Platons Gesetze: Die Erziehung zum Staate [Reprint 2021 ed.]
 9783112600221, 9783112600214

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C A R L

V E R I N G

PLATONS GESETZE Die Erziehung zum Staate

1926 VERLAG

E N G L E R T F R A N K F U R T

UND AM

S C H L O S S E R MAIN

Copyright 1926 by Englert und Schlosser, Frankfurt am Main.

INHALTSVERZEICHNIS Einleitung .'. .'. .'. .". .'. .'. E R S T E S BUCH

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Zwecke und Aufgaben der Gesetzgebung. Die Personen des ¡Dialoges. Göttliche und menschliche Gesetzgeber. — Die sittliche Vollendung als Ziel der Gesetzgebung. — Vom Wesen der Tapferkeit. (Kap. 1—9). — Die Methode, Gesetze aufzufinden. Darstellung der Methode an Beispielen: Rausch und Gelage, F u r c h t vor Gefahr und Furcht vor Schande. Die Erziehung zur Selbstbeherrschung. (Kap. 10—16).

Z W E I T E S BUCH

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Apollon und D i o n y s o s als Erzieher. Die Anfänge der Kunst: Rhythmus und Harmonie. Gesetzliche und regellose Kunst. Die hieratische Kunst der Aegypter. (Kap. 1—3). Das Gesetz und die Lust in Kunst und Leben. (Kap. 4—8). Die gesetzmäßige und die reizvolle Kunst; Einheit von Wort, Ton, Rhythmus, Gebärde (Kap. 9—11). — Der „dionysische" Chor der Männer. (Kap. 8, 9). — Dessen Trinkgelage. (Kap. 12). — Die dionysische und die apollinische Kunst. (Kap. 13, 14). — Die Mäßigkeitsgesetze der Karthager. (Kap. 14).

DRITTES BUCH

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Die n a t ü r l i c h e E n t w i c k l u n g s g e s c h i c h t e der Staatsverfassungen. Piatons geologische Katastrophentheorie. (Kap. 1). — Die Urzustände der menschlichen Gesellschaft, die patriarchalische Verfassung. (Kap. 2, 3). — Städtegründungen und geschriebene Verfassungen. Die dorischen Staaten. (Kap. 4, 5). — Die Ursachen des Sturzes der Monarchie. (Kap. 6—11). — Von der Teilung der Gewalten. (Kap. 11). — Die persische Monarchie und die attische Demokratie: Autorität urod Freiheit, Despotie und Gesetzlosigkeit. (Kap. 12—15). Der Verfall der Kunst als Quell der Gesetzlosigkeit. (Kap. 15, 16). — Der Piain zur Gründung einer kretischen Kolonie und zum Entwurf eines Verfassungswerkes f ü r die Auswanderer. (Kap. 16).

V I E R T E S BUCH

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Seile 44

Die G r u n d l a g e n der n e u e n V e r f a s s u n g . Lage und Landschaft der Kolonie. Agrarstaat und' Handelsstaat, Seeschiffahrt und Sittenverderbnis. (Kap. 1, 2). — Von den Hemmnissen der Gesetzgebung. Die Möglichkeiten einer durchgreifenden Gesetzgebung im Tyrannenstaate. (Kap. 3, 4). — Echte Verfassungen und Scheinverfassungen, Recht und Gewalt. (Kap. 5—7). — W a h r e und falsche Fröm-

migkeit, kindliche Pietät. (Kap. 8, 9). — Von der Gesetzestechnik: Trennung der Gesetzesgebote und der Gesetzesmotive nach dem Muster der medizinischen Methode. (Athenische Aerzte). Eine Anwendung dieses Prinzips auf das Eherecht. (Kap. 9—12).

FÜNFTES BUCH

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E th ik u n d Sozialpolitik. Ethische Gebote. (Kap. 1—6). — Sozialpolitische Grundsätze. (Kap. 7—16). — Reinigung des Staates. (Kap. 7). — Die soziale Frage. Die Verteilung des Bodens. (Kap. 8). — Die geistliche Gesetzgebung. (Kap. 9). — Ideale und reale Verfassungen. (Kap. 9, 10). — Fideikommisse, Stabilität der Einwohnerzahl. (Kap. 10, 11). — Verbot des gemeinen Gelderwerbes. Münzwesen. Reichtum unid Armut. (Kap. 12—13). — Vermögensklassen, Existenzminimum und Höchstgrenzen des Besitzes. (Kap. 13). — Die Realisierung eines Verfassungsideales. (Kap. 15). — Einführung einer mathematischen Maß- und Gewichtsordnung. Boden und Klima. (Kap. 16).

SECHSTES BUCH

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Die O r g a n i s a t i o n der B e h ö r d e n . Uebergangsbestimmungen für die Zeit der Gründung der Kolonie. Die Hüter der Gesetze. (Kap. 1—3). — Militärbehörden. (Kap. 4). — Der Rat. W a h r e und falsche Gleichheit. (Kap. 5, 6). — Priester. (Kap. 7). — Die Landpolizei. (Kap. 8, 9). — Stadt- und Marktpolizei. (Kap. 10). — Behörden für Musik und Gymnastik. (Kap. 11). — Der Leiter des Erziehungswesens. (Kap. 12). — Die Gerichtsverfassung. (Kap. 13). — Vom Ausbau und Abschluß der Gesetzgebung. (Kap. 14, 15). — Die Phvlen. Ehegesetze. Gesetze der Rassenzüchtung. Mitgiften. (Kap. 15—17). — Vermählungsfeiern. (Kap. 18). — Sklaven. (Kap. 19). — Vom Städtebau. (Kap. 20). — Das Leben der Frauen. (Kap. 21). — Wandlungen der Kultur. Von den Begierden. (Kap. 22). — Ein Aufsiclitsamt über die Ehen. Standesämter und Altersgrenzen. (Kap. 23).

SIEBENTES BUCH

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Die W e g e zur k ö r p e r l i c h e n und g e i s t i g e n Kultur. Sitte und Gesetz. Zur Säuglingspflege. Der Beginn der Erziehung. (Kap. 1—4). — Der Beginn der Schulzeit. Tanz und Ringkampf. (Kap. 5, 6). — Das konservative Prinzip: „Quieta non movere". Zensur über die Werke der Kunst. (Kap. 7—10). — Die Gesetze des Lebens; Gottheit und Menschheit. (Kap. 10). — Allgemeine Schulpflicht. Gleichmäßige Ausbildung beider Geschlechter. Die Emanzipation der Frau. (Kap. 11, 12). — Die Ordnung des täglichen 'Lebens. (Kap, 13). — Die Erziehung der Jugend. Unterricht in den Elementarfächern und in der Musik. Dichtungen als Bildungsmittel. Gesetzgeber und Dichter. (Kap. 14—16). — Die Gymnastik. Die militärische Ausbildung der Frau. (Kap. 17). — Ringkampf und Tanz. Das Wesen des Tanzes. (Kap. 17, 18). — Die Komödie. Die Kunst des Gesetzgebers und die Kunst des Tragikers. (Kap. 19). — Mathematik und Astronomie. (Kap. 20—22). — Die Jagd. (Kap. 23).

ACHTES BUCH

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Der w e h r h a f t e Agrarstaat. Vom Kultus der Götter. (Kap. 1). — Allgemeine Wehrpflicht f ü r Männer und Frauen. Militärische Uebungen. (Kap. 2). — Kritik des pazifistischen Staates. (Kap. 3).—- Die Gymnastik als Vorschule zum Kriege: Wettläufe, Turniere, Pferderennen. (Kap. 4). — Exkurs über die platonische Liebe. (Kap. 5—8). — Die Agrargesetzgebung. Nachbarrecht, Wasserrecht, Obst- und Weinlese. (Kap. 9—11). — Die Gewerbeordnung, Import und Export. (Kap. 12). — Die Verteilung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse. Das Landgebiet. (Kap. 13). — Märkte. Metöken. (Kap. 14).

NEUNTES BUCH .\

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Strafgesetze. Die Kapitalverbrechen: Tempelraub, Hochverrat, Landesverrat. (Kap. 1—3). — Strafarten. Gerichtsverhandlungen. (Kap. 2). — Diebstähle. (Kap. 3). — Der ideale Gesetzgeber. (Kap. 4, 5). — Schuld und Strafe. (Kap. 5, 6). — Die Motive strafbarer Handlungen. Affekt und Ueberlegung. Strafausschließungsgründe. Reinigung von Blutschuld. (Kap. 7, 8). — Totschlag. (Kap. 8, 9). — Mord. (Kap. 10—12). — Selbstmord. Tötungen durch Tiere oder leblose Gegenstände. Notwehr. (Kap. 12). — Bemerkungen zur Gesetzestechnik. (Kap. 13, 14). — Mordversuche. (Kap. 14). — Körperverletzung. (Kap. 15). — Tätliche Beleidigungen. (Kap. 16, 17).

ZEHNTES BUCH

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Staat und Religion. Vom Unglauben. (Kap. 1—3). — Der Materialismus. (Kap. 4). — Der Beweis vom Dasein der Götter. Der Primat der Seele vor dem Leibe. (Kap. 5—9). — Theorie der Bewegung. (Kap. 6, 7). — Namen und Erklärungsgründe. (Kap. 7). — Gegen die Zweifler: Die göttliche Vorsehung. (Kap. 10—12); die göttliche Gerechtigkeit. (Kap. 13, 14). — Gesetze gegen Gottlosigkeit und -Aberglauben. (Kap. 15, 16).

ELFTES BUCH

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Das Privatrecht. Schatzgräberei, Funde, Eigentumsklagen. (Kap. 1). — Sklaven und Freigelassene. Marktrecht. Unklagbare Ansprüche. Haftung für heimliche Mängel. (Kap. 2). — Händler und Gastwirte. (Kap. 3, 4). — Handwerker. (Kap. 5). — Testamente und Intestaterbfolge. Erbtöchler. (Kap. 6, 7). — Waisen. (Kap. 8). — Ausstoßungen aus der Familie. Entmiindigungsklagen. (Kap. 9). — Ehescheidungen. Witwer und Witwen. Sklavenkinder. (Kap. 10). — Pflichten gegen Eltern und Großeltern. (Kap. 11). — Giftmischerei und Zauberei. Diebstahl. (Kap. 12). — Geisteskranke. Erregung öffentlichen Aergernisses. Satirische Dichtungen. (Kap. 13). — Notleidende und Bettler. Haftung f ü r Sklaven und Haustiere. Zeugnispflicht. (Kap. 14). — Mißibräuche der Anwaltschalt. (Kap. 15).

Z W Ö L F T E S BUCH

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Der A b s c h l u ß des V e r f a s s u n g s w e r k e s . Vergehen gegen den Staat. (Kap. 1). — Kriegsgesetze, Strafen und Auszeichnungen. (Kap. 2). — Die Behörde der Rechenschaftsprüfer. (Kap. 3). — Verbot des Parteieides im Prozeß. Zwangsmittel gegen ungehorsame Bürger. (Kap. 4). — Auslandsreisen und Fremdenverkehr. Der „nächtliche Rat". (Kap. 5, 6). — Verschiedene Einzelgesetze. Steuern. Weihgeschenke. (Kap. 7). — Abschluß der Gerichtsverfassung. Vernunftrecht und Gewohnheitsrecht. Zwangsvollstreckung. (Kap. 8). — Leichenbegängnisse. (Kap. 9). — Die Aufgaben des nächtlichen Rates. Von den höchsten Zielen des Staates. Die Idee der Tugend. (Die Idee des Guten.) Glau'be und Wissen. (Kap. 10—14).

Epinomis

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Anmerkungen .'. .'. .'. .'. .'. .'. .'. Personenregister Sachregister

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Die Überschriften der einzelnen Bücher sind im Urtext nicht enthalten. Das Leben Piatons ist in dem Bande PLATO N S

S T A A T

dargestellt worden.

EINLEITUNG Am Schlüsse des Phaedros deutet Piaton an, warum Sokrates nicht durch Schriften und Bücher, sondern ausschließlich durch belehrende Gespräche gewirkt hat. Sokrates erläutert dort seinem jungen Zuhörer: Sobald große Gedanken in die Schrift gebannt sind, ist es ihr trauriges Los, eine ewige Irrfahrt anzutreten. Unverstanden und geschmäht wandern sie dahin, immerfort flehen sie nach dem Beistande ihres Vaters. Denn sie sind stumm und vermögen sich selbst nicht zu verteidigen. Wie anders das lebendige Wort! Es fällt auf den fruchtbaren Boden empfänglicher Seelen, und die dort aufkeimende Saat wird, immer wieder neuen Samen zeugend', auf alle Zeiten fortwirken. — Aehnliche Betrachtungen mögen Piaton bestimmt haben, sein letztes Alterswerk, den großen Dialog über die „Gesetze", nicht mehr zu veröffentlichen; erst nach seinem Tode ist das Buch durch seinen Schüler und Vorleser Philippos herausgegeben worden. Und wirklich ist kein Hauptwerk Piatons so lange mißachtet worden, wie das Vermächtnis des Meisters. Dies ging so weit, daß der berühmte Zeller, dessen Handbuch über die Philosophie der Griechen noch heute als klassisch gilt, die Gesetze den unechten Schriften Piatons zuzurechnen wagte. Dieser Mißgriff ist zwar längst abgetan, aber selbst der bedeutendste Piatonforscher der Gegenwart, v. Wilamowitz-Moellendorff, meint, daß das schwere Buch nicht viele Seiten enthalte, die dem Leser einen ungetrübten Genuß gewähren möchten, es sei eine saure Mühe, sich in diesem Labyrinth zurechtzufinden. Indessen liegen die Ursachen der Schwierigkeiten fast ausschließlich in der Form des Werkes. Wie der alte Goethe hatte sich auch der mächtige Sprachbildner Piaton in dem letzten Jahrzehnt seines Lebens einen umständlichen, höchst kunstvollen, nach unserm Empfinden vielleicht überkünstelten Altersstil geschaffen. Diese Sprache der Weisheit liest sich freilich ebensowenig leicht, wie Goethes letzte Prosa. Eine zweite, nicht geringere Schwierigkeit geht aus dem aphoristischen Aufbau des Inhalts hervor. Kaum eines der Probleme des Buches wird in einem Zuge abgehandelt, die Darstellung bricht immer wieder ab, um einem anderen Gedankengange Platz zu machen und an einer späteren Stelle wieder aufgenommen zu werden. Der Plan, nach welchem dies geschieht, ist wohl kaum ganz wiederherzustellen, nur soviel ist klar, daß dem Dialoge der Charakter eines sich frei entwickelnden, improvisierten Gespräches gewahrt werden sollte. Auf eine übersichtliche, streng systematische Gliederung des Stoffes hat Piaton hier völlig verzichtet, er wollte nicht ein trockenes Lehrbuch schreiben, sondern in einem lebendigen Abbilde der freien Rede ein Kunstwerk schaffen. In der vorliegenden Arbeit habe ich versucht, diese beiden Hauptschwierig1

Piatons

Gesetze

Einleitung

keiten durch eine freie, zusammenfassende jedoch erschöpfende Wiedergabe der Gedankengänge des Dialoges zu überwinden. Wenn der Altersstil Piatons, wie v. Wilamowitz (Piaton I, S. 700) bemerkt, jeder Uebersetzung spottet, so ist es dennoch möglich, den Kern aus der harten Schale loszulösen, den Inhalt des Werkes im genauen Anschluß an den Verlauf der Gespräche deutlich und verständlich darzustellen. Allerdings ist es notwendig, die oft recht verwickelten Gedanken klar und scharf herauszuarbeiten. Was der Text in Fragen und Antworten, oft sehr umständlich und ermüdend, entwickelt, wird unter Durchbrechung der dialogischen Form in zusammenhängender Rede vorgetragen. Hierbei fällt von selbst alles Beiwerk fort, das dem Leser des Originals die Uebersicht und das Verständnis so außerordentlich erschwert. Ferner werden dadurch die aus der aphoristischen Form hervorgehenden Uebelstände zum größten Teile aufgehoben. J e schärfer der Inhalt eines jeden Abschnittes konzentriert wird, desto genauer wird er sich dem Gedächtnis einprägen, desto weniger wird der Leser den Faden verlieren, unter dessen Leitung sich die Teile zu der organischen Einheit des Ganzen zusammenschließen. So wird man, wie ich hoffe, aus dem „Labyrinth" ein planvolles Meisterwerk reifster Weltweisheit entstehen sehen. Denn es ist kein Zweifel, daß uns Piaton in seinen Gesetzen eines der erhabensten Geisteswerke hinterlassen hat. Am Ende seines Erdendaseins hatte ihn das mächtige Verlangen ergriffen, sich noch einmal mit dem Leben auseinanderzusetzen, seine Ideen von Gott und Menschheit in der Gestaltung eines umfassenden Weltbildes niederzulegen. Den Grundgedanken des Dialoges spricht Piaton in einer seltsam-mystisch gefärbten Stelle des siebenten Buches (Kap. 10) aus. Sie beginnt: „Wie der Schiffsbauer vor der Kiellegung die Gestalt des werdenden Schiffes in seinem Geiste vorzeichnet, habe auch ich mancherlei Gestaltungen des Daseins und des Wesens der Menschen entworfen, ihrem Lebensschifflein gewissermaßen den Kiel legend, damit es sie sicher über das Meer des Lebens trage." Die Gesetze, nach denen Piaton forscht, sind nicht allein die öffentlich-rechtlichen Gesetze des Staates, sondern zuerst die des menschlichen Lebens, als Grundlagen einer aufs Höchste zu steigernden Kultur. Erst hieraus erwächst die politisch-juridische Gesetzgebung; sie ruht auf dem fruchtbarsten Gedanken der Rechtswissenschaft, der klaren Erkenntnis der untrennbaren Einheit von Recht und Sitte. Das ungeschriebene Gesetz der Sitte ist das feste Band des geschriebenen Rechtes, wenn sich dieser Bund löst, so stürzt das ganze Gebäude der Rechtsordnung ein, wie ein Haus mit morschgewordenen Pfeilern (VII, 4). Auch hier eilt Piaton der Wissenschaft seines Zeitalters weit voraus.

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Piatons

Gesetze

Einleitung

Piaton besaß, wie kein anderer Philosoph vor ihm und nach ihm, den untrüglich sicheren Blick für die ewigen Probleme. E r hat in den Gesetzen kaum eine große Frage behandelt, die nicht auch unsere Zeit bewegte; man muß lange suchen, bis man — etwa in den Abschnitten über die Sklaverei — auf ein Thema stößt, das als geschichtlich erledigt und damit als für uns abgetan gelten könnte. „Die Fragen, die Goethe in den Wanderjahren stellt und beantwortet, sind heute die wichtigsten, ja die eigentlichen Lebensfragen geworden", heißt es in Karl Heinemanns Goethebiographie. Auch hierin gleicht das letzte Werk Piatons der letzten Prosadichtung Goethes ebenso, wie äußerlich im Stil und in dem scheinbar kompilatorischen Aufbau. Für uns, die gewohnt sind, alles Geistige durch die gelehrte Brille anzuschauen, ist es nicht nur reizvoll, sondern auch im höchsten Grade heilsam, Piatons Spuren zu folgen. Seiner reinen, nicht durch die schwere Bürde moderner Gelehrsamkeit belasteten Weisheit enthüllt sich jedes Problem in seiner einfachen, ursprünglichen Gestalt, damit aber auch in seiner ganzen Tiefe. Freilich gilt auch für die Gesetze das Wort, das einst Goethe über Herders Ideen schrieb: „Man nimmt dies Büchlein, wie andere, für S p e i s e , da es eigentlich die S c h ü s s e l ist. Wer nichts hineinzulegen hat, findet sie leer." Es ist unmöglich, im Rahmen des Vorwortes einen auch nur flüchtigen Ueberblick über den reichen Inhalt des Dialoges zu geben; einige beliebig herausgegriffene Beispiele mögen als Andeutungen genügen. — Man würde bei einem Griechen der klassischen Zeit schwerlich ein tiefes Verständnis für soziale Fragen erwarten: dennoch war Piaton — von Solon vielleicht abgesehen — der erste Denker, der in der gerechten Verteilung des Besitzes nicht nur die dringlichste, sondern überhaupt die allererste Aufgabe des Staates erkannt hat. Solange nicht durch einen solchen Ausgleich der innere Frieden hergestellt ist, führt er im fünften Buche aus, ist alle Mühe des Gesetzgebers von vorneherein zur Unfruchtbarkeit verurteilt, denn bis dahin ruht der ganze Bau des Staates auf einem schwankenden Boden. Indessen versäumt er nicht hinzuzufügen, daß die Not weniger durch die Ungleichheit des Besitzes, als durch die Zunahme der Begehrlichkeit gesteigert wird. — Die Emanzipation der Frauen, die in der Politeia auf die Angehörigen der Aristokratie eingeschränkt blieb, wird in den Gesetzen vollständig durchgeführt. — Die Körperkultur, deren Bedeutung man heute wieder einzusehen anfängt, beginnt bei Piaton schon mit den Säuglingen und währt in beständiger Steigerung bis zum reifen Alter beider Geschlechter fort. — Was der freie Denker über Religion zu sagen hat (X. Buch), ist für unsere Zeit des tief erschütterten, nach einem neuen Halt ringenden Glaubens von unschätzbarem

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Piatons

Gesetze

Einleitung

Werte. — Es versteht sich, daß die Betrachtungen über die Kunst einen besonders breiten Raum einnehmen. Piatons Theorie der Kunst hat zwar den lebhaftesten Widerspruch herausgefordert. In dem Künstler sieht er lediglich den N a c h a h m e r d e r N a t u r , was Goethe, als echter Platoniker, dahin berichtigt, daß „die Künste nicht geradezu das nachahmen, was man mit Augen siehet, sondern auf jenes Vernünftige zurückgehen, aus welchem die Natur bestehet und wornach sie handelt." (An Zelter, 1. Sept. 1805). Man übersehe aber nicht, daß Piaton auch in den Künsten das Zeitlose, dem Wandel und Wechsel Entrückte gesucht hat. Zu seinem Ideal erhebt er deshalb die hieratische Kunst, wie er sie in Aegypten geschaut hatte. Das Wesentliche ist, daß Piaton als erster Philosoph auch das Reich des Schönen, die Aesthetik, auf feste Gesetze zu gründen bemüht war; wenn er in der Entdeckerfreude über das Ziel hinausgeschossen ist, wird ihn kein Verständiger darum schelten. Schließlich sind geniale Irrtümer immer noch fruchtbarer, als tausend billige Wahrheiten. — Daß Nietzsches Lehre von der apollinischen und dionysischen Kunst aus Piatons Gesetzen hervorgegangen ist (siehe II, 13), scheint noch nicht bekannt zu sein. — Von theoretischer Philosophie enthalten die Gesetze sehr wenig: den Aufbau seiner Philosophie hatte Piaton mit dem Timaios abgeschlossen, von dieser Höhe redet jetzt der vollendete Weltweise zu uns. — •In der Politeia hatte Piaton die Verfassung eines idealen Staates entworfen, der, wie er sagte, auf Erden wohl nirgends zu finden, vielleicht aber im Himmel als ein ewiges Vorbild aufgerichtet sei. Dagegen stellt er sich in den Gesetzen eine praktische Aufgabe: es soll einer auszusendenden Kolonie ein Gesetzbuch mitgegeben werden. Dasselbe Motiv hat Goethe in seine Wanderjahre übernommen, selbst darin ist er dem Vorbilde gefolgt, daß er dieses Ziel nicht sogleich zu Anfang des Romanes, sondern, wie Piaton, erst im Verlaufe der Erzählung hervortreten läßt. Es ist sicherlich kein zufälliges Zusammentreffen, daß die beiden großen Geistesbrüder in ihren letzten Werken um dasselbe Problem gerungen haben: in dem Neuland einer Kolonie den Grund zu einer höheren Form der menschlichen Gesellschaft zu legen. So, als Gesetzgeber höchsten Ranges, gedachten sie aus dem Leben zu scheiden, in dem Bewußtsein, daß die Spur ihrer Eidentage nicht in Aeonen untergehen werde. Nach der heute noch vorherrschenden Meinung soll Piaton zwar auf dieses hohe Ziel verzichtet haben; man behauptet, er habe das Staatsideal der Politeia preisgegeben, um sich in den Gesetzen auf den Entwurf einer unter gegebenen Verhältnissen erreichbaren Verfassung einzuschränken. Das ist Piatons Absicht sicherlich nicht gewesen. Im

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Gesetze

Einleitung

Grunde ist die Verfassung der Platonischen Kolonie ebenso ideal, das heifit: in ihren Einzelheiten ebensowenig praktisch durchführbar, wie das Verfassungsbild der Politeia. Piaton scheint es sogar geflissentlich darauf angelegt zu haben, seine Gesetze so zu formulieren, daß sie selbst ein oberflächlicher Leser nicht mit einer pragmatischen Staatsordnung verwechseln sollte. Auch in den Gesetzen zieht er durchweg nur die allerdings sehr farbenreich aufgetragenen Grundlinien eines über alles menschliche Maß gesteigerten Staatswesens. Er sagt ausdrücklich, daß sein Plan nur ein Schema, ein Vorbild sei, dem sich die Wirklichkeit soweit wie möglich anpassen möge (V, 15); ferner: daß er nicht eigentlich Gesetze — praktische Gesetze — geben, sondern M e n s c h e n e r z i e h e n w o l l e (IX, 4). Jener Irrtum beruht darauf, daß in der Politeia allein die Lebensführung der beiden oberen Stände des Staates, der Regenten und der Krieger, geordnet wird, während die Gesetze die Verfassung eines ganzen Volkes vorzeichnen. Darum mußte hier manches fallen, was dort ausschließlich auf eine fest abgeschlossene Kaste berechnet war, z. B. der in der Frauen- und Kindergemeinschaft gipfelnde Kommunismus. Dieser bleibt auch in den Gesetzen als das reinste Staatsideal theoretisch bestehen, für das Volk taugt er aber nicht, weil hier der unausrottbare Egoismus der Menschen unübersteigliche Schranken setzt (V, 10). Nur so ist die auf den ersten Blick ungeheuerlich erscheinende Forderung zu verstehen, daß die Gesetze der Kolonie nach dem Abschluß des Verfassungswerkes für alle künftigen Zeiten unabänderlich feststehen sollen. Nur im äußersten Notfalle dürfen unter Wahrung strenger Kautelen Gesetzesänderungen vorgenommen werden. Der Sinn dieses Gebotes ist, daß ein V e r f a s s u n g s i d e a l mit den zeitlosen, transzendentalen Ideen der Vernunft in Uebereinstimmung stehen und somit wie diese unwandelbar sein muß. Jene kategorische Forderung gilt also praktisch nur insoweit, als in den Platonischen Gesetzen die obersten Grundsätze des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens enthalten sind, im übrigen hat Piaton hinlänglich oft eingeschärft, daß alles Entstandene dem ewigen Wechsel unentrinnbar verfallen ist. Ein Leben in starrer Gebundenheit wäre auch dem großen Philosophen durchaus unerträglich gewesen, sein Ideal war vielmehr die Entfesselung aller Kräfte durch den freien Wettkampf. Dieser Gedanke — der Gedanke des Ag o n , wie Jakob Burckhardt sagt*) — durchzieht das ganze Werk: das ganze Leben des Volkes wird zum Wettstreit um die Ehren, die dem Tüchtigen als Lohn winken. Alle gymnastischen Spiele, alle musischen Auffüh*) Siehe Burckhardts Griechische Kulturgeschichte IV S. 89 ff.

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Piatons Gesetze

Einleitung

rungen sind Wettkämpfe, dazu kommen Pferderennen, Wettläufe und ritterliche Turniere. Zum Wettstreit wird auch der Krieg: nach Beendigung eines jeden Feldzuges treten die Kriegsgefährten zusammen und verteilen unter den Tapfersten einen ersten, einen zweiten und eine Anzahl weiterer Preise in Gestalt schlichter Kränze. Die höchste Auszeichnung erringt aber nicht der Krieger, sondern der treueste Diener des Gesetzes, der im Wetteifer um die Bürgertugend den Preis gewann. Diese Sieger — Männer und Frauen — werden nach ihrem Tode durch ein feierliches Begräbnis geehrt und von den Dichtern des Staates besungen. So entrollt sich vor unseren Augen das großartige Bild eines mächtigen Ringens um die edelsten Güter; wie die Tragödie soll, nach Piatons eigenen Worten, auch seine Verfassung das Abbild des höchsten Lebens sein (VII, 19). An den Gesetzen ist das im Anfang zitierte Paradoxon des Sokrates nicht zur Wahrheit geworden, die großen Gedanken Piatons haben, allem Mißverstande zum Trotz, bis auf unsere Zeiten hin ihren Samen ausgestreut. Neuerdings hat sich auch die Einzelforschung wieder mehrfach mit dem Werke befaßt, indessen harren noch viele der fruchtbarsten Probleme ihrer Verwertung. Wenn meine Arbeit dazu beitragen sollte, weitere Anregungen zur wissenschaftlichen Durchdringung des überreichen Gedankenmaterials zu geben, würde dies mein schönster Lohn sein. Ferner wünschte ich, daß sich viele Leser entschließen möchten, nach dem Studium dieses Buches noch einmal die Wanderjahre zur Hand zu nehmen. Sie werden mit Erstaunen gewahren, wie nahe Goethes Altersweisheit an sie heranrückt, nachdem sie die Platonischen Lehren in sich aufgenommen haben.

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ERSTES

BUCH

Z w e c k e und A u f g a b e n der G e s e t z g e b u n g Der Schauplatz des Dialoges ist Kreta. Drei Greise befinden sich auf einer IWanderung zur heiligen Grotte des Zeus am kretischen Ida, in welcher der

Gott geboren und vor den Nachstellungen seines Vaters Kronos behütet worden war. Die Wanderer sind der Kreter Kleinias, der Spartaner Megillos und ein ungenannter Athener. In ihm finden wir dieselbe Idealfigur wieder, die Piaton unter dem Namen des Sokrates in den meisten seiner anderen Diat löge auftreten läßt, auch hier ist der Athener von Anfang an der geistige Leiter der Unterredungen. Indessen verbirgt sich Piaton diesmal selbst unter dieser Maske, er verrät sich durch mehrfache Hindeutungen auf seine Reisen und durch eine deutliche Anspielung auf seinen Aufenthalt am syrakusischen Tyrannenhofe. Die beiden anderen Greise sind, wie es sich im Verlaufe des Gespräches herausstellt (I, 11), ebenfalls von vornehmer Abkunft: Kleinias stammt aus dem Hause des Sehers Epimenides, der einst Athen von dem Unheil des kylonischen Fluches entsühnt hatte. Das Haus des Megillos ist von altersher mit dem Athenischen Staate selbst durch Gastfreundschaft verbunden. Der Athener beginnt den Dialog mit der Frage, ob die Grundgesetze der Kreter und Spartaner durch einen Gott oder durch Menschen gegeben worden seien. Kleinias belehrt ihn, daß die Kreter ihre Gesetze von Zeus empfangen hätten, der Gott habe sie ihnen durch seinen Sohn Minos verkünden lassen; die Spartaner verdankten ihre Gesetze dem Apollon. Die Greise beschließen, auf ihrer Wanderung Betrachtungen über die Gesetze anzustellen; hierbei wird die kretische Landschaft mit ihren hohen Cypressen, ihren schattigen Hainen und kühlen Bergwiesen durch einige sichere Striche kurz skizziert. Der Athener bittet um Auskunft über die in Kreta und Sparta üblichen gemeinschaftlichen Mahlzeiten der Männer (Syssitien), über die Sitte der gymnastischen Uebungen und die Ausbildung in den Waffen. Kleinias setzt ihm auseinander, daß die Kreter als Bewohner eines Berglandes nicht in schwerer Rüstung, sondern als Leichtbewaffnete zu kämpfen lernten und Pfeil und Bogen als Hauptwaffe führten. Die Syssitien seien eine kriegsmäßige Einrichtung, indessen habe man sie auch im Frieden beibehalten. D e n n d e r s o g e n a n n t e F r i e d e n , führt er aus, i s t n u r e i n l e e r e s W o r t , in W i r k l i c h k e i t h e r r s c h t u n t e r a l l e n S t a a t e n z u a l l e r Z e i t h e i m l i c h e r K r i e g . Darum hat der Gesetzgeber der Kreter alle Gesetze auf den Krieg abgestellt. Wohlstand und Fleiß nützen nichts, sondern werden lediglich die Beute eines Siegers, wenn der Staat nicht die Macht besitzt, sich im Kriege zu behaupten.

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Piatons Gesetze

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Erstes Buch

Den Athener erinnert dies offenbar an das Wort des Heraklit, daß der

Krieg das gemeinsame Los aller Wesen und der Streit die treibende Kraft alles Werdens sei. (Diels, Fragm. B 80). Er frägt: Jedes Gemeinwesen müßte also derart organisiert sein, daß es seinen Gegnern im Kampfe überlegen ist. Gilt dieser Satz nun allein für Staaten und Städte, oder auch für Dörfer? Gilt er ferner für Haus und Hof und sogar für den einzelnen Menschen? Kleinias bejaht diese Frage. Also, fragt der Athener weiter, muß man annehmen, daß auch der einzelne mit sich selbst im Kriege liegt? Dieser Frage erteilt Kleinias ein hohes Lob: Der Athener habe mit göttlichem Scharfsinn das Problem auf ein oberstes Prinzip {äoxtf) zurückgeführt und damit aufgehellt, daß wirklich der Krieg alles Leben beherrsche. Unbeirrt durch einen verwunderten Ausruf des Atheners fährt er fort: Sich selbst zu überwinden ist der vornehmste und herrlichste Sieg, sich selbst zu unterliegen dde schlimmste und schmählichste Niederlage. — Hiernach, folgert der Athener, müßte auch ein Haus, ein Dorf, eine Stadt in der Lage sein, mit sich selbst zu kämpfen? Allerdings! erwidert Kleinias. Vornehmlich ist dies in den Städten der Fall. Wenn dort die Besseren über die Masse der Schlechten siegen, so ist die Stadt zu preisen, im entgegengesetzten Falle ist sie zu bedauern. Der Athener bemerkt: Ob je das Schlechte stärker zu sein vermag, als das Gute, wollen wir dahingestellt sein lassen.1) Immerhin mag es vorkommen, daß die ungerechten Bürger eines Staates die wenigen gerechten durch ihre Masse überwältigen. Alsdann würde man sagen müssen, daß der Staat sich selbst unterlegen, folglich schlecht ist; wenn aber die Gerechten siegen, so würde der Staat sich selbst überwunden und sich als gut bewährt haben. — Das klinge zwar seltsam, meint Kleinias, müsse jedoch eingeräumt werden. Der entwickelt darauf durch Familie eine Reihe Fragen ungerechter den folgenden Athener Gedankengang: Wenn in einer einevon Mehrzahl Brüder mit einer Minderzahl rechtschaffener im Streit liegt, so könnte hiernach gesagt werden, daß die Familie sich selbst besiegt oder sich selbst unterliegt, je nachdem der eine oder der andere Teil die Oberhand gewinnt. Davon wollen wir aber nicht reden, weil wir ja nicht um Worte streiten, sondern uns mit Gesetzen befassen wollen. Wir wollen annehmen, daß diese Brüder vor Gericht gezogen werden, und uns die Frage vorlegen, welchen Richter wir als den besten anerkennen müßten. Würde es der Richter sein, der den Streit durch ein gerechtes, die schlechten Brüder vernichtendes Urteil entschiede, oder vielmehr ein anderer, der die Streitenden durch einen Vergleich versöhnte, und unter ihnen auf alle Zeit Eintracht und Frieden

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stiftete? Wenn wir anerkennen müssen, daß dieser Richter seine Aufgabe auf das vollkommenste gelöst haben würde, so werden wir auch einräumen, daß der Gesetzgeber seine Gesetze in erster Linie auf den inneren Frieden im Staate, nicht aber auf Kämpfe und Siege abstellen soll. Den Frieden, die Versöhnung der Parteien, wird er bei weitem der Ruhe vorziehen, die dem Siege der einen und der Vernichtung der anderen Partei folgt. Dann werden die ausgesöhnten Parteien einträchtig und geschlossen dem äußeren Feinde gegenüberstehen. Nicht Krieg und Hader ist das Beste, sondern Frieden und Eintracht. Ebensowenig wie man einen kranken Körper, der durch eine Kur gesundet, für besser halten wird, als einen kerngesunden Leib, darf der Gesetzgeber sein Hauptaugenmerk dem krankhaften Zustande des Krieges widmen; er soll eher seine kriegerischen Anordnungen auf den Frieden, als seine Friedensgesetze auf den Krieg einrichten. C Das klingt recht wohl, meint Kleinias, warum haben denn aber unsere J göttlichen Gesetzgeber alle Sorgfalt auf den Krieg verwandt? — Lasse uns darüber nicht streiten, erwidert der Athener, sondern lasse uns ihren Gedanken folgen. Er zitiert einen Vers des Tyrtaios, worin der Dichter erklärt, er achte niemanden, der nicht tapfer im Kriege sei. Das räume er ein, gesetzt daß Tyrtaios zwei Arten des Krieges unterscheide: innere Kämpfe und den Kampf gegen einen äußeren Feind. Von ihnen ist der erste der bei weitem schlimmere, es scheint indessen, daß Tyrtaios allein den letzten im Auge hat. Dagegen erklärt der Dichter Theognis den Mann für den wertvollsten, der in den inneren Kämpfen des Staates seine Treue und Festigkeit bewährt. Theognis hat Recht, denn Gerechtigkeit, Besonnenheit, Einsicht im Bunde mit Tapferkeit sind mehr wert, als die bloße Tapferkeit allein. Um in inneren Wirren festzustehen, bedarf es eines ganzen Mannes und jeglicher Tugend, Tapferkeit in der Schlacht zeigen auch gemeine und rohe Söldner. Jeder Gesetzgeber wird aber einzig die höchste Tugend anstreben, und diese ist nach dem Worte des Theognis die Treue des gerechten Mannes in gefahrvollen und schlimmen Zeiten. Jene Tapferkeit, die Tyrtaios preist, steht im Range erst an vierter Stelle. Damit, versetzt Kleinias, würden wir also unsern Gesetzgebern den letzten Rang zuteilen? Keineswegs! erklärt der Athener, vielmehr würden wir uns selbst herabsetzen, wenn wir annähmen, daß Gesetzgeber wie Minos und Lykurgos ihr Augenmerk nur auf den Krieg gerichtet hätten. Es ziemt sich nicht, von einer göttlichen Verfassung so zu reden, als ob sie nur einen Teil der Tugend pflegen wolle, anstatt die ganze Tugend zu erfassen. Wir müssen die I d e e n d e r G e s e t z e aufsuchen, nicht, wie es heutzutage

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Gesetze

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geschieht, einzelne Materien der Gesetzgebung herausgreifen, um sie für sich allein zu betrachten. Deshalb war es richtig, daß wir mit der Erwähnung der Tugend begonnen haben, nicht richtig aber, daß wir eine einzelne Tugend nannten, zumal eine solche, die nur einen geringfügigen Teil der ganzen Tugend ausmacht. — Man sagt nicht ohne Grund, daß die Gesetze der Kreter unter den Griechen ein hohes Ansehen genießen, denn sie beglücken mit hohen Gütern, menschlichen und göttlichen. Die göttlichen Güter sind die Quelle der menschlichen; der Staat, der jene besitzt, wird sich deshalb auch dieser erfreuen, alle andern werden beide entbehren. Die Ziele der untergeordneten menschlichen Gesetzgebung sind Gesundheit, Schönheit, Kraft, endlich der Reichtum, gesetzt, daß er nicht blind ist, sondern einer vernünftigen Einsicht dient. Das erste Ziel der göttlichen Gesetzgebung ist dagegen die Einsicht, an zweiter Stelle folgt die besonnene Haltung der Seele; beides mit Tapferkeit vereinigt ergibt die Gerechtigkeit, die bloße Tapferkeit steht erst an vierter Stelle. 2 ) Nach dieser Rangordnung sind auch die menschlichen Gesetze einzurichten. So soll der Gesetzgeber in der Anordnung des Familienrechtes, in der Auswahl der Grundsätze zur Erziehung des Menschen von der Kindheit bis zum späten Alter zunächst zwar die Neigungen und Leidenschaften der Menschen, ihr Verhalten in Lust und Schmerz studieren, sodann aber das, was er für lobenswert und tadelnswert erklärt, aus dem Wesen der Gesetze selbst ableiten (yieysiv xe ÖQ&Ö>S xal knatvsiv v). Hierauf wird er das Vermögensrecht in derselben Weise in Angriff nehmen: er wird erforschen, wie sich die Rechtsverhältnisse verknüpfen und lösen, um zu erkennen, was hierin Recht und Unrecht ist; durch Belohnungen und Strafen wird er das Recht fördern, dem Unrecht wehren. Zuletzt wird er die Gebräuche bei der Bestattung der Toten regeln und bestimmen, welche Ehren ihnen zu erweisen sind. Zum Schutze der Rechtsordnung wird er Wächter einsetzen, die teils mit vernunftgemäßer Erkenntnis ((pQÖvrjotc), teils mit richtiger Meinung (dirj&rjg döga) ausgerüstet sind, 3 ) damit alles unter der Leitung der Besonnenheit und Gerechtigkeit stehe, nicht aber der Begierde nach Ehre und Reichtum folge. Nun wollen wir sehen, ob wir diese Gedanken in den Gesetzen des Zeus und des Pythischen Apollon, des Minos und Lykurgos wiederfinden, insoweit sie Männern, die durch Theorie oder Praxis vorgebildet sind, erkennbar sein möchten.

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Da wir mit der Tugend der Tapferkeit begonnen haben, wollen wir zunächst alles durchnehmen, was auf Tapferkeit Bezug hat, sodann wollen wir die anderen Teile der Tugend auf dieselbe Weise erörtern, zuletzt

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aber nachzuweisen suchen, daß alles, was wir von einzelnen Tugenden festgestellt haben, in einem festen Zusammenhange mit der Tugend selbst (mit der Idee der Tugend) steht. Megillos erklärt sich damit einverstanden und bittet den Athener, sich zuerst mit dem Kleinias, als dem Lobredner des Zeus, auseinanderzusetzen. — Der Athener knüpft an die voraufgegangene Erklärung des Kleinias an, daß die Syssitien und die gymnastischen Übungen des Krieges w§gen gesetzlich eingeführt worden seien; er bittet den Megillos, ihm aus den spartanischen Bräuchen noch eine dritte und vierte Einrichtung derselben Art anzugeben. Megillos nennt als das Dritte die Jagd, als das Vierte die Abhärtung in körperlichen Schmerzen und Strapazen, wie sie die spartanische Zucht überall anstrebe. — Was sollen wir nun von der Tapferkeit sagen? frägt der Athener weiter. Ist sie nur die Standhaftigkeit in Schmerzen und Gefahren, oder auch die Festigkeit gegen die Verlockungen der Lust und der Begierde? 4 ) — Offenbar ist sie beides, erwidert Megillos. — Welche Niederlage ist nun schlimmer, dem Schmerz oder der Lust zu unterliegen? lautet die nächste Frage. Kleinias meint, daß es schmählicher sei, der Lust zu unterliegen. — Sicherlich aber, erklärt der Athener, ist es der Wille der göttlichen Gesetzgeber eurer Staaten gewesen, daß die Männer gegen beide Versuchungen gerüstet sein sollen. Haben sie nun Anstalten getroffen, daß die Jünglinge die Lust nicht schlechthin fliehen, sondern daß sie mitten in sie hineingeführt werden, wie in körperliche Gefahren, damit sie auch dort ihre Standhaftigkeit zu erproben lernen? Megillos und Kleinias wissen in dieser Hinsicht nichts von Belang anzugeben. Der Athener bittet seine beiden Freunde, ihm den Tadel gesetzlicher Einrichtungen ihrer Länder nicht zu verübeln, sondern ihm und sich selbst volle Redefreiheit zu gewähren. Zwar herrsche in Kreta ein vortreffliches Gesetz, das den Jungen jede Kritik an den Gesetzen ihres Landes verbiete und nur den Alten gestatte, ihre Bedenken im Kreise der Staatsoberhäupter und ihrer Altersgenossen vertraulich vorzutragen. Ihnen als Greisen werde aber das Gesetz nicht verwehren, ihre Ansichten über vermeintliche Fehler und Mängel der Gesetzgebungen ihrer Staaten auszutauschen. Nachdem Kleinias ihm zugestimmt hat, fährt er fort: Es ist keineswegs meine Absicht, eure Gesetze zu tadeln, ich will zunächst nur meine Bedenken vortragen. Euren Mitbürgern hat der Gesetzgeber große Freuden und Genüsse verwehrt, die allen anderen Griechen und Barbaren freistehen. Er hat euch Schmerzen und Gefahren ausgesetzt, weil er der Meinung war, daß Männer, die Schmerzen, Mühen und Gefahren nicht kennen, unterliegen werden, wenn sie gegen Feinde zu kämpfen haben, die dergleichen zu ertragen gewohnt sind. Er 11

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hat aber nicht bedacht, daß es sich mit der Lust nicht anders verhält, daß Menschen, die in der Lust völlig unerfahren sind, eine schmähliche Niederlage erleiden müssen, wenn sie auf Männer treffen, die Meister in jeglicher Lust sind, die gelernt haben, auch im Genuß stark und fest zu bleiben. Wer die Lust nicht kennt, ist teils frei, teils unfrei, keineswegs darf er auf den Namen eines schlechthin tapferen und freien Mannes Anspruch erheben. Kleinias meint, das klinge wohl überzeugend, einem Greise.gezieme es indessen nicht, sich so leicht überreden zu lassen. Der Athener geht hierauf zur Betrachtung der Besonnenheit über. Er bittet ihm anzugeben, wo in Beziehung auf diese Tugend der Unterschied zwischen einer wohldurchdachten und einer planlosen Gesetzgebung liege. Megillos erwidert, die Antwort sei nicht leicht zu finden, vielleicht dienten die Syssitien und Gymnasien ebensowohl der Erziehung zur Besonnenheit, als der Erziehung zum Kriege. Der Athener bemerkt hierzu: Es scheint nicht leicht zu sein, daß die Gesetze in ihren Absichten und in ihren Auswirkungen gleichmäßig einwandfrei ausfallen. Für sie und für die Regeln zur Erhaltung der körperlichen Gesundheit gilt derselbe Grundsatz: eines schickt sich nicht für alle, was dem Einen nützt, kann dem Andern schädlich sein. So gewahren wir auch an den Syssitien schädliche Wirkungen. In einigen Staaten befördern sie den Zusammenschluß zu politischen Verschwörungen; vor allem aber ist aus der engen Gemeinschaft der Männer in den Syssitien und Gymnasien die Unsitte des unnatürlichen Geschlechtsverkehrs hervorgegangen, die in der Folge sogar auf das weibliche Geschlecht übergegriffen hat. Allgemein erhebt man gegen die Kreter den Vorwurf, daß sie den Mythos von der Liebschaft des Zeus mit dem Ganymedes erfunden hätten, um mit gutem Gewissen diesem Beispiel folgen zu dürfen. Lust und Unlust sind freilich für den Gesetzgeber ein höchst wichtiges Problem, denn sie sind für den Einzelnen und für den Staat Quellen des Glückes, wenn man rein aus ihnen schöpft, Quellen des Unheils, wenn dies nicht geschieht. Megillos erwidert: Wir wissen zwar nicht recht, was wir dagegen anführen sollen, indessen scheint mir der spartanische Gesetzgeber dennoch nicht ohne Grund befohlen zu haben, die Lust zu meiden. Jedenfalls hat er das, was die Menschen am stärksten zu Ausschweifungen, zum Übermut und zu Torheiten aller Art verführt, gänzlich aus unserm Staat verbannt. Bei uns gibt es weder Gelage, noch würdest du in unserem Lande irgendwo einen Betrunkenen antreffen, der nicht von dem Ersten, der ihm begegnete, zur strengsten Rechenschaft gezogen werden würde. Nicht einmal die Dionysien entschuldigen bei uns die Trunkenheit, während ich in Athen stark

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bezechte Leute sogar in Wagen umherfahren sah, und in unserer Kolonie Tarent gar die ganze Stadt während des Dionysienfestes im Rausche fand. Der Athener setzt ihm auseinander: Diese Feste sind löblich, wenn sie mit Maßen begangen wenden, umso schädlicher freilich, wenn man sie zügellos feiert. Vielleicht möchte dich ein anderer auf die Zuchtlosigkeit eurer Weiber hinweisen. Gegen alle Vorwürfe dieser Art gibt es aber eine gültige Antwort: „Bei uns herrschen d i e s e Gebräuche, bei euch gelten vielleicht andere Sittenl" Wir wollen nicht von den Sitten der Menschen reden, sondern von den Grundsätzen, die der Gesetzgeber in Beziehung auf Tugend und Laster einzuhalten hat. Indessen wollen wir etwas näher auf den Rausch jeglicher Art eingehen, denn dieser ist für den Gesetzgeber kein geringfügiger Gegenstand, sondern er stellt ihn vor die schwierige Frage, ob er den Weingenuß überhaupt verbieten, oder ob er den Rausch zulassen soll, wie es bei den Skythen, den Persern und anderen kriegerischen Völkern geschieht. — Mein Bester, wirft Megillos ein, wenn wir zu den Waffen greifen, schlagen wir diese alle in die Flucht!.— Sage das nicht, erwidert der Athener, es gibt viele Niederlagen, deren Ursache man nicht einzusehen vermag, darum kann ich diesen Grund nicht anerkennen. Es sind schon viele Städte mit vortrefflicher Gesetzgebung von anderen, schlechteren unterworfen worden, der Erfolg in Gestalt von Sieg und Niederlage ist deshalb nicht entscheidend. 5 ) Wir wollen daher nur von dem Wesen der Gebräuche, von dem, was an ihnen schön und unschön ist, reden, Niederlagen und Siege dagegen ganz beiseite lassen. Ich will versuchen aufzuzeigen, wie man das Brauchbare und das Unbrauchbare zu finden vermag. Zumeist sind die Menschen in der Beurteilung einer Einrichtung schnell mit ihrem lobenden oder tadelnden Urteil fertig, wie man ein Nahrungsmittel anzupreisen oder abzulehnen pflegt, ohne darüber nachzudenken, für wen und unter welchen Voraussetzungen es nützlich oder schädlich wirken kann. Ebenso verfehlt ist es, den Rausch ohne weiteres als gut oder als schlecht zu bezeichnen, oder das Urteil lediglich auf die Zeugnisse anderer Menschen oder auf die Leistungen zu stützen, die man bei enthaltsamen und bei weintrinkenden Völkern zu bemerken glaubt. Alle diese Merkmale sind unsicher, wir würden überall an der Oberfläche haften bleiben, "wenn wir die Gesetze und Gebräuche der Menschen auf diese Weise beurteilen wollten. Ich will versuchen, eine bessere Methode in einer Erörterung des Rausches zu entwickeln; wenn sie sich als die richtige erweisen sollte, würden wir sie auf alle anderen Bräuche anwenden dürfen. — Wenn jemand

PlatonsGesetze

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die Aufzucht von Ziegen deshalb tadeln wollte, weil er bemerkt hat, daß sie Flurschäden anrichten, wenn sie ohne Hirten weiden, so würde diese Meinung offenbar falsch sein. Ebenso unberechtigt ist es, gesellige Veranstaltungen, die nach ihrem Wesen eines Leiters bedürfen, deshalb zu tadeln, weil man sie niemals unter einer tüchtigen Leitung, sondern stets in einem anarchischen Zustande angetroffen hat. Zu solchen Veranstaltungen gehören auch Trinkgelage. Wer hat je an einem Gelage teilgenommen, das in der richtigen Weise geleitet worden wäre? Euch ist dergleichen überhaupt wohl fremd, aber auch ich muß gestehen, daß ich daheim und auf meinen Reisen kein Fest dieser Art gesehen habe, das in einiger Ordnung verlaufen wäre. Indessen bedürfen alle Versammlungen und Vereinigungen der Menschen, zu welchem Zwecke sie auch zusammentreten mögen, der festen Hand eines tüchtigen Leiters. Wie der Anführer einer Kampftruppe festen und unerschütterlichen Mutes sein muß, so muß auch der Leiter eines von Freunden gefeierten Festes, wo es unter dem Einfluß des Weines unruhig und lärmend zuzugehen pflegt, eine unerschütterliche Ruhe und Besonnenheit besitzen. Denn seine Aufgabe, Frieden und Ordnung unter den Zechgenossen aufrechtzuerhalten und ihre Freundschaft noch inniger zu gestalten, ist nicht leicht. E r muß nüchtern und umsichtig bleiben, je mehr sich die andern berauschen^ ein trunkener und unerfahrener Gebieter über Trunkene wird nur Unheil anrichten. So berechtigt daher der Tadel ist, wenn ein Gelage mangels guter Leitung übel verläuft, so unberechtigt wäre es, diesen Tadel zu verallgemeinern und alle Zechereien ohne Unterschied zu verwerfen. Denn daß ein trunkener Führer alles verdirbt, gilt nicht nur für Trinkgelage, sondern für jedes menschliche Unternehmen überhaupt. Kleinias bemerkt, daß ihm das zwar richtig zu sein scheine, wie könne aber etwas Großes aus einer richtigen Pflege von Zechgelagen hervorgehen? Ein gut geführtes Heer werde den Sieg davontragen, welchen Nutzen werde dem Staate oder der Gesellschaft aber ein gut geleitetes Gelage gewähren? Den Athener verdrießt es anscheinend, daß seine Gefährten immer wieder den Sieg in der Schlacht als das höchste Ziel aller Gesetze bezeichnen. Er versucht ihnen klarzumachen, daß es sich hier um ein Problem der Erziehung handle. Von der guten Erziehung eines einzelnen Knaben oder von der guten Ausbildung eines einzelnen Chores, erklärt er, wird zwar der Staat keinen grossen Nutzen haben, die Frage ist jedoch, was die Erziehung im ganzen zu leisten vermag. Und darauf ist zu antworten: Die gute Erziehung führt den Staat zum Siege, der Sieg im Kriege führt aber zuweilen zur Zuchtlosigkeit, denn er erfüllt die Sieger oft mit frevelhaftem Übermut. Die Siege der Erziehung sind da-

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gegen niemals derartige Kadmeische Siege (Pyrrhussiege), sondern stets echte, dauerhafte Erfolge. — Hiernach, frägt Kleinias, wäre die Geselligkeit beim Wein ein wichtiger Gegenstand der Erziehung? — Warum nicht? erwidert der Athener. Bevor er fortfährt, bittet er um Nachsicht, wenn er über das Trinken allzu weitläufig zu reden scheine. Es sei ja freilich eine Schwäche der Athener, gern und viel zu sprechen, während sich die Spartaner der lakonischen Kürze beflissen, und die Kreter mehr Wert auf Gedanken als auf Worte legten.") Indessen scheine ihm, daß die richtige Anordnung eines Bankettes nicht ohne musische Kunst möglich sei, und daß diese nur durch eine gute Erziehung erworben werden könne. Diese Zusammenhänge erforderten aber eine längere Auseinandersetzung. Er bittet die Freunde, ihm offen zu sagen, ob sie seine Ansichten hierüber zu hören wünschten, oder ob sie vorzögen, auf ein anderes Thema überzugehen. Megillos versichert, daß er infolge der traditionellen Gastfreundschaft seines Hauses mit dem Athenischen Staate von Jugend auf die Athener geschätzt und sie stets gegen Angriffe in Schutz genommen habe. Er teile durchaus die Ansicht, daß die guten Athener zumeist vorzüglich gute Menschen wären, sie allein seien von Natur gutartig, ohne eines künstlichen Zwanges zu bedürfen. Darum möge der Freund getrost reden. Kleinias schließt sich dem an und erwähnt die durch Epimenides begründeten nahen Beziehungen seines Hauses zum Athenischen Volke. •4 Der Athener geht von der Frage aus, was die Erziehung ihrem Wesen nach sei, und was sie zu leisten vermöge. Die Lösung dieses Problems werde sie schließlich auf die Gottheit führen. Er fährt fort: Wer ein tüchtiger Mann werden will, muß von Jugend auf im Spiel und im Ernst das üben, was er später betreiben soll. Schon den Kindern soll man Spielsachen aussuchen, die sie auf ihren künftigen Beruf vorbereiten; alle Vorkenntnisse, deren sie später bedürfen, muß man sie so frühzeitig wie möglich lehren. Überhaupt soll man in den Knaben durch alle Mittel Lust und Liebe zu dem erwecken, worin sie später Vollkommenheit erlangen sollen. Erziehung nennen wir jedoch nicht die Ausbildung zu einem Handwerk, so gründlich sie auch ausfallen mag, denn Erziehung ist allein die Anleitung zur Sittlichkeit, sie soll schon im Knaben die Begierde erwecken, ein vollendet guter Bürger zu werden, befehlen und gehorchen zu lernen. Alle Abrichtung zum Gelderwerb, zur Körperkraft oder zu irgend einer anderen Tätigkeit, die ohne Verständnis für Vernunft und Gesetzmäßigkeit ausgeübt werden kann, bezeichnen wir als banausisch, unfrei und als des Namens Erziehung unwürdig. Unter allen Wohltaten nimmt die Erziehung den höchsten Rang ein. Richtig

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erzogene Menschen werden fast immer gut; was die Erziehung etwa unvollendet ließ, soll der Mensch sein ganzes Leben hindurch auszugleichen bestrebt sein. Hierauf erinnert der Athener an den vorhin aufgestellten Satz, daß diejenigen, die sich selbst zu beherrschen vermöchten, gut, die hierzu Unfähigen dagegen schlecht seien. Er will versuchen, den Sinn dieses Satzes durch ein Gleichnis zu erläutern. A Q Man nimmt an, daß das Individuum eine Einheit sei; eine Zweiheit ist -*_/ es jedoch insofern, als in ihm zwei entgegengesetzte, vernunftlose Ratgeber ihr Wesen treiben. Man nennt sie Lust und Schmerz. Zu ihnen gesellen sich Meinungen über das Künftige, die man zusammenfassend Erwartung (eknig) nennt, nämlich Furcht als Erwartung eines Schmerzes, Zuversicht als Erwartung einer Lust. Endlich tritt die vernünftige Erwägung [Xoyiofio?) zu jenen hinzu. Wenn sich diese Erwägung zu einem Beschlüsse des Staates gestaltet, nennen wir sie Gesetz. — Hierauf folgt das Gleichnis: Wir wollen annehmen, daß die lebenden Wesen künstliche Mechanismen seien, die ein Gott, sei es als sein Spielzeug oder zu einem ernsteren Zwecke, hergestellt habe. Davon können wir zwar nichts wissen, soviel vermögen wir aber zu erkennen, daß die soeben genannten Einwirkungen gleichsam Schnüre und Fäden sind, die uns in Bewegung setzen; und zwar wirken die Züge dieser Fäden einander entgegen, sie verursachen deshalb entgegengesetzte Handlungen, in denen wir die Gegensätze Tugend und Laster vorfinden. Der Logos (es ist hier ganz unmöglich, das Wort löyog zu übersetzen, allenfalls könnte man sagen: die reine Lehre) gebietet uns, nur dem einen Antriebe, der vernünftigen Erwägung, nachzugeben und dem Zuge der anderen Fäden Widerstand zu leisten. Jener Antrieb ist der elastische goldene Faden des Gesetzes, die andern Fäden sind hart und starr, wie aus sprödem Eisen. Der sanfte Antrieb des Gesetzes bedarf jedoch der H e l f e r , damit die rohen Antriebe nicht die Oberhand gewinnen. In diesem Gleichnis erkennen wir den Sinn dessen, was wir als Selbstüberwindung und als deren Gegenteil bezeichnen. Die Lehre gilt für den Einzelnen und für den Staat. Wir erkennen in ihr die Bedeutung der Erziehung; zu den Einrichtungen, die der Erziehung dienen, dürfen wir aber auch die Geselligkeit beim Weine rechnen. Darum ist es der Mühe wert, diese Sitte, so untergeordnet sie zu sein scheint, ausführlich zu besprechen. Es folgt hierauf ein lebhaftes Zwiegespräch des Atheners mit dem Kleinias, worin sie zu folgenden Ergebnissen gelangen: Die Wirkung des Weines auf jenes kunstvolle Spielwerk, den Menschen, ist, daß alle Wallungen, wie Lust, Unlust, Liebe, heftig gesteigert, dagegen die Sinne, das Gel6

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dächtnis, das Denken geschwächt werden, bis sie im starken Rausche völlig erlöschen. Der Trunkene wird wie der Greis wieder zum Kinde und ist am allerwenigsten seiner mächtig. Man sollte deshalb meinen, daß der Mensch nichts mehr zu fliehen hätte, als die Gefahr, in einen solchen Zustand zu geraten. Indessen bemerken wir, daß die Menschen vorübergehende körperliche Schwächezustände nicht scheuen, wenn sie sich zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit stark angreifenden Kuren unterwerfen, oder wenn sie durch die äußerste Anspannung des Körpers in Strapazen und gymnastischen Uebungen ihre Kräfte erproben und stählen wollen. Darum sollten sie auch die Geselligkeit beim Weine nicht meiden, wenn sie einen ähnlichen Nutzen verheißt, zumal dieser nicht durch Schmerzen zu erkaufen wäre. Nun kennen wir zwei entgegengesetzte Arten der Furcht: die Furcht vor der Gefahr und die Furcht vor Schande; diese nennen wir Scham. Jene streitet gegen Schmerzen, diese gegen die Lust. Wenn der verständige Gesetzgeber das Gefühl der Scham in hohen Ehren halten, die Schamlosigkeit dagegen als das schlimmste Uebel bekämpfen will, so muß er dahin wirken, daß der Mann furchtlos in der Gefahr, aber furchtsam vor der Schande ist. Fester Mut gegen den Feind, Scheu vor schimpflichem Verhalten im Freundeskreise gewährleisten den Sieg in der Schlacht. Darum ist es recht, wenn der Gesetzgeber vorschreibt, daß der Jüngling mannigfachen Gefahren ausgesetzt werden soll, damit er furchtlos werde. Ebenso muß er aber die Jünglinge in sinnliche Versuchungen führen, auf daß sie lernen, sich von dem Hange zur Schamlosigkeit freizumachen und die Verführungen der Lust zu besiegen. Auch hier müssen sie die Feigheit zu überwinden lernen. Wer nicht auch in diesen Kämpfen erprobt ist, kann nicht als vollkommen tapfer gelten, er ist in Hinsicht auf diese Tugend nur ein halber Mensch. Niemals wird er vollendet besonnen werden, solange er nicht im Kampfe mit vielfachen Lüsten und Begierden bewiesen hat, daß er sie durch Vernunft und1 Tatkraft zu meistern versteht, sondern in diesen Dingen unerfahren bleibt. A t Wir wollen annehmen, daß es einen Zaubertrank gäbe, der den Men1 J sehen, je mehr er davon tränke, desto mehr in Verdüsterung und Furcht verstrickte, bis sich ihm schließlich alles Gegenwärtige und Künftige zu Schrecknissen gestaltete; indessen dürfte dieser Trank keine schädlichen Nachwirkungen hinterlassen, sodaß der Mensch, sobald er seinen Rausch ausgeschlafen hätte, wieder ganz vernünftig würde. Welchen Nutzen würde der Gesetzgeber aus einem solchen Trank zu ziehen vermögen? Sicherlich würde er ein vortreffliches Mittel haben, um an den einzelnen Menschen den Grad ihrer Empfänglichkeit für die Regungen der Furcht festzustellen. Fer-

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ner würde er sie davon soweit wie möglich zu heilen vermögen, indem er ihnen das Schmähliche dieser eingebildeten Furcht vor Augen führte. Auch den Einzelnen würde man nicht tadeln, der in Zurückgezogenheit oder im geselligen Zusammensein mit andern zu diesem Tranke griffe, um im Vertrauen auf seine Kraft seine Standhaftigkeit gegen dessen Wirkungen zu versuchen; wir würden ihn vielmehr loben, wenn er hierbei unerschüttert bliebe und im Trinken einhielte, bevor ihn das Uebermaß des Genusses niederwürfe. Nun gibt es zwar einen solchen Trank nicht, wohl aber gewahren wir etwas ähnliches beim Weine. Freilich hat dieser die entgegengesetzte Wirkung. Er stimmt die Menschen heiter, erfüllt sie mit frohen Hoffnungen, mit Mut und Selbstvertrauen, er löst ihnen die Zunge und läßt sie freimütig reden, als ob sie mit aller Weisheit erfüllt wären; zuweilen reizt er sie auch zu frischer Tat an. Wir sagten aber, daß es auf zwei Dinge vornehmlich ankomme: auf die Furchtlosigkeit in Gefahren und auf die Furcht vor Schande. Wenn der Mut in Schrecknissen aller Art gestählt werden muß, so liegt es nahe, die Scham in den entgegengesetzten Zuständen zu festigen. Zu diesen Zuständen gehört der Rausch. Gerade deshalb, weil er die Menschen in verwegene und übermütige Stimmungen versetzt, muß man sie dazu erziehen, daß sie in diesem Zustande nicht schamlos und frech werden, sondern auch hier die Scheu vor dem Unschicklichen bewahren. Uebermut und Verwegenheit erweckt nicht allein der Weinrausch, sondern auch der Zorn, die leidenschaftliche Liebe, der Dünkel, die Gewinnsucht, der Reichtum, die Schönheit, die Körperkraft, kurz alles, was den Menschen durch die Lust (des erhöhten Selbstbewußtseins) berauscht. — Die im Weinrausch geübte Selbstbeherrschung soll also den Mann lehren, in allen Lebenslagen die Scheu vor dem Unschicklichen zu bewahren. — Ferner ist der Rausch das sicherste Mittel, um den Charakter des Menschen zu offenbaren. Roheit und Gemeinheit werden sich unfehlbar in der Trunkenheit verraten. Es ist sicherer, diese Eigenschaften eines Menschen am Dionysosfest kennen zu lernen, als im geschäftlichen Verkehre mit ihm unliebsame Erfahrungen zu machen. Man würde ja auch nicht jemanden, der zur Wollust zu neigen scheint, dadurch auf die Probe stellen, daß man ihm seine Gattin oder seine Töchter anvertraute. Aus diesen Gründen ist nicht daran zu zweifeln, daß Trinkgelage, wenn sie mit Umsicht geleitet werden, eine vorzügliche Einrichtung sind, um leicht und sicher die Einsicht in den Charakter eines Menschen zu gewinnen. Deshalb sind sie auch für den Gesetzgeber, der die Beschaffenheiten und Eigenschaften der Seelen studieren muß, von Bedeutung.

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ZWEITES Apollon

I

und

BUCH

Dionysos

als

E r z i e h e r

Der Athener fährt fort: Wir müssen näher untersuchen, ob die Geselligkeit beim Weine nur den Nutzen gewährt, die Charaktere der Menschen offenzulegen, oder ob sie noch ein Größeres zu wirken vermag: die rechte Erziehung zu festigen. Den über diese kühne Mutmaßung erstaunten Freunden setzt er auseinander: Die ersten Regungen der Kindesseele sind Lust und Unlust, in ihnen offenbaren sich zuerst die guten und die bösen Neigungen des Menschen. Zur vernünftigen Einsicht und zu sicheren und wahren Urteilen gelangt der Mensch dagegen sehr spät, glücklich genug, wenn er es im Greisenalter so weit gebracht hat. Nun ist zwar der Mensch erst vollendet, wenn seine Neigungen, Lust und Liebe, Unlust und Haß, in vollkommener Harmonie mit seiner Vernunft stehen, wenn er unter der Leitung der Besonnenheit gelernt hat, sich den Geboten der Sitte und Schicklichkeit gemäß an das Rechte zu g e w ö h n e n . D i e s e H a r m o n i e i s t d i e v o l l e n d e t e S i t t l i c h k e i t . Da sich aber jene Neigungen früher entwickeln als die vernünftige Einsicht, so muß die rechte Leitung der Lust und der Unlust, die Zucht, die den Menschen dahin führt, daß er haßt, was er hassen, ehrt, was er ehren soll, ebenfalls frühzeitig beginnen. Diese Zucht nennen wir Erziehung. Im späteren Leben pflegt sie zu erlahmen, und viele ihrer Früchte gehen verloren. Da haben sich die Götter der Menschen erbarmt und ihnen Feste gestiftet, auf daß sie sich nicht nur von den Mühen des Lebens erfrischen, sondern in der Festesfreude auch die alte Reinheit der Sitten wiedergewinnen möchten. Deshalb haben sie ihnen den Apollon, die Musen und den Dionysos als Genossen ihrer Feste beigeordnet.7) — Jedes junge Lebewesen ist voller Unruhe: die Lust drängt das junge Tier und das kleine Kind immer dahin, umherzulaufen, zu springen, zu hüpfen und sich in Lauten aller Art zu äußern. Während dieses bei den Tieren wild und regellos vor sich geht, haben die Götter den Menschen den Sinn für Rhythmus und Harmonie verliehen, sie lehrten die Menschen zu tanzen und zu singen, im Tanz und Gesang ihrer Freude einen rhythmischen und harmonischen Ausdruck zu verleihen. 8 ) So sind Apollon und die Musen die ersten Führer zur Erziehung, der * * Wohlerzogene wird deshalb Chortänzer sein, der Unerzogene nicht. Nun ist der Chortanz eine Verbindung des Reigens mit dem Gesang, also muß der schön Erzogene auch schön zu singen verstehen. E r muß aber nicht nur s c h ö n singen und tanzen, sondern vor allem d a s S c h ö n e singen und tanzen. Ferner liegt ein großer Unterschied darin, ob jemand zwar durch Ge-

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bäiden und Stimme das Schöne richtig zum Ausdruck zu bringen vermag, ohne jedoch Freude a m Schönen und Widerwillen gegen das Häßliche zu empfinden, oder ob er durch Lust oder Unlust das Schöne begrüßt, das Häßliche abwehrt. Deshalb müssen wir eifrig zu erforschen suchen, worin die wahre Schönheit der Gebärde, der Tonweise, des Gesanges und des Tanzes besteht; wenn uns dies entgeht, werden wir niemals die Leitsätze einer rechten Erziehung aufzustellen vermögen. Wie die Gebärden und Worte eines Tapferen und eines Feiglings in Not und Gefahr durchaus verschieden sind, so gibt es auch in der Kunst sehr verschiedene Gebärden und Tonweisen. Manche von ihnen sind zwar rhythmisch und harmonisch korrekt, indessen ohne Farbe und Glanz. Wir aber werden nur die Gebärden und die Weisen als schön anerkennen, die dem Tapferen ziemen, die der Feigheit werden wir als häßlich verwerfen (vgl. Politeia III, 10). Kurz: wir werden an Gebärden und Weisen alles, was aus einem tüchtigen Wesen hervorgeht, mag es eine geistige oder eine körperliche Tugend, die Tugend selbst (das Urbild, die Idee) oder eines ihrer Nachbilder sein, als schön, das Gegenteil als häßlich bezeichnen. Die Quelle des Irrtums über das Wesen des Schönen ist die falsche Meinung, daß das Schöne nicht für alle Menschen schön sei, daß vielmehr dem Einen dieses, dem Andern jenes als schön gelten möge, denn das würde bedeuten, daß der Eine sich an den Gebärden der Tugend, der Andere sich an den Gebärden der Gemeinheit {/¿ox&rjQia) erfreuen dürfe. Auf dieser falschen Meinung beruht der Satz, dem die Meisten anhängen: Daß das wahre Wesen der Kunst darin bestehe, die Gemüter mit Lust zu erfüllen. Diese Erklärung ist handgreiflich falsch, eher könnte uns folgendes zum Irrtum verleiten: 9 ) Da der Chortanz die mimische Darstellung des Verhaltens und der Charaktere der Menschen in mannigfaltigen Handlungen und Lebenslagen ist, so wird der einzelne Zuschauer eine Darstellung, die seinem eigenen Verhalten, seinen Gewohnheiten, seinem Charakter entspricht, mit Lust aufnehmen und als schön bezeichnen, alles Widerstreitende dagegen mit Unlust ablehnen und häßlich nennen. Wer von Natur wohlgeartet, jedoch durch schlechte Gewohnheiten verdorben ist, wird am Gemeinen zwar Wohlgefallen finden, dennoch aber das Schöne anerkennen müssen. Denn er würde sich schämen, das Gemeine, das ihn im Tanz oder Gesang ergötzt, in Gegenwart anständiger Menschen selbst zum Ausdruck zu bringen. Indessen ist die Freude am Gemeinen keineswegs unschuldig und harmlos, sie ist ebenso schädlich, wie es verderblich wäre, sich dem Umgange mit schlechten Menschen hinzugeben, sich an deren Unsittlichkeiten zu ergötzen, obwohl man über

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deren Schändlichkeit nicht im Zweifel wäre. Auf der anderen Seite ist die Lust am Edlen und Schönen das segensreichste Gut. Denn alles, woran man seine Freude hat, nimmt man willig in sich auf, und in der Seele wirkt es dann weiter fort. Deshalb darf eine gute Gesetzgebung dem Künstler niemals gestatten, nach Belieben alles, was ihm reizvoll erscheint, öffentlich darzustellen, einerlei ob es den edlen oder den gemeinen Instinkten junger Menschen Vorschub leistet. Leider gestatten dies die Gesetze aller Staaten mit alleiniger Ausnahme der Aegypter. Sie allein haben erkannt, daß die Jugend in der Anschauung des Schönen erzogen werden muß, um sich selbst schöne Sitten zu eigen zu machen. Deshalb haben sie die Gesetze der edlen Haltung und Gebärde, der schönen Tonweise und dergleichen aufgestellt und in den Tempeln niedergelegt. Kein Maler, kein anderer Künstler darf hiervon abweichen; niemand darf auf Neuerungen sinnen, die gegen den geheiligten vaterländischen Brauch verstoßen. Daher sind die Kunstwerke, die dort vor 10000 Jahren — und zwar vor buchstäblich 10000 Jahren, versichert der Athener — entstanden sind, weder schöner noch häßlicher als die W e r k e der Gegenwart, sie alle sind Erzeugnisse derselben unwandelbaren Kunst. 10 ) Diese Einrichtung bezeugt das hervorragende staatsmännische Verständnis der ägyptischen Gesetzgeber, sie beweist, daß es möglich ist, das objektiv Richtige (% öq&öxr/s, das Gesetzmäßige) in der Kunst herauszufinden, gesetzlich festzulegen und es Jahrtausende hindurch gegen verderbliche, auf die Lüsternheit des Publikums berechnete Neuerungen zu schützen. W i r wollen also zuversichtlich behaupten, daß in den Gestaltungen der Kunst und des Reigentanzes irgendwie das objektiv Richtige hervortreten muß.

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Der Athener versucht auszumachen, wer berufen ist, hierüber zu urteilen: W i r empfinden Lust, wenn wir meinen, daß wir a*uf demrechten W e g e sind [ev 7iQ&x%eiv, in der Doppelbedeutung „recht handeln" und „Wohlergehen"), und w i r glauben, auf dem rechten W e g e zu sein, wenn wir Lust empfinden. W e n n die Lust sich regt, vermögen wir uns nicht ruhig zu verhalten. Die Jungen begehren zu tanzen, die Alten freuen sich, ihren Tänzen zuzuschauen. Sie gedenken hierbei ihrer eigenen Jugend und stiften den Tänzern, die im W e t t k a m p f e diese frohen Erinnerungen am lebhaftesten wachrufen, Siegespreise. Vielleicht ist deshalb die Volksmeinung, daß das Ziel der Kunst die Lust sei, doch nicht völlig grundlos. Indessen ist zu unterscheiden, wessen Lust erweckt wird. W e n n es jemandem einfiele, einen Preis für den zu stiften, der im Wettkampf dem Volke die höchste Lust bereitete, ohne den Gegenstand des Wettkampfes irgendwie zu bestimmen, so würden sich ohne Zweifel Künstler aller Art hinzudrängen, Dichter und Rhapsoden, Musikan-

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ten und Gaukler. Vermutlich würden dann die Kinder dem Gaukler den Preis verleihen wollen, die älteren Knaben dem Komödiendichter; die „gebildeten" Frauen, die Jünglinge und wohl auch die Mehrzahl des Volkes würden sich für den Tragödiendichter entscheiden, die Greise aber für den Rhapsoden, der die Dichtungen Homers und Hesiods am besten vortrüge. Welches Urteil wäre nun das richtige? Wir Greise würden notwendig erklären müssen, daß unser Urteil maßgebend sei, weil unsere Anschauungen die gereiftesten sind. Also ist von der Meinung der Menge allenfalls soviel richtig, daß die Kunst nach der Lust bewertet werden muß, die sie gewährt!, aber nicht nach dem Genuß, den sie jedem Beliebigen bereitet. Als schon ist allein die Muse anzuerkennen, die unsere besten, durch eine vollendete Erziehung wahrhaft gebildeten Männer zu erfreuen vermag. Daher muß vor allem der Kunstrichter nicht nur einsichtsvoll, sondern auch charakterfest und tapfer sein. Er darf sich nicht von dem Beifall und dem Lärm des Theaterpublikums betäuben lassen, niemals aus feiger Nachgiebigkeit gegen seine eigene Ueberzeugung einem Unwürdigen den Preis verleihen. Seine Pflicht gebietet ihm, den Dichtungen entgegenzutreten, die der gemeinen Lust der Menge schmeicheln. In früheren Zeiten galt in Griechenland der Brauch, wie er noch jetzt in Sizilien und Italien besteht, daß nicht vereidigte Richter, sondern die Theaterbesucher darüber entschieden, welchem Drama der Preis zu erteilen sei. Diese Unsitte hat die Kunst verdorben, denn sie gewöhnte die Dichter daran, nach dem schlechten Geschmack des Publikums zu schreiben. Sie verdarb sogar den Geschmack der Menge noch mehr, denn anstatt edler und reiner, über dem Publikum erhabener Charaktere wurden jetzt Menschen gewöhnlichen Schlages auf die Bühne gestellt. Diese Betrachtungen laufen wiederum darauf hinaus, daß die Erziehung die Zucht und Anleitung zu den Grundsätzen ist, die von den erfahrensten und weisesten Männern als die richtigen erkannt und durch das Gesetz bestätigt werden. Deshalb muß namentlich der Gesang wegen seines dämonischen Einflusses auf die Gemüter der Jugend so sein, daß die Jugend das Rechte zu schätzen und in ihrer Lust und Unlust dem reifen Urteil des Alters zu folgen lernt. Darum muß der Gesetzgeber die Dichter nötigen, nur die Harmonien, Rhythmen, Gebärden vorzuführen, die sich für besonnene, tapfere und edle Männer schicken. Kleinias wirft die Frage ein, ob dies in den hellenischen Staaten wirklich geschehe? Soviel er wisse, sei diese Strenge nur in Sparta zu finden, sonst herrsche überall nicht ein festes Gesetz, sondern willkürliche Neuerungssucht. — Das ist auch meine Meinung, bestätigt der Athener,

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lasse uns nun sehen, ob wir auch in dem Folgenden übereinstimmen. In

Sparta lautet das oberste Gesetz der Erziehung und der Kunst: Die Dichter müssen singen und sagen, daß der gute Mensch als besonnen und gerecht auch glückselig ist, einerlei ob er groß oder klein, stark oder schwach, reich oder arm ist; daß der Ungerechte dagegen unglücklich ist und elend lebt, sei er auch reicher als Midas. Der Athener führt einige Belegstellen aus den Dichtungen des Tyrtaios an und fährt fort: Die von der Menge angepriesenen Güter erkennt Sparta dagegen nicht an. Der Menge ist das höchste Gut die Gesundheit, das zweite die Schönheit, das dritte der Reichtum (vgl. oben I, 6), worauf noch eine lange Reihe anderer Güter folgt, z. B. scharfe Sinne und Macht. Als die Krönung des Ganzen gilt ihr, im Besitz aller dieser Güter unsterblich zu werden. Dagegen werden wir erklären, daß alle diese Güter zwar für den gerechten und rechtschaffenen Menschen ein wertvoller Besitz, für den Ungerechten aber lauter Uebel sind, von der Gesundheit angefangen. Das gilt vor allem für die Unsterblichkeit. Wer alle Zeit hindurch im Besitz aller dieser Güter lebte, die Gerechtigkeit und jede andere Tugend aber nicht hätte, dem wäre das ewige Leben das größte Unglück, ewige Vernichtung das einzige Heil. Nun saget mir, ob ihr euch auch zu diesem Satze bekennt, den ich hiermit aufstelle: daß die sogenannten Uebel nur für die Gerechten Uebel sind, für die Ungerechten dagegen Güter, während die Güter nur für die Guten wirkliche Güter sind, für die Bösen dagegen Uebel. 11 ) Kleinias erwidert, daß er mit diesem Satze nur teilweise einverstanden sei. Seine Ansicht ist, daß ein gesunder, reicher, mächtiger, starker und tapferer Mensch, der überdies noch unsterblich wäre und von allen erdenklichen Uebeln nichts besäße als einzig Ungerechtigkeit und Übermut, unmöglich ein elendes, vielmehr ein höchst glückliches Leben führen werde. — Jedenfalls, frägt der Athener, wird aber sein Leben doch häßlich sein, mag er auch alle äußeren Vorzüge besitzen und alles erlangen, was er begehrt? Das räumt Kleinias ein. Also wird er, folgert der Athener, auch ein schlechtes Leben führenl — Das sei nicht dasselbe, meint Kleinias. Ebensowenig läßt er den nächsten Einwand des Atheners gelten, daß ein solches Leben unerfreulich sei und dem Ungerechten nicht frommen könne. — Dennoch, erklärt der Athener, scheint mir meine These wahrer zu sein, als der Satz, daß Kreta eine Insel ist. Wenn ich Gesetzgeber wäre, würde ich alle Dichter und alle Bürger meines Staates zwingen, so zu reden, und würde die strengsten Strafen auf Behauptungen setzen wie die, daß verderbten Menschen trotzdem ein freudenvolles Leben a

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beschieden sein könnte, oder daß das Nutzbringende und das Gerechte einander fremd wären. Auch in mancher anderen Hinsicht würde ich das Gegenteil von dem lehren, was jetzt noch in Kreta und Sparta und auch sonst überall zu gelten scheint. Welche Antwort würde ich erhalten, wenn ich die Götter, denen wir unsere Gesetze verdanken, fragen wollte, ob das gerechteste Leben das lustvollste sei, oder ob es zwei von einander verschiedene Lebensweisen gäbe, eine lustvolle und eine gerechte? Wenn sie diese letzte Frage bejahten, so müßte die nächste Frage lauten, welches dann die Glückseligeren wären, diejenigen, die das rechtschaffenste, oder die, die das lustvollste Leben führten? Da wäre es doch ungereimt, wenn die Götter sich für die Letzteren entscheiden und damit einräumen würden, daß sie das Glück an die Unwürdigen austeilten! Indessen will ich die Götter aus dem Spiele lassen und dieselben Fragen einem Vater und Gesetzgeber vorlegen. Wenn dieser nicht das gerechteste, sondern das lustvollste Leben für das glückseligste erklären sollte, würde ich ihm sagen: „Mein Vater, willst du nicht, daß dein Sohn so glücklich wie möglich lebt? Aber du hast mir doch unaufhörlich befohlen, so gerecht wie möglich zu leben!" Darüber würde der Vater und Gesetzgeber in nicht geringe Verlegenheit geraten. Wenn er aber erklärt, daß das gerechteste Leben auch das glückseligste sei, so wird vermutlich jedermann zu erforschen suchen, w o i n d e m g e r e c h t e n L e b e n d a s e d l e G u t z u f i n d e n i s t , w e l c h e s h ö h e r i s t a l s a l l e L u s t . Welches Gut könnte wohl auch dem Gerechten zuteil werden, das nicht auch lustvoll wäre? Ist Ruhm und Ehre vor Göttern und Menschen etwas Unerfreuliches? Oder ist es zwar schön und gut, aber unerfreulich, niemanden zu kränken und von Ö niemandem gekränkt zu werden? Wenn die Lehre, die jede Trennung ^ zwischen der Lust und dem Gerechten, Guten und Schönen aufhebt, auch keinen anderen Nutzen gewähren sollte, so befestigt sie sicherlich den Entschluß zu einem rechtschaffenen Leben. Schon deshalb wäre es schändlich und widersinnig, wenn der Gesetzgeber etwas anderes gebieten wollte. Denn niemand würde sich freiwillig bereden lassen, etwas zu tun, was nicht mehr Lust als Unlust zur Folge hätte. 12 ) Freilich schwankt vor den Augen der Menschen alles, was sie aus der Ferne sehen, in einem ungewissen Dunkel. Es ist aber die Aufgabe des Gesetzgebers, das Dunkel zu zerstreuen und dem Blick das Rechte zu erschließen. Er soll der Menge erklären, daß Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit perspektivischen Bildern gleichen, die sich je nach dem Standort des Zuschauers verschieden darstellen. Vom Standpunkt des Ungerechten aus gesehen, erscheint das Gerechte unerfreulich, das Ungerechte

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lustvoll, vom Standpunkt des Gerechten aus verhält sich beides umgekehrt. Wir werden nicht im Zweifel darüber sein, welche dieser beiden Anschauungen wir für wahr zu erklären haben. 1 3 ) Folglich ist es ein notwendiger Schluß, daß das ungerechte Leben nicht nur gemeiner und häßlicher, sondern auch freudloser ist, als das Leben des Rechtschaffenen. — Gegen diese Beweisführung vermag Kleinias nichts einzuwenden. Der Athener führt weiter aus: Auch wenn sich dies nicht so verhielte, müßte dennoch jeder Gesetzgeber diese Lehre vertreten; und wenn er je im Interesse der Jugend eine Lüge auszusprechen wagte, so würde dies die nützlichste Lüge sein, da sie ohne Zwang, lediglich durch gütliche Überredung, die Jugend zur Rechtschaffenheit führt. 1 4 ) — Aber, meint Kleinias, die Jugend wird das nicht so leicht glauben wollen. Schön und dauerhaft ist nur die Wahrheit! — Vielleicht, erwidert der Athener, aber geglaubt werden doch noch viel wunderlichere Fabeln, woraus zu ersehen ist, daß ein fester Wille genügt, um die Seelen junger Menschen zu leiten. Deshalb soll sich der Gesetzgeber einzig durch die Rücksicht auf das Wohl des Staates bestimmen lassen. Nur darauf muß er halten, daß sich die gesamte Bürgerschaft in allen Liedern, Fabeln und Lehren zu einer und derselben Grundanschauung bekennt. Also müssen alle Chöre schon der Jugend unsere Lehren vorsingen und ihren empfänglichen Seelen einprägen, daß den Göttern das lustvollste und das vortrefflichste Leben als dasselbe gilt, und daß dies wahr ist. — Von diesen Chören gibt es drei verschiedene. Der erste ist der Chor der Knaben, der zweite der Chor der Jünglinge bis zum 30. Jahre, den dritten bilden die Männer bis zum 60. Lebensjahre. Die Greise, die nicht mehr zu singen vermögen, sollen dieselben Gesinnungen, die jene durch Gesänge verkünden, in mythische Erzählungen einkleiden. Kleinias bittet, ihm zu erläutern, welche Bewandtnis es mit dem dritten Chor habe. — Dieser, versetzt der Athener, ist der wichtigste unter den dreien, seinethalben wurde das Meiste gesagt, was ich bis jetzt ausgeführt habe. Der Athener erinnert zunächst an die voraufgegangenen Feststellungen, daß das lebhafte Wesen junger Menschen und junger Tiere nach Bewegung dränge und sich durch Umherspringen und durch Laute aller Art belustige. Es war dort bemerkt worden, d a ß allein die Menschen das Vermögen besitzen, diese Bewegungen nach Ordnung und Gesetzen kunstvoll auszuführen, die Bewegungen des Leibes rhythmisch, die der Stimme harmonisch zu gestalten und beides zum Chortanz zu vereinigen. Nun nahmen sich die Götter als die Genossen unserer Feste des Tanzes an. Apollon und die Musen führen die Reigen der Knaben und Jünglinge, D i o n y s o s a b e r i s t d e r

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F ü h r e r d e s C h o r e s d e r M ä n n e r . Kleinias ist nicht wenig erstaunt, daß Dionysos — der Anführer der Bacchanten und Mänaden — ebenfalls der Chorführer gesetzter Männer sein soll. Der Athener verspricht, ihm dies ausführlich zu erläutern. Zuvor läßt er sich nochmals bestätigen, daß es die Aufgabe des ganzen Volkes mit Einschluß der Weiber und Sklaven sein soll, unaufhörlich in allen Variationen vom Einklang der Lust und der Tugend zu singen. Sodann beginnt er: Die schönsten Lieder müssen aber den durch Einsicht und Erfahrung gereiften Männern vorbehalten bleiben, denn diese werden die stärksten sittlichen Wirkungen erzielen. Ältere Männer entschließen sich indessen nur ungern zu singen; und wenn ihnen gar zugemutet werden sollte, öffentlich vor allem Volke aufzutreten, sich wie üblich zum Sangeswettstreit durch einen gestrengen Chormeister hungernd und fastend vorbereiten zu lassen, so würden sie den höchsten Widerwillen empfinden. Wie sollen wir sie also dahin bringen, daß sie mit Freuden des Gesanges1 pflegen? — Wir werden das Gesetz aufstellen, daß die Knaben bis zum 18. Lebensjahre überhaupt keinen Wein trinken dürfen, denn wir werden die ungestüme Tollheit der Jugend bedenken und uns hüten, in Seele und Leib Feuer auf Feuer zu gießen. Den Jünglingen bis zum 30. Jahre werden wir Mäßigung im Weingenuß zur Pflicht machen, dagegen werden wir den älteren Männern gestatten, beim frohen Mahle den Dionysos zu Gast zu laden und sich am Wein zu erfreuen, auf daß er die Strenge des Alters erheitere und die Alten wieder jung mache.1®) Dann werden sie, zumal wenn sie unter sich sind, zu singen begehren, und niemand wird darin etwas Anstößiges finden. Welche Gesänge sollen nun diese wackeren Männer anstimmen? — Wir, erklärt Kleinias, kennen nur den hymnischen Chorgesang. — Das glaube ich wohll versetzt der Athener. Bei euch ist eben alles auf den Krieg eingerichtet, und deshalb ist euch der schönste Gesang fremd. Auch eure Knaben zieht ihr ja in Herden wie junge Füllen auf; kein Vater darf seinen Sohn aus der Herde herausnehmen, um dessen Wildheit durch eine ruhige Erziehung zu sänftigen. Dadurch werden zwar aus den Jünglingen tapfere Krieger, nicht aber umsichtige Staatsmänner. Sie erwerben sich nur die Tugend der Tapferkeit, die, wie ich sagte, im Range an vierter Stelle steht. Etwas unwillig frägt Kleinias, warum der Athener schon wieder die Bräuche seines Vaterlandes herabsetze? Der Athener begütigt ihn: er habe nicht tadeln wollen, sondern er suche nach dem Gesänge, der schöner wäre, als die Lieder der feierlichen öffentlichen Chöre. Hieran schließt er eine langwierige Auseinandersetzung, deren Gedankengang

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folgender ist: In allen Dingen, denen ein Reiz beigesellt ist, wird entweder dieser Reiz allein begehrt, oder man sucht außerdem nach der richtigen Beschaffenheit 16 ) des Gegenstandes, oder drittens nach dessen Nutzen. Die beiden letzten Eigenschaften decken sich zuweilen; so ist bei Speise und Trank das Gesunde zugleich nützlich und richtig beschaffen, während der Reiz in dem Genüsse besteht, der das Essen und Trinken begleitet. Ebenso hat das Studium seinen Reiz, seine richtige Art und seinen Nutzen. Kunstvolle Nachahmungen sind reizvoll, wenn sie Lust gewähren, dagegen ist ihre richtige Beschaffenheit nicht nach dieser Lust zu beurteilen, sondern nach der Übereinstimmung mit ihrem Vorbild. Also ist die Lust hier eine Wirkung dessen, was weder Nutzen, noch Wahrheit, noch Übereinstimmung enthält und übrigens auch keinen Schaden stiftet, sondern lediglich reizvoll ist; sodaß der Reiz, wenn ihm nichts anderes beigesellt ist, vollkommen in der Lust aufgeht. — Du meinst also die unschädliche Lust? bemerkt Kleinias. — Ja, erwidert der Athener, und ich nenne sie Spiel, wenn sie weder einen nennenswerten Nutzen noch Schaden zur Folge hat. Aus diesen Gründen dürfen wir niemals eine Nachbildung nach der Lust des Beschauers oder nach seiner (subjektiven) Meinung bewerten, sondern allein nach der Wahrheit der Darstellung. Nun dürfen wir behaupten, daß alle musische Kunst nachbildend und nachahmend ist.17) Also ist der Satz, daß die Schöpfungen der Kunst nach dem Grade des durch sie hervorgerufenen Lustgefühls zu bewerten seien (II, 5), falsch, vielmehr ist das Ziel der Kunst keineswegs die Lust, sondern die Ü b e r e i n s t i m m u n g d e r N a c h a h m u n g m i t d e m S c h ö n e n. 18 ) Wenn wir jetzt für unsere Männer nach dem schönsten Sange suchen, so müssen wir nicht nach dem lustvollen, sondern nach dem richtigen Gesänge forschen, der das, was er nachahmen will, auf das genaueste darstellt. Wer eine Dichtung, eine Musik oder sonst irgend ein Kunstwerk beurteilen will, muß das Wesen des Gegenstandes der Nachahmung vollständig erkannt haben, sonst wird er nicht zu beurteilen vermögen, ob der Künstler seine Absicht erreicht oder verfehlt hat. A A Bei Nachbildungen, die durch das Auge nachgeprüft werden können, •l -l liegt das auf der Hand. Wer den abgebildeten Gegenstand nicht genau kennt, wird nicht darüber urteilen können, ob das Abbild den Gegenstand und dessen Teile nach ihren Proportionen, ihrer Lage, ihren Umrissen und Farben richtig wiedergibt, oder ob alles ohne Ordnung und Verständnis aneinandergereiht ist. Gesetzt, daß wir nun in der Nachbildung eines Menschen alles dieses richtig zu erkennen vermöchten: würden wir dadurch auch ein

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Urteil über die Schönheit des Kunstwerkes gewonnen haben? — Keineswegs, erwidert Kleinias, denn sonst besäßen j a ungefähr alle Menschen die Erkenntnis der Schönheit der Wesen und ihrer Bilder. — Sehr richtig! bestätigt der Athener. Der Kunstrichter muß also überall, mag er ein Bild, eine Musik oder ein anderes W e r k zu beurteilen haben, dreierlei besitzen: erstlich die Kenntnis des Gegenstandes, zweitens die Kenntnis der korrekten Technik, drittens aber das Verständnis für eine wohlgelungene Anwendung der Kunstmittel. 19 ) Am schwersten ist dies in der Tonkunst; deshalb ist hier besondere Aufmerksamkeit geboten, zumal man die Musik hoch über alle anderen Künste zu stellen pflegt. Leider sind die Tonkünstler nicht so gute Meister wie die Musen. Diese würden niemals derartige Fehler begehen, wie sie jenen unterlaufen, wenn sie Verse, die von Männern vorgetragen werden, in eine Musik setzen, deren Tonfarbe und Melodie durchaus weibisch ist. W i r gewahren auch, daß sie den Gesängen und Gebärden freier Männer Rhythmen unterlegen, die nur auf Sklaven passen, und zu freien Rhythmen und stolzen Gebärden Melodien erfinden, wie sie Sklaven zu singen pflegen. Tierstimmen, Menschenstimmen, die verschiedenartigen Klänge der Instrumente behandeln sie völlig unterschiedslos, als ob sie überall nur einen und denselben' Gegenstand nachahmten. So gestalten sie alles zu einem regellosen Gemisch. Dazu trennen sie noch Wort, Ton, Rhythmus und Gebärde. Sie dichten Verse, die nur gesprochen werden, sie komponieren reine Instrumentalmusik, bei welcher niemand herausfinden wird, welche Bedeutung Rhythmus und Harmonie haben, welches der Sinn der Musik ist, welchem der Nachbildung würdigen Gegenstande sie gleichen soll. Kein W u n d e r daher, daß diese Musik voller Roheit ist, daß ihre Erfinder Geschwindigkeit, Virtuosität und tierische Klänge über alles lieben. V o n T a n z u n d G e s a n g l o s g e l ö s t , ist die Musik n i c h t mehr eine K u n s t , s o n d e r n nur noch ein Gaukelspiel. Indessen wollen wir nicht untersuchen, wozu unsere Männer die Musen nicht mißbrauchen sollen, sondern was ihrem Gesänge frommt. V o r allem müssen sie ein feines Gefühl für Rhythmus und Harmonie haben, denn sie würden sonst niemals erkennen, was an einer Melodie richtig ist: wo z. B. die dorische Weise am Platz ist und wo nicht, wo der Tondichter den rechten Rhythmus gefunden oder verfehlt hat. Lächerlich ist es, wenn das große Publikum ein Urteil über eine Melodie oder einen Rhythmus zu haben glaubt, weil es entzückt ist, weil es mitzusingen und die Glieder im Takte zu bewegen begehrt. Daß sie nichts wissen, wollen sie aber nicht glauben. — Jede Weise, die alles vereinigt, was ihr gemäß ist, ist richtig, jede andere verfehlt. Das

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wird aber niemand zu beurteilen vermögen, der das, was wir besprochen haben, nicht begriffen hat. A So haben wir gefunden, was unsere Alten wissen müssen, um sich mit x j L Verständnis die für sie passenden Weisen und Rhythmen auszusuchen. Dann werden sie sich gern der unschuldigen Freude des Gesanges hingeben und zugleich der Jugend das Beispiel guten Geschmackes und guter Sitte gewähren. Freilich bedürfen sie hierzu, wie wir gesehen haben, einer gründlicheren Bildung, als sie dem Volke erreichbar ist, ja sogar einer höheren Einsicht, als die Tondichter selbst. Denn ihnen muß auch jenes Dritte zu eigen sein, das wir soeben erwähnten: der Sinn für die Schönheit der Kunst. Der Dichter muß zwar die Regeln und Gesetze der Rhythmen und Harmonien kennen; ob seine Nachahmung schön oder nicht schön ausfällt, braucht er dagegen nicht zu wissen. 20 ) Nun müssen wir sehen, wie die Feste des dionysischen Chores verlaufen sollen. Es wird hierbei, wie wir schon früher bemerkten, unter dem Einfluß des Weines ziemlich unruhig zugehen, in der gehobenen Stimmung werden alle gleichzeitig reden wollen und einander nicht zu Worte kommen lassen. Da der Wein die Alten aber wieder jung macht, so werden sie auch wie die frohe Jugend bildsam und gefügig werden, wenn der rechte Mann die Leitung des Festes übernimmt. Dieser, dem die schwierige Aufgabe zufällt, die alten Zecher im Zaume zu halten, in ihnen die göttliche Furcht zu pflegen, die wir Scham und Scheu vor der Unschicklichkeit nannten, muß ein unerschütterlicher Mann sein; ohne einen nüchternen Führer gegen die Trunkenheit anzukämpfen, ist fast noch mißlicher, als ohne einen solchen in die Schlacht zu ziehen. Der Leiter der Feste soll zugleich der Gesetzgeber der Trinkenden sein, er soll ihnen die Gesetze des Gelages (den „Comment") verkünden und über deren Einhaltung wachen. Unter seinem Präsidium werden freie Unterhaltung, Stillschweigen, Lieder und gemeinsamer Umtrunk in der rechten Folge wechseln. Den, der sich den dionysischen Gesetzen nicht fügt, trifft ein noch ärgerer Schimpf als den Krieger, der gegen die Manneszucht verstößt. 21 ) Diese weinfrohe Geselligkeit wird die Alten zu immer engerer Freundschaft zusammenschließen; anstatt des Zankes und Streites, der auf wilden Gelagen zu herrschen pflegt, wird hier Sitte und Anstand gepflegt werden. — Gegen Gelage dieser Art habe auch ich nichts einzuwenden, erklärt Kleinias. AQ

A A Jedenfalls, stellt der Athener fest, wollen wir die Gabe des Diof nysos nicht schmähen, als ob sie schlecht und des Staates unwürdig wäre. Hierüber wäre noch manches zu sagen; v o n d e m h o c h -

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s t e n G u t , das uns der Gott beschert hat, dürfen wir indessen nur mit Zurückhaltung reden, da uns die Menge mißverstehen würde. Nach einer alten Sage soll die Göttermutter Hera den Dionysos, den Sohn einer Nebenbuhlerin, gehaßt und ihm die Sinne verwirrt haben. Deshalb soll der Gott aus Rache den rasenden bacchantischen Tanz erfunden haben und dazu den berauschenden Trank des Weines. Nach meiner Meinung beruht jedoch die Lust zum Tanze und zum Singen auf dem natürlichen Triebe eines jeden jungen Lebewesens, seine innere Unruhe in heftige Bewegungen umzusetzen. Solange es noch keine Vernunft besitzt, tobt und schreit es regellos, uns Menschen haben jedoch Apollon, die Musen und Dionysos den Sinn für Rhythmus und Harmonie verliehen. Hierin liegt der Ursprung der Musik und der Gymnastik. Deshalb glaube ich nicht daran, daß der Gott uns den Wein verliehen hat, damit wir rasen; wir sollen uns vielmehr seiner Gabe bedienen, um in der Seele Scham und im Leibe Gesundheit und Kraft zu erwecken. — Mit dieser Andeutung, die auf das bereits ausführlich Vorgetragene zurückzuverweisen scheint, läßt es Piaton aus dem angegebenen Grunde bewenden. Welches ist nun jenes höchste Gut, das Dionysos den Menschen gespendet hat? Es war Nietzsche beschieden, den großen Gedanken Piatons zu Ende zu denken, als er in dem Dionysischen und dem Apollinischen, der Welt des Rausches und der Welt des Traumes, die beiden Mächte fand, aus denen alle Kunst erwächst. Die ekstatisch-wilden Triebe des Dionysischen sind das Urelement, Apollon, der Gott aller bildnerischen Kräfte, gestaltet das ungestüme Toben zur Harmonie des vollendeten Kunstwerkes. D i e K u n s t ist also jenes höchste Gut, das der Gott uns verlieh. 22 ) Nach einer langen, etwas schwerfälligen Auseinandersetzung, daß der Chortanz, die Vereinigung von Reigen und Gesang, durchaus ein Mittel zur Erziehung sei, und daß nach der erschöpfenden Abhandlung der Musik nunmehr die Gymnastik als das zweite Element des rhythmischen Tanzes erörtert werden solle, bittet der Athener, zuvor auf die Betrachtungen über den Rausch den Schlußstein setzen zu dürfen. E r führt aus: Wenn der Staat den Weingenuß als eine wichtige Sache durch Ordnung und Gesetz regelt, um ihn zur Übung in der Besonnenheit zu nutzen, wenn er ebenso die anderen Freuden der Sinnenlust nach denselben Grundsätzen in die rechten Bahnen leitet, so mag dies geschehen. Wenn es aber jedem gestattet sein soll, in jeder beliebigen Gesellschaft nach seinem Gefallen zu trinken, ohne Rücksicht auf seine Aufgaben und Pflichten zu nehmen, so würde ich sogar über die kretisch-lakonischen Einschränkungen hinausgehen und den Mäßigkeitsgesetzen der Karthager den Vorzug geben. Diese untersagen den Weingenuß



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jedem Angehörigen eines im Felde stehenden Heeres; Sklaven und Sklavinnen ist der Wein strengstens verboten. Die Oberhäupter des Staates, die Richter, die Schiffskapitäne haben sich des Weines zu enthalten, solange sie ihr Amt führen, ebenso auch jeder, der in einer wichtigen Beratung mitzuwirken hat. Am Tage ist das Weintrinken überhaupt verboten, zur Nachtzeit s o l l e n E h e l e u t e , die e i n K i n d zu z e u g e n g e d e n k e n , keinen W e i n z u s i c h n e h m e n . (Vergl. VI, 18). Ein wohlregierter Staat wird deshalb nur weniger Weinstöcke bedürfen, und da er den ganzen Landbau nach den Bedürfnissen einer geregelten Ernährungsweise der Bürger einteilen wird, so wird dem Weinbau nur ein beschränkter Raum zugewiesen werden.

DRITTES Die natürliche

BUCH

Entwicklungsgeschichte

der

Staatsverfassungen

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Der Athener hatte soeben erklärt, daß die Gymnastik als die Schwesterkunst der Musik der nächste Gegenstand der Betrachtungen sein müsse. Anstatt dessen geht er unvermittelt auf ein völlig neues Thema über, das er durch einige, zunächst etwas rätselhaft klingende Fragen folgendermaßen darstellt: 23 ) Wir müssen annehmen, daß seit der Begründung der ersten Staatsverfassung eine imberechenbar lange Zeit verflossen ist, innerhalb welcher unzählige Staaten mit allen nur möglichen Verfassungsformen im unaufhörlichen Aufstieg und Abstieg zum Besseren und Schlechteren entstanden und wieder untergegangen sind. Wir wollen versuchen, die Ursachen dieser Wandlungen zu ergründen; vielleicht entdecken wir hierbei den Ursprung der ersten Verfassung. — Die alten Sagen berichten uns, daß die Menschheit durch Wasserfluten, Seuchen und andere Verheerungen dieser Art s c h o n o f t bis auf wenige Überlebende vernichtet worden sei. Wir dürfen diesen Sagen Glauben schenken und wollen annehmen, daß die letzte dieser Katastrophen eine Wasserflut gewesen ist.24) Von dieser Flut werden vermutlich nur einige Hirtenfamilien verschont geblieben sein, die sich auf ihre hohen Berge zu retten vermochten. Diese Menschen wußten in ihrer Bergeinsamkeit nichts von dem Treiben der untergegangenen Städtebewohner, von ihrer rast-

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jedem Angehörigen eines im Felde stehenden Heeres; Sklaven und Sklavinnen ist der Wein strengstens verboten. Die Oberhäupter des Staates, die Richter, die Schiffskapitäne haben sich des Weines zu enthalten, solange sie ihr Amt führen, ebenso auch jeder, der in einer wichtigen Beratung mitzuwirken hat. Am Tage ist das Weintrinken überhaupt verboten, zur Nachtzeit s o l l e n E h e l e u t e , die e i n K i n d zu z e u g e n g e d e n k e n , keinen W e i n z u s i c h n e h m e n . (Vergl. VI, 18). Ein wohlregierter Staat wird deshalb nur weniger Weinstöcke bedürfen, und da er den ganzen Landbau nach den Bedürfnissen einer geregelten Ernährungsweise der Bürger einteilen wird, so wird dem Weinbau nur ein beschränkter Raum zugewiesen werden.

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Der Athener hatte soeben erklärt, daß die Gymnastik als die Schwesterkunst der Musik der nächste Gegenstand der Betrachtungen sein müsse. Anstatt dessen geht er unvermittelt auf ein völlig neues Thema über, das er durch einige, zunächst etwas rätselhaft klingende Fragen folgendermaßen darstellt: 23 ) Wir müssen annehmen, daß seit der Begründung der ersten Staatsverfassung eine imberechenbar lange Zeit verflossen ist, innerhalb welcher unzählige Staaten mit allen nur möglichen Verfassungsformen im unaufhörlichen Aufstieg und Abstieg zum Besseren und Schlechteren entstanden und wieder untergegangen sind. Wir wollen versuchen, die Ursachen dieser Wandlungen zu ergründen; vielleicht entdecken wir hierbei den Ursprung der ersten Verfassung. — Die alten Sagen berichten uns, daß die Menschheit durch Wasserfluten, Seuchen und andere Verheerungen dieser Art s c h o n o f t bis auf wenige Überlebende vernichtet worden sei. Wir dürfen diesen Sagen Glauben schenken und wollen annehmen, daß die letzte dieser Katastrophen eine Wasserflut gewesen ist.24) Von dieser Flut werden vermutlich nur einige Hirtenfamilien verschont geblieben sein, die sich auf ihre hohen Berge zu retten vermochten. Diese Menschen wußten in ihrer Bergeinsamkeit nichts von dem Treiben der untergegangenen Städtebewohner, von ihrer rast-

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losen Jagd nach Geld und Ehren nebst allen daraus hervorgegangenen Ränken und Missetaten. Zugleich muß damals alles, was an Technik und Kunst, an Weisheit und Staatskunde vorhanden war, ebenfalls untergegangen sein. — Gewiß, wirft Kleinias ein, a l l e s d i e s e s h a t d a s M e n s c h e n g e s c h l e c h t , dem wir a n g e h ö r e n , im L a u f e unzähliger J a h r t a u s e n d e wieder von neuem e r f i n d e n müssen. Nachdem sich die Wasser wieder verlaufen hatten, schauten die Ueberlebenden auf eine wüste Oede hinaus. Fruchtbares Land gab es jetzt in reicher Fülle, sonst waren den Menschen nur einige Rinder und Ziegen zu ihrem Lebensunterhalt verblieben. Die Erinnerungen an Städte und Staatsverfassungen erloschen bald völlig. Das ist der Naturzustand, aus welchem das heutige Geschlecht mit seinen Staatsverfassungen, Künsten und Gesetzen, seinen Tugenden und Lastern hervorgegangen ist. Unsere Stammväter wußten von alledem nichts; vieles Schöne, aber auch vieles Häßliche war ihnen unbekannt, sie werden daher weder in Tugend noch in Bosheit groß gewesen sein. Alle Uebergänge bis auf die Gegenwart können sich nur sehr langsam und allmählich vollzogen haben. Solange die Schrecknisse der Flut noch in frischer Erinnerung standen, werden die Bergbewohner auf ihren Höhen geblieben sein. Da sie gering an Zahl und vom Verkehr mit anderen Ueberlebenden abgeschnitten waren, freuten sie sich, wenn sie einander begegneten. Von Krieg und Aufruhr war keine Rede mehr, zumal es an Eisen zur Herstellung von Waffen fehlte. Der Athener gibt hierauf eine ausführliche, lebhaft an Rousseau erinnernde Schilderung dieses idyllischen Naturzustandes: In ihrer Einsamkeit schlössen sich diese Menschen eng an einander an und liebten sich, weil kein Streit um die Nahrung stattfand. Denn an Vieh war bald kein Mangel mehr, Milch und Fleisch gab es im Ueberfluß, auch die Jagd lieferte gute Erträge. Ebensowenig fehlte es ihnen an Bekleidung, an Streu und an Hütten. Die Hirten erlernten die Künste des Flechtens und des Formens aus Ton, hierzu bedurften sie des Eisens nicht, auf dessen Gewinnung sie sich nicht verstanden. So waren sie nicht eigentlich arm und wurden deshalb nicht durch Not mit einander entzweit, andererseits waren sie nicht reich, denn Gold und Silber besaß keiner von ihnen. Wo es aber weder Reichtum noch Armut gibt, werden fast immer reine Sitten herrschen, denn Uebermut und Ungerechtigkeit, Mißgunst und Neid finden dort keinen Boden. Deshalb blieben sie gutmütig und einfältig. Sie bewahrten den schlichten Glauben an ihre Ueberlieferungen und vertrauten auf Götter und Menschen, ohne Argwohn, daß man sie belügen könnte.

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der V e r f a s s

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So lebten zahlreiche Geschlechter dahin, kunstloser und unwissender als die Menschen vor der Flut und als die Menschen der Gegenwart. Die sogenannten Errungenschaften der Technik waren ihnen fremd; fern lag ihnen der Krieg und das Getriebe der inneren Kämpfe und Zwistigkeiten in Gestalt von Aufständen und Prozessen, woraus die Menschen lernen, Frevel und Ungerechtigkeiten jeglicher Art gegen einander zu verüben. Dagegen waren sie tapferer, einfältiger, besonnener und im ganzen auch gerechter. Welches waren nun ihre Gesetze und ihre Gesetzgeber? Zunächst bedurften sie der Gesetzgeber überhaupt nicht, sie lebten nach ungeschriebenen Gesetzen, den überlieferten väterlichen Sitten und Gebräuchen gemäß. Auch dies war indessen eine Art Verfassung, wie sie gegenwärtig noch unter Griechen und Barbaren zu finden ist. Man pflegt sie als die patriarchalische (dvvaateia) zu bezeichnen. Homer schildert sie in den Versen, wo er von den Cyklopen erzählt: Dort ist weder Gesetz, noch öffentliche Versammlung; Sondern sie wohnen all auf den Häuptern hoher Gebirge In gehöhleten Grotten, und jeder gebietet als Richter Ueber Kinder und Weiber und kümmert sich nicht um die Andern. Kleinias bemerkt: Euer Homer scheint ein anmutiger Dichter zu sein; ich habe auch sonst manches Hübsche von ihm gehört, wenn auch nicht viel. Denn wir Kreter befassen uns mit fremden Dichtern nicht sehr. — Aber wir, erklärt Megillos, schätzen den Homer überaus hoch, obwohl er nicht gerade das Leben der Sßartaner, sondern mehr das der Ionier schildert. — Dann, fährt der Athener fort, wollen wir das Zeugnis Homers gelten lassen, daß es in der Vorzeit eine derartige Verfassung gegeben hat. Es ist die Verfassung eines Stammes, der, nach Familien geschieden, in zerstreuten Gehöften wohnt. In diesen ist der Aelteste der Gebieter der Familie. W i e er seine Herrschaft von seinem Vater überkommen hat, übt er sie dem väterlichen Brauche getreu als das gerechteste aller Königtümer aus. Infolge des Anwachsens der Bevölkerung wagten sich sodann einige Bergbewohner in das Tiefland hinab, um am F u ß e der Berge Ackerbau zu treiben. Sie bauten sich dort ihre Höfe und begründeten mit ihren Sippen eine allmählich anwachsende größere Gemeinschaft. Jeder Hof behielt jedoch seine eigenen Sitten und Gesetze, seine eigenen Anschauungen von Göttern und Menschen bei, hielt zähe an den alten Traditionen des Hauses fest und überlieferte sie Kindern und Kindeskindern. So hat jedes Geschlecht sein eigenes

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Gesetz, das es ehrt und liebt, während es an den Gesetzen der andern kein Gefallen findet. — Damit sind wir unversehens beim Ursprung der Gesetzgebung angelangt! Denn sobald diese Sippen dazu übergingen, sich zu einem festen Staats verbände zusammenzuschließen, mußten sie einige Männer mit der Aufgabe betrauen, die Gesetze der einzelnen Sippen zu studieren und aus ihnen ein gemeinsames Gesetz des ganzen Stammes zusammenzustellen. Diese Gesetzgeber hatten also die Verfassung des neuen Staates zu begründen und dessen Herrscher einzusetzen. Sie werden entweder ein aristokratisches Regiment oder ein Königtum geschaffen haben. Auf diese Entwicklungsstufe folgt die Periode der Städtegründungen, und damit entsteht eine dritte Staatsform, aus der alle späteren Verfassungen hervorgegangen sind. Von einer solchen ersten Städtegründung erzählt uns Homer. Er berichtet, daß Dardanos die Stadt Dardania am Fuße des Ida erbaut habe, bevor Troja stand. Auch das dürfen wir dem göttlichen Dichter glauben. Denn es ist durchaus wahrscheinlich, daß die Bergbewohner ihre ersten Städte am Fuße der Berge gebaut haben, während lange Zeiten ablaufen mußten, bis die Menschen die Schrecken der Wassersnot so völlig vergessen hatten, daß sie es wagten, eine Stadt wie Troja auf einem niedrigen Hügel an der Meeresküste zu gründen. Nachdem noch manche andere Städte entstanden waren, begannen sie sofort sich zu Lande und zu Wasser zu bekriegen. Zehn Jahre währte der Krieg vor Troja. Als dann die Sieger heimkehrten, wurden sie von ihren Landsleuten, vor allem von der zurückgebliebenen, mangels rechter Zucht verwilderten Jugend übel aufgenommen. 28 ) Es geschah Mord und Blutvergießen, viele der alten Krieger wurden aus der Heimat vertrieben. Die Verbannten sammelten sich aber in der Fremde und eroberten unter dem Namen Dorier, den sie anstelle des alten Namens Achäer annahmen, ihre Stammsitze zurück. Das Weitere lehrt die Geschichte Spartas.") Damit sind wir auf dem Umwege über die Musik und den Rausch unversehens wieder zu unserm Ausgangspunkt zurückgekehrt. Wir vergegenwärtigten uns den ersten, zweiten und dritten Zustand der menschlichen Gemeinschaft und nahmen an, daß sich diese Zustände in unermeßlich langen Zeiträumen allmählich entwickelt haben, bis aus ihnen zuletzt die nahe miteinander verwandten Verfassungen der Kreter und Spartaner hervorgegangen sind. Mit der Erwähnung dieser beiden Verfassungen, in denen wir jetzt das vierte Glied der Entwicklungsreihe auffinden, hatten wir ja unsere Betrachtungen begonnen. Wenn wir hoffen dürfen, in dieser Entwicklungsgeschichte ein Merkmal zu finden, das uns erkennen läßt, welche staatlichen Einrich-

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tungen gut oder schlecht sind, welche Gesetze erhaltend oder auflösend wirken, so dürfen wir die Mühe nicht scheuen, unsere Betrachtungen noch einmal von Anfang an wieder aufzunehmen. Megillos erklärt sich bereitwilligst damit einverstanden. Wenn die zweite Untersuchung ebensogute Ergebnisse verspreche wie die erste, so werde ihm darüber auch der heutige Hochsommertag nicht lang werden. Der Athener beginnt: Wir wollen uns in die Zeit zurückversetzen, als die dorischen Eroberer ihr Heer teilten, die drei Staaten Argos, Messene und Sparta gründeten und zu deren Königen Temenos als Herrscher von Argolis, Kresphontes als Herrn Messenes und Prokies und Eurysthenes als gemeinsame Gebieter Spartas einsetzten. Diese drei Staaten garantierten sich durch feierliche Eide gegenseitig die Aufrechterhaltung ihrer Verfassungen, derart, daß die drei Völker und ihre Könige gelobten, sowohl im Falle eines Staatsstreiches von Seiten eines der Herrscher, wie auch im Falle der Empörung eines der drei Völker dem angegriffenen Teile Schutz und Beistand zu leihen. Dadurch schienen die Verfassungen auf alle Zeiten gesichert zu sein, z u m a l jedes Königtum, wie ü b e r h a u p t jede S t a a t s g e w a l t , f a s t niemals durch fremde Willkür, sondern zumeist durch e i g e n e s V e r s c h u l d e n g e s t ü r z t w i r d . Bei der Begründung einer Verfassung pflegt es freilich nicht ohne einigen Zwang abzulaufen. Die Menge verlangt zwar, daß der Gesetzgeber ihr keine Einschränkung auferlege, die sie nicht freiwillig auf sich nimmt; aber dieses Verlangen ist ebenso töricht, als wenn jemand dem Arzte beföhle, ihm bei der Behandlung seines kranken Körpers nur Lustgefühle zu bereiten, während er doch zufrieden sein muß, wenn die Kur leidlich schmerzlos gelingt. In mancher Hinsicht hatten es allerdings jene alten Gesetzgeber leichter, als ihre Nachfolger. Die Aufgabe, eine gewisse Gleichheit der Vermögen einzuführen, ein Problem, das spätere Gesetzgeber stets zu gewaltsamen Eingriffen in die bestehenden Besitz- und Schuldverhältnisse nötigt, vermochten sie durch eine gleichmäßige Verteilung des eroberten Landes ohne Schwierigkeiten zu lösen. Schulden, deren Aufhebung zum Ausgleich der Vermögensverhältnisse erforderlich gewesen wäre, waren damals überhaupt kaum vorhanden. Wie ist es nun zu erklären, daß es ihnen trotzdem nicht gelang, dauerhafte Staatengebilde zu schaffen? Warum gerieten zwei der neuen Staaten, Argos und Messene, so schnell in Verfall, während nur Sparta sich stark und lebenskräftig erhielt? Die Beantwortung dieser Fragen wird uns auf das Wesen einer guten Gesetzgebung führen. Ohne Zweifel war es die Absicht jener Staatengründer, in den drei eng verbundenen Ländern eine Macht zu schaffen, die nicht nur

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dem Peloponnes, sondern dem ganzen Hellas einen sicheren Schutz gegen alle Angriffe der Asiaten zu gewähren vermöchte. Denn es war zu befürchten, daß das mächtige Reich der Assyrer Rache für die Zerstörung Trojas nehmen würde, weil diese Stadt zu ihrem Herrschaftsbereich gehört hatte.") Um diese Gefahr abzuwehren, wäre die vereinigte Macht der Dorier die zuverlässigste Stütze gewesen. Sie wäre auch unwiderstehlich geblieben, wenn die drei Staaten den Ueberlieferungen ihrer Gründer die Treue bewahrt hätten; doch abgesehen von dem inneren Verfall der Argiver und Messenier verstrickten sie sich überdies untereinander in unaufhörliche Kriege. Wie kam es also, daß eine solche Macht verfiel? Bevor der Athener auf diese Frage eingeht, setzt er dem Megillos folgendes in breiter Ausführlichkeit auseinander: Wenn jemand eine große und schöne politische Institution oder ein machtvolles historisches Gebilde betrachtet, begegnet es ihm sehr häufig, daß er sich in müßige Spekulationen darüber verliert, was daraus hätte werden können, wenn die Menschen verstanden hätten, den rechten Gebrauch von den ihnen gebotenen Möglichkeiten zu machen. Ich muß deshalb selbst über den Eifer lächeln, mit dem ich mir ausmalte, welche Wunder die vereinigte Macht der dorischen Staaten gewirkt haben könnte. Indessen liegt es gar zu sehr im Wesen der Menschen, fromme Wünsche zu hegen, wenn sie sich Reichtum, Macht und Ehren als den Inbegriff alles Wünschbaren vor Augen stellen. Hierin sind das Kind, der Mann, der Greis nicht von einander verschieden. Der Vater wird aber keineswegs alle kinldlichen Wünsche seines Sohnes gutheißen, wie auch der Sohn nicht das wollen wird, was ihm ein verblendeter Vater zugedacht hat. Megillos stimmt ihm zu: Der Mensch soll die Götter nicht bitten, daß alles nach seinen Plänen verlaufe, sondern daß er in seinen Plänen durch rechte Einsicht geleitet werde. Deshalb soll der Einzelne wie der Staat allein danach streben, zur Einsicht zu gelangen. — J a ! erklärt der Athener. Und deshalb sagte ich zu Anfang unserer Unterredung, daß der staatskluge Gesetzgeber nicht, wie ihr wolltet, alles auf den Krieg und auf die untergeordnete Tugend der Tapferkeit einzustellen habe, sondern auf die ganze Tugend und zumal auf die Führerin zu aller Sittlichkeit. Diese ist die Einsicht nebst der Besinnung und der rechten Meinung, im Bunde mit der leidenschaftlichen Begierde, allein der Vernunft zu dienen. Daher will ich im Ernst und im Scherz den Satz verfechten, daß es gefährlich ist, fromme Wünsche zu hegen, ohne Vernunft zu besitzen. Im Ernst aber hoffe ich, daß ihr mir darin beistimmen werdet: An dem Sturz der Könige und an dem Mißlingen ihrer Pläne waren weder Feigheit, noch Unkenntnis im Kriegswesen schuld, sondern an-

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dere Untugenden mancherlei Art, vor allem ihre Unwissenheit in den wichtigsten menschlichen Dingen. S o w a r e s d a m a l s , s o i s t e s j e t z t , u n d s o w i r d e s k ü n f t i g s e i n . Ich werde versuchen, euch, meinen Freunden, dies deutlich zu machen. Voller Bewunderung ruft Kleinias aus: Anstatt dich mit Worten zu loben, was dir selbst vielleicht peinlich wäre, wollen w i r dich, wie es edlen Männern besser ansteht, durch die Tat preisen, indem wir deiner Rede mit angespannter Aufmerksamkeit folgen. — So soll es sein! bestätigt Megillos. Der Athener fährt fort: Welches ist nun die große Unwissenheit, welche damals die dorische Macht vernichtet hat und auch künftig ebenso verderblich wirken wird? Sie besteht darin, daß der Mensch das, was er als gut und schön anerkennen muß, nicht liebt, sondern haßt, während er das, was er als schlecht und unrecht erkennt, liebt und willkommen heißt. Diese Disharmonie der Lust und Unlust mit dem vernünftigen Urteil nenne ich die äußerste Unwissenheit und darum die größte, weil sie den größten Teil des Gemütes erfüllt. Denn der Teil der Seele, in welchem Lust und Unlust hausen, entspricht dem Teile des Staates, den man als die große Menge bezeichnet (vgl. Politeia IV, 16). W e n n die Seele sich gegen ihre natürlichen Gebieter, ihr Wissen, ihre Urteilskraft, ihre Vernunft, empört, wenn schöne und richtige Einsichten nichts, ausrichten, sondern der Mensch diesen entgegengesetzt handelt, so ist das derselbe Unverstand, als wenn die Menge im Staate nicht ihren Herrschern und ihren Gesetzen gehorcht. Diese Unwissenheit ist die schlimmste von allen, verderblich für den Staat und verderblich für den einzelnen Bürger. Es darf niemandem, der in dieser Unwissenheit befangen ist, gestattet sein, an der Regierung des Staates teilzunehmen, so scharfsinnig, geschickt und gewandt er auch sonst sein möchte. W e r dagegen von dieser Unwissenheit frei ist, soll als weise gelten und zur Leitung des Staates berufen werden, mag er auch sonst so unbelehrt sein, daß er, wie das Sprichwort sagt, weder lesen noch schwimmen kann. Denn wie könnte auch nur die geringste Einsicht ohne jene Harmonie bestehen? Die vollendete Harmonie (zwischen Neigung und Einsicht) ist die höchste Weisheit, sie ist jedem erreichbar, der den Geboten seiner Vernunft folgt. W e r sich von ihr lossagt, ist der Verlderber seines Hauses und seines Staates. A f \ In jedem Staate muß es Herrscher und Beherrschte geben. Wieviele • I v / Herrschgewalten (¿¡itbfiara xov ze äg%£iv xal &QXEO&CU) gibt es nun? Der Athener zählt die folgenden auf: An erster Stelle steht die elterliche Gewalt, zweitens haben die Edlen über die Unedlen zu gebieten, drittens haben die Aelteren zu befehlen, die Jüngeren zu gehorchen. An vierter Stelle folgt

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die Gewalt der Herren über die Sklaven, fünftens sollen die Starken über die Schwächeren herrschen. — Das ist besonders wichtig! bemerkt Kleinias. — Auch finden wir diese letzte Art der Herrschaft in der Natur überall, bei allen Tieren. Am wichtigsten scheint mir aber die sechste Herrschgewalt zu sein, gemäß derer die Unverständigen der Leitung der Verständigen zu folgen haben. Auch sie ist ein durchaus natürlicher Zustand, nicht wie Pindar meint, ein gewaltsamer 28 ). Zuletzt ist noch eine siebente gottgewollte Herrsch gewalt anzuführen, die auf der Verteilung der Lose beruht; sie ist die Herrschaft der Wohlgeratenen über die Schlechtweggekommenen. Es ist klar, daß diese verschiedenartigen Anwartschaften auf die Herrschaft miteinander kollidieren und eine Quelle des Unfriedens bilden werden; der Gesetzgeber, der diese Ansprüche auszugleichen hat, steht hier vor keiner leichten Aufgabe. Worin haben nun die Könige von Argos und Messene gegen diese Gebote gefehlt? Haben sie etwa das Wort des Hesiod nicht beachtet, daß die Hälfte oft mehr ist als das Ganze? Wir dürfen annehmen, daß die Fürsten eher gefehlt haben als ihre Völker: daß sie sich nicht mit den Rechten begnügten, die ihnen die beschworene Verfassung verlieh, sondern nach der unumschränkten Herrschaft strebten. So verfielen sie in jene größte Torheit und richteten sich und ihre Staaten zugrunde. Durch welche Einrichtungen hätte nun der Gesetzgeber diesem Unheil vorbeugen können? Diese Frage ist jetzt leicht zu beantworten, wenn wir auf die spartanische Verfassungsgeschichte sehen; die alten Gesetzgeber hätten jedoch weiser sein müssen als wir, um schon damals die richtige Lösung zu finden. Megillos bittet, ihm dies näher zu erläutern. AA Bevor der Athener darauf eingeht, schickt er die folgenden Betrach-"•1 tungen voraus: Schwache Dinge, die zu stark ausgerüstet werden, z. B. ein Schiff mit übergroßen Segeln oder ein unverhältnismäßig stark ernährter Körper, nehmen Schaden und geraten in die Gefahr, zugrundezugehen. Ebenso verhält es sich mit der menschlichen Seele. Sie ist zu schwach, um eine Ueberfülle von Macht zu ertragen, zumal wenn sie jung und niemandem verantwortlich ist. Der Uebermut, die Quelle aller Frevel, erfüllt einen solchen Herrscher mit jener größten Torheit, bis er allen verhaßt wird und seinem Untergange verfällt. Diese Gefahr haben eure Gesetzgeber erkannt, vielleicht hat sich ein Gott der Geschicke des spartanischen Staates angenommen. Schon das in Sparta von altersher bestehende Doppelkönigtum war in dieser Hinsicht eine höchst segensreiche Einrichtung. Diese geteilte Macht wurde sodann durch den Rat der 28 Alten noch weiter eingeschränkt; die ungestüme Tatkraft des königlichen Geschlechtes wurde dadurch auf das glück-

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lichste mit der reifen Einsicht des Alters verbunden. Und als die Regierungsgewalt auch dann noch nicht genügend gemäßigt zu sein schien, wurden überdies noch als dritte höchste Behörde die Ephoren eingesetzt. Durch diese kluge Teilung der Gewalten gelang es, den spartanischen Staat und dessen Königtum zu erhalten, während die Könige der Argiver und Messenier gestürzt wurden und ihre Staaten mit sich ins Verderben rissen. Leider hatten deren Gesetzgeber nicht eingesehen, d a ß junge Herrscher, die zu großer Macht gelangen, sich niemals durch Eide verhindern lassen werden, nach tyrannischer Gewalt zu streben. W e n n die Gesetzgeber diese Einsicht und damit die Fähigkeit besessen hätten, die dorische Macht geschlossen zusammenzuhalten, würden es die Perser schwerlich gewagt haben, Griechenland mit Krieg zu überziehen. Trotz der glänzenden Siege, die über die Perser erfochten wurden, bietet dieser Krieg im ganzen keineswegs ein erfreuliches Bild. Denn von den drei dorischen Staaten waren zwei so verderbt, daß der eine, Messene, die Spartaner mit aller Macht bekriegte, als die Perser heranrückten"), während der andere, Argos, sich für neutral erklärte. Auch abgesehen davon ließ die Einmütigkeit der griechischen Staaten vieles zu wünschen übrig. Die Hauptlast des Krieges hatten Athen und Sparta zu tragen, und ihnen allein ist es zu verdanken, daß Griechenland nicht in schmählicher Sklaverei unterging. Worin besteht also die wichtigste Aufgabe des Gesetzgebers? E r soll keine unbeschränkte und ungeteilte Regierungsgewalt begründen, sondern soll die Gesetzgebung so einrichten, daß im Staate Freiheit, Einsicht und Brüderlichkeit (qpdia, wörtlich Freundschaft) herrscht. Dies sind nicht drei verschiedene Aufgaben, vielmehr ist das Ziel überall dasselbe. Auf die Frage des Kleinias, was der Gesetzgeber zu tun habe, u m einen solchen Staat zu schaffen, führt der Athener aus: Es gibt zwei Verfassungen, die wir gewissermaßen als die Urformen aller anderen Staatsverfassungen ansprechen dürfen, die Monarchie und die Demokratie. Am schärfsten ausgeprägt finden wir jene bei den Persern, diese bei den Athenern. Alle anderen Verfassungen sind Mischformen, und zwar müssen sie notwendig an beiden Urformen teilhaben, wenn in ihnen Freiheit und Brüderlichkeit im Bunde mit Einsicht Bestand haben soll. Die Aufgabe des Gesetzgebers ist also, in der Zusammensetzung einer Verfassung aus monarchischen und freiheitlichen Elementen das richtige Maß einzuhalten. Dem entsprechen vorzugsweise die Verfassungen der Kreter und Spartaner, bis zu einem gewissen Grade auch die alten Verfassunger der Perser und Athener, ihre gegenwärtigen freilich nicht mehr. Zu den Zeiten des Kyros lebten die Perser im rechten Gleichmaß von Frei-

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P1 a t o n s G es et z e

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heit und Untertänigkeit. Im Genüsse der ihnen vergönnten Freiheit liebten Volk und Heer ihren Herrscher und setzten im Kriege willig und tapfer ihr Leiben für ihn ein. Das freie Wort war jedem Einsichtsvollen gestattet, und so verband die Achtung vor der vernünftigen Einsicht den König mit seinem Volke. Deshalb gedieh der Staat durch Freiheit, Brüderlichkeit und durch die gemeinsame Pflege der Vernunft. Wie dies alles unter Kambyses verloren ging und durch Dareios annähernd wiederhergestellt wurde, wollen wir zu erraten suchen. Es scheint, daß Kyros, ein tüchtiger Feldherr und ein wahrer Freund seines Volkes, den größten Teil seines Lebens auf Kriegszügen zugebracht und sich wenig um sein Haus gekümmert hat. Die Erziehung seiner Kinder überließ er seinen Frauen, und diese erzogen sie als plötzlich reich gewordene Weiber in dem Glauben, daß ihren Kindern schon durch die Geburt alles Glück des Lebens zugefallen sei, und daß ihnen nun nichts mehr fehlen könne. Sie ließen ihnen deshalb in allen Stücken ihren Willen und verboten jedem, ihnen zu widersprechen, vielmehr hatte jedermann alles, was sie sagten oder taten, zu loben. Ihr Vater erwarb ihnen nun zwar unermeßliche Reichtümer und unzählige Herden von Vieh und Sklaven, doch übersah er darüber, daß anstatt der alten Zucht, die aus dem persischen Hirtenvolk, den Bewohnern eines rauhen Berglandes, ein starkes, durch Strapazen und Nachtwachen gestähltes Kriegsvolk geschaffen hatte, seinen Söhnen eine weichliche medische Erziehung zuteil wurde. Die Zügellosigkeit dieser Erziehung trug nach dem Tode des Kyros ihre schlimmen Früchte: Kambyses ermordete seinen Bruder, um nicht die ererbte Macht mit ihm zu teilen. Darauf verlor er, durch Trunksucht und Roheit in Raserei verfallend, seine Herrschaft an die Meder und den Eunuchen. 80 ) Dareios war kein Königssohn und hatte keine weichliche Erziehung genossen. Als er zur Herrschaft kam, bemühte er sich, die alten persischen Sitten wiederherzustellen und unter seinen Untertanen eine gewisse Gleichheit einzuführen. Das Volk gewann er für sich, indem er ihm einen Anteil an den Tributen der unterworfenen Länder zukommen ließ. Indessen verfiel er in denselben Fehler, der dem Hause des Kyros verderblich geworden war: auch er duldete, daß sein Sohn Xerxes in Ueppigkeit und Schwelgerei auferzogen wurde. Seitdem hat Persien, dessen Herrscher sich Großkönige nennen, niemals wieder einen großen König besessen. Die Ursache ist nicht der Zufall, sondern das verwerfliche Leben, das die Kinder der übermäßig Reichen und der Tyrannen zu führen pflegen. Eurem Staate, ihr Lakedämonier, muß man die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß ihr dem Reichen und dem Armen, dem Königssohn und dem einfachen Bürger dieselbe Erziehung erteilt,

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wie sie euch zu alten Zeiten die Weisheit göttlicher Orakel vorgeschrieben hat. Darum, weil er reich ist, darf niemand im Staate ausgezeichnete Ehrungen empfangen, wie ja auch Schnelligkeit, Schönheit, Kraft keine Ehre verdienen, wenn sie der Tugend ermangeln, ja selbst die Tugend nicht, wenn ihr die Besonnenheit fehlt. Dies erläutert der Athener dem Megillos wie folgt: Ein Teil der Tugend ist Tapferkeit. Würdest du dir nun einen Hausgenossen oder Nachbarn wünschen, der außerordentlich tapfer, aber nicht besonnen, sondern ungezügelt wäre? — Das wäre schlimm, meint Megillos. — Oder einen Menschen, der zwar kunstfertig und klug, aber unredlich ist? Nun ist Rechtschaffenheit nicht ohne Besonnenheit möglich, ebensowenig d i e Weisheit, deren Wesen wir darin fanden, daß der Mensch seine Neigungen zur Harmonie mit seiner vernünftigen Einsicht gestaltet. Diese Erwägungen führen uns auf die Rangordnung, nach welcher im Staate die Tugenden zu bewerten sind. Würde Besonnenheit für sich allein, ohne einer anderen Tugend zugesellt zu sein, als wertvoll, oder als nicht wertvoll bezeichnet werden müssen? — Das wüßte ich nicht zu sagen, erwidert Megillos. — Der Athener lobt die vorsichtige Antwort, jede andere würde ihm nicht gefallen haben. Er setzt dem Megillos auseinander: Die Besonnenheit ist nur eine Zusatztugend (n(¡¿ody/ia), die als solche keinen eigenen Wert hat. Andererseits müssen die Tugenden nach dem Nutzen bewertet werden, den sie in Verbindung mit der Besonnenheit gewähren. Die Tugend, die im Bunde mit der Besonnenheit den höchsten Nutzen schafft, muß an erster Stelle stehen, und die fernere Rangordnung der Tugenden ist nach demselben Verhältnis zu bestimmen. Wir wollen jedoch unsere Zeit nicht damit verlieren, diese Rangordnung vollständig darzustellen, es mag uns genügen, ihre drei ersten Glieder aufzuzeigen. Jedenfalls muß aber der Gesetzgeber diese Rangordnung kennen, denn das Glück des Staates hängt davon ab, daß er in der rechten Reihenfolge dessen, was zu ehren und nicht zu ehren ist, nicht fehlgreift. Die höchste Ehre gebührt den Gütern der Seele, die zweite den Gütern des Leibes, die dritte denen des Besitzes und Vermögens, alles dieses unter der Bedingung, daß überall Besonnenheit waltet. Zu dieser Erkenntnis hat uns die Betrachtung der persischen Verfassungsgeschichte verholfen. Wir sahen, daß die Zustände immer schlechter wurden, je mehr dem Volke die Freiheit verloren ging. Seitdem sannen die Herrscher nicht mehr auf das Wohl ihrer Völker, sondern nur noch auf die Interessen ihrer Dynastie. Wo sich nur ein geringer Vorteil zu bieten schien, zögerten sie nicht, befreundete Länder mit Feuer und Schwert zu verheeren, unbe-

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kümmert um den Haß, den sie gegen sich erregten. Wenn sie dann genötigt waren, sich zu ihrer eigenen Verteidigung auf ihre Völker zu stützen, so mußten sie gewahren, daß sie nur mehr über feige Sklaven ohne jeglichen Gemeinsinn geboten; zur Rettung ihrer Herrschaft fanden sie deshalb kein anderes Mittel, als fremde Söldnerscharen aufzubieten. Dahin trieb sie die Torheit, alles Edle und Schöne für Tand gegen Gold und Silber zu halten. Der Athener geht hierauf zu dem Gegenstück der Monarchie, der freiheitlichen attischen Verfassung, über. An ihr sehen wir, daß die schrankenlose, von aller Autorität losgelöste Freiheit fast ebenso verderblich ist, wie das zur Despotie entartete Königtum. Aus der alten Verfassung, unter welcher die Bürger Athens die Ehrfurcht vor dem Gesetz und vor den Lenkern ihres Staates bewahrten, gewannen sie die Kraft, in den Perserkriegen die Freiheit ihres Staates gegen die Uebermacht des Feindes siegreich zu verteidigen. Die höchste Gefahr schloß sie desto enger zusammen; sie schuf in ihnen den festen Willen, als ein einiges Volk alles für die Freiheit des Vaterlandes einzusetzen. Der Athener läßt eine lebhafte Schilderung der Bedrängnisse der ersten beiden Perserkriege folgen und schließt: Diese Ehrfurcht vor der Autorität, wie sie zu jener Zeit herrschte, ist der Scheu vor dem Schändlichen, der wir vorhin gedachten, wesensgleich. Ohne sie wäre das Heimatland mit seinen A C Heiligtümern und den Gräbern der Ahnen f ü r die Athener verloren ge-l J wesen. Seit dieser großen Zeit nahm die athenische Verfassungsgeschichte den umgekehrten Verlauf der persischen. Während dort die Freiheit unter dem Zwange der Despotie unterging, wurden in Athen alle Schranken der Autorität durch die Entfesselung einer zügellosen Freiheit niedergelegt. Wir können diese Entwicklung am besten in der attischen Musik verfolgen®1). Man unterschied in der alten Musik vier Kunstformen: Götterhymnen, Klagelieder, den Päan und den dionysischen Dithyrambus. Man nannte sie gesetzmäßige Weisen 32 ); von dem kunstlosen Gesänge waren sie äußerlich dadurch unterschieden, daß sie unter Zitherbegleitung vorgetragen wurden. Diese streng gesetzmäßigen Formen durften nicht miteinander vermengt werden. Zu Preisrichtern über den Kunstgesang wurden ausschließlich sachkundige Männer bestellt, das Volk hatte nicht hineinzureden. Der gesittete Teil des Publikums war gewohnt, im Theater schweigend zuzuhören, die Jugend und der Pöbel wurden durch die Stäbe der Festordner in Zucht gehalten. Hier fügte sich also das Volk willig dem Urteil berufener Kenner und versuchte nicht, durch lärmende Aeußerungen des Beifalls oder des Mißfallens in die Entscheidung einzugreifen. Im Laufe der Zeit kamen jedoch Tondichter auf, die nicht mehr die alten musischen Gesetze anerkannten, sondern

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in wilder Begeisterung die alten Formen durcheinander warfen und sich lediglich an die Sinnenlust des Publikums wandten. Sie brachten die falsche Lehre auf, daß es eine Gesetzmäßigkeit in der Musik überhaupt nicht gebe, daß vielmehr die Lust, die sie im Publikum errege, der einzige Maßstab ihres Wertes sei. So führten sie in die Musik die Gesetzlosigkeit und alle Arten gewagter Experimente ein. Das Theater wurde aus einer Stätte ruhigen Zuhörern ein Tummelplatz der Leidenschaften, die alte Aristokratie mußte der Herrschaft des Pöbels weichen. Die Menge wähnte selbst zu wissen, was schön und nicht schön sei, und hielt sich deshalb für berufen, auch in allen anderen Dingen als oberster Richter aufzutreten. Sie verlernte bald jegliche Ehrfurcht; mit der Scheu verlor sie alle Scham und verfiel schließlich in jene schlimmste Schamlosigkeit, das Urteil besserer Männer für nichts zu achten.



Kein Wunder daher, daß das Unheil von hier aus unaufhaltsam seinen Lauf nahm. Zunächst ging der Gehorsam gegen die Obrigkeit verloren, sodann die Achtung vor den Eltern, dem Alter und dem Gesetz, und am Ende die Scheu vor Eidbruch und Treubruch und der Glaube an die Götter. Man bekannte sich zu dem sogenannten titanischen Trotz und stürzte sich, wie jene Titanen, in heilloses Elend. W a r u m habe ich alles dieses vorgetragen? frägt der Athener. E s scheint notwendig zu sein, die Rede von Zeit zu Zeit wie ein feuriges Roß zu zügeln, damit sie nicht mit uns durchgeht. E r wiederholt den bisherigen Gedankengang des Dialoges wie folgt: W i r sagten, daß der Gesetzgeber eine dreifache Aufgabe zu lösen habe: im Staate Freiheit, Brüderlichkeit und rechte Einsicht zu schaffen. Daher stellten wir uns die unfreieste und die freieste Verfassung vor Augen und gelangten dadurch zu der Erkenntnis, daß der Gesetzgeber zwischen diesen beiden Extremen die rechte Mitte einzuhalten habe. Ferner betrachteten wir die dorischen Staatengründungen und die Gründungen der dardanischen Städte am F u ß e der Berge und in der Ebene, nachdem wir uns vorher die Zustände der Ueberlebenden aus der letzten großen Flut vergegenwärtigt hatten. Demselben Zwecke dienten die Untersuchungen über die Musik und den Rausch, sowie das diesem Voraufgegangene. Dieser Zweck war die Gewinnung der Einsicht, wie der Staat auf das vortrefflichste einzurichten sei, und wie der einzelne Mensch zu einer vollkommenen Lebensführung gelangen möchte. Welche Probe können wir nun anstellen, um zu erkennen, ob unser Versuch gelungen ist? Kleinias erwidert: Ich glaube eine solche Probe zur Hand zu haben; wie mir scheint, hat uns ein gütiges Geschick zur rechten Zeit zusammengeführt. Denn vor kurzem haben die Kreter beschlossen, eine Kolonie zu gründen. Meine Vaterstadt Knossos hat die Leitung des

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Viertes Buch

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Unternehmens übernommen und mich mit neun anderen Männern beauftragt, der Kolonie das Gesetz zu geben. Wir haben die Vollmacht erhalten, nicht nur unter den Gesetzen der Kreter, sondern auch in den Gesetzgebungen anderer Länder Umschau zu halten, um aus allem das Beste auszuwählen. Jetzt können wir dem Unternehmen den größten Dienst leisten, wenn wir aus dem, was wir erörtert haben, den Plan einer Verfassung unserer künftigen Tochterstadt zu entwickeln suchen. Gleichzeitig werden wir dadurch die Zweckmäßigkeit unserer bisherigen Ergebnisse am sichersten nachprüfen können. Dem Athener ist dieser Vorschlag hochwillkommen, ebenso dem Megillos. — So wollen wir denn, ruft Kleinias erfreut, an die Gründung unserer Stadt herantreten.

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Die G r u n d l a g e n der neuen Verfassung Der Athener läßt sich zunächst die Lage der künftigen Kolonie und die IBeschaffenheit der zu besiedelnden Landschaft genau beschreiben. Wie ihre Mutterstadt Knossos wird die Kolonialstadt etwa 80 Stadien (ca. 15 km) vom Meere entfernt liegen, obwohl es der Küste nicht an geschützten Buchten fehlt. Die Landschaft ist mehr bergig als eben; der Boden trägt, ohne sonderlich reich zu sein, alle Früchte. Die Gegend ist unbewohnt, die ehemalige Bevölkerung hat das Land vor langer Zeit verlassen.33) Der Athener knüpft hieran die folgende Kritik, die den kolonialen Anschauungen jener Zeit allerdings schroff widerstreitet: Es scheint mir nicht ausgeschlossen zu sein, daß sich die Kolonisten unter diesen Verhältnissen zu tüchtigen Menschen entwickeln können. Viel schlimmer wäre es, wenn die Kolonie als Hafenstadt eines unfruchtbaren Landes geplant wäre, denn in diesem Falle würden die Einwohner zur Seefahrt genötigt sein und bald die schlimmen Sitten seefahrender Völker annehmen. Immerhin liegt die Küste mit ihren guten Häfen noch bedenklich nahe. So groß die Annehmlichkeiten sind, die das Meer bietet, ist es dennoch ein salziger und bitterer Nachbar. Es verführt zum Handel und Gelderwerb und leistet damit dem Aufkommen eines zur Unzuverlässigkeit und Untreue neigenden Krämergeistes Vorschub. Aus

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Unternehmens übernommen und mich mit neun anderen Männern beauftragt, der Kolonie das Gesetz zu geben. Wir haben die Vollmacht erhalten, nicht nur unter den Gesetzen der Kreter, sondern auch in den Gesetzgebungen anderer Länder Umschau zu halten, um aus allem das Beste auszuwählen. Jetzt können wir dem Unternehmen den größten Dienst leisten, wenn wir aus dem, was wir erörtert haben, den Plan einer Verfassung unserer künftigen Tochterstadt zu entwickeln suchen. Gleichzeitig werden wir dadurch die Zweckmäßigkeit unserer bisherigen Ergebnisse am sichersten nachprüfen können. Dem Athener ist dieser Vorschlag hochwillkommen, ebenso dem Megillos. — So wollen wir denn, ruft Kleinias erfreut, an die Gründung unserer Stadt herantreten.

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Die G r u n d l a g e n der neuen Verfassung Der Athener läßt sich zunächst die Lage der künftigen Kolonie und die IBeschaffenheit der zu besiedelnden Landschaft genau beschreiben. Wie ihre Mutterstadt Knossos wird die Kolonialstadt etwa 80 Stadien (ca. 15 km) vom Meere entfernt liegen, obwohl es der Küste nicht an geschützten Buchten fehlt. Die Landschaft ist mehr bergig als eben; der Boden trägt, ohne sonderlich reich zu sein, alle Früchte. Die Gegend ist unbewohnt, die ehemalige Bevölkerung hat das Land vor langer Zeit verlassen.33) Der Athener knüpft hieran die folgende Kritik, die den kolonialen Anschauungen jener Zeit allerdings schroff widerstreitet: Es scheint mir nicht ausgeschlossen zu sein, daß sich die Kolonisten unter diesen Verhältnissen zu tüchtigen Menschen entwickeln können. Viel schlimmer wäre es, wenn die Kolonie als Hafenstadt eines unfruchtbaren Landes geplant wäre, denn in diesem Falle würden die Einwohner zur Seefahrt genötigt sein und bald die schlimmen Sitten seefahrender Völker annehmen. Immerhin liegt die Küste mit ihren guten Häfen noch bedenklich nahe. So groß die Annehmlichkeiten sind, die das Meer bietet, ist es dennoch ein salziger und bitterer Nachbar. Es verführt zum Handel und Gelderwerb und leistet damit dem Aufkommen eines zur Unzuverlässigkeit und Untreue neigenden Krämergeistes Vorschub. Aus

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demselben Grunde ist es gut, daß das Land nicht allzu fruchtbar ist und deshalb eine Ausfuhr überschüssiger Bodenerzeugnisse kaum zulassen wird. Infolgedessen besteht die Gefahr nicht, daß in dem neuen Staate eine Anhäufung von Gold und Silber stattfinden könnte, die wir für das größte, die Reinheit und Rechtschaffenheit der Sitten unfehlbar verderbende Übel erklärt hatten. Auf eine weitere Frage äußert Kleinias, daß in dem neuen Lande sowohl an Hartholz zum Bau von Schiffen, wie an Weichholz zu deren innerer Einrichtung Mangel sei. Auch das befriedigte den Athener: es sei immer gut, meint er, wenn ein Staat außerstande sei, schlechte Beispiele seiner Feinde nachzuahmen. Diese Ansicht, erklärt er dem verwunderten Kleinias, steht durchaus im Einklang mit den Anschauungen, die ich von Anfang an vertreten habe. Schon zu Beginn unserer Unterredung habe ich betont, daß das Ziel einer jeden Gesetzgebung nicht eine Teiltugend, sondern die ganze Tugend sein muß. Dieses Ziel muß der Gesetzgeber überall, wie ein tüchtiger Bogenschütze, unbeirrt und fest im Auge behalten, er darf nur auf das sehen, was mit dem ewig Schönen in Gemeinschaft steht. Alles andere, mögen es Reichtümer oder andere äußere Vorzüge sein, fällt demgegenüber nicht ins Gewicht. Es ist ein Hauptbeispiel unangebrachter Nachahmung des Feindes, wenn ein nicht seefahrendes Volk, durch eine Seemacht bedrängt, sich ebenfalls eine Flotte baut. 34 ) Dies war der Ursprung der athenischen Seemacht. Durch den schweren Druck, den die Flotte Minos' auf Athen ausübte, wurden die Athener veranlaßt, ebenfalls zur See zu gehen. Es wäre ihnen aber besser gewesen, den Kindertribut an den kretischen Herrscher noch einige Male zu leisten, als aus einem Landvolk ein Seevoik zu werden. Denn die feste Tapferkeit des schwerbewaffneten Landsoldaten wird durch die Taktik des Seekrieges ernstlich gefährdet. Der Athener führt diesen Satz näher aus und belegt ihn durch ein Beispiel aus dem trojanischen Kriege. Sodann fährt er fort: Da in einer Seeschlacht allein die seemännische Gewandtheit den Ausschlag gibt, fallen nach einem Seesiege die Ehren und Siegespreise nicht den Besten und Bewährtesten, sondern den rohen, unzuverlässigen Matrosen zu. Wie kann aber ein Staat bestehen, der dem Würdigsten die verdiente Ehrung vorenthält? Hiergegen wendet Kleinias ein, daß Griechenland nach Ansicht der Kreter seine Rettung dem Seesiege bei Salamis verdanke. — Megillos und ich sind anderer Meinung, erwidert der Athener. Wir behaupten, daß dieser Erfolg den Landschlachten bei Marathon und Plataeae zu danken ist, von denen die erste der Anfang, die zweite die Vollendung der Befreiung Griechenlands war. Im übrigen kommt es nicht allein auf den Erfolg an. Die

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Rettung, ja die Existenz des Staates ist nicht, wie die Menge meint, das ausschließlich Wichtige: das höchste Gebot ist, daß sich der Staat, solange er Bestand hat, zur höchsten Vortrefflichkeit erhebe (vgl. unten VI, 15). An diesem Grundsatz müssen wir festhalten, wenn wir der einzurichtenden Kolonie das Gesetz geben. Der Athener frägt hierauf, aus welchen Elementen sich die Schar der Auswanderer zusammensetze. Werde es jedem beliebigen Kreter freigestellt, sich dem Zuge anzuschließen, etwa in der Absicht, überschüssiges Proletariat aus den Städten zu entfernen? Oder gedenke man gar, auch fremde Griechen in die Kolonie aufzunehmen? Kleinias erwidert: Die Kolonisten seien zumeist Kreter aus allen Gegenden der Insel, zu einem kleineren Teile Einwanderer aus den peloponnesischen Ansiedelungen auf Kreta. Der Athener bemerkt hierzu: Die Gründung einer Kolonie ist leicht, wenn die Kolonisten, wie ein wandernder Bienenschwarm, eine einheitlich zusammengesetzte Gemeinschaft bilden. Das ist der Fall, wenn ein Teil der Bürgerschaft einer Stadt durch wirtschaftliche Nöte oder durch innere Unruhen zur Auswanderung gezwungen wird, oder wenn etwa ein unglücklicher Krieg eine ganze Bevölkerung aus ihren Wohnsitzen vertreibt. In allen Fällen dieser Art ist die Aufgabe des Gesetzgebers insofern einfach, als die Auswanderer an ihren heimischen Gesetzen und Gebräuchen auch dann zähe festhalten werden, wenn sie die eigentliche Ursache des Unheils waren, das sie aus der Heimat vertrieb. Deshalb würde der Versuch, ihnen bessere Gesetze zu geben, aussichtslos sein. Eine aus heterogenen Bestandteilen zusammengesetzte Expedition wird eine völlig neue Verfassung bereitwilliger annehmen; indessen wird es einer langen Zeit bedürfen, bis die Kolonisten durch die neue Rechtsordnung so zu einem einheitlichen Ganzen zusammengeschweißt sind, daß sie wie ein Pferdegespann dem Zügel ihrer Lenker willig gehorchen. Ueberall wird man sich aber damit abfinden müssen, daß die hohen Absichten des Gesetzgebers vielfach an Zufälligkeiten und menschlichen Schwächen scheitern. Man darf geradezu sagen, daß zumeist weniger die Menschen, als die äußeren Verhältnisse, der Ausfall eines Krieges, Mangel und Nöte aller Art, sogar Seuchen, den Inhalt der Gesetze bestimmen. Anscheinend sind überhaupt alle menschlichen Dinge, der Sieg in der Schlacht, der Ausfall einer Kur oder einer Seefahrt nicht minder als das Gelingen einer Gesetzgebung, dem Zufall und dem Walten der Gottheit überantwortet. Aber man muß hinzufügen, daß es die Aufgabe der menschlichen Kunst ist, sich diesen Zufälligkeiten anzupassen. Es ist ein großer Unterschied, ob man in einem schweren Seesturm auf die Tüchtigkeit des Kapitäns bauen

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kann oder nicht. Dasselbe gilt für die Gesetzgebung: glückliche Umstände und ein einsichtsvoller Gesetzgeber müssen zusammenwirken, wenn dem Staate Glück und Heil zuteil werden soll. Welche äußeren Verhältnisse würde sich nun der Gesetzgeber wünschen, wenn er frei wählen dürfte? Er würde sagen: Gebet mir einen Tyrannenstaat, über welchen ein junger, gedächtnisstarker, lernbegieriger, tapferer und hochgesinnter Tyrann gebietet. Auch die Besonnenheit darf dieser Tyrannenseele nicht fehlen. In diesem Falle bedarf es nicht einmal jener hohen Besonnenheit der Einsicht, von welcher vorhin die Rede war, es genügt schon die einfache, natürliche Besonnenheit, die wir sogar an Kindern und Tieren wahrnehmen, wenn sie sich ihren Gelüsten nicht hemmungslos hingeben. In einem solchen Staate ist es am leichtesten und schnellsten möglich, eine gute Verfassung zu schaffen. Höchst erstaunt frägt Kleinias: Ein Tyrann sollte die Gewähr für die Möglichkeit einer guten Verfassung bieten, wenn er jung, besonnen, lernbegierig, gedächtnisstark, tapfer und hochsinnig ist? — Füge noch hinzu, erwidert der Athener: wenn er so glücklich ist, daß ihn ein gütiges Schicksal mit einem hervorragenden Gesetzgeber zusammenführt. Dann wird alles andere leicht vonstatten gehen36). Immer noch an dem Ernst des Vorgetragenen zweifelnd, frägt Kleinias: Hiernach wäre also eine gemäßigte Tyrannis der beste Boden für die Tätigkeit eines Gesetzgebers, der zweitbeste eine Oligarchie und der drittbeste eine Demokratie? — Die Reihenfolge ist etwas anders, belehrt ihn der Athener. An erster Stelle steht die Tyrannis, an zweiter das Königtum, an dritter die Demokratie, alsdann folgt erst die Oligarchie. Denn in ihr besteht die weitestgehende Teilung der Gewalten. Die Vorbedingung des gedeihlichen Wirkens eines wahrhaften Gesetzgebers ist aber die, daß ihm eine starke ungeteilte Staatsgewalt zur Seite steht. J e weniger Machthaber im Staate vorhanden sind, und je uneingeschränkter ihre Gewalt ist, desto günstiger sind diese Verhältnisse. Das ist in der Tyrannis der Fall. — Das verstehen wir nicht! erklärt Kleinias. — Wahrscheinlich, bemerkt der Athener, habt ihr niemals einen Tyrannenstaat kennen gelernt? — Ich habe auch kein Verlangen danach, erwidert jener. — Und doch, fährt der Athener fort, würdest du dort eben das finden, wovon jetzt die Rede ist. Ein Tyrann, der die Anschauungen seiner Untertanen ändern will, hat ein leichtes Spiel. Es wird schon genügen, daß er auf dem Wege vorangeht, den sein Volk beschreiten soll. Er wird sein Volk ebenso leicht zur Tugend wie zur Untugend leiten, wenn er das, was er will, durch seine Handlungen vorzeichnet, wenn er denen, die ihm darin nachfolgen, Ehren, den Widerstrebenden Unehren bereitet. Immer sind es die Mächtigen im Staate, die Gesetze und Sitten umgestalten. 38 ) Das

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ist leicht und schon oft geschehen, ein anderes ist sehr selten, aber auch im höchsten Grade segensreich, wenn es sich ereignet: daß ein großes Königshaus oder mächtige Herrengeschlechter, mögen sie durch vornehme Abkunft oder durch Reichtum zur Macht gelangt sein, von leidenschaftlicher Liebe zur Besonnenheit und Gerechtigkeit ergriffen werden. Großes vermag auch der Einzelne zu wirken, in welchem die Gaben des Nestor Wiederaufleben: höchste Redegewalt im Verein mit höchster Besonnenheit. Ein solcher Mensch wird glücklich leben und auch die beglücken, die seinen Worten willig lauschen. Nur da, wo die höchste Macht mit höchster Einsicht und Besonnenheit vereint ist, wird die vollendete Verfassung entstehen, sonst nirgends. Wir sehen daraus, wie schwer es ist, daß eine Verfassung wohlgerät. In dieser Erkenntnis wollen wir jetzt an die Gesetzgebung unserer Kolonie herantreten, als Greise das Spiel der Kinder nachahmend, die sich Figuren aus Ton kneten. — Zögern wir also nicht länger, bemerkt Kleinias trocken. Zuvor aber, erklärt der Athener, wollen wir den Gott bitten, unserem Werke beizustehen. Möge er uns erhören und uns gnädig nahen. — Möge er sich denn nahen, sagt Kleinias. — Welche Verfassung wollen wir denn unserem Staate geben? frägt der Athener. — Was bedeutet diese Frage? entgegnet sein ungeduldiger Freund; meinst du eine Demokratie, eine Oligarchie, eine Aristokratie oder ein Königtum? Eine Tyrannis wirst du uns hoffentlich nicht vorschlagenl — Wer von euch beiden, fährt der Athener gemächlich fort, will mir zuerst angeben, welchem dieser Verfassungstypen die Verfassung seines Heimatstaates entspricht? Megillos bittet, als der Aeltere zunächst das Wort ergreifen zu dürfen. E r bekennt, daß ihn die Frage in einige Verlegenheit setze. Mit der Tyrannis habe die spartanische Verfassung wegen der tyrannischen Gewalt der Ephoren einige Aehnlichkeit, in anderer Hinsicht gleiche sie einer Demokratie. Dennoch werde es ganz verfehlt sein, sie nicht als Aristokratie zu bezeichnen, und schließlich bestehe in Sparta seit den ältesten Zeiten die königliche Gewalt. Es sei also nicht so einfach, eine bestimmte Regierungsform als die spartanische anzugeben. — Dasselbe gilt von der Verfassung meiner Heimatstadt Knossos, fügt Kleinias hinzu. — Der Grund dessen ist, belehrt sie der Athener, daß ihr wirkliche, echte Verfassungen habt. Alles andere, was man sonst Verfassung nennt, ist nichts dergleichen, sondern ein Zustand der Willkür und Gewalt, durch die ein grösserer oder kleinerer Teil der Bevölkerung den anderen tyrannisch beherrscht, derart, daß dieser rechtlos ist und lediglich zu gehorchen hat. Je nach der Besonderheit des herrschenden Teiles erhält dieser Zustand den Namen ir-

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gend einer Verfassung (Demokratie, Oligarchie u. s. w,). W e n n das richtig ist, müssen wir jetzt den Namen des Gottes nennen, der in Wahrheit der Herrscher aller vernunftbegabten Wesen ist. Zu diesem Zwecke muß ich einen kleinen Mythos erzählen. — Erzähle ihn denn, wenn es sein muß, versetzt Kleinias resigniert. Der Athener beginnt: Vor uralten Zeiten herrschte die glückliche Regierung des Kronos über die Menschen. (Das goldene Zeitalter Hesiods.) Die besten unter den heutigen Verfassungen sind Nachbildungen dieses Zustandes. — Dann ist es freilich der Mühe wert, näheres darüber zu hören, höhnt Kleinias. — Megillos ergreift indessen die Partei des Atheners und bittet ihn, weiter zu erzählen. Dieser fährt fort: Die Sage berichtet uns von dem glücklichen Leben, das die Menschen zu jener Zeit führten, wo sie alles im Ueberfluß besaßen. Der Weisheit des Kronos blieb es nicht verborgen, daß das Wesen der Menschen nicht dazu taugt, ihre Angelegenheiten selbstherrlich zu leiten; wie wir ja ebenfalls fanden, daß die Natur des Menschen zu schwach ist, um durch den Besitz der Macht nicht zu Uebermut und Unrecht verleitet zu werden. Zu Herrschern bestellte der Gott deshalb höhere Wesen, die Dämonen; ähnlich wie wir die Obhut über eine Herde nicht Ochsen und Ziegen, sondern Menschen anvertrauen. Unter der milden Hand der Dämonen herrschte auf Erden Friede, Ehrfurcht, gesetzlicher Sinn und Gerechtigkeit; glücklich und ohne Streit verlief das Leben der Menschen. Diese Sage bedeutet, daß kein Sterblicher, sondern nur ein Gott über Menschen gebieten soll, weil sonst des Elendes kein Ende ist. Wenn wir daher der glücklichen Zeit des Kronos nacheifern wollen, müssen wir d e m U n s t e r b l i c h e n i n u n s die Herrschaft über den Staat und über die Lebensführung des Einzelnen anvertrauen und dessen Gebote Gesetz nennen 87 ). Wenn aber ein Mensch, eine Demokratie, eine Oligarchie nur den Begierden nachjagt und nur deren Stillung begehrt, ohne doch jemals eine Befriedigung des unersättlichen Verlangens zu finden: wenn darüber Recht und Gesetz mit Füßen getreten werden, so gibt es keine Rettung und kein Heil. Deshalb, lieber Kleinias, verdient dieser Mythos unsere Aufmerksamkeit. Wollen wir nun dessen Sinn weiter verfolgen? Die herrschende Meinung nimmt an, daß es ebensoviele Rechtssysteme (elöt] vöfiojv) wie Verfassungen gebe; Verfassungen gebe es aber nicht mehr und nicht weniger als diejenigen, die wir genannt haben. Diese Lehre besagt nichts geringes, denn sie stellt alles, was wir bisher festgestellt haben, in Frage. Nach ihr wäre nicht die Tugend oder ein Teil der Tugend das Ziel der Gesetzgebung, sondern lediglich die Erhaltung der bestehenden Verfas-

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sung. Gerecht wäre mithin das, was der geltenden Verfassung nützt, ungerecht das, was sie gefährdet, und einzig darin bestände das Wesen des Rechts und des Unrechts. Alsdann wäre das Recht das, was dem Stärkeren nützt 38 ). Folgerichtig behauptet man weiter, daß weder eine Demokratie, noch eine Tyrannis, noch eine andere Regierungsgewalt jemals andere Gesetze erlassen werde als solche, die ihr zur Aufrechterhaltung ihrer Macht geeignet erscheinen. Diese Gesetze werden für gerecht erklärt, und wer sich ihnen nicht fügt, heißt Verbrecher. Hier haben wir einen jener Ansprüche auf die Herrschgewalt, von denen wir vorhin (III, 10) redeten, und zwar würde ihm der von Pindar angegebene Rechtsgrund entsprechen, daß die Gewalt das Recht schaffe. Wir aber müssen uns fragen, ob die Gewalt oder das Recht im Staate herrschen soll. Bisher regierte fast stets die Gewalt. Wer in dem Streit um die Macht die Oberhand gewann, setzte sich in den alleinigen Besitz des Staates und vergönnte den Unterlegenen keinen Anteil. Argwöhnisch wurde jeder Gegner niedergehalten, damit sich niemand erheben und für das erlittene Unrecht Vergeltung üben könne. Von diesen Zuständen sagte ich soeben (IV, 5), daß sie nicht Verfassungen seien, denn diesen Namen verdient nur eine Rechtsordnung, die das Wohl des g a n z e n Staates und aller seiner Bürger gewährleistet. Alle anderen Konstitutionen müssen nicht Staatsverfassungen, sondern Parteiverfassungen heißen, sie sind mitsamt ihren Gesetzen null und nichtig. Dies wollen wir bei der Einrichtung unserer Kolonie besonders beachten. Wir werden niemandem die Herrschaft anvertrauen, weil er reich oder vornehm ist, oder weil er andere äußere Vorzüge besitzt, vielmehr werden wir uns die Männer auswählen, die den Gesetzen am treuesten gehorchen. Dem, der in diesem Wettstreit des Gehorsams den ersten Preis davonträgt, verleihen wir die höchste Würde, die nächsthohe dem Zweiten und so fort. Die Menschen, die man jetzt Herrscher nennt, nennen wir D i e n e r d e r G e s e t z e (Friedrich der Große!), nicht, um damit ein neues Wort einzuführen, sondern weil das Heil des Staates einzig darauf beruht, daß in diesem Sinne gehandelt wird. Dem Staate, in dem das Gesetz kraftlos und der Willkür der Regierenden untergeordnet ist, weissage ich den Untergang. Wo aber das Gesetz ü b e r d i e R e g i e r e n d e n herrscht, werden sich alle Güter einstellen, die je die Götter einem Staate spendeten. — Beim Zeus! ruft Kleinias aus, für dein Alter siehest du scharf! — Für solche Dinge, entgegnet der Athener, hat ein junger Mensch kein Auge, den sicheren Blick gewinnt erst das Alter. Nun wollen wir uns unseren Kolonisten zuwenden und zu ihnen also reden:

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DieGrundlagenderVerfassung „Der Gott ist, wie ein altes Wort sagt3*), der Anfang, das Ende und die Mitte alles Seins. Er schreitet auf dem geraden Wege unaufhaltsam fort, geleitet von der strafenden Gerechtigkeit. Wer sich, auf Geld, auf Ehren oder auf körperliche Wohlgestalt pochend, überhebt, sich in dem Wahne, nicht zum Dienen, sondern zum Herrschen berufen zu sein, die Seele mit Anmaßung und Torheit erfüllen läßt, geht mitsamt den Genossen seines frevelhaften Uebermutes dem Untergange entgegen. Mag er eine Zeitlang als großer Mann gelten: zuletzt erreicht ihn doch die strafende Gerechtigkeit und bereitet ihm und seinem Hause das Verderben." Was hat also der Verständige zu tun? — Nichts anderes, antwortet Kleinias, als dem Gotte nachzufolgen. —• Worin besteht nun das gottgefällige Leben? Befreundet ist das Gleiche dem Gleichen, wenn es maßvoll ist; das Maßlose ist dagegen weder sich, noch dem Maßvollen Freund. Das Maß aller Dinge ist aber Gott, nicht der Mensch, wie man behauptet hat 40 ). Wer dem göttlichen Wesen nach Kräften wohlgefällig werden will, muß also bestrebt sein, ihm ähnlich zu werden. — Das zweite Gebot, unter allen das wahrste und schönste, lautet, daß es dem Guten, nicht aber dem Bösen Segen bringt, den Göttern durch Gebet, Opfer und Weihgeschenke zu huldigen. Dem Bösen frommt dies nicht, weil es weder Göttern noch Menschen ziemt, aus unreiner Hand Gaben anzunehmen. Vergebens müht sich daher der Böse, die Götter durch Gebete und Opfergaben f ü r sich zu gewinnen. Wir werden also den olympischen Göttern und den Göttern der Unterwelt nach den vorgeschriebenen Riten opfern, demnächst auch den Dämonen und Heroen"). Sodann haben wir die Eltern zu ehren. Ihnen, die uns unter Sorgen, Schmerzen und Mühen auferzogen, haben wir die ätleste unki heiligste Schuld aller Erdenschulden abzutragen; mit allem, was wir besitzen, was wir mit Leib und Seele zu leisten vermögen, haben wir ihnen zu dienen. Wenn sie im Alter unseres Beistandes bedürftig werden, sollen wir ihnen die Hilfe vergelten, die sie unserer Jugend angedeihen ließen. Unser ganzes Leben hindurch haben wir ihnen die schuldige Ehrfurcht zu erweisen und uns vor schnellen, bösen Worten zu hüten. Hierüber wacht die Nemesis, die Botin der strafenden Gerechtigkeit. Wenn sie in Zorn geraten, sollen wir ihnen nachgeben und uns nicht selbst zum Zorne hinreißen lassen; wir müssen erwägen, daß nichts natürlicher ist, als daß der Vater zürnt, der sein Kind im Unrecht glaubt. Den abgeschiedenen Eltern soll man ein würdiges Grabmal bereiten, ohne übermäßigen Prunk und ohne es an dem Herkömmlichen fehlen zu lassen: das schicklichste Grabmal ist zugleich das schönste. Ihr Andenken ist stets in Ehren zu halten, an ihren Grabstätten sind alljährlich

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die üblichen Gedächtnisfeiern zu veranstalten. — Welche Pflichten wir nach göttlichem und menschlichem Recht gegen Kinder, Verwandte, Freunde, Mitbürger und Fremde zu erfüllen haben, werden die Gesetze auf das genaueste gebieten, damit der Staat den Göttern lieb werde. Alles wird sich freilich nicht in das Schema eines Gesetzes schicken; in diesen Fällen wird sich der Gesetzgeber darauf beschränken, Beispiele aufzustellen. Jeder gute Gesetzgeber wird wünschen, die Menschen durch seine Gesetze zur Tugend zu überreden. Was ich soeben vortrug, könnte wohl dazu dienen, daß die Worte des Gesetzgebers nicht auf rohe, sondern auf empfängliche Seelen wirken. Damit wäre schon viel gewonnen, denn die Bereitwilligkeit der Menge, in kürzester Frist so vortrefflich wie möglich zu werden, ist leider nicht sehr groß. Vielmehr beweist ihr Verhalten, wie wahr das Hesiodische Wort von dem leichten und ebenen Wege zum Laster und von dem steilen Wege zur Tugend ist. Der Athener zitiert die berühmten Verse Hesiods: „Vor die Tugend setzten den Schweiß die unsterblichen Götter, Langhin dehnet zu ihr sich der Pfad und steil geht er aufwärts, Ist im Beginne gar rauh; doch wenn du zur Höhe gelangt bist, Führt er geschwinde dahin, so schwer er zuvor auch gewesen."

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Hierauf apostrophiert der Athener den Gesetzgeber folgendermaßen: „Den Poeten hattest du vorhin verboten, alles zu dichten, was ihnen einfällt, weil sie nicht wissen, welchen Schaden sie damit anrichten können. Und fürwahr: wenn sich der Dichter auf dem Dreifuß seiner Muse niederläßt, ist er, wie die pythische Seherin, nicht mehr bei Sinnen; frei wie ein Quell läßt er seine Eingebungen dahinströmen. Da das Wesen seiner Kunst Nachahmung ist, so reden aus ihm die mannigfachen Gestalten seiner Dichtung, eine jede nach ihrer Art. Sie werden vieles Widersprechende vorbringen, und der Dichter wird selbst nicht wissen, wer von ihnen recht hat. So darfst du als Gesetzgeber nicht verfahren, du darfst überall nur eine Ansicht verkünden. So sagtest du vorhin, daß man nicht ein prunkvolles, nicht ein ärmliches Grabmal bauen, sondern die rechte Mitte einhalten solle. Ein Dichter würde hier drei Personen auftreten lassen, um diese drei Bestattungsarten der Reihe nach anzupreisen. Hiergegen würde deine Prosa nicht leicht aufkommen. Jedenfalls mußt du deutlich sagen, was du unter einem mäßigen Aufwände verstehst, sonst wäre dein Gebot kein Gesetz." Die zweite Frage ist, ob es nicht zweckmäßig sein würde, daß der Gesetzgeber seinen Geboten einiges vorausschickte („Motive"), anstatt

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Die G r u n d l a g e n der V e r f a s s u n g einfach zu befehlen und der Gesetzesvorschrift die Strafandrohung folgen zu lassen. Im ersten Falle würde er, wie ein geschickter Arzt, seinen Schutzbefohlenen freundlich zugeredet haben, um sie von der Notwendigkeit seiner Anordnungen zu überzeugen. Dieser Gedanke wird durch eine anschauliche Beschreibung des athenischen Ärztewesens näher ausgeführt: Es gibt zwei Klassen von Medizinern, die freigeborenen Ärzte und ihre unfreien Gehilfen. Diese eignen sich einige medizinische Kenntnisse und Fertigkeiten an, die sie ihren Herren ablernen, ohne jedoch in das Wesen der Heilkunde einzudringen. Gleichwohl nennt man sie ebenfalls Ärzte und läßt sie auch zur selbständigen Ausübung der Heilkunst zu. Im allgemeinen dürfen sie jedoch nur Sklaven behandeln. Diesen geben sie kurz und höchst gebieterisch ihre Anordnungen, als ob sie über ein gründliches Wissen verfügten; alsdann eilen sie fort, um so schnell wie möglich den nächsten Jtranken Sklaven aufzusuchen oder sich wieder in die Sprechstunde ihres Herrn zu begeben. Die Gründe ihrer Vorschriften teilen sie ihren Patienten nicht mit; sie würden auch schwerlich in der Lage sein, dem Kranken oder sich selbst hierüber Rechenschaft zu geben, weil ihre Kenntnisse nicht auf einem gründlichen Studium, sondern auf gewöhnlicher Routine beruhen. Ihre Herren, denen sie dadurch einen Teil ihrer Arbeit abnehmen, haben umsomehr Muße, sich ihrer freigeborenen Patienten anzunehmen. Sie werden sich zunächst bemühen, durch Rücksprache mit dem Kranken und seinen Angehörigen die Krankheitsgeschichte von Anfang an kennenzulernen. Darauf werden sie den Patienten über seinen Zustand aufklären und sein Vertrauen zu gewinnen suchen. Erst dann werden sie ihre Anordnungen geben und deren Gründe auseinandersetzen. So werden sie ihre eigenen Kenntnisse vertiefen und gleichzeitig ihre Kranken, soweit es möglich ist, belehren. Es ist wohl kein Zweifel, welche dieser beiden Methoden die bessere ist. Dagegen müssen wir untersuchen, ob jenes doppelte Verfahren, Anordnungen zu geben und deren Gründe aufzuzeigen, auch für den Gesetzgeber gangbar ist, oder ob er sich ausschließlich auf die Formulierung knapper Gesetzesvorschriften beschränken soll. 4 A Der Athener erläutert dies durch ein Beispiel: Die natürliche Grund-»--»• läge des Staates ist die Ehe, daher sind die Ehegesetze das erste Problem, mit dem sich der Gesetzgeber zu befassen hat. Nun würde er, wenn er den einfachen Weg beschreiten will, schlechthin etwa festsetzen, daß jeder Mann, sobald er das 30. Lebensjahr erreicht hat, heiraten muß, widrigenfalls er an seinem Vermögen und an seiner Ehre gestraft wird. Der zwiefache Weg wäre folgender: Der Gesetzgeber würde eine Belehrung vorausschicken, etwa des Inhalts: Es ist die Pflicht jedes Mannes, in der Zeit zwischen dem

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30. bis 35. Lebensjahre zu heiraten, in der Erwägung, daß das Menschengeschlecht durch die Naturanlage der Zeugung an der Unsterblichkeit Anteil hat. Nach der Unsterblichkeit zu streben, liegt tief im Wesen des Menschen begründet, ein jeder wird den Wunsch hegen, berühmt zu werden und nicht in einem namenlosen Grabe zu ruhen. Nun ist das menschliche Geschlecht unauflöslich mit aller Zeit verbunden; durch die ununterbrochene Reihe von Kindern und Kindeskindern wahrt es seine Identität und seine Einheit als ein unsterbliches Wesen. Sich von dieser Unsterblichkeit auszuschließen, wäre frevelhaft; vorsätzlich begeht aber der diesen Frevel, der sich der Ehe und der Zeugung entzieht. Auf eine solche Einleitung würde das eigentliche Gesetz nebst der Strafandrohung folgen. Es wird eine jährliche Geldbuße festsetzen, überdies werden dem Widerspenstigen die Ehrenbezeugungen, die jüngere Leute dem Alter zu erweisen haben, entzogen werden, 42 ) damit der Hagestolz nicht wähne, ohne Ehe billiger und bequemer davonzukommen. Ihr sehet, daß das zwiefache Verfahren etwas weitläufig ist, und es ist daher die Frage, ob wir den Übelstand der größeren Länge der Gesetze in den Kauf nehmen wollen. Megillos erwidert: Spartanischer Brauch ist es zwar, überall der Kürze des Ausdrucks den Vorzug zu geben, für meine Person würde ich indessen die ausführliche Abfassung der Gesetze vorziehen. Hierüber möge aber Kleinias entscheiden, da seine Kolonie von unsern Gesetzen Gebrauch machen soll. — Wohlgesprochen! erklärt Kleinias. A Es wäre auch einfältig, fährt der Athener fort, wenn wir darüber viele Worte verlieren wollten, denn nicht auf die Länge oder Kürze eines Gesetzes kommt es an, sondern auf dessen Güte. In dieser Beziehung kann aber kaum ein Zweifel bestehen, daß das zwiefache Verfahren dem einfachen weitaus überlegen ist und der Methode der gelehrten Ärzte durchaus an die Seite gestellt werden darf. Bisher haben allerdings die Gesetzgeber von diesem Verfahren niemals Gebrauch gemacht; obwohl es ihnen freistand, sich zweier Mittel zu bedienen, des Zwanges u n d der Überredung, haben sie stets nur den Zwang angewandt. — Nunmehr muß ich noch ein Drittes zur Sprache bringen, was ebenfalls in der Gesetzgebung notwendig, aber von den Gesetzgebern bislang nicht beachtet worden ist. Es ergibt sich übrigens unmittelbar aus dem, was wir soeben erörtert haben. Seit dem frühen Morgen reden wir von den Gesetzen, jetzt rasten wir zur Mittagsstunde an dieser lieblichen Stätte, und doch sind wir eigentlich noch nicht bei den Gesetzen selbst angelangt, sondern bei den Vorbetrachtungen stehengeblieben. Das ist aber nicht zu tadeln. Wir sahen, daß jedem Vortrage und überhaupt wohl allem Mitteilbaren eine Einleitung voraufzugehen pflegt, die eine kunstgerechte

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Einführung in den zu behandelnden Gegenstand enthält. Dergleichen treffen wir fast überall an, wo es Gesetze gibt, vornehmlich in der Musik und in der Kunst, wunderlicherweise aber nicht in der eigentlichen Gesetzgebung, bei den Staatsgesetzen. Die Gesetzestechnik, für die wir uns entschieden hatten, unterscheidet das Gesetz und die Einführung in das Gesetz. Das reine Gesetz ist das herrische Gebot, das wir mit den Verordnungen der Sklavenärzte verglichen, während die dem Gesetz voraufgehenden Betrachtungen als dessen Vorrede anzusehen sind. Vorreden müssen sie darum heißen, weil sie auf Überredung eingestellt sind und deshalb nur eine Einführung, nicht aber den Text des Gesetzes (Aoyos vöfiov) enthalten. Künftig wird sich also der Gesetzgeber solcher Vorreden zu bedienen haben, sie sind wichtig, weil sich durch sie der Sinn des Gesetzes dem Gedächtnis schärfer einprägt. Natürlich wird der Gesetzgeber einen Unterschied zwischen belangreichen und belanglosen Gesetzen machen. Einleitungen sind überall möglich; aber wo und wie sie anzubringen sind, muß man dem Ermessen des Vortragenden überlassen, mag er Gesetzgeber, Redner oder Künstler sein. Kleinias bemerkt hierzu: Dies alles ist sehr richtig. Nun lasse uns aber nicht länger säumen, an die Gesetze selbst heranzutreten. Nach dem Scherzwort, daß zum zweiten Male alles besser gelingt, wollen wir wieder von neuem anfangen, indem wir das bisher Ausgeführte als Einleitung gelten lassen, ohne uns jedoch künftig wieder in zufällige Abschweifungen zu verlieren. Wir haben uns dahin geeinigt, daß Vorreden zu den Gesetzen nötig sind. Was den Inhalt der Gesetze anbelangt, haben wir die Pflichten gegen Götter und Eltern hinreichend erörtert. Nun laßt uns fortfahren. Wenn du noch etwas Einleitendes zu sagen hast, so hole es nach, gehe dann aber zu den Gesetzen selbst über. — Dann wollen wir also, erwidert der Athener, jetzt der Reihe nach durchgehen, wie man die rechten Vorschriften für die Seele, den Leib und das Vermögen aufzustellen hat, um überall auf die richtige Erziehung hinzuwirken (s. ob. III, 13).

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FÜNFTES

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E t h i k und S o z i a l p o l i t i k

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Ungeachtet seines Versprechens ist der Athener noch weit davon entfernt, dem ungeduldigen Verlangen des Kleinias nach positiven Gesetzen zu genügen. E r hält seinen Freunden zunächst einen tief angelegten Vortrag über ethische und sozialpolitische Grundsätze, der, durch keine Zwischenrede unterbrochen, den größten Teil des Buches ausfüllt. Feierlich beginnt er: So höre nun ein Jeder, der vernahm, was von den Göttern und den geliebten Eltern gesagt wurde, das Folgende an: Von allen Werten ist nächst den Göttern die Seele das Göttlichste, da sie unser Eigenstes ist. Es gibt zwei Klassen von Werten, die starken, guten, und die schwächeren, geringeren. Jene sind zum Herrschen, diese zum Dienen bestimmt. Jenen müssen wir überall den Vorrang einräumen und deshalb unsere Seele nächst den Göttern am meisten in Ehren halten. Jedermann glaubt, dies zu tun, indessen fehlt viel daran, daß dies in der richtigen Weise geschähe. Die Ehrfurcht ist ein göttliches Gut, nichts Schlechtes ist ihrer würdig. W e r aber wähnt, seine Seele durch Schöne Worte, durch Bestechung oder durch willfährige Nachgiebigkeit zu ehren, ehrt sie nur scheinbar, in Wirklichkeit verdirbt er sie. So handelt jedes Kind, es freut sich seiner Seele und gestattet ihr gern, alles zu tun, was sie begehrt. Auch dadurch hält man seine Seele nicht in Ehren, daß man die Ursachen erlittenen Mißgeschicks niemals in sich selbst sucht, sondern stets anderen Menschen die Schuld gibt. Ebensowenig frommt es, gegen die Lehre und den Rat des Gesetzgebers seinen Lüsten zu frönen oder sich aus Schlaffheit den Mühen, Gefahren, Schmerzen und Leiden des Lebens zu entziehen: alles dies macht die Seele ehrlos. Dasselbe gilt für den, der das Leben als höchstes Gut schätzt und im Reiche der Toten nur Unheil gewärtigt. Denn weil er seine Seele nicht belehrt, daß sie gar nicht wissen kann, ob uns nicht dort hohe Güter beschieden sein möchten, macht er sie weichlich und welk. Auch der ehrt seine Seele nicht, der die Schönheit der Tugend vorzieht, denn an das Himmlische reicht nichts Irdisches heran. Noch ärger greift fehl, wer an übel erworbenen Schätzen hängt, oder selbst den wohlerworbenen Reichtum nicht mit Mißtrauen betrachtet. Ein solcher verrät das Schöne, wahrhaft zu Ehrende für weniges Gold; alles Gold auf der Erde und unter der Erde wiegt aber die Tugend nicht auf. Kurz gesagt: wer das, was der Gesetzgeber 43 ) für häßlich und schlecht erklärt, nicht meidet und nicht mit allen Kräften nach dem strebt, was jener als schön und gut aufstellt, weiß nicht, daß er sein Göttlichstes, die Seele, schändet. E r erwägt nicht, daß seinen schlimmsten Taten die Vergeltung folgen muß. Die Vergeltung ist,

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daß jeder, der sich mit schlechten Menschen gemein macht, ihnen gleich werden, ihre Gesinnungen und Schicksale teilen muß. Unglücklich ist er auf jeden Fall, mag ihn Strafe ereilen oder nicht. Denn entweder stürzt ihn die Strafe ins Verderben, damit andere durch das warnende Beispiel gerettet werden, oder er bleibt ungebessert, wenn er der Strafe entgeht. Das Wesen der Ehrfurcht besteht also darin, dem Besseren nachzustreben und das Unedle in uns nach Kräften zu läutern. Wir haben nichts Tauglicheres als die Seele, um das Gemeine zu fliehen, das Beste zu erjagen und es unser ganzes Leben hindurch zu bewahren. Deshalb ist die Seele nach den Göttern am höchsten zu ehren. Die dritte Ehre gebührt dem Leibe. Auch hier haben wir jedoch zwischen der echten und der falschen Ehrerbietung zu unterscheiden. Als echte Güter des Leibes sind nicht Schönheit, Kraft, Behendigkeit, hoher Wuchs, nicht einmal die Gesundheit zu ehren, noch weniger natürlich deren Gegensätze. Vielmehr soll unser Ziel das Mittlere sein, das an allen jenen Vorzügen Anteil hat. Durch dieses gewinnen wir Sicherheit und Besonnenheit: durch die Vorzüge allein wird die Seele dünkelhaft und frech, durch ihren völligen Mangel dagegen kleinmütig und gemein. Ebenso verhält es sich mit Geld und Gut. Das Übermaß verwickelt den Staat wie den Einzelnen in Feindschaft und inneren Hader, der Mangel dagegen zumeist in Unfreiheit. Man soll also nicht Schätze sammeln, um seine Kinder so reich wie möglich zurückzulassen; ein mäßiges Vermögen, das keine Schmeichler anlockt, den Erben aber vor der Not schützt, sichert ihm am besten ein ruhiges, harmonisches Leben. Nicht viel Geld, aber viel Scham sollen wir unseren Kindern vererben. Das werden wir nicht durch Schelten und Zurechtweisungen erreichen, sondern durch ein gutes Vorbild. Alles Schelten ist nutzlos, wenn der Erzieher selbst in seinen Worten und Handlungen die Scham außer acht läßt, alsdann wird die Jugend nicht seinen Worten, sondern seinem bösen Beispiel folgen. Wenn die Alten aber der Jugend den Gehalt ihrer Lehren zugleich in ihrer Lebensführung vor Augen stellen, wird die Erziehung segensreich sein. Ferner haben wir die Bande des Blutes, die uns mit unserer Familie einen, in Ehren zu halten. Dann werden die über der Erzeugung unserer Kinder wachenden Götter uns gnädig sein. Freunde und treue Gefährten werden wir gewinnen, wenn wir die Dienste, die sie uns leisten, höher, die Gefälligkeiten, die wir ihnen erweisen, dagegen niedriger einschätzen, als sie selbst. In unserem Verhältnis zum Staate haben wir den als den vortrefflichsten Bürger zu ehren, dem der Gehorsam gegen die Gesetze höher steht, als alle Siege in Olympia. Noch schlimmer als Verfehlungen gegen unsere Mitbürger sind

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Verletzungen der heiligen Pflichten gegenüber den Fremden. Denn der Fremdling ist schutzlos und deshalb vor Göttern und Menschen vorzugsweise des Mitleidens wert. Ihn geleitet der Dämon, der dem Zeus, dem Schirmherrn des Gastrechtes, Untertan ist. Es wäre der größte Frevel, einem schutzsuchenden Fremden unsere Hilfe zu versagen, der Gott, den der Schutzflehende anruft, würde dessen Leid nicht ungerächt lassen. Der Athener geht zu der Frage über, wie der Mensch sein soll, um ein würdiges Leben zu führen. E r bemerkt, daß hier weniger das Gesetz, als die Sitte gebiete; ihre Aufgabe sei es, den Menschen zum willigen Gehorsam gegen das Gesetz zu erziehen. Er beginnt: Unter allem Guten steht bei Göttern und Menschen die Wahrheit an erster Stelle. Wer ein glückliches Leben führen will, muß sich von Jugend auf der Wahrheit befleißigen und ihr sein ganzes Leben hindurch dienen. Nur der Wahrheitsliebende ist zuverlässig, wer vorsätzlich lügt, ist treulos, wer unfreiwillig lügt, (d. h. wer es sich aus Bequemlichkeit am Unwahren genügen läßt), ist töricht. Der Tor wird indessen ebensowenig wie der Treulose Freunde finden, in seinem Alter wird er, von allen verlassen, einsam und freudlos dahinleben. — Ehrenwert ist zwar jeder, der sich dem Unrecht fernhält; wer aber auch anderen nicht gestattet, Unrecht zu verüben, ist mehr als doppelt so viel wert, als jener. Denn jener wiegt nur einen Menschen, dieser aber viele auf, wenn er begangenes Unrecht anzeigt und dadurch die Behörde in der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung unterstützt. Erst dadurch wird der Mann zum vollkommenen Bürger, zum Sieger in dem Kampf um die Tugend. 44 ) Nicht anders verhält es sich mit der Besonnenheit, der Einsicht und mit allen geistigen Vorzügen überhaupt. Wer es versteht, sie anderen mitzuteilen, verdient die höchste Ehre, wer sich wenigstens darum bemüht, ohne es zu vermögen, steht an zweiter Stelle. Der Mißgünstige, der seine Vorzüge für sich behält und andere herabsetzt, um im Wettstreit keinen Nebenbuhler aufkommen zu lassen, ist zu tadeln. Er schädigt nicht nur den Staat, sondern auch sich selbst, da er durch die Behinderung des freien Wettkampfes sein eigenes Streben hemmt. Trotzdem ist das, was ihn auszeichnet, nicht deshalb zu verachten. Der Mann muß zugleich zornig und milde sein. Schlimme, unheilbare Frevler können nur durch rücksichtslose Bestrafung bekämpft werden, gegen sie muß sich sein edler Zorn richten. Wo dagegen ein Mensch aus Unachtsamkeit fehlt, ist Milde geboten. Man muß zu begreifen suchen, daß niemand aus freiem Entschlüsse Unrecht tun und damit die Seele, sein kostbarstes Gut, preisgeben wird. 45 ) Der Übeltäter ist deshalb unserer Teilnahme wert, solange noch die Möglichkeit besteht, ihn zu heilen. Mit ihm sollen wir, an-

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statt nach Weiberart beständig über seine Schlechtigkeit zu zetern, vielmehr Mitleiden haben. Gegen den Ruchlosen aber, an dem nichts mehr zu bessern ist, soll man seinem Zorne freien Lauf lassen. Ein ärgstes Übel, welches so tief in der menschlichen Natur wurzelt, daß es sich jeder gern verzeiht und niemand auf Abhilfe sinnt, sucht man durch die Erklärung zu beschönigen: es sei durchaus natürlich, daß jeder Mensch sich selbst liebe, und jedermann habe das beste Recht, hiernach zu handeln. In Wirklichkeit ist jedoch die übermäßige Selbstliebe eine Quelle des Mißgeschicks. Denn der Liebende ist blind; unfähig, das Gerechte, Gute, Schöne richtig zu beurteilen, schätzt er allein sich und das, was ihm angehört. Nicht sich und das Seine soll aber der Mensch lieben, sondern das Rechte, mag er es in sich oder in anderen finden. Die Selbstliebe verleitet uns, unsere Torheit für Weisheit zu halten; obwohl wir nichts wissen, wähnen wir, alles zu können, und greifen fehl, weil wir das, was wir nicht zu leisten vermögen, nicht anderen überlassen wollen. Darum hüte man sich vor der Selbstliebe und eifere ohne falsche Scham dem Besseren nach. — Nicht minder nützlich, betont der Athener, ist die folgende, wenn auch geringere und schon oft vorgetragene Lehre: Wo ein Abfluß ist, muß ein Zufluß stattfinden, wie z. B. das Gedächtnis beständig den Abgang ergänzt, den unser Bewußtsein erleidet. Deshalb müssen wir uns des übermäßigen Lachens und Weinens enthalten, überall die Äußerungen übergroßer Freude und heftigen Schmerzes bekämpfen, stets eine würdige Haltung bewahren. Denn wir dürfen (zu ergänzen ist wohl: nach dem soeben formulierten Gesetz der Kompensation) in mißlichen Lagen, wenn etwa feindliche Dämonen unsere hochfliegenden Pläne vereiteln, die Hoffnung hegen, daß uns die gütige Gottheit anstatt der drückenden Plagen leichtere senden und zuletzt alles zum Besten wenden werde. In dieser Hoffnung dürfen wir uns keine Mühe verdrießen lassen, im Ernst wie im Scherz dessen beständig gedenkend. C Hiermit ist alles, was über das Göttliche zu sagen ist, erschöpft, und

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J wir wollen uns nun dem Menschlichen zuwenden, da wir ja zu Menschen, nicht zu Göttern reden. Das Menschlichste ist aber Lust, Schmerz und Begierde, an sie ist das ganze Streben aller sterblichen Wesen mit den festesten Banden gefesselt. Wir nennen das schönste Leben nicht deshalb schön, weil es durch seine Anmut guten Ruf gewinnt, sondern weil jeder, der von ihm gekostet hat und ihm nicht untreu wird, das erlangt, wonach alle Menschen streben: ein höheres Maß von Lust und ein geringeres Maß von Schmerz während der ganzen Lebensdauer. Daß dies richtig ist, wird sehr bald deutlich werden, es ist durchaus natürlich. Wir wünschen uns Lust,

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Schmerz wünschen wir uns nicht. Den mittleren, lust- und schmerzfreien Zustand würden wir nicht gegen die Lust, wohl aber gegen den Schmerz eintauschen. Einen Schmerz, der mit einem größeren Lustgefühl verbunden ist, nehmen wir willig in den Kauf, während wir uns umgekehrt eine Lust nicht durch überwiegende Schmerzen gewinnen möchten. In Zuständen, wo Lust und Schmerz sich die Wage halten, wissen wir zumeist nicht, was wir uns wünschen. Alles dieses, mag es nach Graden noch so verschieden sein, bestimmt unseren Wunsch, freilich nicht immer unsere Wahl. Aus diesen Gründen halten wir ein Leben, welchem beides, Lust und Schmerz, in reichem Maße und in hohen Graden ihrer Intensität beigemischt ist, für wünschenswert, wenn nur die Lust ein wenig überwiegt. Ebenso verhält es sich mit einem ruhigen Leben, dem ein bescheidenes Maß von Lust und Schmerz zugeteilt ist; auch hier richtet sich unsere Wahl nach dem Verhältnis der Summe den Lust zur Summe der Schmerzen. Ein im ruhigen Gleichgewicht von Lust und Schmerz verlaufendes Leben werden wir uns wünschen, wenn in ihm das überwiegt, was uns lieb ist, nicht dagegen, wenn darin das uns Unsympathische vorherrscht. Damit sind alle nur denkbaren Fälle dieser Art erschöpft, wer noch andere Möglichkeiten nennen sollte, würde damit nur seine Unwissenheit beweisen. Innerhalb dieser festen Ordnung des Wünschbaren und des nicht Wünschenswerten gibt es mehrere Bahnen der Lebensführung, in denen wir das, was uns lieb und lustvoll dünkt, mit dem Guten und Schönen zu einem glücklichen Lebenswandel zu vereinigen suchen. Wir wollen das besonnene, das vernunftgemäße, das tapfere, das gesunde Leben einzeln betrachten, und die Gegensätze, das zügellose, das unvernünftige, das feige und das krankhafte Leben, jedesmal gegenüberstellen. Das besonnene Leben wird unter ruhigen Freuden und Schmerzen sanft dahinfließen, die Begierden sind gemäßigt, die Leidenschaften nicht heftig. Das Leben des Zügellosen ist dagegen erfüllt mit heftigster Lust und heftigstem Schmerz, ihn treibt der Stachel der Begierden und Leidenschaften unaufhaltsam dahin. Im Leben des Besonnenen überwiegt jedoch die Lust, im Leben des Zügellosen der Schmerz, an Häufigkeit und an Intensität der Empfindungen. Mithin muß jeder Mensch das besonnene Leben vorziehen; wer gleichwohl das zügellose Leben wählt, handelt unfreiwillig, seinem Willen entgegen, sei es aus Unwissenheit, aus Mangel an Selbstbeherrschung oder aus beiden Gründen. Freilich verfährt der große Menschenhaufe nicht anders. Dasselbe gilt vom gesunden und krankhaften Leben, ebenso überwiegt die Lust im Leben des Vernünftigen und des Tapferen, die Unlust im Leben des Unvernünftigen und des Feigen.

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Kurz gesagt, das Leben, das an der Tugend und an der Tüchtigkeit der Seele und des Leibes Anteil hat, wirid stets lustvoller sein, als das Leben des Verderbten, es wird dieses an Schönheit, Gesetzmäßigkeit {öq&6tt]s), Tugend, R u h m bei weitem übertreffen und sich darum auch glücklicher gestalten. Auf den ethischen Teil des Buches folgt der politische. Der Athener bemerkt, daß das bis hierhin Vorgetragene noch „Vorrede" gewesen sei, jetzt solle aber die Gesetzgebung beginnen: W i e ein Gewebe aus zwei verschiedenen Fäden entsteht, dem straffen und festen Faden der Kette und dem weichen und nachgiebigen Faden des Einschlages, so besteht auch das Gefüge des Staates aus zwei verschiedenen Elementen, den vermöge ihrer höheren Bildung zur Regierung berufenen Männern und der ihrer Leitung untergebenen Volksmenge. Demgemäß zerfällt jede Verfassung in zwei Teile: der erste handelt von der Staatsform und den Staatsämtern, der zweite enthält die eigentlichen (materiellen) Gesetze. — Vorauszuschicken ist Folgendes: Jeder Hirt wird nach der Uebernahme einer nicht vollkommen tadellosen Herde zuerst eine Auslese vornehmen, er wird die gesunden und gut gezogenen Tiere behalten, die minderwertigen abzustoßen suchen. Denn diese sind nicht nur selbst unbrauchbar, sondern würden ihm auch die Aufzucht verderben. Eine ähnliche Auslese soll auch der Gesetzgeber unter seinem Menschenma-> terial veranstalten. Zu diesem Zweck stehen ihm mehrere Verfahren zu Gebote, durch die er je nach den ihm zustehenden Befugnissen schärfere und gelindere Reinigungen des Staates durchführen kann. W e n n er mit tyrannischer Macht ausgestattet ist, wird er schärfere und wirksamere Eingriffe nicht zu scheuen haben; wenn er dagegen in seiner Gewalt beschränkt ist, wird er schlimmstenfalls auch mit dem mildesten Verfahren vorlieb nehmen müssen. Das wirksamste Verfahren ist freilich so schmerzhaft und bitter, wie eine starke Arznei, sein Ziel ist, durch die strengsten Strafmittel, Tod und Verbannung, die unverbesserlichen Schädlinge des Staates auszustoßen. Das gelindeste Verfahren würde darin bestehen: die unzufriedenen, besitzlosen Teile der Bevölkerung, die sich durch ihre Führer allzu bereitwillig gegen die Besitzenden aufreizen lassen, werden auf dem gütlichen Wege der Gründung einer Kolonie aus dem Staate entfernt. Jedenfalls sollten alle Gesetzgeber ihr W e r k mit einer Reinigung des Staates beginnen. In dieser Hinsicht ist unsere Aufgabe insofern eigenartig, als wir uns mit den uns überwiesenen Kolonisten abfinden müssen und unter ihnen keine weitere Auslese veranstalten können. Indessen muß bei jeder Staatengründung manches Bedenken mit in den Kauf genommen werden. W i r wollen annehmen, daß in unserem

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Fall die Auslese im wesentlichen geglückt und daß es gelungen sei, schlechte Elemente durch gütliches Zureden fernzuhalten. Dagegen kommt uns ein günstiger Umstand zustatten: ebensowenig wie die Begründer der dorischen Ansiedlungen im Peloponnes (vgl. oben III, 6), haben wir mit gefährlichen Streitigkeiten über Landverteilung und Schuldenerlaß zu rechnen. Dieses Problem ist für jeden Staat das bedenklichste; der Gesetzgeber kann diese Aufgabe weder unangerührt lassen, noch vermag er sie von Grund aus zu lösen, sodaß es überall bei frommen Wünschen, allenfalls bei einem schwachen und behutsamen Fortschreiten sein Bewenden behält. Es besteht hier nur eine Möglichkeit: daß die Reichen, die über großen Grundbesitz verfügen und viele Schuldner haben, den Unbemittelten aus Billigkeit Land abgeben und sie von einem Teile ihrer Schulden entlasten. Dies wird geschehen, wenn die Regierenden einsichtsvoll genug sind um einzusehen, daß zwischen den Ansprüchen der Armen und der Reichen ein mittlerer Ausgleich hergestellt werden muß. Zu beachten ist hierbei, daß die Armut weniger durch die Verminderung der Habe, als durch die Zunahme der Begehrlichkeit gesteigert wird. Allein auf der Grundlage eines solchen Ausgleiches kann der Staat eine feste Ordnung aufbauen; solange aber dieses. Fundament morsch ist, werden alle politischen Einrichtungen mißlingen. Von diesen Schwierigkeiten sind wir, wie gesagt, frei, trotzdem war es richtig, sie zur Sprache zu bringen. Noch einmal möge daher gesagt sein, daß es für den Staat keinen andern, weder breiten noch schmalen Ausweg gibt, als dem Streben nach übermäßigem Gewinn Einhalt zu tun. Hierdurch allein gewinnt der Staat einen festen Halt. Zu allererst muß der Besitz vorwurfsfrei dastehen, erst dann kann an einen gedeihlichen Ausbau der staatlichen Einrichtungen gedacht werden. Deshalb sind die alten Anklagen gegen den Besitz vorher auf irgend eine Weise zu bereinigen. W i r aber, denen eine gütige Gottheit die dankbare Aufgabe der Gründung eines neuen, von innerem Hader freien Gemeinwesens zugewiesen hat, würden eine geradezu ruchlose Torheit begehen, wenn wir durch eine verfehlte Landverteilung die Hauptursache feindlicher Gegensätze heraufbeschwören würden.

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Welches sind nun die richtigen Grundsätze einer Landverteilung? Zunächst werden wir die Zahl der Bürger festsetzen. Sie wird sich nach dem Umfange und der Ertragsfähigkeit des uns zur Verfügung stehenden Landes zu richten haben: die Erträge des Bodens müssen ausreichen, um den mäßigen Ansprüchen besonnener Männer zu genügen. Abgesehen davon muß die Zahl der Bürger so groß sein, daß die Kolonie stark genug ist, sich gegen ihre Nachbarstaaten zu verteidigen und einer ungerecht angegriffenen Nachbarstadt

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wirksame Hilfe zu gewähren. Wir wollen, um eine Zahl zu nennen, annehmen, daß die Anzahl unserer Bürger 5040 sei, wonach die Anzahl der Landlose ebensogroß sein müßte. Die genannte Zahl ist deshalb höchst zweckmässig, weil sie außerordentlich viele Teilungsmöglichkeiten bietet. Es gehen nicht nur sämtliche Grundzahlen von 1—10 in ihr auf, sondern überdies noch 49 höhere, sodaß sie im Ganzen durch 59 verschiedene Zahlen geteilt werden kann. Sie ermöglicht deshalb alle beliebigen Einteilungen der Bürgerschaft zu Kriegs- und Friedenszwecken. Der Gesetzgeber muß mit derartigen Zahlenverhältnissen vertraut sein. Wenn der Gesetzgeber einen neuen Staat begründet oder einen zerrütteten Staat neu einrichtet, soll er an den Kultus der Götter und Dämonen und an die heiligen Bräuche nicht rühren. Er soll dafür sorgen, daß den Göttern vor der Landverteilung Tempelstätten und heilige Bezirke vorbehalten werden. Ferner soll er die Gemeinde in Brüderschaften einteilen und einer jeden eine Gottheit als Schutzherrn zuweisen. Die Mitglieder dieser Brüderschaften werden sich zu regelmäßigen Opferfeiern vereinigen und sich dadurch auf das engste miteinander verbinden. Es ist von großem Belange, daß sie durch den gemeinsamen Kultus miteinander befreundet und vertraut werden. Sonst würde es ihnen nicht möglich sein, einen jeden nach seinem wahren Wert einzuschätzen und Aemter und Würden nach Gebühr zu verteilen. Was ich im Anschluß hieran zu sagen habe, wird manchem, der sich mit dem Vorgehen eines tyrannisch verfahrenden Gesetzgebers nicht befreunden kann, befremdlich erscheinen. Deshalb will ich nach der vortrefflichsten Verfassung die zweitbeste und die drittbeste schildern. Aus ihnen möge sich Kleinias die aussuchen, die sich den Sitten seiner Heimat am zweckmäßigsten anpassen läßt. Die beste Verfassung ist schon vor langer Zeit dargestellt worden"). Ihr oberster Grundsatz lautet, daß unter Freunden alles Gemeingut ist. Den vortrefflichsten Staat werden wir da zu suchen haben, wo — sei es in der Gegenwart oder in einer fernen Zukunft — dieser Grundsatz vollkommen durchgeführt ist, wo Weiber und Kinder und überhaupt alle Besitztümer Gemeingut sind, wo jegliches Privateigentum gänzlich aufgehoben ist, wo sogar alles, was die Natur dem Einzelnen zugeteilt hat, wie Augen, Ohren, Hände, dem Wohle der Gesamtheit dient. Dort werden alle Bürger in Lob und Tadel, in Freude und Leid einig sein und damit eine Volksgemeinschaft bilden, deren harmonische Geschlossenheit nicht mehr überboten werden kann. Mögen Götter oder Göttersöhne einen solchen Staat begründen: sicherlich wird ihnen ein glückliches Leben beschieden sein. Der Staat, dessen Bild ich jetzt zu entwerfen gedenke, mag dem ewigen Ur-

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bilde am nächsten kommen und den zweiten Rang einnehmen. Den dritten Staat werde ich, wenn Gott will, ein anderes Mal darstellen"). Wie wird der zweitbeste Staat beschaffen sein, und wie wird er entstehen? In ihm wird zunächst eine Teilung des Grund und Bodens stattfinden; d i e F o r d e rung, daß das L a n d g e m e i n s c h a f t l i c h bewirtschaftet werde, würde n a c h dem C h a r a k t e r der Menschen, wie sie h e u t e s i n d , n a c h i h r e r E r z i e h u n g und i h r e m B i l d u n g s g r a d e z u h o c h s e i n . Wenn sie aber das Land teilen, müssen sie sich dessen bewußt sein, daß ihnen der heilige Boden des Vaterlandes, d a s u n v e r ä u ß e r l i c h e E i g e n t u m d e s S t a a t e s , anvertraut wird; daß sie in diesem Besitz die göttliche Muttererde zu ehren haben, der noch höhere Ehrfurcht gebührt, als der leiblichen Mutter. Damit dieses Gebot alle Zeit aufrechterhalten wird, muß die ursprüngliche Zahl der Landgüter stets dieselbe bleiben, ferner darf weder eine Vergrößerung noch eine Verminderung des Umfanges der Besitzungen stattfinden. Jeder Besitzer soll sein Gut einem seiner Söhne vererben, als seinem Nachfolger im Dienste der Götter, des Staates und der Lebenden und Toten seines Geschlechtes. Seine Töchter soll er den geltenden Gesetzen gemäß verheiraten, seine überzähligen Söhne den Familien überlassen, denen ein Erbe ihres Stammgutes fehlt. Wo hier die Initiative des Einzelnen versagt, wird eine Behörde eingreifen. Diese wird ferner darauf hinwirken, daß die Zahl der Anwärter auf die vorhandenen 5040 Lose nicht allzu stark ansteigt oder sinkt. Uebermäßigem Familienzuwachs soll sie Einhalt gebieten, die in der Kinderzeugung Lässigen dagegen zur Erfüllung ihrer Pflicht gegen den Staat anhalten. Zu diesem Zweck werden ihr Auszeichnungen, Ehrenstrafen und Warnungen zu Gebote stehen. Wenn trotzdem eine allzu große Vermehrung der Bevölkerung eintreten sollte, wird die Aussendung einer Kolonie Abhilfe schaffen. Auf der anderen Seite darf ein etwaiger Rückgang der Bevölkerung durch Krieg oder Seuchen niemals dahin führen, daß Fremde, die in anderen Staaten eine minder edle Erziehung genossen haben, als Bürger aufgenommen werden. Allen anderen Einwendungen werden wir den Satz entgegenstellen, daß gegen die Notwendigkeit selbst die Gottheit machtlos ist. A 4 Aus diesen Lehren spricht zu unsern Ansiedlern die folgende Mahnung: - 1 1 „Ihr trefflichen Männer! Ehret der Natur gemäß die Uebereinstimmung, die Gleichheit, die Identität und den festen Brauch, worüber die Zahl als die Vollbringerin alles Guten und Schönen waltet 48 ). Haltet also an der genannten Zahl der Lose fest, und achtet darauf, daß die ursprüngliche, gleichmäßige Wohlhabenheit nicht durch Käufe und Verkäufe gestört und mit Unehre be-

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lastet wird. Wer sein Erbgut verkauft, das ihm durch das freiwillig angenommene Los zugefallen war, frevelt gegen Götter und Menschen. Bei der Verteilung der Lose sprachen Priester und Priesterinnen einen feierlichen Fluch über jeden aus, der den ihm anvertrauten, den Göttern des Vaterlandes geweihten Boden verkaufen oder kaufen würde. Sie haben dieses Gebot in cypressene Tafeln eingetragen und zum ewigen Gedächtnis an heiliger Stätte niedergelegt. Ueber dessen Befolgung wird eine strenge Behörde wachen und jede Uebertretung als Frevel gegen die Götter und gegen das Gesetz des Staates bestrafen." Welcher Segen einer gehorsamen Bürgerschaft aus dieser Ordnung erwachsen muß, wird, wie es im Sprichwort heißt, niemals der Schlechte, sondern nur der Erfahrene und Rechtschaffene zu beurteilen vermögen. Eine fernere Einschränkung verbietet den Bürgern den gemeinen Gelderwerb: Niemand darf durch banausische Geschäfte seine edle Gesinnung herabwürdigen. Außerdem wird das Gesetz verordnen, daß kein Privater Gold oder Silber besitze. Es wird eine Münze geprägt werden, die nur innerhalb des Staates umlaufsfähig ist, im Auslande dagegen keinen Wert hat. Nur der Staat darf mit Rücksicht auf seine auswärtigen Beziehungen griechisches Geld (Devisen!) besitzen. Wer verreisen muß, hat die Genehmigung der Behörde zur Einwechslung seines Reisebedarfes an fremder Währung einzuholen. Nach seiner Rückkehr hat er das mitgebrachte Auslandsgeld wieder in heimische Münze umzuwechseln. Zuwiderhandlungen werden mit der Einziehung des hinterzogenen fremden Geldes und mit Ehrenstrafen geahndet. Wer eine ihm bekannt gewordene Uebertretung dieses Gesetzes nicht anzeigt, wird mit derselben Ehrenstrafe wie der Täter belegt und hat überdies eine Buße im Mindestbetrage der hinterzogenen Summe zu entrichten. — Wer eine Tochter verheiratet, darf sie nicht mit einer Mitgift ausstatten. Verboten ist ferner, Geld gegen Zinsen zu verleihen, gestattet sind nur unverzinsliche Depositen bei zuverlässigen Freunden. Diese Vorschriften entsprechen den Zwecken eines einsichtsvollen Gesetzgebers. Denn sein Ziel ist nicht, daß der Staat so groß und reich wie möglich werde und zu Lande und zu Wasser eine mächtige Herrschaft gewinne. Die Menge kennt freilich keine anderen Ziele; hinzufügen würde sie vielleicht, daß der Staat auch höchst vortrefflich und glücklich sein müsse. Das heißt aber, Unmögliches mit Möglichem verbinden. Denn es ist unmöglich, sehr reich und zugleich gut zu sein, wenn man unter dem Reichtum das versteht, was die Menge meint: ein ungewöhnlich großer Besitz an kostbaren Werten, mag er wohl oder übel erworben sein49). Wer aber nicht gut ist, ist auch nicht glücklich. Ein Vermögen, das aus gerechtem u n d ungerechtem Erwerbe ent-

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standen ist, wird immer doppelt so groß sein, wie ein auf redlichem Wege erworbenes. Dagegen wird der Aufwand dessen, der sein Geld freigebig für edle Zwecke ausgibt, doppelt so hoch sein, wie der Verbrauch des Reichen, der sich weder gut noch übel angewandte Ausgaben gestattet. Der Gute wird deshalb niemals sonderlich reich werden, andererseits wird er sich vor drükkender Armut zu schützen wissen. Der Reiche ist, insofern er sparsam lebt, nicht geradezu schlecht, aber auch nicht gut; die ganz Schlechten sind zumeist liederliche Verschwender und darum arm. Weil also die sehr Reichen nicht gut sind, so sind sie auch nicht glücklich. Hiernach wird es die Aufgabe der Gesetzgebung unseres Staates sein, die Bürger so einträchtig und glücklich wie möglich zu machen. Es wird unter ihnen jedoch keine Freundschaft bestehen können, wenn viel Unrecht geschieht und viele Prozesse geführt werden. Aus diesem Grunde haben wir den Besitz von Gold und Silber, den gemeinen Gelderwerb, den Wucher und dergleichen unwürdige Gewinne verboten. Unsere Bürger sollen sich mit den Einkünften begnügen, die ihnen der Landbau abwirft, und auch über dieser Erwerbstätigkeit sollen sie nicht das vernachlässigen, um dessen willen das Geld da ist: Seele und Leib und deren Pflege durch Erziehung und Gymnastik. In der richtigen Rangordnung steht die Seele obenan, an zweiter Stelle folgt der Leib, erst an dritter Stelle der redliche Gelderwerb (vgl. III, 13). Nach dieser Rangordnung hat sich der Gesetzgeber zu richten. Eine Gesetzgebung, in welcher die Pflege der Gesundheit den Vorrang vor der Erziehung zur Besonnenheit hat, oder welche gar die Rücksichten auf den Gelderwerb in den Vordergrund stellt, ist durchaus verkehrt. Der Gesetzgeber muß stets im Auge behalten, was er will, und jedes Gesetz daraufhin prüfen, ob es mit dem obersten Prinzip seiner Gesetzgebung im Einklang steht. Nur so kann er hoffen, seine Aufgabe glücklich zu lösen und das Wohlergehen seines Staates zu fördern. Durch die Verteilung der Landlose wird die Gleichheit des Grundbesitzes gewährleistet sein. Es wäre zwar sehr schön, wenn auch der bewegliche Besitz ebenso gleichmäßig verteilt werden könnte. Da dies aber nicht möglich ist, müssen wir die Bürger in vier Vermögensklassen einteilen. 50 ) Diese Ungleichheiten sollen dem Prinzip der Gleichheit dienen, sie sollen gewährleisten, daß Abgaben, Spenden aus öffentlichen Mitteln an die Bürgerschaft, die staatlichen Ämter und dergleichen nicht allein nach persönlichen Vorzügen und nach den Verdiensten der Ahnen, sondern auch nach den bestehenden Besitzverhältnissen auf das gerechteste verteilt werden. Hierbei ist zu erwägen, daß übergroßer Reichtum auf der einen Seite, große Armut auf der anderen

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Seite mit Sicherheit innere Unruhen zur Folge haben. Dieser Gefahr muß dadurch vorgebeugt werden, daß den Bürgern einerseits ein Existenzminimum gewährleistet wird, während andererseits ein Anwachsen über eine gewisse obere Grenze hinaus zu verhindern ist. Das Existenzminimum entspricht dem Werte eines Landloses und ist für jedermann unantastbar. Ein Vermögenszuwachs bis zum Doppelten, Dreifachen und Vierfachen jenes Wertes ist gestattet. Wer auf irgend einem Wege mehr erwirbt, hat den Überschuß an den Staat und dessen Götter abzuliefern, widrigenfalls er eine Buße im doppelten Betrage des hinterzogenen Vermögensüberschusses zu gewärtigen hat. Ein Viertel der Buße fällt dem zu, der das Vergehen anzeigt. Alles Vermögen wird in ein öffentliches Kataster eingetragen, damit die Besitzverhältnisse offenkundig sind und Streitigkeiten über Vermögensgegenstände leicht entschieden werden können. Die Einrichtung der Kolonie wird folgendermaßen ausfallen: Die Stadt soll tunlichst in der Mitte der Landschaft liegen, die örtlichkeit muß nach den Erfordernissen einer Stadtanlage sorgfältig ausgewählt werden. Der Mittelpunkt der Stadt ist die Burg mit den Heiligtümern der Hestia, des Zeus und der Athene. Von diesem Zentrum aus ist das ganze Land in 12 Kreissegmente einzuteilen, aus welchen die Stadtbezirke und die 5040 Landlose gebildet werden. Je nach der größeren oder geringeren Güte des Bodens sind diese Abschnitte kleiner oder größer zu bemessen, damit die Ertragsfähigkeit der einzelnen Lose möglichst gleichmäßig ausfällt. Jedes Los besteht aus zwei getrennten Parzellen, von denen die eine in näherer, die andere in weiterer Entfernung von der Stadt liegt. Zu diesem Zweck ist der durch jene Segmente gebildete Kreis in mehrere Zonen einzuteilen. Wenn eine Teilparzelle in der ersten Zone liegt, wird die zweite der äußersten Zone zugeteilt; der zweiten inneren Zone entspricht die zweite äußere, und so fort. Die ganze Bürgerschaft ist ebenso in 12 Teile zu gliedern, und zwar derart, daß die vier Vermögensklassen in jedem dieser Teile möglichst gleichmäßig vertreten sind. Diese Teile heißen Phylen, jeder derselben wird einer der 12 Teile des Landes nebst dem dazu gehörenden Stadtbezirke überwiesen. Die Phylen erhalten ihre Namen nach je einem der 12 olympischen Götter, welcher ihnen als Schutzherr bestellt wird. In der Stadt erhält jeder Bürger zwei Häuser, das eine nahe der Stadtmitte, das andere innerhalb der äußeren Stadtbezirke. A g" Wir wollen indessen nicht übersehen, daß der von mir entwickelte J Plan ein Schema ist, das in seinen Einzelheiten nur unter besonders günstigen Verhältnissen verwirklicht werden kann. Schwerlich werden wir

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überall Männer finden, die bereit sind, eine solche Gemeinschaft, wie ich sie schilderte, einzugehen, sich unter Verzicht auf Gold und Silber mit mäßigem Besitz zu begnügen, und sich die Einschränkungen gefallen zu lassen, die ihnen der Gesetzgeber zur Durchführung einer solchen Verfassung überdies noch auferlegen muß. Nicht minder selten wird eine Landschaft zu finden sein, auf die der Landverteilungsplan genau paßt. Es könnte also scheinen, daß der Gesetzgeber von Traumbildern geredet oder, wie aus gefügigem Wachs, das Phantasiebild eines Staates geformt hätte. Der Gesetzgeber wird jedoch zu seiner Verteidigung folgendes zu sagen haben: Auch ich weiß wohl, daß meine Lehren nur in gewisser Hinsicht wahr sind. Es ist aber richtig, allem, was werden soll, ein reines Vorbild hinzustellen und es mit aller Schönheit und Wahrheit auszustatten. Wenn es sich dann herausstellt, daß die Ausführung des Werkes dem Vorbilde nicht überall folgen kann, so mag man einiges davon aufopfern und sich damit begnügen, das Nachbild dem Vorbilde so ähnlich wie möglich zu machen. Der Gesetzgeber muß zunächst seinen Plan unbeirrt durch praktische Rücksichten auf das vollkommenste entwerfen, alsdann mag man gemeinschaftlich mit ihm nachprüfen, was davon brauchbar ist, und was etwa den praktischen Zwecken widerstreitet. Das wesentlichste Kennzeichen der Güte eines Planes ist dessen innere Folgerichtigkeit, wie ja selbst das geringste Werk in sich vollkommen sein muß, wenn sein Urheber als Meister gelten will. 61 ) Von den Teilungsmöglichkeiten unserer Zahl 5040 (siehe oben V, 8) wird bei der Organisation der Kolonie umfassender Gebrauch zu machen sein, denn die Zahl paßt sich auf das bequemste jeder nur denkbaren Untereinteilung der Bürgerschaft und der Wehrmacht des Staates an. Daraus mögen die Bürger den Nutzen der Zahlen und der mit ihrer Hilfe möglichen Operationen erkennen lernen. Nach einer gut gewählten Zahlenmethode sollen sie ein folgerichtiges System der Münzen, Maße und Gewichte aufstellen und dieses, ohne den Vorwurf der Pedanterie zu scheuen, bis ins Kleinste durchführen. So sollen z. B. alle Gefäße nach bestimmten Maßen angefertigt werden. Alsdann werden sie erkennen, welche Vorteile ihnen die Beherrschung der Zahlen in der Wirtschaft des Staates und des einzelnen Haushaltes, in allen Künsten und Handwerken gewährt. 62 ) Überhaupt gibt es kein wirksameres Erziehungsmittel, als die Beschäftigung mit den Zahlen. Selbst die von Natur Schläfrigen und Trägen weckt sie auf, sie schärft ihnen das Gedächtnis und die Auffassungsgabe und erhebt sie wie durch eine göttliche Einwirkung über sich selbst. Wenn sodann noch andere Gesetze und

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Ethik

und

Sozialpolitik

Gebräuche dazu beitragen, Gewinnsucht und unfreie Gesinnungen aus den Seelen zu vertreiben, werden auch Mißbräuche der Rechenkunst ausgeschlossen sein. Sonst würde sie freilich anstatt der wahren Weisheit nur der Händlerschlauheit Vorschub leisten, wie wir sie bei den Ägyptern, Phöniziern und anderen Völkern vorfinden, die, sei es durch das Unvermögen ihrer Gesetzgeber oder durch ihren Krämergeist, verdorben sind. Zuletzt haben wir noch des großen Einflusses zu gedenken, den Boden und Klima auf die Entwicklung der Menschen zum Guten und Schlimmen ausüben. Diese Einflüsse sind keineswegs zu unterschätzen, auch der Gesetzgeber muß sich ihnen anpassen. W i r gewahren, daß einige Länder vermöge ihrer Winde, ihrer Temperatur, ihrer Wasserverhältnisse dem Gedeihen der Menschen höchst förderlich, andere dagegen sehr nachteilig sind. Von nicht minderem Belange ist die Einwirkung der Nahrung, die der Boden spendet, auf die Körper und die Charaktere der Bevölkerung. In dieser Beziehung sind die Unterschiede der Gegenden überaus groß. Die vorzüglichsten sind die, wo ein göttlicher Hauch waltet und gütige Dämonen die Ansiedler freundlich aufnehmen. Darauf wirst auch du, mein Kleinias, deine Aufmerksamkeit zu richten haben. — Du sprichst gar gut, Athenischer Freund, erwidert Kleinias, und so soll es geschehen I

SECHSTES

BUCH

Die O r g a n i s a t i o n der B e h ö r d e n

I

Die nächste Aufgabe ist die Organisation der Behörden des jungen Staatswesens. Sie entspricht dem in Athen herrschenden Grundsatze der freiesten Selbstverwaltung. Berufsbeamte gab es nicht, alle Behörden, einschließlich der Gerichte und der militärischen Kommandos, wurden mit gewählten oder sogar durch das Los bestimmten Bürgern besetzt, die ihre Posten als Ehrenämter versahen. Die Gewählten hatten sich vor dem Antritt des Amtes einer genauen Prüfung ihrer Wählbarkeit und nach dessen Beendigung einer strengen Rechenschaftsablage zu unterziehen. Durch diese Einrichtungen suchte man den naheliegenden Gefahren zu begegnen, die sich aus der Besetzung der Staatsämter durch die Zufälligkeiten des Wahlverfahrens ergaben.

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Ethik

und

Sozialpolitik

Gebräuche dazu beitragen, Gewinnsucht und unfreie Gesinnungen aus den Seelen zu vertreiben, werden auch Mißbräuche der Rechenkunst ausgeschlossen sein. Sonst würde sie freilich anstatt der wahren Weisheit nur der Händlerschlauheit Vorschub leisten, wie wir sie bei den Ägyptern, Phöniziern und anderen Völkern vorfinden, die, sei es durch das Unvermögen ihrer Gesetzgeber oder durch ihren Krämergeist, verdorben sind. Zuletzt haben wir noch des großen Einflusses zu gedenken, den Boden und Klima auf die Entwicklung der Menschen zum Guten und Schlimmen ausüben. Diese Einflüsse sind keineswegs zu unterschätzen, auch der Gesetzgeber muß sich ihnen anpassen. W i r gewahren, daß einige Länder vermöge ihrer Winde, ihrer Temperatur, ihrer Wasserverhältnisse dem Gedeihen der Menschen höchst förderlich, andere dagegen sehr nachteilig sind. Von nicht minderem Belange ist die Einwirkung der Nahrung, die der Boden spendet, auf die Körper und die Charaktere der Bevölkerung. In dieser Beziehung sind die Unterschiede der Gegenden überaus groß. Die vorzüglichsten sind die, wo ein göttlicher Hauch waltet und gütige Dämonen die Ansiedler freundlich aufnehmen. Darauf wirst auch du, mein Kleinias, deine Aufmerksamkeit zu richten haben. — Du sprichst gar gut, Athenischer Freund, erwidert Kleinias, und so soll es geschehen I

SECHSTES

BUCH

Die O r g a n i s a t i o n der B e h ö r d e n

I

Die nächste Aufgabe ist die Organisation der Behörden des jungen Staatswesens. Sie entspricht dem in Athen herrschenden Grundsatze der freiesten Selbstverwaltung. Berufsbeamte gab es nicht, alle Behörden, einschließlich der Gerichte und der militärischen Kommandos, wurden mit gewählten oder sogar durch das Los bestimmten Bürgern besetzt, die ihre Posten als Ehrenämter versahen. Die Gewählten hatten sich vor dem Antritt des Amtes einer genauen Prüfung ihrer Wählbarkeit und nach dessen Beendigung einer strengen Rechenschaftsablage zu unterziehen. Durch diese Einrichtungen suchte man den naheliegenden Gefahren zu begegnen, die sich aus der Besetzung der Staatsämter durch die Zufälligkeiten des Wahlverfahrens ergaben.

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Piatons

Gesetze

Sechstes

Buch

Der Athener erinnert zunächst an die vorhin (V, 7) vorgenommene Unterscheidung, daß jede Verfassung in zwei Teile zerfalle; der erste Teil handle von der Besetzung der Staatsämter, der zweite enthalte die eigentlichen Gesetze. Hierzu bemerkt er: Es genügt nicht, daß der Staat mit guten Gesetzen versehen ist; wenn die Behörden, denen die Ausführung der Gesetze anvertraut wird, aus untauglichen Männern bestehen, erwächst auch aus den besten Gesetzen nur Spott und Schaden. Hier stehst du, Kleinias, vor einer schweren Aufgabe. Denn die Männer, die zur Führung der Staatsgeschäfte bestellt werden sollen, sind unerprobt, weder sie noch ihre Voreltern haben Gelegenheit gehabt, sich zu bewähren. Auf der anderen Seite sind die Wähler noch nicht in den von uns aufgestellten Grundsätzen erzogen, überdies kennen sie einander nicht genau genug; wie sollen sie also eine richtige Wahl treffen? Dennoch müssen wir nach einer Lösung suchen, denn der Kampf duldet, wie man zu sagen pflegt, keine Ausflüchte. Auch möchte ich, nachdem ich versprochen habe, dir zu helfen, meine Rede nicht ohne Kopf lassen, damit sie nicht ungestaltet und planlos einherläuft. Es war freilich höchst gewagt, Gesetze zu geben, ohne zu fragen, wie sich unsere Kolonisten mit ihnen abfinden werden. Ganz sicher werden sie sich zunächst ablehnend verhalten. Wenn wir indessen so viel Zeit gewinnen, bis sich die heranwachsende Jugend mit den Gesetzen vertraut gemacht hat, so hege ich die Zuversicht, daß sie ihnen nach erlangter Reife Folge leisten und unsere Verfassung dauernd beibehalten wird. Vorerst müssen die Knosier, als Gründer der Kolonie, nicht nur für das Gelingen der Siedelung, sondern auch für die Besetzung der Staatsämter mit den tauglichsten Männern Vorsorge treffen. Vor allem wichtig ist die Einsetzung zuverlässiger H ü t e r d e r G e s e t z e (vofioV), richtet sich auf die Seele; in standhafter Besonnenheit, voller Ehrfurcht und Scheu, wagt sie nicht, den Leib anzutasten, damit die Liebe zu einem reinen Menschen sich in ihrer Reinheit erhalte. — Welche Aufgabe soll sich nun der Gesetzgeber stellen? Soll er der menschlichen Verirrungen halber jegliche Liebe aus dem Staate verbannen, oder soll er die reine Liebe zulassen, ihre beiden anderen Arten aber, das sinnliche Begehren und jene dritte Liebe, verpönen? Megillos, an den die letzte Frage gerichtet war, versichert, daß der Athener ganz in seinem Sinne gesprochen habe. Sichtlich erfreut fährt der Athener fort: Dann dürfen wir getrost dem Gebote der Vernunft folgen und brauchen uns auf eine Kritik der Gesetze eurer Staaten nicht weiter einzulassen. Den Kleinias werde ich später zu bekehren suchen. Das von mir in Aussicht genommene Gesetz gedenke ich durch einen Kunstgriff einzuführen, der zwar sehr einfach ist, praktisch aber auf große Schwierigkeiten stoßen dürfte. W i e kommt es, daß die Menschen, wenn sie auch sonst alle sittlichen Gebote mißachten, dennoch vor gewissen Freveln eine unüberwindliche Scheu haben? W a r u m verführt nicht den Bruder die Schönheit der Schwester, nicht den Vater der Liebreiz der Tochter zum sinnlichen Liebesgenuß? W a r u m ist hier die Achtung vor dem ungeschriebenen Gesetz so groß, daß sich in ihnen zumeist nicht einmal ein sinnliches Begehren regt? Zur Hemmung dieser Gelüste genügt ein kurzer Satz: daß dies heillos sein würde, den Göttern verhaßt als das Schändlichste von allem. Die unwiderstehliche Macht dieses Argumentes beruht darauf, daß niemand etwas anderes sagt, noch etwas anderes hört, weder im Scherz noch in dem feierlichen

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Piatons

Gesetze

Achtes

Buch

Ernst der Tragödie. Dort sehen wir, daß tragische Helden, die sich der Blutschande schuldig gemacht haben, freiwillig in den Tod gehen, sobald ihr Frevel entdeckt ist. — Allerdings, bemerkt Megillos, ist die Gewalt der allgemeinen Stimme wunderbar groß, wenn niemand wagen darf, ein Wort gegen das anerkannte Gebot verlauten zu lassen. — Damit ist, folgert der Athener, dem Gesetzgeber der Weg vorgezeichnet, wenn er über eine starke, die Menschen unterjochende Leidenschaft Macht gewinnen will. Er muß sein Gebot durch die allgemeine Stimme des Volkes heiligen lassen. Wenn Freie und Sklaven, Kinder und Weiber genötigt werden, sein Gesetz überall zu verkünden, wird es unverrückbar feststehen. — Werden sie aber auch geneigt sein, allesamt dasselbe zu sagen? frägt Megillos. — Der Einwand ist berechtigt! erwidert der Athener. Eben dies meinte ich, als ich erwähnte, daß die Handhabung meines Kunstgriffs nicht leicht sein werde. Das Gesetz muß verbieten, mit der Zeugungskraft Mißbrauch zu treiben. Wer die Keime des Lebens dort vergeudet, wo sie niemals fruchtbringend werden können, handelt den Geboten der Natur, der Bestimmung des menschlichen Geschlechtes zuwider. Gegen die Natur frevelt, wer als Mann mit einem Manne geschlechtlichen Umgang pflegt oder sich zu einem Weibe gesellt, das ihm keine Frucht bringen darf. Wie segensreich ein solches Gesetz wirken würde, wenn es Macht gewönne, ist klar. Es würde allen Liebeshändeln, allen Ehebrüchen ein Ende machen und die Ehemänner dauernd an ihre Gattinnen fesseln. Freilich würden verwegene, von starkem Geschlechtstrieb erfüllte Männer ein solches Gesetz schmähen und dessen Durchführung für unmöglich erklären. Gegen sie müßte der erwähnte Kunstgriff aufgeboten werden, das Gesetz durch die allgemeine Volksstimme sanktionieren zu lassen und ihm dadurch eine unwiderstehliche Kraft zu verleihen. Leider ist es jetzt so weit gekommen, daß man fast an der Ausführbarkeit dieses Versuches verzweifeln möchte; wir sahen ja sogar an dem Beispiel der gemeinschaftlichen Mahlzeiten der Frauen, welche Schwierigkeiten einer so guten Einrichtung auch dort im Wege stehen, wo die Vorbedingungen in Gestalt der gemeinsamen Männermahlzeiten schon vorhanden sind (siehe oben VI, 21). Indessen gibt mir ein Umstand die Zuversicht, daß das Gebot der Enthaltsamkeit nicht über menschliche Kräfte hinausgeht. Wir wissen, daß sich viele der berühmtesten Athleten während der ganzen Vorbereitungszeit auf die olympischen Spiele jeglichen geschlechtlichen Verkehrs enthalten haben. Wenn diese ungebildeten, kraftstrotzenden Männer fähig waren, den vielgepriesenen Liebesfreuden in der Aussicht auf einen Sieg im Ringen oder Laufen zu entsagen, so sollte es unseren feingebildeten Männern nicht unmöglich

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HO

Der wehrhafte

Agrarstaat

sein, dieselbe Standhaftigkeit zu bewähren, wo ihnen ein noch viel schönerer Sieg winkt: der Sieg über die Sinnenlust, der ihnen das glücklichste Leben verheißt. Die natürliche Scheu vor einem Tun, das nun und nimmer als sittlich erlaubt gelten kann, wird ihnen helfen, diesen Sieg zu erringen. — Das mag sein, bemerkt Kleinias trocken. 8 Da uns nun alles dahin drängt, ein Gesetz zu geben, wollen wir uns durch die Verderbtheit der Menge nicht von der Forderung abbringen lassen, daß unsere Bürger nicht schlechter, sondern besser sein sollen, als die Vögel und viele andere Tiere. Diese leben keusch, bis die Natur ihnen gebietet, sich zu paaren; alsdann bleiben sie einander treu und bewahren die Neigung, die sie zusammenführte, bis an ihr Ende. Wenn unsere Bürger, verdorben durch die schlimmen Beispiele anderer Griechen und Barbaren, nicht die genügende Selbstbeherrschung besitzen, um dem Kultus der regellosen Aphrodite zu entsagen, so müssen die Hüter der Gesetze zu Gesetzgebern werden und gegen sie ein zweites Gesetz''8) ersinnen. Das Ziel dieses Gesetzes muß sein, die Macht der Lüste zu schwächen, indem es die Häufigkeit ihrer Befriedigung einschränkt und die überschüssigen Körperkräfte durch Mühen und Anstrengungen in andere Bahnen leitet. Menschen, die in der Befriedigung ihrer Sinnenlust sparsam verfahren, werden an ihr eine minder gewaltsame Gebieterin haben. Deshalb muß das Gesetz verlangen, daß zum mindesten die durch die Scham gebotenen Einschränkungen gewahrt werden. Wer der illegitimen Liebe frönt, soll dies heimlich tun, unter dieser Bedingung mag sie als erlaubt gelten. Wer sich ihr aber offen hingibt, soll als unehrenhaft bezeichnet werden. So laute das zweite Gesetz. Allerdings steht es dem ersten, strengen Gesetze nach. Es ist infolge seiner Nachgiebigkeit gegen die menschlichen Schwächen nur zweiten Ranges. Gewiß wäre es bei weitem das Beste, wenn die reine Liebe, die nicht nach dem schönen Leibe, sondern nach der schönen Seele begehrt, die Alleinherrschaft gewönne, aber das wird wohl frommer Wunsch bleiben. Immerhin wollen wir uns beide Möglichkeiten offen halten: entweder werden wir jeden Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe untersagen, um damit jegliche Buhlerei auszurotten, oder doch wenigstens die Unzucht unter Männern verbieten, Liebesverhältnisse mit gekauften oder gemieteten Mädchen dagegen dulden, vorausgesetzt, daß sie streng geheimgehalten werden. Wer gegen dieses Gesetz verstößt, soll als Fremdling gelten und allen Anspruch auf die Ehren verlieren, die der Staat zu vergeben hat. Megillos billigt dieses Gesetz durchaus. Kleinias bemerkt ausweichend, daß er sich ebenfalls dafür entscheiden werde, sobald ihm der 111

Piatons

Gesetze

Achtes

Buch

rechte Zeilpunkt zu dessen Einführung gekommen zu sein scheine. Nun möge der Athener in seiner Gesetzgebung fortfahrenl Nach einigen kurzen Bemerkungen über die Einrichtung der gemeinschaftlichen Mahlzeiten führt der Athener aus: Im Gegensatz zu den meisten anderen Staaten wird unsere Kolonie in der Lage sein, ihren Bedarf an Nahrungsmitteln aus den Erzeugnissen ihrer Landwirtschaft zu decken, ohne auf die Einfuhr fremder Lebensmittel angewiesen zu sein. Durch diesen günstigen Umstand wird die Aufgabe des Gesetzgebers um mehr als die Hälfte erleichtert, denn die Gesetze über Handel und Schiffahrt, Zölle und Abgaben, Fremdenverkehr und Geldwesen werden dadurch auf ein Mindestmaß eingeschränkt. W i r brauchen uns hierbei nicht aufzuhalten, sondern können sogleich zur Agrargesetzgebung übergehen.

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Das erste Agrargesetz verbietet die heimliche Versetzung der Grenzsteine. Sie ist ein Frevel gegen die Götter, deren Obhut die Grenzsteine anvertraut sind, und zugleich ein heimtückischer Angriff gegen die geheiligte Verteilung des vaterländischen Bodens. Darum ist dieses Verbrechen strengstens zu bestrafen, selbst dann, wenn es nicht gegen Mitbürger, sondern an der Grenzmark gegen Einwohner des Nachbarlandes verübt wird 87 ). — Sehr eingehend bespricht der Athener das Nachbarrecht. Er bemerkt: Aus den kleinen Streitigkeiten der Nachbarn entwickeln sich häufig erbitterte Feindschaften. Diesem Uebel vorzubeugen ist eine wichtige Aufgabe des Gesetzgebers und der Landaufseher (VI, 8, 9). Verboten ist die eigenmächtige^ Bestellung fremden Ackerlandes, das Weiden von Vieh auf fremdem Grund und Boden, das Einfangen fremder Bienenschwärme, das unvorsichtige Anzünden von Feuern in der Nähe fremden Eigentums, das Abpflügen des Raines an der Grenze des Nachbargrundstückes. Alle Bestimmungen dieser Art sind indessen schon in anderen Gesetzgebungen zu finden und können aus ihnen übernommen werden; wir brauchen uns deshalb mit den Einzelheiten nicht weiter zu befassen, zumal uns höhere Aufgaben obliegen. — Hierauf folgen wasserrechtliche Bestimmungen. Jeder Grundbesitzer darf auf fremdem Boden Gräben ziehen, um seinem Lande Wasser aus den öffentlichen Quellen und Gewässern zuzuleiten. Er darf jedoch nicht seinem Nachbarn das Wasser abgraben und hat auch im übrigen dessen Eigentum nach Möglichkeit zu schonen. W o auf einem Hofe an Trinkwasser Mangel besteht, dem nicht durch die Anlage flacher, bis zur Tonerde gegrabener Brunnen abzuhelfen ist, hat der Nachbar auszuhelfen. Nötigenfalls haben die Landaufseher einen billigen Ausgleich herbeizuführen. — Den Schluß bilden gesetzliche Verordnungen über die Vorflut. Das tiefer gelegene Land hat den natürlichen 112

Der w e h r h a f t e

Agrarstaat

Abfluß des höher liegenden aufzunehmen, andererseits hat der Eigentümer des letzteren für einen geregelten Zufluß des Wassers zu sorgen. Auch hier haben die Land- und Stadtaufseher vorkommende Streitigkeiten zu schlichten. Wer sich ihren Anordnungen nicht fügt, hat den angerichteten Schaden doppelt zu ersetzen, wenn das Gericht ihn für schuldig erklärt. A Das nächste Kapitel enthält Vorschriften über den Schutz der Obsti - V ^ und Weinernte. Einen erhöhten Schutz genießen die zum Keltern und Trocknen bestimmten gemeinen Reben und Feigen. Diese Früchte darf niemand vor dem festgesetzten Tage der Lese abpflücken, auch nicht auf seiner eigenen Besitzung. Für das Tafelobst gilt diese einschränkende Bestimmung nicht. Sklaven, die Obst entwenden, erhalten nach der Zahl der genossenen Früchte eine entsprechende Anzahl Peitschenhiebe. Einem Fremden ist dagegen erlaubt, für sich und für einen Begleiter in den Gärten Obst zu pflücken. Soviel soll ihnen als freies Gastgeschenk des Landes gegönnt werden. Wer einen Bürger in seinem Obstgarten beim Stehlen ertappt, mag ihn mit Schlägen davonjagen, wenn der Täter nicht über 30 Jahre alt ist. Aeltere Männer sollten zwar straflos ausgehen, dürfen sich fortan aber nicht mehr um Preise für bürgerliche Tugend bewerben, solange sich noch jemand ihrer Missetat entsinnt. In Anbetracht ihrer großen Wichtigkeit für den Gartenbau stehen alle Bewässerungsanlagen unter dem Schutze des Gesetzes. Wer Brunnen, Zisternen oder fließendes Wasser verunreinigt oder gar vergiftet, wer dessen Zufluß nach anderen Grundstücken widerrechtlich ableitet, hat den Schaden zu ersetzen und den früheren Zustand wiederherzustellen. — Die Ernte darf jedermann auch über fremde Felder einfahren, insoweit er dadurch nicht einen unverhältnismäßig hohen Schaden anrichtet. In Streitfällen sollen die Landaufseher eingreifen, indessen können sie wegen ungerechter Anordnungen vor den Gerichten belangt werden. Die Gesetze über die Gestaltung des Prozeßverfahrens erklärt der Athener übergehen zu wollen. Er überläßt sie nebst den sonst noch erforderlichen Verordnungen von geringerer Bedeutung jüngeren Gesetzgebern, die sie im Geiste der gegebenen Rechtsordnung ausführen mögen. Dann sollen auch sie, wie die ganze Verfassung, unwandelbar feststehen (siehe oben VI, 14, unten XII, 8). Auf die Agrargesetze folgt die Gewerbeordnung des neuen Staates. Den freien Bürgern der Kolonie wird die Ausübung eines Gewerbes oder Handwerks gänzlich untersagt. Sie dürfen eine derartige Tätigkeit weder selbst betreiben, noch für ihre Rechnung durch Sklaven betreiben lassen. n

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Piatons

Gesetze

Achtes

Buch

Ihrer harren die höheren Aufgaben des Staatsbürgers, die ihre volle Arbeitsk r a f t und Aufmerksamkeit in Anspruch n e h m e n werden und deshalb nicht nebenher betrieben werden dürfen. U e b e r h a u p t ist die menschliche N a t u r nicht so reich veranlagt, daß j e m a n d zwei B e r u f e oder zwei Künste mit hinlänglicher Genauigkeit nebeneinander a u s ü b e n oder auch nur ü b e r w a c h e n könnte. Deshalb sollen die zur Ausübung i h r e s Berufes zugelassenen f r e m d e n Handwerker stets n u r ein H a n d w e r k betreiben, es soll ihnen unter k e i n e m Vorwande erlaubt sein, mehrere verschiedenartige Betriebe zu unterhalten. Die Gewerbepolizei wird von den S t a d t a u f s e h e r n wahrgenommen. Kleinere Rechtsstreitigkeiten zwischen den H a n d w e r k e r n u n d ihren Kunden sind von ihnen zu schlichten, Klagforderungen über m e h r als 50 Drachmen gehören zur Zuständigkeit der Gerichte. — E i n f u h r z ö l l e und Ausfuhrzölle werden nicht erhoben. Die E i n f u h r von Luxusgegenständen und von Rohprodukten, die einem Luxusgewerbe dienen, ist nicht gestattet. Hierhin gehören Weihrauch, P u r p u r s a f t u n d andere ausländische Farbstoffe. Andererseits ist die Ausfuhr einheimischer Erzeugnisse, deren das heimische Gewerbe bedarf, verboten. Die E i n f u h r von W a f f e n u n d Materialien zur Herstellung von Kriegsgerät bleibt der Militärbehörde ausschließlich vorbehalten. Ein Kleinhandel mit solchen Gegenständen findet nicht statt, wie ü b e r h a u p t jeder Handel mit Erzeugnissen des H a n d w e r k s verboten ist. Das Nähere ist durch Verordnungen der Hüter der Gesetze zu regeln. A Q Hieran schließt sich ein Gesetz über die Verteilung und Rationierung der Lebensmittel. Die gesamte landwirtschaftliche Produktion einschließlich des Schlachtviehes soll in drei Teile geteilt werden; auf die Freien, deren Sklaven und auf die im Staatsgebiet ansässigen oder vorübergehend anwesenden F r e m d e n entfällt je ein Drittel. Ausgleichsbestimmungen sollen gewährleisten, daß alle Arten der Lebensmittel nach Güte und Beschaffenheit möglichst gleichmäßig verteilt werden. Sodann trifft der Athener Bestimmungen über die Besiedelung des Landgebietes, welches (V, 14) in die 12 Bezirke der Phylen eingeteilt war. In jedem dieser Bezirke ist eine Landgemeinde (xibfirj) einzurichten. Den Mittelpunkt dieser Ansiedlungen bildet ein Marktplatz mit einem Tempel des Schutzgottes der Phyle und mit Heiligtümern bodenständiger Gottheiten, insoweit sich deren Kult erhalten hat. Diese Siedlungen sind tunlichst auf Anhöhen anzulegen, deren Verteidigung im Notfalle möglich ist. Die H a n d w e r k e r sind auf die Stadt und das Landgebiet zweckmäßig zu verteilen. Hierauf folgt die Marktordnung. Die Marktaufseher sollen an bestimmten Tagen des Monats Lebensmittelmärkte stattfinden lassen,

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Der w e h r h a f t e

Agrarstaat

auf denen die nicht Ackerbau! treibende Bevölkerung — im wesentlichen also die Fremden — ihren Bedarf an Lebensmitteln einzukaufen hat. Außerhalb dieser Märkte findet ein Kleinhandel mit Lebensmitteln nicht statt. Außerdem sind Krammärkte für dne übrigen Bedürfnisse der Bevölkerung einzurichten. Die Käufe auf dem Markte geschehen gegen Barzahlung; wer dem Kunden Kredit gibt, handelt auf eigene Gefahr, denn Forderungen aus solchen Geschäften sind nicht klagbar. — Eine besondere, praktisch wohl undurchführbare Bestimmung besagt, daß die Hüter der Gesetze über die Umsätze auf dem Markte Buch f ühren sollen, um die Zugänge und Abgänge im Vermögen der Verkäufer zur Berichtigung des Vermögenskatasters (V, 13) festzustellen. Den Beschluß dieser etwas bunten Gesetzesskizzen macht eine Verordnung über das Fremdenrecht. Jeder Fremde, der ein ehrliches Handwerk betreibt, hat das Recht, sich in der Stadt als Metöke niederzulassen, sofern er eine Wohnung findet. Ein Schutzgeld wird von den Metöken nicht erhoben; abgesehen von den allgemeinen Abgaben ist ihre einzige Pflicht, ein ordentliches Leben zu führen. Die normale Dauer des Niederlassungsrechtes wird auf 20 Jahre eingeschränkt — offenbar will der Athener verhüten, daß alteingesessenen Metökengeschlechtern schließlich das Bürgerrecht verliehen wird. Ein Metöke, der sich besondere Verdienste um den Staat erworben hat, darf bei Rat und Volk um die Verlängerung der Niederlassungsfrist, allenfalls auf Lebenszeit, nachzusuchen. Für die Söhne der fremden Handwerker beginnt der Lauf der Frist mit dem 15. Lebensjahre. Bei seinem Fortzuge aus der Stadt darf der Fremde sein ganzes Vermögen mitnehmen, auch hier wird eine Abgabe nicht erhoben. Zuvor hat er sich bei der Behörde ordnungsmäßig abzumelden und seine Streichung aus der Liste der Eingesessenen zu beantragen.

NEUNTES

BUCH

Strafgesetze

I

Das neunte Buch handelt vom Strafrecht der Kolonie. Der Athener entwickelt zunächst die Gesetze gegen die drei schwersten Kapitalverbrechen Tempelraub, Hochverrat, Landesverrat, sodann die Strafbestimmungen über Diebstahl, Totschlag, Mord, Körperverletzung und Mißhandlung. Die oft

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Der w e h r h a f t e

Agrarstaat

auf denen die nicht Ackerbau! treibende Bevölkerung — im wesentlichen also die Fremden — ihren Bedarf an Lebensmitteln einzukaufen hat. Außerhalb dieser Märkte findet ein Kleinhandel mit Lebensmitteln nicht statt. Außerdem sind Krammärkte für dne übrigen Bedürfnisse der Bevölkerung einzurichten. Die Käufe auf dem Markte geschehen gegen Barzahlung; wer dem Kunden Kredit gibt, handelt auf eigene Gefahr, denn Forderungen aus solchen Geschäften sind nicht klagbar. — Eine besondere, praktisch wohl undurchführbare Bestimmung besagt, daß die Hüter der Gesetze über die Umsätze auf dem Markte Buch f ühren sollen, um die Zugänge und Abgänge im Vermögen der Verkäufer zur Berichtigung des Vermögenskatasters (V, 13) festzustellen. Den Beschluß dieser etwas bunten Gesetzesskizzen macht eine Verordnung über das Fremdenrecht. Jeder Fremde, der ein ehrliches Handwerk betreibt, hat das Recht, sich in der Stadt als Metöke niederzulassen, sofern er eine Wohnung findet. Ein Schutzgeld wird von den Metöken nicht erhoben; abgesehen von den allgemeinen Abgaben ist ihre einzige Pflicht, ein ordentliches Leben zu führen. Die normale Dauer des Niederlassungsrechtes wird auf 20 Jahre eingeschränkt — offenbar will der Athener verhüten, daß alteingesessenen Metökengeschlechtern schließlich das Bürgerrecht verliehen wird. Ein Metöke, der sich besondere Verdienste um den Staat erworben hat, darf bei Rat und Volk um die Verlängerung der Niederlassungsfrist, allenfalls auf Lebenszeit, nachzusuchen. Für die Söhne der fremden Handwerker beginnt der Lauf der Frist mit dem 15. Lebensjahre. Bei seinem Fortzuge aus der Stadt darf der Fremde sein ganzes Vermögen mitnehmen, auch hier wird eine Abgabe nicht erhoben. Zuvor hat er sich bei der Behörde ordnungsmäßig abzumelden und seine Streichung aus der Liste der Eingesessenen zu beantragen.

NEUNTES

BUCH

Strafgesetze

I

Das neunte Buch handelt vom Strafrecht der Kolonie. Der Athener entwickelt zunächst die Gesetze gegen die drei schwersten Kapitalverbrechen Tempelraub, Hochverrat, Landesverrat, sodann die Strafbestimmungen über Diebstahl, Totschlag, Mord, Körperverletzung und Mißhandlung. Die oft

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Piatons

Gesetze

Neuntes

Buch

etwas ermüdenden Einzelheiten der Strafgesetze sind in der Darstellung teilweise übergangen worden. Einen größeren Raum nehmen die von Piaton eingestreuten rechtsphilosophischen und psychologischen Betrachtungen ein, durch sie gewinnt das trockene Thema problematischer Kriminalgesetze einen geistigen Gehalt von bleibendem Werte. Der Athener führt aus: Einem so vortrefflich eingerichteten Staatswesen, wie dem unsrigen, Strafgesetze zu geben, ist eine peinliche Aufgabe. Man sträubt sich gegen die Annahme, daß man auch hier, wie in schlechten Staaten, auf schwere Verbrechen stoßen werde. Da wir indessen nicht als Göttersöhne Gesetze für Göttersöhne verfassen, sondern als Menschen mit Menschen zu rechnen haben, so bleibt uns die Notwendigkeit nicht erspart, rohe und verhärtete Gemüter durch Strafandrohungen zu bändigen. Ich will zuerst, höchst ungern, vom Tempelraub reden, hoffend, daß kein Bürger jemals ein solches Verbrechen zu begehen wage. Eher möchten sich derartige Gelüste bei Fremden und Sklaven einstellen. — Die Vorrede zu diesem Gesetz wird lauten: Es gibt kein menschliches oder göttliches Uebel, das zu solcher unerhörten Tat anreizen könnte, vielmehr kann dieser Stachel nur aus alten ungesühnten Freveln (in einem früheren Leben?), aus einer von Grund aus verderbten Menschennatur entspringen. Wer diesem Verhängnis verfallen ist, hat nur einen Weg zur Rettung: Sühnopfer zu bringen, die Götter um Erlösung anzuflehen, gute Gesellschaft aufzusuchen und bösen Umgang zu meiden. Wenn auch dies nichts hilft, wäre es besser, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Denn das Strafgebot lautet: Ein Fremder oder ein Sklave, der des Tempelraubes schuldig ist, erhält so viele Geißelhiebe, wie es den Richtern gut dünkt, alsdann wird er, auf der Stirn und den Händen gebrandmarkt, nackt aus dem Lande gejagt. Vielleicht wird ihn diese Bestrafung zur Besonnenheit zurückführen, wie wir ja überhaupt niemanden bestrafen, um ihm Böses zu tun, sondern um ihn zu bessern oder zum mindesten nicht schlimmer werden zu lassen. Einen Bürger, der Greueltaten von dieser Schwere gegen Götter, die Eltern oder den Staat verübt hat, soll der Richter dagegen als unverbesserlich erachten, weil ihn auch die sorgfältigste Erziehung von Jugend auf nicht vom ärgsten Frevel zurückzuhalten vermochte. Hier ist die Strafe der Tod, f ü r den Schuldigen das geringste Uebel. Seine Leiche ist aus dem Lande zu schaffen. Sein schmähliches Ende mag den Mitbürgern zum abschreckenden Beispiel dienen. An seinen Kindern soll jedoch die Schmach des Vaters nicht haften bleiben, es soll ihnen sogar hoch angerechnet werden, wenn sie sich trotz der Belastung durch eine solche Abkunft zum Guten durchringen.

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Strafgesetze Aus demselben Grunde darf schon im Interesse der Kinder eine festgesetzte Geldstrafe nicht aus der Substanz des Stammgutes einer Familie vollstreckt werden. Wenn das freie Vermögen des Verurteilten nicht zur Deckung der Geldstrafe ausreicht, treten Freiheits- und Ehrenstrafen an deren Stelle, es sei denn, daß die Freunde des Schuldigen für ihn Bürgschaft leisten. Niemals darf ein Vergehen ungesühnt bleiben, auch gegen flüchtige Angeschuldigte ist das Strafverfahren durchzuführen. Die zulässigen Strafen sind: Tod, Gefängnis, körperliche Züchtigung, Ehrenstrafen, Verweisungen an die äußerste Landesgrenze und Geldstrafen88). Die Ordnung des Strafprozesses will der Athener dem Ermessen jüngerer Gesetzgeber überlassen, er selbst beschränkt sich auf einige Anordnungen für die Hauptverhandlung. Die Richter sollen dem Ankläger und dem Angeklagten Aug in Auge gegenübersitzen, ihre Stimme haben sie laut und öffentlich abzugeben. Alle abkömmlichen Bürger sollen der Verhandlung als aufmerksame Zuhörer beiwohnen. Sie beginnt mit der Anklagerede des Klägers und mit der Entgegnung des Angeklagten. Hierauf folgt die eingehende Vernehmung der Parteien durch den Vorsitzenden; nach deren Beendigung stellen die Beisitzer der Reihe nach ihre ergänzenden Fragen. Nachdem das Streitverhältnis hierdurch erschöpfend entwickelt ist, findet die Beweisaufnahme statt. Für jeden Fall sind drei Sitzungstage vorzusehen — anscheinend soll an jedem neuen Tage der ganze Prozeß von Anfang an wieder durchgenommen werden. Ueber jede Verhandlung ist ein Protokoll aufzunehmen und durch die Siegel aller Richter zu beglaubigen. Die Protokolle werden im Heiligtum der Hestia aufbewahrt. Vor der Abstimmung soll jeder Richter bei der Hestia schwören, sein Urteil gewissenhaft zu fällen. Nächst dem Frevel gegen die Götter ist der Hochverrat das schwerste Verbrechen. Wer einen Anschlag gegen die Staatsverfassung unternimmt, die Gesetze gewaltsam zu ändern versucht, einen Aufstand erregt, um einem Tyrannen oder einer Partei zur Herrschaft zu verhelfen, soll als der gefährlichste Feind des Staates behandelt werden. Wenn die für die Sicherheit des Staates verantwortlichen Behörden einen hochverräterischen Anschlag nicht rechtzeitig entdecken, oder ihn gar, falls er zur Ausführung gelangt, aus Feigheit nicht niederwerfen, sollen sie als die zweitschlimmsten Staatsverbrecher gelten. Jeder, auch der geringste Bürger, ist verpflichtet, hochverräterische Pläne, sobald sie zu seiner Kenntnis gelangen, der Behörde anzuzeigen und gerichtlich zu verfolgen. Die Strafe ist der Tod. Auch hier gilt der Satz, daß die Kinder des Verurteilten ungekränkt bleiben, es sei denn, daß außer ihrem Vater schon der Großvater und Urgroßvater wegen Hoch-

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Verrats verurteilt worden waren 80 ). I n diesem Falle soll man sie in die Stadt, aus der die Familie stammte, zurücksenden und ihr Stammgut an einen Sohn einer kinderreichen Familie vergeben. Die Auswahl unter zehn würdigen Anwärtern soll dem delphischen Orakel vorbehalten bleiben. — Landesverrat wird wie Hochverrat bestraft. F ü r alle Arten des Diebstahls genügt nach der Ansicht des Atheners ein Gesetz: Der Dieb hat dem Bestohlenen, sei es ein Privatmann oder der Staat, den Wert des entwendeten Gutes doppelt zu erstatten. Ein zahlungsunfähiger Dieb wird solange eingesperrt, bis der Gläubiger befriedigt ist oder freiwillig in die Entlassung aus dem Gefängnis einwilligt. Dem Kleinias genügt dies einfache Gesetz nicht, er meint, daß es die Unterschiede zwischen schweren und leichten Diebstählen nicht berücksichtige. Der Athener entgegnet: Es ist gut, daß du meiner Eilfertigkeit wie einem durchgehenden Pferde in die Zügel fällst und mich wiederum daran gemahnst, wie wenig doch alle Gesetzgeber ihrer Aufgabe gewachsen sind. W i e soll ich dir das erklären? W i r verglichen vorhin die heutigen Gesetzgeber mit den unfreien Aerzten, die ihre Kunst an ihren Mitsklaven ausüben (IV, 10). W e n n ein solcher Mediziner bei der Konsultation eines wirklichen Arztes zugegen wäre und sähe, wie dieser dem Ursprung der Krankheit nachforscht und dem Patienten fast einen wissenschaftlichen Vortrag über Pathologie hält, so würde er lachend ausrufen: „ D u Tor, du behandelst ja den Kranken, als ob er nicht gesund, sondern selbst ein Arzt werden wollte!" — W ü r d e er nicht recht haben? frägt Kleinias bedenklich. — Vielleicht, erwidert der Athener, hinzuzufügen wäre aber, d a ß a u c h w i r w e n i g e r G e s e t z e geben, als unsere S c h u t z b e f o h l e n e n zu B ü r g e r n erz i e h e n . W i r sind in der glücklichen Lage, daß uns nichts zwingt, Gesetze zu verfassen. V i e l m e h r d ü r f e n w i r f r e i n a c h d e m V o r t r e f f l i c h s t e n und N o t w e n d i g s t e n in j e g l i c h e r Verfassung f o r s c h e n , u m a n z u g e b e n , w i e es in d i e Erscheinung t r e t e n m ü ß t e . Es steht uns also frei, entweder das Beste auszuwählen oder uns auf das Notwendige zu beschränken. Welche W a h l werden wir treffen? Diesmal geht Kleinias mit Verständnis auf den Gedankengang seines Freundes ein. E r sagt: Es wäre lächerlich, wenn wir in dieser W a h l fehlgriffen und uns den Gesetzgebern gleichstellten, die unter dem Zwange einer Not ihr W e r k heute vollenden müssen, weil es nicht bis morgen Zeit hat. Glücklicherweise gleichen wir aber Männern, die das Material für einen großen B a u in Massen herbeischaffen, um daraus die besten Bausteine auszusuchen. Darum wollen wir als bedächtige Bauherren einzelne Teile unseres

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Strafgesetze Werkes fertig ausbauen und für das Uebrige vorerst nur das Material bereitstellen. Der Athener stimmt zu und fährt fort: Sollen die Dichter und Schriftsteller allein das Vorrecht haben, gültige Lebensregeln aufzustellen, oder ist es nicht noch weitaus mehr die Aufgabe des Gesetzgebers, das Schöne, Gute und Gerechte zu lehren? Sein W e r k muß als das schönste und vollendetste an erster Stelle stehen, nach seinen Schriften ist zu beurteilen, ob die Lehren der Dichter löblich oder lächerlich sind. Indessen soll das Gesetz nicht lauten, wie das Gebot eines finsteren Tyrannen, der seine Befehle und Strafandrohungen in lapidarer K ü r z e auf eine Mauer schreiben läßt und alsdann davongeht, sondern wie eine freundliche, Verständnis erweckende Mahnung liebender Eltern. Diesen W e g wollen wir getrost beschreiten, mag uns

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begegnen, was wolle. Vermutlich wird es aber etwas Gutes sein. W i r dürfen deshalb nicht mißvergnügt werden, wenn wir, hin und wieder Gesetze aufstellend, nur einige endgültig festlegen können, andere dagegen der ferneren Erwägung anheimgeben müssen. D e n n n o c h s i n d w i r n i c h t G e s e t z g e b e r , h o f f e n es a b e r zu w e r d e n . Hier schließt die mit der Beanstandung des Diebstahlsgesetzes durch Kleinias beginnende Betrachtung ab. Der auf den ersten Blick nicht ganz übersichtliche Gedankengang ist folgender: Die meisten Gesetzgeber verfahren oberflächlich, weil sie, der Not gehorchend, nur einzelnen Uebelständen abzuhelfen suchen. Unsere Aufgabe ist indessen, den Grund dieser Uebelstände zu erforschen, den Geist und Ursprung der Gesetze in der Verknüpfung von Recht und Sitte, Vernunft und Moral klarzulegen. W i r dienen nicht einem augenblicklichen, zufälligen Bedürfnis, bereiten vielmehr die Grundlage einer jeden systematischen Gesetzgebung vor. Auf diesem Wege werden wir zwar gelegentlich auch ein spruchreifes Gesetz endgültig verabschieden, vieles andere wird dagegen, w i e j e n e s G e s e t z g e g e n d e n D i e b s t a h l , als vorläufiges Schema unvollendet bleiben' 0 ). — Mit diesen Ausführungen läßt Piaton die Fiktion, daß der Zweck des Dialoges sei, einer auszusendenden Kolonie eine fertige Gesetzgebung mitzugeben, endgültig fallen. Diese auf Prinzipien ausgehende Methode versucht der Athener auf das Strafrecht anzuwenden. Er führt aus: W i r wollen untersuchen, ob sich unsere Anschauungen von der Uebereinstimmung des Schönen mit dem Gerechten als folgerichtig erweisen, und wie sie sich zu den herrschenden Meinungen verhalten. Alle werden darin einig sein, daß alles, was mit der Gerechtigkeit übereinstimmt, sei es ein gerechter Mensch oder eine gerechte Handlung, schön ist. Demgemäß würde auch jede gerechte Bestrafung schön zu nennen sein. Das Schimpfliche ist aber nicht schön, sondern häßlich. Nun fanden

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wir. daß die Gerechtigkeit gebietet, schmähliche Verbrechen mit schimpflicher Strafe zu belegen. Wie steht es hier um die Uebereinstimmung des gerechten Erleidens mit dem Schönen? Den ratlosen Kleinias bedeutet der Athener: Ich glaube, das schon einmal ausdrücklich gesagt zu haben; wenn nicht, so will ich es jetzt auseinandersetzen. Alle schlechten Menschen sind wider Willen schlecht. Daraus folgt der besondere Satz, daß alle Ungerechten wider Willen ungerecht sind. Mithin geschehen alle ungerechten Handlungen unfreiwillig 61 ). Gegen diese Ansicht möchte zwar mancher aus Streitsucht und Eitelkeit einwenden, daß ungerechte Handlungen nur zum Teil unfreiwillig, zum Teil aber freiwillig verübt würden, ich halte indessen an meiner Lehre fest. Sollen wir sie nun auf unsere Gesetze anwenden? Sollen wir annehmen, daß es überhaupt keine gänzlich freiwilligen Vergehen gibt, oder sollen wir einen Unterschied zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Uebeltaten gelten lassen und jene härter als diese bestrafen? Sehr schön! bemerkt Kleinias naiv, was haben wir also zu tun?

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Zunächst, entgegnet der Athener, wollen wir uns nochmals vergegenwärtigen, welche Unsicherheit und Verwirrung in der Auffassung des Gerechten besteht. Welches ist denn eigentlich die Unterscheidung, die alle Gesetzgeber bis zum heutigen Tage dahin geführt hat, zwei Arten des Unrechts, das freiwillige und das unfreiwillige, anzunehmen? Unsere Behauptung gleicht allerdings einstweilen dem Worte eines Gottes, der erscheint, redet und wieder verschwindet, ohne seinen Ausspruch erklärt zu haben. Wir müssen aber unsere These rechtfertigen, damit die Menschen sie begreifen und als richtig anerkennen. Inwiefern gibt es denn zwei verschiedene Arten rechtswidriger Handlungen, wenn ihr Unterschied nicht darin besteht, daß die einen freiwillig, die andern unfreiwillig geschehen? Der Grund der falschen Unterscheidung liegt darin, daß man schadenstiftende Handlungen den ungerechten gleichstellt. Einen Schaden verursacht man oft unfreiwillig. In diesem Falle kann jedoch von einer ungerechten Handlungsweise überhaupt nicht die Rede sein, während in dem entgegengesetzten Falle, wenn jemand einem andern auf unrechtmäßige Weise vorsätzlich einen Gewinn verschafft, ein Unrecht geschieht. Es kommt also nicht darauf an, was der eine dem andern gibt oder nimmt, entscheidend ist vielmehr die Gesinnung des Täters. Eine Schädigung, die jemand anrichtet, ohne sie zu wollen, darf der Gesetzgeber deshalb nicht als Unrecht bestrafen. Seine Aufgabe ist hier, einen versöhnenden Ausgleich unter den Parteien zu schaffen. Zu diesem Zweck mag er anordnen, daß der Schaden wieder gutzumachen ist, für unbeabsichtigte Tötungen und Verwundungen mag er ein Wehrgeld (änoiva) festsetzen. —

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Strafgesetze Man sieht, daß die Frage der Zurechnung des Eingriffs in eine fremde Rechtssphäre zur Zeit Piatons noch große Schwierigkeiten machte. Der uralte, in Solons Gesetzen ausdrücklich anerkannte Rechtsgedanke, daß auch der schuldlose Täter das Recht auf Blutrache durch ein Wehrgeld ablösen muß, tritt hier noch deutlich hervor. — Vorsätzliche Vergehungen soll der Gesetzgeber ebenfalls zu heilen versuchen; die auferlegte Strafe möge den Ungerechten belehren und ihn vor Rückfällen bewahren. Ueberdies ist er zur Erstattung des angerichteten Schadens anzuhalten. Wenn es dem Gesetzgeber gelingt, die Uebeltäter dahin zu erziehen, daß sie das Rechte liebgewinnen oder wenigstens nicht mehr hassen und das Unrecht scheuen, so hat er damit den höchsten Zweck der Strafgesetze erreicht. In der Wahl seiner Mittel, ob er das Unrecht mehr durch Aufmunterungen und den Appell an das Ehrgefühl, als durch die Androhung von Strafen bekämpfen will, muß man ihm freie Hand lassen. Die Todesstrafe soll er jedoch nur über völlig Unverbesserliche aussprechen. Ihnen ist der Tod besser, als ein ruchloses, wertloses Leben, und den Bürgern erweisen sie durch ihren Tod eine doppelte Wohltat: sie geben ihnen ein warnendes Beispiel und entledigen den Staat von bösartigen Menschen. — Damit ist die vorhin aufgeworfene Frage beantwortet, warum selbst das schmähliche Los des hingerichteten Verbrechers schön ist. — Kleinias bekennt, daß ihm die Wechselbeziehungen zwischen Unrecht und Schaden, unfreiwilligen und freiwilligen Handlungen noch nicht ganz klar seien. Der Athener verspricht, ihn darüber zu belehren: Bekanntlich ist einer der Teile oder der Zustände der Seele der Zorn (tivfids), ein ungestümer und streitbarer Drang, der durch unvernünftige Gewalt viel Unheil anrichtet. Von anderer Art ist die Lust, sie sucht ihre Zwecke durch die entgegengesetzten Kräfte der Ueberredung und Ueberlistung zu erreichen. Zu ihnen dürfen wir als drittes Uebel die Unwissenheit rechnen. Sie ist in ihrer einfachen Gestalt die Einfältigkeit, in ihrer doppelten Gestalt aber der Dünkel, der Wahn, etwas zu wissen, was man durchaus nicht weiß. Wenn dieser Dünkel mit Macht und Gewalt ausgerüstet ist, wird er zur Ursache grober Uebeltaten, während er bei schwachen Menschen zumeist nur kindische oder greisenhafte Verfehlungen zur Folge hat. Vergehen dieser Art dürfen, ebenso wie die verhältnismäßig harmlosen Verirrungen der Einfältigkeit, mit Nachsicht beurteilt werden. Zorn, Lust und Unwissenheit lenken, je nach ihren Graden verschieden wirkend, den Willen des Menschen von seinen Zielen ab. Jetzt kann ich dir meine Anschauungen vom Gerechten und Ungerechten

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ohne weitere Abschweifung auseinandersetzen: Die Gewaltherrschaft des Zornes, der Furcht, der Lust und Unlust, des Neides und der Begierden in der Seele des Menschen nenne ich Ungerechtigkeit, einerlei, ob sie Schaden stiftet oder nicht. W e n n dagegen der einzelne Mensch oder der Staat aus ehrlicher Ueberzeugung dem folgt, w a s er für das Vortrefflichste hält und allein dieses zum Gesetz seines Handelns erhebt, so ist er gerecht, mag er auch irren. Einen Schaden, den jemand im Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit seiner Gesinnung verursacht, pflegt die Menge als unfreiwilliges Unrecht zu bezeichnen. W i r wollen uns nicht auf einen Wortstreit darüber einlassen, sondern an dem Ergebnis festhalten, daß die Unlust des Zornes und der Furcht, die Lust und ihre Begierden, die Abwendung 9 2 ) von der wahren Meinung nebst den daraus hervorgehenden Hoffnungen und Erwartungen die drei Grundtriebe des verbrecherischen Gemütes sind. Da der zuletzt genannte Trieb nochmals in zwei Teile zerfällt (Einfältigkeit und Dünkel), so ergeben sich im ganzen deren fünf. Ihnen müssen fünf verschiedene Grundrichtungen der Gesetzgebung entsprechen. Hinterlistige, heimtückische Handlungen müssen schärfer bestraft werden, als offene Gewalt. Freilich wirken Gewalt und Arglist häufig zusammen.

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Hiernach wollen wir zu unserem Ausgangspunkt zurückkehren. W i r hatten die Gesetze gegen Tempelraub, Hochverrat und Landesverrat abgeschlossen. Wenn jemand ein derartiges Verbrechen im Wahnsinn oder in der Geistesschwäche eines Kindes, eines Greises, eines Kranken verübt, sollen die Richter diesen Umstand von Amtswegen berücksichtigen, ohne an das Vorbringen der Parteien gebunden zu sein. Der Täter bleibt alsdann straffrei, unbeschadet seiner Verpflichtung, den einfachen Betrag des Schadens zu erstatten. W e n n er mit Blutschuld belastet ist, soll er ein Jahr außer Landes gehen. Frei von Strafe bleibt ferner, wer einen Bürger im Kampfspiel, im Kriege oder auf einer militärischen Uebung ohne Vorsatz erschlagen hat; jedoch soll er sich durch die vorgeschriebenen religiösen Sühnungen von der Blutschuld reinigen. Der Arzt, dem ein Kranker unter den Händen stirbt, soll auch ohne Entsühnung, kraft Gesetzes, als rein gelten. Für alle andern Fälle des unfreiwilligen Totschlages gilt folgendes Gesetz: W e r einen fremden Sklaven in der Annahme tötet, es sei sein eigener, hat dessen Herrn schadlos zu halten. L ä ß t er es darüber zum Prozeß kommen, hat er den doppelten Betrag des Schadens zu bezahlen. Indessen soll er sich strengerer Reinigungszeremonien unterziehen als jemand, der einen Gegner im Kampfspiel ums Leben gebracht hat. Auf dieselbe Weise soll sich reinigen, wer einen eigenen Sklaven tötete; im übrigen bleibt er straffrei. W e r einen Freien

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Strafgesetze unfreiwillig erschlagen hat, soll nach gehöriger Entsühnung auf ein Jahr das Land verlassen. Denn wir dürfen die alte Ueberlieferung nicht mißachten, daß die Seele des gewaltsam Getöteten um die Stätten schweift, wo er als Lebender zu weilen pflegte. W e n n sie dort den Täter antrifft, so ergrimmt sie, verstört sein Gemüt und verwirrt seine Handlungen. Wenn der Getötete ein Fremder war, soll der Täter während seiner Verbannung auch dessen Heimatstadt nicht betreten. Nach gewissenhafter Erfüllung dieser Pflichten soll der Entsühnte als schuldlos gelten, auch die Verwandten des Toten müssen ihm Verzeihung gewähren und mit ihm Frieden halten. Harte Strafe droht ihm dagegen, wenn er durch vorzeitige Rückkehr den Bann bricht, oder wenn er es gar wagen sollte, vor seiner Entsühnung einen Tempel zu betreten. Alsdann muß ihn der nächste Verwandte des Toten wegen Totschlags belangen. Wenn sich der zur Strafverfolgung Berufene dieser Verpflichtung entzieht, so kommt die Blutschuld auf sein Haupt, überdies wird er auf fünf Jahre verbannt. Aehnliche Bestimmungen sieht der Athener f ü r ungewollte Totschläge unter Fremden und Metöken vor. Bemerkenswert ist die ängstliche Sorgfalt, mit der das Land vor der Befleckung durch einen mit Blutschuld belasteten Fremdling geschützt wird. Er wird ebenfalls ausgewiesen, auf den Bannbruch steht Todesstrafe. Wenn ihn höhere Gewalt, etwa ein Schiffbruch, zurückführt, muß er bis zur Abfahrt des nächsten Schiffes ein Zelt am Strande beziehen und „seine Füße im Meere netzen". Kehrt er als Gefangener oder als Sklave zurück, soll ihn die erste Behörde, die ihn entdeckt, sofort in Freiheit setzen und ihn unter sicherem Geleit außer Landes schaffen. Unter den Totschlägen, die im Zorne geschehen, unterscheidet der Athener zwischen dem Totschlag im Jähzorn, welchem meistens die Reue zu folgen pflegt, und dem Totschlag aus Rache, nach welchem sich gewöhnlich keine Reue einstellt. Jener gleicht einer unfreiwilligen, dieser einer freiwilligen Tat, man könnte also im Zweifel sein, ob der Gesetzgeber den ersten als unfreiwillig, den zweiten als freiwillig bezeichnen sollte. Besser ist es jedoch, sie so zu behandeln, a 1 s o b sie unfreiwillig oder freiwillig geschehen wären. Demnach ist die Tötung im Jähzorn minder streng zu strafen, als die mit Ueberlegung ausgeführte Tat"). Die vorgesehenen Strafen sind auffallend milde: Auf den Totschlag im Jähzorn steht zweijährige, auf den Totschlag aus Rache dreijährige Verbannung. Freilich soll auf diese Strafen nur unter Vorbehalt erkannt werden. Dem zurückkehrenden Verbannten werden zwölf Richter an die Landesgrenze entgegengesandt, die in der Zwischenzeit den Fall noch einmal

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gründlich untersucht haben; je nach den Umständen werden sie darüber befinden, ob der Täter heimkehren darf, oder ob eine Verlängerung der Verbannung stattfindet. Wer nach Verbüßung der Strafe abermals einen Totschlag verübt, wird auf Lebenszeit verbannt. — Wer einen fremden Sklaven i m Z o r n erschlägt, soll dessen Wert doppelt erstatten; tötet er im Zorn seinen eigenen, hat er sich lediglich zu entsühnen. Es versteht sich, daß Reinigungen von der Blutschuld in allen Fällen des Totschlages stattzufinden haben. Wer ungereinigt den Markt, die Wettspiele oder andere geheiligte Stätten durch seine Gegenwart befleckt, unterliegt den Strafen des Bannbruchs. Dieselbe Strafe trifft den, der als nächster Angehöriger des Toten die Strafverfolgung unterläßt. Es steht jedem frei, gegen beide als Kläger aufzutreten, die eingetriebenen Geldstrafen in Höhe des doppelten Wehrgeldes mag der Kläger für sich behalten. — Ein Sklave, der seinen Herrn oder einen andern Freien im Zorn erschlug, soll den Verwandten des Getöteten zur Bestrafung überwiesen werden. Sie mögen mit ihm nach ihrem Belieben verfahren, nur dürfen sie ihn nicht am Leben lassen. Sehr ausführlich behandelt der Athener die Totschläge unter Eltern und Kindern, Geschwistern und Ehegatten, obwohl sie, wie er bemerkt, selten vorkommen. Auf Vatermord und Muttermord steht der Tod, in den anderen Fällen ist auf dreijährige Verbannung zu erkennen. Wenn ein Ehegatte sein eigenes Kind umbringt, muß die Ehe geschieden werden. In allen Fällen ist der Täter von jeglicher Gemeinschaft mit seiner Familie ausgeschlossen. Findet gleichwohl eine solche Gemeinschaft statt, so sind alle Beteiligten wegen Gottlosigkeit zu verurteilen. — Ein Totschlag in der Notwehr bleibt straffrei, es sei denn, daß der Täter ein Sklave und der Erschlagene ein Freier ist, oder daß ein Sohn seinen Vater in der Notwehr erschlagen hat. In diesen Fällen tritt Todesstrafe ein. — Wenn der Erschlagene vor seinem Hinscheiden dem Täter verziehen hat, soll der Wille des Toten geehrt werden; die Tötung soll alsdann als eine unfreiwillige gelten, auch dann, wenn ein Elternmord geschah. — Der Athener schließt damit die Strafbestimmungen über die im Zorn verübten Totschläge ab und geht zu dem mit Arglist ausgeführten Morde über. Die Ursache des Mordes ist nicht der Zorn, sondern die Lust, die Herrschaft niederer Begierden in einer verwilderten Seele. Die stärkste unter ihnen ist die Begierde nach Geld. Ihre Macht beruht darauf, daß in allen Staaten der Reichtum als das höchste Gut gepriesen wird, während er in Wahrheit erst an dritter Stelle steht. Denn der Reichtum dient nur dem Leibe, der Leib aber der Seele. Die Güter der Seele und des Leibes gehen 1&4

Strafgesetze also den Gütern des materiellen Besitzes vor. Wenn anstatt jener falschen, die Menschen und ihre Nachkommenschaft verderbenden Rangordnung der wahre Satz ernstlicher eingeschärft werden würde, daß nicht der Reichtum schlechthin, sondern nur der redlich erworbene Reichtum beglückt, so würde sich nicht so viel Blutschuld anhäufen, die wiederum durch Blut gesühnt werden muß. Die zweite Triebfeder des Mordes ist die falsche Ehrbegierde. Sie ist die Quelle des Neides, eines üblen Lebensgefährten und eines gefährlichen Feindes der besten Männer im Staate. Der dritte Antrieb zum Morde geht aus feiger Furcht hervor. Diese verleitet manchen Verbrecher, die Mitwisser seiner Uebeltat aus dem Leben zu räumen. Als Vorrede zum Gesetz mag uns die alte Lehre der Mysterien dienen, daß es eine Vergeltung im Hades gibt, und daß überdies alle Morde in einem späteren Erdendasein abgebüßt werden müssen. Durch die Wiedergeburt kehrt die Seele des Menschen wieder in einen sterblichen Leib zurück; wer einen Mord beging, wird in diesem neuen Leben ebenfalls durch Mörderhand enden. Das Gesetz untersagt zunächst dem Mörder eines Bürgers, die Heiligtümer, den Markt, den Hafen und überhaupt eine öffentliche (den Göttern des Vaterlandes geweihte) Stätte zu betreten. Dieses Verbot tritt sofort, ohne Urteil und ohne Ankündigung in Kraft. Wenn der nächste männliche oder weibliche Verwandte durch Lässigkeit in der Strafverfolgung verschuldet, daß der Mörder frei umhergeht und jene Orte durch seine fluchbeladene Person entheiligt, so treffen ihn die oben bereits erwähnten Folgen. Jeder Bürger darf ihn selbst und den Mörder zur Rechenschaft ziehen, nachdem er die vorgeschriebenen Opfer und Reinigungszeremonien erfüllt hat. Der Mörder wird mit dem Tode bestraft und darf nicht in dem Heimatlande des Getöteten bestattet werden. Ueber flüchtige Mörder ist ewige Verbannung zu verhängen. Wer den Bann bricht, ist vogelfrei: jeder, der ihn antrifft, darf ihn erschlagen oder der Behörde zur Hinrichtung überliefern. Wer Anklage wegen Mordes erhebt, muß den Angeschuldigten nötigen, drei zuverlässige Bürgen zu stellen, die dessen Erscheinen vor Gericht gewährleisten. Vermag dies der Angeschuldigte nicht, ist er bis zu seiner Aburteilung in Haft zu nehmen. Dies gilt indessen nur gegen Mörder, die ihr Opfer mit eigener Hand umgebracht haben. Wer sonst durch verbrecherische Anschläge einen Mord herbeiführt, ist zwar ebenfalls des Todes schuldig, leistet aber keine Bürgschaft 84 ). Dieselben Gesetze gelten für Morde, die von Sklaven an Sklaven, von Bürgern an Fremden oder von Fremden an Bürgern verübt werden. Wenn dagegen ein Sklave einen Bürger ermordet, soll er angesichts des Grabhügels des Toten soviele Geißelhiebe erhalten, wie der Ankläger 125

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befiehlt. W e n n er nicht schon unter den Hieben seinen Geist aufgibt, soll ihn der Henker vollends töten. — W e r einen Sklaven als den Mitwisser einer schändlichen Tat ermordet, soll, wenn der Sklave selbst unschuldig war, mit dem Tode bestraft werden. Die schändlichsten aller Verbrechen sind die Morde an Eltern, Kindern und Geschwistern. Möge sich ein jeder gesagt sein lassen, daß sie der Täter in einem künftigen Leben durch dasselbe Schicksal zu büßen hat. So wird der Muttermörder als W e i b wiedergeboren, um von der Hand des eigenen Kindes erwürgt zu werden. Denn für ruchlos vergossenes Verwandtenblut gibt es keine andere Sühne. Die Seele des Ermordeten und die seiner nächsten Blutsverwandten finden nicht eher Buhe, als bis den Mörder dasselbe Los ereilt hat. Außer den Strafen für Mord erleidet der Verwandtenmörder die folgende Schmach: Seine Leiche wird an einem Kreuzweg außerhalb der Stadt niedergelegt. Dort schleudert jeder Beamte des Staates einen Stein gegen sein Haupt, zur Sühnung der Heimat von der Blutschuld. Darauf wird der Leichnam über die Grenze geworfen. W i e soll aber der bestraft werden, der seinen liebsten Freund, seinen eigenen Leib, ums Leben gebracht hat? W e r aus Feigheit und Schlaffheit eigenmächtig den ihm zugesponnenen Lebensfaden zerriß, ohne durch ein Todesurteil, ein unerträgliches Unglück oder durch drohende Schmach zu dem Entschlüsse getrieben worden zu sein, einem nicht mehr leben swerten Leben ein Ende zu machen, soll ein namenloses Grab in dem Oedland der äußersten Landesgrenze erhalten. Keine Säule, keine Inschrift darf die Stätte bezeichnen, niemand darf neben ihm beigesetzt werden. Seine Familie soll die von den Göttern befohlenen Sühneopfer bringen. Hierauf folgt ein höchst seltsames Gesetz — es erinnert an die verwegene Parodie in den „ W e s p e n " des Aristophanes, wo über den Hund Labes Gericht gehalten wird — : W e n n ein Tier einen Menschen getötet hat, es sei denn in einem öffentlichen Kampfspiel, sollen die Verwandten des Toten die schuldige Bestie vor den Landaufsehern verklagen. Diese haben das Tier hinzurichten und den Kadaver über die Grenze schaffen zu lassen. Ebenso ist ein Prozeß einzuleiten, wenn jemand durch einen leblosen Gegenstand getötet wurde, außer durch einen Blitz oder ein anderes göttliches Geschoß. Zum Bichter ist der nächste Nachbar zu bestellen. Er hat die vorgeschriebenen Entsühnungen vorzunehmen und dafür zu sorgen, daß das unheilvolle Ding aus den Lande entfernt wird 95 ). W e n n der Mörder eines Erschlagenen nicht zu ermitteln ist, wird die Klage gegen den Unbekannten erhoben. Der Herold wird feierlich verkünden, daß

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Strafgesetze der Mörder bei Todesstrafe verbannt sei, daß weder sein lebender, noch sein toter Leib im Lande verbleiben dürfe. — Daß Tötungen in der Notwehr straffrei bleiben, war vorhin, Kap. 9, bereits erwähnt worden. Im Folgenden zählt der Athener einige Fälle auf, in denen die durch die Notwehr gezogenen Grenzen überschritten werden dürfen. Wie nach römischem Recht darf jedermann einen zur Nachtzeit in sein Haus eingedrungenen Dieb töten, desgleichen einen Straßenräuber. Dasselbe gilt für die Abwehr der Notzucht gegen eine freigeborene Frau oder gegen einen Knaben und für die Verteidigung der nächsten Verwandten gegen lebensgefährliche Angriffe. In allen Fällen dieser Art soll der Täter kraft Gesetzes frei von Blutschuld sein, also keiner Entsühnung bedürfen. A r \ In den Fällen der Körperverletzung unterscheidet der Athener eben• I J falls zwischen den „unfreiwilligen" Straftaten, die im Zorn oder aus Furcht geschehen und den vorbedachten „freiwilligen" Handlungen. Die grundlegende These, daß alles Unrecht unfreiwillig geschehe, wird auch hier nicht konsequent durchgeführt. Dem zu erlassenden Gesetz schickt der Athener diesmal eine längere Vorrede voraus: Durch das Recht unterscheidet sich der Mensch vom Tier. Gesetze sind notwendig, weil die menschliche Natur weder die Fähigkeit besitzt, das Rechte zu erkennen, noch die Neigung hat, es zu wollen. Schon die erste Erkenntnis, daß die wahre Staatskunst nicht auf die Interessen der Einzelnen, sondern auf die der Gesamheit sieht, daß im Staate die gemeinsamen Interessen das Verbindende, die Sonderinteressen das Trennende sind, ist schwer zu gewinnen. Wer dies eingesehen hat, wird sich trotzdem nicht leicht dazu entschließen, seine persönlichen Interessen dem Gemeinwohl unterzuordnen, sobald er eine uneingeschränkte, niemandem verantwortliche Macht gewinnt. Auch er wird seiner Habsucht, seinem Eigennutz unterliegen, der Lust nachjagen und ihr den Vorrang vor dem Gerechten und Guten einräumen. Ein begnadeter Mensch, dessen edler Sinn dies zu bewahren vermöchte, würde freilich keiner Gesetze bedürfen. Denn kein Gesetz steht höher als das Wissen, und kein Recht ordnet die Vernunft irgend einer anderen Macht unter; ihr gebührt vielmehr überall die Herrschaft, wenn anders sie ihrem Wesen nach im höchsten Grade frei und wahr ist. Menschen dieser hohen Art gibt es aber kaum, und darum muß die gesetzliche Ordnung als das Zweitbeste die Herrschaft übernehmen. Sie regelt zwar die menschlichen Dinge nur im Großen und Ganzen, die mannigfach verschiedenen Umstände der einzelnen Fälle kann auch sie nicht überblicken. Dessen werden wir gewahr werden, sobald wir an die Fassung unseres nächsten Gesetzes herantreten. Man wird uns fragen, wie wir es an-

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stellen wollen, die zahllosen Fälle der Verletzung, Schädigung, Verstümmelung des Leibes durch e i n Gesetz zu erfassen, zumal die Einzelfälle auch nach den Persönlichkeiten des Täters und des Verletzten durchaus verschieden zu bewerten sind. Dies alles dem richterlichen Ermessen anheimzustellen, ist ebenso unmöglich, wie dem Richter nichts zu überlassen. Jedenfalls müssen wir ihm genügend feste Merkmale angeben, nach welchen er ohne Willkür über Schuld und Strafe zu erkennen vermag. Wo unfähige Richter stumm und verstohlen ihres Amtes walten, oder — was noch schlimmer ist — wo der Gerichtshof wie ein Theaterpublikum die Reden der Parteien mit lärmendem Beifall oder mit tobender Mißbilligung aufnimmt, ist die Aufgabe des Gesetzgebers überaus mißlich. Dem Ermessen solcher Gerichte dürfte er eigentlich gar nichts anvertrauen, er müßte ihnen alles bis ins Kleinste vorschreiben. Der Sachkunde sorgfältig ausgewählter, gut vorgebildeter Richter darf er jedoch größeres Vertrauen schenken. Uns wird deshalb kein Vorwurf treffen, wenn wir uns auf die Festlegung der wichtigsten Grundlinien beschränken und der Initiative unserer Richter einen weiten Spielraum gewähren. An diesen Grundsatz haben wir uns ja schon immer gehalten, wir haben überall nur die Umrisse der Gesetze aufgezeichnet, insoweit es nötig war, den Richtern sichere Merkmale an die Hand zu geben. Das soll auch jetzt geschehen. Trotzdem fällt das Gesetz sehr weitläufig aus, es wird genügen, dessen wesentlichen Inhalt wiederzugeben. Die erste Bestimmung handelt von Mordversuchen, die nur eine körperliche Verletzung des Angegriffenen zur Folge haben. Der Athener meint, daß der Täter allein deshalb, weil er seinen Zweck nicht erreichte, keine Schonung verdiene. Man müsse jedoch den guten Dämon ehren, dessen Eingreifen beide Teile vor großem Unheil bewahrt habe, und deshalb in solchen Fällen nicht auf Todesstrafe, sondern nur auf lebenslängliche Verbannung erkennen, auch den Verbannten im Genüsse seines Vermögens belassen. Mordversuche eines Kindes gegen die Eltern, eines Sklaven gegen den eigenen Herrn werden jedoch mit dem Tode bestraft. Todesstrafe steht auch auf Mordversuchen unter Geschwistern. Ein Ehegatte, der einen Mordanschlag auf das Leben seines Ehegatten verübt, wird auf Lebenszeit verbannt. Das Vermögen des verbannten Ehemannes ist seinen Kindern zu überweisen. Das Haus eines kinderlosen Verbannten ist zunächst zu entsühnen und alsdann, nach Anhörung der Verwandten, mitsamt dem Stammgute einem würdigen Anwärter zu übergeben. Dasselbe gilt in allen Fällen, wo ein kinderloser Grundbesitzer zum Tode oder zu lebenslänglicher Verbannung verurteilt wird. Der eingewiesene Erbe ist in 128

Strafgesetze die Familie des Verbannten aufzunehmen; er gilt als der Adoptivsohn des Vaters des Verurteilten und erhält den Namen seines Adoptivvaters. Er übernimmt damit die Verpflichtung zur Pflege des Kultes der Familie und ihrer Heiligtümer. Der Athener fährt fort: Nicht überall schließt sich Grenze an Grenze, oft bleibt zwischen ihnen ein herrenloses Grenzgebiet liegen. So gibt es auch Grenzfälle zwischen unfreiwilligen und freiwilligen Handlungen. Dahin gehören die im Zorne verübten Taten. Wer im Zorne jemanden verwundet96), soll den Schaden doppelt erstatten. Auf den vierfachen Betrag erhöht sich die Buße, wenn die Wunde nicht heilbar ist oder eine dauernde Entstellung zurückläßt. Auch den Staat hat der Täter schadlos zu halten; er muß die dem Verletzten obliegenden Kriegsdienste mitversehen, solange dieser dienstunfähig ist. — Ueber ein Kind, das seinem Vater oder seiner Mutter vorsätzlich eine Wunde schlug, sollen alle Familienväter über 60 Jahre mit Ausnahme der Verwandten zu Gericht sitzen. Sie haben darüber zu befinden, ob der Verbrecher den Tod, eine noch härtere oder eine etwas gelindere Strafe erleiden soll. Andere Fälle der Körperverletzung unter Blutsverwandten unterliegen der Aburteilung durch einen Familienrat. Wenn dieser uneinig ist, wird die Strafe durch die Hüter der Gesetze bestimmt. — Wenn ein Sklave einen Freien im Zorn verwundet, soll ihn dessen Herr dem Verletzten zu Eigentum geben, andernfalls hat er Schadensersatz zu leisten91). Im Prozesse steht dem Eigentümer die Einrede frei, daß eine Verabredung des Klägers mit dem Sklaven vorliege, die jenen in dessen Besitz setzen solle. Gelingt der Beweis, so darf er seinen Gegner wegen Sklavenraubes belangen, im Falle seines Unterliegens hat er die dreifache Buße zu zahlen. — Wer jemanden unfreiwillig verwundet, hat nur den einfachen Schaden zu vergüten, denn über den Zufall hat auch der Gesetzgeber keine Macht. Zu den Gewalttaten gehören auch die tätlichen Beleidigungen. Besonders abscheulich und den Göttern verhaßt sind Mißhandlungen älterer Menschen durch jüngere. Die Jungen sollen den Alten in Wort und Tat die gebührende Ehrfurcht erweisen, damit sie sich für ihr Alter dasselbe Anrecht auf Ehrfurcht erwerben. Dem Jungen ziemt es, selbst wenn er von einem Alten geschlagen wurde, seinen Zorn zu unterdrücken; er soll in allen, die mehr als 20 Jahre älter sind als er, seinen eigenen Vater sehen. Dieselbe Achtung ist den Fremden zu erweisen, mögen sie neuangekommen oder im Lande ansässig sein. Tätliche Angriffe eines Fremden darf ein Bürger nicht erwidern, er soll jedoch den Vorfall der Stadtpolizei anzeigen. Diese wird den Fall, ihrer Verantwortlichkeit vor dem Schutzgütte der Frem129

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den eingedenk, gewissenhaft untersuchen. W e n n der Fremde schuldig ist, soll sie ihm nach der Zahl der ausgeteilten Schläge ebensoviele Geißelhiebe aufzählen lassen; wenn er grundlos verklagt wurde, hat sie dem Kläger einen strengen Verweis zu erteilen. — Im übrigen darf sich jeder gegen tätliche Angriffe mit der bloßen Faust, nicht aber mit einer W a f f e verteidigen. Wer sich nach Vollendung des 40. Lebensjahres noch auf einen Raufhandel einläßt, sei es, d a ß er angriff oder angegriffen wurde, soll als ein roher und gemeiner Mensch gelten und eine schimpfliche Strafe erleiden. Einem Alten, der von einem u m 20 Jahre Jüngeren angegriffen wird, m u ß jedermann zur Hilfe eilen, es sei denn, daß er jünger ist als beide Beteiligte. Den Täter trifft Gefängnisstrafe nicht unter einem Jahre. Fremde und Metöken genießen ebendenselben Rechtsschutz, als Täter werden sie mit erhöhter Gefängnisstrafe belegt. Wer, dem Gebot des Gesetzes zuwider, gegen Mißhandlungen älterer Männer nicht einschreitet, verfällt je nach seinen Vermögens Verhältnissen in eine höhere oder geringere Geldstrafe. Richter sind in allen Fällen die militärischen Befehlshaber. Die Gesetze wenden sich teils an die guten Menschen, um sie zu lehren, wie sie in Frieden und Freundschaft miteinander zu leben haben, teils bedrohen sie die Missetäter. Daher m u ß der Gesetzgeber manches Gesetz verfassen, von dem er hofft, daß es niemals zur Anwendung gelange. So möchte m a n wünschen, daß das folgende Gesetz, das Mißhandlungen der Eltern durch ihre eigenen Kinder ahndet, niemals praktische Bedeutung gewönne. Es gibt aber ruchlose Menschen, die, als ob sie wüßten, was sie niemals wissen können, sich auch durch die Mahnung an göttliche Strafen nicht zurückschrecken lassen. W e n n sich ein solcher Mensch an seinen Eltern Oder Großeltern vergreift, soll jeder, der es gewahrt, mag er Bürger, Fremder, Metöke, Sklave, Mann, Weib oder Kind sein, über den Ruchlosen herfallen. Ein Metöke, der diese Pflicht erfüllt, erhält einen Ehrenplatz bei den öffentlichen Wettspielen, ein Sklave die Freiheit. Als ob er wegen dieser Vergünstigung den Vorwurf einer allzu großen Humanität befürchte, fügt der Athener sogleich hinzu: W e n n der Sklave aber untätig bleibt, so erhält er 100 Geißelhiebe. W e r als Bürger den Frevel geschehen läßt, belastet sein Haupt mit dem Fluche des Zeus. Der Täter wird auf Lebenszeit verbannt. W e r sich zu ihm gesellt, mit ihm ißt oder trinkt, oder ihn auch n u r absichtlich berührt, wird durch den auf der Tat lastenden Fluch mitbetroffen. Er darf vor seiner Entsühnung weder ein Heiligtum, noch überhaupt die Stadt betreten. Den Behörden soll jede Unachtsamkeit in der W a h r u n g dieses Gesetzes als ein besonders schwerwiegendes Vergehen angerechnet werden. —

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Strafgesetze Ein Sklave, der einen Freien schlägt, ist von den Umstehenden sofort zu fesseln und dem Beleidigten zu überantworten. Dieser mag ihn geißeln, so oft und so lange es ihm beliebt, jedoch soll er ihm im Interesse seines Herrn keinen dauernden Leibesschaden zufügen. — Der Athener schließt mit der Feststellung, daß diese Gesetze auch für Frauen gelten sollen, mögen sie Täterinnen oder Verletzte sein.

ZEHNTES

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Staat und R e l i g i o n A Im Anschluß an die Gesetze über Gewalttätigkeiten gegen Personen stellt 1 der Athener ein allgemeines Gesetz über willkürliche Eingriffe in fremde Rechte auf: Niemand soll sich widerrechtlich fremdes Gut aneignen oder fremde Sachen eigenmächtig in Gebrauch nehmen. Denn solche Uebergriffe pflegen mannigfaches Unheil, namentlich auch die zuletzt besprochenen Straftaten zur Folge zu haben. — Die nächste Aufgabe soll die Bekämpfung frecher Ausschreitungen der zügellosen Jugend sein. Als schlimmste Uebeltaten dieser Art bezeichnet der Athener die Frevel gegen die Heiligtümer des Staates und der religiösen Genossenschaften, an zweiter Stelle stehen die Frevel gegen Privatheiligtümer und Gräber. Er zählt noch einige ähnliche Vergehen auf und fährt sodann fort: Beschimpfungen der Götter durch Worte und Taten entspringen aus dem Unglauben. Dieser ist dreifacher Art. Einige glauben überhaupt nicht an Götter, andere behaupten, daß sich die Götter nicht um menschliche Dinge bekümmern, andere wähnen, daß sich die Götter durch Opfer und Gebete leicht beschwichtigen lassen. Derartige Menschen werden ihren Unglauben nicht einmal verhehlen, sondern uns voller Hohn herausfordern. Sie werden sagen: Bevor ihr uns mit euren Gesetzen bedroht, verlangen wir von euch, daß ihr uns, euren eigenen Grundsätzen getreu, zunächst gütlich eines Besseren zu belehren versucht. Was uns berühmte Dichter, Redner, Seher und Priester von den Göttern verkünden, ist nicht gerade dazu angetan, uns zu schrecken! Euch werden wir vielleicht eher vertrauen, wenn ihr eure Anschauungen vom Wesen der Götter besser zu begründen wißt. — Ist es denn so schwer, J

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Strafgesetze Ein Sklave, der einen Freien schlägt, ist von den Umstehenden sofort zu fesseln und dem Beleidigten zu überantworten. Dieser mag ihn geißeln, so oft und so lange es ihm beliebt, jedoch soll er ihm im Interesse seines Herrn keinen dauernden Leibesschaden zufügen. — Der Athener schließt mit der Feststellung, daß diese Gesetze auch für Frauen gelten sollen, mögen sie Täterinnen oder Verletzte sein.

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Staat und R e l i g i o n A Im Anschluß an die Gesetze über Gewalttätigkeiten gegen Personen stellt 1 der Athener ein allgemeines Gesetz über willkürliche Eingriffe in fremde Rechte auf: Niemand soll sich widerrechtlich fremdes Gut aneignen oder fremde Sachen eigenmächtig in Gebrauch nehmen. Denn solche Uebergriffe pflegen mannigfaches Unheil, namentlich auch die zuletzt besprochenen Straftaten zur Folge zu haben. — Die nächste Aufgabe soll die Bekämpfung frecher Ausschreitungen der zügellosen Jugend sein. Als schlimmste Uebeltaten dieser Art bezeichnet der Athener die Frevel gegen die Heiligtümer des Staates und der religiösen Genossenschaften, an zweiter Stelle stehen die Frevel gegen Privatheiligtümer und Gräber. Er zählt noch einige ähnliche Vergehen auf und fährt sodann fort: Beschimpfungen der Götter durch Worte und Taten entspringen aus dem Unglauben. Dieser ist dreifacher Art. Einige glauben überhaupt nicht an Götter, andere behaupten, daß sich die Götter nicht um menschliche Dinge bekümmern, andere wähnen, daß sich die Götter durch Opfer und Gebete leicht beschwichtigen lassen. Derartige Menschen werden ihren Unglauben nicht einmal verhehlen, sondern uns voller Hohn herausfordern. Sie werden sagen: Bevor ihr uns mit euren Gesetzen bedroht, verlangen wir von euch, daß ihr uns, euren eigenen Grundsätzen getreu, zunächst gütlich eines Besseren zu belehren versucht. Was uns berühmte Dichter, Redner, Seher und Priester von den Göttern verkünden, ist nicht gerade dazu angetan, uns zu schrecken! Euch werden wir vielleicht eher vertrauen, wenn ihr eure Anschauungen vom Wesen der Götter besser zu begründen wißt. — Ist es denn so schwer, J

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der Wahrheit gemäß zu bekennen, daß es Götter gibt? fragt Kleinias verwundert. Wir sehen doch, wie wohlgeordnet das Weltall, die Sonne, die Gestirne und unsere Erde mit ihren Jahreszeiten, Jahren und Monaten sind, und wir wissen, daß alle Griechen und Barbaren an Götter glauben 68 )! Der Athener versetzt: Ich fürchte sehr, mein Teuerster, daß wir mit diesen Gründen keinen Erfolg haben werden. Ihr wißt vermutlich nicht, daß die Gottesleugner nicht immer durch Lüste und Begierden, sondern oft n u r durch gröbliche Unwissenheit mißleitet werden, die ihnen freilich als hohe Weisheit gilt. Darüber gibt es bei uns eine ganze Literatur, bei euch allerdings nicht, weil die guten Gesetze eurer Staaten einen solchen Unfug gar nicht aufkommen lassen. Schon unsere ältesten Dichter haben mit ihren Theogonien viel gesünldigt, da sie lehrten, daß auch die Götter erst im Verlaufe ides Werdens der Welt entstanden seien. Jedoch wollen wir uns mit diesen ehrwürdigen Dichtungen, zumal sie gewiß manches Vortreffliche enthalten, nicht weiter auseinandersetzen, sondern uns den Schriften der neuen Weisen zuwenden. Diese wollen uns einreden, daß Sonne, Mond, Gestirne und Erde weder Götter noch göttlichen Wesens, sondern totes Gestein seien, sich also schon deshalb nicht um menschliche Dinge bekümmern könnten. Das versuchen sie durch wohlaufgestutzte Beweisgründe einleuchtend zu machen. — Das ist ja eine arge Rede, bemerkt Kleinias, und wie es scheint, werden noch schlimmere hinzukommen! — Was sollen wir dagegen unternehmen? frägt der Athener. Sollen wir uns verteidigen, als ob wir vor einem Gerichtshofe gottloser Männer verklagt wären, falsche Lehren in die Gesetzgebung eingeschwärzt zu haben? Oder sollen wir uns auf keine Rechtfertigung einlassen, damit nicht die Einleitung zu unserem Gesetz länger werde, als dieses selbst? Denn mit wenigen Worten sind die Gottlosen nicht zu widerlegen. Mit großem Eifer erklärt Kleinias: Wir haben doch schon oft gesagt, daß uns an der Kürze nichts gelegen ist, zumal uns nichts zur Eile drängt. Es wäre ja schmählich, wenn wir der Kürze halber das Wertvollste beiseite setzen wollten. Mir scheint der Satz, daß es gute Götter gibt, die das Recht höher als wir Menschen ehren, geradezu die schönste aller Gesetzeseinleitungen zu sein. Darum müssen wir alle Kräfte aufbieten, um diesem Satz zum Siege zu verhelfen. Feierlich beginnt der Athener: Deine Worte klingen wie eine Mahnung zum Gebet. Nun wollen wir auch nicht länger zögern. Es ist schwer, leidenschaftslos zu reden, wenn man gewahrt, wie unsere Gegner alles mit Füßen treten, was ihrer Kindheit als heilig galt. Die Ehrfurcht, die sie beim Anblick der frommen Opfer ihrer Väter empfanden, die gläubige Andacht,

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mit der sie Griechen und Barbaren die aufgehende und versinkende Sonne durch Kniefall und Gebet verehren sahen, erscheint ihnen jetzt als verächtlich, obwohl ihnen jeder vernünftige Grund fehlt, die Existenz der Götter zu leugnen. Dennoch wollen wir unsern gerechten Zorn bezähmen, damit, wenn jene im Taumel ihrer Sinne rasen, wenigstens wir ruhig und besonnen bleiben. Wir wollen versuchen, ihnen freundlich zu begegnen, und, als ob wir einen verirrten Jüngling vor uns hätten, also reden: „Mein Kind, du bist noch jung. Im Laufe der Zeit wirst du manche Meinungen ändern, gestatte dir deshalb nicht vorschnell ein Urteil über die höchsten Dinge. Es hat zwar zu allen Zeiten Menschen gegeben, die an der Krankheit des Unglaubens litten, ich habe aber noch niemanden angetroffen, der die Meinung, daß es keine Götter gebe, bis in sein hohes Alter hinein festgehalten hätte. Die beiden anderen Formen des Unglaubens, der Irrwahn, daß die Götter das Treiben der Menschen nicht beachteten, oder daß sie schlimmsten Falles leicht zu begütigen seien, sind zwar minder leicht auszurotten. Folge du aber meinem Rate, auch diesen Zweifeln nicht nachzugeben, bevor du nicht gründlich erwogen hast, was kundige Männer darüber zu sagen haben. Inzwischen hüte dich vor Lästerungen. Der Gesetzgeber wird jetzt versuchen, dich zu belehren." Damit sind wir bei dem Satz angelangt, der von vielen als höchste Weisheit gepriesen wird. Er lautet: Zu allen Zeiten werden alle Dinge entweder durch die Natur, oder durch die Kunst, oder durch den Zufall hervorgebracht; u n d z w a r s c h a f f e n N a t u r u n d Z u f a l l d i e v o l l e n detsten Dinge, die Kunst die g e r i n g e r e n : die Kunst l a u s c h t der N a t u r i h r e K u n s t g r i f f e ab u n d b i l d e t d a r n a c h i h r e e i g e n e n W e r k e . Nach dieser Lehre sind Feuer, Wasser, Luft und Erde Erzeugnisse der Natur und des Zufalls, aus ihnen schufen dieselben Kräfte die Erde, die Sonne, den Mond und die Sterne. Der Zufall wirbelte die Elemente durcheinander, und in ihrer gegenseitigen Durchdringung vereinigte sich das Verwandte mit dem Verwandten: das Warme mit dem Kalten, das Trockene mit dem Feuchten, das Harte mit dem Weichen. So sind aus der z u f ä l l i g e n Mischung dieser und anderer Gegensätze m i t N o t w e n d i g k e i t zunächst der Himmel nebst allem, was unter dem Himmel ist, insonderheit die lebenden Wesen und die Pflanzen, entstanden. Alles dieses verdankt also nicht einem Intellekte, nicht der Kunst eines Gottes, sondern der Natur und dem Zufall sein Dasein.99) Erst sehr viel später entwickelt sich die Kunst. Als ein vergängliches Erzeugnis vergänglicher Menschen erzeugt sie nur Spielwerke, die kaum einige Spuren Wahrheit enthalten. Etwas Ernstes leisten allein die Künste, die mit der Natur im Bunde

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stehen, wie die Heilkunde, die Gymnastik, der Landbau. Die Staatskunst hat dagegen fast nichts mit der Natur gemein, und so ist auch alle Gesetzgebung nicht Natur, sondern Kunst. Folglich sind ihre Satzungen nicht wahr. — Auch die Götter sind durch die Kunst geschaffen worden; je nach dem Gutdünken der Gesetzgeber sind sie daher zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten durchaus verschieden ausgefallen. Nicht minder verschieden ist das natürlich Schöne vom gesetzlich Schönen. Das Recht vollends beruht gar. nicht auf der Natur, es entsteht aus dem Streite der Menschen, aus ihren Uebereinkünften oder aus der Gewalt. Deshalb unterliegt es dem beständigen Wechsel; was sich durchgesetzt hat, gilt solange als geltendes Recht, bis es durch ein neues verdrängt wird. Leider macht gerade diese letzte Lehre, daß alles Recht auf der Macht beruhe, auf jugendliche Gemüter den stärksten Eindruck. Durch sie werden sie zur Gottlosigkeit und zu Revolutionen verführt; ihr Ziel nennen sie das naturgemäße Leben, welches aber in Wahrheit nichts anderes ist, als die Begründung des eigenen Daseins auf die Unterjochung anderer, anstatt der gemeinsamen freiwilligen Einordnung in den Dienst des Gesetzes. Welche schlimme Verderbnis der Jugend, welches Unheil für den Staat und die Menschen hast du uns da aufgezeigt! ruft Kleinias aus. — Du hast recht, fährt der Athener fort. Wie soll nun der Gesetzgeber dieses Uebel bekämpfen? Soll er nur durch Gesetze und Strafandrohungen wirken, oder soll er zuvor versuchen, die Menschen gütlich eines Besseren zu belehren? Kleinias erklärt: Wenn irgend eine Möglichkeit besteht, müssen wir alle Künste der Ueberredung aufbieten, um die Menschen zu überzeugen, daß es Götter gibt und daß die Kunst nicht geringer ist, als die Natur. Der Athener weist seinen Freund nochmals darauf hin, daß diese Aufgabe sehr schwierig und zeitraubend sei. Etwas unwillig versetzt dieser: Nachdem wir bei der Besprechung des Rausches und der Musik keine Längen gescheut haben, wäre es doch höchst unziemlich, den Göttern eine geringere Ausdauer zu widmen, zumal die Einsicht in ihr Wesen die stärkste Stütze unserer Gesetze sein wird. Ohne diese Einsicht werden unsere Gesetze, die doch für alle Zeiten gelten sollen, unverstanden bleiben. Wir dürfen uns daher weder durch die Rücksicht auf Längen, noch durch die Befürchtung abschrecken lassen, daß das Verständnis unserer Lehren auf anfängliche Schwierigkeiten stoßen werde. Im Laufe der Zeit werden auch die schwer Belehrbaren das Richtige begreifen. Dieser Ansicht schließt sich Megillos an. Der Athener erwidert: Auch mir scheint es notwendig zu sein, gegen die Macht des Unglaubens, des Quelles aller Gesetzlosigkeit, die Sache der Götter zu führen.

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Den jetzt beginnenden Beweis des Daseins der Götter gründet Piaton auf die Lehre vom Primat der Seele, ihrer Präexistenz vor dem Leibe. Da er sicli eine Welt ohne Weltseele ebensowenig vorstellen kann, wie einen lebenden Leib ohne Seele, gilt ihm eine vorher existierende .Seele als die Vorbedingung der Entstehung der Welt; und zwar muß diese Seele als Urheberin eines vollkommenen Weltenplanes ein göttliches Wesen sein. Den Satz von der Präexistenz der Seele trägt Piaton ausdrücklich in der Fassung vor, daß die Seele vor dem Leibe e n t s t a n d e n sei. Mithin ist die Seele nur eine Emanation, eine Erscheinung des Ewigen. Denn alles was entsteht, muß, nach Piatons eigener Lehre, vergehen. E r gibt damit die noch im Phaedon verteidigte Unsterblichkeit der Einzelseele stillschweigends preis. W i r werden später (X, 12) sehen, wie die neue, im Timaios vorbereitete Lösung dieses Problems ausfällt. Der Athener beginnt: W i e vorhin bemerkt, behaupten die Naturphilosophen, daß Feuer, Wasser, Luft und Erde, die sie mit einem Worte Natur nennen, zuerst dagewesen seien, während die Seele später aus ihnen entstanden sei. Diesen Satz müssen wir auf das genaueste prüfen, es kommt alles darauf an, ob wir ihn, die eigentliche Quelle aller Gottlosigkeit, als falsch nachzuweisen vermögen. W i r haben zu beweisen, daß unsere Gegner die wirkliche Ursache alles Werdens und Vergehens fälschlich als eine Folgeerscheinung hinstellen, also das Jüngere mit dem Aelteren verwechseln. Das wahre Wesen der Seele verkennen fast alle Menschen. Sie ist als eines der ersten Dinge (sv TIQO'MOIS) vor den Körpern entstanden und leitet mehr als alles andere deren Umgestaltungen und Veränderungen. U r t e i l (d 6 £ a), Vorsehung (¿Jitjueieia), V e r n u n f t , K u n s t , G e s e t z s i n d f r ü h e r da,' als das Harte und W e i c h e , das S c h w e r e und Leichte. Die großen ersten Werke und Taten sind Leistungen der Kunst; was jene Natur nennen, ist ein Späteres und wird durchaus von der Kunst und der Vernunft beherrscht 1 0 0 ). Uebrigens werden wir ihnen die Befugnis bestreiten, die Materie Natur zu nennen. Sie verstehen darunter die Ursache des ersten Werdens der Dinge. W e n n sich nun herausstellen sollte, daß nicht Feuer noch Luft, sondern die Seele zu den ersten Dingen gehört, so dürfen wir mit besserem Recht dieser den Namen Natur beilegen. Der Beweis ist jedoch nicht leicht, wir müssen uns hüten, daß die trügerische Lehre der jungen Gegner uns Alten nicht in die Irre führe. Sonst würden wir, die wir uns die höchsten Aufgaben gestellt haben, schon an den ersten Schwierigkeiten zu Spott und Schaden kommen. — W e n n wir drei einen reißenden F l u ß zu überschreiten hätten, würde ich, als der Jüngste von uns und als der erfah-

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renste Wanderer, ihn zuerst allein zu durchwaten versuchen, um festzustellen, ob er auch für euch durchschreitbar ist. So will ich die jetzt aufzuwerfenden schwierigen Fragen allein beantworten, damit sie euch nicht schwindlig machen, wenn sie wie ein wildes Gewässer an euch vorüberbrausen. Höret also, wie von einem sicheren Ufer aus, meinem Selbstgespräche zu. Mögen uns nun die Götter helfen, ihr Dasein zu beweisen, der Glaube an sie soll das feste Ankertau sein, an dem ich mich halte. In dem folgenden Selbstgespräche entwickelt der Athener eine Theorie der Bewegung 101 ), um zu dem Schlüsse zu gelangen, daß einzig die Seele sich aus eigener Kraft zu bewegen vermöge und deshalb die erste Ursache jeglicher anderen Bewegung sein müsse. Der Athener zählt zunächst acht Arten der Bewegung auf. Es sind folgende: Die Drehung eines festliegenden Körpers um seinen ruhenden Mittelpunkt, die Bewegung eines nicht kreisenden Körpers von Ort zu Ort, die Fortbewegung eines kreisenden Körpers, die Trennung, die Vereinigung, der Zuwachs, die Abnahme, der Uebergang in eine andere Beschaffenheit. Aus den letzten fünf Arten leitet der Athener das Werden und Vergehen ab. Beide Phänomene entstehen aus dem Aufeinanderstoßen bewegter Körper, oder aus dem Stoß eines bewegten Körpers auf einen ruhenden. Das Resultat der hierbei wirkenden Kräfte ist entweder ein Zuwachs auf der einen und eine Abnahme auf der anderen Seite, oder eine völlige Vereinigung beider Körper. Wenn die ursprüngliche Beschaffenheit eines Körpers hierbei gänzlich aufgehoben wird, nennen wir d i e s e n U e b e r g a n g i n e i n e a n d e r e B e s c h a f f e n h e i t die Vernichtung desselben. Die primäre Entstehung eines Körpers geschieht durch Zuwachs, indem sich ein Punkt zur Linie, die Linie zur Fläche und diese zur Dimension der Tiefe erweitert, womit ein sinnlich wahrnehmbarer Gegenstand in die Erscheinung tritt. Interessant sind diese, zum Teil schwierigen und dunklen Auseinandersetzungen insofern, als sie die Theorie der modernsten Physik vorwegnehmen, nach welcher alle materiellen Vorgänge auf B e w e g u n g s a r t e n („Energien") zurückzuführen sind. Ferner finden wir in ihnen schon den Kantischen Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz vor: Kein Ding zerfällt zu Nichts; was wir Vernichtung nennen, ist in Wirfdichkeit nur der Uebergang in eine andere Erscheinungsform. — Vorher hatte der Athener das Phänomen, daß die verschiedenen Sphären einer sich drehenden Kugel ihren Kreislauf in derselben Zeit vollenden, obwohl sie mit ungleichen Geschwindigkeiten rotieren, als den „Quell alles Wunderbaren" bezeichnet. Die kreisende Kugel wird später (X, 8) zum Symbol der Vernunft.

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Nachdem er alles Werden und Vergehen auf das Phänomen der Bewegung zurückgeführt hat, sucht der Athener nach dem Prinzip der Bewegung, dem ersten Bewegenden. Zu diesem Zweck stellt er noch zwei andere Arten der Bewegung auf, die neunte und zehnte. Er unterscheidet die Uebertragung einer Bewegung auf andere Körper von der Bewegung, die aus eigener Kraft sowohl sich selbst, wie auch anderes zu bewegen und umzuwandeln vermag. Hierzu bemerkt er: Der angegebenen Reihenfolge der Bewegungsarten entspricht keineswegs ihre Rangordnung. Offenbar ist die zuletzt genannte die mächtigste und wirksamste, sie ist die erste und überhaupt die Urheberin

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jeder anderen Bewegung; ihr folgt im Range die vorletzte. Dies erläutert er folgendermaßen: Unter Dingen, die von einem andern verändert werden und hierauf weitere. Veränderungen verursachen, werden wir schwerlich ein erstes Bewegendes suchen. Wenn es aber etwas gibt, das sich aus eigener Kraft in Bewegung setzt und damit eine endlose Reihe fortgesetzter Bewegungen und Veränderungen anfängt, so haben wir in diesem die erste Ursache jeder Bewegung und Veränderung aufgefunden. Mag man behaupten, daß sich nach dem ersten Werden alles in völliger Ruhe befunden habe, oder mag man schon von der ersten Entstehung ab eine ununterbrochene Bewegung annehmen: in beiden Fällen muß ein Anfang der Bewegung, eine erste Veränderung stattgefunden haben, die, aus eigener Kraft hervorgehend und beginnend, alle späteren Bewegungen und Veränderungen zur Folge hatte. Wie nennen wir nun den Zustand einer Masse aus Erde, Wasser und Feuer, wenn wir gewahren, daß sie sich spontan selbst in Bewegung zu setzen vermag? Kleinias errät richtig: wir bezeichnen ihn als Leben. — Und dasselbe sagen wir, fügt der Athener hinzu, wenn wir in einem Körper eine Seele entdecken. — Bei jedem Dinge unterscheiden wir dreierlei: sein Wesen (oüola), den Erklärungsgrund dieses Wesens (6 Xöyos xrjs ovala?) und seinen Namen. Wenn wir einen Gegenstand nach seinem Erklärungsgrunde bezeichnen, wird man uns nach dessen Namen fragen; nennen wir den Namen, wird man den Erklärungsgrund wissen wollen. Wenn wir z. B. von einer Zahl aussagen, daß sie sich in zwei gleiche Hälften teilen lasse, so geben wir damit den Erklärungsgrund der Zahl an, die wir die gerade Zahl nennen. Namen und Erklärungsgrund weisen also auf dasselbe hin102). Welches ist nun der Erklärungsgrund dessen, das den Namen „Seele" trägt? Offenbar kein anderer als der: sie ist ein Wesen, das sich selbst eine eigene Bewegung zu verleihen vermag. Voller Stolz frägt der Athener: Was fehlt uns nun noch an unserm Beweise, daß die Seele nichts anderes ist, als jenes erste Werden, jene erste Bewegung, die dadurch zur Ursache aller anderen Bewegungen

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und V e r ä n d e r u n g e n w u r d e ? D a ß d a g e g e n die B e w e g u n g e n unbeseelter K ö r per stets eines ä u ß e r e n Antriebes b e d ü r f e n ? Also ist der L e i b das S e k u n d ä r e , die Seele das P r i m ä r e . Die Seele m u ß v o r h e r entstanden sein, sie ist es, die den L e i b b e w e g t u n d beherrscht.

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W e n n die Seele älter ist als der L e i b , so m u ß a u c h alles Seelische — die F u n k t i o n e n der Seele — älter sein als das Körperliche. Sinnesarten und C h a r a k t e r e , W i l l e und E r w ä g u n g , rechte Urteile (Sögen dkrj&els), Vorsehung und Gedächtnis müssen deshalb v o r den k ö r p e r l i c h e n D i m e n s i o n e n und K r ä f t e n entstanden sein („auf transzendentalen F u n k t i o n e n b e r u h e n " ) , w e n n anders die Seele vor d e m Körper entstanden ist. F o l g l i c h ist die Seele sowohl die U r s a c h e des Guten und Schönen, w i e auch die des Bösen und H ä ß l i c h e n . Sie m u ß ü b e r h a u p t die U r s a c h e a l l e r G e g e n s ä t z e sein, w e n n w i r sie mit R e c h t als eine Ursache aller D i n g e ansprechen. W e n n also die Seele in allem waltet, ,was sich bewegt, s o m u ß sie a u c h d e n H i m m e l regieren. Ist dies nun eine Seele, oder sind es mehrere? Mehrere sicherlich! erklärt der Athener schleunigst, ohne eine A n t w o r t a b z u w a r t e n . Z u m mindesten m ü s s e n w i r z w e i Seelen a n n e h m e n , eine, die alles Heil, und eine andere, die alles Unheil schafft. 1 0 3 ) Die Seele leitet alles, w a s sich im H i m m e l und auf E r d e n befindet, d u r c h ihre spontanen B e w e g u n g e n . Ihnen legen w i r verschiedene N a m e n bei, w i e wollen, e r w ä g e n , Vorsorgen, beratschlagen, richtig u n d f a l s c h urteilen; F r e u d e , S c h m e r z , Zuversicht, H a ß u n d L i e b e . Alle R e g u n g e n dieser Art sind die ursprünglichen B e w e g u n g e n , aus denen die B e w e g u n g e n zweiter O r d n u n g , die der Körper, hervorgehen. Jene erzeugen vermittelst der Z u n a h m e und der A b n a h m e , der T r e n n u n g u n d V e r e i n i g u n g die E r s c h e i n u n g e n der W ä r m e , S c h w e r e , Härte, des W e i ß e n , des H e r b e n und ihrer Gegensätze 1 0 4 ). A l s ihres Bundesgenossen bedient sich die Seele der göttlichen V e r n u n f t u n d ordnet mit ihrer Hilfe alles auf das beste; w e n n sie sich aber zur U n v e r n u n f t gesellt, b e w i r k t sie das Gegenteil. W e l c h e Seele übt n u n die H e r r s c h a f t ü b e r die Erde, den H i m m e l u n d dessen U m l a u f aus, die mit V e r n u n f t und höchster T u g e n d begabte, oder die andere, die nichts dergleichen besitzt? D a r a u f ist zu antworten: W e n n die B a h n e n und U m l ä u f e des H i m m e l s und dessen, w a s unter d e m H i m m e l ist, den G e d a n k e n w e g e n der V e r n u n f t gleichen, so müssen w i r sagen, d a ß die beste Seele über der O r d n u n g des K o s m o s waltet und i h m die W e g e der V e r n u n f t weist; w e n n w i r dagegen hier U n s i n n und U n o r d n u n g g e w a h r e n , so w ü r d e n w i r annehm e n müssen, d a ß die böse Seele schalte. W e l c h e s sind n u n die W e g e der V e r n u n f t , w o r i n besteht das W e s e n ihrer B e w e g u n g e n ? A n diese F r a g e müssen w i r mit Vorsicht herantreten, damit es

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uns nicht so ergehe wie denen, die in den Glanz der Sonne zu schauen wagen und dadurch ihr Auge in nächtiges Dunkel versenken. Denn die Strahlen der Vernunft würden uns vielleicht nicht weniger blenden. Deswegen wollen wir unsern Blick auf ein Gleichnis richten, um besser zu sehen. Welcher Bewegung könnten wir wohl die Vernunft vergleichen? Ohne Zweifel der Bewegung einer Kugel, die fest an ihrem Orte beharrend, um ihren Mittelpunkt kreist. Wie eine wohlgedrechselte Kugel schwingt sich die Vernunft unveränderlich und stetig, nach einer unwandelbaren Ordnung um ihr immer feststehendes Zentrum 105 ); was aber planlos und ungeregelt von Ort zu Ort schweift, ist der Unvernunft verwandt. Hiernach ist es nicht mehr schwer zu entscheiden, ob der Umlauf des Himmels durch die Vorsehung der besten Seele gelenkt wird, oder durch jene andere. — Nein, bestätigt Kleinias, es wäre ruchlos, noch daran zu zweifeln, daß eine oder mehrere Seelen, ausgestattet mit höchster Tugend, über dem Kreislauf der Welt wachen.

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Der Athener fährt fort: Wenn die Seele den Mond, die Sonne und alle Gestirne lenkt, so muß das, was wir von der Sonne sagen werden, f ü r alle Gestirne gelten. Den Sonnenkörper sieht zwar der Mensch, nicht aber ihre Seele, wie ja auch die Seelen aller anderen lebenden oder sterbenden Wesen den Sinnen unseres Leibes nicht wahrnehmbar sind. Allein die Vernunft vermag die Seele zu schauen. Die Sonnenseele muß entweder in der Sonnenkugel hausen, wie unsere Seele in unserem Leibe, oder sie, gewissermaßen als ihren Wagen, in irgend einer feurigen oder luftigen Gestalt von außen antreiben; oder sie muß ganz körperlos sein und über geheimnisvolle, unser Vorstellungsvermögen überschreitende Kräfte verfügen. Dies möge sich verhalten, wie es wolle: auf jeden Fall ist sie, da sie von höherer Art als die Sonne ist, ein Gott. Da nun die Seele, oder vielmehr die Seelen, die Urheber der Gestirne, der Jahre, Monate und Jahreszeiten sind, so sind sie allesamt Gottheiten, einerlei ob sie wie lebende Wesen in einen Körper eingeschlossen sind oder nicht. Und so ist das All von Göttern voll 106 )! Jetzt haben wir den Vertrag, den wir mit den Gottlosen schlössen (X, 1), erfüllt. Sie müssen nun entweder unsern Beweis, daß die Seele das erste Werden sei, mitsamt seinen sämtlichen Folgerungen entkräften, oder sich uns fügen und künftig an die Götter glauben. Nachdem wir uns mit den Gottesleugnern auseinandergesetzt haben, wollen wir uns denen zuwenden, die behaupten, daß die Götter sich nicht um menschliche Dinge bekümmern. Einem solchen möge die folgende Mahnung gelten: „Mein trefflicher Jüngling, vielleicht hat dich gerade eine Verwandtschaft mit dem Göttlichen auf die Bahn des Zweifels geführt. Du J

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gewahrtest das vielgepriesene, freilich gar sehr zu Unrecht gepriesene Glück vieler Frevler. Du sähest, daß mancher von ihnen hochbetagt in allen Ehren starb, Kinder und Kindeskinder zurücklassend, daß elende Menschen sich aus tiefster Niedrigkeit zu tyrannischer Macht und hohem Ansehen erhoben. Das empörte deinen edlen Sinn; und weil du die Götter nicht für diese Geschehnisse verantwortlich machen wolltest, so wähntest du, daß sie sich jeder Einmischung in das menschliche Leben enthielten. Damit dich dieser Gedanke nicht zur völligen Gottlosigkeit führe, wollen wir versuchen, deinen W a h n zu bannen." — Ihr, Kleinias und Megillos, möget mir anstelle jenes Jünglings Rede stehen; wir wollen annehmen, daß er das Voraufgegangene mitangehört habe. Der Beweis, daß den Göttern das Kleine nicht minder am Herzen liegt, als das Große, ist gar nicht so schwer. Hörte der Jüngling nicht, daß die Götter gut sind, und daß sie sich die Fürsorge für das All zu ihrer eigensten Aufgabe gemacht haben? Dann wollen wir gemeinsam feststellen, von welcher Art die Tugend ist, nach der wir die Götter gut nannten. Verständige Besonnenheit und Tapferkeit sind Tugenden, ihre Gegensätze Laster, jene nennen wir schön, diese häßlich. Alles Niedrige dürfen wir allenfalls den Menschen zuerkennen, niemals aber den Göttern. Wie steht es nun mit Lässigkeit, Trägheit und Schwelgerei? Dürfen wir annehmen, daß die Götter müßige Drohnen, sorglose Schwelger sind, daß sie eine Gesinnung hegen könnten, die ihnen selbst verhaßt sein muß? — Wahrlich nicht, wie wäre das möglich I versetzt Kleinias. — Werden wir den, dem große Dinge anvertraut sind, loben, wenn er sich nur das Große angelegen sein läßt, sich um das Kleine aber nicht bekümmert? Sei dieser ein Gott oder ein Mensch: in beiden Fällen wird der Grund seiner Untätigkeit sein, daß er das Kleine entweder für unwesentlich hält, oder es als leichtsinniger Tor nicht beachtet. Die dritte Möglichkeit wäre, daß es über seine Kräfte ginge, sich persönlich um alles zu bekümmern, in diesem Falle könnte von Nachlässigkeit nicht die Rede sein. AA Jetzt mögen uns unsere beiden Gegner antworten, der, nach dessen AJ. Meinung sich die Götter mit kleinen Dingen nicht befassen, und der dritte, der die Götter für leicht versöhnlich hält. Werden sie beide einräumen, daß die Götter alles wissen, sehen und hören, was geschieht? Daß sie ferner alles vermögen, was überhaupt im Machtbereiche sterblicher und unsterblicher Wesen liegt? — Gewiß, meint Kleinias. — Dann werden wir auch darin einig sein, daß die Götter im höchsten Grade gütig und vortrefflich sind. Wir können uns sie also nicht als leichtsinnige Schwelger vorstellen, denn die Trägheit entsprießt aus der Feigheit, der Leichtsinn aus der Träg-

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heit und der Schwelgerei. Trägheit und Leichtsinn können mithin die Götter ebensowenig zur Untätigkeit verführen, wie ein Mangel an Macht. Wer behauptet, daß sich die Götter nicht mit Kleinigkeiten abgeben, müßte also entweder erklären, daß sie aus Unwissenheit ihre Pflicht verkennen, oder daß sie diese, irgend welchen Lüsten oder Schmerzen unterliegend, vorsätzlich nicht erfüllen. Alle menschlichen Dinge sind aber auf das engste mit der beseelten Natur verknüpft, überdies ist der Mensch unter allen Geschöpfen das gottesfürchtigste. Nicht weniger als der Himmel sind alle lebenden Wesen Eigentum der Götter. Wie könnten wir da behaupten, daß sie, die gewissenhaftesten und besten Eigentümer, ihren Besitz vernachlässigen möchten? Wahrnehmungen und Kräfte stehen insofern zwar im Gegensatz, als das Kleine schwerer wahrzunehmen, jedoch leichter zu handhaben und zu beherrschen ist, als das Große; gleichwohl verlangen wir von einem guten Arzte, daß er sich das Kleine nicht minder als das Große angelegen sein läßt, weil unsere Gesundheit als ein Ganzes nicht gedeihen kann, wenn der Arzt das Kleine übersieht. Dasselbe gilt von Schiffskapitänen, von Feldherren, Hausvätern und Staatsmännern. Wenn sie nicht im Kleinen genau sind, wird ihnen auch das Große mißlingen. Wie die Maurer sagen, haften die großen Steine nicht fest, wenn die kleinen nicht richtig liegen. Wir dürfen also nicht annehmen, daß die Götter geringer als sterbliche Meister seien, die, je tüchtiger sie sind, desto mehr durch genaueste Kleinarbeit ein vollkommenes Ganzes zu schaffen suchen. Hiermit möge unsere Beweisführung gegenüber dem, der die Götter der Lässigkeit zu zeihen wagte, als abgeschlossen gelten. Indessen wollen wir ihm noch eine fernere Belehrung zuteil werden lassen. A f \ Lasset uns den Jüngling davon überzeugen, daß die über der Erhaltung und der Vollendung des Ganzen waltende Vorsehung jeden kleinsten Teil in den Dienst des Ganzen stellt und jedem das Geziemende zuteilt. Ueberall sind göttliche Wesen helfend am Werke, damit auch das Winzigste vollkommen werde und zur Vollkommenheit des Kosmos beitrage. Auch du Arger bist ein solches winziges Teilchen, auch du strebst immerfort, so gering du bist, nach dem Weltganzen. Freilich weißt du nicht, daß alles Einzelne darum entsteht, damit das im Leben des Alls sich entfaltende Sein glücklich werde. Das All ist nicht deinetwegen geschaffen worden, du aber seinetwegen, wie ein Kunstwerk nicht um seiner Teile willen, vielmehr jeder Teil um des Ganzen willen gestaltet wird. Du haderst mit dem Schicksal, weil du nicht einsiehst, daß das, was du zur Vollendung des Weltganzen beiträgst, auch dir zustatten kommt, insoweit dies der Gang des Werdens erlaubt. Die Seele des Einzelnen wird bald diesem, bald jenem Leibe zugeteilt, 141

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sie erleidet auf ihren Wegen durch eigene und fremde Einwirkungen mannigfache Veränderungen. Deshalb bleibt dem göttlichen Brettspieler nichts anderes übrig, als die sich läuternden Seelen an eine bessere, die verderbten an eine schlechtere Stelle zu versetzen, und damit einer jeden das gebührende Los zuzuteilen. So walten die Götter mit leichter Hand über dem Laufe der Welt. Wenn sie ohne Plan und Ziel in beständigen Umwandlungen eines aus dem andern bilden müßten, so würde daraus auch für sie eine unübersehbare, zusammenhanglose Masse entstehen. Da sich aber alles Einzelne planvoll zum Ganzen fügt, ist die fernere Fürsorge leicht. Unser göttlicher König sah, daß die Werke der Seele viel Gutes und Böses enthalten, d a ß S e e l e u n d L e i b z w a r n i c h t e w i g (a t ä> v i o g), w i e n a c h u n w a n d e l b a r e m G e s e t z d i e G ö t t e r , w o h l a b e r u n z e r s t ö r b a r (ävw?.s&QOi) sind. Denn wenn eines von beiden zunichte werden könnte, so wäre ja überhaupt kein lebendiges Werden möglich107). Darum weist er jeder Seele die Stelle an, wo sie am besten zum Siege des Guten und zur Niederlage des Bösen beizutragen vermag; je nach ihrer Beschaffenheit wird eine jede in den Plan des Weltganzen eingeordnet108). Indessen gestattet dieser Plan den Seelen, sich ihre Bestimmung selbst zu wählen. Was der Mensch will, was er im Grunde seiner Seele zu werden begehrt, das wird auch zu allermeist sein Schicksal. Also birgt die Seele die treibende Ursache ihrer Wandlungen in sich selbst. Dem unerbittlichen Gesetz des Schicksals unterworfen, strebt sie entweder zum Licht empor oder versinkt in nächtige Tiefen, während ihres Erdenlebens nicht minder, als nach ihrem Abscheiden aus dem sterblichen Leibe. Wenn sie sich den höchsten Graden der Reinheit annähert, ist ihr nach dem Tode des Leibes eine selige Stätte beschieden, im entgegengesetzten Falle drohen ihr die Schrecken der Unterwelt. Dieses Gericht harrt auch deiner, du Jüngling, der du wähnst, daß die Gottheit deiner nicht achte. Wenn du schlechter wirst, gesellst du dich zu den Bösen, wenn du besser wirst, zu den Guten, in diesem Leben und nach allen Toden, die du künftig zu sterben hast. Niemals wirst du so klein sein, um dich vor den Göttern in den Tiefen der Erde zu verbergen, niemals so hoch emporsteigen, daß du nach dem Himmel greifen dürftest. Wenn nicht auf Erden, wird dich im Hades oder an einem noch schrecklicheren Orte die Vergeltung erreichen. Sie ereilt auch die Frevler, die du zur Macht und zum trügerischen Glück gelangen sähest, in deren Erlebnissen du, wie in einem Spiegel, die Lässigkeit der Götter zu erblicken glaubtest. Auch sie haben der Weltordnung ihren Zoll zu bezahlen, auch sie tragen zur Vollendung des Weltganzen bei.

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Staat und Religion Solange du dies nicht erkannt hast, wirst du weder das Weltbild in seiner Wahrheit schauen, noch das Wesen der Glückseligkeit und des Unheils begreifen. Wenn du dich von uns Greisen überzeugen läßt, daß du gar nicht weißt, was du von den Göttern redest, wird dir die Gottheit selbst ihre hilfreiche Hand reichen. Wenn du aber noch zweifelst, so höre, was wir unserm dritten Gegner zu sagen haben. A f \ Was bedeutet im Grunde der Satz, daß sich die Götter durch Bitten A_) und Geschenke der Bösen leicht beschwichtigen lassen? Wie stellt man sich derartige Götter vor? Wohl als Herren, die man mit menschlichen Meistern vergleicht, etwa mit dem Lenker eines Rennwagens, mit Feldherren, Aerzten, Gutsbesitzern, Hirten. — Zwischen dem Guten und dem Bösen herrscht ewiger Krieg. In diesem Kampfe bedarf es der größten Wachsamkeit, denn das Böse überwiegt an Masse gar sehr. Unsere Streitgenossen sind die Götter und Dämonen, unsere Gebieter. Ihre Tugend, von der auch wir ein weniges in uns selbst verspüren, verleiht uns den Sieg. Wie mag da jemand wähnen, daß sie durch Nachsicht dem Bösen Vorschub leisten könnten? Auf Erden gewahren wir freilich, daß bösartige Seelen die Wächter der menschlichen Güter durch Schmeicheleien zu betören versuchen, ihnen mehr davon zuzuteilen, als ihnen gebührt. Da ihnen das oft gelingt, gelangen sie zu der tierischen Meinung, daß es ebensowohl möglich sein müsse, die Götter durch Beschwörungen für sich zu gewinnen; sie zu nötigen, ihnen mehr zu geben als anderen Menschen, oder gar verdientes Unheil von ihnen fernzuhalten. Dieses gierige Umsichgreifen nennen wir, wenn es im Körper auftritt, Krankheit, wenn es durch Klima und Jahreszeiten hervorgerufen wird, Seuche, im Staate heißen wir es Ungerechtigkeit. (Schopenhauer nannte es den Willen zum Leben.) Nach dieser Meinung sollen also die Götter den Ungerechten gnädig sein, etwa wie Hirtenhunde, die den Wölfen die Herde preisgeben, wenn sie ihnen einen kleinen Teil des Raubes versprechen. A A Ist es nicht überhaupt lächerlich, die Götter mit schwachen Menschen M zu vergleichen? Gleichen sie etwa Kapitänen, die sich durch Bratenduft und Weinspenden verlocken lassen, ihren Dienst zu versäumen, oder Rennfahrern, die für Geld einem anderen Gespanne betrügerisch zum Siege verhelfen? Oder gar jenen treulosen Hirtenhunden? — Lästere nichtl mahnt Kleinias. — Dann würden wir ja geradezu die erhabenen Hüter der höchsten Dinge niedriger stellen, als Hunde und mittelmäßige Menschen, denn von diesen erwarten wir doch, daß sie den Bestechungsversuchen jedes Beliebigen nicht ohne weiteres unterliegen. — Gewiß, versichert Kleinias, diese AnH5

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schauung ist ganz unerträglich, sie scheint mir sogar die gefährlichste Form der Gottlosigkeit zu sein. — Somit, schließt der Athener, ist auch unser dritter Beweis gelungen. Allerdings haben wir unsere Beweise im gerechten Zorn über die Verstocktheit der Menschen vielleicht etwas leidenschaftlicher vorgetragen, als es sich für eine Beweisführung ziemt. Eine kräftige Sprache war immerhin angebracht, damit sich die Gottlosen nicht einbilden, daß die besseren Gründe ihnen zur Seite ständen und ihr ruchloses Leben rechtfertigten. Wenn wir auch nur ein wenig dazu beigetragen haben, daß sie sich selbst hassen und eine edlere Gesinnung lieben lernen, soll uns die lange Vorrede zu unserm Gesetz gegen die Gottlosigkeit nicht gereuen. Das erste Gebot des Gesetzes lautet: Wenn sich jemand in Worten oder Werken einer Gottlosigkeit schuldig macht, soll der nächste, der es gewahrt, dem Frevel wehren und den Schuldigen der Behörde anzeigen. Die Behörde hat diesen sofort durch das Gericht aburteilen zu lassen, widrigenfalls sie selbst von jedem Bürger wegen Gottlosigkeit belangt werden kann 109 ). Die Strafe der Gottlosigkeit ist Gefängnis. Wir werden in unserem Staate drei Gefängnisse haben, ein allgemeines Gefängnis am Marktplatz, ein zweites, Sophronisterion (Besinnungsstätte, also Besserungsanstalt) genannt, im Dienstgebäude der nächtlich beratenden Behörde110), und ein drittes mitten im Lande, in einer einsamen und wüsten Gegend. Dieses soll einen dem Strafzweck entsprechenden Schreckensnamen erhalten. In allen drei Hauptfällen der Gottlosigkeit ist zu unterscheiden, ob sich der Schuldige auf Aeußerungen seines Unglaubens beschränkt hat, oder ob seine Gesinnung ihn zur bösen Tat verleitete. Es gibt Gottesleugner von gerechter Gesinnung, sie verehren das Gesetz und verabscheuen die Gemeinschaft mit schlechten Menschen. Sie mag man unbehelligt lassen, solange sie ihre Meinungen für sich behalten. Wenn sie aber durch freigeistige Beden oder Spöttereien den Glauben anderer gefährden, müssen sie bestraft werden. Sehr viel gefährlicher sind die, in denen sich der Unglaube mit der Bosheit und Tücke eines verderbten Gemütes vereinigt. Unter ihnen finden wir betrügerische Zauberer, Tyrannten, Sophisten und falsche Propheten, Erfinder neuer Mysterien. Für alle diese wäre ein mehrfacher Tod die gebührende Strafe. Wer dagegen nur aus Unwissenheit, ohne böswillige Absicht, gotteslästerliche Reden führt, soll zu fünfjähriger Haft im Sophronisterion verurteilt werden. Während dieser Zeit darf ihn kein Bürger besuchen, sein einziger Umgang sollen die Männer sein, die in diesem Gebäude ihre nächtlichen Sitzungen abhalten. Sie sollen versuchen, ihn zu bekehren und das Heil seiner Seele zu retten. Wer nach der Entlassung aus der Haft rückfällig wird,

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Staat und Religion ist mit dem Tode zu bestrafen. Dieselbe Unterscheidung gilt in den beiden anderen Fällen, gegenüber denen, die zwar an- Götter glauben, sie aber entweder für untätig oder für leicht versöhnlich halten. Dieser Unglaube ist besonders schlimm, weil er oft zum Quell rohen Aberglaubens wird. Da treten denn gewissenlose Menschen mit der Behauptung auf, daß sie die Seelen Toter beschwören, sich die Götter durch Opfer und Gebetszauber dienstbar machen könnten. Für diese Menschen, die sich in ihrer Geldgier nicht scheuen, ganze Familien und Staaten ins Unglück zu stürzen, ist das Gefängnis in der Einöde bestimmt. Sie bleiben dort bis zu ihrem Lebensende. Kein Freier darf ihnen nahen, die kärgliche Nahrung reichen ihnen Sklaven des Staates. Nach ihrem Tode wird ihr Leib unbestattet aus dem Lande geworfen; ein Freier, der sie diesem Gebote zuwider beerdigt, verfällt der Anklage wegen Gottlosigkeit. Ihrer Kinder soll sich jedoch die Vormundschaftsbehörde annehmen und sie nicht minder liebevoll pflegen, als echte Waisen. A ¿L Ein zweites Gesetz soll den Ausartungen der Götterverehrung und I V y gewissen abergläubischen Mißbräuchen des Kultus wehren. Es lautet: Niemand darf in seinem Hause Privatheiligtümer besitzen, außerhalb seines Hauses eigenmächtig Heiligtümer stiften, oder auf eigene Hand Opfer veranstalten. Wer opfern will, reiche den Priestern die Opfergaben und überlasse ihnen die Sorge für die Wahrung der heiligen Bräuche. Zur Gründung von Heiligtümern bedarf es einer sehr genauen Kenntnis des Kultus. Deshalb ist es durchaus unangebracht, daß das Land mit Altären und Privatheiligtümern unkundiger Laien überschwemmt wird. Abergläubische Weiber, Kranke und andere bedrängte Gemüter pflegen allzuleicht ihre Zuflucht zu Gelübden zu nehmen, den Göttern, Dämonen und Heroen Tempel und Altäre zu versprechen. Unverhoffte Glücksfälle, böse Träume und Geistererscheinungen geben fernere Veranlassungen zu solchen ungeregelten Stiftungen. Bedenklicher noch sind die Mißbräuche mit privaten Heiligtümern, wenn ruchlose Menschen die Götter durch heimliche Opferfeiern zu bestimmen suchen, ihren Uebeltaten hilfreiche Hand zu leihen. Solche Frevel wenden den Zorn der Götter auch auf den Staat, der sie geschehen läßt. Die Hüter der Gesetze sollen deshalb alle Bürger nötigen, ihre Privatheiligtümer in die öffentlichen Tempel zu schaffen. Im übrigen mögen die verbotenen Opferfeiern und die eigenmächtigen Einrichtungen von Heiligtümern straffrei bleiben, wenn sie im kindischen Unverstände geschehen und nicht frevelhaften Mißbräuchen zu dienen bestimmt sind. In diesem Falle ist auf Todesstrafe zu eritennen. — Wer an öffentlichen Altären fremden Götzen opfert, soll die Entweihung des Heiligtumes ebenfalls mit dem Tode büßen. H5

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Mit dem aus tiefster religiöser Intuition geschaffenen zehnten Buche würde das Werk einen erhebenden Ausklang gefunden haben. Man möchte es fast bedauern, d a ß Piaton noch einen sehr ausgedehnten Abschluß folgen läßt, zumal dieser nicht n u r gegen die unmittelbar voraufgegangenen religionsphilosophischen Betrachtungen, sondern auch gegen den Gedankenreichtum der ersten neun Bücher merklich abfällt. Der Inhalt des letzten Teiles, des 11. ;und 12. Buches, besteht in der Hauptsache aus einer ziemlich systemlosen Aufeinanderfolge einzelner Gesetze. Sie sind zum großen Teile dem athenischen Recht entlehnt und insofern von rechtswissenschaftlichem und kulturellem Interesse. Ihre Darstellung wirkt jedoch auf die Dauer etwas eintönig. Es ist nicht zu verkennen, daß die Gestaltungskraft des greisen Philosophen allmählich zu versagen beginnt; neue Gedanken von allgemeiner Bedeutung treten n u r noch vereinzelt aus der Masse des Stoffes hervor, bis sich am Schlüsse, überraschend, noch einmal eine Idee von weltgeschichtlicher Bedeutung entfaltet. Für den Zweck dieser Arbeit wird es genügen, den wesentlichen Inhalt der beiden letzten Bücher vorzutragen, ohne dem Autor in alle Einzelheiten zu folgen. Das nächste T h e m a ist das Privatrecht. Ein systematischer Aufriß des bürgerlichen Rechtes lag nicht im Plane des Werkes. Piaton beschränkt sich darauf, einzelne Gesetze in loser Folge aneinanderzureihen, offenbar sollen sie die Musterbeispiele sein, aus denen die Grundsätze der zu schaffenden Rechtsordnung abzuleiten sind. Eine strenge Scheidung des Zivilrechts vom Strafrecht unterbleibt auch hier, obwohl nach den einleitenden Worten jetzt eigentlich nur von Schuldverhältnissen (£v/iß6Acua) die Rede sein soll. — Der Athener k n ü p f t an den zu Anfang des 10. Buches aufgestellten Grundsatz an: Jedermann hat sich des Eingriffs in fremdes Eigentum zu enthalten, insoweit er nicht auf Grund einer Uebereinkunft mit dem Eigentümer hierzu befugt ist. D i e V e r t r a g s i d e e i s t a l s o b e i P i a t o n , e b e n s o wie im s p ä t e r e n R ö m i s c h e n R e c h t , die f e s t e B a s i s des Rechtes der S c h u l d v e r h ä l t n i s s e . Schon das erste Gesetz wird aus diesem Grundsatz abgeleitet: es verbietet die Schatzgräberei, weil zwischen dem, der in seinem oder seiner Kinder Interesse einen Schatz verbarg, und dem Schatzgräber kein rechtlich begründetes Verhältnis besteht. Dieser frevelt deshalb gegen die göttliche und menschliche Rechtsordnung, wenn er sich ein solches Gut aneignet. Nicht ohne Grund sagt ein altes Wort, daß derartige Schätze keinen Segen bringen,

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zumal, wenn sich der Schatzgräber geheimer Künste bedient. Der Staat soll gehobene Schätze beschlagnahmen und beim Delphischen Orakel anfragen, was mit dem Gute geschehen soll. Wer von einer geglückten Schatzgräberei Kenntnis erhält, ist verpflichtet, sie der Behörde anzuzeigen. Sklaven gewinnen sich durch eine solche Anzeige die Freiheit, im Falle der Unterlassung werden sie mit dem Tode bestraft. — Das Solonische Rechtssprichwort: Was du nicht hingelegt hast, nimm nicht fort! gilt auch für den Finder verlorener Sachen. Sie stehen überdies, wenn sie auf offener Straße liegen geblieben sind, unter dem Schutze der Wegegottheiten. Ein Sklave, der sie sich aneignet, ist von dem, der ihn ertappt, zu züchtigen, ein Freier hat den Wert eines unterschlagenen Fundes zehnfach zu erstatten und gilt fortan als unehrlich. — Bei Streitigkeiten über das Eigentumsrecht an Sachen soll das Gericht aus den amtlichen Vermögensverzeichnissen (V, 13) den rechtmäßigen Eigentümer zu ermitteln suchen. Wenn das nicht gelingt, soll das Gericht den Streitgegenstand in Verwahrung nehmen und binnen drei Tagen die Entscheidung fällen. Mit seinen Sklaven darf jeder nach Belieben verfahren, insoweit er sich in den Schranken des nach göttlichem Recht Erlaubten hält. Jedem Bürger steht das Recht zu, fremde Sklaven in Freiheit zu setzen, er hat jedoch drei Bürgen dafür zu stellen, daß er den Herrn des Sklaven schadlos halten werde. Anderen Falles wird er wegen gewalttätiger Befreiung belangt und hat den doppelten Wert zu erstatten. — Die Freilassung eines eigenen Sklaven k a n n widerrufen werden, wenn der Freigelassene seinem ehemaligen Herrn nicht die gebührende Ehrfurcht erweist. Er hat sich mindestens dreimal im Monat in dessen Hause einzufinden und ihm seine Dienste anzubieten. Auch darf er ohne seine Zustimmung keine Ehe schließen. Wenn sein Vermögen größer wird, als das seines ehemaligen Herrn, hat er ihm den Ueberschuß abzugeben. Sobald sein Vermögen den Höchstbetrag der dritten Steuerstufe übersteigt, hat er bei Strafe des Todes und der Einziehung seines ganzen Vermögens das Land zu verlassen. Im übrigen erhalten die Freigelassenen, ebenso wie die Fremden (VIII, 14), ein auf 20 Jahre beschränktes Niederlassungsrecht. — Wer eine Sache erwarb, auf die ein Dritter Eigentumsansprüche geltend macht, ist zur Rückgabe des Gegenstandes an den Verkäufer verpflichtet, gesetzt, daß der Verkäufer als ehrlicher Mann gilt111). — Warenverkäufe aller Art sollen nur auf dem Marktplatz, innerhalb eines hierzu bestimmten Bezirkes, stattfinden, und zwar sind die gekauften Sachen bar zu bezahlen. Wer einen Kauf oder ein kaufähnliches Geschäft außerhalb dieses Ortes abschließt oder eine Gegenleistung stundet, handelt auf eigene

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Gefahr, ein klagbarer Anspruch steht ihm nicht zu. Nicht klagbar (obligationes naturales im Sinne des Römischen Rechts) sind ferner die Ansprüche aus einem Unterstützungsvertrage (egavos). Wer in Not gerät, mag sich von seinen Freunden Unterstützungen geben oder versprechen lassen; es findet aber weder eine Klage auf Auszahlung versprochener noch auf Rückerstattung geleisteter Unterstützungsgelder statt 112 ). — Hierauf folgen eingehende Bestimmungen über die Haftung für heimliche Mängel verkaufter Sachen, über gesetzliche Fehler verkaufter Sklaven, über Gewährfristen und dergleichen. Als Hauptmangel eines verkauften Sklaven gilt außer gewissen körperlichen und geistigen Leiden eine Blutschuld. Einem mit diesem Fehler Behafteten muß der Verkäufer zurücknehmen und, falls er den Mangel arglistig verschwiegen hatte, überdies das Haus des Käufers auf seine Kosten entsühnen lassen. Bemerkenswert ist sonst etwa noch, daß Personen, die infolge ihres Berufes eine besondere Sachkunde besitzen, mit erhöhter Haftung für Mängel belastet werden. Mit der Redlichkeit im Handel und Wandel war es im alten Griechenland nicht sonderlich gut bestellt. Die laxe Moral der alten Göttersagen und die bedenklichen Sittenlehren vieler Dichter waren keineswegs geeignet, einer ernsten Ethik zur Stütze zu dienen. Sprichworte, wie das vom Athener bald darauf zitierte: daß Lug und Trug zur rechten Zeit wohlangebracht seien, entsprachen sicherlich den herrschenden Anschauungen durchaus. Es ist eines der größten Verdienste Piatons, daß er nicht müde wurde, jene falschen Tendenzen des Mythos und der Dichtung unablässig zu bekämpfen, um einer reinen Ethik zum Siege zu verhelfen. Durch eine Betrachtung ähnlicher Art führt der Athener das nächste Gesetz ein, das sich gegen die Verfälschung von Waren und Geld und gegen andere Uebelstände im Marktverkehr wendet. Kein Händler soll die Güte seiner Waren eidlich beteuern, denn es ziemt sich nicht, die heiligen Namen der Götter zu marktschreierischen Anpreisungen zu mißbrauchen. Ferner soll jeder Händler von vorneherein feste Preise fordern und diese im Laufe des Markttages weder heraufsetzen, noch bei geringer Nachfrage ermäßigen. Jedem Bürger über 30 Jahre wird es zur Pflicht gemacht, schwörende und fluchende Händler auf der Stelle zu züchtigen. Verfälschte Waren sind den Marktaufsehern anzuzeigen. Wenn der Anzeigende ein Sklave oder Metöke ist, darf er sie für sich behalten, Bürger haben sie im Tempel der Marktgötter abzugeben. Dem schuldigen Händler sollen die Marktaufseher für jede Drachme, um die er betrügen wollte, einen Geißelhieb aufzählen lassen; hierbei soll der Herold laut ausrufen, warum der Mensch öffentlich gezüchtigt wird. Was als Verfälschung

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gilt, sollen die Hüter der Gesetze und die Marktaufseher durch eine gemeinsame Verordnung feststellen, die auf einer vor dem Amtshause stehenden Säule aufzuzeichnen ist. Bekanntlich galt der Kleinhandel in Griechenland als ein wenig anständiges Gewerbe, noch weniger geachtet waren Gastwirte und Lohnarbeiter. Gerade deshalb, meint der Athener, müssen Gesetzgeber und Behörden diesen Berufsständen ihre besondere Aufmerksamkeit zuwenden, um sie nach Möglichkeit zu heben. In einer langen Auseinandersetzung führt er aus: Im Grunde ist der Kleinhandel ein durchaus notwendiges und nützliches Gewerbe. Der Händler versieht die allgemeine Funktion des Geldes, die Güter in Umlauf zu setzen und sie nach dem Bedarf der Bevölkerung zu verteilen. Seine Aufgabe ist, den Produzenten Geld zuzuführen und die Besitzer verfügbaren Geldes mit Waren zu versehen. So helfen auch Gastwirte, Lohnarbeiter und andere Menschen dieser Art wirklichen Bedürfnissen ab, sie befördern durch ihre Tätigkeit den Umlauf des Geldes und damit den Ausgleich des Besitzes 118 ). Wie erklärt es sich, daß diese Berufe trotzdem in Verruf geraten sind, zumal sie eine nicht geringe Tüchtigkeit erfordern? Leider ist es nur wenigen, vorzüglich gearteten und hochgebildeten Menschen gegeben, die Begierden zu mäßigen und sich mit Wenigem zu begnügen, wenn sie Aussicht zu haben glauben, Vieles zu erraffen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß sich in dem niederen Stande der Händler die Gewinnsucht besonders stark bemerkbar macht. Darum werden sie verachtet. Wenn es möglich wäre, den edelsten Bürgern und Frauen aufzugeben, eine Zeitlang einem Kleinhandel oder einem Gasthause vorzustehen, würde diese Mißachtung sehr bald schwinden, man würde diese Gewerbe ehren wie eine nährende Mutter. Müde Wanderer und Seefahrer würden sich dann in den Herbergen wirklicher Gastfreundschaft erfreuen, wo sie jetzt wie Kriegsgefangene gehalten und nur gegen ein höchstmögliches Lösegeld losgelassen werden. Die Aufgabe des Gesetzgebers ist hier doppelt schwer, weil er gleichzeitig gegen zwei Fronten, Reichtum und Armut zu kämpfen hat. Reichtum macht übermütig und dreist, Armut niedrig und gemein. Es wird also die Aufgabe des Gesetzgebers sein, den Händlern einen auskömmlichen, aber nicht übermäßigen Geschäftsgewinn zu sichern. Zu diesem Zweck muß die Zahl der Händler möglichst eingeschränkt werden. Ihnen müssen die Hüter der Gesetze nach Anhörung Sachverständiger Richtpreise vorschreiben, die ihnen einen angemessenen Gewinn belassen. Da trotzdem stets die Gefahr besteht, daß niedere Gewerbe gute Sitten verderben, darf deren Ausübung nur der Bevölkerungsklasse gestattet werden, auf deren sittliche Beschaffen-

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heit es weniger ankommt. Als Händler sind also nur Fremde und Metöken zuzulassen, niemals Bürger. Ein freier Mann darf nur älteren Standesgenossen gemeine Dienste leisten. Wer sein väterliches Haus durch den Betrieb eines niedrigen Gewerbes entehrt, soll auf ein Jahr ins Gefängnis gesperrt werden, in jedem Rückfall ist auf das Doppelte der zuletzt verhängten Freiheitsstrafe zu erkennen. Diese Einschränkungen werden auch aus dem Kleinhandel ein nützliches Glied des Staates machen. Freiwillig, ohne rechtswidrigen Zwang abgeschlossene Verträge soll jeder gewissenhaft erfüllen, es sei denn, daß die Leistung durch Gesetz verboten oder durch höhere Gewalt unmöglich gemacht worden ist. Die Handwerke stehen unter dem Schutze des Hephaestos und der Athene, die Künste des Krieges, denen das Handwerk in erster Linie zu dienen hat, sind der Athene und dem Ares heilig. Der Handwerker soll sich seiner Götter würdig erweisen und sich von Lüge und Unredlichkeit fernhalten. Ein Meister, der im Wahn, daß sein Schutzgott ihm nicht grollen werde, die übernommene Arbeit vorsätzlich nicht innerhalb der bedungenen Frist herstellt, soll sie umsonst ausführen und dem Besteller außerdem den Betrag bezahlen, der als Preis der Leistung bedungen war. Der Handwerker kennt den Wert seiner Leistung am besten. Er soll daher nur den angemessenen Preis fordern, nicht aber versuchen, den unkundigen Besteller zu übervorteilen. Wer einen Handwerker nicht zur rechten Zeit bezahlt, obwohl er dessen Arbeit in Empfang genommen hatte, macht sich ebenfalls einer das öffentliche Vertrauen gefährdenden Treulosigkeit schuldig. Er hat dafür den doppelten Preis zu bezahlen. Wenn er länger als ein Jahr im Verzuge bleibt, darf der Gläubiger ausnahmsweise Verzugszinsen berechnen, und zwar monatlich für jede Drachme einen Obolos ( = 200 Prozent jährlich). Im übrigen verbietet das Gesetz jegliche Zinsberechnung (V, 12). — Wie die Handwerker sind auch die Führer im Kriege ihres Lohnes wert. Das Volk soll ihnen nach der Heimkehr die verdienten Ehren nicht vorenthalten. Die höchsten Ehren gebühren indessen nicht den Kriegsmännern, sondern denen, die das Gesetz am treuesten in Ehren halten.

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Damit, behauptet der Athener, sind die wichtigsten Schuldverhältnisse, mit Ausnahme der Rechtsverhältnisse zwischen Waisen und Vormündern hinreichend erörtert worden. Diesen werden wir jetzt unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden haben. Zunächst behandelt er indessen das Problem der Testierfreiheit114). Hier sind die bisherigen Gesetze nach seiner Meinung den Neigungen der Erblasser allzusehr entgegengekommen. Daß ein Hausvater die Befugnis, nach freiem Belieben über sein Eigentum zu verfügen,

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Das P r i v a t r e c h t als sein natürliches Recht in Anspruch nimmt, ist zu verstehen. Nicht minder begreiflich ist sein Wunsch, sein Vermögen denen zuzuwenden, die ihm zu seinen Lebzeiten Gutes erwiesen haben. Höher als diese Erwägungen stehen aber die Rücksichten auf das gemeine Wohl. Der Gesetzgeber würde den Erblassern folgendes zu sagen haben: „Liebe Freunde! Die wahre Selbsterkenntnis, die Beurteilung eurer Umgebung und der zweckmäßigen Verwendung eures Vermögens ist euch Eintagsmenschen nicht gegeben. Das Vermögen, über das ihr zu verfügen gedenkt, gehört zudem nicht euch, s o n d e r n e u r e m g a n z e n G e s c h l e c h t , euren Ahnen, euren Kindern und Kindeskindern. Und da euer Geschlecht dem Staate gehört, so gehört dem Staate auch dessen Vermögen. Darum werden wir euch nicht nachgeben, wenn ihr, zumal in der Schwäche des Alters und der Krankheit, Bestimmungen trefft, die wir vom Standpunkt des Staates aus nicht billigen können. Fahret ihr in Frieden dahin und vertrauet darauf, daß alles, was ihr hinterlasset, eure Güter und eure Hinterbliebenen, unter unserer treuen Obhut stehen wird." Der Besitzer eines Stammgutes darf sich unter seinen Söhnen den Erben desselben frei auswählen und ihn letztwillig zu seinem Nachfolger bestellen. Sein freies Vermögen, wozu jedoch das Inventar des Gutes nicht gehört, darf er unter seine übrigen Kinder verteilen, insoweit sie nicht schon durch Adoption, Verlöbnis oder Heirat mit einem anderen Stammgut versorgt sind. Ein Erblasser, der nur Töchter hinterläßt, soll einen seiner Schwiegersöhne zum Erben einsetzen, wenn er nicht einer noch unvermählten Tochter testamentarisch einen Gatten bestimmt und zugleich zum Erben ernannt hat. Ein kinderloser Gutsherr soll sich durch Adoption eines Nachfolgers versichern. Sein freies Vermögen fällt dem Adoptivsöhne ebenfalls zu, bis auf ein Zehntel, über das der Testator zugunsten seiner Freunde verfügen darf. — Vormünder seiner minderjährigen Kinder kann der Erblasser in beliebiger Anzahl bestellen. Wenn sich hierüber keine letztwillige Verfügung vorfindet, hat die Vormundschaftsbehörde je zwei nächste Verwandte von väterlicher und mütterlicher Seite und als Fünften einen Freund des Verstorbenen als Vormünder einzusetzen. Die Vormundschaftsbehörde besteht aus den 15 ältesten Hütern der Gesetze, aus ihrer Zahl werden alljährlich der Reihe nach drei Obervormünder zur Führung der Geschäfte abgeordnet. Die Bestimmungen des Atheners über die Intestaterbfolge sehen nur zwei Fälle vor: daß ein Fideikommißherr ausschließlich ledige Töchter hinterläßt oder kinderlos verstirbt, ohne die Nachfolge letztwillig oder durch Adop-

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tion geregelt zu haben. Für den ersten Fall übernimmt der Athener das attische Ert»töchtergesetz. Nach diesem Gesetz hatte der nächste unverheiratete Verwandte des Verstorbenen oder seiner Ehefrau das Recht auf die Hand der Erbtochter. Die Reihenfolge der Anwartschaften setzt der Athener auf das genaueste fest, sie entspricht mit einer unwesentlichen Abänderung dem athenischen Rechte. Bewerber, die sich nach ihrem Alter nicht zur Ehe mit der Erbtochter eignen, sind auszuschalten, nötigenfalls hat der Richter zu diesem Zweck eine körperliche Untersuchung der Parteien zu veranlassen. Wenn unter den näheren, kraft Gesetzes berufenen Seitenverwandten der Jungfrau kein geeigneter Anwärter vorhanden ist, darf sie sich ihren Gatten vorbehaltlich der Zustimmung ihrer Vormünder selbst wählen. — Als gesetzliche Erben eines Kinderlosen gelten die beiden Nächstverwandten männlichen und weiblichen Geschlechtes, unter denen eine Eheschließung möglich ist. Sie haben einander zu heiraten und dürfen dann das Gut des Verstorbenen in Besitz nehmen. Der Athener stellt ausdrücklich fest, daß der gesetzlich Berufene nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hat, die Erbtochter zu freien, noch weniger darf natürlich diese den Bewerber zurückweisen. Von dieser, wie er zugibt, unter Umständen sehr harten Verpflichtung gewährt er nur äußersten Falles einen Dispens wegen schwerer körperlicher Gebrechen oder grober Charakterfehler des anderen Teiles. Ueber die Erteilung des Dispenses entscheidet die Vormundschaftsbehörde. Gegen ihre Entscheidung ist der Rechtsweg zulässig, wenn aber der Antragsteller in dem Prozeß gegen die Behörde unterliegt, trifft ihn schimpfliche Rüge. Mit wohltuender Wärme nimmt sich der Athener der Waisen an; ihnen soll, wie er sagt, durch das Gesetz eine zweite Geburt zuteil werden, damit sich ihre traurige Lage so glücklich wie möglich gestalte. Die Hüter der Gesetze und die Vormünder sollen sich stets gegenwärtig halten, daß die Seelen der Eltern ihre hinterbliebenen Kinder schützend und rächend umschweben, und daß gerechte Götter ihnen zur Seite stehen. Auch die ehrwürdigsten Männer des Staates werden nicht verfehlen, ihr Augenmerk auf alle zu richten, denen schutzlose Waisen als heiligstes Gut anvertraut sind. Der Vormund soll die Person und das Vermögen des Mündels noch gewissenhafter pflegen, als seine eigenen Kinder und seine eigenen Güter. Auf Pflichtverletzungen stehen schwere Geldstrafen, bis zum vierfachen Betrage der für normale Fälle vorgeschriebenen Bußen. Mitgliedern der Vormundschaftsbehörde, die vorsätzlich zum Nachteil der Mündel handeln, droht außerdem die Ausstoßung aus dem Rate der Gesetzeshüter. Zur Klagerhebung ist neben

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Das P r i v a t r e c h t den Verwandten der Mündel jeder Bürger legitimiert. Regreßklagen der Mündel gegen Vormünder und Obervormünder verjähren in fünf Jahren nach erlangter Volljährigkeit. Nach hellenischem Recht stand den Vätern die Befugnis zu, ihre Söhne durch einen formalen, vom Herold öffentlich zu verkündenden Rechtsakt zu verstoßen und damit aus der Familie auszuschließen. Auch diese Befugnis wird, wie die Testierfreiheit, eingeschränkt. Wer seinen Sohn verstoßen will, hat zuvor seine nächsten Verwandten einschließlich der Geschwisterkinder zu einem Familienrat einzuberufen und dem Sohne Gelegenheit zu geben, sich zu verteidigen. Wenn die Entscheidung dahin ausfällt, daß der angeschuldigte Sohn unwürdig sei, der Familie fernerhin anzugehören, darf der Vater dieses Urteil vollstrecken. Der Verstoßene soll binnen zehn Jahren in eine Kolonie auswandern, es sei denn, daß ihn ein anderer Bürger an Kindesstatt annimmt. Ebenso ärgerlich wie Vorgänge dieser Art sind dem Athener die damals anscheinend nicht seltenen Klagen vermögenslüsterner oder aufsässiger Söhne auf Entmündigung ihrer Väter. Er erklärt, daß die Schuld in allen diesen Fällen fast immer auf beiden Seiten liege; solange wenigstens ein Teil besonnen sei, werde es nicht zu solchen Ausbrüchen des Familienhasses kommen. Der Athener läßt Entmündigungsklagen nur dann zu, wenn das Familienoberhaupt infolge von Geistesschwäche oder greisenhafter Zanksucht Haus und Vermögen zerrüttet. Zur Klagerhebung bedarf es der Genehmigung der Hüter der Gesetze. Wenn diese nach gewissenhafter Untersuchung des Falles die Entmündigung für angebracht halten, sollen sie in dem zu führenden Prozesse als Beistände des Klägers auftreten. Ehescheidungsklagen wegen Zwietracht unter den Ehegatten sollen durch ein gemischtes, aus zehn Hütern der Gesetze und zehn Frauen des Eheamtes (VI, 23) zusammengesetztes Gericht entschieden werden. Das Gericht soll zunächst einen Versöhnungsversuch anstellen, und wenn dieser fehlschlägt, die streitenden Gatten anderweitig zu verheiraten suchen. Da die Streitenden zumeist heftigen Gemütes sein werden, ist dies nicht immer leicht. Das Gericht wird sich bemühen müssen, für sie tiefer veranlagte und sanftere Lebensgefährten aufzufinden (vgl. oben VI, 16). Wenn die zu Scheidenden noch nicht die genügende Anzahl von Kindern besitzen — als ausreichend gilt ein Knabe und ein Mädchen — sollen die neu abzuschließenden Ehen die Gewähr fernerer Fruchtbarkeit bieten, älteren Personen sollen sie lediglich eine Versorgung durch die Möglichkeit gegenseitiger Pflege gewähren. Einem Witwer soll das Gesetz zwar nicht zwingend vorschreiben, aber

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dringend anraten, seinen Kindern keine Stiefmutter ins Haus zu bringen. Einer Witwe soll die Erziehung ihrer Kinder überlassen bleiben. Wenn sie noch so jung ist, daß sie aus physischen Gründen nicht wohl eines Mannes entraten kann, sollen die Verwandten mit Hilfe der Frauen des Eheamtes einen neuen Gatten für sie aussuchen. Witwer und Witwen ohne die genügende Anzahl von Kindern haben stets eine neue Ehe zu schließen. — Anfechtungen einer anerkannten Vaterschaft finden nur ausnahmsweise statt, insoweit zur Sicherung der nachstehenden Rechtsfolgen die volle Aufklärung des Tatbestandes erforderlich ist: Während nämlich das Kind einer Sklavin stets dem Eigentümer der Mutter zufällt, einerlei ob es von einem Sklaven oder einem Freien erzeugt worden ist, gehört das Kind einer von einem Sklaven geschwängerten freien Frau dem Herrn des Sklaven. Wenn aber jemand ein Kind mit einer eigenen Sklavin erzeugt, oder wenn eine Herrin von einem eigenen Sklaven geschwängert worden ist, sollen diese Bastarde außer Landes geschafft werden, und zwar im ersten Falle das Kind nebst der Mutter, im zweiten Falle das Kind mitsamt seinem Vater. A A Der Athener wendet sich hierauf nochmals den Pflichten der Söhne AI und Töchter gegenüber ihren greisen Eltern und Großeltern zu. In einer langen Vorrede zu dem Schutzgesetz für das hilflose Alter führt er aus: Die Kinder sollen die ehrwürdigen Gestalten ihrer betagten Eltern wie heilige Bilder verehren. Die Ehrfurcht, die sie ihnen bezeugen, ist noch segensreicher, als die fromme Verehrung der Götterbilder in ihrem väterlichen Hause. Denn diese Bilder sind tot, jene aber leben, und ihre Gebete werden von den Göttern erhört. Die alten Sagen lehren uns, daß die Flüche der Eltern stets ihre Erfüllung finden, nicht minder mächtig sind aber ihre Segenswünsche. Die Götter vernehmen sie gern und werden alles Gute vergelten, was treue Kindesliebe dem gebeugten Alter erwiesen hat. Deshalb soll jedermann den Vater, die Mutter und die Großeltern als das heiligste Besitztum seines Hauses ehren, ihre Wünsche den seinigen und denen seiner Kinder überall voranstellen. Den Ungehorsamen trifft das Gesetz mit harter Strafe. Zum Schutze der Eltern werden die drei ältesten Hüter der Gesetze und drei Frauen des Eheamtes bestellt. Sie werden auf Beschwerden übel behandelter Eltern mit strengen Zuchtmitteln, Gefängnis und körperlicher Züchtigung, einschreiten. Ihrer disziplinaren Strafgewalt sind Männer bis zum 30., Frauen bis zum 40. Lebensjahr unterworfen. Aeltere Angeschuldigte haben sie vor ein Gericht zu stellen, das aus den ältesten Greisen des Staates gebildet wird. Das Gericht kann auf jede gesetzlich zugelassene Strafe erkennen. Wenn altersschwache Eltern selbst außerstande sind, sich der Brutalität ihrer Kin-

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Das P r i v a t r e c h t der zu erwehren, soll jeder Bürger, der von ihrer Not Kenntnis erhält, zur Anzeige verpflichtet sein. Sklaven, die eine wahrheitsgemäße Anzeige erstatten, erhalten zum Lohne die Freiheit; wenn sie nicht dem schuldigen Hause gehören, bezahlt der Staat das Lösegeld. Inzwischen hat sie die Behörde vor der Rache der Angezeigten zu schützen. A A Das nächste Gesetz verbietet Giftmischerei und Zauberkünste zum Schaden anderer. Ob es überhaupt möglich ist, durch Zaubermittel zu wirken, läßt der Athener dahingestellt sein. Es genügt, meint er, daß das Volk an derartige Künste glaubt und durch sie beunruhigt wird. Er erwähnt in diesem Zusammenhange u. a. den uralten, von den verschiedensten Völkern zu allen Zeiten geübten Bildzauber. Der Schwarzkünstler fertigt ein kleines Wachsbild seines Feindes an, im Wahn, daß der Abgebildete alles erleiden müsse, was an diesem Bilde vorgenommen werde. Nach Ausführung dieser Manipulationen werden die Wachsfiguren an der Haustür des Verhexten, an einem Kreuzweg oder an den Gräbern seiner Eltern niedergelegt. Der heftige Schrecken, den sie in abergläubischen Gemütern erregten, mag oftmals ein wirkliches Unheil zur Folge gehabt haben. — Das Gesetz lautet: Giftmord wird wie jeder andere Mord bestraft. Wer die Gesundheit eines Menschen durch Gift schädigt, fremdes Vieh vergiftet, oder Menschen und Vieh durch Zauberei zu schädigen versucht, wird mit einer dem Gericht angemessen erscheinenden Strafe belegt. Ein Arzt, der sich der Giftmischerei schuldig macht, ist zum Tode zu verurteilen, desgleichen der Wahrsager, der seine Kunst zur Zauberei mißbraucht. — Hierauf folgt nochmals ein Gesetz gegen den Diebstahl. Bei der Zumessung der Strafe ist die Höhe des Schadens, das Alter des Täters und das Motiv der Tat zu erwägen. Nochmals wird eingeschärft, daß die Strafe nicht den Zweck hat, die Tat zu sühnen — denn das Geschehene ist nicht ungeschehen zu machen —, sondern den Täter und diejenigen, die ihn bestraft sehen, zu bessern. Hierzu muß das Gesetz den Richter anleiten, damit er im einzelnen Falle das Richtige trifft. A f } Ein Wahnsinniger soll von seinen Angehörigen in sicherem Gewahrsam gehalten werden, sie haften dafür, daß er nicht durch sein Erscheinen an anderen Orten Aergernis erregt. Verboten ist ferner die Erregung öffentlichen Aergernisses durch laute Schmähreden und zornige Flüche. Wer mit einem andern in Streit gerät, soll ihn in Ruhe zu belehren suchen und sich selbst der Belehrung zugänglich erweisen. Der Zorn ist ein undankbarer Gefährte, wer ihn nährt, wird die Erfahrung machen, daß er seinem Heger die feine Gesinnung raubt und ihm den frohen Sinn vergiftet. Ebensowenig soll man sich durch den Zorn zu hämischem Spotte hinreißen lassen. Auch der

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Spötter begibt sich seiner Würde und büßt den Adel seiner Gesinnung ein. Gegen einen Menschen, der bei einem feierlichen Opfer, bei öffentlichen Spielen oder vor Gericht höhnische Reden führt, hat der verantwortliche Leiter der Veranstaltung sofort mit Stockschlägen einzuschreiten. Im übrigen ist jeder ältere Mann verpflichtet, junge Menschen, die auf der Straße toben oder lästern, durch Schläge zur Besinnung zu bringen. — Die in der Komödie üblichen Verhöhnungen der Bürger will der Athener ebenfalls nicht dulden. Einen Dichter, der sich derartige Ausfälle erlaubt, sollen die Preisrichter noch am Aufführungstage des Landes verweisen, widrigenfalls ihnen selbst eine Geldbuße aufzuerlegen ist115). Schmähverse, die zornige Angriffe enthalten, sind durchaus verboten, witzige Spottgedichte unterliegen der Zensur des Leiters des Erziehungswesens. Ohne dessen Billigung dürfen sie nicht verbreitet werden. Ein würdiger Gegenstand des Mitleidens ist nicht jeder Darbende, sondern nur der rechtschaffene, in unverdiente Bedrängnis geratene Mensch. Es stände schlimm um den Staat, wenn ein solcher nicht unter seinen Mitbürgern hilfreichen Beistand fände, sondern sich seinen Unterhalt erbetteln müßte. Jedenfalls dürfen die Behörden das Unwesen der Bettelei nicht aufkommen lassen, sie haben jeden Bettler unverzüglich aus dem Lande zu schaffen. — Für einen Schaden, den ein Sklave durch Fahrlässigkeit oder Ungeschick anrichtet, hat dessen Herr aufzukommen, oder ihn dem Geschädigten als Eigentum zu überlassen118). Nach denselben Grundsätzen haftet der Tierhalter für seine Tiere. — Wer sich willkürlich der Zeugnispflicht entzieht, ist der Prozeßpartei, die ihn vorlud, schadensersatzpflichtig. Eine freie Frau über 40 Jahre darf vor den Gerichten als Zeugin, und wenn sie unvermählt ist, auch als Prozeßpartei auftreten. Sklaven und Kinder sollen nur in Mordprozessen als Zeugen vernommen werden. Ein Zeuge, der dreimal eines Falscheides überführt ist, darf bei Todesstrafe nicht wieder Zeugnis ablegen. Hieran schließen sich eingehende Bestimmungen über die Anfechtung ungünstiger Zeugenaussagen und über die Wiederaufnahme eines durch falsche Aussagen beeinflußten Verfahrens. Das letzte Kapitel des Buches richtet sich gegen Mißbräuche der Anwaltschaft. Der Athener führt aus: Im menschlichen Leben gibt es viele schöne Dinge, über denen ein unheilvolles Verhängnis schwebt. So ist der Beruf des Anwalts, das Recht zu verteidigen, edel und schön. Um so verwerflicher ist es, wenn skrupellose Advokaten die Kunst, auch der schlechten Sache zum Siege zu verhelfen, laut anpreisen und gar für Geld feilbieten. Dieser Unfug darf in unserem Staate nicht geduldet werden117). Ein Anwalt, 156

Das P r i v a t r e c h t der gewohnheitsmäßig durch die Führung schlechter Prozesse Recht in Unrecht zu verkehren sucht, kann von jedem Bürger vor Gericht belangt werden. Das Gericht hat zu entscheiden, ob der Beschuldigte aus Streitlust oder aus Gewinnsucht dem Unrecht Vorschub geleistet hat. Im ersten Falle soll es ihm auf eine gewisse Zeit jegliche Einmischung in Prozeßsachen untersagen. Im zweiten Falle trifft den Verurteilten, wenn er ein Fremder ist, die Strafe der Ausweisung auf Lebenszeit; wenn er Bürger ist, soll er dagegen seine Geldgier mit dem Leben büßen.

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D e r A b s c h l u ß des V e r f a s s u n g s w e r k e s Der Athener fährt fort, einzelne Gesetze teils mehr, teils weniger ausIführlich vorzutragen. — Wer fälschlich als Gesandter des Staates auf-

tritt, oder wer als Gesandter die ihm erteilten Aufträge vorsätzlich falsch ausrichtet, soll wie ein Frevler im heiligen Dienste des Zeus und seines Götterboten Hermes mit angemessener Strafe belegt werden. — Sodann hält es der Athener für erforderlich, nochmals auf den Diebstahl zurückzukommen. Er tadelt, daß die Dichter von Diebstählen der Götter fabeln — als Meisterdieb wurde bekanntlich der soeben genannte Hermes gefeiert — und dadurch schlechten Menschen Gelegenheit geben, ihre Unredlichkeiten durch die Berufung auf das Beispiel der Götter zu beschönigen. Diebe staatlichen Gutes sollen ohne Rücksicht auf den Wert des Entwendeten bestraft werden, weil die Verwerflichkeit der Gesinnung in allen Fällen gleich groß ist. Es kommt allein darauf an, ob der Täter noch der Besserung durch die Strafe fähig ist, oder nicht. Zu Gunsten von Fremden und Sklaven mag die Vermutung der Besserungsmöglichkeit gelten, dagegen ist ein Bürger, der trotz der sorgfältigen Erziehung zum Staatsbürger dennoch Staatsgut stiehlt, als unverbesserlich zu erachten und mit dem Tode zu bestrafen. r \ Im Kriege ist pünktlicher Gehorsam das oberste Gebot. Der Soldat soll im Frieden wie im Felde jeden Befehl auf das genaueste ausführen und sich auch in Kleinigkeiten keine Eigenmächtigkeit erlauben. Die Kinder sind von Jugend auf an strenge Disziplin zu gewöhnen, damit sie gehorchen und be-

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Das P r i v a t r e c h t der gewohnheitsmäßig durch die Führung schlechter Prozesse Recht in Unrecht zu verkehren sucht, kann von jedem Bürger vor Gericht belangt werden. Das Gericht hat zu entscheiden, ob der Beschuldigte aus Streitlust oder aus Gewinnsucht dem Unrecht Vorschub geleistet hat. Im ersten Falle soll es ihm auf eine gewisse Zeit jegliche Einmischung in Prozeßsachen untersagen. Im zweiten Falle trifft den Verurteilten, wenn er ein Fremder ist, die Strafe der Ausweisung auf Lebenszeit; wenn er Bürger ist, soll er dagegen seine Geldgier mit dem Leben büßen.

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D e r A b s c h l u ß des V e r f a s s u n g s w e r k e s Der Athener fährt fort, einzelne Gesetze teils mehr, teils weniger ausIführlich vorzutragen. — Wer fälschlich als Gesandter des Staates auf-

tritt, oder wer als Gesandter die ihm erteilten Aufträge vorsätzlich falsch ausrichtet, soll wie ein Frevler im heiligen Dienste des Zeus und seines Götterboten Hermes mit angemessener Strafe belegt werden. — Sodann hält es der Athener für erforderlich, nochmals auf den Diebstahl zurückzukommen. Er tadelt, daß die Dichter von Diebstählen der Götter fabeln — als Meisterdieb wurde bekanntlich der soeben genannte Hermes gefeiert — und dadurch schlechten Menschen Gelegenheit geben, ihre Unredlichkeiten durch die Berufung auf das Beispiel der Götter zu beschönigen. Diebe staatlichen Gutes sollen ohne Rücksicht auf den Wert des Entwendeten bestraft werden, weil die Verwerflichkeit der Gesinnung in allen Fällen gleich groß ist. Es kommt allein darauf an, ob der Täter noch der Besserung durch die Strafe fähig ist, oder nicht. Zu Gunsten von Fremden und Sklaven mag die Vermutung der Besserungsmöglichkeit gelten, dagegen ist ein Bürger, der trotz der sorgfältigen Erziehung zum Staatsbürger dennoch Staatsgut stiehlt, als unverbesserlich zu erachten und mit dem Tode zu bestrafen. r \ Im Kriege ist pünktlicher Gehorsam das oberste Gebot. Der Soldat soll im Frieden wie im Felde jeden Befehl auf das genaueste ausführen und sich auch in Kleinigkeiten keine Eigenmächtigkeit erlauben. Die Kinder sind von Jugend auf an strenge Disziplin zu gewöhnen, damit sie gehorchen und be-

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fehlen lernen; der Hang zur Willkür muß im Menschen wie im Tiere frühzeitig ausgerottet werden. So ist der Chortanz nicht allein ein Mittel zur Pflege körperlicher Gewandtheit, sondern noch mehr ein wichtiges Erziehungsmittel zum Gehorsam. Denselben Zwecken dient die Angewöhnung an Mäßigkeit im Essen und Trinken und an Strapazen aller Art nebst einer straffen Abhärtung des Körpers. Hierzu gehört u. a., daß die wichtigsten Organe des Körpers, der denkende Kopf und die bewegenden Füße, nicht durch Umhüllungen verweichlicht werden, zumal diese der Fülle des Haarwuchses und der natürlichen Härte der Fußsohlen nachteilig sind. Die Kriegsgesetze lauten wie folgt: Wer einem Gestellungsbefehle nicht Folge leistet oder vor seiner Verabschiedung eigenmächtig die Truppe verläßt, wird nach Beendigung des Feldzuges vor ein Kriegsgericht gestellt. Richter sind alle Soldaten der Waffengattung, welcher der Beschuldigte angehört. Im Falle der Verurteilung ist auf Ehrenstrafen, nach Umständen außerdem auch auf andere Strafarten zu erkennen. Die zweite Aufgabe der Kriegsgerichte ist die Zuerkennung verdienter Auszeichnungen in Gestalt eines ersten, eines zweiten und fernerer Preise. Es ist jedem Krieger erlaubt, sich um einen Preis zu bewerben. Die Auszeichnungen bestehen in der Verleihung eines Kranzes aus Olivenzweigen; dieses Ehrenzeichen darf der Soldat in einem Tempel der Kriegsgottheiten aufhängen und zum bleibenden Gedächtnis eine Inschrift beifügen. — Endlich haben die Kriegsgerichte diejenigen abzuurteilen, die im Kampf ihre Waffe verloren haben. In einer langwierigen Auseinandersetzung führt der Athener aus, daß hier große Vorsicht geboten sei, damit nicht der Schuldlose, der durch einen bösen Zufall des Schildes beraubt wurde, als Feigling bestraft werde. Wer aber aus Feigheit den Schild preisgibt oder seine W a f f e fortwirft, anstatt sich bis aufs äußerste zu verteidigen, ist aus dem Heere auszustoßen und darf niemals wieder zu Kriegsdiensten herangezogen werden. Die angemessenste Strafe wäre, meint der Athener, daß eine solche Memme in ein Weib verwandelt würde, wie umgekehrt einst der Gott (Poseidon) seine tapfere Geliebte Kainis zu einem gewaltigen Kriegshelden umschuf. Wir wollen dem Krieger, der ein schmachvolles Leben dem rühmlichen Soldatentode vorzog, gern vergönnen, daß er sein ehrloses Dasein möglichst lange friste. Indessen soll er dafür, daß er künftig von den Gefahren des Krieges verschont bleibt, einen hohen, der Größe seines Vermögens entsprechenden Strafsold bezahlen.

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Der Athener hatte bereits mehrfach bemerkt, daß alle Behörden und Beamten nach dem Ablauf ihrer Wahlperiode Rechenschaft über ihre Amtsführung abzulegen haben. Er weist mit großem Nachdruck darauf hin,

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daß diese Einrichtung das festeste Band der Einheitlichkeit des Staatswesens und der Verwaltung sein werde, und daß die Behörde der Rechenschaftsprüfer deshalb mit der höchsten Autorität auszurüsten sei. Ihre Wahl soll außergewöhnlich feierlich, im heiligen Haine der Götter Apollon und Helios, vor sich gehen. Vermittelst eines höchst komplizierten Wahlverfahrens werden aus den verdienstvollsten Bürgern drei Männer ausgesiebt und als Sieger im Wettstreit um den Preis der Bürgertugend ausgerufen. Sie erhalten den Auftrag, das aus 12 Mitgliedern bestehende Kollegium der Rechenschaftsprüfer zusammenzusetzen. Die Mitglieder müssen mindestens 50 Jahre alt sein, sie versehen ihr Amt bis zum 75. Lebensjahre. Sie prüfen die Amtsführung der abtretenden Beamten teils einzeln, teils gemeinsam und veröffentlichen nach Beendigung der Untersuchungen einen Prüfungsbericht nebst den Strafanträgen gegen diejenigen, die den Obliegenheiten ihres Amtes nicht genügt haben. In schweren Fällen kann Todesstrafe beantragt werden. Den für schuldig Erklärten steht der Rechtsweg offen, im Falle der Abweisung der Berufung hat das Gericht auf die doppelte Strafe zu erkennen. — Den Mitgliedern der Behörde stehen die höchsten Ehren zu, die der Staat zu vergeben hat. Als Abzeichen ihrer Würde tragen allein sie einen Lorbeerkranz, in allen Festversammlungen und Festgesandtschaften führen sie den Vorsitz. Sie gelten als Priester des Apollon und des Helios, in deren heiligem Haine sie während der Zeit der Rechenschaftsprüfungen residieren. Alljährlich ist einer von ihnen zum Oberpriester zu wählen, nach ihm ist das laufende Jahr zu benennen. Nach ihrem Tode werden sie in weißen Gewändern aufgebahrt; Trauergesänge und Klagelieder finden nicht statt, vielmehr soll der Tote durch Hymnen der Knaben und Mädchen glücklich gepriesen werden. Ihre Bahre wird von 100 edlen Jünglingen zur letzten Ruhestätte getragen; das ganze Kriegsvolk in voller Waffenrüstung, alle Knaben und Mädchen, die Matronen, Priester und Priesterinnen geben ihr das Geleit. Die Beisetzung geschieht in einer Ehrengruft, die ausschließlich den Mitgliedern dieser Behörde vorbehalten bleibt. Indessen können auch sie wegen eines Mißbrauches ihres Amtes zur Verantwortung gezogen und durch ein Sondergericht abgesetzt werden. Das nächste Gesetz verbietet den Parteieid in Prozessen. Zu den Zeiten des Rhadamanthys, führt der Athener aus, stand der Glaube an die Götter noch unerschütterlich fest, jener große Richter durfte deshalb der Wahrheit des beschworenen Wortes vertrauen und unter Ausschluß aller anderen Beweismittel sein Urteil auf die Eide der Parteien abstellen118). In der Gegenwart sind dagegen Unglauben und Zweifel aller Art so weit ver-

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breitet, daß die Eidschwüre ihren einstigen Wert verloren haben. Da sehen wir denn, daß heute in fast allen Prozessen Eid gegen Eid steht, woraus zu schließen ist, daß vermutlich die Hälfte aller geschworenen Eide falsch sein wird. Wie oft mag es sich ereignen, daß zwei ehemalige Prozeßgegner, von denen der eine weiß, daß ihn der andere durch Meineid um sein gutes Recht betrog, an demselben Tische sitzenl Wir werden deshalb den Eid überall verbieten, wo die Folgen der Eidesleistung dem Schwörenden irgend einen materiellen Vorteil gewähren. Richter und Preisrichter sollen zwar auch in unserm Staate eidlich geloben, gewissenhaft ihres Amtes zu walten, dagegen dürfen Prozeßparteien nicht zum Eide zugelassen werden. Auch in ihren Schriftsätzen und Reden sollen sie sich jeder eidlichen Beteuerung enthalten. Vor Gericht sollen sie ruhig und sachlich verhandeln, weder Verwünschungen über sich und ihr Haus aussprechen, falls ihr Vorbringen nicht wahr sei, noch die Richter mit weibischen Klagen und flehentlichen Bitten bestürmen. Zuwiderhandelnde hat der Vorsitzende zur Sache zu rufen 119 ). In Prozessen der Fremden mag der Parteieid beibehalten bleiben, dem Staate kann daraus kein großer Schaden erwachsen. — Wenn ein Bürger der Obrigkeit nicht gehorcht, soll sie ein Vermögensstück des Ungehorsamen pfänden und im Falle beharrlicher Widerspenstigkeit zu Gunsten der Staatskasse verkaufen lassen. Außerdem ist der Schuldige dem Staate schadenersatzpflichtig. Hierauf folgen eingehende Bestimmungen über Ausreiseerlaubnisse und über den Fremdenverkehr. Als reiner Agrarstaat, bemerkt der Athener, bedarf unsere Kolonie keines ausgedehnten Handelsverkehres mit anderen Ländern. Für uns ist dies ein glücklicher Umstand, weil durch einen solchen Verkehr gar zu leicht fremde Anschauungen in den Staat eindringen und das Volk zur Neuerungssucht verleiten. In Staaten mit schlechter Verfassung ist dieses Uebel nicht so bedenklich, während unsere, mit einer mustergültigen Verfassung ausgestatteten Bürger von den Fremden zumeist nur Schlechteres aufnehmen würden. Gleichwohl ist es nicht angängig, den Staat gänzlich nach außen abzuschließen. Abgesehen davon, daß dies praktisch kaum durchführbar wäre, würden wir dadurch in den Ruf einer fremdenfeindlichen, barbarischen Gesinnung geraten. Den Wert des guten Rufes, das Urteil anderer, soll man nicht unterschätzen; selbst die verdorbenen Menschen verstehen es recht wohl, Gutes und Schlechtes zu unterscheiden, denn auch in ihnen glimmt noch der göttliche Funke. Man muß deshalb nicht nur gut sein, sondern auch wünschen, als gut anerkannt zu werden. — Unsere nächste Aufgabe ist also, die Reisen unserer Bürger auf das wünschenswerte Maß einzuschränken. Junge Leute unter 40 Jahren dürfen das Land

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überhaupt nicht verlassen, es sei denn, daß sie ein Kriegszug oder ein Auftrag des Staates hinausführt. Ferner darf kein Bürger eine Reise zu geschäftlichen Zwecken unternehmen. Der regelmäßige Verkehr nach dem Auslande wird hiernach in der Hauptsache auf die Festgesandtschaften zu den großen hellenischen Opferfeiern und Festspielen beschränkt bleiben. Zu diesen Gesandtschaften sind die besten und stattlichsten Männer auszuwählen, damit das Ausland sehe, daß unser Staat nicht allein tüchtige Kriegsmänner besitzt, sondern auch in den Künsten des Friedens an erster Stelle steht. Würdigen Bürgern sollen die Hüter der Gesetze gestatten, sich den Festgesandtschaften anzuschließen. Ferner soll es jedem Tüchtigen freistehen, sich zum Studium fremder Länder und Sitten ins Ausland zu begeben. Denn ohne die Kenntnis fremder Einrichtungen und Anschauungen würde der Staat niemals sicher zu beurteilen vermögen, was an seinen Zuständen gut oder verbesserungsbedürftig ist. Zudem sind die wenigen genialen (üeloi) Menschen nicht immer in den besten, sondern zuweilen auch in schlechten Staaten zu finden. Ein redlicher Forscher, der es versteht, aus dem Umgang mit diesen Begnadeten neue, fruchtbare Gedanken heimzubringen, seine Mitbürger über das Wertvolle und Wertlose in fremden Sitten und Gesetzen zu unterrichten, wird sich als ihr Wohltäter erweisen. Oberflächliche Beobachter schaden freilich mehr, als sie nützen. Darum dürfen diese Männer nicht jünger als 50 Jahre und nicht älter als 60 Jahre sein, sie müssen sich im Kriege und im Frieden bewährt haben. Andere soll man nicht reisen lassen. Nach ihrer Heimkehr haben sich die Erforscher fremder Länder unverzüglich zu der Behörde zu begeben, der die Erhaltung der Verfassung anvertraut ist. Hiermit führt der Athener noch eine neue, höchste Behörde ein. Ihr gehören a l l e P r i e s t e r an, die den Tugendpreis erhalten haben, ferner die zehn ältesten Hüter der Gesetze, der Vorsteher des Erziehungswesens und dessen Amtsvorgänger. Jedes Mitglied der Behörde wählt einen jüngeren Mann von 30—40 Jahren aus und führt ihn in die Behörde ein. Der Einführende ist dafür verantwortlich, daß sein Erkorener sich der hohen Ehre als würdig erweist. Die Sitzungen des Kollegiums finden täglich vor Anbruch der Morgendämmerung statt und dauern bis zum Sonnenaufgang. Gegenstand der Beratungen sind die Probleme der Gesetzgebung und die Erforschung der wissenschaftlichen Grundlagen der Staatskunde. Wenn die älteren Mitglieder auf eine Wissenschaft stoßen, deren Kenntnis für ihre Zwecke von Wert ist, werden sie den jüngeren aufgeben, sie zu studieren. Hiernach scheint es, daß dem nächtlichen Rate nicht allein die Erhaltung,

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sondern auch die Fortentwicklung der Verfassung anvertraut werden soll. Dieser Gedanke steht freilich in einem vollkommenen Widerspruche zu der wiederholt auf das entschiedenste betonten Forderung, daß nach dem Abschluß des Verfassungswerkes alle Gesetze ausnahmslos ein f ü r allemal unveränderlich feststehen sollen. Die ferneren Ausführungen unterstützen die Vermutung, daß Piaton die praktische Unmöglichkeit dieser Forderung stillschweigends einräumen will. Nur an den Grundgedanken der geschaffenen Rechtsordnung, der I d e e , wie es am Schlüsse des Buches heißt, soll festgehalten werden. Zur starren Abweisung jeglicher Neuerung würde es ja auch einer aus den weisesten Männern des Staates zusammengesetzten Behörde nicht bedurft haben. Mit dieser allerhöchsten Behörde, die hier, scheinbar entgegen dem ursprünglichen Plane der Behördenorganisation plötzlich auftritt, m u ß es offenbar eine besondere Bewandtnis haben. Man beachte zunächst, d a ß sie in erster Linie aus Priestern zusammengesetzt ist, und daß ihr, wie oben X, 15 (pag. 909 A) gesagt wurde, die Ungläubigen und Ketzer überwiesen werden sollen. Im Folgenden werden ihr die Staatsreligion und die Staatsphilosophie anvertraut. Damit taucht hier zum ersten Male in der Geistesgeschichte des Abendlandes die Idee einer h ö c h s t e n g e i s t l i c h e n B e h ö r d e , m a n darf fast sagen, d i e I d e e e i n e r K i r c h e , auf, die, der weltlichen Gewalt übergeordnet, als die eigentliche Seele des Staates dessen Leben und Wollen beherrschen soll. Deshalb wird diese Behörde erst jetzt, a m Schlüsse des Werkes, eingeführt, damit ihre Sonderstellung gegenüber den weltlichen Obrigkeiten scharf und unzweideutig hervortritt. Aus den weiteren Auseinandersetzungen des Atheners wird dies noch deutlicher werden. Ohne Zweifel ist das Vorbild der ägyptischen Priesterkaste auf Piatons Gedanken von größtem Einfluß gewesen. Dieser Behörde haben also die heimgekehrten Forscher ihre Reiseergebnisse vorzutragen. W e n n sie auf ihren Fahrten nicht besser oder klüger geworden sind, als sie vordem waren, wird die Behörde immerhin ihren guten Willen lobend anerkennen; wer aber wertvolle Kunde und neue Einsichten überbringt, soll mit allen E h r e n aufgenommen werden. Dem, den der Aufenthalt in der Fremde verdarb, ist bei Todesstrafe zu untersagen, von seiner Weisheit öffentlich Gebrauch zu machen. Fremden Reisenden wird der Staat eine freundliche A u f n a h m e bereiten. Der Athener teilt diese F r e m d e n in vier Klassen ein: reisende Kaufleute, Vergnügungsreisende, Gesandte anderer Staaten und gelehrte Forscher. Für die fremden Kaufleute, die alljährlich ebenso regelmäßig eintreffen wie die Zugvögel, wird die Fremdenpolizei anständige Herbergen außerhalb der Stadt 162

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einrichten. Sie wird ihnen jeglichen Rechtsschutz gewähren, aber darauf achten, daß sie sich der Anpreisung politischer Neuerungen enthalten. Indessen soll sie den Fremden nur die notwendige Aufmerksamkeit zuwenden und jeden näheren Verkehr mit ihnen vermeiden. Die zweite Klasse der Fremden pflegt sich überall einzustellen, wo es Festspiele und andere Sehenswürdigkeiten gibt. Die Fürsorge für diese Gäste wird den Priestern und Tempeldienern anvertraut. Sie werden dafür sorgen, daß die Reisenden gute Gasthäuser in der Nähe der Tempel finden, daß sie alles sehen, was sie interessiert, und daß sie nach Ablauf einer schicklichen Zeit wieder abreisen. Kleine Rechtstreitigkeiten der Fremden sind durch die Priester zu schlichten, größere durch die Marktaufseher zu entscheiden. — Gesandte erhalten Privatquartier bei einem der obersten militärischen Befehlshaber. Ihre Versorgung ist ausschließlich Sache ihres Gastgebers und der Prytanen (der Häupter des Rates) — anscheinend soll ein unerwünschter Verkehr der Gesandten mit Unberufenen verhindert werden. — Vollständige Bewegungsfreiheit erhalten ernste und gereifte Männer, falls je ein solcher zu uns kommen sollte, um zu schauen, was unsern Staat auszeichnet, und um uns sein Wissen mitzuteilen. Ihm, als einem ebenbürtigen Weisen, sollen die Häuser der reichsten und weisesten Bürger offenstehen, zu seinem Gastfreunde mag er sich den Vorsteher des Erziehungswesens oder einen der Männer wählen, die mit dem Tugendpreise ausgezeichnet wurden. In belehrenden Gesprächen mit den vorzüglichsten Männern der Stadt möge er sich deren Freundschaft gewinnen; bei seiner Abreise reiche man ihm Gastgeschenke und bereite ihm einen ehrenvollen Abschied. So soll unser Staat die Gebote des Zeus, des Schützers der Fremden, erfüllen, und nicht, wie die finsteren Aegypter, den Fremden die Nahrung verweigern oder sie mit Ausweisungen und brutalen Verordnungen bedrohen. — Piaton spricht hier etwas pro domo, er gedenkt offenbar seiner eigenen Wanderjahre. —

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Das nächste Kapitel enthält eine lange Reihe einzelner Gesetze; der Athener hält, wenn man so sagen darf, eine legislatorische Nachlese, um das materielle Recht endgültig abzuschließen. — Die Bürgschaft bedarf der Beurkundung durch einen genauen schriftlichen Vertrag, zu welchem je nach der Höhe des Objektes 3—5 Zeugen hinzuzuziehen sind. Wie der Bürge haftet ein Kommissionär, der im Auftrage eines unzuverlässigen Besitzers eine Sache verkauft. — Private Haussuchungen auf eigene Hand werden, der athenischen Rechtssitte gemäß, unter gewissen Kautelen zugelassen und durch eingehende Bestimmungen geregelt. — Hierauf folgt eine ausführliche, sehr kasuistische Verordnung über die Ersitzung und über die Verjährung

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von Eigentumsklagen. — Das nächste Gesetz behandelt zwei Fälle der rechtswidrigen Nötigung; falls jemand durch Zwang verhindert wird, eine gerichtliche Klage durchzuführen oder an einem öffentlichen Wettspiel teilzunehmen, kann er den Täter gerichtlich belangen. — Wer gestohlenes Gut verhehlt, wird wie der Dieb bestraft, wer einen Verbannten heimlich aufnimmt, ist des Todes schuldig. — Wer mit einem kriegführenden Feinde einen Privatfrieden schließt, oder gegen einen fremden Staat eine Privatfehde beginnt, wird ebenfalls mit dem Tode bestraft. Desgleichen ein Beamter, der sich für eine Amtshandlung durch ein Entgelt bezahlen läßt, und zwar ohne Unterschied, ob die Handlung pflichtwidrig oder pflichtgemäß war. Den Schluß des Kapitels bilden zwei Sondergesetze: Die direkten Steuern bestehen entweder in einer Vermögensabgabe oder in einer Abgabe vom Ertrage der Landwirtschaft. Die Landaufseher sollen deshalb die Ergebnisse der Ernte alljährlich nach den Angaben der Phylen aufzeichnen, alsdann wird der Staat beschließen, ob für das abgelaufene Jahr die Ertragssteuer oder die Vermögenssteuer zu erheben ist. — Die den Göttern dargebrachten Weihgeschenke — die Abgaben an die Götter — sollen einfach und schlicht sein. Der Grund und Boden ist ohnehin den Göttern heilig und darf ihnen deshalb nicht noch einmal besonders geweiht werden. Ebenso unschicklich sind Gaben aus edlen Metallen, aus Eisen und Erz oder Elfenbein. Denn Gold und Silber erregen auch in Tempeln Neid und Begehrlichkeit, Eisen und Erz sind Werkzeuge des Krieges, und Elfenbein ist unrein, weil ein Tier um seinetwillen das Leben lassen mußte. Zulässig sind Geschenke aus Stein oder aus einer einzigen Holzart, ferner ungefärbte Gewebe, die nicht mehr als die einmonatige Arbeit einer Frau erfordern. Die angemessensten Weihgeschenke sind jedoch Vögel und kleine Bildchen, die ein Maler an einem Tage verfertigt hat120). Nach diesem Abschluß der materiellen Gesetzgebung kommt der Athener nochmals auf die Gerichtsverfassung zurück. (Vgl. VI, 13.) Die Gerichte der 1. Instanz sind Schiedsgerichte, deren Mitglieder von den Parteien gewählt werden, die Gerichte der 2. Instanz sind die Gerichte der Phylen, die 3. Instanz ist der Staatsgerichtshof, bestehend aus den „auserwählten" Richtern. Alle Klagen müssen — insoweit nicht ein anderes Gericht ausschließlich zuständig ist — zunächst vor einem Schiedsgericht verhandelt werden. Gegen die Urteile der 1. und 2. Instanz ist Berufung zulässig, indessen hat der unterliegende Berufungskläger seinem Gegner in jedem Falle einen bestimmten Prozentsatz der Klagforderung als Prozeßstrafe zu bezahlen. Ein Kläger, der erst in der 2. Instanz ein obsiegendes Urteil erstreitet,

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darf die Prozeßstrafe ebenfalls beanspruchen. — Die Bestimmungen über das Verfahren, über Termine und Fristen, über Schriftsätze und dergleichen will der Athener, wie er schon einmal (VI, 14) bemerkte, dem ferneren Ausbau der Gesetzgebung überlassen. Die Gesetzesverordnungen über die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden und über die Handhabung des öffentlichen Dienstes sollen gleichfalls nachgeholt werden, sobald die Hüter der Gesetze durch gesammelte Erfahrungen und durch das Studium bewährter Einrichtungen anderer Staaten befähigt sind, auch diese Fragen e n d g ü l t i g u n d u n a b ä n d e r l i c h zu regeln. Den Richtern macht der Athener das genaueste Studium der Gesetze zur Pflicht. Er schärft noch einmal ein, daß weder die Lehren der Dichter und Schriftsteller, n o c h d i e d u r c h S c h r i f t u n d W o r t ü b e r l i e f e r t e n w a n d e l b a r e n V o l k s a n s c h a u u n g e n , sondern allein die Gesetze bestimmen, was als Recht und Sitte anzuerkennen ist (vgl. IX, 4). Es soll nicht der Wert des Gesetzes nach jenen Meinungen beurteilt werden, vielmehr ist das Gesetz der Maßstab des Wertes und Unwertes aller anderen Anschauungen von Recht und Sitte, wenn anders das Gesetz göttlich und der Vernunft verwandt ist. So lautet Piatons Urteil in dem berühmten Streite zwischen Gewohnheitsrecht und Vernunftsrecht. Es ist bewundernswert, daß Piaton dieses Problem, dessen Tiefe erst im 19. Jahrhundert, durch Savignys Schrift „über den Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung", aufgedeckt worden ist, schon seinem Wesen nach erfaßt hat. Piatons Urteil ist gegen Savignys historische Rechtsschule ausgefallen, um so bemerkenswerter ist es, daß er deren fruchtbarsten Gedanken in der Erkenntnis des untrennbaren Zusammenhanges von Recht und Sitte vorwegzunehmen vermochte. Nachdem der Athener abermals an den Zweck der Strafe erinnert hat, die Bösen zu bessern, die Guten in ihren Vorsätzen zu bestärken, den Unverbesserlichen aber den Tod als das einzige Hilfsmittel angedeihen zu lassen, gibt er am Schlüsse dieser Rekapitulation einige rechtsgeschichtlich interessante Vorschriften über die Zwangsvollstreckung. Unmittelbar nach der Verkündung eines verurteilenden Erkenntnisses soll das Gericht durch den Herold ausrufen lassen, daß der Kläger in das Vermögen des Beklagten eingewiesen sei. Dieses gilt damit als zu Gunsten des Klägers beschlagnahmt. Wenn der Beklagte dem Urteil nicht binnen einer bestimmten Frist genügt, begibt sich das Gericht mit dem Kläger in das Haus des Beklagten und händigt ihm die der Zwangsvollstreckung unterworfenen Vermögensgegenstände des Schuldners aus. Wenn die Vollstreckung nicht zur Befriedigung 165

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des Gläubigers führt, darf der Schuldner, bis er alles bezahlt hat, keine gerichtliche Klage anstellen. Schuldner, die den erkennenden Richtern etwas entwenden (bedeutet wohl Schuldner, die beschlagnahmte Vermögensstücke beiseiteschaffen), werden mit dem Tode bestraft, weil derartige Handlungen die Staatsautorität völlig untergraben. Wie der Athener vorhin dem übertriebenen Luxus der Weihgeschenke zu steuern suchte, verbietet er auch den übermäßigen Aufwand in der Beisetzung der Toten. Der Kultus des toten Leibes war Piaton besonders zuwider. (Vgl. Phaedon, pag. 115 C—E). Der Athener weist nachdrücklich darauf hin, daß nur der Seele Ehrfurcht gebührt. Die Aufmerksamkeit, die man an Tote verschwendet, soll man lieber den lebenden Seelen zuwenden, damit sie, frei von schwerer Schuld aus dem Leben scheidend, ihre nächste Wanderung zuversichtlich antreten können. Der tote Leib, der ein bloßes Werkzeug der Seele war, ist nichts mehr wert und nur noch ein Idol des abgeschiedenen Menschen. — Der Athener verordnet zunächst* daß Grabstätten nur auf unfruchtbarem, zur Bestellung ungeeignetem Lande angelegt werden dürfen, denn die Toten sollen den Lebenden die Gaben der nahrungsspendenden Mutter Erde nicht entziehen. Sodann schränkt er die Höhe der Grabhügel und die Größe der Grabsteine ein, diese sollen nur so groß sein, daß sie vier Verszeilen aufnehmen können. Ferner soll die Aufbahrung der Leiche im Trauerhause nur zwei Tage währen. Der Aufwand für eine Bestattung darf, wenn der Tote der ersten Vermögensklasse angehörte, fünf Minen nicht übersteigen, für die unteren Schätzungsklassen gelten entsprechend niedrigere Sätze. Die Beisetzungen haben so früh stattzufinden, daß der Trauerzug schon vor Tagesanbruch die Stadt verlassen hat. Den Toten mag man daheim beweinen, während des Zuges durch die Stadt ist jegliche laute Klage verboten 121 ). Die Aufsicht über die Bestattung führt ein von den Verwandten des Toten zu wählender Hüter der Gesetze. Dieser ist für die Einhaltung der gesetzlichen Normen verantwortlich, Ungehorsame hat er seiner Behörde zur Bestrafung anzuzeigen.

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Mit diesem Gesetz über die Toten erklärt der Athener das Werk der Gesetzgebung für endgültig abgeschlossen. Um eine Aufgabe vollständig zu lösen, sei es aber nicht genug, etwas getan und begründet zu haben, sondern man müsse, um ganze Arbeit zu leisten, auch noch für die dauernde Erhaltung des Geschaffenen Vorsorge treffen. So vollendet die Schicksalsgöttin Atropos das Werk ihrer Schwestern Lachesis und Klotho, indem sie den von ihnen gesponnenen Schicksalsfäden die Unabänderlichkeit verleiht 122 ). Wenn es uns nicht gelingt, unseren Gesetzen dieselbe Unwandel-

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Der Abschluß

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barkeit zu sichern, ist unsere Mühe vergeblich gewesen. Diese Aufgabe wollen wir dem nächtlichen Rate zuweisen, den wir zum Schutz unserer Gesetze berufen haben. Der Athener setzt die im Kapitel 6 vorgetragene Organisation des Rates nochmals gründlich auseinander und fährt, Gleichnis auf Gleichnis häufend, fort: Diese Behörde soll der feste Anker des Staates sein. W i e im Kopfe des Menschen Seele, Vernunft und Sinne zur Einheit werden, die das von ihr geleitete Wesen erhält, soll dieser Rat das höchste Organ des Staates sein; er soll dessen Verfassung, wie der Seemann sein Schiff, mit sicherer Hand unversehrt durch alle Stürme hindurchführen. W a s verleiht dem Feldherrn die siegende Kraft, dem Arzte die Kunst, die Gesundheit des Leibes zu erhalten? Außer einem gründlichen Wissen allein die sichere Erkenntnis des Zieles! Nicht minder muß der Staatsmann das höchste Ziel der Staatsweisheit erkannt haben, wenn er seines Namens würAA dig und ein Erhalter des Staates sein will. W e n n es freilich einem -l Staate an Männern fehlt, die das Ziel und die dorthin führenden Wege kennen, wird er so planlos handeln, wie ein Mensch ohne Vernunft und Sinne. Auch solche Staaten haben zwar sogenannte Ziele, auf die sie die Gesetzgebung einstellen. Einigen kommt es nur darauf an, daß in ihnen eine bestimmte Partei herrsche, einerlei, ob ihr die besseren oder die schlechteren Bürger angehören. Andere wollen möglichst reich werden, gleichviel ob als freie Männer oder als Sklaven; andere erklären die Freiheit für das höchste Gut, andere wollen selbst frei sein, aber fremde Staaten unterjochen. Die sich am weisesten dünken, verfolgen mehrere heterogene Zwecke zugleich, ohne zu wissen, was das eigentliche Ziel ihres Wollens ist. Kleinias, der bis dahin der Auseinandersetzung nur halbwegs zu folgen vermochte, gerät hier auf einen glücklichen Gedanken. E r entsinnt sich, daß zu Anfang des Dialoges die Tugend als das Ziel der Gesetzgebung bezeichnet worden war. Es sei von vier Tugenden die Rede gewesen, als die erste unter ihnen sei die Vernunft anerkannt worden. — Dann wollen wir, erklärt der Athener, die politische Vernunft befragen, ob sie in der Auffassung ihres Zieles ebenso sicher ist, wie die Vernunft des Feldherrn und die des Arztes. W i r unterschieden vier einzelne Grundgestalten [eldt]) der Tugend, benannten sie aber zusammenfassend mit einem und demselben Namen: die Tugend. W o r i n sich die Tugenden von einander unterscheiden und darum gesondert nebeneinander stehen, ist leicht zu sagen. So besteht z. B. der Unterschied zwischen Einsicht ((pgovrjois) und Tapferkeit in Folgendem: Gegenstand der Tapferkeit ist die Ueberwindung der Furcht. Auch Tiere und Kinder können diese Tugend besitzen, denn eine tapfere Seele ist schon von

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Natur tapfer, bedarf also der vernünftigen Erwägung (Myog) insoweit nicht1®3). Einsicht und Vernunft sind dagegen nicht zu trennen. Schwieriger ist der Nachweis, d a ß die Tugenden dennoch eine Einheit bilden. Hier müssen wir den Erklärungsgrund aufzeigen, der uns berechtigt, ihnen allen denselben Namen „Tugend" beizulegen (vgl. X, 7). Diesen Nachweis müssen sowohl die Gesetzgeber, wie die Hüter der Gesetze und die Träger des Tugendpreises beibringen können 124 ). Wenn sie nach ihren Anschauungen über Tapferkeit, Besonnenheit, Einsicht, Gerechtigkeit ihre Belehrungen und Strafen austeilen, durch Lob und Tadel festsetzen, was als schön oder als häßlich zu gelten hat, so müssen sie das Wesen der Tugend und des Lasters begriffen haben. Sonst sind sie Staatsmänner gewöhnlichen Schlages, nicht besser als die Dichter, die von der Tugend singen. Jedenfalls würden wir sie nicht mehr e i n e m l e i t e n d e n H a u p t e vergleichen dürfen. In der Politeia hatte Piaton eine Dreiteilung des Staates in die Regenten, deren kriegerische Helfer und die Masse des Volkes vorgenommen, parallel hiermit lief eine Dreiteilung der Seele in Vernunft, Wille, Begehrungsvermögen. Einem ähnlichen, aus dem Timaios übernommenen Gedanken folgend, vergleicht der Athener den Staat mit einem Leibe, in dessen H a u p t e die Vernunft mit Hilfe scharf auffassender Sinne gebietet. Die nach allen Seiten ausschauenden Sinne werden d u r c h die jungen Mitglieder des nächtlichen Rates, der Leib durch die Volksmasse repräsentiert; die Alten üben die Funktion der Vernunft aus, gestützt auf die W a h r n e h m u n g e n ihrer jungen Helfer. Das Zusammenwirken beider erhält den Staat. Sie müssen also eine vorzügliche Ausbildung erhalten, damit sie, wie ein tüchtiger Meister die Vielheit der Teile eines Kunstwerkes nach einem Grundgedanken zur Einheit gestaltet, das Eine aufzufinden vermögen, das nottut. Das bedeutet: sie müssen fähig sein, in der Vielheit des Ungleichartigen d i e e i n e I d e e zu schauen. Um den Sinn dieses Ausspruches zu verstehen, müssen wir abermals auf die Politeia zurückgreifen. Dort hatte Piaton in den tiefsinnigen Ausführungen des 6. und 7. Buches d i e I d e e d e s G u t e n als das höchste Ziel der menschlichen Erkenntnis aufgestellt. Nur der königliche Weise, der dieses Ziel erreicht und sich außerdem im Kriege wie im Frieden als treuer Diener des Staates bewährt hat, ist zu dessen Leitung berufen. Unter der Idee des Guten, welches als geheimnisvolle göttliche Kraft alles Ideale durchdringt, ihm W ü r d e und Wert verleiht, hatte Piaton alle Ideen zu einer höchsten Einheit zusammengeschlossen. Dem entspricht die Lehre des Atheners: In

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den vier Tugenden der Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit, Einsicht sollen die Hüter unserer göttlichen Verfassung das Eine, allen Tugenden Gemeinsame, überall Identische, erforschen. Nur Auserwählten, heißt es im SchluBkapitel des Werkes, die zu dieser Aufgabe geistig und sittlich reif geworden sind, dürfen wir die Erhaltung des Staates und seiner Verfassung anvertrauen. Der Athener gelobt, nicht eher zu ruhen, bis eine hinreichend deutliche Erklärung dieses Einen gefunden sei136). Bis dahin werde niemand mit Bestimmtheit angeben können, ob die Tugend eine Einheit, eine Viel41~\ heit oder eine Vierheit sei. — Ebenso müssen die Hüter der Gesetze wisO sen, inwiefern das Schöne und das Gute verschieden und dennoch eines sind; überhaupt müssen sie eine vollständige Einsicht in das Wesen aller hohen Dinge besitzen, sie werden sonst niemals zu erklären vermögen, warum eine Tat schön oder nicht schön ist. Vor allem muß ihnen das herrlichste Wissen zu eigen sein: daß es in Wahrheit Götter gibt, die über den Geschicken der Sterblichen walten. W a s d i e M e n g e a n b e l a n g t , m a g es g e n ü g e n , d a ß s i e e i n f a c h d e n W o r t e n d e s G e s e t z e s f o l g t ; unter den Hütern des Gesetzes darf jedoch keiner sein, der sich nicht durch ein gewissenhaftes Studium von der Wahrheit unserer Götterlehre überzeugt hat. Nach unserer Lehre ist die Seele das erhabenste und göttlichste aller Dinge: nachdem sie in das Werden eingetreten ist, gestaltet ihre Bewegung das immerwährende Sein; durch die göttliche Vernunft schuf sie die ewige Ordnung des Kosmos 1 "). Wer das All nicht mit blöden Augen schaut, wird niemals so gottverlassen sein, sich einem rohen Unglauben hinzugeben. Die Menge wähnt zwar, daß das Studium der Astronomie und der Mathematik den Glauben an die Götter zerstöre und nur den Glauben an das Walten einer blinden Notwendigkeit zulasse, aber damit verhält es sich gerade umgekehrt 127 ). Freilich gibt es Forscher (Anaxagoras), die, von Bewunderung über die Gesetzmäßigkeit des Laufes der Sterne erfüllt, zwar recht wohl einsahen, daß tote Körper niemals eine solche mathematisch genaue Ordnung schaffen konnten und .deshalb die Vernunft zur Ordnerin des Alls erhoben. Sie verkannten jedoch das Wesen der Seele, ihren Vorrang vor dem Leibe. So behaupten sie, daß die Seele jünger sei als der Leib, und sehen in den Himmelskörpern nichts als tote Massen. Dadurch haben sie alle Arten des Unglaubens gesät und die Wissenschaft so in Verruf gebracht, daß Dichter es wagen können, die Philosophen mit zwecklos bellenden Hunden zu vergleichen. Um zu einer festbegründeten Frömmigkeit zu gelangen, genügt es freilich nicht, die Vernunft als die Lenkerin der Gestirne anzuerken-

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nen, man muß außerdem noch die zwei Wahrheiten eingesehen haben: daß die Seele unter allem, was ins Werden trat, das älteste ist, und daß sie als unsterbliches Wesen alle Körper beherrscht 128 ). Um dies von Grund aus zu verstehen, muß man zunächst die notwendigen Vorkenntnisse in sich aufgenommen haben. Der wissend Gewordene wird dann den inneren Zusammenhang aller musischen Weisheit entdecken und schließlich zu der Einsicht gelangen, daß das Sittengesetz und die Gesetze der Menschen nur Teile des Ganzen und aus ihm abzuleiten sind129). Diese Erkenntnisse müssen das Gemeingut der Mitglieder des nächtlichen Rates werden. Zu ihnen dürfen wir deshalb nur Männer bestellen, die einer solchen Bildung fähig sind, überdies müssen sie sich in allen bürgerlichen Tugenden hervorgetan haben. Wir alle werden uns wetteifernd bemühen, zu diesem Ziele zu gelangen; vielleicht werde ich euch einige tüchtige Helfer zuführen können, da ich mich mit diesen Problemen lange beschäftigt und eine große Erfahrung gewonnen habe. Ein abschließendes Gesetz über den nächtlichen Rat und dessen Vollmachten wollen wir erst erlassen, wenn er zusammengetreten ist. Eine Liste der Männer, die der Aufnahme würdig sind, muß baldigst aufgestellt werden. Inzwischen möge die Lehre ihren Fortgang nehmen, ihr Vortrag ist allerdings nicht leicht, unmöglich ist es zumal, im voraus einen genauen Studienplan aufzustellen. Alles das muß einstweilen unausgesprochen bleiben. So wollen wir denn, schließt der Athener, den großen Wurf wagen, den Staat der Magneten180) zu gründen. Das Wagnis ist nicht gering, aber nicht gering ist auch der Lohn des glücklichen Gelingens. Du, mein Kleinias, wirst als der Gründer des neuen Staates unsterblichen Ruhm ernten, zumindest wirst du von den Nachkommen als der tapferste aller Männer gepriesen werden. Wenn wir unsern Staat in die Hut des göttlichen Rates gegeben haben, wird das, was uns unlängst noch ein Traum zu sein schien, zur Wirklichkeit geworden sein. Dann werden bessere Hüter, als sie je ein Staat besaß, in die Akropolis der Stadt einziehen, um dort, auf hoher Warte, ihres Amtes zu walten. Megillos erklärt: Aus allem, was wir gehört haben, scheint mir hervorzugehen, daß du, Kleinias, entweder unsern Freund um jeden Preis zum Mitgründer deiner Kolonie gewinnen, oder das Unternehmen aufgeben mußt. — So ist es, versetzt Kleinias, vereinige du deine Bitten mit den meinigen. — Das soll geschehen! verspricht Megillos.

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Epinomis Der Anhang zu den Gesetzen, die sogenannte Epinomis, ist von dem Herausgeber des posthumen Werkes, dem Platoniker Philippos, verfaßt worden. Inwieweit Philippos mündliche Lehren oder Aufzeichnungen Piatons, etwaige Paralipomena zu den Gesetzen oder dergleichen, benutzt haben mag, muß dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist seine Arbeit nicht sehr bedeutend ausgefallen. Nach Epigonenart kultiviert Philippos gerade die Schwächen seines Meisters: die Pythagoreische Zahlenmystik (V, 8, 11, 16; VI, 15) und die Astralgeister (X, 9) erregen sein besonderes Wohlgefallen und geben ihm den Stoff zu einer ziemlich unfruchtbaren Geheimlehre. Sein Versuch, den gravitätischen Altersstil Piatons nachzuahmen, ist mißlungen. Daneben wird mehreres wiederholt, was Piaton selbst schon hinlänglich breit ausgeführt hatte. Eine kurze Uebersicht über den Inhalt der Epinomis wird ausreichen. Philippos läßt die Personen des Dialoges noch einmal zusammenkommen. Motiviert wird die Zusammenkunft dadurch, daß das wichtigste Problem noch ungelöst sei: die Frage nach der höchsten, einzig echten Weisheit sei noch nicht beantwortet worden. Das ist, wie wir gesehen haben (XII, 12, 14), formell richtig, den versteckten Hinweis, daß die Lösung des Problems in der Politeia und in den Gedankengängen des Timaios zu suchen sei, hat Philippos anscheinend nicht verstanden. — Der Athener bemüht sich zunächst in einer langwierigen Auseinandersetzung um den Nachweis, daß in den praktischen Wissenschaften, Künsten und Gewerben keine wahre Weisheit anzutreffen sei. Deshalb sei das menschliche Dasein, abgesehen von einer kurzen Zeitspanne um die Lebensmitte, so mühselig und elend, daß nur ein Tor wünschen könne, es noch einmal zu durchleben. Als ein sicherer Trost bleibe nur die Hoffnung auf eine glücklichere Existenz nach dem Tode übrig. Glücklich sind allein die wenigen Wissenden, die der wahren Weisheit teilhaftig geworden sind. Diese hat uns die Gottheit in der Zahlenlehre überliefert. Ohne die Zahl würde die Vernunft, die Quelle der Tugend, ein toter Besitz sein. Die Zahl erschließt uns die göttlichen Wunder des Himmels und f ü h r t uns dadurch zur Gottheit zurück. Hierauf folgt eine in der Hauptsache dem Timaios entnommene Lehre vom Ursprung der Götter und der lebenden Wesen. Sie gehen aus der Vereinigung der Seele mit den Elementen hervor. Zu den von Piaton genannten vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde tritt als fünftes der Aether hinzu. Hieraus ergeben sich fünf Klassen beseelter Wesen. Das Grundelement der Menschen, Tiere und Pflanzen ist die Erde, an den reinen Elementen haben sie nur geringen Anteil. Aus dem Feuer entstehen die Gestirne; daß sie göttlichen Wesens sind, wird ausführlich dargelegt 131 ). Diese feurigen Astral171

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götter nehmen den höchsten Rang ein, an zweiter Stelle stehen die unsichtbaren ätherischen Gottheiten. Zu ihnen rechnet der Athener die olympischen Götter, insoweit sie nicht als Astralseelen zur obersten Klasse gehören. Zwischen den Göttern und Menschen stehen die Luftgeister, unsichtbare Dämonen, gütige Mittler zwischen Gottheit und Menschheit. Die Wassergeister sind ein halbgöttliches Geschlecht, teils sind sie unsichtbar, teils erscheinen sie in nebelhaften Gestalten. Hieran schließt der Athener eine Beschreibung des planetarischen Reiches der feurigen Himmelsgötter. In die Planeten werden Sonne und Mond eingeordnet, sie allesamt umkreisen die Erde in acht Sphären. Der Athener bemerkt, daß die Astronomie in den Ebenen Syriens (Chaldaeas) und Aegyptens entstanden sei, wo die Pracht des nächtlichen Himmels in der beständig klaren Wüstenluft den Geist des Menschen zuerst zur Betrachtung der Wunder der Sternenwelt emporgezogen habe. Auch hier falle den durch ihr gemäßigtes Seeklima begünstigten Hellenen die Aufgabe zu, das von den Barbaren Begonnene zu vollenden, das von ihnen Uebernommene zu einer reineren Lehre auszugestalten. Dies wird in den letzten Kapiteln näher ausgeführt. Die Astronomie bedarf der Zahlenlehre, beide Wissenschaften führen zur Gottheit, denn die geheimnisvolle Harmonie der Zahlenverhältnisse, die wunderbaren Zusammenhänge in allen mathematischen Wissenschaften bezeugen deren göttlichen Ursprung. Diese Einsicht ist die höchste Weisheit, sie ist die Grundlage der Erkenntnis des Sittengesetzes und der Tugend und damit auch des Lebensglückes, das nur dem Tugendhaften beschieden ist. Auf dieser Wissensbahn sollen die zu Mitgliedern des nächtlichen Rates Erkorenen in methodischer Folge Schritt für Schritt zu ihrem höchsten Ziele emporgeführt werden.

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ANMERKUNGEN TSS. 8] *) Nach Piatons Auffassung muß das wahrhaft Gute stets mächtiger sein, als das Schlechte. Wenn in einem einzelnen Falle das Schlechte siegt, so ist das Unterlegene entweder n u r scheinbar gut gewesen, oder nur vorübergehend unterdrückt worden. a [S.. io] ) Das Ziel der göttlichen Gesetzgebung ist die sittliche Vollendung, der Zweck der menschlichen Gesetzgebung der Gewinn realer Güter. In diesem Zusammenhange ist zu beachten: Der griechische Ausdruck ägerrj — Aretö — k a n n im Deutschen leider nur mit dem abgegriffenen Moralwort „Tugend" wiedergegeben werden. Indessen erstreckt sich der Inhalt des griechischen Begriffes sehr viel weiter. Alle sittlichen, geistigen, körperlichen Vorzüge, jegliche Tüchtigkeit, galten den Griechen als Arete. So redet Piaton von der Aret6 der Augen und Ohren, der Pferde und Hunde (Politeia I, 353 B, 335 B), ja sogar von der Aret6 einer Heilquelle (Kritias 117 A). In den „Gesetzen" herrscht allerdings der ethische Sinn des Wortes durchaus vor, jedoch spielen die Nebenbedeutungen, wie mitklingende Töne, immer mit hinein. Uebrigens hat unser Wort „Tugend" (taugenl) ursprünglich fast dieselbe Grundbedeutung wie Aretö gehabt und ist erst im Laufe des Mittelalters zu einem rein ethischen Begriffe geworden. (Vgl. Güntert, Der arische Weltkönig, S. 107.) [S.. io] *) Die ersteren führen die Regierung, die letzteren sind die Träger der vollziehenden Gewalt (vgl. XII, 12). — Den Unterschied zwischen Wissen und Meinung erläutert Piaton am deutlichsten in der Politeia, V, 20—22. — In den „Gesetzen" entspricht der Ausdruck äXtj&rjs . n ] *) Vgl. Laches, Kap. 17 ff. [S.l. 13] 5) Als Piaton dies schrieb, war die Schlacht bei Leuktra geschlagen, in der die Spartaner ihre schwerste Niederlage erlitten hatten. [Sj. 15] *) Ob diese letzte Bemerkung ironisch ist, mag dahingestellt bleiben. [Si. 19] *) Vollendet schön gibt Nietzsche diesen Gedanken wieder (Geburt der Tragödie, I, 24 der ersten Gesamtausgabe): „Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die . . . Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen." 9 (SJ. 19] ) Daß Piaton in dem Drange nach Bewegung das d i o n y s i s c h e , in dem natürlichen Sinne f ü r Rhythmus und Harmonie das a p o l l i n i s c h e Element der Kunst sieht, wird im Fortgange der Darstellung deutlicher werden. IS>. so] •) Vgl. mit dem Folgenden Richard Wagner: Oper und Drama. Obwohl

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Piaton u n d W a g n e r von sehr verschiedenen Zeitverhältnissen ausgingen, sind sie dennoch in allem Wesentlichen zu denselben Ergebnissen gelangt. 10 ) Die hier aufgestellte Idee einer h i e r a t i s c h e n K u n s t ist gegen E n d e des 19. J a h r h u n d e r t s von der Beuroner Malerschule wieder aufgen o m m e n worden. Es ist sehr bemerkenswert, daß diese ebenfalls auf ägyptische Vorbilder zurückgeht. (Vgl. Pöllmann, Vom Wesen der hieratischen Kunst, Beuron 1905.) 11 ) Nach Piatons L e h r e verderben die Güter den Bösen noch mehr, weil sie ihn in seinem schlechten W a n d e l bestärken, w ä h r e n d die Uebel ein wirksames Mittel sind, u m i h n zur Besinnung und zur Besserung zu f ü h r e n . 1S ) In diesem Satz liegt ein starker Rückschritt gegen die Ethik, die Piaton in der Politeia begründet hatte. Dort lautete seine Lehre, daß m a n das Gerechte u m der Gerechtigkeit willen zu t u n habe, o h n e alle Rücksicht auf Lust oder Schmerz oder irgend welche Folgen. In der gesperrten Stelle a m Schlüsse des vorigen Kapitels klingt diese kategorische Forderung noch einmal an. 1B ) Auffallend ist die Uebereinstimmung dieser Stelle u n d des Folgenden mit dem ethischen Relativismus Nietzsches, vgl. bes. „Der Wille zur Macht", IV. Buch, 6. Abschnitt. 14 ) Die Berechtigung des Gesetzgebers zur Lüge wird in der Politeia II, 21; III, 3; III, 21 deduziert. — Nietzsche (Wille zur Macht): „Ein Erzieher sagt nie, was er selber denkt: sondern immer nur, was er im Verhältnis zum Nutzen dessen, den er erzieht, über eine Sache denkt. In dieser Verstellung darf er nicht erraten werden, es gehört zu seiner Meisterschaft, daß m a n an seine Ehrlichkeit glaubt." 16 ) Die Stelle erinnert an die bekannten Verse Goethes: „ J u g e n d ist T r u n k e n h e i t o h n e Wein, T r i n k t sich das Alter wieder zur Jugend, So ist es wundervolle Tugend." 16 ) ÖQ&dxrjS. Dieses W o r t ist auch hier schwer wiederzugeben; gemeint ist, wie sich aus dem Folgenden ergibt, die Uebereinstimmung des Gegenstandes mit objektiv gültigen Gesetzen, im Gegensatz zu dem subjektiven Element des Reizes und der Lust. 17 ) W a s Piaton unter der n a c h a h m e n d e n Kunst versteht, wird im 10. Buche der Politeia a u s f ü h r l i c h besprochen. 18 ) Hier scheint der a n sich falsche Satz, daß alle Kunst lediglich Nacha h m u n g sei, einen tieferen Sinn zu gewinnen. Der Grundgedanke Piatons ist, daß es a u c h in der Aesthetik objektiv gültige Gesetze geben müsse, w ä h r e n d die Lustempfindungen des einzelnen Beschauers subjektive,

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zufällige, für eine tiefere Betrachtungsweise nahezu unwertbare Erscheinungen seien. Wörtlich: wie gut ein jedes Abbild durch Worte, Tonweisen und Rhythmen ausgeführt ist. Der Sinn des griechischen Wortlautes ist wegen der Vieldeutigkeit der Platonischen Termini nur durch eine Umschreibung wiederzugeben. Der tiefere Sinn dieses Paradoxon scheint zu sein, daß die eigentliche Schönheit eines Kunstwerkes ihren Grund im Irrationalen, Unbewußten hat, worüber der Künstler selbst sich keine Rechenschaft zu geben vermag. Man entsinne sich, daß Goethe nahe daran war, das Manuskript seines Werther zu verbrennen, weil er ein kurzes Wort Mercks über den Roman mißverstanden hatte! Tout comme chez nous: man hat hier das Bild des Silentium gebietenden, den Salamander kommandierenden, die Lieder anstimmenden und die Widerspenstigen in Verruf steckenden Seniors einer Studentenkneipe fast greifbar deutlich vor Augenl Ich möchte hier noch kurz auf eine andere Möglichkeit der Deutung des „höchsten dionysischen Gutes" hinweisen: Kann Piaton hier den rauschartigen Zustand der E k s t a s e gemeint haben, worin der Mystiker, von allen Fesseln des Denkens mitsamt dessen Grundform Objekt und Subjekt losgelöst, die Wahrheit zu schauen glaubt? Zur Unterstützung dieser Vermutung wäre allenfalls auf die bedeutsame Stelle im 7. Platonischen Briefe hinzuweisen (pag. 341 C ff.), wo Piaton das blitzartige Aufleuchten einer höchsten, durch Wort und Begriff nicht mitteilbaren Erkenntnis prachtvoll schildert. Es würde durchaus nicht befremdend sein, wenn Piaton, wie viele andere große Denker und Künstler, im hohen Greisenalter mystischen Erfahrungen zugänglich geworden wäre.

) Die Gymnastik wird erst im 7. Buche nachgeholt. ) Piaton knüpft hier an die Sage von der Deukalionischen Flut an, der nur ein Menschenpaar, Deukalion und Pyrrha, entrann. Der Sinn dieser Katastrophentheorie — die Piaton schon im 3. Kapitel des Timaios ausführlich dargestellt hatte — ist, daß von Zeit zu Zeit ein völliger Untergang der Menschheit stattfindet, aus welchem sich stets wieder d i e s e l b e Kultur aufs neue entwickelt. Also eine ewige Wiederkehr desselben Werdens. (Nietzsche! ) [S. 34] 26) Dem Piaton schwebt offenbar die homerische Schilderung des zuchtlosen Treibens der Freier der Penelope vor. Wie wahr ist seine Bemerkung, daß die Abwesenheit der im Kriegsheer vereinigten besten Elemente des Volkes während eines langen Krieges den Verfall der Sitten in der Heimat zur Folge haben muß! 24

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) Die mythische Fabel, daß die Dorier ihre ursprünglichen Stammsitze in den eroberten Teilen des Peloponnes gehabt hätten, geht auf die Sage von der Vertreibung der Heräkliden durch Eurystheus, den schlimmen Vetter des Herakles, zurück. Die F ü h r e r des Dorischen Zuges nannten sich Heräkliden und nahmen das E r b e ihres Ahnherrn für sich in Anspruch. E s scheint also in den ältesten Zeiten schon der Brauch bestanden zu haben, Eroberungskriege durch einen Rechtstitel zu beschönigen.

) Diese Bemerkung ist nicht unhistorisch. Nach Curtius (Griechische Geschichte I, 68 f.) erstreckte sich die Herrschaft der Assyrer nicht nur über Lydien, sondern auch auf das Gebiet der troischen Dardaniden. [S. 38] 2 8 ) Aus der späteren Stelle IV, 6, pag. 715 A, scheint hervorzugehen, daß die im Gorgias, 484 B , zitierten Verse Pindars gemeint sind, worin der Dichter den Gedanken prägt: Die Macht schafft das Recht durch die Gewalt.

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) In Wirklichkeit handelte es sich um einen Aufstand der unterworfenen, auf das schwerste bedrückten Messenier gegen ihre spartanischen Herren. '") Dieser angebliche Eunuch war der sogenannte Pseudo-Smerdis, der sich für den ermordeten Bruder des Kambyses ausgab. E r wurde durch Dareios gestürzt. 81 ) Vgl. zum Folgenden Politeia IV, 4, wo Piaton die These begründet, daß alle Gesetzlosigkeit zuerst in der Musik beginnt. Der Sinn dieses scheinbaren Paradoxon ist, daß alle Revolutionen ihren Ursprung im geistigen Leben haben, daß sie dort beginnen, wo das Geistige seine feinsten Blüten treibt, von dort aus die alte Kultur auflösen und zuletzt die Staatsverfassung umstoßen. 82 ) v6[ios: das W o r t bedeutet Gesetz u n d Sanges weise. " ) Die ausgewanderte Urbevölkerung wird an einer späteren Stelle (pag. 848 D) mit dem Namen „Magneten" bezeichnet. E i n Volksstamm dieses Namens soll zu alten Zeiten in Kreta ansässig gewesen sein. E s scheint hieraus, sowie aus anderen damit übereinstimmenden Andeutungen hervorzugehen, daß die Kolonie auf Kreta selbst gegründet werden soll. I m Folgenden nennt der Athener die Kolonie zuweilen geradezu den Staat der Magneten.

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) Man kann sich den Sinn dieser Auseinandersetzung durch einen Blick auf den Verlauf der römischen Geschichte deutlich machen. Als Rom im ersten punischen Kriege zur Seemacht wurde, bahnte es sich dadurch den Weg zur Weltherrschaft, aber mit dem Beginn der überseeischen Aera setzte sofort auch der Verfall der altrömischen Sittenstrenge ein. Ebenso hat die Herrschaft über die Meere das ritterliche Altengland der Shakespearschen Königsdramen in ein Händlervolk umgewandelt.

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} Diese Stelle ist f ü r die Biographie Piatons von Bedeutung. Piaton verrät hier das Motiv, das ihn dreimal, trotz schlimmer E r f a h r u n g e n , a n den syrakusischen Tyrannenhof trieb. — Nach der vernichtenden Kritik alles tyrannischen Wesens in der Politeia berührt es eigenartig, daß Piaton an dieser Stelle die Möglichkeit einer wohltätig wirkenden Tyrannis einräumt. [S. 47] 38) „Es sind die Herrschenden, die den Begriff „gut" bestimmen die Mächtigen sind es, welche zu ehren verstehen", lehrt Nietzsche. (Jenseits von Gut und Böse, 9. Hauptstück). [S. 49] 37) Wie stark erinnert diese Stelle an die Ethik Kants: das Sittengesetz ein Postulat der praktischen Vernunft! •— vgl. Politeia IX, 13. 38 [S. 50] ) So lautete die im ersten Buche der Politeia b e k ä m p f t e These des Sophisten Thrasymachos. [S 51] 39) Ein orphischer Vers: „Anfang u n d Mitte ist Zeus, aus i h m ist alles erschaffen." [S. 51] 40) Den Ausspruch des Protagoras, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei, kritisiert Piaton eingehend im Theaetet, Kap. 16 ff. [S. 51] 41) Ueber Dämonen und Heroen siehe Rohde, Psyche (3. Aufl.) I, 152 f. — Mit den Geboten der E h r f u r c h t vor Göttern und Eltern legt hier Piaton die Grundfesten des Baues seiner Gesetzgebung. „Kindesehrfurcht und Gehorsam sind die Wurzeln des Menschentums" lehrte, ganz in demselben Sinne, der große Gesetzgeber Confuzius. [S. 54] 42) Dies Letzte war spartanischer Brauch, vgl. Plutarch, Lykurgos, Kap. 15. [S. 56] 43) Ueberall ist hier das Sittengesetz gemeint. [S 58] 44) Aus diesem Grundsatz leitet Piaton später in zahlreichen Fällen eine gesetzliche Pflicht jedes Bürgers ab, begangenes Unrecht strafrechtlich zu verfolgen. Man beachte von vorneherein, daß es in Athen keine Anklagebehörde gab. Fast in allen Fällen trat deshalb eine Strafverfolgung, selbst schwerer Verbrechen, n u r dann ein, wenn ein Bürger aus eigener Initiative Klage erhob. Aehnliche Grundsätze galten bekanntlich ehemals im englischen Strafprozeß. (S. 58] 45) An der sokratischen Lehre, daß fast alles Unrecht aus Unwissenheit verübt wird, die durch Belehrung und Erziehung behoben werden k a n n , hat Piaton sein ganzes Leben hindurch unwandelbar festgehalten. 46 [S. 63] ) Piaton meint die Verfassung, die er in der Politeia dargestellt hatte. Vgl. zum Folgenden Politeia IV, 3 und V, 1 ff. [S. 64] 47 ) Der „dritte Staat" würde ein nach streng realpolitischen Grundsätzen eingerichtetes, von rein idealen Forderungen freies Staatswesen sein, siehe Einleitung, Seite 5. Eine solche Staatsordnung wird in den „Gesetzen" nicht dargestellt. 177

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) Diese dunkle Stelle geht, ebenso wie eine noch dunklere im Kap. 16, auf die Pythagoreische Zahlenmystik zurück. 49 ) i m Gegensatz zu dem wahren, inneren Reichtum. 60 ) Wie aus dem Folgenden hervorgeht, soll der Klasseneinteilung der Wert eines Landloses als Einheit zugrundegelegt werden. Die zu schätzenden Vermögen werden, je nachdem sie das Einfache, Doppelte, Dreifache, Vierfache dieser Einheit ausmachen, der entsprechenden Klasse zugeteilt. 61 ) Daß Piaton hier von der I d e e redet, der die Erscheinung niemals völlig adäquat sein kann, sagt er nicht ausdrücklich. 82 ) Wi e viele Jahrhunderte sind abgelaufen, bis durch das metrische System eine der Anforderung Piatons entsprechende Ordnung geschaffen wurde! — Der Text dieser ganzen Stelle — teilweise anscheinend verderbt — ist in seinen hier übergangenen Einzelheiten sehr dunkel, vgl. Anmerkung 48. 68 ) Die Wahlprüfung (doxi/iaala) war in den hellenischen Städten ein wichtiger Staatsakt. Sie bestand in einer genauen Untersuchung, ob der gewählte Beamte nach seiner Abstammung, seinem Alter, seinem Vermögen usw. den gesetzlichen Bestimmungen entsprach. Der Athener ordnet dieses Verfahren bei allen Wahlen an, die er in der Kolonie einzuführen gedenkt, was zur Vermeidung stereotyper Wiederholungen künftig nicht mehr in jedem einzelnen Falle besonders bemerkt werden wird. " ) Im Gorgias, Kap. 63, bezeichnet Piaton die wahre Gleichheit als die „geometrische", im Gegensatz zu der „arithmetischen". Jene teilt jedem das Seine zu, diese allen das Gleiche. 66 ) Mit dieser Vorschrift stimmen die Verordnungen des kanonischen Rechtes über die Qualifikation zum Priesteramte auffallend überein. «) Zum Münzwesen sei in Kürze folgendes erwähnt: Die (attische) Mine war der 60. Teil des Talentes, eingeteilt war sie in 100 Drachmen zu je sechs Obolen. Der Silberwert der Drachme betrug ungefähr 70 Pfennig, der Wert der Mine also gegen 70 Mark. Die Kaufkraft des Geldes war zu jener Zeit freilich sehr viel größer. " ) Diese Ausnahme gilt nur für die am Schlüsse des Werkes, XII, 6, eingeführte oberste Aufsichtsbehörde. 66 ) piaton erklärt sich also für das sogenannte inquisitorische Verfahren, wonach der Richter die Initiative für die volle Aufklärung des Streitverhältnisses zu ergreifen hat, im Gegensatz zum reinen Parteiverfahren, worin allein die Parteien das Wort führen, während der Richter schweigend zuhört. — Bekanntlich ist der moderne Strafprozeß nach dem Grundsatz des inquisitorischen Verfahrens eingerichtet, während im Zivilprozeß die Verhandlungsmaxime des Parteiverfahrens vorherrscht. 178

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) Piaton kommt am Schlüsse des Werkes, X I I , 8, darauf zurück. ) Der Gedanke ist sehr paradox. W e n n man ihn aber etwas erweitert: daß jeder große Maler eine Schule zurücklassen sollte, die sein L e b e n s w e r k weiterführt, ergibt sich ein guter Sinn. 8 8 ) E s ist die Tugend im Bunde mit der rechten Einsicht, siehe oben III, 8. 6 4 ) Dies wird hier nochmals mit Hilfe einiger Zahlenspielereien näher ausgeführt, vgl. oben V, 8, 11. 6 6 ) Das war spartanische Sitte. 6 6 ) Dies entsprach nicht dem in Griechenland — abgesehen von Sparta — herrschenden Brauche. Vielmehr wurden die Ehen von den Eltern des zu vermählenden Paares vereinbart, zumeist ohne daß sich die Verlobten vorher näher kennen gelernt hätten. Ebenso ungewöhnlich ist die Heraufsetzung des frühesten Heiratsalters auf das 30. Lebensjahr. 6 7 ) Diesen gegen die Ueberzüchtung einer Rasse gerichteten Gedankengang finden wir im Kap. 48 des „Staatsmann", schärfer und deutlicher ausgeprägt, wieder. Piaton hatte dort ausgeführt: Bei der Eheschließung handeln die Menschen zumeist ofine feste Grundsätze; sie folgen ihren Neigungen und suchen in der E h e nur ihr persönliches Behagen. So wählen die Friedfertigen ein ebensolches Weib und geben auch ihre Töchter nur einem Friedfertigen zur Ehe. Ebenso handeln die männlich Gesinnten, auch sie streben nach ihrer Art, während beide Teile das gerade Gegenteil tun müßten. Denn wenn sich Menschen des männlichen Typus Generationen hindurch ausschließlich miteinander paaren, so findet zwar zunächst eine Steigerung ihrer männlichen Eigenschaften statt, auf die Dauer artet jedoch das Geschlecht in Wildheit aus. Wenn andererseits die allzu friedlichen Seelen nicht von Zeit zu Zeit durch Mischung mit männlichem Wagemut aufgefrischt werden, so versinkt ihr Geschlecht allmählich in Trägheit und entartet schließlich ganz und gar.

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) Das Gericht ihrer Phyle, siehe den Schluß des Kapitels. ) E s versteht sich, daß das Recht, als Ankläger aufzutreten, auch hier jedem Bürger zusteht. Die Erhebung einer Anklage von Amtswegen sieht Piaton nur in einigen besonderen Fällen vor.

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) Diese letzte Verordnung entnimmt Piaton dem alten spartanischen Recht. Dort war auf den Ehebruch keine Strafe gesetzt, angeblich weil i m alten Sparta ein Ehebruch überhaupt nicht vorkam. Vgl. Plutarch, Lykurg, Kap. 15. [S. 91] 6 9 ) Vgl. Politeia IV, 4, und oben III, 15. [S. 92] 7 0 ) Siehe Anmerkung 32. [S. 93] T1 ) Die Griechen hatten vor gewissen Redewendungen, in denen sie Worte 68

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von böser Vorbedeutung zu findlen vermeinten, eine abergläubische Scheu. Zu Piatons Zeiten scheimen sich moderne Dichter darüber hinweggesetzt zu haben, was Platten als Verfechter der alten Sitte mißbilligt. [S. 94] 72 ) Diese letzte Wendung entlehnt Platton nahezu wörtlich der Politeia X , 6. [S. 95] 7 3 ) E s fällt auf, daß der Athener nicht nur den gymnastischen, sondern auch den musischen Unterricht, also dais ganze Unterrichtswesen, gemieteten Fremden anvertrauen will. Der Girund ist, daß die bedientenhafte Stellung, die er den Lehrern zuweist, — wie unten Kap. 14 gesagt wird, soll jeder Freigeborene berechtigt seini, sie zu züchtigen! — nicht für den Vollbürger paßt. Auffällig bleibt gleichwohl der Kontrast zwischen der hohen Wertschätzung der Erziehuing und der Geringschätzung der beruflichen Erzieher. [S. 98] 7 4 ) Piaton macht zwischen der Zither, Kithara, und der Lyra keinen Unterschied. Die Lyra hatte einen tiefeiren Schallboden als die Kithara, verhielt sich zu dieser also etwa, wie die Bratsche zur Geige. [S. 99] 7 5 ) Dies wird unten VIII, 2 näher ausgeführt. [S. 100] 7 8 ) So auch Richard Wagner, Oper uind Drama, W e r k e IV, 174 ff. [S. 100] " ) Genau ist die Platonische Etymologie nicht wiederzugeben, ¿/ujuekeia bedeutet noch mehr als Wohlabgeanessenheit, nämlich die r i c h t i g e Uebereinstimmung der Tanzgebänäe mit dem Gefühlsinhalt der Melodie und des Wortverses. [S. 101] 7 8 ) Auf die Orphischen und Eleusiniischen Weihen ist Piaton schlecht zu sprechen, in der Politeia, II, 7, nennt er sie „kindische Lustbarkeiten". [S 101] 7 9 ) Auf die Komödie kommt Piaton unten, XI, 13, noch einmal zurück. [S. 103] 8 0 ) E b e n dieses war aber das eigentliche Thema des Timaios! [S. 103] 8 1 ) Daß Kleinias den Morgenstern urad den Abendstern für zwei verschiedene Gestirne hält, läßt der Athener ihm durchgehen. [S 103] 8 2 ) Piaton verweist hier stillschweigemds auf den Timaios, wo hierüber in den Kap. 8, 11 ausführlich abgehandelt wird. [S. 103] 8 3 ) Näheres hierüber enthält der Timaios im Kap. 11. [S. 104] 84) önoi, vgl. Timaios pag. 60 B. [S. 1 0 7 ] 8 6 ) Auffällig ist, daß der Ringkampf, welcher vorhin durch eingehende Bestimmungen geregelt worden war, hier kurzerhand aus den öffentlichen Spielen ausgeschlossen wird. Vgl. V I I , 6, 17. Das Ringen soll also nur in der Palaestra geübt werden. [S. 1x1] 8 6 ) E i n Gesetz zweiter Ordnung; was darunter zu verstehen ist, ergibt sich aus dem Folgenden. [S. 112] 8 7 ) I m ältesten Rom galt das Verrücken der Grenzsteine ebenfalls als Kapitalverbrechen.

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) Der Athener vergißt hier die V e r b a n n u n g , die später als Strafe f ü r einige schwere Verbrechen vorgesehen wird. 89 ) Der Zweck dieser H y p e r b e l ist wohl n u r der, den G r u n d s a t z der Milde gegenüber schuldlosen K i n d e r n möglichst drastisch darzustellen. 80 ) D a d u r c h e r k l ä r t sich die scheinbar z u s a m m e n h a n g l o s e E i n s c h i e b u n g des Diebstahlsgesetzes in die E r ö r t e r u n g der schweren Kapitalverbrechen; es sollte also n u r der anzustellenden theoretischen B e t r a c h t u n g als A n k n ü p f u n g s p u n k t dienen. — Auf den Diebstahl k o m m t P i a t o n später n o c h mehrfach zurück. 91 ) Vgl. T i m a i o s pag. 86 D ff. D a ß das O b j e k t des Willens n u r das Gute sein k ö n n e , f ü h r t P i a t o n im Gorgias, Kap. 23 f., aus. 92 ) ä. .fiiofrat »Profeffcvr © r . Qeorg »on 93elon>: © i e © e • f a f t l i i l > e n © d ) i < M u n g e n . 24 ©eiten 70 «Pfg. © e l f t e r t e i l . (Fünfte Lieferung.) © r . .Kurt 9taube: D a « fflttbi« b e « b « u t f d> e n S i a t i o n a l f t a a t e « . 16 ©eiten 50 ( S i e b e n t e r t e i l . (Siebzehnte Lieferung.) Profejfor © r . "Äbalbect SEBafjl: © e u t f d; e » u « > re ä r t i g e *P 0 l i t i f f e i t 1 8 7 0 . grfdjeint im ®lai. 50 «Pffl. H c f e t e t t e i l . (Zehnte Lieferung.) «Profeffor © r . Otto -Sboefjicb 3Jt. b. 3t.: S i e ro e 11 p & • ( i t i f d> e S a g e . 24 ©eiten 70 S l e u n t e r t e i l . ( A c h t z e h n t e Lieferung.) • © i e g r i e b e n e i e r t r ä g e a l« V0(iiif e. 24 ©«iten 70 ^ 9 . B w ö l f t e r t e i l . (Vierzehnte Lieferung.) renfortty: © t a a t u n b S B i r t f d > a f t 1.20 SJtarf © r < i j e b n t « r t e i l . (Dreizehnte Lieferung.) Dtegierungeaffeffor © r . £ri