgelöst: Von Historikern und Historikerinnen der englischen Geschichte findet sich weitgehender Konsens darüber, dass sich eine öffentliche Sphäre in England bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts herausbilden konnte, vor allem durch die Londoner Kaffeehäuser, die seit den 1650er Jahren schnelle Verbreitung fanden. Jedoch ist die Reichweite ihrer Inklusions- und Exlusionsmechanismen umstritten. Laut David Zaret waren sie eine elitäre Antwort auf den „Radikalismus und das Sektierertum“ während der Englischen Revolution.3 Peter Clark insistiert dagegen, dass die Londoner Kaffeehäuser „increasingly exclusive“ waren, „turning into clubs or catering for specialist groups of customers such as lawyers or stockbrokers“4 oder, wie John Wills dies unterstreicht, sie ein Aufenthaltsort für „prosperous middle-class-Londoner“5 waren. Steven Pincus widerspricht diesen Thesen und vertritt in seinem Artikel “Coffee Politicians Does Create”: Coffeehouses 1 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1991 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 891), S. 122; sowie Pincus, Steven: “Coffee Politicians Does Create”: Coffeehouses and Restoration Political Culture. In: The Journal of Modern History 67/4 (Dez. 1995). S. 807–834, hier S. 807f. 2 Habermas, Jürgen: Strukturwandel (wie Anm. 1), S. 122. 3 Zaret, David: Religion, Science, and Printing in the Public Spheres in Seventeenth-Century-England. In: Habermas and the Public Sphere. Hg. von Crag Calhoun. Cambridge/Mass.. S. 212–235, hier S. 224. Vgl. auch Pincus: “Coffee” (wie Anm. 1), S. 808f. 4 Clark, Peter: The English Alehouse: A Social History, 1200–1830. London/New York 1983, S. 13f. Vgl. auch Pincus: “Coffee” (wie Anm. 1), S. 809. 5 Wills, John E.: European Consumption and Asian Production in the Seventeenth and Eighteenth Centuries. In: Consumption and the World of Goods. Hrsg. von John Brewer u. Roy Porter. London 1993. S. 133–147, hier S. 141. Vgl. auch Pincus: “Coffee” (wie Anm. 1), S. 809.

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 VII Athen im Denken der Whigs

and Restoration Political Culture dagegen die Position, dass die öffentliche Sphäre der Kaffeehäuser weder auf die Londoner „upper-class“ noch auf das männliche Geschlecht beschränkt waren und nicht nur von Whig-Denkern genutzt wurden.6 Kaffeehäuser erscheinen in seiner Analyse als offene Orte der Versammlung, der Diskussion und Information, die in enger Verbindung zur Printkultur standen. Denn dort konnte man kostengünstigen Zugang zu Informationen und Neuigkeiten bekommen und diese diskutieren, womit sie zur Bildung von weiten Teilen der Gesellschaft beitrugen. Sie wurden also durch das Informationen austauschende und Diskussionen anregende Zusammensein zu Zentren der politeness, in Lawrence Kleins Worten: „The coffeehouse was a particularly important arena in this struggle for politeness.“7 Im Hintergrund der engen Verbindung der Kaffeehäuser mit politeness wird sich zeigen, dass sich gerade im Umkreis der Kaffeehäuser und den dort zugänglichen Journalen und Zeitungen zahlreiche Hinweise auf Athen finden.

1 Das Grecian Coffeehouse und John Duntons Athenianism: Athen als Bildungsmodell Das erste Kaffeehaus wurde 1650 in Oxford eröffnet, 1663 gab es bereits 80 Kaffeehäuser in der Hauptstadt und um 1700 waren schon ca. 2.000 im Londoner Großraum zu finden.8 Kaffeehäuser hatten also seit ihrem Aufkommen großen Erfolg, auch weil Kaffee eine billige Alternative zu Bier darstellte.9 Besonders beliebt waren die Kaffeehäuser aber, weil sie die neuesten Information und Nachrichten bereitstellten und zu Orten wurden, „where one went to collect intelligence“.10 Dichter, Dramaturgen, Gelehrte und Literaturkritiker besuchten regelmäßig die Kaffeehäuser und diskutierten dort die neuesten Entwicklungen, Veröffentlichungen sowie politischen Entscheidungen.11 Karl II. versuchte zunächst, die Kaffeehäuser zu schließen, konnte sich auf Dauer jedoch nicht gegen den Widerstand der Kaffeehausbesitzer durchsetzen.12 6 Vgl. Pincus: “Coffee” (wie Anm. 1), S.  811 und 814. Einen gelungenen Überblick über die Forschungsdiskussion, die die Bedeutung der englischen Kaffeehäuser erörtert, gibt: Cowan, Brian William: The Rise of the Coffeehouse Reconsidered. In: The Historical Journal 47/1 (März 2004). S. 21–46. 7 Klein, Lawrence E.: Coffeehouse Civility 1660–1714: An Aspect of Post-Courtly Culture in England. In: Huntington Quaterly 59/1 (1996). S. 30–51, hier S. 49. 8 Pincus: “Coffee” (wie Anm. 1), S. 811f. Vgl. auch Klein: Coffeehouse (wie Anm. 7), S. 31. 9 Pincus: “Coffee” (wie Anm. 1), S.  817. Siehe dazu auch Cowan, Brian W.: The Social Life of Coffee. The Emergence of the British Coffeehouse. New Haven [u.a.] 2005. 10 Pincus: “Coffee” (wie Anm. 1), S. 820. 11 Pincus: “Coffee” (wie Anm. 1), S. 818ff., insbesondere S. 820. 12 Siehe zu den Versuchen, die Kaffeehäuser zu verbieten, Cowan: The Rise (wie Anm. 6).

1 Das Grecian Coffeehouse und John Duntons Athenianism 

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Nach Steven Pincus beherbergten Kaffeehäuser in der Restaurationszeit alle Arten von sozialen und politischen Gruppen. Die Themen, die in den Kaffeehäusern diskutiert wurden, waren nicht nur auf britische Probleme beschränkt, sondern beschäftigten sich auch mit Europa und anderen Themen von Übersee.13 Mit der gebildeten und bildenden Konversation wurden Kaffeehäuser als Institutionen angesehen, die die „manners“ zivilisierten, verbesserten und „polierten“. „Coffee-houses make all sorts of people sociable, the rich and the poor meet together, as also do the learned and unlearned: It improves arts, merchandise, and all other knowledge; for here an inquisitive man, that aims at good learning, may get more in an evening than he shall by Books in a month,“14 schrieb der Autor und Pharmazeut John Houghton (1645–1705) von der Royal Society Ende des Jahrhunderts. Samuel Butler (1612–1680), der von Karl II. gern gelesene und entlohnte Dichter und Satiriker bäuerlicher Herkunft15 argwöhnte deshalb über den Coffee-Man: „His house is a kind of Athenian School, where all manner of opinions are profest and maintain’d to the last drop of coffee.“16 Er beobachtete also mit Missfallen den Zusammenhang von öffentlicher Bildungs- und Diskussionskultur der politeness fördernden Kaffeehäuser und dem antiken Athen. Ein Coffee-Man war für Butler „a Barbarian brewer of Mahometan Taplash, that tempers his decoction according to the Alcoran, and skinks in earthen goblets to his guests. If it were not for news and the cheapness of company he would be utterly abandon’d.“17 Besonders große Verbreitung fanden Kaffeehäuser in den Jahren nach 1688, vor allem in Königin Annes Regierungszeit. Sie wurden vor allem deshalb beliebter, weil man dort, nachdem die Zensur in der Restaurationsphase der Monarchie intensiviert und politische Versammlungen verboten worden waren, politische Sachverhalte diskutieren konnte.18 Vor allem dienten die Kaffeehäuser im ausgehenden 17. und begin13 Pincus: “Coffee” (wie Anm. 1), S. 821. 14 Houghton, John: A Collection for the Improvement of Husbandry and Trade. Consisting of Many Valuable Materials Relating to Corn, Cattle, Coals, Hops, Wool, &c. …. 4 Bde. London 1727– 28: Bd. 3, London 1727, S. 132. Vgl. auch Pincus: “Coffee” (wie Anm. 1), S. 833. 15 Vgl. Quehen, Hugh de: Butler, Samuel (bap. 1613-1680). In: Oxford Dictionary of National Biography. Online Edition 2008. http://www.oxforddnb.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/ view/article/4204?docPos=1 (03.05.2015). 16 Butler, Samuel: A Coffee-Man. In: Ders.: Characters. Hrsg. von Charles W. Davis. Cleveland 1970. S. 256–258, hier S. 257. Vgl. auch Pincus: “Coffee” (wie Anm. 1), S. 820. 17 Butler: A Coffee-Man (wie Anm. 16), S. 257f. 18 „The context for this suspicion of the coffeehouse could be found in recent English experience. During the two decades of severe civil disruption in the middle of the seventeenth century, both knowledge and power had devolved from traditional elites to different – and frightening – sorts of individuals. In response, “restoration” not only brought back the monarch but also established a set of authoritative institutions governing discourse and culture.“ Siehe Klein: Coffeehouse (wie Anm. 7), S. 39f.

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 VII Athen im Denken der Whigs

nenden 18. Jahrhundert aber dazu, eine geschliffene und höfliche Öffentlichkeit, eine „polite public“ zu konstruieren.19 Was in den zahlreichen englischen Kaffeehäusern jedoch tatsächlich besprochen und welche politischen und kulturellen Modelle diskutiert wurden, lässt sich freilich nur schwer nachweisen, dennoch gibt es einige Indizien, allem voran die Berichte und Ausführungen der Gazetten und Journale, die in den Kaffeehäusern auslagen und dort kostenlos von den Besuchern gelesen werden konnten.20 Die News from the Coffe-House [sic.]21 von 1667 stellten entsprechend dar, wie in den Kaffeehäusern politische Neuigkeiten verbreitet wurden und alle Themenbereiche diskutiert werden konnten, kurz, dass sie die Universität des armen Mannes seien, in der man für einen Penny mit Informationen versorgt werde: „They know all that is Good, or Hurt/To Dam ye, or to Save ye;/There is the Colledge, and the Court, the Country, Camp, and Navie;/So great a Vniversitie,/I think there ne’re was any;/In which you may a Schoolar be/For spending of a Penny.“22 Die Universitäten, die vor allem von der höfischen und klerikalen Elite gelenkt wurden, hatten in den Bürgerkiegsjahren erheblich an Prestige verloren.23 Die intellektuelle Elite versammelte sich nun verstärkt in den Kaffeehäusern und neue, urbane Formen der Wissensvermittlung entstanden, weil sie sich der Zensur besser entziehen konnten. Deshalb kritisierten zunächst hofnahe Tory-Anhänger die Kaffeehäuser und beklagten, dass diese ein Versammlungsort für Whig-Anhänger seien. Als Reaktion versuchten die Whigs, die Revolution 1688/89 mit einer moralischen Aura zu verbinden: Sie sollte England nach einer Periode des Niedergangs unter den Stuart-Königen wieder zur vollen Größe aufrichten. Der Whig-nahe Buchhändler John Dunton (1659–1732), dessen Athenianism später noch genauer zu betrachten sein wird, bestätigte eine solche Haltung: That Deluge of Uncleanness which overflowed the Kingdom by the bad Example of Charles II. did enervate our Strength, and lessen our Reputation, so that the Nation became the Hire of an Harlot; the Glory, Trade, and Naval Strength of England, were made a Sacrifice to that Prince’s Impure Pleasures, and those of his Brother: And as a Consummation of our Misery, and proper Punishment, we were like to have been given up to Spiritual Uncleanness, and to be made a Prey to the Whore of Rome.24 19 Klein: Coffeehouse (wie Anm. 7), S. 32. 20 Siehe Berry, Helen: Gender, Society and Print Culture in Late-Stuart England. The Cultural World of the Athenian Mercury. Aldershot [u.a] 2003, S. 15. Siehe auch Klein: Coffeehouse (wie Anm. 7), S. 32. 21 Anonymus: News from the Coffe-House [sic.]. In Which Is Shewn Their Several Sorts of Passion, Containing News from All Our Neighbour Nations. London 1667, einseitig. 22 Anonymus: News (wie Anm. 21), Spalte 2. Siehe auch Klein: Coffeehouse (wie Anm. 7), S. 36. 23 Klein: Coffeehouse (wie Anm. 7), S. 45. 24 Siehe Dunton, John: The Night-Walker: Or, Evening Rambles in Search After Lewd Women, with the Conferences Held with Them, & c. To be publish’d Monthly, ‘till a Discovery Be Made of

1 Das Grecian Coffeehouse und John Duntons Athenianism 

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Für Dunton hatte die Herrschaft Karls II. dazu geführt, dass Englands Ruhm und Stärke im Handel und auf See geschwächt wurden. So sei England in spirituelle Unreinheit verfallen und nun Opfer der „Hure von Rom“. Hier klingt schon an, dass Rom, das für Dunton offensichtlich negativ behaftet und vor allem mit Katholizismus verbunden war, im Umfeld der Whigs kein auf England applizierbares Modell mehr darstellte. London hatte sich Ende des 17. Jahrhunderts mit einem Ballungsgebiet von ca. 500.000 Einwohnern – davon lebten ca. 70.000 innerhalb der Stadtmauern – zur größten Stadt Europas gewandelt.25 Im schnell anwachsenden London wurden Kaffeehäuser seit ihrem ersten Aufkommen 1652 rasch Teil des gewohnten Stadtbildes. Nach den Rules and Orders of the Coffee House von 1674 sollten Besucher im geschützten Rahmen des Kaffeehauses ihre sozialen Ränge vergessen und miteinander kommunizieren und sich einander gleichgestellt begegnen: „Gentry, tradesmen, all are welcome hither/And may without affront sit down together/Pre-eminence of Place, non here should Minde,/But take the next fit Seat that he can find.“26 Jedoch kann man nicht von einer einheitlichen Kaffeehauskultur ausgehen, da sich verschiedene politische und soziale Gruppen an verschiedenen Orten trafen: Mitglieder der Royal Society etwa kamen vornehmlich bei Garraway’s zusammen, um philosophische Themen miteinander zu diskutieren, Poeten und Literaten versammelten sich dagegen im Duke’s oder in Will’s Coffeehouse in Covent Garden. Andere Kaffeehäuser konzentrierten sich um die königsnahe Marine und Lloyds. Es gab ebenso Kaffeehäuser mit einer bestimmten politischen Färbung, so das Grecian Coffeehouse, das vornehmlich von Whig-Politikern und ihren Anhängern frequentiert wurde. Die Tories trafen sich dagegen im Cocoa-Tree.27 Das Grecian Coffeehouse in Devereux Court wurde von Mitgliedern der Royal Society wie dem Mathematiker und Naturphilosophen Sir Isaac Newton (1642– 1727), dem Arzt und Sammler Sir Hans Sloane (1660–1753), dem Astronomen Edmund Halley (1656–1742) und dem Anatom James Douglas (get. 1675–1742), dem Antiquar und Naturphilosophen William Stukeley (1687–1765) sowie dem all the Chief Prostitutes in England, from the Pensionary Miss, Down to the Common Strumpet. Dedicated to the Whore-Masters of London and Westminster. 1/1 (Sept. 1696). London 1696. Reprint New York/London 1985, The Epistle Dedicatory. Siehe auch Klein: Coffeehouse (wie Anm. 7), S. 45f. 25 Berry: Gender (wie Anm. 20), S. 11f. Siehe dazu auch: Porter, Roy. London. A Social History. London 1996, v.a. S. 93–158. 26 Anonymus: The Rules and Orders of the Coffee-House. In: A Brief Description of the Excellent Vertues of That Sober and Wholesome Drink, Called Coffee. Hrsg. von Anonymus. London 1674, einseitig. Siehe auch Berry: Gender (wie Anm. 20), S. 14. 27 Vgl. Berry: Gender (wie Anm. 20), S. 14f.

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 VII Athen im Denken der Whigs

Dichter und politischen Denker Joseph Addison (1672–1719) besucht. Das Grecian beherbergte jedoch nicht nur naturwissenschaftlich Interessierte: Es wurde auch von einem geheimen Club, der Gruppe der sogenannten Real oder Old Whigs aufgesucht, die auch unter dem Namen der Commonwealthmen bekannt waren und die vor allem während der Standing-Army-Kontroverse 1697–98 politisch aktiv waren.28 Die Schrift An Argument Shewing that a Standing Army Is Inconsistent with a Free Government29 wurde von Walter Moyle (1672–1721) und John Trenchard (1668/9–1723) 1697 im Grecian verfasst. Zu dieser Zeit war das Grecian jedoch noch geheimer Versammlungsort der Commonwealthmen. Ihre Gegner, wie etwa der Schriftsteller Daniel Defoe (1660[?]–1731), wussten zwar, dass die Anti-ArmySchreiber eine Gruppe waren, nicht aber, wer zu dieser Gruppe gehörte oder wo sich diese traf.30 Das Grecian Coffeehouse wurde in den 1660er Jahren von einem Griechen Namens George Constantine gegründet und war zuerst in Wapping angesiedelt, 1676 verlegte Constantine sein Kaffeehaus dann nach Devereux Court. Weitere 20 Jahre sollten vergehen, bis das Kaffeehaus des griechischen Emigranten von den Old Whigs als Versammlungsort genutzt und schließlich zum Zentrum der Anti-Army-Bewegung um Walter Moyle und John Trenchard und der Opponenten der Ministerien wurde. Unter den berühmtesten Old Whigs, die das Grecian besuchten, waren auch der politische Schreiber Henry Neville (1620–1694), Autor des Plato Redivivus31 sowie der Deist Matthew Tindal (get. 1657–1733). Wahrschein28 Zum Begriff der Real/Old Whig und anderen Whig-Gruppierungen ist John Pococks Kapitel zentral: Pocock, John G.: The Varieties of Whiggism from Exclusion to Reform: A History of Ideology and Discourse. In: Ders.: Virtue, Commerce, and History Cambridge [u.a] 2002 (Ideas in Context). S. 215–310. Die Gruppe der Old Whigs, True Whigs oder Commonwealthmen kritisierten demnach das Revolution Settlement mit einer bestimmten politischen Sprache, die zwar von John Locke beeinflusst, jedoch nicht unbedingt von dessen politischem Konzept abgeleitet war. Zeitlich muss man die Old/True Whigs oder Commonwealthmen vor allem Mitte der 1690er verorten, zur Zeit der ersten Whig-Junta, die von den Old/True Whigs kritisiert wurde. First Whigs wird dagegen diejenige Gruppe um den First Earl of Shaftesbury genannt, die im Zuge der Exclusion Crisis versuchten, gegen die Stuarts einen katholischen Monarchen aus der Erbfolge auszuschließen und die zu dieser Zeit zum ersten Mal als Whigs bezeichnet wurden. Vgl. ebd., S. 216ff. 29 Trenchard, John: An Argument, Shewing, that a Standing Army Is Inconsistent with a Free Government, and Absolutely Destructive to the Constitution of the English Monarchy. London 1697; sowie Moyle, Walter: The Second Part of an Argument, Shewing, that a Standing Army Is Inconsistent with a Free Government, and Absolutely Destructive to the Constitution of the English Monarchy. With Remarks on the Late Published List of King James’s Irish Forces in France. London 1697. 30 Harris, Jonathan: The Grecian Coffee House and Political Debate in London 1688–1714. In: The London Journal 25/1 (Mai 2000). S. 1–13, hier S. 1ff. 31 Neville, Henry: Plato Redivivus, or, a Dialogue Concerning Government. Wherein, by Observations Drawn from Other Kingdoms and States Both Ancient and Modern, an Endeavour Is Used

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lich waren deshalb auch andere Armee-Opponenten wie Andrew Fletcher (1653?– 1716), Reverend Samuel Johnson (1649–1703) sowie der politische Denker John Toland (1670–1722) im Grecian zu finden. Und auch nachdem die Standing-ArmyKontroverse verklungen war, diente das Grecian weiter als Versammlungsort für oppositionelle Whigs.32 Warum versammelten sich regierungskritische Whigs aber ausgerechnet im Grecian Coffeehouse? Während die Lage des Kaffeehauses sowie dessen Frequentierung von Rechtsstudenten dabei eine Rolle gespielt haben mögen, so gaben wohl auch dessen Name sowie die ethnische Herkunft des Inhabers den Ausschlag für die Auswahl des Ortes. Die Bedeutung von Constantines griechischen Wurzeln sollte nicht unterschätzt werden, denn die Herkunft des Inhabers verwies auf zwei wichtige politische Inspirationsquellen: Die erste war in der klassischen griechischen Literatur zu finden. Die Assoziationen mit dem Namen des Kaffeehauses hatten bereits dazu beigetragen, dass es zum Treffpunkt für klassische Gelehrte wurde. Die von Richard Steele (1672–1729), einem Whig, herausgegebene Zeitung The Tatler gab am 23. April 1709 einen Bericht vom Zusammensein des Vorabends folgendermaßen wieder: „Grecian Coffeehouse, April 22: While other parts of the town are amused with the present actions, we generally spend the evening at this table in inquiries into antiquity, and think any thing new which gives us knowledge.“33 Die Old Whigs waren gleichzeitig diese Antikeninteressierten: Andrew Fletcher soll Griechisch und Latein beherrscht haben und Walter Moyle hatte Xenophons Oeconomia übersetzt.34 Matthew Tindal und Henry Neville waren außerdem beide ausdrückliche Verfechter einer Bildung, die auf der Lektüre klassischer Philosophie basierte.35 Das Interesse am antiken Griechenland war jedoch kein bloß antiquarisches, vielmehr wurde Griechenland auch als Lehrmeisterin für das moderne England und Schottland erachtet. Die Freiheit der griechischen Stadtstaaten wurde dabei als vorbildlich betrachtet. Henry Neville war im Grecian deshalb als „Platon“ bekannt, weil er aus den antiken Beispielen seine Prinzipien über eine gute Regierung gezogen hatte.36 In seinem Plato Redivivus ließ Neville einen englischen „gentleman“ seinem Arzt sagen: to Discover the Present Politick Distemper of Our Own, with the Causes and Remedies. 2. Aufl. London 1681. 32 Harris: The Grecian (wie Anm. 30), S. 3. 33 The Tatler: Nr. 6 (21.–23. April 1709). London 1709. Vgl. auch Harris: The Grecian (wie Anm. 30), S.4 f. 34 Xenophon: A Discourse upon Improving the Revenue of the State of Athens, Written Originally in Greek by Xenophon; and Made English from the Original with Some Historical Notes by W.M. Esq. Hrsg. und übers. von Walter Moyle. London 1697. 35 Harris: The Grecian (wie Anm. 30), S. 5. 36 Siehe Neville: Plato (wie Anm. 31); vgl. auch Harris: The Grecian (wie Anm. 30), S. 5.

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And you would have good store of Practice in your former Capacity, if the wise Custom amongst the Ancient Greeks were not totally out of use. For they, when they found any Craziness or indisposition in their several Governments, before it broke out into a Disease, did repair to the Physicians of State (who, from their Profession, were called the Seven Wise Men of Greece) and obtain’d from them some good Recipes to prevent those seeds of distemper from taking root, and destroying the Public Peace.37

Neville bestätigte darin also den Blick auf Griechenland als eine Art der politischen Krankenpflege. Jonathan Harris kommt in seiner Analyse des Grecian zum Schluss, dass es gerade deshalb als Treffpunkt für die Old Whigs diente, weil sie damit ihre Verbindung zu den antiken Gegnern der Tyrannei betonen konnten.38 Neville ließ in seinem Plato Redivius den englischen „gentleman“,über die extremen Verfassungsformen (Demokratie, Oligarchie, Tyrannie) der aristotelischen Verfassungslehre sinnierend sagen: „I will therefore conclude, that they were all Tyrannies; for so the Greeks called all Usurpations, whether of one or more persons …“39 Es gab jedoch auch noch eine weitere Quelle der Inspiration, die George Constantine und das Grecian bereitstellten, nämlich die Diskussion um den Zustand des aktuellen Griechenlands, das unter osmanischer Herrschaft stand: Die moderne Hellas, die ihre Freiheit verloren hatte und deren Blüte vergangen war, bildete für Joseph Addison ein Kontrast zur Genialität und Geistesgröße der antiken Griechen. Im Spectator, den er zusammen mit Steele herausgab, schrieb er am 29. Januar 1712: Look upon Greece under its free States and you would think its inhabitants lived in different Climates, and under different Heavens, from those at present; so different are the Genius’s which are formed under Turkish Slavery, and Grecian Liberty. Besides Poverty and Want, there are other Reasons that debase the Minds of Men, who live under Slavery, though I look on this as the Principal. This natural Tendency of despotick Power to Ignorance and Barbarity, tho’ not insisted upon by others, is, I think, an unanswerable Argument against that Form of Government, as it shows how repugnant it is to the Good of Mankind and the Perfection of human Nature, which ought to be the great Ends of all civil Institutions.40

Auch John Locke zog in seinem Second Treatise of Government die modernen Griechen heran, um das Recht der Regierten darzustellen, sich gegen tyranni-

37 Siehe The Grecian (wie Anm. 30), S. 10. 38 „It therefore seems likely that the Old Whigs deliberately chose the Grecian as a place of resort, to emphasize their association with the virtuous and fearless opponents of tyranny from the Greco-Roman past.” Siehe Harris: The Grecian (wie Anm. 30), S. 6. 39 Siehe Siehe Neville: Plato (wie Anm. 31), S. 66. 40 The Spectator: Bd. 4 (29. Januar 1712). London 1713. Vgl. auch Harris: The Grecian (wie Anm. 30), S. 7.

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sche Gewalt zu wehren.41 Die Erfahrung der zeitgenössischen Griechen, die unter der Herrschaft der Türken leben mussten, war erneut eine Warnung an England: Die moderne griechische Geschichte zeigte, was passierte, wenn man die Verteidigung und den Schutz der Freiheit vernachlässigte. Griechenland war also in zweierlei Hinsicht ideal für die politische Argumentation der Gruppierung der Old Whigs: Einerseits war das moderne Griechenland eine Warnung gegen eine nachlässige Sorge um die Freiheit, andererseits war die antike Hellas Vorbild für politische Freiheit und Genie, die beide die Größe Griechenlands ermöglicht hatten. Griechenland konnte damit auch als Anreiz für England dienen, nach der Glorious Revolution zu neuer Größe aufzustreben.42 Die Commonwealthmen nahmen, wie John Pocock, Rachel Hammersley u.a. heraus arbeiteten,43 inhaltlich die Tradition des 17. Jahrhunderts auf, die Quentin Skinner wiederum als neo-Roman-theory of liberty44 bezeichnete, denn für sie waren politische, vor allem bürgerliche Freiheiten zentral: Sie besorgten sich um die Redefreiheit, den Schutz des Eigentums sowie um die Sicherungen gegen willkürliche Verhaftungen und brachten diese in Einklang mit einer monarchischen Herrschaft. Dennoch zeigen sich auch einige Veränderungen gegenüber den republikanischen Denkern des 17. Jahrhunderts: Sie waren nicht nur an Themen der politischen Freiheit interessiert, sondern beschäftigten sich auch damit, wie England nach dem Verderbnis der Bürgerkriege und dem Niedergang, den in ihrer Interpretation die Stuartkönige über ihr Land gebracht hatten, wieder zu kultureller und moralischer Größe gelangen konnte. Aus diesem Grund schienen sie nicht nur Sparta und Rom als Vorbilder vor Augen zu haben, sondern gerade das für seine künstlerische, philosophische, literarische und wirtschaftliche Blüte berühmte Athen. Eine öffentlichwirksame Innovation war diesbezüglich John Duntons (1659– 1732) Projekt der Athenian Gazette.45 Der Buchhändler Dunton hatte eine Idee für 41 Locke, John: Two Treatises of Government. Hrsg. von Peter Laslett. 2. Aufl. Cambridge 1988, S. 394. Vgl. auch Harris: The Grecian (wie Anm. 30), S. 7. 42 Harris kommt zu folgendem Ergebnis: „In short, therefore, the Grecian seems to have attracted the Old Whigs because its Greek proprietor served as a role model both for the classical virtues and the modern slavery of the Greeks.“ Harris: The Grecian (wie Anm. 30), S. 7. 43 Siehe Pocock, John G.: The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton [u.a.] 1975, S. 401–462. Sowie Hammersley, Rachel: The English Republican Tradition and Eighteenth-Century France. Between the Ancients and the Moderns. Manchester 2010, S. 14–32. 44 Siehe vor allem Skinner, Quentin: Liberty before Liberalism. 8. Aufl. Cambridge 2004. 45 Diese Zeitschrift muss ebenfalls im Kontext der Kaffeehauskultur gesehen werden: Kaffeehausbesitzer hatten meist ein Abonnement für mehrere Wochenzeitschriften und Journale, die von ihren Besuchern konsultiert werden konnten. Diejenige literarische Form, die für das ausgehende 17. Jahrhundert prägend war, war das Periodical, das seriell, entweder in wöchentlichem,

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einen neuen Typus von Zeitschrift: Leser und Leserinnen sollten ihre Fragen jeglicher Art an eine anonyme Gruppe von Gelehrten schicken können und so die Zeitschrift aktiv mitgestalten. Das Periodical sollte den Namen Athenian Gazette, or Casuistical Mercury, Resolving All the Most Nice and Curious Questions Proposed by the Ingenious of Either Sex46 haben. Die Athenian Gazette bzw. der Athenian Mercury wie die Zeitschrift später hieß,47 erschien von März 1691 bis Juni 1697 zweimal wöchentlich,48 die Gelehrtengruppe, die zur Beantwortung der Fragen in Smith’s Coffeehouse zusammenkam, nannte sich entsprechend Athenian Society. Diese bestand aus dem Whig-nahen Buchhändler John Dunton,49 seinem Schwager, dem Poeten und Kirchenmann Samuel Wesley (get. 1662–1735),50 Vater von John und Charles Wesley, die später den Methodismus begründen sollten sowie zweiwöchentlichem, monatlichen oder vierteljährlichen Rhythmus erschien. Zwischen 1641 und 1700 wurden in Großbritannien circa 700 solcher Periodicals herausgegeben, was ungefähr einem Viertel der gesamten Veröffentlichungen entsprach. Allein in den Jahren 1691 bis 1697 wurden 74 solcher Periodicals neu auf den Markt gebracht, von denen sich die meisten mit auswärtiger Politik beschäftigten. Viele mussten jedoch, da die Herausgabe von Zeitschriften am ausgehenden 17. Jahrhundert ein spekulatives Geschäft war, ihr Erscheinen bald wieder einstellen. Vgl. Berry: Gender (wie Anm. 20), S. 16f. Berry nennt als wichtigste Wochenzeitschrift dieser Zeit, die von der Regierung kontrollierte London Gazette. Eine bedeutende monatliche Zeitschrift vor 1695 war die Memoirs of the Present State of Europe, die ihre Leser mit zensierten Berichten der internationalen Beziehungen versorgte. Es gab außerdem Spezialzeitschriften wie bspw. diejenigen für Handelsmänner, wie John Houghtons Collection for Improvement of Husbandry and Trade oder der City Mercury. Auch serielle Miszellen waren eine beliebte Form der Unterhaltung, wie dies der Fall des Gentleman’s Journal zeigt, der eine Sammlung an Dichtung, Musik und Prosa in Briefform für Gentlemen aufbereitete. Siehe ebd., S. 17f. 46 Berry: Gender (wie Anm. 20), S. 6. 47 Der Name Athenian Gazette wurde bald durch Athenian Mercury ersetzt, da sich die London Gazette darüber beschwerte und zu Bedenken gab, dass Leser die beiden Titel verwechseln konnten. Siehe Berry: Gender (wie Anm. 20), S. 21. 48 Berry: Gender (wie Anm. 20), S.  21; sowie Berry, Helen: Rethinking Politeness in Eighteenth-Century England: Moll King’s Coffee House and the Significance of the ‘Flash Talk’. The Alexander Prize Lecture, gelesen am 7. April 2000. In: Transactions of the Royal Historical Society. 6. Serie/11 (2001). S. 65–81, insb. S. 66f. 49 Duntons Whig-Nähe wurde unter anderem darin sichtbar, dass er ein Werk zur Ehre des Earl of Shaftesbury verfasste, siehe Dunton, John: The Compleate Statesman. Demonstrated in the Life, Actions, and Politicks Of that Great Minister of State, Anthony, Earl of Shaftesbury. London 1683; sowie in seinem Whigg Loyalty: Dunton, John: Whigg Loyalty, or an Humble Address to Her Majesty. By Mr. John Dunton, Author of the Court-Spy. In Which He Offers to Appear and Prove all His Discoveries, and Several Others of Great Moment, to the Queen and Kingdom, if Her Majesty Will Be Pleased to Grant Her Royal Protection to Himself and Witnesses. London 1714. 50 Siehe Rack, Henry D.: Wesley, Samuel (bap. 1662, d.1735). In: Oxford Dictionary of National Biography. Online Edition 2008. http://www.oxforddnb.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/ view/article/29070?docPos=1 (03.05.2015).

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einem weiteren Schwager Duntons, dem Mathematiker und Schriftsteller Richard Sault ([?]–1702)51. Zu ihnen gesellte sich gelegentlich der Theologe, Schriftsteller und Philosoph John Norris (1657–1711), der auch Mitglied der Cambridger Platoniker war, einer Gruppe von Philosophen und Theologen, die einen christlich geprägten Platonismus vertraten.52 Die Zeitschrift war außerordentlich erfolgreich. Sie erschien fast sieben Jahre lang in Druck und fand einige Nachahmer – die bekannteste war Daniel Defoes Zeitschrift Review53, Jonathan Swift lobte ebenfalls die Athenian Society54 und Charles Gildon (1665–1724) schrieb 1692 die History of the Athenian Society55. Als Dunton 1697 die Veröffentlichung des Athenian Mercury aus Trauer über den Tod seiner Frau einstellte, gab Andrew Bell diesen in vier Bänden (1703, 1704, 1710) als Athenian Oracle56 heraus. Davon wieder ermutigt, nahm Dunton 1704 sein FrageAntwort-Projekt als Athenian Spy57 wieder auf, in dem weibliche Briefpartnerinnen Liebesgeheimnisse an die Athenian Society weitergeben konnten.58 Der Athenian Mercury konnte entweder direkt in Duntons Buchladen oder von Duntons Mercury Women erstanden werden, die die Zeitrschrift in den Londoner Straßen verkauften. So konnte Dunton in der britischen Hauptstadt ein 51 Baker, H.F.: Sault, Richard (d.1702), durchgesehen von Anita McConnell. In: Oxford Dictionary of National Biography. Online Edition 2008. http://www.oxforddnb.com.ubproxy. ub.uni-heidelberg.de/view/article/24684 (03.05.2015). 52 Siehe Acworth, Richard: Norris, John (1657–1712). In: Oxford Dictionary of National Biography. Online Edition 2009. http://www.oxforddnb.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/view/article/20277?docPos=2 (03.05.2015). 53 Vgl. Berry, Helen: Dunton, John (1659–1732). In: Oxford Dictionary of National Biography. Online Edition 2008. http://www.oxforddnb.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/view/article/8299 (03.05.2015). 54 Berry: Gender (wie Anm. 20), S. 22f. 55 Gildon, Charles: The History of the Athenian Society, for the Resolving All Nice and Curious Questions. By a Gentleman Who Got Secret Intelligence of their Whole Proceedings. To Which Are Prefix’d Several Poems, Written by Mr. Tate, Mr. Motteux, Mr. Richardson, and Others. London 1692. Vgl. auch Berry: Dunton (wie Anm. 53). 56 Member of the Athenian Society: The Athenian Oracle, Being an Entire Collection of all the Valuable Questions and Answers in the Old Athenian Mercuries. London 1703. 57 Dunton, John: The Athenian Spy: Discovering the Secret Letters Which Were Sent to the Athenian Society by the Most Ingenious Ladies of the Three Kingdoms. Relating to the Management of Their Affections. Being a Curious System of Love Cases, Platonic and Natural. I. The Principles of Love, According to Plato’s Idea, in an Intire Series of Platonic Courtship Between Several Philosophic Gentlemen and Ladies. With the Form of Platonic Matrimony. II. The Way of a Man with a Maid: Or, the Whole Art of Amour: With all its Intrigues and Amusements, till its Consummation in Enjoyment. Intermix’d with Great Variety of Poems. Being as Intire Collection of Love-Secrets Communicated from Time to Time to the Athenian Society. London 1704. 58 Berry: Dunton (wie Anm. 53).

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ganzes Netzwerk für seine Zeitschrift aufbauen. Außerdem wurde sein Periodical von einigen Kaffeehäusern abonniert. Damit kann man von einer weit verbreiteten und weit gefächerten Leserschaft ausgehen, was zunächst großen Erfolg versprach.59 In seinem Spätwerk Athenianism ließ Dunton jedoch seiner Wut gegen seinen Widersacher Daniel Defoe freien Lauf, den er für den Misserfolg seines 1704 veröffentlichten Athenae Redivivae: or the Athenian Oracle60 verantwortlich machte, da Defoe Duntons Frage-Antwort-Konzept in seiner eigenen Review kopiert hatte. 1707 hatte Dunton dann schließlich mit seinem Athenian Sport: or, Two Thousand Paradoxes Merrily Argued61 einen weiteren Versuch unternommen, die Leser für sich zu gewinnen.62 Dunton war der erste Buchhändler, der das Marktpotential weiblicher Leser einkalkulierte und eine Zeitschrift anbot, die explizit für beide Geschlechter 59 Leider kann nicht mehr nachvollzogen werden, von wem und von welchen Kaffeehäusern der Athenian Mercury abonniert wurde, da die Abonnentenliste nicht mehr vorhanden ist. Siehe Berry: Gender (wie Anm. 20), S. 21. 60 Dunton, John, Athenæ Redivivæ: Or the New Athenian Oracle, Under Three General Heads, Viz. I. The Divine Oracle (or Directory for Tender Consciences; Resolving All the Uncommon Cases Propos’d to the Athenian Society, by Persons Under Trouble of Mind, &c. II. The Philosophick and Miscellaneous Oracle; Answering All Questions in any Part of Learning; Where We Entirely Throw off the Rules and Pedantry of the Old Way, and Think a New, Both for Our Selves and Our Querists. III. The Secret (or Ladies) Oracle: Giving a Modest Satisfaction to the Nicer Questions, Relating to the Arcana Naturae, and such Love Secrets as Are Privately Sent to the Athenian Society, by Young Gentlemen and Ladies. The Whole, Resolving such Nice and Curious Questions in Divinity, Chronology, History, Philosophy, Law, Physick, Trade, Mathematicks, Love, Poetry, &c. As Were Never Answer’d in the Old Athenian Oracles Vol. I. Part I. To be Continued in this Method, till the Question-Project is Compleated. London 1704. 61 Dunton, John: Athenian Sport: or, Two Thousand Paradoxes Merrily Argued, to Amuse and Divert the Age: as a Paradox in Praise of a Paradox. Corporeal Affections Remain after Separation. The Eye Beholds as Much When it Looks on a Shilling, as When it Speculates the Whole Heaven. Inconstancy is a Most Commendable Virtue. Every Man is Corporally Born Twice. No Man Sees but He that Is Stark Blind. The Restor’d Maidenhead, or a Marry’d Woman May be Twice a Virgin. Athenian, or Intellectual, Sport is the Recreation of Pre-Existent Spirits. ‘Tis the Pleasantest Life to Be Always in Danger. The Same Numerical Voice of a Preacher Is not Heard by any Two of his Auditors. What We Call Life, is Natural Death. Content is the Greatest Misery. He is the Happiest Man Who Has Neither Mony Nor Friend. Fruition’s Nothing, or a Paradox Proving there’s no Pleasure in Copulation. To Imprison a Debtor is to Set Him at Liberty. Green Come from the Dead, or No Man Lives but He That is Hang’d. The Virgin-Paradox, or a Young Lady May Love and Hate the Same Person at the Same Time. The Loving Shrew, or the Kindest Women Are the Most Cruel. And so on, to the Defence of 2.000 Paradoxes (or Pleasant Theses) Which Seem Strange, and Contrary to the Common Opinion. With Improvements from the Honourable Mr. Boyle, Lock, Norris Collier, Cowley, Dryden, Garth, Addison, and Other Illustrious Wit. By a Member of the Athenian Society. London 1707. 62 Vgl. Berry: Gender (wie Anm. 20), S. 25.

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gedacht war.63 1694 veröffentliche Dunton gar ein Ladies Dictionnary64, das der Unterhaltung von Frauen dienen sollte. Damit der Athenian Mercury eine weibliche Leserschaft ansprach, hatte dieser auch eine weibliche Autorin engagiert: Dunton publizierte 1696 die Poems on Several Occasions65 von Elizabeth Singer Rowe (1674–1737).66 Die Athenian Gazette bzw. der Athenian Mercury war damit die einzige Wochenzeitschrift des 17. Jahrhunderts, die sich explizit an beide Geschlechter wandte.67 Indem die Leser und Leserinnen Fragen zu allen Lebensbereichen an die Athenian Society einsenden konnten, stellte der Athenian Mercury Wissen auch für Gruppen außerhalb der traditionellen Bildungselite bereit. Der Athenian Mercury initiierte damit einen neuen Typus des Dialogs, in dem sich Experten sowie eine breitere Öffentlichkeit zusammenfinden konnten, und wo sowohl seit langem diskutierte Fragen sowie neue Ereignisse von beiden Geschlechtern erör-

63 „Gentlemen ---- This Athenian News (or Dunton’s APOLLO) Will be publish’d every Tuesday, in a large Octave Sheet, of the same Size and Letter with Dunton’s Athenianism, and this publick Notice is given of It, That so the Ingenious of either Sex, may send such Discoveries in Verse or prose, as may properly be incerted in either of the Twenty Posts, directing them for Dunton’s Apollo, at the Sword in New-Street: And when this New Volume of Dunton’s Atheniansm is completed, there will be added, for the sake of those that stake? In the sheets weekly, An Alphabetical Table of the Several Novelties contain’d in it. … Of those weekly Sheets, shall be given Gratis, to all those Gentlemen, and London Coffee-Houses that ask for’em, being willing that my Athenian News (as well as my Six Hundred Projects) shou’d live or dye by the Judgment of such as read it with unprejudic’d eyes, and not by the malicious and silly Banters of such frothy Scriblers, who write for Bread, which I never did nor never will.“ Siehe Dunton, John: Athenianism: Or, the New Projects Of Mr. John Dunton, Author of the Essay Entitl’d, The Hazard of a Death-Bed-Repentance Being, Six Hundred Distinct Treatises (In Prose and Werse) Written with His Own Hand; and Is an Entire Collection of All His Writings, Both in Manuscript, and such as Were Formerly Printed. To Which Is Added, Dunton’s Farewel to Printing. In Some Serious Thoughts on Those Words of Solomon, of Making Many Books There Is No End, and Muc[h] Study Is a Weariness of the Flesh. Vol. I. With the Author’s Effigies, to Distinguish the Original and True Copies From Such as Are False and Imperfect. Take Care Also Of Being Cheated By Wooden Cuts the Right Is That Which Is Drawn and ’Grav’d By Then Two Celebrated Artists, Knight and Vander Gucht. To This Work Is Prefix’d an Heroick Poem Upon Dunton’s Projects, Written by the Athenian Society; With an Alphabetical Table of the Several Projects, Questions, Novelties, Poems and Characters Inserted in This Volume[.] London 1710, The Dedication, [ohne Seitenangabe]. 64 Carpenter, Nathanael u. John Dunton: The Ladies Dictionary, Being a General Entertainment of the Fair-Sex a Work Never Attempted before in English. London 1694. 65 Singer, Elizabeth Rowe: Poems on Several Occasions Written by Philomela. London 1696. 66 Berry: Dunton (wie Anm. 53). Siehe Brewer, John: The Pleasures of the Imagination, English Culture in the Eighteenth Century. London 1997, S. 141. 67 Berry: Gender (wie Anm. 20), S. 6.

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tert werden konnten.68 Die Fragen, die in Duntons Projekt beantwortet wurden, bezogen sich also nicht auf Athen, sondern umfassten Fragen zu allen Lebensbereichen – von Kochzrezepten zu körperlichen Funktionen konnten Leser und Leserinnen allerlei Informationen finden. Dennoch muss nach dem Stellenwert des Namens, der sich auf das antike Athen bezog sowie nach der Bedeutung des Konzepts, das hinter dem Namen stand, gefragt werden. Der Titel war von einer Stelle der Apostelgeschichte abgeleitet, nach der Paulus, der durch Griechenland gereist war, über die Athener gesagt hatte: „Alle Athener und die Fremden dort taten nichts lieber, als die letzten Neuigkeiten zu erzählen oder zu hören.“69 Von der Neugierde der antiken Athener leitete Dunton schließlich das Konzept des Athenianism ab und schrieb demgemäß: But, Gentlemen, as I publish every distinct Treatise for Real Athenianism, and give it the Name of a NEW PROJECT, ‘tis necessary I here tell you what I wou’d have understood by those Words, Atheniansim – and New Project. All Ages (as if Athens had been the Original) have been curious in their Enquiries, (that is, Lovers of Novelty) Curiosity it self is so much a Part of Nature, that ‘tis seldom laid aside ‘till the whole Frame is dissolv’d; … We all are seiz’d wit th’ Athenian Itch, News and new Thing do the whole World bewitch.70

Der Athenian Mercury bzw. Duntons Projekt des Athenianism sollte also das umsetzen, was die Autoren für den Alltag des antiken Athens hielten: Gelehrte sollten ihr Wissen an die Bürger weitergeben, diese sollten ihre Neugierde befriedigen können.71 Um seine Leser und Leserinnen zu Fragen zu ermutigen, sollten sie den Eindruck gewinnen, die Athenian Society habe für jeden Lebensbereich einen Fachmann zur Hand. Obwohl der Gründungsartikel, der Article of Argeement, nur von den genannten Gründungsmitgliedern unterzeichnet wurde, sollten die Leser des Blattes bewusst im Glauben gelassen werden, dass die Athenian Society mehr Mitglieder umfasse – etwa einen Doktor der Physik, einen Chirurgen und andere

68 Helen Berry bestätigt: „… this periodical represented a new type of dialogue, between an anonymous ‚club’ of experts and their reading public, offering novel debates on ancient themes that were framed within the unparalleled cicrumstances of late-seventeenth century urban society.“ Berry: Gender (wie Anm. 20), S. 7f. 69 Die Bibel: Einheitsübersetzung. Hrsg. von Katholisches Bibelwerk. 10. Aufl. Stuttgart 2012. Apostelgeschichte 17, 21. Der Autor der History of the Athenian Society bestätigt die Lektüre der Apostelgeschichte 17, 21, auf die eine Art göttliche Eingebung folgte, worauf John Dunton die Idee des Athenian Mercury in den Sinn gekommen sei. Siehe Gildon: The History (wie Anm. 55), I, S. 6. 70 Dunton: Athenianism (wie Anm. 63), The Dedication, S. v. 71 Nach der Analyse von Helen Berry war der Athenian Mercury einer der innovativsten journalistischen Erfindungen des 17. Jahrhunderts und „offered those who were anxious or inquisitve a means of articulating their problems and queries in confidence.“ Vgl. Berry: Gender (wie Anm. 20), S. 19.

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mehr. Auch Charles Gildon wollte diese Fiktion in seiner History of the Athenian Society, die vermutlich von Dunton selbst initiiert worden war, aufrecht erhalten. Gildon erweiterte den Kreis der Autoren um fiktive Teilnehmer, um einen Italiener, einen Spanier, einen Niederländer, einen Franzosen und, nun aus der Reihe der Nationalitäten herausfallend, um einen Juristen. Die wirkliche Zusammenstellung des Autorenkreises schien jedoch ein offenes Geheimnis gewesen zu sein.72 Dunton verband sein Gesamtwerk zu einem Konzept und gab diesem den Namen Athenianism. Mit diesem wollte Dunton also nicht Wissen über das antike Athen bereitstellen, sondern vielmehr Neues in Form einer Frage-Antwort-Methode an ein breites Publikum vermitteln: „that under the General Title of Athenianism there is included HISTORY, both Civil and Ecclesistical, PHILOSOPHY in all its Pares, PHYSICK with its Train of wonderful Cures, and Philology with all its known Criticisms, and in a word all Dunton’s Athenian, Serious, Historical, Amusing, Comical, Letter, and Poetical Projects.“73 Dunton wollte somit einem nicht-adeligen oder wohlhabenden Publikum, das es sich nicht leisten konnte, die englischen Universitäten zu besuchen, Wissen und Bildung zur Verfüung stellen. Auch wenn der Buchhändler nicht die Wissensvermittlung über das antike Athen vorantreiben noch dieses als politisches Modell propagieren wollte, so berief er sich dennnoch, um sein Konzept zu rechtfertigen und Öffentlichkeitswirksamkeit zu erlangen, auf das antike Athen. Dies deutet zum einen darauf hin, dass sich das Bewusstsein und Interesse für das antike Athen durch den Erfolg von Duntons Athenian Mercuy weiter verbreitete und sich mit Athen bestimmte Vorstellungen – wie etwa Wissen, Bildung, Konversation – verbanden. Zum anderen lässt die Auswahl des Titels vermuten, dass Athen als positive Referenz in weiten Teilen der Gesellschaft bereits akzeptiert war. Das Konzept des Athenianism griff offenbar auf eine bestehende Akzeptanz zurück, prägte aber auch im weiteren Verlauf Vorstellungen, die sich mit Athen und dem Athenianism verbanden. Es ist deshalb lohnenswert, genauer zu betrachten, welche Elemente Dunton mit seinem Athenianism implizierte: In seiner Dedication zu seinem Athenianism aus dem Jahre 1710 schrieb Dunton:

72 Vgl. Berry: Gender (wie Anm. 20), S. 20. Elkanah Settle (1648-1724) spielte mit dieser vorgetäuschten Gelehrtengruppe in seinem Theaterstück New Athenian Comedy aus dem Jahre 1693. Vgl. Settle, Elkanah: The New Athenian Comedy Containing the Politicks, Oeconomicks, Tacticks, Crypticks, Apocalypticks, Stypticks, Scepticks, Pneumaticks, Theologicks, Poeticks, Mathematicks, Sophisticks, Pragmaticks, Dogmaticks, &c. of that Most Learned Society. London 1693. 73 Dunton: Athenianism (wie Anm. 63), S. ix.

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Gentlemen, My chief Design in writing and publishing these Six Hundred Projects,74 is to furnish the VIRTUOSI with Matters fit four pious and ingenious Conversations, which perhaps I have perform’d in some Measure, because of the great, and not unpleasant Variety of Things they contain. I speak every where my Mind with a Philosophical Freedom, neither blaming other Mens Fancies, nor presuming too much upon my own Conceits; for to polish my own Notions, I consulted not only your learned selves, but the best Authors I cou’d find on the Subjects I was treating of, and made the best Improvement I cou’d of ‘em.75

Dunton beanspruchte hier für sich, Themen für fromme und geistreiche Unterhaltungen bereitzustellen. Die Offenheit, mit der er verschiedenste Themen des Lebens besprach, bezeichnete er als philosophische Freiheit. Ferner informiere er sich über die jeweilgen Sachverhalte nur bei den besten Autoren, damit sich seine Leser und Leserinnen gepflegt und geschliffen („polished“) unterhalten und ausdrücken könnten. Augenscheinlich ist hier, dass Dunton Themen der zu Ende des 17. Jahrhunderts verbreiteten Athen-Rezeption aufnahm. Ob Dunton die französische Lesart Athens, die insbesondere durch Richelieus Sprachpolitik, die Querelle des Anciens et des Modernes und Jean de la Bruyères Caractères geprägt worden war, explizit und ihren Details kannte, ist nicht nachzuweisen, dennoch kann man feststellen, dass er ihre Schlagwörter übernahm: „conversation“, „polished notions“, „philosophical freedom“. Es zeigt sich bei Dunton ebenfalls das mit der Athen-Rezeption verbundene Bestreben, Bildung nicht qua Geburt festzuschreiben, sondern sie für weitere Gesellschaftsschichten zu öffnen: „for my Part, I prefer Piety before Birth, and Learning before Dignity, and consequently chose rather to addreß these Six Hundred Projects to the Athenian Society, than to any other Person whatsoever.“76 Der Athenian Mercury und das Projekt des Athenianism sollten so zur Herausbildung des literarischen Geschmacks einer breiteren Bevölkerungsschicht beitragen. Sie gaben ferner sowohl männlichen als auch weiblichen Autoren die Gelegenheit, ihre Werke zu veröffentlichen.77 Der Athenian Mercury wurde so zum „vital organ of the polite movement“78 und trug 74 Dunton nahm für sich in Anspruch, in seiner Karriere 600 Titel veröffentlicht zu haben, jedoch können nur weniger als 200 nachgewiesen werden. Seine Veröffentlichungen bestanden aus Predigten, politischen Werken, praktischen Bücher, Miszellen. Vgl. hierzu Berry: Dunton (wie Anm. 53). 75 Dunton: Athenianism (wie Anm. 63), The Dedication, S. iv. 76 Dunton: Athenianism (wie Anm. 63), The Dedication, S. iii. 77 Vgl. auch Berry: Gender (wie Anm. 20), S. 27. 78 Hammond, Brean: Professional Imaginative Writing in England, 1670–1740, “Hackney for bread”. Oxford 1997, S. 155–60, Vgl. auch Berry: Gender (wie Anm. 20), S. 27. Berry widerspricht dieser Funktion des Athenian Mercury mit dem Argument, dass dieser gerade nicht höfliche („polite“), sondern unhöfliche („impolite“) Fragen und Antworten zugelassen habe. Vgl. Dies.: Rethinking Politeness (wie Anm. 48), S. 66ff.

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weiter dazu bei, dass Athen, politeness, öffentliches Leben und Bildung miteinander verbunden wurden. Diese Form der politeness, die sich auch im Athenian Mercury zeigte, war Teil eines Reformprogramms, der Reformation of Manners, das die Moral und die Lebensentwürfe der Londoner verändern sollte: Denn zu Ende des 17. Jahrhunderts wurde die Großstadt London von Engländern verstärkt als Stadt der Laster wahrgenommen. Spielsucht und Prostitution waren für die Besucher der Stadt offensichtlich. Viele, die diese Umstände beobachteten, befürchteten, dass die Moral sowie die physische Gesundheit der Londoner Einwohner gefährdet seien, weshalb religiöse Redner mit der Unterstützung von Königin Maria II. eine moralische Reform einleiten wollten. Vor allem in Londons East End wurden Gesellschaften zur Reform der Sitten gegründet, die die öffentliche Diskussion über Moral anleiten und die Ehe als einzige Institution für sexuelle Begegnungen propagierten.79 Auch in der Presse war die Kampagne gegen die Unmoral allgegenwärtig. Es wurden Pamphlete wie The Reformed Gentleman: Or, the Old English Morals, Rescued from the Immoralities of Present Age80 veröffentlicht, in denen Alkoholismus, Prostitution und das Zuwiderhandeln gegen christliche Feiertage beklagt wurde. Höllenfeuer wurde denjenigen angedroht, die die christliche Moral missachteten. Auch Samuel Wesley, Mitglied der Athenian Society, engagierte sich in diesem Kampf gegen die Unmoral und predigte 1698 in St. Bride’s und St. Jame’s Church in Westminster und ging in seinen Predigten gegen den von ihm befürchteten moralischen Niedergang vor, die ihre Wurzeln im Verlust der Tugend hätten.81 79 Mit der Reformation of Manners einhergehend wurden unmoralische Vergehen juristisch verstärkt geahndet. In den 1690er Jahren wurde deshalb vor allem die Prostitution verfolgt. Innerhalb eines Jahres (beginnend im Januar 1693) wurden in London 155 „shopkeepers“ und 157 andere Individuen, die sich eines moralischen Vergehens schuldig gemacht hatten, verhaftet, siehe Berry: Gender (wie Anm. 20), S. 29. Zum Thema der Reformation of Manners siehe auch Claydon, Tony: William III and the Godly Revolution. Cambridge [u.a.] 1996 (Cambridge Studies in Early Modern British History); Sonnelitter, Karen: The Reformation of Manners Societies, the Monarchy, and the English State, 1696–1714. In: The Historian 72/3 (Herbst 2010). S. 517–542. 80 Bouche, Peter Paul: The Reformed Gentleman, or, the Old English Morals Rescued from the Immoralities of the Present Age. Shewing how Inconsistent those Pretended Genteel Accomplishments of Swearing, Drinking, Whoring and Sabbath-Breaking Are with the True Generosity of an English man. London 1693. 81 Der Grund für diese in den 1690er Jahren um sich greifenden gesteigerten moralischen Angst ist laut Helen Berry in den sozialen, politischen und ökonomischen Umständen zu suchen, die im ausgehenden Jahrhundert das Londoner Leben prägten. Ein Faktor für die verstärkte Wahrnehmung außerehelichen Geschlechtsverkehr war demgemäß, dass tatsächlich viele Menschen unverheiratet blieben oder nach Verlust des Ehepartners sich nicht wieder vermählten. Bedingt durch ländliche Migration, Emigration in die Kolonien und dem Krieg der Augsburger Allianz gab es einen deutlichen Überschuss an Frauen in den 1690er Jahren. Berry geht von einem Ver-

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Die politeness-Debatte bezog ihre Wurzeln also in einer protestantischen Morallehre, die sich auch im Athenian Mercury zeigte: Das Konzept des Athenianism, das einerseits die Neugierde der Einzelnen befriedigen sollte, durfte andererseits keinesfalls den rechten christlichen Glauben in Frage stellen.82 Das aufklärerische Konzept des Athenianism wurde vielmehr mit christlichen Moralvorstellungen in Einklang gebracht. Entsprechend suchte der Athenian Mercury, durch Bildung und Wissen die Moralvorstellungen der Leser zu stärken. Die Athenian Society wurde demnach nur zu einem einzigen Zweck gegründet: for the promotion of Learning, and removing that Epidemic Ignorance; which exercises so incredible a Tyranny over the more numerous part of Mankind: From such a Pen the World might expect Satisfaction, and the Athenian Society Justice; … their whole design is not only to improve KNOWLEDGE in DIVINITY, and PHILOSOPHY in all their parts, as well as Philology in all its Latitude, but also to commend this Improvement to the Publick, in the best method, that can be found out for Instruction; which is or ought to be the End of every Writer, unless he aim rather at Amusement, than Information.83

Charles Gildon (1665–1724), Autor der History, begann seine Ausführungen der Geschichte der Athenian Society mit Griechenland, das für ihn Inbegriff der „politeneß and learning“84 war. Diese seien von Griechenland auf Rom übergegangen: „If we pass from Greece to Rome, though Politeneß and Learning diffus’d themselves into a larger compass there, yet their principal Studies were Oratory, and the Art of War, on which all Preferments of that Common-wealth turn’d.“85 Gildon bestätigte an dieser Stelle, dass im britischen Commonwealth bisher vor allem Rom aufgrund seiner rhetorischen und kriegerischen Fähigkeiten gerühmt und rezipiert worden sei, jedoch sei Griechenland mit seinem Zentrum in Athen die Wiege der Philosophie und politeness. Selbst die Römer seien nach Athen gereist, um von den Athenern zu lernen. Das Verdienst der Römer sei schließlich nur, dass sie die Lehre der Philosophen im gesamten Abendland hältnis von 77 Männern auf 100 Frauen für das Jahr 1694 aus. Vgl. Berry: Gender (wie Anm. 20), S. 29ff. Der Mangel an Männern erklärt die zurückgehende Heiratsrate jedoch nicht vollständig, weshalb Peter Earle davon ausgeht, dass Prostituierte und „housekeeper“ die Bedürfnisse Unverheirateter erfüllten, sodass der Druck, eine Ehe einzugehen abnahm. Vgl. Earle, Peter: The Making of the English Middle Class: Business, Society and Family Life in London, 1660–1730. London 1989, S. 184; sowie Berry: Gender (wie Anm. 20), S. 31. Doch nicht nur die Unverheirateten waren Grund zur Sorge der protestantischen Reformer, sondern auch die steigende Zahl von heimlichen Eheschließungen. Einer Schätzung zufolge lag deren Zahl für die Jahre 1690 bis 1740 zwischen 150.000 und 300.000. Siehe Berry: Gender (wie Anm. 20), S. 31f. Vgl. auch Outhwaite, Richard Brian: Clandestine Marriage in England, 1500–1850. Cambridge 1995, S. 54–73. 82 Dunton: Athenianism (wie Anm. 63), The Dedication, S. v. 83 Gildon: The History (wie Anm. 55), I, S. 1. 84 Gildon: The History (wie Anm. 55), S. 2. 85 Gildon: The History (wie Anm. 55), S. 2.

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verbreiteten. Gildon schlussfolgerte: Weil in Europa den Philosophen und Gelehrten aber so viel Aufmerksamkeit und Ruhm geschenkt wurde, wollten diese verhindern, dass Bildung für alle zugänglich war. Außerdem erweiterten die wenigen Gelehrten, die wiederum nur wenige unterrichteten, das Wissen nun nicht mehr, sondern lehrten nur noch das, was sie schon von den Griechen kannten.86 Der Autor der History wollte mit diesen Ausführungen zeigen, dass die Athenian Society Erbin Athens war und mit modernen Mitteln, nämlich in Form des Druckes einer kostengünstigen Zeitschrift, eine größere Öffentlichkeit als jemals zuvor erreichen und viele Menschen bilden konnte: „But that which gave me the greatest cause of wonder, was, that since the benefit of Printing, Books, and consequently Learning, grew more general, and with that an universal Inclination of most men to spread it still farther, that nothing of this nature should by none of the Great men, and Virtuoso’s of our own, or foreign Nations be found out, before about a year since.“87 Die Frage-Antwort-Methode der Athenian Society sei schließlich neu. Keine andere Nation habe jemals eine derartig innovative Idee hervorgebracht: „I never yet (upon enquiry) could understand, that any thing like this was ever advanc’d either before this time, or in any other Nation.“88 Das Projekt der Athenian Society bzw. des Athenian Mercury sei damit Ausdruck der Größe des englischen Geistes: England has the Glory of giving Rise to two of the noblest Designs, that the Wit of Man is capable of inventing, and they are, the Royal Society, for the experimental improvement of Natural Knowledge, and the Athenian Society for communicating not only that, but all other Sciences to all men, as well as to both Sexes; and the last will, I question not, be imitated, as well as the first, by other nations.89

Die Royal Society bringe mit Hilfe experimenteller Methoden neues Wissen hervor. Die Athenian Society habe es sich dagegen zum Ziel gesetzt, dieses Wissen zu verbreiten und sie den Lesern beider Geschlechter zugänglich zu machen. Damit hatte es sich die Athenian Society selbst zur Aufgabe gemacht, zumindest stellte dies Charles Gildon hier so dar, über alte und neue Forschungen sowie über eine christliche (protestantische) Moral aufzuklären und somit „knowlegde“ zu verbreiten. Der Autor der History verglich die Athenian Society in ihrer aufklärerischen Funktion mit der Royal Society, betonte jedoch die größere Breitenwirkung der Gesellschaft nach athenischem Vorbild. Dieses englische Projekt werde in Zukunft, so Gildons Mutmaßung, wie einst die Lehren der Athener, von anderen Nationen nachgeahmt. Das Projekt der Athe86 Gildon: The History (wie Anm. 55), I, S. 2. 87 Gildon: The History (wie Anm. 55), S. 2. 88 Gildon: The History (wie Anm. 55), S. 3. 89 Gildon: The History (wie Anm. 55), S. 3.

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nian Society werde damit die Bildung vieler Menschen verbessern, die die geistigen Voraussetzungen, nicht aber über die notwendigen Geldmittel verfügten, sich eine universitäre Ausbildung zu leisten. Ihnen könne die Lehre der Meister durch die Vermittlung und Übersetzung der Athenian Society nähergebracht werden. In Frankreich habe man das Hindernis der schweren Zugänglichkeit der Texte schon überwunden und habe bereits alle bedeutenden Schriften in die eigene Landessprache übersetzt. Die Franzosen seien in ihrer Übersetzungs- und Vermittlungsleistung akkurater und raffinierter als man dies hierzulande sei, da man in Frankreich durch die Unterstützung von Seiten der Krone andere Geldmittel zur Verfügung habe als in England, wo alles vom Engagement der Buchhändler – mit anderen Worten von John Dunton – abhänge: What an improvement this will be to Learning, I presume, none, that will give themselves leisure to reflect, can be insensible of; for a diffusing Knowledge, among all that Heaven has made capable, must certainly bet he occasion of more Discoveries, in Truth, and Nature, because the number of the Learned, I say; for, I cannot see any reason why Languages should be thought so necessary an Ingredient for the composing a Scholar, if it were not for the opening the Secrets that are locked up in them; which Prison this Noble Societies Undertaking will in time free ‘em from. For, indeed ‘tis very hard, that those whose Pockets could not arrive to better Education, and yet are blest [sic.] with abler Brains than many who spend their time in Books should be hindered from those advantages they could so well make use of. 90

In England habe man keine ähnlich guten Übersetzungen wie in Frankreich, da Übersetzer nur von (armen) Buchhändlern angestellt und bezahlt würden, deren Finanzierung nicht wie in Frankreich Teil politischer Zielsetzung seien. In England gebe es eben keinen Richelieu: „… that you who had no Richelieu to cherish your Essays, or guard your Rising Merit, were ablest to Patronize that, which chiefly aim’d at giving the World a Draught, in little, of what it ow’d to you Incomparable Performances.“91 Wenn die Werke der großen Denker aber allen Engländern und Engländerinnen in Form von Übersetzungen zugänglich wären, welch großes Glück beschere das den Künsten und Wissenschaften in England! 90 Gildon: The History (wie Anm. 55), I, S. 4. Weiter schrieb Gildon: „The French have remov’d in some measure this Obstacle, and made all Authors familiar to every one, that can but read and understand their own Mother-tongue, by translating all Books of any value into their own Language. … Whereas the French are more accurate, because they who give themselves to Undertakings of that kind among them, are such whose Business is Learning, and who are otherways provided for, than to depend on the Generosity of a Bookseller for their Bread. And whilst a business of that consequence is carried on by such Hands, we have no reason to expect any greater performances.“ 91 Gildon: The History (wie Anm. 55), The Epistle Dedicatory.

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Da Staat und Krone jedoch nicht ausreichend für die Bildung der Bürger sorgten, springe die Athenian Society als Mittlerin ein: Sie könne, ähnlich wie die im Umfeld der Académie française angefertigen Übersetzungen, das bereits vorhandene Wissen verbreiten und zugänglich machen.92 Die Ausführungen verdeutlichen, dass die englischen Bestrebungen, Wissen größeren Bevölkerungsteilen zugänglich zu machen, von der französischen Konkurrenz und durch Richelieus Versuch, die französische Sprach- und Kulturhegemonie zu stärken, beeinflusst waren. Im Verweis auf Frankreich, wo der Staat für die Wissensvermittlung einsprang, verbarg sich zum einen eine Kritik an der aktuellen Regierung Englands, die sich nicht gleichermaßen um die Bildung ihrer Bürger kümmerte; zum anderen eröffnete dieser Verweis aber auch eine gekonnte Werbestrategie: Da die Regierung versagte, müssten Privatmänner wie Dunton einspringen. Für nur zwei Pence, die der Athenian Mercury koste, gebe dieser das tradierte Wissen weiter, „all the Endeavours of the great men of all Nations, and Ages, from the beginning of Learning to this time, have not contributed to the encrease of Knowledge, so much as this Institution of the Athenian Society.“93 Gildon kritisierte in der History ferner, dass die Zahl der modernen Gelehrten diejenige der Antike kaum übersteige. Dies liege daran, dass nur diejenigen vom Wissenszuwachs profitierten, die es sich leisten könnten, die Universität zu besuchen. Mit dem Verweis auf die Universitäten implizierte der Autor, dass die Athenian Society und ihre Gazette – ganz ähnlich wie die Kaffeehäuser – eine Universität für den mittellosen Mann und die mittellose Frau waren.94 Gegen dieses Projekt wehrte sich offensichtlich die gelehrte Elite, da der Autor mehrfach die Vorteile für die Gelehrten versicherte. Die „Demokratisierung“ des Zugangs zum Wissen erweitere dasselbe und bringe damit auch die klassischen Gelehrten voran, lautete Gildons Argument.95 An dieser Stelle fasste er noch einmal zusammen, weshalb der Bezug auf Athen gewählt wurde: I shall conclude this First part of my History with the Reasons, why they assumed the Title Athenian … If they had taken the Name of Lacedemonian, indeed it would have looked something odd, and as if it were done in spite of Learning, to borrow a Titel from that place, which scarce ever afforded a Philosopher, or any Man of Learning; but the Athenians were the most curious, and inquisitive People of Antiquity, as that Verse I have before quoted out of the Acts, demonstrates …96

92 Gildon: The History (wie Anm. 55), I, S. 4. 93 Gildon: The History (wie Anm. 55), I, S. 4. 94 Gildon: The History (wie Anm. 55), I, S. 4f. 95 Gildon: The History (wie Anm. 55), I, S. 5. 96 Gildon: The History (wie Anm. 55), I, S. 9.

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Der Autor der History machte hier also deutlich, dass die Society, die es sich zum Ziel gesetzt hatte Wissen zu verbreiten und weiten Bevölkerungsschichten bereitzustellen, keinen anderen Namen haben könne als derjenige der Athenian Society. Die einfachen und kriegerischen Spartaner stellten schließlich nicht das passende Vorbild für das Projekt der Society bereit. Die antiken Athener konnten als Namensgeber dienen, weil sie, so attestierte es die Bibel, das neugierigste Volk der Antike waren. Und weiter führte der Autor der History aus: „All that know any thing of History, or have read any of the old Authors, must be sensible, that Athens was in that veneration with Antiquity, that it was the only place of Study in those days, and from thence was all Europe civiliz’d, and taught Arts, and Sciences.“97 Indem Gildon nun darstellte, dass der Grund für das hohe Niveau der Bildung und Zivilisation in Athen in der Politik der Regierung zu suchen sei, weil diese die Wissenschaften unterstützt habe, kritisierte er damit erneut implizit die aktuelle Lage Englands und das fehlende Engagement seiner Regierung, die Bildung der Bürger zu fördern, sondern Learning in England nur der traditionellen Elite überließ: „The Value the Government of Athens put upon the Learned in all Sciences, afforded Encouragement to the Ingenious, to improve them.“98 Und nachdem Gildon alle berühmten Athener aufgezählt hatte, führte er weiter aus: ’T would be endless to mention but the Names of all those that have flourished in every Science, and Art in this famous City. From what I have here produc’d, will sufficiently appear, that since all the Arts, and Learning of the old World owed their Beginning (nay, and perhaps perfection too, though afterward lost in the Inundation of Barbarity which from the North over-run all Europe) to Athens, with just Reason did this Learned Society make choice of that Appellation, whose Aim it is to advance all Knowledge, and diffuse a general Learning through the many, and by that civilize more now, in a few years, that Athens it self did of old during the Ages it flourished.99

Politeness bestand für Gildon wie für den Gründer des Athenianism in guter Konversation sowie im Prozess der Bildung einer größeren, urbanen Öffentlichkeit. Aus letzterer ergab sich auch eine Analogie zwischen London und Athen. In einem Gedicht des französisch-stämmigen und in England lebenden Journalisten und Übersetzer Peter Anthony Motteux (zuvor Pierre-Antoine Le Motteux, 1663– 1718. 1686 hatte Motteux, in London lebend, die englische Staatsbürgerschaft angenommen), das in der History abgedruckt wurde, stellte dieser London als das moderne Athen dar: 97 Gildon: The History (wie Anm. 55), I, S. 9. 98 Gildon: The History (wie Anm. 55), I, S. 9. 99 Gildon: The History (wie Anm. 55), I, S. 10.

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Sons of the Muses, at whose welcome Birth Auspicious Phœbius cheer’d the Trooping Earth, By whom once more old Learned Athens lives, Our great Metropolis new Fame receives, And a more gentle Air our Northern Climes revives, Go on, descend to Natures deepest Cell, The gloomy Night that veils the bashful Dame dispel. Help a whole World with doth your Aid implore, And scatt’ring Beams of Light our golden days restore. Learning’s diviner Rays the Sun’s outvye And pierce the Globe, and range the loftiest Skie. In never-dying Lines your task renew, Through Learning’s boundless Sea your course pursue, Vast undiscover’d Regions wait for you. The mighty Work much Art, much Toyl demands, And even Apollo wants assisting Hands. In dismal shades the ancient World did stray, Till Athens Wisdom did its Light display; Athens once more must change our Darkness into Day.100

London wie Athen erscheinen im Gedicht des französisch-stämmigen Wahlengländers als Licht in der Dunkelheit. Das Stilmittel der Lichtmetapher verdeutlicht noch einmal die aufklärerische Funktion, die der Londoner Athenian Society zugeschrieben wurde.101 Die Society bringe, weil dies von Seiten der politischen Amtsträger nicht getan werde, Licht, Bildung und Wissen nach London. Mit „Son of the Muses“ und Apollo wird offenbar auf John Dunton verwiesen, der als Begründer des Athenianism, Weisheit und Bildung verbreite und dabei jede Unterstützung gebrauchen könne. Das Licht, das bereits das antike Athen spendete und nun in „Our great Metropolis“ scheine, sollte nun die goldenen Zeiten Englands wiederherstellen. Auch in einem weiteren, ebenfalls in der History abgedruckten Gedicht von D.F.102, wird Athen als die Wiege der Genialität und des Ruhmes dargestellt: From Athens one, and one from Rome, inspir’t, The gladsome World with their own Genial Fire; So Form did Chaos, light, the Dark expel, As Athens Rome, and Rome the world excell: The Usurping Troops, by their own Guilt subu’d, 100 Gildon: The History (wie Anm. 55), Epistle Dedicatory. 101 Siehe zur Lichtmetapher und ihrere Verbindung zu aufklärerischen Idealen auch Becker, Karin Elisabeth: Licht – (L)lumière(s) – Siècle des Lumières. Von der Lichtmetapher zum Epochenbegriff der Aufklärung in Frankreich. Köln 1994. 102 Leider ist nicht klar, wer mit den Initialien gemeint war.

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Fled from th’approaching dawn, while none pursu’d. The enlighten’d world new Altars gladly raise, And form new Triumphs to the Victor’s Praise. Wisdom, and Learning, aged with Renown, Enjoy unenvy’d an Eternal Crown.103

Das Licht wurde, so stellt es das Gedicht dar, von Athen nach Rom hinübergebracht und von dort in der Welt verbreitet. Nun sei der aufgeklärten Welt („enlighten’d world“) ein neuer Altar der Anbetung gegeben. Weisheit und Wissen seien für immer (in London und durch die Athenian Society) wiederhergestellt. Ähnlich stellte dies das Gedicht des Dichters, Theaterautors und Übersetzers Nahum Tate (ca. 1652–1715) dar, das das Thema der translatio von „knowlegde“ und „wisdom“ ebenfalls aufnahm. Letztere hatten demnach in Athen ihren Ursprung genommen und seien dort perfektioniert worden. Anschließend wurden sie von Rom beherbergt, aber nun seien diese – Dank der Athenian Society – in „Britain“ zu finden: If Wit, and Learning, here, those Charms renew, That Art’s Admirers once to Athens drew. If thither Conqu’ring Rome for Knowledge sought, What Miracles have you for Britain wrought! Who Athens home to us at your own Charge have brought!104

In den Gedichten erscheint Athen als Wiege der Bildung, des Wissens und der oratorischen Kunst, Rom dagegen lediglich als Nachahmerin Athens. Wenn man also Bildung und Weisheit nach England bringen wolle, dann müsse man sich an Athen wenden und von der antiken Stadt die dazu notwendigen Mittel beobachten und nachahmen. Dass die Erleuchtung Englands nur durch das Vorbild Athens, den Atheniansim und die Athenian Society stattfinden könne, stellte auch das Emblem der Athenian Society dar, das zuvorderst in ihrer History abgedruckt wurde. Der Stich,

103 Gildon: The History (wie Anm. 55), Epistle Dedicatory. 104 Gildon: The History (wie Anm. 55), Epistle Dedicatory. Ähnlich verdeutlichte dies auch ein weiteres Gedicht von D.T., das ebenfalls im Epistle der History mit abgedruckt ist: „Thus meaner We, whose low and humble Birth/Derives its Half at least from Native Earth,/When first the spreading Fame, the Rumour run,/That Athens had another World begun,/And clear’d the gloomy shades of Ignorance,/And form’d new sparkling Orbs ---------------/This soon employ’d each Tongue: all Ears and Eyes/Were full of Athens, and the Enterprize./But when the searching Age begin to find/The greater Aim, the Good that was design’d/Changed into Act, and cultivate Mankind;/The deep Amazement pall’d, and in its room/Deserv’d Encomium’s crowd, and bring their Off’rings home.“ Gildon: The History (wie Anm. 55), Epistle Dedicatory.

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der vom Niederländer Frederik Hendrik van Hove (ca. 1630–ca. 1715) angefertigt wurde, zeigt ein in fünf horizontalen Zeilen angeordnetes Panorama, das die Hilfe suchenden Engländer darstellte, die in Unwissenheit umherirren, und von Bosheit und Gewalt bedrängt, nun die Rettung bei den modernen Athenians finden. In der untersten Zeile findet sich der Text zum Bild.105 An den linken und rechten unteren Bildecken sieht man die beiden Universitätsstädte Oxford und Cambridge eingezeichnet, von denen Menschen auf Pferden und Kutschen ausziehen. In der zweiten Bildzeile von unten scheinen diese von den Universitätsstädten kommenden Menschen angegriffen zu werden, die schließlich die Athenians mit dem Ruf „help help noble athenians“ zur Hilfe bitten. In der dritten, größten Bildzeile sieht man diese um Abhilfe flehenden Menschen vor den Athenians, die wie die Jünger Jesu in der Darstellung des letzten Abendmahls von Leonardo da Vinci aufgereiht sitzen und die Fragen beantworten, die von den sie umgebenden Menschen schriftlich dargereicht werden. In der linken und rechten oberen Bildecke sind Athen und Rom als diejenigen Städte sichtbar, die Bildung und Licht über die Welt brachten. Mit Athen, das links in der oberen Ecke erscheint, beginnt diese Geschichte der Bildung und politeness, sie entwickelte sich weiter über Rom und wurde nun von der Athenian Society übernommen, die den Bildmittelpunkt darstellt und die im Stich den Bürgern ihres 105 Unter dem Emblem steht der folgende Text: „A. behind ye scenes sit mighty we/nor are we known nor will we be/he world and we exchanging thus/while we find chat for ym they work for us/B. dy’e see that lady ine ye mask/wee’l tell ye what she comes to ask/tho an unconscionable task/us how her lover fast to bind/false as her selfe false as ye faithless wind/C. that other brings her fav’rite flea/with golden fetters lock and key/if t’has a sting our thoughts does crave/ or only a tongue as other females have/D. thinking our notions too jejune/some take their aime at madam moon/some bring hard queryes which we crack/and throw the gazeing world ye kernels back/E. heres honest tarr who woud his crown afford/were he paid off ’ere he returns aboard to know what he must ask in vain/when we shall be at ye french again/F. euclid where art tho ’twas before despaird/now maist thou have thy circle squar’d/but art is long and thou must stay/nor Rome was built nor athens in a day/G. we know sr, but too well your case/some powerfull faction right or wrong embrace/or starve and dye without a place!/H. avoid you rowt of noisy fools/once more you are not in our rules/could we but please ye learned few/which send from far, we could dispence wth you/I. whither, lost wretches!whither would you run/by guilt or by unhappy love undon!/what need you perish or despair/if you’d have aid an angel shows you where. K. this query’s quickly understood/he only asks d’ye think his coffee good/yet woud croud in tho just by th’ door or uowd heed take our letters in no more./L. these dainty nutts i must not loose/nor burn my paws b your leave dear puss!/if those that put em there enquire/ twas you not i that robb’d ye fire/ how sweet is interlopers hire!/M. all englands rarityes are gatherd here/from unknown earth fire water air thousands agree in such a glorious strife/or else a moments work wou’d last a life/N. with beak and talons i infest/those cuckoes that invade my nest/and if minerva yet supply/my ancient gift in prophecy/all scab’d and old they in somehollow tree shall dye.“ Siehe Gildon: The History (wie Anm. 55), erste Seite nach Titelseite, [ohne Seitenangabe].

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 VII Athen im Denken der Whigs

Landes in gefährlichen Zeiten zur Seite steht und Abhilfe schafft. Die Universitäten von Oxford und Cambridge, im Emblem in den unteren Bildecken zu sehen, waren dieser Aufgabe nicht gerecht geworden.

Abbildung 3: Hove, Frederik Hendrik, van: Stich zum Druck der History of the Athenian Society.106 106 Gildon: The History (wie Anm. 55), erste Seite nach Titelseite, [ohne Seitenangabe].

1 Das Grecian Coffeehouse und John Duntons Athenianism 

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Dass sich die Verbindung von Athen, öffentlicher Bildung und politeness gerade bei Whig-nahen Denkern in den folgenden Jahren durchsetzte, zeigt auch die Zeitschrift The Tatler. Darin schrieb vermutlich Steele unter dem Pseudonym Isaac Bickerstaff Esq. im Januar 1709: „The Athenians, at a Time, when they were the most polite, as well as the most powerful Government in the World, made the Care of Stage one of the chief Parts of the Administration: And I must confess, I am astonished at the Spirit of Virtue which appeared in that People upon some Expressions in Scene of a famous Tragedy.“107 Im Oktober desselben Jahres schrieb Steele in derselben Zeitschrift in Bezug auf das athenische Theater und seine Funktion für den polishing-Prozess der Athener: „For this Reason the wise Athenians, in their Theatrical Performances, laid before the Eyes of the People the greatest Afflictions which could befall human Life, and insensibly polish’d their Tempers by such Representations.“108 Im November 1709 bestätigte Isaac Bickerstaf Esq. nocheinmal: „The Athenians were at that Time the Learned of the World.“109 Welche Bedeutung die Verbindung von politeness und Athen schließlich in der Whig-Ideologie haben sollte, wird insbesondere im Jahre 1711 deutlich, als der Whig-Politiker und Locke-Schüler Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury (1671–1713), Enkelsohn des gleichnamigen First Earl und Begründer der Whig Country-Opposition110 gegen den Hof Karls II., eine Sammlung seiner bereits veröffentlichten Werke unter dem Titel Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times111 herausgab, in der das Thema der politeness eine prominente Stelle einnahm. Zwar erklärte der Engländer nicht ausdrücklich, warum er diesen Titel wählte, doch erinnerte er damit an die Tradition der Charakterbeobachtungen, die bereits von La Bruyère prominent aufgenommen worden war. Obwohl der Titel also eine soziologische Untersuchung nahe legt, betrachtete Shaftesbury seine Werkssammlung jedoch als philosophische Abhandlung, die die Menschen zum philosophischen Dialog und zur aktiven Beteiligung in der Welt anregen sollte. Die Philosophie war für Shaftesbury demnach das Studium der „happiness“, die für alle Menschen gleichermaßen gelten sollte: „If philosophy be, as we take it, 107 The Tatler: Nr. 122 (17.–19. Januar 1709). London 1709. 108 The Tatler: Nr. 82,(15.–18. Oktober 1709). London 1709. 109 The Tatler: Nr. 92 (08.–10. November 1709). London 1709. 110 Die First Whigs hatten die Country als Gegengewicht gegen den Hof propagiert. Deshalb wurden Sie auch Country-Opposition genannt. Zu den Anfängen der Country-Opposition und der Rolle, die der First Earl of Shaftesbury als ehemaliger Lord Chancellor unter Karl II. gespielt hatte, vgl. Smith, David L.: A History of the Modern British Isles, 1603–1707. The Double Crown. Oxford 1998, S. 221–244. 111 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper Third Earl of: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times. Hrsg. von Lawrence E. Klein. Cambridge [u.a.] 1999 (Cambridge Texts in the History of Philosophy). Siehe auch Klein, Lawrence E.: Introduction, in: Ebd. S. vii–xxxi, hier S. vii.

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 VII Athen im Denken der Whigs

the study of happiness, must not everyone, in some manner or other, either skilfully or unskilfully philosophize?“112 Mit seiner Forderung, dass „everyone“ philosophiere, war für den eifrigen La Bruyère-Leser Shaftesbury die Beschäftigung mit dem antiken Athen gewissermaßen zwingend.

2 Shaftesburys anti-höfisches, urbanes Athen Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury lobte die Antike in seinen Characterstics dafür, dass sie der Philosophie einen bedeutenden Platz im öffentlichen Leben eingeräumt habe.113 Die Philosophie habe zur Toleranz gegenüber Andersgläubigen geführt, sie sei das Mittel gegen Aberglauben gewesen und habe zur Balance und Harmonie des Zusammenlebens beigetragen.114 Die Philosophie war demnach für die abendländische Geschichte und Kultur zentral: Shaftesbury war der Meinung, dass in der westlichen Philosophie der Imperativ der Selbst-(Er)kenntnis sowie die Veränderung und Verbesserung des Charakters tief verankert seien. Ferner zeigte er in seinen Schriften die Überzeugung, dass Menschen von Natur aus gesellig („sociable“) und damit Teil des fortdauernden Zivilisationsprozesses seien. Die ästhetische Empfindung war somit für ihn mit einem moralischen Anspruch verbunden. Während der Engländer in seinen Schriften also einen moralischen Imperativ der Selbsterkenntnis und der Charakterformung verankerte, propagierte er auch, oder gerade deshalb, die griechische paideia und ihre moderne Ableitung der politeness als ein Programm der intellektuellen, ästhetischen und ethischen Kultivierung.115 112 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Third Earl of: The Moralists, a Philosophical Rhapsody. In: Ders.: Characteristics (wie Anm. 111). S. 231–338, hier S. 336. Siehe auch Klein: Introduction (wie Anm. 111), S. viii. 113 Siehe Shaftesbury: The Moralists (wie Anm. 112), S. 235. 114 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Third Earl of: A Letter Concerning Enthusiasm. In: Characteristics (wie Anm. 111). S. 4–28, hier S. 11. 115 Vgl. Klein: Introduction (wie Anm. 111), S. ix. Zu Shaftesburys Ästhetik und deren Verbindung zu seiner Moralphilosophie siehe Bernstein, John Andrew: Shaftesbury’s Identification of the Good with the Beautiful. In: Eighteenth-Cenury Studies 10/3 (Frühling 1977), S. 304–325. Die Verbindung zur griechischen Kulturgeschichte, die in diesem Kapitel noch ausführlicher dargestellt werden soll, findet bei Bernstein bereits in seinem Einführungssatz Anklang: „The idea that aesthetic and moral values possess a profound affinity for one another has roots deep in the Greek sources of Western philosophical ethics“. Siehe ebd., S. 304. Zu Shaftesburys Ästhethik und Kunstkritik siehe außerdem: Townsend, Dabney: Shaftesbury’s Aesthetic Theory. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 41/2 (Winter 1982). S. 205–213; sowie Mortensen, Preben: Shaftesbury and the Morality of Art Appreciation. In: Journal of the History of Ideas 55/4 (Oktober 1994). S. 631–650.



2 Shaftesburys anti-höfisches, urbanes Athen 

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Der Autor der Characteristics beklagte nun die marginale Rolle, die die Philosophie in seiner eignen Zeit einnehme.116 Dabei erklärte er, wie Philosophie, politeness und eine diskursive Öffentlichkeit miteinander verbunden seien und sein müssten. Die antiken Völker, die von Shaftesbury stets als „politer people“, bzw. die Epoche der Antike, die von ihm als „politer ages“ gedeutet wurden, waren für ihn in Philosophie und politeness deshalb besser ausgebildet, weil die regelmäßigen, öffentlichen Diskussionen diese beförderten: It is for this reason, I verily believe, that the ancients discover so little of this spirit, and that there is hardly such a thing found as mere burlesque in any authors of the politer ages. The manner indeed in which they treated the very gravest subjects was somewhat different for that of our days. Their treatises were generally in a free and familiar style. They chose to give us the representation of real discourse and converse by treating their subjects in the way of dialogue and free debate. The scene was usually laid at table or in public walks or meeting places, and the usual wit and humour of their real discourses appeared in those of their own composing. And this was fair. For without wit and humour, reason can hardly have its proof or be distinguished. The magisterial voice and high strain of the pedagogue commands reverence and awe.117

In der Antike – und man kann schon vorwegnehmen, dass er mit Antike vor allem die griechische bzw. athenische Antike vor Augen hatte – habe man also selbst ernsthafte und wichtige politische wie philosophische Themen in öffentlichen Dialogen und freien Debatten diskutiert. Diese Praxis unterschied sich, so lautete Shaftesburys Analyse, doch sehr vom zeitgenössischen Leben in England. Der Philosoph zeichnete also ein Bild der Antike als eine Zeit, in der die Probleme einer Gemeinschaft diskutiert wurden und so die in einer Gemeinschaft wirkenden Extreme friedlich und in Harmonie in Einklang gebracht wurden. Damit widersprach er deutlich den Ausführungen seines Landsmannes Thomas Hobbes, der gerade die antike Philosophie, insbesondere die griechische, für die blutigen Auseinandersetzungen und Bürgerkriege seiner Zeit verantwortlich gemacht hatte.118 Die Lektüre der antiken Philosophie und die Nachahmung des antiken Lebens hatten für Shaftesbury nicht Unfrieden gebracht, sondern trugen, gerade weil die Antike der Philosophie und der öffentlichen, freien Diskussion so viel Bedeutung zugeschrieben hatte, zum inneren Frieden eines Gemeinwesens bei. Dass Hobbes sich so gegen die griechische Philosophie versperrt habe, sei dem blutigen Geist der Zeit geschuldet. Hobbes habe sich

116 Shaftesbury: The Moralists (wie Anm. 112), S. 232f. 117 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Third Earl of: Sensus Communis, an Essay on the Freedom of Wit and Humour in a Letter to a Friend. In: Ders. Characteristics (wie Anm. 111), S. 29–69, S. 35. Siehe auch Shaftesbury: A Letter (wie Anm. 114), S. 17. 118 Siehe Kapitel III.2 dieser Arbeit.

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selbst verhalten wie ein Wilder, der die Philosophie und Lebensart der Griechen, dem höflichsten und geschliffensten aller Völker, studieren müsse: And yet an able and witty philosopher of our nation was, we know, of late years so possessed with a horror of this kind that, both with respect to politics and morals, he directly acted in this spirit of massacre. The fright he took upon the sight of the then governing powers, who unjustly assumed the authority of the people, gave him such an abhorrence of all popular government and of the very notion of liberty itself that, to extinguish it for ever, he recommends the very extinguishing of Letters and exhorts princes not to spare so much as an ancient Roman or Greek historian. – Is not his in truth somewhat Gothic? And has not our philosopher in appearance something of the savage, that he should use philosophy and learning as the Scythians are said to have used Anacharsis and others for having visited the wise of Greece and learnt the manners of a polite people?119

Shaftesbury rechnete die negative Lesart der griechischen Geschichte folglich dem historischen Kontext der Bürgerkriegsjahre zu. Dem Whig-Theoretiker lag nun daran, die politische Freiheit gegen Hobbes als friedensbringend zu verteidigen, setzte dabei jedoch einen anderen Schwerpunkt als die republikanischen Schreiber des 17. Jahrhunderts:120 Für Shaftesbury ging es nicht zuerst um die institutionelle Beschaffenheit eines politischen Regimes, sondern vornehmlich um die Freiheit der öffentlichen Rede und Diskussion. Diese waren für den Engländer wiederum, ganz ähnlich wie für La Bruyère, Bedingung der politeness, die sich deshalb auch nicht am Hof oder beim Hof abhängigen Adel finden ließen. Politeness sei vielmehr griechischen Ursprungs und bezeichne einen Sinn für das Allgemeinwohl, die Liebe für die Gemeinschaft, natürliche Zuneigung und Menschlichkeit. Sie sei eine Höflichkeit, die aus dem Respekt für die allen Menschen gemeinsamen Rechte entspringe.121 Politeness war für den Engländer damit mehr als bloße Regelwerkerfüllung. Sie galt für alle Menschen gleichermaßen, war also nicht vom sozialen Status der Akteure abhängig, sondern entsprang einem tiefen Sinn für das kollektive Interesse. Politeness suchte nach Shaftesbury nicht den eigenen Vorteil. Damit verband Shaftesbury die kulturelle Tugend der politeness sowohl mit der Freiheit als auch mit der republikanischen Tugend der Sorge für das Gemeinwohl. In Shaftesbury zeigt sich somit, dass sich zwei diskursive Themen miteinander verbanden – nämlich die Sprache der politeness mit der älteren Sprache der civic tradition.122 119 Shaftesbury: Sensus (wie Anm. 117), S. 42. 120 Siehe dazu Hammersley: The English (wie Anm. 43), S. 14–32. 121 Siehe Shaftesbury: Sensus (wie Anm. 117), S. 48. 122 Siehe dazu ausführlich Klein, Lawrence E.: Liberty, Manners and Politeness in Early Eighteenth-Century England. In: Historical Journal 32/3 (September 1989). S. 583–605, insbesondere S. 584.



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Indem Shaftesbury politeness und Freiheit also miteinander verband, wirkte er auf eine beträchtliche Veränderung der englischen politischen Sprache hin, indem er ältere, republikanische Tugenden wie Unabhängigkeit, Einfachheit, Bescheidenheit als vornehme („polite“) Verhaltensweisen, namentlich als Soziabilität, Urbanität, Schicklichkeit, rhetorische Fähigkeit und Konversation umdeutete. Sein Rekurs auf das griechische Vorbild hatte diese inhaltliche Veränderung der Tugendkonzeption überhaupt erst möglich gemacht, ohne den in England seit Jahrzehnten prominent diskutierten Rekurs auf die politische Freiheit in Frage zu stellen.123 In seiner Soliloquy, or Advice to an Author schrieb der Whig-Denker: If therefore it happened in these free communities, made by consent and voluntary association, that after a while the power of one or of a few grew prevalent over the rest, if force took place and the affairs of the society were administered without their concurrence by the influence of awe and terror, it followed that these pathetic sciences and arts of speech were little cultivated since they were of little use.124

Shaftesbury machte hier deutlich, dass ein freier Staat durch Zustimmung und freiwillige Vereinigung geschaffen werde. Wenn in einem solchen Staat schließlich ein Einzelner mit Gewalt herrsche, dann würden die Wissenschaft und die Kunst der Rede nicht gefördert, weil sie in einem solchen politischen Regime von wenig Nutzen seien. Wo aber das Volk überzeugt werden müsse, weil es politische Entscheidungen treffe, dort könne die Kunst der Rede gehegt und gepflegt werden, dort höre man den Oratoren zu, die ihre Argumente vorbringen. Der freie Staat schaffe also, weil die Mehrheit überzeugt werden müsse, eine Situation, in der die Gelehrten ihre Überzeugungskunst anwenden, ihre Argumente anbringen, die Öffentlichkeit unterweisen und somit die Hörenden „polieren“ konnten: But where persuasion was the chief means of guiding the society, where the people were to be convinced before they acted, there elocution became considerable, there orators and bards were heard, and those arts by which the people were rendered more treatable in a way of reason and understanding, and more subject to be led by men of science and erudition. The more these artists courted the public, the more they instructed it. In such constitutions as these, it was the interest of the wise and able that the community should be judges of ability and wisdom. The high esteem of ingenuity was what advanced the ingenious to the greatest honours. And they who rose and relish to which they owed their personal distinction and pre-eminence.125

123 Klein: Liberty (wie Anm. 122), S. 588f. 124 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Third Earl of: Soliloquy, or Advice to an Author. In: Ders.: Characterstics (wie Anm. 111). S. 70–162, hier S. 107. 125 Shaftesbury: Soliloquy (wie Anm. 124), S. 107f.

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 VII Athen im Denken der Whigs

Nach Shaftesbury war die charakteristischste Aktivität der politeness also die Konversation. Sie war die Substanz der Weltgewandtheit und der Urbanität. Und da der Prozess des Poliertwerdens für Shaftesbury von einer öffentlichen Arena abhing und diese wiederum zumindest einer Art konsensuellen Entscheidungsfindungsprozesses bedurfte, war die politeness direkt mit der Freiheit verbunden.126 Aber auch eine andere Art der Freiheit war mit dem polishing-Prozess gemeint: Die Ausbildung der rhetorischen Eloquenz sowie des ästhetischen Geschmacks waren nach Shaftesbury von einer Dialektik zwischen Redner und Rezipienten geprägt. Während das Publikum Druck auf den Redner ausübe, nur seine besten, reifsten und geschliffensten Gedanken und Worte seinen Zuhörern zu vermitteln, habe der Orator selbst auch ein Interesse daran, das Publikum auszubilden und in seiner Urteilsfähigkeit zu üben, damit sein Engagement und Talent auch gebührlich anerkannt werde. Eloquenz konnte nach Ansicht des Philosophen nur dann entstehen, wenn dieses beiderseitige Interesse von Rezipienten und Rednern gegeben war. Dementsprechend war die Entwicklung der Redekunst sowohl von dieser Gegenseitigkeit als auch von der bürgerlichen Freiheit abhängig.127 Politeness war damit beides: der Prozess des Polierens und das Ziel, der Zusand des Poliert-Seins.128 Wie Lawrence Klein darstellte, schuf die Verbindung von Freiheit, Öffentlichkeit und politeness, die man bei Shaftesbury finden konnte, einen öffentlichen Diskurs über Freiheit, in dem sogenannte klassische Tugenden des Bürgers eine immer geringere Rolle einnahmen.129 Dies hatte schließlich sowohl den englischen „gentleman“ neu definiert, als auch eine neue Idee einer Elitenkultur vorangebracht, die vornehmlich Schicklichkeit und rhetorische Fähigkeiten betonte und Bildung in Kunst und Kultur forderte.130 Der „gentleman“ wurde fortan nicht mehr ausschließlich durch seine adelige Familienherkunft, seinen Landbesitz und seinen Staatsdienst definiert, sondern durch seine Leistungen in der sozialen und kulturellen Sphäre.131 In der Sprache der politeness wurde der „gentleman“ nun in Zusammenhang mit der ihn umgebenden Gruppe gesehen, in der er seinen guten Geschmack, seine angemessenen Manieren und Sozialverhalten zeigen und sich 126 Vgl. Klein: Liberty (wie Anm. 122), S. 598. 127 Klein: Liberty (wie Anm. 122), S. 598f. und Ders.: Shaftesbury and the Culture of Politeness. Moral Discourse and Cultural Politics in Early Eighteenth-Century England. Cambridge 1994, S. 201. 128 Vgl. Klein: Liberty (wie Anm. 122), S. 587. Vgl. auch Hampsher-Monk, Iain: From Virtue to Politeness. In: The Values of Republicanism in Early Modern Europe. Hrsg. von Martin van Gelderen u. Quentin Skinner. S. 85–105, hier S. 92ff. 129 Klein: Liberty (wie Anm. 122), S. 586f. 130 Klein: Liberty (wie Anm. 122), S. 588f. 131 Vgl. Klein, Lawrence, E.: Politeness and the Interpretation of the British Eighteenth Century. In: The Historical Journal. 45/4 (Dez. 2002). S. 869–898, S. 876.



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anhand der Auswahl seiner sozialen und kulturellen Aktivitäten präsentieren und beweisen musste.132 Wie der Franzose La Bruyère wandte sich Shaftesbury damit von einer rein höfisch definierten Höflichkeit ab, und verlagerte diese in die politische Öffentlichkeit außerhalb des Hofes. Diese zunehmende Distanz zum Königshof zeigte im Falle Frankreichs ein neues Selbstbild und ein neues Selbstverständnis des Adels, der sich mit der finanzstarken und aufstrebenden „noblesse de robe“ nicht mehr nur qua Geburt und Blut, sondern qua Amt definierte. Daraus entstand in Frankreich eine neue Leistungs- und Bildungsethik, die neuer Modelle bedurfte. Und auch der Engländer Shaftesbury versuchte nun, die Bühne der politeness vom königlichen Hof zu entfernen. Dies entsprach auch seinem eigenen politischen Handeln. Shaftesbury, der 1695–98 ins englische Unterhaus gewählt worden war, hatte sich zu Teilen mit den Country Whigs identifiziert, sich aber immer wieder als hofkritischer Independent Whig erklärt.133 Die Veränderung der politischen Sprache erforderte nun auch ein neues Referenzmodell, das durch deren Erweiterung um kulturelle Aspekte schwerlich im antiken ländlichen und kriegerischen Sparta gefunden werden konnte. Rom war zwar von Shaftesbury ebenfalls zu den „politer nations“ gezählt worden, dennoch war es, ähnlich wie Sparta, von den Diskussionen um politische Teilhabe, Mischverfassung und Souveränität aus dem vorangegangenen Jahrhunderten vorbelastet. Zudem war die römische politeness für Shaftesbruy nicht originell, sondern ohnehin nur von der griechischen kopiert.134 Griechenland war für den Philosophen deshalb der Ursprung und die Wiege der politeness sowie der Kunst und Zivilisation: The Greek nation, as it is original to us in respect to these polite arts and sciences, so it was in reality original in itself. For whether the Egyptians, Phoenicians, Thracians or barbarians of any kind may have hit fortunately on this or that particular invention, either in agriculture, building, navigation or letters, whichever may have introduced this rite of worship, this title of deity, this or that instrument of debates among the learned, it is evident, beyond a doubt, that the arts and sciences were formed in Greece itself. It was there that music, poetry and the rest came to receive some kind of shape and be distinguished into their several orders and degrees. Whatever flourished or was raised to any degree of correctness or real perfection in the kind was by means of Greece alone, and in the hands of that sole polite, most civilized and accomplished nation.135

132 Vgl. Klein: Liberty (wie Anm. 122), S. 588. 133 Vgl. Klein, Lawrence, E.: Cooper, Anthony Ashley, Third Earl of Shaftesbury (1671–1713). In: Oxford Dictionary of National Biography. Online Edition 2008. http://www.oxforddnb.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/view/article/6209?docPos=2 (04.05.2015). Vgl auch Ders.: Shaftesbury (wie Anm. 127), S. 14–20 und Hampsher-Monk: From Virtue (wie Anm. 128), S. 92. 134 Shaftesbury: Soliloquy (wie Anm. 124), S. 116. 135 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Third Earl of: Miscellany III. In: Ders.: Characterstics (wie Anm. 111). S. 395–418, hier S. 397.

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Dass die politeness ihren Ursprung im freien, diskussionsfreudigen und rhetorisch exzellenten Griechenland genommen haben musste, erschien Shaftesbury gänzlich folgerichtig: It was thus they brought their beautiful and comprehensive language to a just standard, leaving only such variety in the dialects as rendered their poetry, in particular, so much the more agreeable. The standard was in the same proportion carried into other arts. The secretion was made; the several species found and set apart; the performers and masters in every kind honoured and admired; and, last of all, even critics themselves acknowledged and received as masters over all the rest. From music, poetry, rhetoric, down to the simple prose of history, through all the plastic arts of sculpture, statuary, painting, architecture and the rest, everything muse-like, graceful and exquisite was rewarded with the highest honours and carried on with the utmost ardour and emulation. Thus Greece, though she exported arts to other nations, had properly for her own share no import of the kind.136

Trotz der geographischen Verschiedenheit und der politischen Uneinigkeit habe Griechenland durch die gemeinsame Sprache und durch den sozialen, öffentlichen und freien Geist seine politischen Institutionen geschaffen und große kulturelle Spiele eröffnet. So hätten sich die griechischen Länder auf natürliche Art gegenseitig „poliert“. Die griechische kulturelle Entwicklung sei also eine Folge der öffentlichen Versammlungen gewesen.137 Shaftesbury beließ es jedoch nicht bei einem vagen Hellenismus. Seine gesamten Ausführungen über Griechenland verwiesen auf einen einzigen zentralen Referenzpunkt: Athen. Seine Beobachten zeigten dabei folgende Argumentation: Die antiken Nationen und die antike Zeit waren geschliffener als die eigene Zeit, innerhalb der Antike war Griechenland an der Spitze der politeness und innerhalb Griechenlands, und damit aller antiken und moderner Gemeinwesen, war Athen Vorreiterin der Kultiviertheit und politeness: As the intelligence in life and manners grew greater in that experienced people, so the relish of wit and humour would naturally in proportion be more refined. Thus Greece in general grew more and more polite and, as it advanced in this respect, was more averse to the obscene buffooning manner. The Athenians still went before the rest and led the way in elegance of every kind.138

Von Griechenland und dessen Zentrum Athen leitete Shaftesbury schließlich seine gesamte Genealogie der Kultur ab. In seinen Miscellaneous Reflections machte der Engländer deutlich, dass die Griechen die ersten waren, die ihre 136 Shaftesbury: Miscellany III (wie Anm. 135), S. 397f. 137 Klein: Shaftesbury (wie Anm. 127), S. 202. 138 Shaftesbury: Soliloquy (wie Anm. 124), S. 112.



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Sprache auf ein gutes Niveau gebracht hatten. Und als die politeness schließlich in der Eloquenz der Sprache erreicht war, verbreitete sie sich über alle Aspekte der griechischen Kultur. Die Verfeinerung der Sprache wurde damit paradigmatisch für die expressiven Künste wie die Musik, die Dichtung, die Rhetorik, die Architektur, die Malerei sowie die plastischen Künste.139 Welche Rolle die freie Rede und Konversation, die Literatur, die Poesie, das Theater, kurz jegliche Art der sprachlichen Kommunikation für den polishing-Prozess gespielt hatte, verdeutlichte Shaftesbury in seinen fortführenden Beschreibungen: And thus the nation was evidently original in art and, with them, every noble study and science was … Now, according to this natural growth of arts peculiar to Greece, it would necessarily happen that the beginning, when the force of language came to be first proved, when the admiring world made their first judgment and essayed their taste in the elegancies of this sort, the lofty, the sublime, the astonishing and amazing would be the most in fashion and preferred. Metaphorical speech, multiplicity of figures and high-sounding words would naturally prevail.140

In Griechenland und vor allem in Athen hätten die Menschen aufgrund der gemeinsamen Regierungsaufgabe gelernt, öffentlich zu reden, zu überzeugen und ihre rhetorischen Fähigkeiten auszubilden. Damit habe sich der Geschmack der Griechen ausgebildet und verfeinert: Though in the commonwealth itself and in the affairs of government men were used originally to plain and direct speech, yet, when speaking became an art and was taught by sophists and other pretended masters, the high poetic and the figurative way began to prevail, even at the Bar and in the public assemblies, … the taste of Greece was now polishing.141

Die Griechen und allem voran Athen waren für den Engländer zentraler Referenzpunkt der politeness. Nur das antike Athen ermöglichte es Shaftesbury, die politische, die kulturelle und diskursive Komponente der politeness zusammenzubringen. Jedoch: Auch wenn Shaftesbury politische Elemente erwähnte, hatte sich die griechische politeness für ihn vor allem auf die Soziabilität gestützt. Diese zeigte sich für den Engländer vor allem in den öffentlichen Versammlungen, wo Kooperation und Kompetition ausgelebt werden konnten. Die griechische kulturelle Entwicklung war also von diesen öffentlichen (nicht zwingend auch politischen) Versammlungen abhängig. Zusammenkunft, Interaktion und „polishing“ 139 Shaftesbury: Soliloquy (wie Anm. 124), S. 112. 140 Shaftesbury: Miscellany III (wie Anm. 135), S. 398. 141 Shaftesbury: Miscellany III (wie Anm. 135), S. 398f.

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waren für Shaftesbury die Schlüsselelemente der Fortentwicklung der Kulturgeschichte.142 Aus der sozialen Interaktion entstand Harmonie, da die Gegensätze durch die diskursiven Elemente sowie durch die griechische Komödie, die mit den Mitteln der Satire und der Parodie, Ruhmsucht und egoistischen Größenwahn einzudämmen wusste, ausgeglichen wurden. Politeness war damit die Summe kultureller Artefakte, aber auch in Form der Manieren und Lebensgewohnheiten sichtbar, die die moralische Natur der Akteure spiegelte. Freiheit war für Shaftesbury in diesem Sinne weniger mit bestimmten politischen Forderungen verbunden, sondern war vor allem ein kultureller und sozialer Zustand.143 Athen war für Shaftesbury das historische Beispiel schlechthin, das Referenzmodell, das politische Freiheit, Öffentlichkeit, Soziabilität und die kulturellen Aspekte der politeness vereinigen konnte.144 Der Rekurs auf Athen erlaubte es, die republikanischen Tugenden eines Bürgers umzudeuten und sie nun nicht mehr als politische Partizipation und Freiheit von äußeren Mächten, sondern als politeness zu definieren. Athen ließ sich auch deshalb mit politeness und politischer Freiheit verbinden, weil es weniger mit den republikanischen Interpretationen des 17. Jahrhunderts konnotiert war als die Vorbilder Rom oder Sparta. In diesem Sinne löste Athen bei Shaftesbury diese politischen Modelle ab. Shaftesbury verdeutlichte anhand Athens also, wie das Leben in der Öffentlichkeit und die Freiheit der Konversation jeden Lebensbereich durchzogen und weshalb Athen schließlich die Führung in Sachen der politeness übernommen hatte. Er zeigte, wie viel Sorgfalt selbst einfache Menschen in Athen, geschult durch den genauen Umgang mit ihrer Sprache und in ihrem Geschmacksurteil durch öffentliche Diskussionen geschärft, in jegliche Arbeiten legten. Eine solche Sorgfalt sei im zeitgenössischen England gänzlich unbekannt: In the days of Attic elegance, as works were then truly of another form and turn, so workmen were of another humour and had their vanity of a quite contrary kind. They became rather affected in endeavouring to discover the pains they had taken to be corrected. They were glad to insinuate how laboriously and with what expense of time they had brought the

142 Klein: Liberty (wie Anm. 122), S. 599. 143 Klein: Liberty (wie Anm. 122), S. 600f. Lawrence Klein fasst dies trefflicherweise zusammen: „All politeness was owing to liberty because the interactions, the social and cultural dialectics, which comprised politeness, did themselves constitute a form of liberty.“ Siehe ebd., S. 602f. 144 „It is remarkable [sic.] that, in the politest of all nations, the writings looked upon as most sacred were those of their great poets, whose works indeed were truly divine in respect of art and the perfection of their frame and composition. But there was yet more divinity ascribed to them that what is comprehended in this latter sense.“ Siehe Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Third Earl of: Miscellany V. In: Ders.: Characteristics (wie Anm. 111). S. 434–483, hier S. 435.



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smallest work of theirs (as perhaps a single ode or satire, an oration or panegyric) to its perfection. When they had so polished their piece and rendered it so natural and easy that it seemed only a lucky flight, a hit of thought or flowing vein of humour, they were then chiefly concerned less it should in reality pass for such and their artifice remain undiscovered.145

Das Fehlen dieses öffentlichen Lebens sowie der Interaktion von Oratoren und Publikum erkläre, warum die Künste in Großbritannien viel weniger ausgeprägt seien als sie es einst vor allem in Athen und Griechenland waren. In England versuchten die Autoren dem Publikum zu gefallen, sie schulten es jedoch nicht und würden somit selbst auch nicht herausgefordert, ihr bestes zu geben: Had the early poets of Greece thus complimented their nation by complying with its first relish and appetite, they had not done their countrymen such service nor themselves such honour as we find they did by confronting to truth and nature. … They formed their audience, polished the age, refined the public ear and framed it right, that in return they might be rightly and lastingly applauded. … Our modern authors, on the contrary, are turned and modelled, as themselves confess, by the public relish and current humour of the times. They regulate themselves by the irregular fancy of the world and frankly own they are preposterous and absurd in order to accommodate themselves to the genius of the age. In our days the audience makes the poet, and the bookseller the author, with what profit to the public or what prospect of lasting fame and honour to the writer, let anyone who has judgement imagine.146

In Shaftesburys Beschreibungen des antiken Griechenlands und seines Zentrums Athen scheint La Bruyères Athenbild hindurch. Offensichtlich hatten die Ausführungen des Franzosen beim Engländer Eindruck hinterlassen, in seinen persönlichen Notizen finden sich außerdem handschriftliche Exzerpte von La Bruyères Discours sur Théophraste.147 Dabei ist auffällig, dass er ausschließlich die Athen betreffenden Passagen aus den Ausführungen des Franzosen in ihrem exakten Wortlaut exzerpiert hatte.148 Shaftesbury stellte in seinen Characteristics, 145 Shaftesbury: Soliloquy (wie Anm. 124), S. 105. 146 Shaftesbury: Soliloquy (wie Anm. 124), S. 118. 147 La Bruyère, Jean de: Discours sur Théophraste. In: Œuvres complètes. Hrsg. von Julien Benda. Paris 1978. S. 3–18. 148 PRO 30/24/27/13, S.  14–16. Hier finden sich bspw. folgende Exzerpte: „Athènes était libre, c’étoit le centre d’une Répulique. Les citoyens étoient egaux, ils ne rougissoient point l’un de l’autre. Ils marchoient presque seul et à pied dans une ville propre et paisible [et] spacieuse … L’émulation d’une Cour ne les faisoit point sortit d’une vie commune. … Il y avoit dans ces mœurs quelque chose de simple & de populaire & qui ressemble peu aux notres… mais cependant Quels Hommes en general, que les Atheniens? & Quelle Ville qu’Athenes? Quelle Loix? Quelle Police? Quelle Valeur? Quelle Discipline? Quelle Perfection dans toutes les Sciences & dans touts les Arts

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wie La Bruyère zuvor, die für den „polishing“-Prozess unentbehrliche Funktion der öffentlichen Diskussion heraus und machte dabei aber die Bedeutung der Freiheit für die Kunst der Konversation und für die Interdependenz von Oratoren und Publikum und damit für die Herausbildung der Eloquenz stärker als dies der Franzose getan hatte. Shaftesbury erweiterte das Öffentlichkeitskonzept der athenischen politesse von La Bruyère also um den Aspekt der politischen und kulturellen Freiheit. Im Gegensatz zum Franzosen, der die Position des Neuadels stärken wollte, akzentuierte der Whig dagegen weniger die Gleichheit der Athener. Mehr als beim Moralisten La Bruyère, der seine Zeitgenossen in der „comdédie humaine“ demaskieren wollte und somit eine soziale Studie betrieb, die dazu beitragen sollte, die politesse der Äußerlichkeiten in eine wahre und authentische politesse des Geistes zu verwandeln, ging es Shaftesbury vielmehr um die Herausbildung der Fähigkeit des Geschmackurteils und der Möglichkeit zur öffentlichen Rede. Shaftesbury ästhetisierte damit La Bruyères Konzept der politesse nach athenischem Vorbild. Weil aber Ästhetik bei ihm mit einem moralphilosophischen Anspruch verbunden war, gab Shaftesbury den soziologischen Beboachtungen des Franzosen gewissermaßen eine philosophische Untermauerung, die damit aber auch den protestantischen Anspruch, den die politeness im Umkreis der Athenian Society hatte, verlor. Andererseits politisierte er die politeness durch die Rückbindung an die Bürgertugend in einem free state. Die soziale Komponente der politeness wie sie in Athen gelebt worden sei, – und dies lernte Shaftesbury offensichtlich von der Lektüre La Bruyères – war auch für den Engländer eine urbane Form der Höflichkeit. Ihre politischen Bedingungen waren Freiheit, Rechtmäßigkeit, Gleichheit, ihr Schlüsselcharakteristikum war für den Whig jedoch das öffentliche Leben, das Raum für Versammlungen und Diskussionen geschaffen habe. Die antike, athenische Ausformung der politeness war für Shaftesbury also ein kultureller Zustand und zugleich ein politisches Erfordernis, denn die athenische politeness habe eine graduelle Reform der griechischen Gemeinwesen begünstigt. Diese Reform sei wiederum durch die Ausbildung des Geschmackes und die Harmonisierung der einander widerstreitenden Gemüter

…. Quelles Politesse dans le Commerce ordinaire & dans le Langage?“ Vgl. auch Klein, Lawrence E.: The Third Earl of Shaftesbury and the Progress of Politeness. In: Eighteenth Century Studies 18/2 (Winter 1984–85). S. 186–214, hier S. 211. Klein übersieht leider, dass Shaftesbury diese Beschreibung von Jean de la Bruyère übernommen hatte und kennzeichnet deshalb nicht, dass dieser Ausschnitt offensichtlich ein Exzerpt der La Bruyère-Lektüre ist. Auch auf den vorherigen Seiten sowie auf den Folgeseiten des Manuskripts finden sich Exzerpte von La Bruyères Discours sur Théophraste. Klein legt, da er von der Autorenschaft Shaftesburys ausgeht, dies als Kritik an London aus, das öffentliche Plätze vermissen lasse. Allerdings kann dies anhand der La BruyèreExzerpte nicht direkt nachgewiesen werden.



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möglich gewesen.149 Politeness war für Shaftesbury damit eng mit Zivilisation verbunden. Die athenische Höflichkeit war deshalb kein Stilmittel nostalgischer Verklärung der Antike, sondern ein moralphilosophischer Impetus und ein Modell, das für die eigene Zeit richtungsweisend sein konnte und sollte: Wie einst die Athener sollten nun die Briten nach dieser politeness jagen.150 John G. Pocock hatte in seinem Virtue, Commerce, and History: Essays on Political Thought and History, Chiefly in the Eighteenth Century herausgearbeitet, dass politeness vor allem nach 1688 das zentrale Element war, um Tugend und „commerce“ (im Sinne von Handel) miteinander zu versöhnen und auf diese Art „commerce“ in die republikanische Tradition einzubinden: Während die antiken Republiken (v.a. Rom und Sparta) im 17. Jahrhundert gerade aufgrund der eher schmucklosen, asketischen Tugenden ihrer Bürger rezipiert wurden, hatten diese Tugenden mit dem Aufkommen der „commcercial societies“ im 18. Jahrhundert ausgedient. Die Tugenden wurden mit der Hilfe von „manners“ neu definiert und der politenessDiskurs wurde zum modernen Äquivalent des alten Tugenddiskurses. Wenn also politeness die Tugend der modernen „commercial societies“ war, folgte für Pocock daraus, dass politeness die Folge von „commerce“ war.151 Bereits in seinem Machiavellian Moment hatte Pocock diesen Prozess folgendermaßen erklärt: „But the transition from unpolished virtue to politeness must be made, and made with the assistance of commerce;  …  Virtue and liberty protect commerce, and commerce ensures liberty and politeness.“152 Damit übersieht Pocock gerade bei Autoren wie Shaftesbury, dass politeness aber auch einen zutiefst kulturellen und moralischen Ursprung hatte und philosophisch hergeleitet war. „Commerce“ hatte bei Autoren wie Shaftesbury, die über politeness nachdachten, zudem zumeist nicht vornehmlich die Bedeutung von Handel, sondern vielmehr diejenige des menschlichen Umgangs und Miteinanders. Die kulturell-moralischen Aspekte des politeness149 Dies verdeutlichte der Engländer mit den Worten, mit denen er Griechenland sowie die Vorreiterrolle Athens beschrieben hatte: „Nothing therefore could have been the cause of these public decrees, and of this gradual reform in the commonwealth of wit, besides the real reform of taste and humour in the commonwealth or government itself. Instead of any abridgment, it was in reality an increase of liberty, an enlargement of the security of property, and an advancement of private ease and personal safety, to provide against what was injurious to the good name und reputation of every citizen.“ Shaftesbury: Soliloquy (wie Anm. 124), S. 112. Siehe auch Klein: The Third Earl (wie Anm. 148), S. 212. 150 Vgl. Klein: The Third Earl (wie Anm. 148), S. 213. 151 Siehe Pocock, John G.: Virtue, Commerce, and History: Essays on Political Thought and History, Chiefly in the Eighteenth Century. Cambridge 1985, S.  48f., 195f. und 236. Siehe auch die Darstellung der Forschungsdiskussion um politeness bei Peltonen, Markku: Politeness and Whiggism, 1688–1732. In: The Historical Journal 48/2 (Juni 2005). S.  391–414, insbesondere S. 391ff. 152 Pocock: The Machiavellian Moment (wie Anm. 43), S. 462.

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Begriffs kommen in Pococks Analyse zu kurz oder werden nur auf eine dem Handel dienliche und aus ihm entspringende Tugend reduziert. Dass politeness aber auch in der Tradition eines La Bruyère und anderer Moralisten als Echtheit interpretiert, dass „polite letters“, „polite learning“ und „polite arts“ diskutiert wurden, hat in seiner Analyse nicht ausreichend Platz.153 Pocock übersieht auch, dass nicht alle Tugenden der antiken Republiken und damit auch die antiken Gemeinwesen im 18. Jahrhundert als Vorbilder obsolet wurden, sondern dass gerade das athenische Modell aufgrund der Umdeutung des Tugendbegriffes und seiner Erweiterung um kulturelle Aspekte neue Bedeutung erlangen konnte. Trotz der starken Betonung der kulturellen Aspekte der politeness muss man Shaftesburys Theorie und das damit verknüpfte Vorbild Athen im Hintergrund der politischen und wirtschaftlichen Veränderungen des ausgehenden 17. Jahrhunderts sehen: Die Whigs nahmen ihren Ursprung in den 1670er Jahren als politische Strömung der Landbesitzenden,154 die ihrer Frontstellung gegenüber dem Hof mit ihrer Verteidigung der Freiheit gemeinsam Ausdruck verliehen. Seit den 1690ern hatte sich Shaftesbury zum Independent Whig erklärt. Diese Selbstcharakterisierung trug den politischen Veränderungen seit 1688 Rechnung. Indem die Whig erheblich an Macht gewonnen hatten und nun in engem Kontakt zum Hof Wilhelms III. standen, stellte das ihre Identität als politische Strömung, die sich gegen den Hof und für die Interessen der „country“ einsetzte, in Frage. Damit wurden die Whigs zu einer verstärkt höfischen „Partei“, die Tories übernahmen damit mehr und mehr die „country“-Tradition. Independent Whig zu sein hieß für Shaftesbury dementsprechend, sich gegen die Junto Whigs zu stellen und sich auf die älteren Whig-Prinzipien zu berufen.155 Die regierenden Whigs wurden sowohl von den Tories als auch von den Country Whigs als korrupt angesehen, beide Gruppierungen warfen ihnen vor, 153 Siehe dazu auch Klein: Liberty (wie Anm. 122), S. 200ff. 154 Dass man für die Zeit nicht von einer Partei nach modernem Maßstab reden kann, machen Heiner Haan und Goffried Niedhart in ihrer Geschichte Englands deutlich. Siehe Haan, Heiner u. Gottried Niedhart: Geschichte Englands vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. München 1993, S. 205. Vgl. auch Smith: A History (wie Anm. 110), S. 221–244, v.a. S. 225. 155 Klein: Shaftesbury (wie Anm. 127), S. 132. Einige der konservativen Whig versuchten dieses Spannungsfeld aufzulösen, indem sie sich auf die „ancient constitution“ beriefen, die die Kontinuität der Verfassung betonte und damit die Revolution legitimierte und in deren Lesart die politischen Geschehnisse nach kurzen Verirrungen durch Jakob II. wieder zur Normalität gelangt sei. Dagegen sprachen radikalere Whigs nach 1688/89 von Vertrag und Naturrecht und stellten die Revolution von 1688 als Möglichkeit zur konstitutionellen Revision dar. Siehe Klein: Shaftesbury (wie Anm. 127), S. 125f.; sowie Kenyon, John P.: Revolution and Principles: The Politics of Party, 1689–1720. Cambridge 1977, S. 35–38; Pocock, John G.: Burke and the Ancient Constitution: A Problem in the History of Ideas. In: Ders.: Politics, Language and Time. New York 1973, S. 202–232.



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die Werte der Landbesitzenden zu vergessen. Allerdings waren die politischen Verhältnisse in den Jahren nach 1688 derart, dass die Harrington’schen Ideen von Landbesitz und politischer Partizipation eine Ausweitung benötigten: Die financial revolution und die Gründung der Bank of England produzierten neue Formen von Eigentum, namentlich durch Geldanleihen und Aktien.156 Das Bekenntnis zu den Tugenden und Werten der Landbesitzenden beinhaltete demnach eine Kritik an den modernen sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen.157 Nach einer gesundheitlich bedingten Pause trat Shaftesbury 1701 wiederum auf die politische Bühne. Nun hatten sich die politischen Verhältnisse jedoch verändert: Shaftesbury übersah, dass die Position der Landbesitzenden während der Regierung der Junto Whigs mehr und mehr auch von den Tories übernommen worden war. Der Whig-Denker zeigte hier ein veraltetes politisches Urteil und ging offensichtlich noch immer davon aus, dass „country“ mit Whig gleichzusetzen sei. 1702 musste er jedoch einräumen, dass der „court“ notwendig und die Whigs die machtvollste „Partei“ dort seien. Königin Annes Thronbesteigung im selben Jahr, die zunächst wieder die Tories an die Macht brachte, veranlasste Shaftesbury schließlich dazu, England in Richtung Holland zu verlassen. Von der Reise erkrankt, entschied er 1705 heimgekehrt, niemals wieder auf die politische Bühne zurückzukehren. Während der Regierungszeit von Königin Anne blieb er jedoch durch seinen Freund Sir John Cropley (1663–1713) in ständigem Kontakt mit der Londoner Szene und sorgte sich darum, die Whig-Interessen in der „Westcountry“ zu kultivieren.158 Als er zwischen 1708 und 1711 seine Characteristics schrieb, hatte sich seine Position also verändert. Er beschäftigte sich zwar noch immer mit Themen wie Tugend und Unabhängigkeit, aber sein Projekt, das sich vor allem mit kulturellen Aspekten beschäftigte, unterschied sich nun erheblich von der Ideologie der Landbesitzenden.159 Shaftesburys Whiggism war jedoch weiterhin durch eine feindselige Haltung gegenüber der Stuart-Herrschaft, dem Katholizismus und gegenüber dem Rivalen Frankreich geprägt. Die Tories waren für ihn Feinde der Freiheit, die eine sklavische Zuneigung zur Monarchie, zur römischen Kirche und zu Frankreich hatten. Seine Haltung gegenüber den Whigs war jedoch ebenfalls zwiespältig. Zwar zeigte er in seinen Characteristics die Whig-Strategie der Verteidigung der Freiheit, jedoch forderte seine Annahme, dass die Freiheit in 156 Siehe zur financial revolution, der Geldwertdiskussion und der Rolle der Bank of England auch Wennerlind, Carl: Casualities of Credit. The English Financial Revolution 1620–1720. Cambridge/Mass. u. London 2011, v.a. S. 123–157. 157 Klein: Shaftesbury (wie Anm. 127), S. 127f. 158 Klein: Shaftesbury (wie Anm. 127), S. 138ff. 159 Klein: Shaftesbury (wie Anm. 127), S. 132.

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England zugenommen habe, die Theorie der „ancient consitution“ oder auch die naturrechtliche und kontraktualistische Legitimation der Revolution von 1688/89 heraus. Er sympathisierte dagegen mit denjenigen Whigs, denen die Revolution nicht weit genug ging und die die Ereignisse der Jahre nach 1688 kritisch betrachteten. Er sprach sich gegen die höfische Korruption aus und dieser Korruption zu fliehen bedeutete für ihn folglich, dem Hof zu fliehen.160 Die Ausführungen zeigen, dass Shaftesbury seine politische Karriere in politischer Nähe zu den Country Whigs begonnen hatte, er sich nun jedoch mehr und mehr von dieser Zuordnung löste. Er blieb zwar manchen Elementen der Landinteressen treu, namentlich denjenigen, die die Macht des Hofes und der Krone durch das Parlament einschränken wollten;161 da sich höfische und ländliche Interessen jedoch verstärkt überlappten, konnte die „country“ für Shaftesbury nicht mehr als Bollwerk gegen die höfische Macht fungieren. In seinen kulturphilosophischen Abhandlungen der Characteristics propagierte Shaftesbury deshalb einen neuen Ort der Opposition zum Hof – und dieser Ort konnte nur die Stadt London sein, die eine neue Öffentlichkeit in den Kaffeehäusern bereitstellte. Shaftesbury setzte sich für ein urbanes Leben ein, in dem die Bürger gleich waren, einander frei begegnen und gleichermaßen Herren ihres Gemeinwesens sein konnten. Um dieses Bild einer Stadt und eines städtischen Lebens darzustellen, benötigte Shaftesbury ein neues Vorbild, das er nur im antiken Athen fand. Die Rustikalität und Ländlichkeit, die der „country“ zuvor als Tugenden gegolten hatten und die durch Sparta verkörpert worden waren, hatten für ihn als Ideale ausgedient und entsprachen somit nicht mehr den politischen und sozio-demographischen Verhältnissen in England, wo es nun nach der financial revolution neue Formen des Besitzes als Landbesitz gab. Die „country“ war außerdem immer mehr zum aristokratischen Rückzugsort für Höflinge geworden. Das ländliche Leben und die ländliche Schlichtheit waren damit zu einem Topos der höfischen, royalistischen Dichtung avanciert.162 Shaftesbury propagierte deshalb nun eine Urbanität und ein urbanes Leben, das gegen die überbordende Macht des Hofes schützen sollte. Die Stadt löste für 160 Klein: Shaftesbury (wie Anm. 127), S. 134f. Es gab zwei Gruppen der parteieigenen Whig-Kritiker: die Calves-Head-Whigs, die radikaler und von einer niederen sozialen Herkunft waren und die Aristokratischen Whigs, die aus eine Gruppe von „gentlemen“ bestand. Letztere waren sehr gut gebildet und beschäftigten sich vor allem mit dem Thema der Korruption und setzten sich, von der Lektüre antiker und moderner Politiktheoretiker geprägt, für die moralisch-politische Bildung der englischen Elite und für die Stärkung der politischen Institutionen ein. Shaftesbury ließ sich eher zweiterer Gruppe zurechnen und sollte später mit radikaleren Kritikern wie Toland und Stephens brechen. Siehe Klein: Shaftesbury (wie Anm. 127), S. 137f. 161 Klein: Shaftesbury (wie Anm. 127), S. 142. 162 Klein: Shaftesbury (wie Anm. 127), S. 144.



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ihn damit die „country“ als Schutzschild gegen eine höfische Machteinflussnahme ab. Shaftesburys Insistieren auf politeness bedeutete, dass das ethische und politische Konzept der Reinheit, dem die „country“-Ideologen der NeoMachiavell’schen Tradition nachgeeifert waren, nun durch den kulturellen Wert der Schlichtheit, der„simplicity“, ersetzt werden sollte. Shaftesbury verfocht, wie La Bruyère zuvor, ein schlichtes, jedoch öffentliches, urbanes und höfliches („polite“) Leben und lehnte damit die ländliche Einfachheit („rusticity“) ab, die man an den Spartaner bewundert hatte. Die Schlichtheit verschob den kulturellen Akzent also von „rustic“ zu „polite“. Shaftesburys politeness deutete „commerce“ also unter kulturellen Aspekten und definierte politeness somit als kulturelle Tugend. Um diese Akzentverschiebung von „rustic“ zu „polite“ vorzunehmen, konnte kein Beispiel besser dienlich sein als das antike Athen. Athen löste Sparta damit auch als Vorbild der Tugendhaftigkeit ab.163 Indem Shaftesbury eine Urbanität verfocht, die er im antiken Athen eingelöst sah, gelang es ihm, seine politischen Gegner zu diskreditieren: Er traf damit den Hof, den er als korrumpiert darstellte, er griff damit die Tories an, die er nun dem Hof zurechnete, er diffamierte Frankreich, das für ihn das höfische Blendwerk schlechthin und die moderne Verkörperung Roms war. Dieses Blendwerk bestand für den Engländer in einer gekonnt dargestellten Pracht, die die Untertanen unkritisch mache. Der französische Hof transformiere seine Bewunderer in selbstgefällige und passive Nachahmer und schränke damit individuelle Freiheit ein. Nicht den Franzosen in ihrer Prunksucht solle England nacheifern, sondern, ganz im Sinne La Bruyères eine echte, aus Schlichtheit bestehende politeness nach athenischem Vorbild befördern.164 Dies sei deshalb umso lohnenswerter, da der englische „genius“, wenn auch noch schliffbedürftig, dem französischen ohnehin weit überlegen sei. Die Franzosen seien von einer höfischen Kultur, die sie völlig blind mache und den Wert ihrer Kunst vermindere, längst verdorben. Mit der politesse des Scheines werde in Frankreich nur die Tyrannei aufrechterhalten.165 163 Vgl. auch Klein: The Third Earl (wie Anm. 148), S. 213f. 164 Vgl. auch Klein: Shaftesbury (wie Anm. 127), S. 175. 165 In seiner Soliloquy führte Shaftesbury aus: „It is evident our natural genius shines above that airy neighbouring nation, of whom, however, it must be confessed that, with truer pains and industry, they have sought politeness and studied to give the Muses their due body and proportion as well as the natural ornaments of correctness, chastity and grace of style. … The genius of this poetry consist in the lively representation of the disorders and misery of the great, to the end that the people and those of a lower condition may be taught the better to content themselves with privacy, enjoy their safer state and prize the equality and justice of the ancients have delivered to us, it will easily be conceived how little such a model is proportioned to the capacity or taste of those who, in a long series of degrees from the lowest peasant to the high slave of royal

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Nicht nur Shaftesbury, sondern auch der Tatler und der Spectator waren von La Bruyères Caractères beeinflusst und übernahmen Teile von La Bruyères Charakterbeschreibungen. Steele legte unter dem Pseudonym Bickerstaff in Nr. 57 des Tatler dar, dass er Zuhause in seiner Wohnung sitze und La Bruyères satyrischen Ausführungen der Sitten und Gebräuche am französischen Hofe übersetze.166 Steele erkannte La Bruyère als einen Schriftsteller an, der das gleiche im Sinn habe wie er selbst auch: die Reform der Manieren. Der Franzose sei ein Meister in seiner Kunst und müsse deshalb imitiert und zitiert werden. Weitere Zeugnisse, La Bruyère und sein Anliegen zum Vorbild zu nehmen, finden sich in Tatler Nr. 9: At the same Time I shall take all the Privileges I may, as an Englishman, and will lay hold of the late Act of Naturalization to introduce what I shall think fit from France. Therefore an Author of that Nation, call’d La Bruyere, I shall make bold with on such Occasions. The Use of that Law may, I hope, be extended to People the polite World with new Characters, as well as the Kingdom it self with new Subjects.167

Wenn Shaftesbury sowie die Autoren des Tatler den Moralisten auch bewunderten, ließen sie an den Franzosen, vielleicht auch gerade aufgrund der La BruyèreLektüre, insgesamt nur wenig Gutes. Für Shaftesbury waren die französische Literatur und Theater Ausdruck einer höfisch-affektierten politesse. In ihren Werken imitierten ihre Nachbarn nur den in Versailles zu Schau getragenen höfischen Stil. Besondere Kritik fand auch die französische Malerei, die zu schwülstig sei, weil sie ebenfalls nur das theatralische Umfeld des französischen Hofes zeige. Die politesse sei in Frankreich aufgrund der höfischen Kultur, der strengen Hierarchie und des Fehlens der Freiheit in ihrer Fortentwicklung eingeschränkt. Damit widersprach Shaftesbury jeder Annahme, dass die französische politesse der englischen politeness von Natur aus überlegen sei.168 Doch wenn die Franzosen unter ihrer blood, are taught to idolize the next in power above them and think nothing so adorable as that unlimited greatness and tyrannic power, which is raised at their own expense and exercise over themselves.“ Shaftesbury: Soliloquy (wie Anm. 124), S. 98. 166 Steele schrieb über La Bruyère: „In Imitation of such Preachers at Second-hand, I shall transcribe from Bruyere one the most elegant Pieces of Raillery and Satyr Which I have ever read. He describes the French, as if speaking of a People not yet discover’d, in the Air and Stile of a Traveller.“ The Tatler: Nr. 57 (18.–20. August 1709). London 1709. Siehe auch Turner, Margaret: The Influence of La Bruyère on the “Tatler” and the “Spectator”. In: The Modern Language Review 48/1 (Januar 1953). S. 10–16, hier S. 10f. 167 The Tatler: Nr. 9 (28.–30. April). London 1709. Vgl. auch Turner: The Influence (wie Anm. 166), S. 11. 168 Siehe Klein: Shaftesbury (wie Anm. 127), S. 189ff. Ebenso die Zeitschrift The Censor, Nr. 28 (1715): „To make this Notion a little plainer to my Reader I shall chuse France for an Instance. This Country has the Advantage of a happy Situation, a fine temperate Air, and a noble Soil: so that the Inhabitants by the external Disposition of Things, and the kindness of Nature, seem designed



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Regierung niemals echte Höflichkeit erlangen konnten, so hatten sie dennoch jede Anstrengung unternommen, politesse zu erreichen und hatten dazu in der Kunst Stil und Proportionen sorgsam studiert. Shaftesbury forderte seine Landsleute nun dazu auf, zumindest diesem Fleiß nachzueifern. Wie Shaftesbury nutzen auch andere Whig-nahe Autoren, die sich mit dem Thema der politeness beschäftigten die Verbindung der politeness mit Athen dazu, sich gegen die Annahme zu wehren, dass Frankreich die höfliche Nation „par excellence“ sei, die ganz Europa in Lebensart, Kunst und Kultur bilde und erziehe. Denn so mancher Tory-Anhänger, wie etwa Daniel Defoe, vermittelten die Hoffnung, dass England durch die französischen Nachbarn gleichsam zivilisiert werde.169 Die Ansicht, dass die Franzosen in der Kunst der Konversation vorbildlicher seien, die sie noch dazu mit Leichtigkeit bestritten, verteidigte der Autor der The Whole Art of Converse bereits im Jahre 1683.170 Heute sei jedoch Großbritannien, wie einst Italien und Frankreich, auf der Höhe der Konversation angelangt: „as France and Italy ever were, and all Great Britain, England I mean, and Scotland, undoubtedly now are.“171 Wie Lawrence Klein herausarbeitete, erkannten Autoren, die sich mit der Kunst der Konversation beschäftigten, an, dass sich Mitte des 17. Jahrhunderts das soziale Leben in England durch den Einfluss Frankreichs verändert hatte. Dieser Wandel wurde vor allem dem Exil der königlichen Familie auf dem Kontinent zugeschrieben, die mit ihrer Rück-

to dignify the humane Species by some extraordinary Acts of Reason, being in Possession as it were of all the natural Causes that are appropriated to produce those glorious Effects. Thus we may say that Providence has calculated this Spot of the World for a superior Genius and Spirit to its Neighbours; and it is not to be denied that some Years ago it seemed to stand in that Reputation with the rest of Mankind, as Athens and Rome had before. Behold it at present languishing and decaying with a Sickness that cleaves to its Vitals; Letters and Art drooping under the hard Hand of Oppression; all their Wit and Learning degenerated into the mean Artifices of Cunning, or the low Servility of wretched Panegyric Their Climate is still the same, but their Government is not; the fineness of their Air, and the Spirit of their Fruits is still the same, but their Liberties are lost and extinguished, and nothing Great and Glorious can be effected without them. And who is it, that has thus altered the End of Second Causes, and acted in Opposition to the Wisdom of the Creator? Let them enjoy their Grand Monarch; If these are the Fruits of his Sway, we envy them not!“ Siehe The Censor, Bd. 1/28 (13. Juni 1715). 2. Aufl. London 1717, S. 196f. 169 The Review Bd. 23/1 (23. Mai 1704). London 1704. Siehe auch Klein Lawrence E.: The Figure of France: The Politics of Sociability in England, 1660–1715. In: Yale French Studies 92 (1997). S. 30–45, hier S. 37. 170 D. A.: The Whole Art of Converse Containing Necessary Instructions for all Persons, of what Quality and Condition Soever: With the Characters of the Four Humours of the English and French, as to Their Way of Conversing. Gent/London 1683. Vgl. auch Klein: The Figure (wie Anm. 169), S. 37f. 171 D. A.: The Whole Art (wie Anm. 170), S. 4.

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kehr einen „politer way of living“172 gebracht habe.173 Zwar wurde die Verbesserung des englischen Stils allgemein gelobt, jedoch löste der französische Einfluss auch Unbehagen aus. Gegner dieser Meinung insistierten, dass man das eigene, nationale Bewusstsein vernachlässige, weshalb Frankreich seine Macht und seine Tyrannei über Europa ausdehnen könne.174 Die Bedenken gegen die französischen Einflüsse hatten sich Mitte des 17. Jahrhunderts verstärkt, als sich die kulturelle Hegemonie Frankreichs durch die Politik Richelieus intensivierte und sich das eigene Land, durch die Bürgerkriege geschwächt, in desolatem Zustand befand. Seit den 1660er Jahren wurde Frankreich zunehmend als Bedrohung wahrgenommen, das seinen Einfluss auf der ganzen Welt geltend mache. Dieser Eindruck wurde freilich 1666 noch bestärkt, als London in Flammen stand und England im Krieg gegen eine französisch-niederländische Allianz kämpfte. Diese in der Wahrnehmung der Engländer existentielle Bedrohung durch die Franzosen führte zu einer Reihe von Pamphleten, die die französischen Nachbarn besprachen und zu diffamieren suchten.175 Nach dem Triumph 1688 gelang es den Whigs, das antifranzösische Sentiment für sich zu nutzen, indem sie die englische Freiheit der französischen Tyrannei gegenüberstellten. Sie proklamierten, dass es in England keine Monarchie nach französischem Vorbild geben dürfe und beschuldigten die katholischen Könige Karl II. sowie Jakob II., französische Surrogaten zu sein.176 Alles was sie getan hätten, sei der „popery“ zuzurechnen und stärke die französische Vormacht: „but by their Actions it seems to me, that they are a sort of English Frenchman, and Protestant 172 DeBeer, Esmond (Hrsg.): The Diary of John Evelyn. 6 Bde. Bd. 4: Oxford 1955, S. 409. 173 Vgl. Klein: The Figure (wie Anm. 169),, S. 38. 174 DeBeer, Esmond (Hrsg.): The Diary (wie Anm. 172). Bd.1, S. 88. Vgl. auch Klein: The Figure (wie Anm. 169), S. 38. 175 Klein: The Figure (wie Anm. 169), S.  39. Diese Pamphlete beschäftigten sich allem voran mit dem Benehmen der Franzosen. Einige stellten die Suprematie der französischen Manieren heraus und zeigten, dass diese die Quelle ihrer Stärke seien und gleichsam die Schwäche der Engländer. In einem Pamphlet überzeugte ein in London lebender, französischer Diener seinen Dienstherren, dass nur die Franzosen den kulturellen Standard setzen konnten, der des Lobes und der Anerkennung würdig sei. Auch die französische Kosmetik, die französische Kochkunst und die französische Mode seien den englischen Pendants überlegen. In anderen Pamphleten wurden die Franzosen nach der Analyse Kleins entweder als leichte Beute für die militärisch überlegenen Engländer dargestellt oder aber als schlaue Akteure, die ihre Gegner durch die versteckte Waffe der eleganten und überlegenen Manieren zu besiegen wussten. In den ersten beiden Dekaden nach der Restauration wurde die französische politesse zunehmend als oberflächliche, affige Eleganz dargestellt, die sich an Äußerlichkeiten ergötze, jedoch nichts mit der Kunst der „true Gallantry“ zu tun habe, die ohnehin nur im Herzen eines „Englishman“ schlage. Klein: The Figure (wie Anm. 169), S. 40. 176 Klein: The Figure (wie Anm. 169), S. 40.



2 Shaftesburys anti-höfisches, urbanes Athen 

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Papists, for all they Pretend is for the Protestant Religion, and the lessening of France, and all they Do is for the growth of Popery, and the French power.“177 Nach 1688 wurde die Annahme einer Unterwanderung und Zersetzung der Engländer durch Karl II. und Jakob II. mit Hilfe französischer Mittel zu einem Gemeinplatz der Whig-Ideologie, die damit eine katholische Allianz von Paris und Rom ausmachten. Schließlich war in den 1690er und 1700er Jahre die Kritik der französischen Soziabliltät zu einem wichtigen Thema der englischen Kriegsliteratur der Epoche geworden, wie das A Dialogue About the French Government Wars, Cruelties, Armies, Fleet, &c. Between Tom and Dick, Two Seamen178 aus dem Jahre 1690 ausgezeichnet zeigt.179 Die Opposition zu Frankreich passte zur Identität der Whigs, wie sie nach 1688 propagiert wurde. Sie waren „polite, sociable, and English“180. Die WhigMoral war somit eine Reaktion auf den von ihnen wahrgenommen moralischen Verfall unter den katholischen und franzosenfreundlichen Stuartkönigen.181 Wenn die Whigs also eine Allianz zwischen Paris und dem katholischen Rom ausmachten, jedoch gleichzeitig die Überlegenheit der französischen Manieren fürchteten, welches Modell konnte den Whigs besser dienen, um das englische Bewusstsein für die eigene, englische politeness zu stärken als das Beispiel Athens? Die antike Stadt sollte die Engländer dazu animieren, Paris und Frankreich zu übertrumpfen. Shaftesbury verband seine Ausführungen gegen Frankreich mit seiner Kritik am antik-imperialen sowie päpstlich-barocken Rom. Die höfische Degradierung der Kunst und Literatur zeige sich anhand der römischen Geschichte: It was the fate of Rome to have scarce an intermediate age or single period of time between the rise of arts and fall of liberty. No sooner had that nation begun to loose the roughness and barbarity of their manners and learn of Greece to form their heroes, their orators and poets on a right model than, by their unjust attempt upon the liberty of the world, they justly lost their won. With their liberty, they lost not only their force of eloquence but even their style and language itself.182

Mit ihrem Imperium hatten die Römer in Shaftesburys Lesart eine Tyrannei über die Welt gebracht, die Geist und Verstand unterdrückte.183 Frankreich, das aus177 Anonymus: Plain Dealing, or, a Dialogue Between Humphrey and Roger, About Chusing the Next Parliament. London 1681, S. 1. Vgl. auch Klein: The Figure (wie Anm. 169), S. 41. 178 Anonymus: A Dialogue About the French Government Wars, Cruelties, Armies, Fleet, &c. Between Tom and Dick, Two Seamen. London 1690. Siehe auch Klein: The Figure (wie Anm. 169), S. 40. 179 Klein: The Figure (wie Anm. 169), S. 41f. 180 Klein: The Figure (wie Anm. 169), S. 44. 181 Klein: The Figure (wie Anm. 169), S. 45. 182 Shaftesbury: Soliloquy (wie Anm. 124), S. 98f. 183 Vgl. Klein: Shaftesbury (wie Anm. 127), S. 185.

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gedehnte Machtansprüche für sich geltend machen wollte, war für Shaftesbury das moderne Analogon zum päpstlich-barocken, vor allem aber zum imperialen Rom. Shaftesburys Versuch, die politeness von der höfischen Kultur zu trennen, kann damit auch als diskursives Mittel gegen die kulturelle Hegemonie Frankreichs gewertet werden.184 Damit wehrte sich der Autor auch gegen eine Tory-Interpretation der Kulturgeschichte, nach der die Stuartkönige des 17. Jahrhunderts und deren Höfe eine wichtige Rolle in der Herausbildung englischer Kultur, Manieren, Kunst und Literatur gespielt hatten. Die Whigs wurden von ihnen als ungeschliffene, uninformierte, literarische Kenntnisse ermangelnde Männer ohne Manieren angesehen.185 Der Whig-Politiker Shaftesbury stellte sich mit seinen Ausführungen gegen diese Vorwürfe von Tory-Anhängern und diffamierte diese, indem er eine negative Achse zwischen Rom – Frankreich – Tories kenntlich machte. Dagegen entdeckte er eine modellhafte Parallele in Griechenland und Großbritannien sowie in Athen und London und den Whigs.186 Shaftesburys kulturhistorische Ausarbeitungen waren also gegen das imperiale Rom und dessen moderne Entsprechung Frankreich gerichtet. Sie stellten sich gegen die Herrschaft Ludwig XIV., der sich als Sonnenkönig stilisieren lies. Auch den spartanischen kriegerisch-ländlichen Tugenden stellte er eine schlichte, diskursive Urbanität entgegen. Seine politeness war explizit anti-höfisch und antiTory, die für ihn Verfechter Frankreichs, der Stuarts und eines abergläubischen Katholizismus waren. Nur ein einziges historisches Beispiel konnte hierzu als Modell für das moderne Großbritannien bzw. London nach der financial revolution dienen und all diese Implikationen und politisch-kulturellen Ansprüche in sich vereinigen: das antike Athen.

3 Athen in Zeitungen und Schulbüchern unter der Whig-Supremacy Wie prägend Shaftesburys Darstellungen eines „polite Athens“ waren, zeigt sich bereits in der seit dem 1. März 1711 täglich in London erscheinenden Zeitung, The Spectator, die von Richard Steele und Joseph Addison gegründet worden war. Mr. Spectator, der in der Zeitung als Autor erschien, wollte darin seine Zeitgenossen 184 Klein: Shaftesbury (wie Anm. 127), S. 188f. 185 Klein: Shaftesbury (wie Anm. 127), S. 177f. 186 Lawrence Klein kommt deshalb zum Ergebnis: „The cultural program Shaftesbury did endorse was a program for a post-courtly European culture. He depicted a culture in which a court was not the central agency of patronage.“ Siehe Klein: Shaftesbury (wie Anm. 127), S. 193.



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beobachten und „observe an exact Neutrality between the Whigs and Tories, unless I shall be forced to declare my self by the Hostilities of either Side.“187 Mr. Spectator wollte politische Neutralität wahren, stand dennoch aufgrund seiner beiden Hauptautoren vor allem den Whigs nahe. Der Spectator war sehr erfolgreich und wurde vom 1. März 1711 bis zum 6. Dezember 1712 sechs mal wöchentlich, von Montag bis Samstag herausgegeben, hatte insgesamt 555 Ausgaben mit einer Auflage von ca. 4.000 Exemplaren. Nach dem Einstellen der Zeitung wurde diese in mehren Auflagen, die Zeitung bündelnd, nachgedruckt.188 Bereits im März 1711 konnte man im Spectator ebenfalls von Athen als Beispiel einer „polite nation“ lesen.189 Auch die Annahme, dass die Römer von den Griechen gelernt hätten, wird am Beispiel Ciceros exemplifiziert, der seinen Sohn nach Athen geschickt habe, damit er dort die „Rules of eloquence“, die „Precepts of Philosophy, his own Endeavours, and the most refined Conversation“ beobachte und erlerne.190 Auch hier erschien Athen als Beispiel der politeness anhand dessen man sprachliche Eloquenz, Philosophie und eine verfeinerte Konversationskunst erlernen konnte. Dies entsprach auch dem Ziel des Spectator, der die Moral geist­reich erheben und die Philosophie von den Universitäten und Bücherstuben in die öffentliche Sphäre der Klubs, Kaffee- und Teehäuser holen wollte: „It was said of Socrates, that he brought Philosophy down from Heaven, to inhabit among Men; and I shall be ambitious to have it said of me, that I have brought Philosophy out of Closets and Libraries, Schools and Colleges, to dwell in Clubs and Assemblies, at Tea-Tables and in Coffeehouses.“191 Deshalb empfahl der Autor allen Familien, 187 The Spectator: Bd. 1/1 (1. März 1711). London 1712, S. 5. 188 Vgl. Rogers, Pat: Addison, Joseph (1672–1719). In: Oxford Dictionary of National Biography. Online Edition 2008. http://www.oxforddnb.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/ view/article/156?docPos=1 (04.05.2015). Sowie Harris, Bob: Print Culture. In: A Companion to Eighteenth-Century Britain. Hrsg. von Harry T. Dickinson. Online Edition, Kapitel 22. http://www.blackwellreference.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/subscriber/uid=803/tocnode?id=g9780631218371_chunk_g978063121837126 (04.05.2015). Zur Printkultur im englischen 18. Jahrhundert siehe außerdem Black, Jeremy: The English Press in the Eighteenth Century. Aldershot 1991; Brownlees, Nicholas: The Language of Periodical News in Seventeenth-Century England. Newcastle upon Tyme 2011; Boyce George u. James Curran u. Pauline Wingate (Hrsg.): Newspaper History. From Seventeenth Century to the Present Day. London 1978; Enkemann, Jürgen: Journalismus und Literatur. Zum Verhältnis von Zeitungswesen, Literatur und Entwicklung bürgerlicher Öffentlichkeit in England im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1983 (Medien in Forschung und Unterricht, Serie A, 11); Sutherland, James: The Restoration Newspaper. Cambridge [u.a.] 1986. 189 The Spectator: Bd. 1/6 (7. März 1711). London 1712, S. 37.  190 The Spectator: Bd. 4/307 (21. Februar 1712). London 1712, S. 329.  191 The Spectator: Bd. 1/10 (12. März 1711). London 1712, S. 54.

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am Morgen eine Stunde bereit zu halten, um den Spectator bei Tee, Brot und Butter zu genießen und die Zeitung täglich zur Teezeit zu lesen. Auf diese Art und Weise wollte der Spectator eine größere, gebildete Öffentlichkeit schaffen. Der Specator war aber auch für alle kontemplativen Handelsmänner, Ärzte sowie für die Mitglieder der Royal Society gedacht, „I mean the Fraternity of Spectators … in short, every one that considers the World as a Theatre, and desires to form a right Judgement of those who are the Actors on it.“192 Der Autor des Spectator machte jedoch auch klar, dass er sich nicht an diejenigen richtete, die für ihr Lebensunterhalt schwer arbeiten mussten, sondern an jene, die Zeit zur Hand hatten, „In the mean while I hope these my gentle Readers, who have so much Time on their Hands, will not grudge throwing away a Quarter of an Hour in a Day on this Paper, since they may do it without any Hindrance to Business.“193 Der Spectator wollte offensichtlich „gentlemen“ und „ladies“ informieren, und Gesprächsthemen für eine höfliche und geschliffene Konversation zur Verfügung stellen. Wie der Name des Spectator bereits anzeigt, wollte Mr. Spectator die Welt beobachteten und diese wie ein Theaterspiel betrachten, in der einstudierte Rollen gekonnt vorgetragen wurden. Damit rückte der Spectator, wie bereits auch der Tatler, in die Nähe der Tradition von Jean de la Bruyères Beobachtung der Zeitgenossen. Indem die Zeitung politeness lehren wollte, setzte sie damit aber auch Shaftesburys Konzept von Öffentlichkeit und diskursiver politeness um. Gleichzeitig verlor das Konzept der politeness durch seine praktische Komponente aber auch seine philosophische Herleitung. Während die Verbindung von politeness, Athen, Meinungsbildung, diskursiver Öffentlichkeit und Konversation in den Jahren um 1711 ein wichtiges Thema im Umkreis von Whig-nahen, jedoch auch Hof-kritischen politischen Denkern war, scheint dieses Thema seit 1714, mit dem Wahlsieg der Whigs also, bis in die 1730er in den Hintergrund zu treten. Erst ab den 1730er Jahren finden sich erneut Aussagen, die die Verbindung Athen – London – politeness thematisierten, so etwa in der Zeitschrift The Comedian, Or Philosophical Enquirer, die von April 1732 bis April 1733 von dem Übersetzer und Schriftsteller Thomas Cooke (1703–1756) herausgegeben wurde. Im Mai 1732 konnte der Leser darin die folgende Ode an London lesen: LET antient Greece, for Arts and Arms renown’d, 192 The Spectator: Bd. 1/10 (12. März 1711). London 1712, S.  55f. Mr. Spectator fügt noch eine weiter Gruppe an, nämlich die Frauen: „BUT there are none to whom this Paper will be more useful, than to the Female World, I have often thought there has not been sufficient Pains taken in finding our proper Employments and Diversions for the Fair Ones.“ Siehe ebd., S. 56f. 193 Siehe The Spectator: Bd. 1/10 (12. März 1711). London 1712, S. 58.



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Her Athens boast, whose Sons, preserv’d by Fame, Still triumph over Time with Glory crown’d; Proud City! once tremendous in her Name! While mighty Towns of former Days, Now levell’d with the Dust, remain Recorded for their letter’d Praise, Or for the Numbers of their slain, London, of the fairest Isle, The Ornament and Honour stands; Lo! Her Streets with Plenty smile, Diffusing Blessings thro her Lands!194

Athen solle, so kann von der Ode vernommen werden, in London wiederauferstehen und so über alle Zeiten hinweg triumphieren. Obwohl seine Mauern längst Staub und Asche seien, so erinnere man sich dank der literarischen Zeugnisse dennoch an die großartige Stadt, die nun in der englischen Hauptstadt weiterlebe und die nun wie Athen einst über Griechenland, Segen über Großbritannien bringe. Der Autor der Ode lobte hier weder König, Parlament oder die Regierung des Landes dafür, dass sie auf wunderbare Weise die Geschicke des Landes lenkten, sondern einzig die Stadt London. Im Gegensatz zu den in der History of the Athenian Society abegdruckten Gedichte, fehlte hier also jeglicher Verweis auf einen oder mehrere Helden, die das Licht Athens nach London brachten. Indem der Autor ausschließlich auf eine Verbindung zwischen London und Athen verwies, erinnern seine Ausführungen an Shaftesburys Konzeption der Urbanität, in der London als Schutz gegen die Macht des Hofes auftrat, ferner wurde London in der Ode anhand seiner gebildeten Bürger sowie seiner Handelskraft bemessen. London mache die Einwohner Großbritanniens damit in jeder Beziehung reich.195 Der Herausgeber des Comedian, Thomas Cooke, war ein ausgebildeter Klassizist, der sich bald den Whigs angeschlossen hatte. 1725 hatte er anonym ein Gedicht The Battle of the Poets196 veröffentlicht, in dem er die Tory-nahen Schriftsteller bzw. Dichter Alexander Pope und Jonathan Swift verbal attackiert hatte. Im Daily Journal hatte er Pope vorgeworfen, kein Griechischkenner zu sein. Cooke 194 The Comedian, Or Philosophical Enquirer: Nr. 2 (Mai 1732). London 1732, S. 26. 195 „Like to the Heart, the Reservoir/Of all our Blood, and Spring of Joy,/Is London to the British Plains;/That fills with Blood the craving Veins;/This pours her Wealth thro ev’ry Part,/Which runs again into the Heart./Distinguish’d may the City stand,/Example fair to ev’ry Land./Hail happyest City on the Ball! Enriching, and enrich’d by, all!” Siehe The Comedian: Nr. 2 (Mai 1732). London 1732, S. 28. 196 Cooke, Thomas: The Battle of the Poets. An Heroick Poem. In Two Canto’s. London 1725.

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übersetzte dagegen klassische Texte, darunter einige von Hesiod und Cicero. Dass er wie Shaftesbury zwar den Whig angehörte, ihre Führung jedoch kritisierte, wurde insbesondere 1741 deutlich, als er seine Opposition gegen Sir Robert Walpole, First Earl of Oxford offen zeigte, indem er Herausgeber und Autor des Walpole-kritischen Journals des The Craftsman: Being a Critique on the Times wurde, in dem auch der Tory-Anführer Henry St. John, First Viscount of Bolingbroke aktiv beteiligt war. Seine Nähe zu den Ausführungen und der Philosophie Shaftesburys, der ebenfalls die Whig-Führung kritisiert hatte, wurde nicht nur in seiner Argumentation offenbar, sondern verdeutlichte Cooke auch, indem er sein Werk A Demonstration of the Will of God by the Light of Nature197 dem Third Earl of Shaftesbury widmete. In seinem Vorwort schrieb er dessen Sohn:198 Your Father, my Lord, while living, was a Lustre to our Nobility: he was highly respected by all Men for his Virtues, and is now admired, beloved, and revered, by all who are born to taste, for the inestimable Legacy which he has bequeathed to Mankind: he has done more for the Advancement of Truth, and polite Literature, than any of the Moderns; and, as great a Veneration as I have for the Ancients, I know none preferable to the Earl of Shaftesbury as a fine and useful Writer: he pleases and cherishes like the Sun, and like the Sun is too dazzling for the Approach of weakly Eyes. Such a Lineage is greater than the proud unprofitable Descent of Kings. Kings may be so by Birth, and be no more than Kings; but Fortes creantur fortibus et bonis.199

Nach Thomas Cookes Ausführungen finden sich in den 1740er und 1750er Jahren wieder vermehrt Zeitschriftenartikel, die Athen in Beziehung zu politeness, rhetorischer und sprachlicher Eloquenz und philosophischen Fertigkeiten brachten, etwa in der Zeitschrift The Museum: Or, the Literary and Historical Register, die 1746/47 von Robert Dodsley (1704–1764), einem Buchhändler und Schriftsteller, initiiert wurde. Die Zeitschrift umfasste 40 Seiten und enthielt literarische Essays, Gedichte, Rezensionen und historische Abhandlungen, die von namhaften Dichtern und Intellektuellen geschrieben wurden. Darin wurde kritisiert, dass die vorherrschenden Manieren der gehobenen sozialen Ränge nicht der athenischen

197 Cooke, Thomas: A Demonstration of the Will of God by the Light of Nature, in Eight Discourses, With an Introduction, Shewing the Necessity of Enquiring after Truth, and an Examination into the Foundation of Error: to Which is Prefixed a Letter to the Archbishop of Canterbury Concerning Persecution for Religion and Freedom of Debate, Proving Liberty to be the Support of Truth, and the Natural Property of Mankind. London 1742. 198 Vgl. Lee, Sidney: Cooke, Thomas (1703–1756). Durchgesehen von Arthur Sherbo. In: Oxford Dictionary of National Biography. Online Edition 2008. http://www.oxforddnb.com.ubproxy. ub.uni-heidelberg.de/view/article/6180?docPos=4 (04.05.2015). 199 Cooke: A Demonstration (wie Anm. 197), S. ivf.



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politeness entsprachen. Dodsley, der Diener des Whig-Anhängers Charles Dartiquenave (1664[?] –1737) war, ließ am 19. Juli 1746 veröffentlichen: 200 NO T H I N G is a greater Indication of Luxury, the Forerunner of Poverty, than the Degeneracy of the Polite Arts into useless Ostentation. The Poets, Painters, and Sculptors have of late almost forgot what gave rise to, and ought to be the End of their Labours. Those noble Designs, in which Athens gloried more than in all her Military Exploits, are now no more regarded; and those noble Servants of Virtue, the ARTS, which formerly gave Instruction not only to the young and unexperienced, but to the old and learned, are mostly slighted and often prostituted to adorn Vice, and slatter human Vanity.201

In diesem Textabschnitt wird die adelige Aristokratie angegriffen, die nach Meinung des Autors die „polite arts“ nicht fördere, sondern diese nur als Luxusgüter ansehe. Die Vernachlässigung und Degradierung dieser „polite arts“ zu bloßem Pomp müsse zu kultureller Armut führen. Die Dichter, Maler und Bildhauer der Zeit vergäßen, zu welchem Ziel und Zweck sie ihre Kunst anfertigten. Sie vernachlässigten, die athenische Kunst zu studieren und von ihr zu lernen, denn die Kunst, die in Athen die Dienerin der Tugend gewesen sei, habe dort Jung und Alt instruiert und ausgebildet. In der Moderne unterrichte die Kunst dagegen nicht, sondern verkaufe sich an die Eitelkeit. Dodsley, der für seine Veröffentlichung von Paul Whiteheads Satiren in Haft genommen worden war, einer Geldstrafe belangt und auf Knien um Verzeihung hatte bitten müssen, hatte, wohl bedingt durch seine Jahrzehnte des Dienstes bei der englischen Aristokratie, eine scharfe Zunge gegen die privilegierten sozialen Ränge. Den von ihm wohl empfundenen Kampf, sein eigenes Talent und seine niedrige soziale Stellung und die mit ihr verbundenen Erniedrigungen auszutarieren, zeigte sich vor allem in seinen Miseries of Poverty202 aus dem Jahre 1731. Auch sein The Toy-Shop203 von 1735 richtete sich gegen die Eitelkeiten des Adels und der Kirchenmänner.204 Dementsprechend wurde auch in The Museum die Diskussion der 1710er Jahre wieder aufnehmend kritisiert, dass man in England die politeness zu wenig fördere und dem athenischen Beispiel, wo Gelehrtheit, politeness und ein freier Geist herrschte, nicht folge, „But it was otherwise at

200 Siehe Tierney, James E.: Dodsley, Robert (1704–1764). In: Oxford Dictionary of National Biography. Online Edition 2013. http://www.oxforddnb.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/view/ article/7755 (04.05.2015). 201 The Museum: Or, The Literary and Historical Register: Bd. 1/9 (19. Juli 1746). London 1746. 202 Dodsley, Robert: A Sketch of the Miseries of Poverty. London 1731.  203 Dodsley, Robert: The Toy-Shop. A Dramatick Satire, to Which Is Added, Beauty: or, the Art of Charming. A Poem. London 1735. 204 Tierney: Dodsley (wie Anm. 200).

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Athens, where Learning, Politeness, and a Spirit of free Enquiry reign’d.“205 In The Museum wurden schließlich auch die Berichte eines Franzosen wiedergegeben, der bestätigte, dass sich die Engländer fälschlich für die Athener und die Franzosen für die Perser ihrer Zeit hielten: The English seem to think the French are, with respet to them, what the ancient Persians were with respect to the Athenians: The King of France is in their Eyes the Great King. Hence arises that invincible Hatred for the People which obeys him, and which they suppose that they alone prevent from giving Laws to the rest of Europe.206

Ferner druckte die Zeitschrift auch den Bericht eines in Paris lebenden englischen „gentleman“, der ausführte, wie in Frankreich politesse gelebt würde; sie sei unehrlich, „a false Modesty, a disguis’d Pride; in a Word, a troublesome Mask, which is put on only with a Design to impose unto others“. Und weiter berichtete der „gentleman“ und fragte: „Is this polite and accomplish’d Nation which we must take for our Pattern? God preserve us, my Lord, from ever being like them.“207 Aus den Ausführungen wird deutlich, dass die Engländer sich in ihrer Kunstfertigkeit und Beherrschung der politeness mit ihren französischen Nachbarn, stärker noch als zuvor, maßen und sie ihre Konkurrenten dabei der Falschheit und Oberflächlichkeit bezichtigten, denn die englischen „gentlemen“ wollten nun für sich beanspruchen, das Athen der Moderne zu sein. Damit stimmte auch Dodsley in der Zeitschrift The World überein, die er von Januar 1753 bis Dezember 1756 wöchentlich herausgab und in der das zeitgenössische modische Leben in Großbritannien diskutiert wurde. Die Zeitschrift hatte rasch Erfolg und konnte bald mit einer Auflage von 2.500 Stück wöchentlich in Druck gehen.208 Darin konnten die Leser und Leserin 1753 vernehmen: „The Athenians therefore, who could relish so SIMPLE a plot, as that of the Philoctetes of Sophocles, had certainly either more patience, or more good sense, (I will not determine which) than my present countrymen.“209 Und 1755 konnte man in The World unter dem Eintrag von Adam Fitz-Adam lesen: THE Athenians, the most polished nation in all antiquity, and who enjoyed these advantages [the desire of novelty – Anm. der Verf.] in the highest degree, were, if we may trust their own writers, as passionately fond of the something new as my own countrymen can possibly be; nay, far exceeded them: for however great may be the expence to which we have pushed our invention of fresh objects for the public amusement, yet we must yield the 205 The Museum: Bd. 3/32 (6. Juni 1747). London 1747, S. 196, 206 The Museum: Bd. 2/18 (November 1746). London 1746/46, S. 150. 207 The Museum: Bd. 2/18 (wie Anm. 206), S. 151. 208 Tierney: Dodsley (wie Anm. 200). 209 The World: Bd. 1/26 (28. Juni 1753). London 1753, S. 158.



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superiority, no less in extravagance, than we do in taste, to a people, who expended the treasure which was destined to clothe and seed an army, or to man a fleet, on diversions and entertainments at home.210

Hier ging der Schriftsteller, Theaterautor und Mitherausgeber der World, Edward Moore (1712–1757),211 unter dem Pseudonym Adam Fitz-Adam noch einmal auf die Neugierde der Athener ein, die schon im Athenian Mercury prominent gewesen war. Jede Verfeinerung des Wissens und der Bildung sei eine Konsequenz der Neugierde, weshalb die Athener auch „the most polished nation in all antiquity“ gewesen seien. Die Engländer sollten sich nun mit den Athenern und nicht etwa mit den Franzosen vergleichen und sich also an ersteren orientieren, denn um ihre Überlegenheit über andere Nationen bewahren zu können, müsse man nicht nur Geld für die Armee und die Flotten ausgeben, sondern auch für eine angemessene Unterhaltung Zuhause sorgen, damit die innere Einheit gewahrt bleibe. Ein Leserbrief an Fitz-Adam, dem letzterer offen zustimmte, wurde am 23. Oktober 1755 in The World abgedruckt. Der Brief an den Herausgeber beinhaltete folgenden Denkanstoß: Now, Mr. Fitz-Adam, if these gentlemen [politicians who want to instruct the public opinion – Anm. der Verf.] would be but pleased to THINK, and keep their temper, how might the world be edified! One might acquire as much useful knowledge by travelling post through England, as ever the philosophers of Athens did by lounging in their porticos; and our great turnpike roads would afford as compleat a system of politics, as that which Plato picked up in his Egyptian rambles. In a word, the debates on the windows at the George or the Bell, might prove no less instructive, than the debates of the political club, or the society at the ROBIN HOOD.212

Hier findet sich eine harsche Kritik an Politikern und denjenigen, die die öffentliche Meinung beeinflussten. Der anonyme Autor forderte diese auf, sich nicht von Leidenschaften und Launen leiten zu lassen. Wie könnte die Welt nur sein, so erinnert der Eintrag seine Leser, wenn Politiker und öffentliche Personen nur begännen, nachzudenken! Folgten sie dem athenischen Beispiel, würden die Engländer sogar nützliches Wissen ansammeln, wenn sie durch England reisten. Dann könne man auch in den Straßen Englands eine politische Philosophie erlernen, wie man dies einst im platonischen Athen habe tun können.

210 The World: Bd. 3/117 (27. März 1755). London 1755, S. 701f. 211 Demers, Patricia: Moore, Edward (1712–1757). In: Oxford Dictionary of National Biography. Online Edition 2013. http://www.oxforddnb.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/view/article/19104?docPos=2 (04.05.2015). 212 The World: Bd. 3/147 (23. Oktober 1755). London 1755, S. 883.

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Sei dem Beginn der sogenannten Whig-Supremacy 1730 wurde der Rekurs auf Athen in den Londoner Zeitungen eines Whig-nahen Umfelds vor allem als Instrument der Kritik an der eigenen Regierung genutzt. Insbesondere aber unter dem ungeliebten Premierminister Thomas Pelham-Holles, dem Duke von Newcastle upon Tyne und erster Duke von Newcastle under Lyme (1693–1768), der nach seinem Regierungsantritt 1754 innerhalb kürzester Zeit schwerwiegende außen- und innenpolitische Fehler beging, – er unterstützte, von Eigeninteressen motiviert, seine eigene Regierung im House of Commons nicht, ferner verfolgte er eine Österreich-Politik der Schmeichelei, die für die englischen Beziehungen zum restlichen Europa desaströse Auswirkungen hatte213 – schien der Verweis auf die politeness der Athener und deren philosophische wie politische Bildung erneut ein wichtiges Vorbild für England. In Anbetracht des wahrgenommnen Scheiterns der englischen Führungspersönlichkeiten hielt der Rekurs auf Athen den Lesern und Leserinnen der Zeitungen vor Augen, wie es um England stehen könnte, wenn seine politischen Amtsträger in Philosophie, Politik und Rhetorik gebildet wären und sich in ihren politischen Entscheidungen von ihrem Verstand und nicht von ihren Leidenschaften leiten ließen; Der Verweis auf Athen barg damit auch eine Anforderung an das englische Volk, über seine Amtsträger zu wachen, indem sie selbst die notwendigen geistigen Fähigkeiten ausbildeten und der politeness der Ahener nachfolgten. Beim Hinweis auf Athen ging es nicht wie im 17. Jahrhundert um politisch-institutionelle Fragen und der Konstituierung eines free state, sondern um innenpolitische, bürgerliche Kontrolle durch Bildung. Auch wenn in der Forderung nach politeness nach athenischem Vorbild die Schlagworte Shaftesburys übernommen wurden, – vermutlich wurden damalige Leser und Leserinnen damit auch an bessere Zeiten der Whig-Führungselite erinnert – entbehrte sie jedoch ihrer moralphilosophischen Herleitung. Das Konzept der athenischen politeness wurde durch seine weitreichende Politisierung einerseits philosophisch verflacht, andererseits wurden ihm aber auch seine aristokratischen Elemente entzogen. Indem sich die Anforderung der politeness nach athenischem Vorbild nicht nur an die politisch aktiven Bürger der englischen Aristokratie richtete, sondern an alle Bürger, die lesen konnten, wurde die politeness damit gleichsam demokratisiert. Die Bildung der Engländer anhand des athenischen Beispiels voranzubringen, zeigte sich bereits in dem von dem Übersetzer John Lockman (1698–1771) veröffentlichten Schulbuch The History of Greece, By Way of Question and 213 Browning, Reed: ‘Holles, Thomas Pelham-, Duke of Newcastle upon Tyne and First Duke of Newcastle under Lyme (1693–1768)’. In: Oxford Dictionary of National Biography. Online Edition 2011. http://www.oxforddnb.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/view/article/21801?docPos=1 (04.05.2015).



3 Athen in Zeitungen und Schulbüchern unter der Whig-Supremacy 

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Answer214 von 1743. Darin übernahm Lockman die Methode des Athenian Mercury und wandte sie auf die Schulbuchform zum Unterrichten von Schuljungen an. Die Überschrift machte jedoch sogleich deutlich, dass die schwierigen, umstrittenen Episoden der athenischen „Civil History“ ausgelassen würden: „History of Greece, Intended Only for the Use of Boys at School, no Discussion of any Doubtful or Difficult Point in their Civil History, or any Puzzling Questions about Religion.“ In seinem Schulbuch beantwortete Lockman dabei folgende Fragen: „What are any of these Places remarkable for? A. [Answer – Anm. der Verf.] Athens was certainly one of the most learned and polite Cities in the World, every thing in it was magnificent, elegant, and worthy of its great Inhabitants. The Areopagus, the Lyceu, the Academy, the Temples, were all grand and sumptuous.“215 Danach führte Lockman aus, dass die Athener ein politisches System errichtet hatten, in dem der „supreme Magistrate“ vollständig vom Volk abhängig war. Unter der Herrschaft des Volkes wuchsen die Athener schließlich zum mächtigsten und „most polite People“ Griechenlands heran.216 Lockman erläuterte: „About this time [time of the Peleponnesian wars – Anm. d. Verf.] lived Sophocles and Euripedes the Tragic poets, and Aristophanes the Comic. Socrates, Plato, Aristotle, and Xenophon, were also about this time. In short, Learning, Taste, Eloquence, and Politeness shone, at this Period, in their meridian Lustre, illuminating all Greece.“217 Die Arbeit Lockmans deutet an, dass in den 1740er Jahren die Verbindung von Athen und politeness offensichtlich so weit akzeptiert war, dass sie in Schulbuchwissen transportiert wurde. Ferner legt dies nahe, dass die Modellfunktion, die Athen für die politeness eingenommen hatte, durch den Eintrag in ein Geschichtsbuch, das für den Gebrauch von Schuljungen bestimmt war, in der neuen Generation eingeschrieben und verankert werden sollte. Der Rekurs auf Athen forderte damit eine Erneuerung der Erziehung, deren Ziel es war, die englische Jugend in der Tugend der politeness auszubilden. In den Jungen sollte mit dem athenischen Bild das Verlangen nach Wissen geweckt werden, um sie anschließend in Rhetorik und Konversation auszubilden. Diese Förderung sollte schließlich ihre Geschmacksurteilsfähigkeit verfeinern.

214 Lockman, John: The History of Greece. By Way of Question and Answer. In Three Parts. For the Use of Schools. London 1743. 215 Lockman: The History (wie Anm. 214), S. 10f. 216 „Under this Form of Government the Athenians grew the most powerful and polite People in Greece, and continued it whilst they had any Remains of Liberty left, or were at all considerable as a Nation“. Lockman: The History (wie Anm. 214), S. 44. 217 Lockman: The History (wie Anm. 214), S. 55.

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 VII Athen im Denken der Whigs

Diese neuen Bildungsanforderungen zeigten sich auch bei Thomas Sheridan (1719[?]–1788) und seiner British Education: or, the Source of the Disorders of Great Britain. Being an Essay towards Proving, that the Immorality, and False Taste, Which so Generally Prevail, Are the Natural and Necessary Consequences of the Present Defective System of Education,218 die der Ire 1756 in Dublin veröffentlichte. Bereits in seinem Titel machte Sheridan deutlich, worum es ihm in seinen Ausführungen ging: die Unmoral und den falschen Geschmack der Briten zu kurieren, die doch der Grund für die Missstände in Großbritannien und für ein unzureichendes Bildungssystem seien. In seiner British Education fand Sheridan deutliche Worte: „Should the study of eloquence become as universal in this country, as it once was in Athens and Rome, there can be no doubt but that there will be found as many English names equally eminent in that art, as those revered ones of antiquity.“219 Wie Shaftesbury sprach Sheridan von einer notwendigen „Reformation of Manners: As the disease arises from an universal corruption of manners, it can be cured only by a general reformation.“220 Um die Verhaltensweisen und Umgangsformen zu reformieren, müsse man die Bildung entsprechend verändern und verbessern, denn die fehlerhafte und lückenhafte Bildung sei Grund für die Unordnungen Großbritanniens, „This, and this alone must necessarily bet he source of all our disorders; and here, and here only, must we therefore look for a cure.“221 Eine „reformation of manners“ könne also nur durch „wisdom“ and „knowledge“ erreicht werden und diese wiederum erhalte man nur durch eine gute Bildung. Der Beweis hierfür sei im antiken Athen zu finden: „If we look into the history of all nations, we shall find their flourishing state owing to the proper eductaion of their youth. What but that raised the petty state of Athens to its amazing pitch of glory and power?“222 Die schulische Ausbildung sollte die Jugendlichen zu guten Bürgern erziehen, die sich für die Gemeinschaft, in der sie lebten nützlich erweisen und ihre Regierung unterstützen sollten, die ihrerseits nicht allein für das Wohl des Gemeinwesens sorgen könne.223 218 Sheridan, Thomas: British Education: or, the Source of the Disorders of Great Britain. Being an Essay towards Proving, that the Immorality, and False Taste, Which so Generally Prevail, Are the Natural and Necessary Consequences of the Present Defective System of Education. Dublin 1756. 219 Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. iv. 220 Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 3. 221 Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 3. 222 Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 4. 223 „In all well-regulated states, the two principal points in view in the education of youth ought to be, first, to make them good men, good members of the universal society of mankind; and in the next place to frame their minds in such a manner, as to make them most useful to that society to which they more immediatly belong; and to shape their talents, in such a way, as will render



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Die Beispiele Athens und Roms zeigten für Sheridan, dass eine gute Bildung die Ziele des Gemeinwesens widerspiegeln müsse, damit die Prinzipien einer jeder Gemeinschaft in die Einzelnen eingeschrieben werden. Wer dies missachte, dessen Gemeinwesen könne nicht florieren oder auf Dauer bestehen.224 Ähnlich wie bei Shaftesbury zeigte sich auch bei Sheridan die Verbindung von politeness und der britischen civic tradition. Auch beim pro-englischen Iren Sheridan war politeness mit Freiheit („liberty“) verbunden und bestand deshalb ebenfalls in öffentlicher Diskussion und Meinungsbildung sowie in der Interdependenz von Rednern und hörendem Publikum: As their counsels [in Athens and Rome – Anm. der Verf.] were the result of public debates, wisdom and policy, to have their due effects, must be displayed and communicated to others; the wisest councellor in such a state, without a power and facility of delivering his sentiments, could be of little use to the public. Such communication could be made no other way of thinking, it was necessary that this communication should be made in a clear and forcible manner, so as to enlighten the understanding, and to make strong impressions on the hearts of the hearers. … Or, in other words, the art of oratory was essential to those who spoke in public. Hence we may trace the principles upon which their system of education was built. Their end was liberty; liberty could not subsist without virtue, nor be maintained without wisdom and knowledge; and wisdom and knowledge, unless communicated with force and perspicuity, were useless to the state.225

Sherdian schloss die Betrachtungen über die Verbindung von Freiheit, Erziehung und politeness mit den folgenden Worten: „Accordingly we find, that in the education of their youth, after having taken care to instill strongly the principle of virtue, their chief attention was to instruct them in the most accurate knowledge of their own language, and to train them from their childhood in the practice of oratory ….“226 Wie die Korruption durch Luxus die antiken Staaten bezwungen habe, so sei auch England dieser Gefahr ausgesetzt. Und hier wird nun die zentrale Bedeutung von politeness als Tugend für „commercial societies“ sichtbar:227 them most servicable to the support of that government, under which they were born, and on the strength and vigour of which the well-being of every individual, in some measure depends.“ Siehe Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 10. 224 Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 26. 225 Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 34f. 226 Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 35. 227 Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S.  46f. Sheridan erklärte weiter: „But when we take a view of the situation of our country, that it is an island, that it must of course owe it’s splendor and power entirely to commerce, not to conquest; that commerce produces wealth, and wealth of necessity introduces luxury; we see, that with the seeds of our constitution are shown the seeds of it’s corruption, that both must grow up together, and unless proper care be taken the weeds must choak the grain.“ Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 47.

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Um der Korruption durch Luxus zu entgehen, sah Sheridan nur zwei Möglichkeiten – entweder die Bildung zu reformieren und politeness voranzubringen oder aber eine religiöse Erneuerung. Da letztere jedoch einer Erscheinung und Offenbarung Gottes bedürfe, sei das Mittel der Wahl die Ausbildung der politeness. Zuerst müsste dazu die eigene Sprachfähigkeit verbessert werden: Denn auch das antike Griechenland verdankte seinen Ruhm dem präzisen und gekonnten Umgang mit der eigenen Sprache.228 Die Athener, die nach Sheridan das reinste und beste Griechisch sprachen, beherrschten ihre eigene Sprache in solcher Perfektion und Präzision, dass diese ihren Geschmack und ihre Urteilsfähigkeit schulte: „For the taste of the [Athenian – Anm. der Verf.] people being now much improved and refined, by constantly hearing such as spoke in the moste pure and perfect manner, would immediately be sensible of the last deviation from what was right, and be offendended at any improper tone, or use of words in their public speakers.“229 Ähnlich wie Richelieus Hegemonialpolitik, die die Verfeinerung und Systematisierung der französischen Sprache zum Ziel hatte und in der ebenfalls auf Griechenland bzw. Athen verwiesen wurde, vertrat Sheridan die Meinung, dass Athens sorgsame Pflege der eigenen Sprache sowie die Ausbildung seiner Bürger in Sprache und Konversation für die kulturelle Blüte eines Gemeinwesens zentral war. Warum, so fragte der Ire, bemühten sich die Briten, andere Sprachen zu erlernen (wie etwa Irisch oder Französisch), nicht aber, die eigene, englische Sprache des Empires zur Perfektion zu bringen?230 Könnte ein Athener Großbritannien sehen, so wäre dieser erstaunt, dass in einem Land, das ein so prächtiges und aufgeklärtes politisches Regime habe, kulturelle Barbarei um sich greife.231 Ein einfacher, illiterater Athener sei den zeitgenössischen britischen Kunstkennern in seinem Kunsturteil überlegen: On which accounts it is more than probable that a common illiterate Athenian might be a more competent judge of perfection in all the liberal arts, than the nicest and most paintaking of our connoisseurs. They had constant opportunities of comparing the copies with their true archetypes, with nature herself. They had daily before their eyes the great originals 228 „As therefore we must suppose that all men of the greatest genius and abilities which Greece produced were necessarily interested, and employed, in improving, refining, and establishing their language, we need not wonder that it was soon brought to perfection, and that it lasted with hardly any variation for more than a thousand years, from Homer to Plutarch, and how long before we know not. One argument to to [sic.] prove the point set forth in the head of this chapter ought not to be omitted, that in Athens, where eloquence and oratory were most studied, they were allowed also to speak the purest and correctest language of all Greece.“ Siehe Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 144. 229 Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 145 und 288. 230 Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 147. 231 Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 269.



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of grace and expression, in the looks, gesture, and tones of their orators;  and therefore could not fail of judging whether the copies were right ... He might pass judgment likewise with equal certainty in regard to tones, sounds, and cadences in musical or poetical expression. ... an unlettered Athenian had, without study or application, great advantages over him [a modern critic – Anm. der Verf.], by means of the constant opportunities which he had of seeing all the greatest works of the greatest masters publickly exposed to view: which must imperceptibly infuse into him a good comparative taste, tho’ he should be totally ignorant of all rules, and principles. Whereas a modern virtuoso must travel all over Europe, be at great pains and expence to get acces to the cabinet of the curious, and even then will hardly be allowed time enough to examine them sufficiently, so as to form an accurate judgement of the several works.232

Die sprachliche Präzision war für Sheridan der Ausgangspunkt für den Fortschritt in allen Künsten und somit auch für die kulturelle Überlegenheit der Athener. Mit Cicero sprach Sheridan: „The judgement of the Athenians was so true and just, that they could not listen to any thing but what was pure and elegant.“233 Diese Fähigkeit zum Geschmacksurteil sei auch in England dringed notwendig. An dieser Stelle sprach Sheridan ausdrücklich von England nicht von Großbritannien, das als Zentrum eines Reiches, das wie die antiken Republiken die Freiheit zum Ziel habe, zum Erhalt dieser Freiheit sowie zur Verfeinerung der Sitten die Urteilsfähigkeit seines Volkes schulen müsse. Verfüge ein Volk nicht über Geschmack, habe auch der begabteste Künstler keinerlei Motivation, sein Bestes zu geben, weil seine Arbeit ohnehin nicht erkannt oder gewürdigt würde. Nichts könne deshalb die Perfektion der Künste gleichermaßen voranbringen wie die Geschmacksausbildung einer gesamten Nation und nichts könne den Geschmack so verfeinern wie das Studium der Rhetorik und der Redekunst, kurz der politeness.234 Die Franzosen hätten die Alten in diesen Punkten sehr viel besser beobachtet, was sich vor allem in ihren Tragödien niederschlage, wo die griechischen und römischen Helden alle zu Franzosen und „Monsieurs of Paris“ verwandelt

232 Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 332ff. 233 Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 334. 234 Siehe S. 334f: „In the English constitution, which like the antient republics has liberty for it’s object, and wherein each claims a right of judging for himself in all matters whatever, it is extreamly necessary that the people should have proper opportunities of having their judgments rightly informed. For in proportion as a bad taste should prevail amongst them, in proportion will the works of such artists as flatter that vicious taste be encouraged; and every encouragement given to the false becomes a discouragement to the true genius. Nothing therefore can possibly raise the arts to any pitch of perfection amongst us, but a general good taste in the people; and nothing can possibly create and diffuse this general good taste, but the study and practice of oratory.“

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würden.235 Dies solle ein Anreiz für die Briten darstellen, denn sie seien schließlich die einzige Nation, die die oratorische Kunst tatsächlich zur Perfektion bringen könne wie einst die Griechen und Römer.236 Hätte England schließlich so viele exzellente Maler, Architekten und Bildhauer wie das antike Athen, würde dies nicht das Bild Englands und ganz Großbritanniens verändern? Würden nicht Parlamente, Gerichte und öffentliche Gebäude die Würde dieser großen Nation widerspiegeln? Had we amongst us such excellent painters and sculptors as those of old, their works would soon call upon the attention of the public to have suitable edifices raised to be the repositories of these treasures. Upon proper encouragement there would not be wanting men of true genius and capacity in architecture, who, applying themselves wholly to the study of that art, might rival those great antients, the ruins of whose works excite in us such admiration. A proposal for building a parliament house, courts of justice, royal palace, and other public edifices, suitable to the dignity of the nation, would not then be laughted at as a vain affair; but these would be considered as works of necessity, and of the utmost benefit to the country.237

Mit der sokratischen Methode des Fragens forderte Sheridan seine Leser erneut heraus: Würde man nicht auch den Konkurrenten Frankreich überbieten, wenn in England das gleiche künstlerische Feingefühl vorherrsche wie einst in Athen? Würde das nicht das Stadtbild Londons verändern? If all the public buildings as well as private palaces (for such may several houses of our nobility be termed) had been raised in the true style of architecture; and if these were every where adorned with pieces of painting and sculpture, exceeding those of all other countries, would not London be the grand emporium of arts, as she already is of commerce? Would not persons flock hither from all parts of the world to see and admire these works? Does not her very situation, and the ease with which her shores are accessible to the people from all corners of the earth, give England a natural right in this respect over all other countries in the world? And has not France ravished this from her merely by art and industry?238

Würden, wenn man dem athenischen Beispiel folge, nicht alle Menschen nach London und England – und nicht etwa nach Paris und Frankreich – reisen, um die Originale der besten Künstler der Welt zu sehen? Brächten die Reisenden nicht Kapital und Ansehen auf die britische Insel, anstatt zu den französischen Konkurrenten?

235 Siehe Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 341. 236 Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 53. 237 Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 355f. 238 Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 356f.



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Can it be doubted, considering our great advantages in point of natural beauties, if we excelled the French also in those of the artificial kind, but that London would be more resorted to by travellers from all parts of the earth than Paris? Nay, should we not draw over the French themselves in as great abundance as the English now travel into France? Would not this be the surest means of increasing the wealth and power of England? Her wealth, from the money brought in by such a concourse of foreigners, and from the disposal of the most valuable of her commodities, produced by the ingenuity of her artists (an inexhaustible fund) over the whole earth: her power, from the great figure she must make, and the high estimation in which she must be held by all other nations; a point of more real consequence than extent of territory or number of forces; which has been sufficiently exemplified in the little commonwealth of Athens.“239

Dem Iren lag offenbar daran, durch den Rekurs auf Athen die Einheit der Briten zu stärken. Dies tat er, indem er – wie Shaftesbury vor ihm – mit seinen Darlegungen den Konkurrenten und gemeinsamen Feind Frankreich diskreditiere. Die politeness der Briten auszubilden war für Sheridan damit wichtiger als kostenintensive Eroberungen. Auch der Handel, den Großbritannien bisher geführt habe, bringe dem Land keinen Vorteil ein, da er die Sitten durch Luxus korrumpiere. Nur ein Handel, der auf der Tugend der politeness gegründet sei, könne den Wohlstand, Ruhm und sogar die Sicherheit Großbritanniens gewährleisten, „so effectually promote her [Great Britain’s – Anm. der Verf.] wealth, her power, her glory, and let me add, her safety.“240 Um von seinem Argument überzeugt zu sein, müsse man nur nach Frankreich schauen, dessen gegenwärtige Blüte allein von der Bildung der Franzosen und der Aufmerksamkeit abhinge, die man den Künsten schenke. Durch deren Förderung seien dort neue Handels- und Industriezweige von Seidenspinnerei, Ziertellerherstellung, Spielzeugproduktion und Mode entstanden, die dem Land Wohlstand brachten. Da die englischen Künstler die französischen in „goodness of workmanship“ überträfen, sollten sie sich auch gegen deren Kunstfertigkeit durchsetzen. Noch einmal fragte Sheridan seine Leser mit rhetorischem Kniff: Würde das nicht England, und nicht wie bisher Frankreich, Reichtum und Wohlstand bringen? Würde man nicht die französische Macht in die Knie zwingen und die englische stärken, wenn man hierzulande Athen nacheifere?241 239 Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 356ff. 240 Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 357. 241 „[It – Ergänzung der Verf.] is evident from this circumstance, that the English artisans are universally allowed to exceed them in point of goodness of workmanship; and had they the advantage in other respects also, what infinite sums might be saved to this nation, that are now carried into France to enrich our enemies? and what large treasures might be brought into this island from the other countries of the world, and even from  France herself, to pruchase such commodities as should be confessedly superior to theirs? Would not this be the true way to bring

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Let us therefore suppose that architecture, sculpture, with the several arts dependent on it, painting, poetry, and music, were in as high a degree of perfection here as at Athens, and consequently so far superior with regard to their state in France that there could be no sort of competition; would not England in this case be the country resorted to by the travellers of the whole world? Would not our language be learned, and our noble authors studied by the people of all nations? Would not the perfect knowledge which must then be spread of our noble constitution, of our religion, of the glorious writings of our philosophers and divines, strike them with awe and veneration, and make them acknowledge an undoubted superiority in us over all other countries? Would not London in this case become the capital not of England, but of the world; and England be considered as a queen among the nations?242

Die Verarbeitung der politeness nach athenischen Modell als Bildungsideal zeigte eine gewisse Ambivalenz: Einerseits schien das Vorbild Athens so weit angenommen zu sein, dass es der schulischen Unterweisung diente, wie dies die Beispiele von Lockman und Sheridan zeigen; Politeness nach athenischem Vorbild sollte so das Gemeinwesen stärken, die Regierung unterstützen und den Geist des Gemeinwesens in die Köpfe und Herzen seiner Bürger einschreiben; andererseits wurde Athen und seine politeness aber auch gerade als Kritik an den Amtsträgern genutzt, die vom Volk kritisch kontrolliert werden sollten. Diese Ambivalenz wird auch anhand der sich nun wieder häufenden Griechlandfahrten deutlich, die einerseits von der Regierung gefördert wurden: Robert Wood (1717–1771) etwa, Autor des Essay on the Original Genius of Homer,243 begann seine Reise nach Griechenland im Jahre 1749 und erreichte Athen schließlich Mitte Mai 1751, wo er auf die Maler und systematischen Athen-Entdecker, James Stuart (1713–1788) und Nicholas Revett (1720–1804) traf.244 Zurück auf heimischen Boden wurde Wood William Pitts Undersecretary of State und tat in dieser Funktion viel für die klassischen Studien. Er wurde 1763 in die Society of Dilettani gewählt und wurde deren erster Direktor für archäologische Projekte: Er initiierte eine der bekanntesten Griechenlandreisen im 18. Jahrhundert, nämlich diejenige Richard Chandlers (1737–1810) 1764. Er war es, der Chandler in die Society einführte, seinen Reisebericht mit Kommentaren versah und der Society seine Briefe darreichte.245 down the power of France, by cutting off the sources of her wealth? Would not this be the means of lessening the admiration of her neighbours, and of raising the glory of Britain upon her ruins? And would not the weakness of France be the safety of England?“ Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 357f. 242 Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 357f. 243 Wood, Robert: An Essay on the Original Genius and Writings of Homer: with a Comparative View of the Ancient and Resent State of the Troade. Illustrated with a Map of Troy. By the Late Robert Wood, Esq. Author of the Descriptions of Palmyra and Balbec. Dublin 1776. 244 Constantine, David: Early Greek Travellers and the Hellenic Ideal. Cambridge [u.a. ] 1984, S. 66ff. 245 Constantine: Early Greek Travellers (wie Anm. 244), S. 66ff.



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Andererseits transportierten gerade die Reiseberichte der Griechenlandfahrer das Bild gebildeter und kritischer polis-Bürger, die (und nicht etwa die Amtsträger) für die kulturelle Blüte eines Gemeinwesens verantwortlich waren: James Stuart und Nicolas Revett, die 1762 in der Tradition der Antiquaren und Griechenlandreisenden The Antiquities of Athens246 herausbrachten und die im Vorwort betonten, dass Athen mehr als jede andere antike Stätte die Aufmerksamkeit der beiden Antikenforscher auf sich gezogen habe,247 argumentierten, indem sie die Erhabenheit Athens über alle anderen antiken Städte betonten, schließlich ähnlich wie die Bildungsrefomer Zuhause:248 Als Athen frei und damit öffentliche Diskussionen und öffentliches Philosophieren der Mittelpunkt des athenischen Lebens waren, habe Athen die größte Blütezeit erlebt und die besten Künstler hervorgebracht. During this happy period, their most renowned Artists were produced. Sculpture and Architecture attained their highest degree of excellence at Athens in the time of Pericles, when Phidias distinguished himself with such superior ability, that his works were considered as wonders by the Ancients, so long as any knowledge or taste remained among them. His Statue of Jupiter Olympius we are told was never equalled; and it was under his inspection that many of the most celebrated Buildings of Athens were erected. Several Artists of most distinguished talents were his contemporaries, among whom we may reckon Callimachus an Athenian, the inventor of the Corinthian Capital. After this, a succession of excellent Painters, Sculptors and Architects appeared, and these Arts continued in Greece, at their highest perfection, till after the death of Alexander the Great.249

In der Analyse der beiden Griechenlandfahrer war die Pracht Roms und damit ganz Italiens zur Zeit der Größe Athens und damit ganz Griechlands noch rudimentär und unvollständig. Erst durch den Einfluss und durch das Vorbild der Griechen hätten nun die Römer großartige Bauwerke hervorgebracht, weil sie 246 Stuart, James: The Antiquities of Athens Measured and Delineated by James Stuart F.R.S. and F.S.A. and Nicholas Revett Painters and Architects. 3 Bde. London 1762–1794. 247 Stuart: The Antiquities (wie Anm. 246), Bd. 1, Preface, S.  II: „The City of Greece most renowned for stately Edifices, for the Genius of Inhabitants, and for the culture of every Art, was Athens. We therefore resolved to examine that Spot rather than any other; flattering ourselves, that the remains we might find there, would excel in true Taste and Elegance every thing hitherto published. How far indeed these Expectations have been answered, must now be submitted to the opinion of the Public.“ 248 Stuart: The Antiquities (wie Anm. 246), Bd. 1, Preface, S. I. Auch Rom habe nur Schülerin Athens sein können:„And we were confirmed in our opinion by this consideration principally, that as Greece was the great Mistress of the Arts, and Rome, in this respect, no more than her disciple, it may be presumed, all the most admired Buildungs which adorned that imperial City, were but imitations of Grecian Originals.“ 249 Stuart: The Antiquities (wie Anm. 246), Bd. 1, Preface, S. III.

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ihren Geschmack anhand der griechischen Originale schulen konnten. Die besten Bauwerke der Römer wurden, so meinte Stuart zu wissen, gar von Griechen angefertigt, da Rom zu keiner Zeit so viele außerordentliche Künstler hervorgebracht habe wie Griechenland.250 Wenn also Athen Rom zu seiner Größe verholfen hatte, so lautete die impliziete Annahme, so konnte es auch Großbritannien neuen Ruhm bringen. Stuart und Revett waren die athenische Architektur und Kunst besonders vorbildlich, die auch die eigene, englische Kultur verfeinerten, wenn man sie nur sorgfältig studiere. Hence it seemed probable that if accurate Representations of these Originals were published, the World would be enabled to form, not only more extensive, but juster Ideas than have hitherto been obtained, concering Architecture, and the state in which it excisted during the best ages of antiquity. It even seemed that a performance of this kind might contribute to the improvement of the Art itself, which at present appears to be founded too partial and too scanty a system of ancient Examples.251

Nicht nur für die beiden Griechenlandfahrer, sondern auch für den Zuhause gebliebenen Sheridan war die Tugend der politeness, die Bildung in Kunst, Rhetorik, Geschmack und Diskussionsvermögen beinhaltete, ähnlich wie bei Shaftesbury direkt mit der Freiheit verbunden und außerdem auch das Mittel schlechthin im Kampf gegen die französische Konkurrenz. Nur wenn die Briten politeness nach athenischem Vorbild erlernten, konnten sie die französische Hegemonie beenden und somit den Briten politische Sicherheit bringen.252 250 Stuart: The Antiquities (wie Anm. 246), Bd. 1, Preface, S. IIIf. 251 Stuart: The Antiquities (wie Anm. 246), Bd. 1, Preface, S: III. Stuart führte aus: „But of all Countries, which were embellished by the Ancients with magnificent Buildungs, Greece appears principally to merit our Attention; since, if we believe the Ancients themselves, the most beautiful Orders and Dispositions of Columns were invented in that Country, and the most celebrated Works of Architecture were erected there: to which may be added that the most excellent Treatises on the Art appear to have been written by Grecian Architects.“ Stuart: The Antiquities (wie Anm. 246), Bd. 1, Preface, S. II. 252 „But should the spells and charms, by which she has falcinated all the nations round her, once be broke; should the superior genius of Britain prevail, and shine forth in it’s splendor; the boasted glory of France would vanish like a mist before the morning sun. When the eyes of Europe sould be opened, and the true light shine before them, they would wonder how they could have been so long imposed upon by false appearances, and tinsel glistening. Thus sunk in the estimation of their neighbours, the French would soon sink in their own; and in a short time, far from thinking of attacking others, they would scarce be able to defend themselves. If the perfection of the liberal arts would be the means of raising Great Britain, in point of glory and power, above all her neighbours; neither would it contribute less to her domestic order, health and happiness. These depend upon the morality of a nation; and it can be demonstrated, that the morality of a people so circumstanced as we are, and under such a constitution, must in a



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Obwohl Sheridan auch den Schattenseiten Athens Beachtung schenkte – wie Jonathan Swift, der diese in seinem A Discours of the Contest Between the Nobles and the Commons in Athens and Rome253 beschrieben hatte, entdeckte Sheridan die schlechten Seiten der Athener in deren „jealousy of their liberty“ sowie in deren Praxis des Ostrazismus254 – überwogen für Sheridan die Vorteile, die Athens Bildungsideale boten und so war Athen für ihn das geeignetste kulturelle Vorbild für Großbritannien. Sheridan schien sein Anliegen dabei so wichtig zu sein, dass er zwischen 1759 und 1763 sowohl Abhandlungen über das Theater, die Erziehung und die englische Sprache veröffentlichte und begann, ganz nach dem Vorbild der Académie française, an einem Wörterbuch zu arbeiten, das schließlich 1780 veröffentlicht wurde.255 Außerdem hielt er 1770–71 eine Serie von athenischen Abenden ab, die Attic Evening’s Entertainments, bei welchen die Lieder Thomas Lineys von seiner Tochter Elizabeth vorgetragen wurden und Sheridan eigene Gedichte zum Besten gab. So setzte der Ire seine Kritik an der englischen politeness und seine geforderten Bildungsziele nach athenischem Ideal schließlich auch praktisch um.256 Es ließ sich beobachten, dass diejenigen, die über Athen als Vorbild der politeness schrieben, wie Shaftesbury einen Whig-Kontext hatten oder den Whigs gar angehörten, ihnen jedoch kritisch gegenüberstanden. Zuerst wurde das Vorbild des antiken, wie die Warnung des modernen Griechenlands vor allem im Grecian Coffeehaus diskutiert, das von einem Griechen Namens Constantine geführt wurde. Dort versammelten sich ab den 1690ern sogenannte Old Whigs, die der aktuellen Whig-Junta unter Wilhelm III. kritisch gegenüber standen. Athen wurde dann vor allem durch den Whig-nahen Buchhändler John Dunton und dessen Projekt des Athenianism in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Er verstand Athen als Vorbild für eine gemeinschaftliche Bildung, die nicht nur auf eine kleine Elite beschränkt sein sollte. Da es in England keinen Richelieu gebe, der great measure depent upon a proper cultivation of the arts.“ Siehe Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 359f. 253 Swift, Jonathan: A Discourse of the Contests and Dissensions Between the Nobles and the Commons in Athens and Rome with the Consequences They Had upon Both those States. London 1701. 254 Siehe dazu Sheridan: British Education (wie Anm. 218), S. 366ff. Sheridan nahm hier Swifts Argumentation auf, auch wenn er an dieser Stelle nur die Ausführungen Montesquieus erwähnte. 255 Sheridan, Thomas: A General Dictionary of the English Language. One Main Object of Which, Is, to Establish a Plain and Permanent Standard of Pronunciation. To Which Is Prefixed a Rhetorical Grammar. London 1780. 256 Siehe Thomason, Peter: Sheridan, Thomas (1719–1788). In: Oxford Dictionary of National Biography. Online Edition 2008. http://www.oxforddnb.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/view/ article/25371/?back=,25369 (04.05.2015).

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Übersetzungsleistungen und Bildung fördere, musste nach Meinung des Buchhändlers und des engagierten Historiographen Charles Gildon, nun die Athenian Society diese Aufgabe übernehmen: In diesem Kontext erschien die Stadt London als neues Athen, das durch das Wirken Apolls Aufklärung und Bildung und somit Licht nach England und ganz Europa brachte. Anschließend war es vor allem Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury, der als selbst ernannter Independent Whig versuchte, die politischen Werte der Whigs zu wahren und die Revolution von 1688 zu legitimieren, jedoch auch die Tugend unter den eigenen Reihen zu stärken. Dazu erweiterte er die englische civic tradition um das Konzept der politeness, die er moralphilosophisch herleitete. Durch ihren moralphilosophischen Gehalt war die politeness für ihn das geeignete Mittel, das gegen den als korrumpiert wahrgenommenen Hof Abhilfe schaffen konnte. Dies konnte jedoch nur in Zusammenspiel mit einer größeren, höflichen Öffentlichkeit und einer Diskussionen und Debatten fördernden Stadt verwirklich werden. Um dieses Programm zu stützen, nutzte er Athen als Vorbild dieser neuen Tugend und propagierte eine Urbanität nach athenischem Ideal. Weder die Ländlichkeit der Spartaner noch Rom, das für Shaftesbury vor allem mit barockem Katholizismus und antiken Imperialismus assoziiert war, waren hierfür denkbare Vorbilder. In der Rezeption des „polite Athens“ spiegelte sich auch in den Whig-nahen Zeitungen unter der Whig Supremacy eine Opposition gegen die Regierung. Wie bei Shaftesbury war die urbane Tugend der politeness, die vor allem die Stadt London stärken sollte, das Mittel gegen den zu großen Machteinfluss des korrumpierten und Whig-dominierten Hofes sowie gegen die Hegemonie Frankreichs. Die politische Öffentlichkeit sollte demnach ausgeweitet, die politische Gemeinschaft von der individuellen Tugend der politeness getragen werden. Vor allem die Kaffeehäuser der Stadt sollten die Schulen der rhetorischen Fähigkeiten und des Meinungs- und Geschmacksurteils nach athenischem Vorbild sein. Mit der Rezeption Athens in Verbindung mit der Tugend der politeness spiegelte sich auch eine Sozialkritik gegen eine korrumpierte Aristokratie, deren zu große Macht von dem städtischen (nicht notwendigerweise adeligen) „polite gentleman“ abgelöst werden sollte. Weil vor allem oppositionelle Whigs über Athen und politeness schrieben, wurde dieses Thema ab den 1730ern wieder aufgenommen als die Regierung Walpoles besonders unter Druck geriet und die politische Öffentlichkeit und ihre Meinung umkämpft waren. Nachdem die Whigs 1714 die Unterhauswahlen für sich bestimmen konnten, war ihre Regierung zunächst stabil – auch Athen und seine politeness rückten in den Hintergrund. Als es aber 1734 aufgrund außenpolitischer Unstimmigkeiten zum Stimmverlust in den Unterhauswahlen kam und damit die Erosion der Machtstellung der Whigs einläutete, wurde auch das „polite Athens“ wieder verstärkt diskutiert. Als sich 1738 die Krise Walpo-



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les noch verschlimmerte, weil seit Anfang des Jahres dessen friedenswahrende Politik gegenüber Spanien kritisiert wurde, wurde gerade durch William Pitt, einem Whig, die „Stimme Englands“ betont und die öffentliche Meinung beworben, bis es 1742 schließlich zum Sturz Walpoles kam.257 Es scheint, dass seit Mitte der 1730er und insbesondere Mitte der 1750er als der ungeliebte Duke von Newcastle Premier wurde, das „polite Athens“ von oppositionellen Whigs wieder verstärkt als Vorbild für England und insbesondere für London gewählt wurde. Dies zeigt, dass für diese Gruppierung Athen in den Jahren um Shaftesburys Characteristics bis zu den aus Whig-Sicht erfolgreichen Parlamentswahlen 1714 sowie ab Mitte der 1730er bis in die 1760er Jahre ein anerkanntes Ideal der politeness war. Es wurde auch deutlich, dass Athen gerade dann diskutiert wurde, wenn die eigene Whig-Regierung kritisiert wurde. Das ländliche, rustikale und kriegerische Sparta konnte kein geeignetes Vorbild für eine gebildete und urbane Öffentlichkeit sein. Das antike Rom wurde einerseits zwar als polite republic erwähnt, wurde jedoch als Kopie Griechenlands, bzw. Athens angesehen. Auch in diesem Sinne konnte Rom zur Allegorie des katholischen Frankreichs werden, das man schließlich als unoriginell zu entlarven und zu übertrumpfen suchte. Dass sich dieses Bild Athens etabliert hatte, zeigt sich auch in Edward Wortley Montagus (1713–1776) Reflections on the Rise and Fall of the Antient Republicks. Adapted to the Present State of Great Britain258 aus dem Jahre 1759. Darin schrieb er: „The Republick of Athens, once the seat of learning and eloquence, the school of arts and sciences, and the center of wit, gaiety and politeness, exhibits a strong contrast to that of Sparta, as well in her form of government as in the genius and manners of her inhabitants.“259 Athen war als Vorbild der politeness anerkannt. Die englische Diskussion um die politeness war stark von der französischen politesse-Diskussion geprägt. Einerseits übten La Bruyères Ausführungen einen großen Einfluss auf Shaftesburys politeness-Konzept aus, der die politesse des Franzosen erweiterte und in die englische civic tradition einpasste. Shaftesbury machte vor allem die Verbindung der politeness zur Freiheit und zur Öffentlichkeit stärker als dies La Bruyère getan hatte. Die französische politesse-Diskussion wirkte aber auch noch auf eine andere Art und Weise in England nach: Immer wieder verglichen Autoren, die über die englische politeness nachdachten, den Zustand ihres Heimatlandes mit der Nachbarmonarchie. Besonders deutlich wurde dies bei Thomas Sheridan, der das Vorbild Athens dazu nutzen wollte, die französische politesse zu überbieten und so der Kulturhegemonie der Franzo257 Siehe Haan: Geschichte (wie Anm. 154), S. 212f. 258 Montagu Edward Wortley: Reflections on the Rise and Fall of the Antient Republicks. Adapted to the Present State of Great Britain. London 1759. 259 Wortley: Reflections (wie Anm. 258), S. 74.

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sen ein Ende zu setzen. Die englische politeness-Athen-Diskussion wurde dabei jedoch nicht wie in Frankreich von einer sozialen Gruppierung, nämlich dem Amts- oder Provinzadel getragen, sondern sie wurde vielmehr von einer politischen Gruppierung, den Whigs sowie ihren Anhängern unterstützt und vorangebracht. Durch den Verweis auf Athen sollte eine neue politische Tugend, zumeist gegen die eigene, als korrupt wahrgenommene Whig-Führung etabliert werden. Damit stand die Athen-politeness-Diskussion, im Gegensatz zur französischen politesse-Debatte auch in der Nähe einer protestantischen Moral, die eine Reformation of Manners forderte. Vergleicht man die Athen-Rezeption des ausgehenden 17. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit derjenigen der Bürgerkriegszeit und der englischen Republik, so zeigt sich eine deutliche Veränderung der Athen-Wahrnehmung: Während Athen zuerst vor allem im Zuge eines classical republicanism mitdiskutiert wurde und als gescheiterte Republik sowie Warnung für England und gegen die Machtanhäufung Cromwells gesehen wurde, verdeutlichte Athen, was mit einem Gemeinwesen passiere, wenn es von den Prinzipien eines free state abrücke. Nach dem revolution settlement zeigte sich eine deutliche Akzentverschiebung der Athenrezeption hin zu kulturellen Aspekten, die bei Francis Rous, geprägt durch die Lektüre der niederländischen Athenrezeption, zum ersten Mal prominent waren. Athen und die Athener waren nun Beispiele einer geschliffenen, in Konversation und Geschmacksurteil geübten Gemeinschaft. Athen war nicht mehr warnendes Beispiel, sondern Reformvorbild gegen eine als korrupt wahrgenommene Regierung. Athen bot das Bild einer starken Stadt gebildeter Bürger und bot damit eine Urbanität an, die dem Hof entgegengestellt werden konnte. Durch diese Verschiebung innerhalb der Athenrezeption konnte Athen schließlich die älteren, republikansichen Vorbilder Sparta und Rom ablösen.

VIII Résumé Polis und Politesse. Athen in England und Frankreich, 1630–1760 Die vorliegende Arbeit untersuchte die Frage, wie und in welchem Zusammenhang englische und französische Zeitgenossen zwischen ca. 1630 und 1760 über das antike Athen nachdachten und welche Funktion Athen in verschiedenen (politischen) Diskursen in England und Frankreich einnahm. Das Nachdenken über Athen wurde dabei bereits in der Einleitung in den Kontext einer weiter gefassten Querelle des Anciens et des Modernes gestellt. Dabei wurde offensichtlich, dass Benjamin Constant diese im Jahre 1819 als beendet betrachtete. Er verdeutlichte jedoch auch, wie sehr die Frage nach dem Vergleich der antiken und modernen Zeit politische Denker und Philosophen in den vorherigen Jahrhunderten umgetrieben hatte. Diese Gegenüberstellung wurde schon seit der italienischen Renaissance, vor allem prominent von Niccolò Machiavelli diskutiert, Machiavelli und Constant können somit gleichsam als Anfangs- und Endpunkte der hier dargestellten Querelle angesehen werden. Zwischen ihnen lag eine Reihe von Denkern, Philosophen, Journalisten, Lehrern, die sich ebenfalls mit der Frage nach der Rolle der Antike beschäftigten und sich im Zuge dieses Fragens explizit mit dem antiken Gemeinwesen Athens auseinandersetzten. Constant betonte die gesonderte Stellung Athens innerhalb der antiken Gemeinwesen und zeigte auf, dass es am besten mit modernen Staaten vergleichbar war. Inwiefern unterschied sich die antike polis Athen für ihn von den Gemeinwesen Roms oder Spartas? Bezüglich der Besonderheit Athens bemerkte Constant folgendes: Athènes, comme, je l’ai déjà reconnu, était, de toutes les républiques grecques, la plus commerçante: aussi accordait-elle à ses citoyens infiniment plus de liberté individuelle que Rome ou Sparte. Si je pouvais entrer dans les détails historiques, je vous ferais voir que le commerce avait fait disparaître de chez les Athéniens plusieurs des différences qui distinguent les peuples anciens des peuples modernes. L’esprit des commerçants d’Athènes était pareil à celui des commerçants des nos jours. … Aussi, observez, combien leurs mœurs ressemblent aux nôtres. … Dans leurs rapports avec les étrangers l’on les verra prodiguer les droits de cité à quiconque, se transportant chez eux avec sa famille, établit un métier ou une fabrique; enfin on sera frappé de leur amour excessif pour l’indépendance individuelle.1

1 Constant, Benjamin: De la liberté des Anciens comparée à celle des Modernes. In: Ders.: De la liberté chez les Modernes. Écrits politiques. Hrsg. von Marcel Gauchet. Paris 1980, S. 491–515, hier S. 500.

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Für Constant war Athen also in seiner Konzentration auf den Handel und in seinen Sitten und Bräuchen den modernen Staaten ähnlich. Die vorliegende Arbeit nahm diese von Constant betonte Sonderstellung Athens als Ausgangspunkt und untersuchte, wie sich diese Einschätzung gegenüber denjenigen verhielt, die sich schon in den Jahrhunderten zuvor mit der Antike und ihren politischen Vorbildern auseinandergesetzt hatten. Wie beschäftigten sie sich mit dem antiken Athen, was machte die Rezeption Athens interessant, uninteressant, was machte sie aus? Es wurde also mit einem Ansatz der intellectual history die Idee „Athen“ und ihre Verwendung und Funktion in französischen und englischen Diskursen in einem Zeitraum von circa 130 Jahren untersucht. Um dies zu gewährleisten, waren fünf Untersuchungsebenen von Bedeutung: Zum einen wurden die sozialen Akteure und die Trägerschaft der Athenrezeption in ihrem sozialen Kontext erarbeitet. Zum anderen wurden die politischen und soziokulturen Vorstellungen, die sich mit der Athenrezeption verbanden, dargestellt. Des Weiteren wurde nach dem textuellen Zusammenhang gefragt sowie nach dem der Athenrezeption inhärenten Geschichtsbild und Forschrittsdenken. Der Untersuchung lag dabei nicht nur die übergeordnete Hypothese zugrunde, dass sich die Rezeption Athens in den Kontext der Querelle des Anciens et des Modernes einschrieb, sondern auch, dass die für die vorliegende Analyse relevanten Quellen ein Bewusstsein für den zeitlichen Abstand zur Antike deutlich werden lassen. Die Auseinandersetzung mit der Antike und mit der polis Athen war damit Teil einer Diagnose der Vergangenheit und Gegenwart und sollte eine Prognose der Zukunft ermöglichen. Um diese Einschätzungen zu erarbeiten, beschäftigte sich die vorliegende Monographie nicht nur mit antikem Gedankengut, sondern mit einem konkreten politischen Gemeinwesen: mit Athen. Mit dieser Fragestellung ist die Arbeit von der Republikanismusforschung inspiriert. Im Verlauf der hier präsentierten intellectual history wurden verschiedene Forschungsansätze der Republikanismusforschung bearbeitet und kritisch betrachtet, v.a. die Werke von Hans Baron, John Pocock und Quentin Skinner spielen in den ersten Kapiteln eine bedeutende Rolle. Dennoch war es nicht das vorrangige Erkenntnisziel des vorliegenden Buches, einen Beitrag zur Republikanismusforschung zu leisten. Vielmehr zeigte die Analyse auf, dass die Erforschung des frühneuzeitlichen Verweises auf die Antike, inbesondere auf Athen, über republikanische Sprachen hinausging. In der Forschung wurde die Rezeption Athens im Zuge der Republikanismusforschung entweder kaum beachtet oder es finden sich meist aus der Perspektive der Wirkungsgeschichte antiker Texte, Überblicksdarstellungen von der Antike bis in die Gegenwart, deren Ziel nicht die Untersuchung frühneuzeitlicher Ideen ist. Die vorliegende Analyse schließt dieses Forschungsdesiderat und zeigt erstmals den Zusammenhang von politesse/politeness und der Idee Athens.

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Das französische und englische frühneuzeitliche Nachdenken über Athen zeigte auf einer abstrakten Ebene vier Themenschwerpunkte, die in der vorliegenden Arbeit dargestellt wurden und sich in der Kapitelstruktur widerspiegeln. Es wurde erstens gezeigt, dass Athen zunächst als Republik, das heißt in seinem politischen Gefüge rezipiert wurde, und die Idee Athen im Kontext eines Ringens um Souveränität innerhalb eines politisch-institutionellen Diskurses auftauchte. Die Wahrnehmung Athens veränderte sich jedoch in Frankreich seit Mitte des 17. Jahrhunderts und wurde nun nicht mehr als Republik, sondern als sozio-kulturelles Vorbild einer polis gedeutet. Diese Umdeutung, die auch nach England transportiert wurde, ermöglichte es, dass Athen seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in beiden Ländern zum Reformmodell einer urbanen, nicht-höfischen politesse/politeness stilisiert werden konnte. Athen wurde so das Vorbild einer individuellen Tugend, die durch eine Bildungsund Leistungsethik geprägt war und die dem gesamten Gemeinwesen nützlich sein sollten.

Die Republik Athen: Drei Interpretationsmodelle vor 1650 Zunächst stellte die Untersuchung drei Interpretative der politischen Ideengeschichte und ihre jeweiligen Kontexte des frühneuzeitlichen Wissens über die griechische Antike vor. Erstes Interpretationsmodell bot der Florentiner Niccolò Machiavelli an: Für ihn war das erste Ziel eines Staates dessen Erhalt. Um die richtigen Strategien zum Staatserhalt zu entwickeln, befasste er sich vornehmlich mit Sparta, Rom und Athen. Athen war dabei dasjenige Gemeinwesen, das für ihn am meisten Fehler aufwies – nicht, weil sich der Florentiner moralphilosophisch gegen die demokratische Verfasstheit Athens wandte, sondern weil ihm die für das Überleben eines Staates notwendigen gemischtverfassten Elemente fehlten, die Sparta und Rom aufweisen konnten. Während in Athen der ungemischte, demokratische Charakter der Regierung verhindert habe, dass die besten Bürger sich ganz dem Allgemeinwohl hingeben konnten, so sei es in Rom genau umgekehrt gewesen: Die beiden verschiedenen Bestrebungen des Volkes und des Adels hätten eine Mischverfassung gefördert und somit explizit dazu beigetragen, dass sich die besten Bürger dem Gemeinwohl hatten widmen können. Athen konnte für den Florentiner nicht als Modell zeitgenössischer Politik dienen, weil es dem Ziel des Staates, nämlich dessen Erhalt, nicht hatte gerecht werden können. Sparta und Rom waren für Machiavelli dagegen imitationswürdige Gemeinwesen. Das zweite Interpretationsmodell fand sich beim französischen Theoretiker Jean Bodin. Auch er wollte aus der historischen Betrachtung heraus politische Kategorien erstellen, jedoch studierte er antike Geschichte offensichtlich nicht

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zum Zwecke der Imitatio. Vielmehr solle sich jedermann an der seit jeher geltenden und von Gott eingesetzten natürlichen hierarchischen Ordnung orientieren. Athen, das für ihn die demokratischste Demokratie war, die jemals existiert hatte, diente Bodin dazu, die Strukturprinzipien einer Demokratie zu erarbeiten. Er zeigte anhand Athens, dass eine Volksregierung frevelhaft sei und demokratische Bestrebungen ins Durcheinander und Verderben führen müssten. Ideales Staatsgebilde war für Bodin kein antiker Stadtstaat, weder Athen, Sparta noch Rom, sondern allein die französische Monarchie, die für ihn das Beispiel eines Idealstaates, nämlich der „pure monarchie royale“ war und die insbesondere unter seinem Idealherrscher Franz I. floriert habe. Bodin zog die Antike also der eigenen Zeit nicht vor, sondern betonte die französischen, Gott wohlgefälligen Ordnungsvorstellungen, die er nur in dieser Monarchie verwirklicht sah. Bodin ging ferner davon aus, dass das, was nicht dem göttlichen Willen und dem Naturrecht entsprach, von der Geschichte gereinigt würde – wie schließlich die Sklaverei und die Demokratie in Europa fast nicht mehr zu finden seien. Deshalb brauche man keine Rückkehr zu den demokratischen Verhältnissen von Athen. Die Geschichte zeigte ihm, dass das monarchische Modell das erfolgreichere war. Das dritte Interpretationsmodell das vorgestellt wurde, war dasjenige der niederländischen politischen Denker der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Im Kontext der niederländischen Geschichte war der Rekurs auf Athen nicht Teil politiktheoretischer Abhandlungen, sondern konkreter politischer Legitimation: Hier galt Athen etwa bei Hugo Grotius, Jan van Meurs, Jacob Lescaille, Joost van der Vondel und den La Court-Brüdern als ein Gemeinwesen, das ähnlich wie die antiken Bataver in Freiheit von äußerer Fremdherrschaft gelebt, in dem sich die Athener selbst verwaltet und eigene Gesetze gegeben hatten. Nach dem Unabhängigkeitskampf der Vereinigten Provinzen bot das antike Athen, mehr noch als die antiken Bataver, weitere Vergleichspunkte zu den Vereinigten Provinzen: Wie Athen waren diese ein durch Handel erstarkendes Gemeinwesen. Wie Leiden in den Niederlanden, war Athen das griechische Zentrum der Wissenschaften. Athen avancierte damit zur Metapher für Leiden, dem batavischen Athen. Damit wurden zwei Antikenrezeptionen miteinander verbunden, namentlich diejenige der mythologischen antiken Bataver, auf die vor allem während des Unabhängigkeitskampfes verwiesen wurde und die des antiken Athens, das in der Lesart der Niederländer Freiheit, Handel und Wissenschaft miteinander in Einklang gebracht hatte. Mit dem Verweis auf das batavische Athen wurde eine Legitimationstradition bewahrt, weitergedacht und erweitert.

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Von der florierenden zur gescheiterten Republik: Athen als Warnung für England, ca. 1630–1660 Francis Rous’ Archaeologiae Atticae Libri Tres von 1637 war das erste englische und englischsprachige Werk, das sich explizit und ausführlich mit Athen beschäftigte. In seinen drei Büchern, die während der Bürgerkriegsjahre mehrfach wiederaufgelegt wurden, stellte Rous anhand Athens die Rechte des englischen Parlaments dar. Seine Analyse erinnert dabei an Bodins Souveränitätskriterien: Auch für Rous war die Gesetzgebung das erste Merkmal der Souveränität des englischen Parlaments. Er verwies anhand Athens jedoch anders als Bodin auf den unerinnerbaren Charakter ungeschriebener Gesetze, verglich die Funktionen der athenischen boule und diejenigen des Areopags mit denjenigen des englischen Parlaments. Rous band zum ersten Mal in England – möglicherweise aufgrund seiner Lektüre der niederländischen Veröffentlichungen des Hauses Elzeviers– die kulturelle Blüte Athens an dessen politische Verfasstheit, dem „civil government“. Er zeigte damit, dass Athen erst als free state seine künstlerische und wissenschaftliche Blüte erreicht hatte. Dementsprechend habe Athen auch seine Größe verloren, als es vom Weg eines freien Staates abgekommen sei. Für Thomas Hobbes waren von Athen und seinen politischen Denkern eine falsche politische Tradition ausgegangen, die Freiheit ausschließlich antimonarchisch interpretiert und folglich jegliche monarchische Regierung als Tyrannei bezeichnet habe. Hobbes wies dagegen ähnlich wie Bodin nach, dass die Souveränität in jedem Gemeinwesen, gleich welcher Verfassungsform, immer absolut sei. Hobbes nutzte den athenischen Brauch des Ostrazismus, der für Bodin Beweis für eine moraliphilosophische Verwerfung der Demokratie war, um darzulegen, dass auch in einem demokratischen Gemeinwesen die Macht des Staates absolut sei, die Freiheit des einzelnen von derjenigen des Staates also unterschieden werden müsse und diese beiden Freiheitsformen nicht miteinander in Verbindung stünden. Dies begründete Hobbes mit seinem Theorem der beiden Verträge im Naturzustand, nach dem jeder einzelne in einem ersten Vertrag seine Souveränität abgebe und die Gesamtheit der Vertragspartner in einem zweiten Vertrag den Herrscher einsetze. Für Hobbes hatten die griechischen antiken Denker ihre politischen Kategorien jedoch nicht vom Verstand, sondern von der Verfassungswirklichkeit Athens abgeleitet und somit, durch die Vermittlung römischer politischer Schreiber eine Denktradition über die gesamte westliche Welt verbreitet, die einen gegen die Monarchie rebellierenden Geist hervorbringe und der sich nun in England in den blutigen Bürgerkriegen spiegle. Der von Rous etablierte Konnex von kultureller Blüte und „civil government“ wurde nach den Bürgerkriegsjahren von den unter der englischen Republik über Athen Schreibenden wieder aufgenommen. Die Inderdependenz von Kulturerfolg

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und politischer Verfasstheit zeigte sich auch in den Ausführungen Marchamont Nedhams, namentlich in seinem The Excellencie of a Free State von 1656. Mit der Verbindung von „civil government“ und der Größe und Pracht eines Gemeinwesens machte er anhand Athens jedoch auch deutlich, was mit einem Staat passierte, wenn dieser den Weg eines free state verließ. Athen war damit auch eine Warnung an England, diese Fehler nicht zu wiederholen. Auch James Harrington nutze Athen vor allem dazu, zu zeigen, dass Oliver Cromwell wie Solon einst, eine weise Verfassung implementieren, dann jedoch die Macht dem Volk überlassen solle, das jedoch von einer natürlichen Aristokratie regiert werden müsse. Athen war für Harrington zwar mit der rechten Absicht gegründet worden, jedoch aufgrund von institutionellen Fehlern nicht überlebensfähig gewesen. Grund hierfür war für Harrington die Unterhöhlung der natürlichen Aristokratie. Das Fehlen dieser „natural aristocracy“ war für den Engländer zum einen durch die ungleiche Eigentumsverteilung in Athen begründet: Da der besitzlose vierte Stand von der politischen Teilhabe ausgeschlossen, jedoch zahlenmäßig am größten war, sei die Auswahl der Aristokratie nicht nach dem Prinzip der Leistung erfolgt. Ein anderer Grund für die Abwesenheit der natürlichen Aristokratie lag für Harrington darin, dass die boule – in der Sprache Harringtons wie bei Rous als Senat bezeichnet – in seiner Diskussionsfunktion unterhöhlt wurde. Athen war für Harrington also ebenfalls eine Warnung für die englische Republik, Cromwell sollte folglich die Regierung einer natürlichen Aristokratie ermöglichen, wolle man nicht wie Athen enden. Anders als im Kontext der niederländischen republikanischen Auseinandersetzung mit Athen galt das antike athenische Gemeinwesen bei englischen republikanischen Schreibern nicht vornehmlich als Beispiel für Freiheit und Handelsmacht oder als Metapher eines wissenschaftlichen Zentrums. Für die hier vorgestellten Autoren galt Athen zwar einerseits als free state, der eine beachtliche Blütezeit in Wissenschaft und Kunst hervorgebracht habe, jedoch konzentrierten sich diese Schreiber aufgrund der offensichtlichen Enttäuschung über die Machtfülle Cromwells auf den Niedergang Athens: Bei keinem der Schreiber war dieser durch militärische Eroberungen begründet, sondern darin, dass die Athener den guten Weg eines free state verlassen und die Machtkonzentration in den Händen einzelner Amtsträger zugelassen hatten. Athen war für sie, im Gegensatz zu Rom oder Sparta nicht Ideal, sondern das Abbild einer gescheiterten Republik. Dieses Scheitern fürchteten sie auch für ihren eigenen free state. Bis ca. 1660 war Athen damit Teil eines politisch-institutionellen Diskurses, in dem es als Republik diskutiert und seine politischen Institutionen einer konkreten Politikanalyse unterzogen wurden. Zusammenfassend lassen sich die drei Athenbilder von Rous, Hobbes und den republikanischen Schreibern mit den drei Interpretativen der älteren poli-

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tischen Theorie verbinden: Hobbes, der ähnlich wie der Franzose Jean Bodin im Hintergrund der Bürgerkriegserfahrung schrieb und die Souveränität als absolut und unteilbar ansah, verwarf die athenische Demokratie, allerdings mit einer anderen Begründung als Bodin. Hobbes leitete seine politischen Kategorien aus seinem Theorem des Naturzustandes und des Gesellschafts- und Herrschaftseinsetzungsvertrages ab, baute seine politischen Kategorien also nicht auf einer christlichen Ordnungsvorstellung auf, wie das Bodin zuvor getan hatte. Athen galt jedoch beiden als Beispiel einer nicht nachahmenswerten Volksherrschaft. Francis Rous’ Ausführungen zeigen Verbindungen zum niederländischen Athenbild: Er nutze in den 1630er Jahren, als der Konflikt zwischen Krone und Parlament gerade aufbrach und noch nicht klar war, wie dieser entschieden werden würde, Athen dazu, um die Rechte, Freiheiten und Prärogativen des englischen Parlamentes zu reflektieren. Rous, der die niederländischen Veröffentlichungen des Hauses Elzeviers kannte, konzentrierte sich dabei ähnlich wie die Niederländer auf die kulturelle Blüte des athenischen Gemeinwesens. Dabei passte er die niederländische Lesart an die englischen Bedürfnisse an, denn die Blütezeit Athens verband er mit dem „civil government“, das er schließlich auch für England forderte. Athen war für Rous das Beispiel, das die parlamentarischen Forderungen nach den alten Rechten untermauern und verdeutlichen konnte. Ähnlich wie Jan van Meurs verfolgte der Universitätsgelehrte Rous ein antiquarisches Interesse, das er mit seinen politischen Zielen zu verbinden wusste. Nach den Erfahrungen des Bürgerkriegs und während der englischen Republik folgten sogenannte republikanische Schreiber vor allem Machiavellis Atheninterpretation: Wie beim Florentiner war eine Volksherrschaft nicht moralisch verwerflich, entbehrte aber der stabilisierenden gemischten Elemente. Athen erschien als ein Gemeinwesen, das zwar von Solon eine gute Verfassung erhalten hatte, jedoch den Weg eines free state nicht hatte einhalten können. Athen war, ähnlich wie bei Machiavelli, eine gescheiterte Republik, die auf Dauer nicht hatte bestehen können. Athen wurde so zum warnenden Beispiel für England unter Cromwell, das ähnlich wie einst Athen nun Gefahr laufe, wieder eine Monarchie zu etablieren. Athen stellte für diese Schreiber kein Modell zur Verfügung, das imitiert werden sollte, sondern zeigte, welche institutionellen Fehler und Missstände zum Untergang eines freien Gemeinwesens führen können. Anders als bei Machiavelli ging es bei der Interpretation nicht nur um den Erhalt eines Gemeinwesens, sondern um das dauerhafte Überleben eines free state, der eine bestimmte politische Verfasstheit forderte.

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Von der Republik zur Polis: Athen als soziokulturelles Modell im grand siècle, ca. 1630–1715 Die Athen-Rezeption änderte sich grundlegend in Frankreich Mitte des 17. Jahrhunderts: Anstatt wie bisher nur politisch-institutionelle Arrangements des athenischen Gemeinwesens zu diskutieren, gewann die kulturelle Dimension an Bedeutung, sodass Athen zu einem sozio-kulturellen Modell avancierte – zuerst in Frankreich und schließlich auch in England. Kardinal Richelieu nahm sich seit 1635 dem Projekt der Académie française an, die die Aufgabe hatte, die französische Sprache zu systematisieren und zu verbessern. Zu diesem Zweck sollte sie unter anderem ein Dictionnaire erstellen. Für die Verbesserung der eigenen Sprache suchten die Akademisten nach Vorbildern, die sie bei den antiken Griechen und Römern fanden und deren sprachlichen und rhetorischen Fähigkeiten ihnen imitationswürdig erschienen. Griechenland galt dabei als in seinen Errungenschaften ursprünglich, Rom dagegen als Erbin Griechenlands. Die Auseinandersetzung mit der Antike wurde durch die Querelle des Anciens et des Modernes intensiviert: Seit der Akademist Charles Perrault im Januar 1687 sein Gedicht Le siècle de Louis le Grand vorgetragen und behauptet hatte, dass sich Frankreich unter Ludwig XIV. im Zustand eines goldenen Zeitalters befinde, das sogar die Antike übertreffe, musste sich die französische intellektuelle Elite im Streit zwischen den Verfechtern der Alten und der Modernen positionieren. Die Querelle hatte zur Folge, dass nun zeitgenössische kulturelle Errungenschaften wie die Dichtung, die Kunst, die Musik sowie das Theater mit denjenigen der Antike gemessen wurden. Durch zahlreiche Veröffentlichung von Seiten der Verfechter der Alten wie auch von den Modernen, hatte diese explizite Auseinandersetzung mit der Antike eine breite Öffentlichkeitswirksamkeit. Für diejenigen, die den Vorrang der Antike verteidigten, galt Griechenland als vorbildlicher als Rom, da es ursprünglicher und älter war. Doch auch jene, die den Fortschritt der Moderne betonten, wie etwa Charles Perrault oder Bernard le Bovier de Fontenelle, gestanden ein, dass die alten Griechen im Umgang mit der eigenen Sprache noch immer unübertroffen seien. Die Querelle blieb nicht nur auf Frankreich beschränkt, sondern wurde gleichsam auch in der Nachbarmonarchie in England rezipiert, wo sie allerdings mit einem anderen thematischen Schwerpunkt geführt wurde und vor allem naturwissenschaftliche Methoden und Errungengenschaften der Antike und der Moderne verglichen wurden. Sir William Temple bezog sich in seiner Kritik der „new science“ auf Perrault und Fontenelle. Temple bemängelte einen der Kernpunkte von Francis Bacons Konzept der neuen Naturwissenschaft, demgemäß die Natur mittels der Erforschung ihrer Gesetzmäßigkeiten beherrscht werden

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sollte. Der Autor verwarf diesen Anspruch als Utopie. In seinem Upon Ancient and Modern Learning von 1690 stellte er die Moralphilosophie den naturwissenschaftlichen Spekulationen gegenüber und kam zu dem Ergebnis, dass man den Alten – und hier nannte er nur die Griechen – alles verdanke, sowohl Wissen als auch moralische Weisheit, die tugendhaftes Handeln ermöglichte. Die Lektüre der Schriften der alten Griechen und die Studie des antiken Griechenlands waren für ihn für das Wohl der Moderne unabdinglich. Der Theologe und Linguist William Wotton reagierte mit seinem Reflections on Ancient and Modern Learning auf die Behauptungen Temples und verteidigte darin die Auffassungen der Modernen. Dafür bezog er Anregungen aus dem französischen Lager. Von Fontenelle übernahm Wotton das Bild des „homme universel“. Diese Metapher implizierte nicht nur die Ganzheit und die Identität der Weltentwicklung, sondern verfocht auch einen weiteren, von Wotton verteidigten Punkt: Man konnte der Moderne nicht mehr vorwerfen, dass sie sich mehr mit den Naturwissenschaften als mit Moralphilosophie beschäftigte, da jedes Zeitalter seiner natürlichen Bestimmung folge. Doch in der Verteidigung der modernen Naturwissenschaften und seiner Ablehnung der universellen Vorbildlichkeit der Antike galt auch für Wotton, ähnlich wie für die französischen Modernenverfechter, Griechenland in seinen rhetorischen und sprachlichen Künsten als unübertroffen. So werteten insgesamt sowohl Verfechter der Alten als auch der Modernen das Bild Griechenlands als kulturelles und sprachpolitisches Vorbild auf. Diese Aufwertung und Umdeutung des Griechenlandbildes führte vor allem dazu, dass nun Antikenbegeisterte und antiquarisch Forschende an die antiken griechischen Stätten reisten. Mit ihren Berichten und Darstellungen trugen sie erheblich zu einem weit expliziteren und differenzierteren, wenn auch gefärbten Griechenlandbild bei, womit fortan nun vor allem dessen Zentrum, Athen, in den Vordergrund des Interesses rückte. Der Franzose Jacob Spon und der Engländer George Wheler waren die ersten, die vornehmlich nach Griechenland reisten, um die antiken Überbleibsel zu studieren und diese zu beschreiben. Dass vor allem Engländer und Franzosen nach Griechenland fuhren, verdankten diese der „aufgeklärten Patronage“ ihrer Monarchen. Ein anderer Grund für die nun häufigeren Reisen lag auch am veränderten Zustand der modernen Hellas: Nach einem 25 Jahre andauernden Krieg wurden die Venezianer 1669 in Candia besiegt und die osmanische Herrschaft über die Ägäis gefestigt. Die 16 Jahre währende Friedenszeit verbesserten sowohl Handelsbeziehungen als auch Reisebedingungen. Dank der Kontakte des französischen Botschafters Charles-François Olier, Marquis de Nointel, der selbst durch Griechenland reiste und antike Gegenstände für Ludwig XIV. sammelte, profitierten französische Reisende erheblich vom großen Einfluss und dem Prestige des Amtsinhabers.

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Spon fertigte schließlich eine genaue Untersuchung der antiken Überreste Athens an, die zu einer regelrechten Klassifizierungslehre und Systematik der Antikenforschung wurde. Auch George Guillet de Saint-Georges hatte mit seiner Athènes ancienne et nouvelle zur Öffentlichkeitswirksamkeit des athenischen Vorbilds beigetragen. Zwischen den beiden Hellas-Begeisterten entsponn sich anschließend ein Streit um die richtige Deutung und Erforschung Athens. Trotz einer verhärteten literarischen Feindschaft waren sich die beiden Konkurrenten in ihrem Lob der antiken Stadt einig und auch George Wheler, Spons Reisegefährte, stimmte in die Eulogie Athens mit ein. Die intensivierte Auseinandersetzung mit dem antiken Griechenland hatte zur Folge, dass das Zentrum der antiken griechischen Welt, Athen, zu einem weithin akzeptierten, sogar von den jeweiligen Kronen geförderten, kulturellen Vorbild für die beiden westeuropäischen Monarchien wurde. Athen wurde nun nicht mehr als Republik, d.h. in seiner politischen Verfasstheit diskutiert, sondern war kulturelles Vorbild einer polis, einer politischen und sozialen Gemeinschaft, deren politische Verfasstheit für die Rezipienten keine Rolle spielte. Athen fungierte also nicht als Modell eines bestimmten politischen Regimes, sondern es wurde aufgrund seiner kulturellen Blüte sowie seiner philosophischen, literarischen, künstlerischen und architektonischen Errungenschaften als Vorbild begriffen, das auch für das monarchische Frankreich und England nachahmenswert war. Bei Wheler und anderen Griechenlandfahrern deutete sich schon an, dass Athen schließlich, „much more polished, in point of Manners and Conversation“,2 im ausgehenden 17. Jahrhundert und beginnenden 18. Jahrhundert zum Vorbild der politesse/politeness werden konnte.

Courtoisie/courtesy, civilité/civility und politesse/politeness: Drei Konzepte von Höflichkeit Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts bestanden in Frankreich und England drei Höflichkeitskonzepte nebeneinander: Zum einen wurde mit der courtoisie/courtesy, die von Baldassare Castigliones Konzept der cortegiana abgeleitete höfische Höflichkeit bezeichnet. In seinem Il Libro del Cortegiano hatte Castiglione zu Beginn des 16. Jahrhunderts Anforderungen und Qualitäten des Hofmannes, sein Verhältnis zum Fürsten sowie die Vorstellung über eine Hofdame erörtert. Damit sammelte Castiglione die damals vorherrschenden Bilder eines gebildeten und begabten Menschen am fürstlichen Hofe und spiegelte die in 2 Wheler, George: A Journey into Greece by George Wheeler, Esq; in company of Dr Spon of Lyons. In Six Books. London 1682, S. 356.

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der Renaissance vorherrschenden Idealvorstellungen eines „gentiluomo“, eines „gentleman“ oder „honnête homme“, der im 16. und 17. Jahrhundert Leitbild eines Höflings wurde. Das bei Castiglione beschriebene Ideal des Hofmannes fand sich entsprechend auch bei französischen Autoren. Die Bedeutung der Adeligkeit für den Höfling zeigte sich ausgezeichnet in Nicolas Farets Abhandlung L’honneste homme ou l’art de plaire à la court von 1630. Die Hofmannskunst war für ihn eine Tugend, die vom Himmel geschenkt, jedoch auch sorgsam gepflegt und gelernt sein wollte: Eine gute Herkunft genügte für Faret nicht allein, um ein guter Hofmann, ein „honneste homme“ zu werden. Dazu gehörte auch, dass er sich in seinen Tugenden und Begabungen übte. Auch in England erschien zwischen 1540 und 1640 eine Serie von courtesyRatgebern zu einem Zeitpunkt als die aristokratisch-adelige Identität von einer Gruppe junger, aufstrebender Männer in Frage gestellt wurde. Die Aufteilung klösterlicher Ländereien unter der „gentry“ und der Freibauernschaft vergrößerte die Gruppe derjeniger, die ihren sozialen Status zu verbessern suchten. Das mittelalterliche Ritterideal, das die Leibesübungen für das Schlachtfeld und für das Leben am Hof betonte, wurde nun auch von der „gentry“ herausgestellt. Dementsprechend avancierte auch Castigliones Libro del Cortegiano zum wichtigsten Buch des englischen Adels. Es konnte gezeigt werden, dass die von der cortegiana abgeleitete courtoisie/courtesy eine höfische Tugend war, die zur Abgrenzung des traditionellen Adels nach unten diente. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts gehörte jedoch auch der Begriff der civilité zum gängigen Sprachgebrauch in Frankreich. Pierre Richelet machte in seinem Dictionnaire françois aus dem Jahre 1680 deutlich, dass „civil“ und civilité das höfliche Verhalten einzelner Personen bezeichne und den Begriff der courtoisie abgelöst habe. Durch den Einfluss des Erasmus wurde anhand des civilité-Begriffes ein wesentliches Ziel der Kindererziehung formuliert, in der das ritterliche Ideal sowie mittelalterlich-höfische Tafelsitten der Anerkennung einer gesteigerten Abhängigkeitsbeziehung aller Menschen weichen mussten und sich deshalb auch an alle Menschen gleichermaßen richtete. Deshalb definiert die civilitas nach Erasmus ganz im Gegensatz zur courtoisie nach dem Ideal der cortegiana auch dasjenige gute Verhalten, das für alle Menschen angemessen war, und nun also universale, auf ethischen Prinzipien beruhende Regeln der Höflichkeit festlegte. Damit wandte sich die civilité nicht nur einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe zu, sondern der Moral der Erziehung aller Kinder und versuchte damit, Emotionen und Verhalten zu disziplinieren. Antoine de Courtins Abhandlung Nouveau traité de la civilité qui se pratique en France parmi les honnête gens aus dem Jahre 1671 suchte an die erasmische Tradition anzuschließen, indem er vor allem die Instruktion der jungen Leute vor Augen hatte und diese auf universellen Regeln der Moral aufbaute. Indem

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die Theoretiker der civilité diese mit der christlichen Tugend der Nächstenliebe verbanden, deuteten sie sie als Charakteristikum des Menschseins selbst. Eine einflussreiche Abhandlung über die civilité, die den Begriff entscheidend prägte, fand sich bei Jean-Baptiste de la Salle. In seinem Werk Les regles de la bienséance et de la civilité chretienne divisés en deux parties à l’usage des écoles chrétiennes aus dem Jahre 1703 unterschied er zwischen einer christlichen und einer mondänen civilité. Indem die Höflichkeit christianisiert wurde, sollte der Gehorsam und die Akzeptanz des Status Quo manifestiert und einem kindlichen Publikum aus allen sozialen Schichten vermittelt werden. Der regles inhärentes Ziel war es, die Gefühle der sozialen Akteure zu zügeln und so zu disziplinieren, dass sie den gesellschaftlichen Vorstellungen entsprachen. Durch die weite Verbreitung von Sittenspiegeln sowie durch schulische Unterweisung wurde die civilité von immer breiteren Bevölkerungsteilen getragen. In dem Maße, in dem das Konzept der civilité popularisiert wurde, verlor es Ende des 17. Jahrhunderts aber auch an Bindungskraft im französischen Adel, der sein vormaliges Konzept, das ihn sozial distinguieren sollte, nun nur noch als weltmännisches Auftreten interpretierte und damit abwertete. Weil im 17. Jahrhundert die courtoisie also in der civilité mit aufgegangen war, wollte die Elite nun eine neue Höflichkeit propagieren, die nur für sie gelten konnte: die politesse. „Für die französischen Zeitgenossen des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts konnte das Individuum in seinen Umgangsformen vor allem durch das Leben in der Welt („le monde“) „poliert“ oder „geglättet“ werden. Im Zentrum dieser Welt stand der königliche Hof. Antoine Furetière schrieb in seinem Dictionnaire zur Beschreibung von „polir: La cour polit bien les gens de province.“3 Es waren also die Menschen aus den ländlichen Provinzen, fernab von Paris und dem Hof in Versailles, die in ihren Manieren und Verhalten geschliffen werden sollten. Im Dictionnaire de l’Académie française war ebenfalls festgehalten: „La cour, l’estude, la conversation des honnestes gens, des Dames polit les mœurs. L’estude des belles lettres polit les jeunes gens.“4 In diesem Absatz bezieht sich das „Polieren“, das „Schleifen“ auf den Geist und das Verhalten („l’esprit et les mœurs“), das nicht nur Höflinge inkludierte. Das Konzept der politesse kam Ende des 17. Jahrhunderts als neue Tugend der besser gestellten Kreise auf und grenzt sich sowohl gegen die höfische courtoisie als auch gegen das universale Konzept von Höflichkeit, der civilité, ab. 3 Furetière, Antoine: Dictionnaire universel, contenant généralement tous les mots françois tant vieux que modernes, et les termes de toutes les sciences et des arts. 2 Bde. Reproduktion der Ausgabe von La Haye 1690. Paris 1972, [ohne Seitenangabe]. 4 Académie française: Le dictionnaire de l’Académie françoise, dédié au Roy. 2 Bde., Reproduktion der Ausgabe von Paris 1694. Paris 1972, Bd. 2, S. 271.

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Denker, die sich Ende des 17. Jahrhunderts mit der politesse beschäftigten, wie etwa der Abbé Morvan de Bellegarde, definierten diese vornehmlich als adelige Konversationsform, die eine schwierige Übung in Selbstkontrolle darstellte. Eine solche höfliche Konversation wurde als Höhepunkt jeglichen zivilisierten Zusammenlebens gedeutet und war damit – da man davon ausging, dass die höchste Zivilisationsform in Frankreich erreicht worden sei – eine Errungenschaft der Franzosen. Diese meisterliche Konversationsform konnte jedoch auch große Anstrengungen nach sich ziehen, da alle Menschen aufgrund ihrer Selbstliebe ihr Eigeninteresse verfolgten. Nur die politesse erlaubte es nach dieser Annahme schließlich, mit anderen egoistischen Menschen zusammenzuleben. Während civilité also vor allem Tischmanieren, Begrüßungsformeln und Verhaltenskodizes beinhaltete, bedeutete politesse viel mehr als das: Jeder/jede, gleich welcher sozialen Klasse er/sie zuzuordnen war, konnte sich an die Verhaltensnormen der civilité halten. Geschliffen („poli“) konnten jedoch nur „les gens du monde“ sein. Eine „geschliffene“ Person stammte also aus dem Kreis der Bessergestellten, der Oberschicht, die sich am Hof, den Akademien und in den Salons bewegten. In England begegnete das Konzept der französischen Auslegung der politesse einem ganz anderen sozialen Kontext. Hier wurde die politeness nicht wie in Frankreich von einer kleinen, privaten, sozial distinguierten Gruppe der Salons getragen, sondern hatte eine urbane, weitaus öffentlichere Trägerschaft. Die weitverbreiteten Kaffeehäuser wurden der Ort, an dem politeness als soziale Tugend erlernt werden konnte. Die englische Auslegung der politeness lag nicht in der Möglichkeit der Elitendefinition, sondern in seiner Funktion, private Tugenden zu politisieren, indem sie öffentlich diskutiert und als „civic virtues“ umgedeutet wurden.5 Folglich wurden Kaffeehäuser zu dem Ort, „where one went to collect intelligence.“6 Der Begriff der politeness hatte im englischen 18. Jahrhundert vielfältige Bedeutungsebenen und semantische Dimensionen.7 Zahlreiche Forschungen haben gezeigt, dass im 18. Jahrhundert ein breites Spektrum sozialer Akteure 5 Goodman, Dena: The Republic of Letters. A Cultural History of the French Enlightenment, Ithaca/London 1994, S. 120. 6 Pincus, Steven: “Coffee Politicians Does Create”: Coffeehouses and Restoration Political Culture. In: The Journal of Modern History Bd. 67/4 (Dezember 1995), S. 807–834, hier S. 820. 7 Siehe dazu Klein, Lawrence E.: Politeness and the Interpretation of the British Eighteenth Century. In: Historical Journal 45/4 (Dez. 2002). S. 869–898; Ders.: Liberty, Manners and Politeness in Early Eighteenth-Century England. In: Historical Journal 32/3 (Sept. 1989). S. 583–605; Ders. Shaftesbury and the Culture of Politeness. Moral Discourse and Cultural Politics in Early Eighteenth-Century England. Cambridge 1994; Philippson, Nicholas T. u. Gordon J. Schochet (Hrsg.), Politics, Politeness, and Patriotism. Papers Presented at the Folger Institute Seminar “Politics

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politeness für sich beanspruchen wollte. Mit Lawrence Klein lässt sich deshalb fragen: Wer war also Träger der politeness, wessen Kultur war sie? Mit welcher sozialen Klasse sollte sie verbunden werden?8 Klein kommt zu folgendem Schluss: A survey of the work on politeness shows that politeness was an idiom with uses for a wide range of people, including some who were neither aristocratic nor landed nor middling. Of course, politeness was expressed differently by – and had different meanings for – different people in different circumstances, but it also often served as a medium facilitating interaction and access to shared experience.9

Kleins Review zeigt damit, dass es kein monolithisches Konzept der politeness gab, die nur von einer sozialen Gruppe interpretiert wurde, sondern dass es im 18. Jahrhundert vielfältige Ausformungen und Aneignungen der politeness gab. Deshalb muss gefragt werden: Für welche sozialen Akteure galt Athen als Vorbild der politeness und worauf bezog sich die politeness nach athenischem Vorbild? Wann und an welchen Orten tauchte die Verbindung zwischen Athen und politeness auf und weshalb? Und von wem wurde sie getragen? Welche sozialen und politischen Gruppierungen oder Akteure sich die Verbindung von polis und politesse/politeness zunutze machten, zeigte sich in der Studie Athens als Reformmodell einer urbanen Höflichkeit. Damit leistete die intellectual history des Nachdenkes und Umgangs mit Athens einen dezidierten Beitrag zur politesse/politeness-Forschung, der in dieser Form und in Zusammenhang mit historischen Beispielen bisher noch nicht gesehen wurde. Ferner wurden die verschiedenen Tugendkonzepte – ebenfalls erstmalig – grundsätzlich systematisiert und einander gegenübergestellt.

Polis und politesse: Athen als Reformmodell einer urbanen Höflichkeit Das Konzept der politesse wurde in Frankreich zunächst von höfischen Kreisen übernommen, bald aber von Kritikern des Hofes, namentlich von Jean de la Bruyère, reformiert und als nicht-höfische, jedoch aber elitäre Höflichkeitsform propagiert. La Bruyère, der zwar bezüglich der Umgangsformen von einer Suprematie der Franzosen ausging, räumte dennoch ein, dass auch die Franzosen barbarisch sein konnten und dass ihre politesse einer Reform bedürfe. Wie aber and Politeness: British Political Thought in the Age of Walpole” Washington DC 1993 (Proceedings of the Folger Institute Center for the History of British Political Thought 5). 8 Siehe Klein: Politeness (wie Anm. 7), S. 872. 9 Siehe Klein: Politeness (wie Anm. 7), S. 873.

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diese erreichen? Dazu bedurfte es einem Vorbild, das La Bruyère schließlich bei den alten Athenern fand. Athen bot sich für Paris als Modell an: In der Interpretation des Moralisten war es genau wie die französische Hauptstadt das Zentrum des Gemeinwesens. Es unterschied sich für La Bruyère jedoch von Paris, weil seine Bürger gleich gewesen seien und sich nicht aus Standesdünkel geziert hätten, sich in einer Stadt aufzuhalten, die Raum für ein in der Öffentlichkeit und Gemeinsamkeit geführtes Leben geboten habe. In dieser Lesart gingen die Athener selbst in die Boutiquen oder auf die Märkte, um das für das Leben notwendige zu erwerben. Die Menschen in Athen hätten sich also nicht geniert, Geld zu besitzen und mit ihm zu handeln. In Frankreich dagegen war der persönliche Umgang mit Geld vor allem ein Zeichen für die neu aufstrebende „noblesse de robe“, die vom traditionellen Adel, der mit der prunkvollen Selbstdarstellung der Emporkömmlinge oft nicht konkurrieren konnte, als unehrenhaft und unmoralisch denunziert wurde. Der Franzose forderte für die französische Elite, in die er den aufstrebenden Amtsadel einrechnete, einen Lebensstil nach athenischem Vorbild: In seiner Lesart verbrachten die Athener nicht den Großteil ihres Lebens in exklusiven und verschlossenen Räumen, sondern versammelten sich inmitten ihrer Stadt, in der sie alle gleichermaßen Herren waren. Was machten die Athener mit der gemeinsamen Zeit? Sie lernten voneinander, kamen miteinander ins Gespräch, lernten Fremde kennen, lauschten den Vorträgen ihrer Philosophen, denen aufgrund der Öffentlichkeit des Lehrortes alle Athener, gleich welcher Herkunft zuhören konnten. Der Schriftsteller lobte Athen für sein einfaches, öffentliches Leben. Die athenische Einfachheit war für den Autor nicht nur vereinbar mit der wahren politesse, sie war sogar wichtigster Bestandteil derselben. Gerade die Komponente der Einfachheit ließ die politesse kein Maskenspiel sein, sondern ermöglichte eine Art der Höflichkeit, die nicht von Luxus und Eitelkeiten korrumpiert würde. Die Einfachheit der Sitten und des Umgangs miteinander war für La Bruyère also mit der Geschliffenheit des Geistes kompatibel, ja sogar mit ihr verbunden. Bestes Beispiel für diese Verbindung war für ihn das antike Athen. Im Gegensatz dazu stand für den Schriftsteller das imperiale Rom für Luxus und Pomp. Griechenland und Athen, die als kulturelles Model zuerst in einem höfischen Umfeld aufkamen, wurden seit dem Ende des 17. Jahrhunderts vor allem von denjenigen als Vorbild gebraucht, die wie Jean de la Bruyère entweder dem nicht am Hof lebenden Amtsadel oder wie Laurent Dugas der Provinzelite angehörten, die (insbesondere nach dem Ableben des Sonnenkönigs) ihre Position innerhalb der französischen Monarchie stärken und dem verschuldeten Königreich, wie dies der Toulouser Rechtsstudent Bernard-Armand Teulières formulierte, die „Schatzkammern Athens öffnen“ wollten. Beide Gruppen nutzten Athen als Beispiel einer

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wahren politesse, die sich von der höfischen, maskenhaften Höflichkeit abgrenzen ließ. Die politesse nach athenischem Vorbild bot ein anti-höfisches Tugendmodell an, mit dem sich Aufsteiger innerhalb der französischen Elite durch Leistung abheben und ihren sozialen Status verbessern konnten. Es ist auffällig, dass es zwar Widerspruch gegen diese Bestrebungen des neuen Adels gab, etwa vom Abbé de Bellegarde, dass in diesem Widerspruch jedoch das von den Aufstrebenden genutzte Vorbild, Athen, nicht verworfen wurde. Das antike Griechenland bzw. Athen hatte bereits seit einigen Jahrzehnten großes Ansehen in Frankreich genossen, auch bei den traditionellen Amtsträgern. Doch erst die „noblesse de robe“ und schließlich auch der sich gegen die zu mächtige Stellung der Hauptstadt Paris wehrende Provinzadel hatten Athen mit der Tugend der politesse verbunden und sich das bereits positive Bild Athens zu Nutzen gemacht, um die eigene Position im Königreich zu legitimieren. Von den Emporkömmlingen wurde ein Vorbild gewählt, das erstens bereits allgemein anerkannt war und das zweites mit der Betonung der eigenen Leistungsfähigkeit und Exzellenz sehr gut zur eigenen Lage passte. Athen diente sozialen Aufsteigern oder Außenseitern dazu, die eigene soziale Position innerhalb des vorhandenen Regimes zu verbessern und zu festigen. Aus diesem Grund war für Jean-Jacques Rousseau das athenische Gemeinwesen zu einem die absolute Monarchie in Frankreich stützenden und den „citoyen“ unterdrückenden Vorbild geworden. Die Reaktionen auf Rousseaus Kritik verdeutlichen noch einmal die enge Verbindung von politesse und Athen. Athen wurde also nicht wie bisher in der Forschung angenommen erst während der Luxusdebatte der 1730er Jahre diskutiert,10 sondern wurde bereits ab ca. 1670 als kulturelles Modell interpretiert und vor allem durch Jean de la Bruyères Caractères von 1688 zum Ideal stilisiert, das die politesse reformieren sollte. Die in Frankreich vollzogene Veränderung der Athen-Wahrnehmung wurde, nachdem das Interesse an Athen bereits im Umkreis des Grecian Coffeehaus, das vor allem von Old Whigs besucht und von John Duntons Athenianism öffentlichkeitswirksam in Szene gesetzt wurde, vor allem durch die Vermittlung von Antony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury nach England transportiert und einerseits durch einen moralphilosophischen Gehalt erweitert. Andererseits wird das stärker soziologische Konzept des Franzosen aber auch politisiert, indem klassisch republikanische Tugenden wie Unabhängigkeit, Einfachheit, Bescheidenheit von ihm als vornehme („polite“) Verhaltensweisen, als Soziabilität, Urbanität, Schicklichkeit, rhetorische Fähigkeit und Konversation umgedeutet wurden. Nach Shaftesbury war die charakteristische Aktivität der politeness die 10 Siehe dazu v.a. Guerci, Luciano: Libertà degli antichi e libertà dei moderni, Sparta, Atene e i ‘philosophes’ nella Francia del Settecento. Napoli 1979, insbes. S. 18f.

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Konversation. Sie war die Substanz der Weltgewandtheit und der Urbanität. Und da der Prozess des „Poliertwerdens“ für Shaftesbury von einer öffentlichen Arena abhing und diese wiederum zumindest einer Art konsensuellen Entscheidungsfindungsprozesses bedurfte, war die politeness direkt mit der Freiheit verbunden. Aber auch eine andere Art der Freiheit war mit dem polishing-Prozess gemeint: Die Ausbildung der rhetorischen Eloquenz sowie des ästhetischen Geschmacks waren nach Shaftesbury von einer Dialektik zwischen Redner und Rezipienten geprägt. Wie der Franzose La Bruyère wandte sich Shaftesbury damit von einer rein höfisch definierten Höflichkeit ab und verlagerte diese in die politische Öffentlichkeit außerhalb des Hofes. Athen war für Shaftesbury das historische Beispiel schlechthin, das einzige Referenzmodell, das politische Freiheit, Öffentlichkeit, Soziabilität und die kulturellen Aspekte der politeness in diesem Maße vereinigen konnte. Der Rekurs auf Athen erlaubte es, die republikanischen Tugenden eines Bürgers umzudeuten und sie nun nicht mehr als politische Partizipation und Freiheit von äußeren Mächten, sondern als politeness zu definieren. Die englische Diskussion um die politeness war sehr stark von der französischen politesse-Diskussion geprägt. La Bruyères Ausführungen übten einen großen Einfluss auf Shaftesburys politeness-Konzept aus, der die politesse des Franzosen erweiterte und in die englische civic tradition einpasste. Shaftesbury machte vor allem die Verbindung der politeness zur Freiheit und zur Öffentlichkeit stärker als dies La Bruyère tat. Die französische politesse-Diskussion wirkte aber auch noch auf eine andere Art und Weise in England nach: Immer wieder verglichen Autoren, die über die englische politeness nachdachten, den Zustand ihre Heimatlandes mit dem der Nachbarmonarchie. Besonders deutlich wurde dies bei Thomas Sheridan, der das Vorbild Athens dazu nutzen wollte, mittels einer verbesserten Bildung der Briten die französische politesse und kulturelle Blüte zu überbieten. Die englische politeness-Athen-Verbindung, die auch in verschiedenen Whignahen Zeitungen wie in The Tatler, The Spectator, The Comedian, The World und anderen bis ca. 1760 nachgewiesen werden konnte, wurde jedoch nicht wie in Frankreich von einer sozialen Gruppierung, nämlich dem Amts- oder Provinzadel, getragen, sondern sie wurde von einer politischen Trägerschaft, den Whigs sowie ihren Anhängern unterstützt und vorangebracht, die Shaftesburys philosophisches Konzept der politeness gleichsam verflachten. Durch den Verweis auf Athen sollte unter der Whig Supremacy eine neue politische Tugend, zumeist gegen die eigene, als korrupt oder als unfähig wahrgenommene Whig-Führung etabliert werden. Damit stand die Athen-politeness-Diskussion, im Gegensatz zur französischen politesse-Debatte, auch in der Nähe einer protestantischen Moral,

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die eine Reformation of Manners forderte, die sich zur Mitte des 18. Jahrhunderts verstärkt als Bildungsreform darstellte. Athen wurde also nicht mehr wie vor der Glorious Revolution als politisches Beispiel einer (gescheiterten) Republik diskutiert. Athen und die Athener waren nach den Ereignissen von 1688/89 nun vielmehr Beispiele einer geschliffenen, in Konversation und Geschmacksurteil geübten Gemeinschaft. Athen war nicht mehr warnendes Beispiel, sondern Reformvorbild für die Tugend der politeness gegen eine als unzureichend wahrgenommene Regierung. Athen bot in England das Bild einer starken Stadt gebildeter Bürger und bot damit eine Urbanität an, die dem Hof entgegengestellt und die durch eine kulturelle Reform, die zur Blüte der Künste, Literatur, Musik und Architektur führen sollte, Wohlstand nach England anstatt nach Frankreich bringen sollte. Durch diese Veränderung der Athenwahrnehmung konnte Athen schließlich die Vorbilder Sparta und Rom ablösen.

Die intellecutal history Athens, ein ancient polisism? Die vorliegende Monographie konnte für die Geistesgeschichte ab den 1670er Jahren und vor allem für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts folgende Entwicklung nachweisen: Athen war zum soziokulturellen Modell für die französische, bald auch für die englische Monarchie avanciert. Der Blick der Franzosen und auch der Engländer wandte sich in ihrer eigenen kulturpolitischen Positionierung nach Athen. Diese neue Schwerpunktsetzung im Nachdenken über Athen lässt auf ein neues Verständnis von Bildung schließen: Diese wurde als diskursiv erlernbar gedacht und sah die Kultivierung des Geschmacks als Mittel zur kulturellen Hegemonie. Mit dem Verweis auf die Athener und ihrem Lebensstil sollte nun der Geschmack und das Geschmacksurteil der Zeitgenossen geschult und gefördert werden und die Bildung – wie in Athen – in öffentlichen Gesprächen kultiviert und im Austausch verbessert werden. Ferner sollte die Fähigkeit zum Geschmack­ urteil zur sprachlich-diplomatischen, künstlerischen und architektonischen Blüte führen und somit zum ökonomischen Erfolg eines Gemeinwesens beitragen. Diese Forderungen destillierten sich im Begriff der politesse/politeness, die als individuelle Tugend das soziale Miteinander eines Gemeinwesens formen sollten. Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, dass die konkrete Auseinandersetzung mit der Rezeption historischer Gemeinwesen fruchtbringende Ergebnisse erzielen kann. Diese Beschäftigung scheint gerade dann besonders interessant, wenn man sie nicht nur auf sogenannte republikanische Autoren beschränkt. Wie zahlreiche Quellenbeispiele belegen konnten, ist auch das zuvor als Demo-

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kratie wahrgenommene Athen im ausgehenden 17. Jahrhundert ein bedeutsames historisches Vorbild für Frankreich unter Ludwig XIV. Damit hat diese Arbeit verdeutlicht, dass die konkrete historische und politische Beschäftigung mit der Antike über eine republikanische Sprache hinausging. Außerdem konnte gezeigt werden, dass die Rezeption Athens als soziales und kulturelles Modell einer Gemeinschaft und als Reformmodell der Tugend der politesse/politeness kein singuläres Phänomen war. Auch wenn Frankreich dabei die Vorreiterrolle für die Rezeptionsveränderung gegenüber der politischinstitutionellen Lesart Athens einnahm, wurde Athen in England gleichermaßen als soziales, kulturelles Ideal und als Tugendmodell einer polis rezipiert. Der länderübergreifende Rekurs auf die polis Athen kann somit als eigene politische Sprache sozialer Aufsteiger gedeutet werden, in der nicht das politische Regime, sondern die Sozialstruktur der Gemeinschaft verändert werden sollte. Mit dem Verweis auf die polis Athen sollte soziale Mobilität für tugendhafte, strebsame, gebildete Individuen gefördert werden. Diese für eine polis nützlichen Tugenden lassen sich im Begriff der politesse/politeness fassen. Man kann deshalb, gerade auch in Abgrenzung zu einem ancient oder classical republicanism, von einem ancient polisism sprechen.

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Gedruckte Quellen 

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Preacher Is not Heard by any Two of his Auditors. What we Call Life, is Natural Death. Content is the Greatest Misery. He is the Happiest Man Who has Neither Mony Nor Friend. Fruition’s Nothing, or a Paradox Proving There’s no Pleasure in Copulation. To Imprison a Debtor is to Set him at Liberty. Green Come from the Dead, or no Man Lives but He that Is Hang’d. The Virgin-Paradox, or a Young Lady May Love and Hate the Same Person at the Same Time. The Loving Shrew, or the Kindest Women Are the Most Cruel. And so on, to the Defence of 2.000 Paradoxes (or Pleasant Theses) Which Seem Strange, and Contrary to the Common Opinion. With Improvements from the Honourable Mr. Boyle, Lock, Norris Collier, Cowley, Dryden, Garth, Addison, and Other Illustrious Wit. By a member of the Athenian Society. London 1707. Dunton, John: Athenianism: or, the New Projects of Mr. John Dunton, Author of the Essay Entitl’d, The Hazard of a Death-Bed-Repentance Being, Six Hundred Distinct Treatises (In Prose and Verse) Written with his Own Hand; and Is an Entire Collection of all His Writings, Both in Manuscript, and such as Were Formerly Printed. To Which Is Added, Dunton’s Farewel to Printing. In Some Serious Thoughts on those Words of Solomon, of Making Many Books there Is no End, and muc[h] Study Is a Weariness of the Flesh. Vol. I. With the Author’s Effigies, to Distinguish the Original and True Copies from such as Are False and Imperfect. Take Care also of Being Cheated by Wooden Cuts the Right Is that Which Is Drawn and ’grav’d by then Two Celebrated Artists, Knight and Vander Gucht. To this Work Is Prefix’d an Heroick Poem upon Dunton’s Projects, Written by the Athenian Society; with an Alphabetical Table of the Several Projects, Questions, Novelties, Poems and Characters Inserted in this Volume[.] London 1710. Dunton, John: Whigg Loyalty, or an Humble Address to Her Majesty. By Mr. John Dunton, Author of the Court-Spy. In Which He Offers to Appear and Prove all His Discoveries, and Several Others of Great Moment, to the Queen and Kingdom, if Her Majesty Will be Pleased to Grant Her Royal Protection to Himself and Witnesses. London 1714. Elyot, Thomas: Boke Named the Governor, Dev. by Thomas Elyot Knight. London 1531. Emmius, Ubbo: Græcorum Res Pvblicae. 2 Bde., Bd. 1: Status Reipublicæ duarum civitatum Atticae & Laconicæ succincta delineatio. Lugdunum Batavorum 1632. Erasmus, Desiderius: Mōrias enkōmion. Libellus vere aureus, nec minus eruditus, & salutaris, q[uam] festiuus, nuper ex ip[s]ius autoris archetypis dilige[n]tissime restitutus. Strasburgensis 1514. Erasmus, Desiderius: De civilitate morum puerilium per Des. Erasmum Roterodamum libellus, ab autore recognitus. Basilia 1530. Erasmus, Desiderius: La civilité honneste pour l’Institution des enfans. En laquelle est mis au commencement la maniere d’apprendre à bien lire, prononcer, & escrire. Paris 1583. Erasmus, Desiderius: Declamatio de pueris statim ac liberaliter instituendis. Hrsg. von Jean-Claude Margolin. Genava 1966. Faret, Nicolas: L’honneste-homme, ou l’art de plaire à la court. Paris 1630. Fénélon, François de Salignac de la Mothe: Dialogues sur l’éloquence en général et sur celle de la chaire en particulier, avec une lettre écrite à l’Académie françoise. Paris 1718. Filmer, Robert: Observations Concerning the Originall of Government, Upon Mr Hobs Leviathan, Mr Milton against Salmasius, H. Grotius De Jure Belli. In: Ders.: Patriarcha and Other Writings Hrsg. von John P. Sommerville. Cambridge [u.a.] 2006. S. 184–234. Filmer, Robert: Observations upon Aristotles Politiques, Touching Forms of Government, Together with Directions for Obedience to Governours in Dangerous and Doubtfull Times.

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Manuskripte 

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Manuskripte PRO 30/24/27/13

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Abkürzungsverzeichnis BnF: Bibliothèque national de France PMLA : Publications of the Modern Language Association of America PRO: Public Record Office

Personenregister Ablancourt, Nicolas Perrot d’ 120, 185 Addison, Joseph 262, 264, 268, 304, 305, 349, 370 Aeschines 79 Alicarnas, Denis d’ 36 Amyot, Jacques 38, 354 Apollo 58, 132, 269, 279 Argiropulo, Giovanni 27 Aristides, Aelius 26, 40, 43, 93, 96 Aristophanes 75, 313 Aristoteles 8, 9, 24–27, 30, 36, 37, 40, 41, 66, 85–91, 95, 96, 97, 100, 101, 108, 139, 176, 185, 205, 346 Arminius, Jacobus 84 Athenaios 38, 45 Aubriet, Claude 157 Babin, Jacques-Paul 150–152, 346, 362 Bacon, Francis 138, 139, 141, 146, 346, 366, 367, 369, 370 Balzac, Jean-Louis Guez de 118, 120, 346 Baudoin, Jean 119, 120 Bell, Andrew 267, 311 Bellegarde, Jean-Baptiste Morvan de 187, 192, 193, 210, 219, 255, 339, 342, 346 Bernard, Jean Baptise 133, 134, 136, 162, 218, 247, 248, 253, 254, 334, 341, 346, 350, 352, 357, 367, 370 Bodin, Jean 3, 15, 16, 35–48, 63, 70, 74, 75, 92, 93, 96, 109, 115, 128, 129, 255, 329, 330, 331, 333, 346, 362–365, 367 Bogan, Zachary 71, 73, 369 Boileau, Nicolas 128, 133 Bossuet, Jean-Bénigne 206 Bouhours, Dominique 203 Bourbon d. J, Nicolas 119, 202, 206, 211 Boxhorn, Marcus Zuerius 62, 347 Bramhall, John 84, 351 Bruni, Leonardo 26, 27, 30, 168, 347, 360 Brutus 112 Budé, Guillaume 39, 44, 221, 347, 363, 370 Calviac, Claude Hours de 177 Carrey, Jacques 150, 359

Castiglione, Baldassare 126, 163–165, 167, 168, 171, 172, 336, 337, 347, 361, 370, 372 Causabon, Méric 139, 347 Cavendish, Charles 89 Chalcondylas, Demetrius 65 Chandler, Richard 148, 320, 347 Cicero 8, 36, 85, 86, 90, 91, 108, 123, 137, 154, 160, 172, 230, 308, 317 Coke, Edward 77 Colbert, Jean-Baptiste 127, 207, 246, 253 Colletet, Guillaume 124–127 Colonna, Vittoria 164 Conrart, Valentin 118–120, 122 Constant, Benjamin 1, 2, 5, 7, 247, 327, 328, 362 Constantine, George 147–150, 153, 154, 156–158, 262, 264, 320, 323, 362 Contarini, Gasparo 36, 56, 347 Cooke, Thomas 306–308, 347, 366 Corneille, Pierre 132, 180, 210 Courtin, Antoine de 179, 180, 347 Cromwell, Oliver 98, 104, 106, 110, 112, 114, 116, 332, 333, 357 Cropley, John 297 Dacier, André und Anne 129, 133, 201, 219–222, 230, 347, 362, 364, 365 Dartiquenave, Charles 309 Davis, John 77, 78, 151, 152, 259, 347, 362 Defoe, Daniel 262, 268, 301 Demetrios 40 Demosthenes 38, 40, 75, 88, 123, 130, 249 Descartes, René 120, 240 Diodorus 57 Dion 112 Dodsley, Robert 308–310, 347, 348, 371 Douglas, James 261 Dreux, Robert de 151, 348, 369 Dunton, John 23, 260, 261, 265–272, 274, 276, 277, 279, 323, 347–349, 361 Elyot, Thomas 67, 172, 349, 366 Elzevier (Haus) 56, 57, 59, 73, 115

Personenregister 

Emmius, Ubbo 57, 59, 60, 349 Ephialtes 43 Erasmus 66, 143, 176–178, 184, 337, 349 Etienne, Henri 186 Euripides 49, 201 Evelyn, John 302, 362 Faret, Nicolas 165, 166, 168–171, 178, 337, 349 Filmer, Robert 94–97, 349, 371 Finch, John 149 Fletcher, Andrew 263 Floyd, Thomas 68, 69, 350, 370 Fontenelle, Bernard le Bovier de 133–135, 140, 146, 158, 207, 334, 335, 350 Fouquet, Nicolas 202 Fourmont, Michel 148, 350 Furetière, Antoine 176, 186, 191, 338, 350 Garzoni, Tomaso 167 Gedoyn, Nicolas 231, 232, 350 Giannottis, Donato 56 Gildon, Charles 267, 270, 271, 274–282, 324, 350, 359 Girard, Gabriel 160, 182, 350 Girardon, François 132 Giraud, Jean 149 Glanvill, Joseph 139, 350 Goulu, Jean 124 Gracián, Baltasar 203, 350 Guérard, Nicolas 214–216, 359 Guiccardini, Francesco 100 Guillet de Saint-George, George 15, 72, 153–156, 336, 351, 356, 372 Gundelsheimer, Andreas 157 Guyon, Louis 165, 351 Halley, Edmund 261 Hall, John 98, 101, 351 Harpokrations 40 Harrington, James 98, 105–110, 114, 231, 297, 332, 351, 362, 363, 365, 369, 370 Heinrich VIII. von England 67, 145, 171 Henri II de Bourbon, prince de Condé 202 Herodot 30, 57, 87, 123, 158 Hesiod 308

 375

Hobbes, Thomas 3, 21, 46, 84–97, 99, 101, 108, 109, 114–116, 140, 285, 286, 331–333, 351, 363, 365, 368, 371 Hoby, Thomas 165, 365 Homer 2, 28, 88, 123, 126, 129, 131, 141, 201, 316, 320, 358 Hotman, François 78 Houghton, John 259, 365 Hove, Frederik Hendrik van 281, 282, 359 Isokrates 24, 123 Jacourt, Louis de 183, 184, 352 Jakob II. von England 202, 302, 303 Jakob I. von England 69, 77 Johnson, Samuel 263 Karl I. von England 70, 85, 99, 103, 106 Karl V. (Habsburg) 145 Kleisthenes 40, 43 Kodrus 96 La Bruyère, Jean de 3, 7, 195–199, 201, 205–214, 216–219, 222, 223, 227, 230, 237, 252, 283, 284, 286, 289, 293, 294, 296, 299, 300, 325, 340, 341, 343, 352, 360, 368, 372 La Court, Johan de und Pieter de 59–63, 330, 352 La Motte, Antoine Houdar de 133, 219, 352 La Ramée, Pierre 129 La Rochefoucauld, François de 203, 212, 368 La Salle, Jean-Baptiste de 181, 182, 352 Laud, William 85 Lebrun, Charles 132 Le Cat, Claude-Nicolas 238–241, 352, 372 Le Roy, Louis 41, 129, 352 Lescaille, Jacob 57, 58, 63, 330, 352 Lichfield, Leonard 81, 370 Linacre, Thomas 65, 66, 368 Livius 30, 31, 63, 87, 91, 100 Longepierre, Hilaire Bernard de Requeleyne, Baron de 136–138, 155, 158, 162, 352 Ludwig XIII. von Frankreich 117, 118, 120, 200 Ludwig XIV. von Frankreich 117, 127, 132, 133, 135, 136, 149, 158, 162, 200, 203, 206, 211, 218, 234, 255, 304, 334, 335, 345

376 

 Personenregister

Ludwig XV. von Frankreich 234, 240 Lukian von Samosata 133 Luzian 160 Lykurg 31, 69, 112 Lysander 81 Machiavelli, Niccolò 2, 3, 7, 29–36, 40, 45–47, 63, 75, 91, 99, 100, 104, 107, 116, 164, 327, 329, 333, 352, 367, 368, 370 Magni, Cornelio 149 Malherbe, François de 117, 119, 120, 139, 367 Manutius, Aldus 65 Maria II. Königin von England 273 Marivaux, Pierre Carlet de 194, 352 Mazarin, Jules 148, 202, 203 Medici, Lorenzo de’ und Pietro de’ 27–29 Mercier, Louis-Sébastien 252, 253, 353 Méré, Antoine Gombauld de 124, 203, 350 Mersenne, Marin 89 Meurs, Jan van 53–57, 63, 330, 333, 353 Michel-Angelo 132 Milton, John 95, 97–99, 101, 114, 115, 349, 353, 372 Moerbeke, Wilhelm von 25 Molière, alias Jean-Baptise Poquelin 131, 180, 191, 192, 196, 353 Montagu, Edward Wortley 325, 353 Montaigne, Michel de 129, 160, 353 Moore, Edward 311, 362 More, Thomas 36, 65, 66, 353 Motteux, Peter Anthony 267, 278, 350, 359 Moyle, Walter 262, 263, 353, 358 Nedham, Marchamont 72, 97–105, 110, 353, 354, 370, 372 Neville, Henry 98, 262–264, 354 Newton, Isaac 261 Nointel, Charles-François Olier, Marquis de 149, 150, 335, 359 Norris, John 267, 268, 349, 360 Oranien, Moritz von 53, 85 Oresme, Nicolas d’ 41, 176 Osborne, Francis 98, 354 Patru, Olivier 120 Pausanias 38, 87, 152, 158

Peisistratos 32, 33, 34, 55 Pelham-Holles, Thomas, Duke von Newcastle upon Tyne und erster Duke von Newcastle under Lyme 312 Perikles 24, 40, 43–45, 50, 151, 244–246, 254 Perrault, Charles 7, 122, 124, 128, 130–133, 140, 158, 334, 354 Phyllarque 124, 355 Pitt, William 325 Platon 24, 26, 36, 41, 44, 130, 200, 201, 225, 263, 347, 350, 352, 354 Plutarch 24, 30, 38, 40, 43, 111, 316, 354 Poliziano, Angelo 28, 65 Polybios 30, 31, 34, 36, 40, 79, 86, 87, 91 Ponet, John 67, 68, 354 Pope, Alexander 307 Postel, Guillaume 39, 40, 354, 371 Prato, Giovanni Gherardi da 27, 350 Pym, John 79 Pythodorus 69 Quintilian 230 Quirini, Lauro 27, 28, 355, 370 Rabelais, François 160 Ralegh, Walter 69, 108, 368 Raphael 66, 132 Revett, Nicholas 156, 320–322, 357 Richelet, Pierre 175, 176, 185, 337, 355 Richelieu, Armand-Jean du Plessis, Premier Duc de 21, 117–120, 124, 126, 148, 246, 253, 276, 324, 334, 363, 364, 367, 368 Rinuccini, Alamanno und Cino 26, 28, 355 Roe, Thomas 148 Rous d. J., Francis 20, 21, 71–77, 79–82, 87, 91, 93, 102, 105, 115, 326, 331–333, 355, 372 Rowe, Elizabeth Singer 269, 356 Saint-Evremond, Charles Marguetel de Saint-Denis de 128, 141, 202–204, 218, 222, 355, 360 Saliat, Pierre 177 Sallust 24, 30, 100, 101 Sault, Richard 267, 360 Saumaise, Claude de 101

Personenregister 

Scriverius, Petrus 53, 54, 366 Séguier, Pierre 127 Seneca 85 Seyssel, Claude de 121 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Third Earl of 17, 18, 22, 23, 262, 266, 283–301, 303, 304, 308, 314, 315, 319, 322–325, 339, 342, 343, 348, 355, 356, 360, 366, 367, 371 Sheridan, Thomas 314–320, 322, 323, 325, 343, 356, 371 Siberch, John 65 Sloane, Hans 261 Smith, Thomas 68, 189, 266, 283, 296, 356, 371 Sokrates 66, 226 Solon 25, 26, 31, 40, 42, 55, 102, 104, 107, 111, 112, 116, 332, 333 Sophokles (Militärführer) 69 Spon, Jacob 5, 147, 149, 150–157, 162, 335, 336, 346, 356, 358 Sprat, Thomas 139, 140, 356 Steele, Richard 263, 264, 283, 300, 304 St. John, Henry, First Viscount of Bolingbroke 308 Strabo 87, 158 Streater, John 98, 110–113, 356, 357, 365 Stuart, James 156, 260, 297, 320–322, 357, 361 Stubbe, Henry 140, 357 Stukeley, William 261 Swift, Jonathan 72, 267, 307, 323, 357, 372 Tacitus 30, 100, 123, 160 Tate, Nahum 267, 280, 350, 359

 377

Temple, William 140–145, 252, 334, 357 Theseus 49, 55, 353 Thukydides 24, 28, 30, 38, 49–51, 57, 59, 88, 160, 251 Thurloe, John 101 Thysius, Antonius 62, 357 Tindal, Matthew 262, 263 Toland, John 263, 298 Tournefort, Joseph Pitton de 148, 149, 157, 158, 357 Trenchard, John 262, 357 Vernon, Francis 153, 356 Vettori, Francesco 2, 29 Vialart, Charles 123, 357 Vondel, Joost van den 58, 63, 330, 357 Walpole, Robert, First Earl of Oxford 308, 340, 369 Wapy, Jean 123, 124, 357 Wesley, Charles and John and Samuel 266, 273, 369 Wheler, George 5, 147, 149–154, 156, 157, 335, 336, 348, 356, 358 Wilhelm III. von England 202, 203, 323 Winckelmann, Joachim 4, 358 Wither, George 98, 358 Wood, Robert 320, 358 Wotton, William 145, 146, 335, 358 Xenophon 1, 26, 38, 44, 45, 57, 79, 96, 108, 225, 263, 313, 358