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German Pages 145 [148] Year 1995
Panajotis Kondylis
Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg
Panajotis Kondylis
Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg
Akademie Verlag
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kondylis, Panajotis: Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg / Panajotis Kondylis. - Berlin: Akad.-Verl., 1992 ISBN 3-05-002363-5 © Akademie Verlag GmbH, Berlin (1992) Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Gedruckt auf säurefreiem und chlorarm gebleichtem Papier. Satz: K+V Fotosatz GmbH, D-6124 Beerfelden Druck: Strauss Offsetdruck GmbH, D-6945 Hirschberg 2 Bindung: Verlagsbuchbinderei Georg Ktänkl, D-6148 Heppenheim Printed in the Federal Republic of Germany
Hin- und Nachweise
Eine nähere Erörterung des Begriffes der Massendemokratie, der für die Analysen dieser Schrift grundlegend ist, findet sich in meiner Arbeit Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform (Weinheim 1991). Die Überlegungen zur Zukunft des Krieges (Abschn. III) knüpfen an die theoretischen und kriegsgeschichtlichen Ergebnisse meines Buches Theorie des Krieges (Stuttgart 1988) an. Schließlich sei zur Frage der Antiquiertheit der politischen Begriffe (Abschn. IV) auf die sozial- und geistesgeschichtlichen Ausführungen meiner Monographie Konservativismus (Stuttgart 1986) hingewiesen. Der Abschnitt IV und die beiden Teile vom Abschnitt V wurden in gekürzter Form und unter anderen Titeln in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5.10.1991, 12.2.1992 und 25.4.1992 veröffentlicht. P.K.
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Inhalt
Hin- und Nachweise
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I. Planetarische Politik im massendemokratischen Zeitalter 1 1. Form und geschichtliche Phasen planetarischer Politik 1 2. Die Ökonomisierung des Politischen 20 3. Ende oder Funktionswandel der souveränen Staatlichkeit? 28 4. Offenheit der Konstellationen 37 5. Von der Ökonomisierung zur Biologisierung des Politischen? 48 II. Nationalismus zwischen radikalisierter Tradition und massendemokratischer Modernisierung 59 III. Die neue Gestalt des warmen Krieges
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IV. Die Antiquiertheit der politischen Begriffe
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V. Planetarische Politik und universale Ethik 105 1. Die philosophische Wendung zum ethischen Universalismus 105 2. Die politischen Schattenseiten der Menschenrechte 112 VI. Was war der Kommunismus? VE
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I. Planetarische Politik im massendemokratischen Zeitalter
1. Form und geschichtliche Phasen planetañscher Politik Bei Versuchen, ihren geschichtlichen Standort zu bestimmen und sich ihre geschichtlichen Perspektiven auszumalen, bemühen sich die jeweiligen Subjekte in der Regel um möglichst genaue Prognosen von Abläufen und Ereignissen, so, als ob sie die Zukunft mit Händen greifen möchten und könnten. In solche Prognosen fließen vielfach Ängste und Hoffnungen mit ein, ja es läßt sich in vielen Fällen beobachten, daß je konkreter sich die Prognosen ausnehmen, sie desto mehr Ausgeburten von erhebenden oder deprimierenden Gefühlen sind. Menschen streben möglichst genaue Prognosen deshalb an, weil sie vor allem wissen wollen, wie sie sich verhalten oder worauf sie sich gefaßt machen sollen. Prognosen stellen insofern vorweggenommene Taten dar, und der praktische Impetus wirkt dabei so stark, daß die eher engen Grenzen geschichtlicher Vorhersehbarkeit unbedacht übersprungen werden. Als grundsätzlich unvorhersehbar muß jedenfalls die Geschichte von Ereignissen und Ereignisketten gelten, was für die Praxis bedeutet, daß im Hinblick auf künftiges Handeln kaum detaillierte Anwei1
sungen erteilt werden können und daß dieses Handeln schließlich dem »Takt des Urteils« überlassen werden muß, wie der große Kriegstheoretiker es formuliert hat. Denkbar ist aber eine mehr oder weniger sachgerechte Erfassung des Charakters jener Triebkräfte und jener geschichtlich aktiven Subjekte, die durch ihr Wirken und ihre Begegnungen die Vielfalt der Ereignisse ins Leben rufen und somit den Bereich möglichen Handelns abstecken. Künftiges Geschehen ist mit anderen Worten nur als Form und Möglichkeit, nicht als Inhalt und Ereignis erkennbar, und der Beitrag solcher Erkenntnis zur Praxis besteht darin, daß sie den »Takt des Urteils« üben und verfeinern, ihn aber weder erzeugen noch ersetzen kann. Eine zukunftsorientierte Lagebeschreibung, die an die Stelle des undankbaren Versuches einer Voraussage von Ereignissen treten will, muß jene Aspekte der relevanten geschichtlichen Faktoren herauskehren, denen sie ereignisbildende Kraft zutraut. Sie muß also die Besonderheit der Lage aufspüren und, wenn geschichtliche Kontinuitäten vorliegen, die Wandlungen der dabei vorkommenden Konstanten begreiflich machen. Die geschichtliche Kontinuität planetarischer Politik erstreckt sich über die ganze Neuzeit, d.h. solche Politik nimmt seit der Zeit der großen Entdeckungen und im Zuge der Herausbildung des Kolonialsystems und des Weltmarktes geschlossene und kontinuierliche Form an, ja im eigentlichen Sinn entsteht sie erst jetzt. In früheren Zeiten gab es zwar auch die Vorstellung einer umfassenden Ökumene, in der politischen Wirklichkeit auch in jener der großen Imperien - wurde aber die Eine Ökumene in zwei, drei oder mehrere praktisch relevante Ökumenen aufgeteilt, die miteinander kaum oder höchstens durch Friktionen an der Peripherie verkehrten. Die römische Ökumene blieb schließlich trotz langwieriger Kämpfe eine andere als die der Parther, genauso wie später die arabische und die fränkische Welt nach gewaltsamer Festsetzung der Grenze zwischen ihnen lange Zeit in nebeneinander existierenden und im Grunde geschlossenen politi2
sehen Räumen haben leben können - von den (euro)asiatischen oder amerikanischen Ökumenen zu schweigen. Das weltgeschichtliche Novum seit dem 16. Jh. bestand im Aufkommen von Mächten, deren praktisch relevante Ökumene den ganzen Planeten umfaßte, deren Interessen sich also auf jeden Ort des Planeten ausdehnten oder wenigstens ausdehnen konnten, falls die Konkurrenz oder die Eigendynamik der Expansion dies erforderten. Politik wird in dem Maße planetarisch, wie Entwicklungen an jedem beliebigen Ort des Planeten die Kräfte und die Handlungsbereitschaft von interessierten Mächten mobilisieren können - wie keine Entwicklung und kein Ort von vornherein und auf immer als uninteressant für bestimmte Mächte gelten können. Zwei Punkte sind dabei zu beachten. Erstens, der planetarische Charakter der Politik ergibt sich nicht aus der Unterwerfung des politischen Handelns urbi et orbi unter bestimmte Normen, die universelle Anerkennung finden. Vielmehr verhält es sich umgekehrt: Normen mit universellem Charakter oder wenigstens universellem Anspruch entstehen als ideelle Begleiterscheinungen von politischen Phänomenen planetarischen Umfangs und sollen den Verkehr zwischen planetarischen Mächten zumindest in Zeiten regeln, die nach dem jeweils allgemeinen Empfinden normal sind. Diese Normen werden von den Mächten festgesetzt, die planetarische Politik in dieser oder jener Intensität treiben können, also von den Subjekten und nicht von den Objekten planetarischer Politik. Denn, zweitens, planetarische Politik bedeutet nicht, daß alle Nationen, Völker oder Staaten das planetarische Geschehen in seinem ganzen Umfang aktiv gestalten oder daß diejenigen, die sich an der Gestaltung dieses Geschehens aktiv beteiligen, es gleichermaßen und in gleicher Weise tun. Planetarische Politik schafft aber eine Lage, in der sich alle Seiten gezwungen sehen, ihr politisches Verhalten mehr oder weniger, direkt oder indirekt eingedenk der Konstellation der Kräfte auf dem ganzen Planeten festzulegen, obwohl der Aktionsradius der Mächte unterschiedlich groß ist. Große Mächte, die als aktive Sub3
jekte planetarischer Politik den Namen »planetarische Mächte« verdienen, müssen ohnehin immer mit Rücksicht auf die planetarische Lage und auf die planetarischen Folgen ihres Tuns handeln. Aber selbst Mächte, die von ihrem geopolitischen und wirtschaftlichen Potenzial her nur auf regionaler Ebene aktive Außenpolitik treiben können, müssen die planetarische Konstellation zumindest insofern im Auge behalten, als eine oder mehrere planetarische Mächte vitale Interessen in der betreffenden Region haben. Die freundliche oder feindliche, aber unvermeidliche Berührung von mittleren und kleineren Mächten mit planetarischen Mächten stellt die Art und Weise dar, wie sich die ersteren am planetarischen Geschehen beteiligen. Die herrschenden Weltverhältnisse spiegeln sich in jeder Region des Planeten in der Konstellation wider, die sich aus der dortigen Anwesenheit der planetarischen Mächte sowie aus den damit zusammenhängenden Aktionen und Reaktionen der lokalen Mächte ergibt. So kommt es dazu, daß es bei relativ großer Dichte planetarischer Politik kaum internationale Politik auf regionaler Ebene ohne planetarische Aspekte und Implikationen gibt. Wie die planetarischen Mächte die Eigenständigkeit von regionalen Angelegenheiten und regionalen Ansprüchen nicht gelten lassen können, so suchen die regionalen Mächte ihrerseits, insofern sie inzwischen nicht zum Anhängsel einer planetarischen Macht geworden sind, das gerade bestehende Verhältnis zwischen den planetarischen Mächten zu ihren Gunsten auszunutzen, wodurch sie gewollt oder ungewollt zur Planetarisierung regionaler Politik beitragen. Die so umrissene formale Struktur der Beziehungen zwischen größeren, mittleren und kleinen Mächten läßt sich auch in vorplanetarischen Epochen wiederfinden. Konstellationen, die in einer der früheren Ökumenen oder sogar im kleinen Universum der griechischen Stadtstaaten auftauchten, wiederholten sich oft - jedenfalls als formale Strukturen gesehen - in der planetarischen Neuzeit, in der allerdings infolge der drastischen Wandlung des sozialen Charak4
ters der politischen Subjekte die Tragweite des politischen Geschehens die äußersten Grenzen des irdischen Raums erreichte. Diese Feststellung bekräftigt unsere These, eine Beschreibung von Konstanten und von möglichen Konstellationen derselben im Rahmen heutiger planetarischer Politik ohne eine sozialgeschichtliche Klärung des Charakters der handelnden politischen Subjekte reiche zur adäquaten Erfassung der gegenwärtigen Weltlage nicht aus. Es ist mit anderen Worten nicht entscheidend, den Ubergang von einer bipolaren zu einer multipolaren Struktur zu registrieren und dann zu mutmaßen, wer welchen Pol besetzen wird, wobei man in die Nähe der prekären und subjektiv gefärbten Prognosen geraten könnte, von denen eingangs die Rede war. Solche Ubergänge sind kein geschichtliches Novum und nicht in ihnen liegt das vorwärtstreibende und spannungsreiche Element der gegenwärtigen Phase planetarischer Politik; vielmehr stellen sie in ihrer heutigen Gestalt Symptome und Erscheinungsformen von tiefergehenden Vorgängen dar, die sich erst durch eine Analyse des Charakters der Subjekte gegenwärtiger planetarischer Politik ermitteln lassen. Genausowenig bringt uns die Banalität weiter, die Entfaltung der Technik, und insbesondere der Informatik und der Telekommunikation, habe den Planeten kleiner, die gegenseitige Abhängigkeit größer und die Zusammenarbeit notwendiger gemacht. Zweifelsohne hat planetarische Politik heute eine Dichte erreicht, die keine Präzedenzien und Analogien aus der fernen oder jungen Vergangenheit kennt, dennoch geht diese Dichte nicht einfach auf die Automatik der Technik zurück, sondern sie hängt mit sozialgeschichtlichen Entwicklungen zusammen, in denen die technische Entwicklung ihrerseits eingebettet ist. Nicht jedes beliebige Netz zwischenmenschlicher Beziehungen bringt solche Technik hervor und nicht jedes läßt sich in seiner Ausgestaltung durch solche Technik beeinflussen. Eine retrospektive Betrachtung und eine sachgemäße Periodisierung neuzeitlicher planetarischer Politik zeigen uns in der Tat, daß sich ihre großen Phasen nicht etwa durch das 5
Umschlagen von uni- oder bipolaren Strukturen in multipolare und umgekehrt kennzeichnen lassen, sondern vielmehr durch unterschiedliche Dichtegrade, wobei sich die jeweils charakteristische Steigerung der Dichte an Wendepunkten vollzieht, die Wandlungen des sozialgeschichtlichen Charakters der politischen Subjekte markieren. Diese Feststellung impliziert kein theoretisches Plädoyer für den Primat der Innenpolitik, und zwar in dem Sinne, wie er oft seitens »progressiver« Historiker behauptet wurde. Denn damit ist nicht gemeint, daß erst bestimmte Entwicklungen im Inneren der politischen Einheiten das außenpolitische Machtstreben als solches und überhaupt in Gang setzen, welches ausbleiben würde, wenn seine Träger dadurch nicht ihre innenpolitische Position festigen wollten. Die Innenpolitik bedingt zwar Mittel und Wege der Außenpolitik, sie bestimmt, wer die Außenpolitik in die Hände nehmen und sie dabei auch innenpolitisch ausnutzen wird - die Notwendigkeit, Außenpolitik zum Ziel der Erhaltung und der Festigung der Macht der betreffenden politischen Einheit innerhalb des jeweils relevanten politischen Universums zu treiben, liegt aber der Entscheidung über den konkreten Träger außenpolitischer Verantwortung voraus und insofern bleibt sie eine unabhängige Konstante. Wer die Außenpolitik lenkt, muß dem genannten obersten Ziel dienen, er kann aber ihm nicht anders als durch die Mittel und Wege dienen, die seinem sozialpolitischen Wesen eigen sind. Ungeachtet der Gründe, die außenpolitisches Machtstreben als solches und überhaupt ins Leben rufen, schlägt sich also dieses in Formen nieder, die dem sozialpolitischen Charakter des politischen Subjekts bzw. der in ihm tonangebenden Gruppe oder Klasse entsprechen. Das ist der Gesichtspunkt, unter dem sich eine Parallelität zwischen den großen Phasen planetarischer Politik und den entscheidenden Wandlungen in der Sozialgeschichte der Neuzeit herausarbeiten läßt. Die erste dieser großen Phasen beginnt mit den Entdeckungsreisen, den Eroberungszügen und dem Ausbau des Kolonialhandels im 16. Jh. und dauert bis zur industriellen 6
und liberalen Revolution. Während der drei Jahrhunderte, die diese Zeitspanne ungefähr umfaßt, sind die Subjekte der planetarischen Politik oder die planetarischen Mächte im großen und ganzen ständische Staaten mit starken feudal-patriarchalischen Zügen, die den absolutistischen und merkantilistischen Tenzenden die Waage halten. Der relativen Lockerheit ihrer inneren Organisation und den begrenzten Bedürfnissen ihrer noch immer großenteils agrarischen und autarken Wirtschaft entspricht der lockere Charakter des frühen Kolonialsystems und die geringe Dichte planetarischer Politik überhaupt. Die gerade entstehenden modernen Staaten verfügen über die Verwaltungsapparate, die ihnen eine wirksame Kontrolle über den gesamten planetarischen Raum gestatten würden, genausowenig wie sie imstande sind, ihr eigenes Territorium einer einheitlichen und alle Lebensbereiche umfassenden Gesetzgebung zu unterwerfen. Und wie in ihrem Inneren die Stätten des Neuen in Wirtschaft und Verwaltung den Eindruck von größeren oder kleineren Inseln im Meer des ständischen Patriarchalismus hinterlassen, so bilden auch die wirtschaftlichen und militärischen Niederlassungen der planetarischen Mächte auf den verschiedenen Kontinenten die Knoten eines weitmaschigen Netzes und wirken wie verstreute Vorposten innerhalb eines größtenteils unerforschten, exotischen, ja zauberisch-unwirklichen Raums, dessen Dimensionen erst allmählich als konkrete Größen ins Bewußtsein eindringen. Der Spielraum planetarischer Politik besteht vielfach aus unzusammenhängenden Territorien; Kohärenz zwischen ihnen wird nicht so sehr durch Intensivierung des Verkehrs, sondern vielmehr durch das Bestreben der planetarischen Mächte gestiftet, die jeweils eigenen Einflußsphären zu konsolidieren und gegen andere abzugrenzen. Dieses Bestreben war intensiv und hat heftige Kämpfe ausgelöst, diese wurden dennoch nach heutigen Kriterien meistens in gemächlichem Tempo und durch das Aufgebot relativ kleiner Kräfte an wenigen entscheidenden Stellen geführt. 7
Dichtegrad und allgemeiner Charakter planetarischer Politik ändern sich wesentlich im Laufe der darauffolgenden Phase, die im Zeichen der siegreichen liberalen und industriellen Revolution steht. Das planetarische Netz wird nun nicht nur deshalb dichter, weil die moderne Industrie viel größere Kommunikationsmöglichkeiten benötigt und schafft, indem sie das Bedürfnis nach Austausch auf mehreren Ebenen gleichzeitig weckt oder verstärkt, sondern ebensosehr deshalb, weil der moderne Staat, der die Überbleibsel des Ständetums konsequent beseitigt, die verwaltungstechnischen Mittel zur Organisierung großer Territorien zur Verfügung stellt. Jetzt können Länder unter mehr oder weniger starke Kontrolle gebracht werden, die vorher nur über militärische und Handelsstützpunkte überwacht wurden. So bietet sich die Möglichkeit, aus dem Netz der früheren Stützpunkte kompakte Raummassen zu machen sowie Raummassen unter den planetarischen Mächten aufzuteilen. Es handelt sich hier um die klassische Epoche des Imperialismus, die nicht zufällig mit der Blütezeit des europäischen Liberalismus zusammenfällt. Die planetarischen Mächte sind in dieser oder jener Form liberal und imperialistisch zugleich, denn erst durch die liberal-kapitalistische Entfesselung der industriellen Wirtschaft sowie durch die Schaffung des bürgerlichen Staates gewann der Imperialismus nicht nur den Antrieb, sondern auch die Instrumente zu seiner Entfaltung. Am imperialistischen Unternehmen beteiligten sich freilich auf hoher Ebene soziale Gruppen, mit denen das Bürgertum die politische Macht zuweilen hat teilen müssen (ζ. B. Adlige, die als Militärs in den Kolonien den Ersatz für die verlorene oder gefährdete soziale Stellung in der Heimat suchten), und auf niedriger Ebene besitzlose Schichten, die in ihrem Herkunftsland keine rosige Zukunft erhoffen konnten. Trotz der damit zusammenhängenden allgemeinen Popularität des Imperialismus im Inneren der planetarischen Mächte blieb er sowohl von der Triebkraft her als auch in geschichtlicher und struktureller Hinsicht ein bürgerlich-liberales Unterfangen. Das zeigt sich nicht 8
zuletzt an der Parallelität zwischen der inneren Struktur der liberal-kapitalistischen Staaten und der Struktur des imperialistischen Systems in toto: der Trennung bzw. Beziehung zwischen Bürger und Proletarier in den ersteren entsprach die Trennung bzw. Beziehung zwischen Herren- und Kolonialvölkern innerhalb des letzteren. Parallel verläuft aber auch die Wirkung des liberalen Kapitalismus im Inneren der planetarischen Mächte und innerhalb des imperialistischen Systems: die große Masse der Bevölkerung wurde durch Industrie und Parteiensystem von den Fesseln des Patriarchalismus genauso losgelöst und in den Schmelztiegel der Massengesellschaft hineingeworfen wie die große Masse der proletarischen Völker aus ihrer Isolierung herausgerissen wurde, um der immer dichter werdenden internationalen Gesellschaft eingegliedert zu werden. Das imperialistische System leitete einen Vermassungsvorgang auf internationaler Ebene ein, genauso wie der industrielle Kapitalismus die Vermassung im jeweiligen nationalen Rahmen vorantreiben mußte. Es fällt auf, daß der Unterschied oder der Abstand zwischen Subjekten und Objekten planetarischer Politik in ihren beiden genannten Phasen fundamental für das Funktionieren des planetarischen Systems war, zumal er völkerrechtlich sanktioniert und außerdem mit geschichts- und kulturphilosophischen Argumenten untermauert wurde. Planetarische Politik wurde bis tief in das 20. Jh. hinein von den planetarischen Mächten gestaltet, während die restlichen Mächte in diesem oder jenem Ausmaße die Objekte der Politik bildeten, die von den ersteren als souveränen Subjekten diktiert wurde. Dieser Zustand änderte sich in immer schnellerem Tempo im Laufe unseres Jahrhunderts, und zwar in demselben Sinne und im Rahmen desselben weltgeschichtlichen Vorgangs wie im Inneren der fortgeschrittenen Nationen, die in der Regel auch die planetarischen Mächte stellten, die Massendemokratie den oligarchischen Liberalismus allmählich verdrängte, also der Gleichheitsgrundsatz durch den »Wohlstand für alle« substanziali9
siert wurde, die fortschreitende Demokratisierung an die Stelle der mehr oder weniger geschlossenen Oligarchien das Spiel der offenen Eliten und an die Stelle der festen Hierarchien eine prinzipiell unbegrenzte soziale Mobilität setzte und die herrschende Ideologie individualistischen, egalitären und zugleich (wert)pluralistischen Charakter annahm. Durch das massive Aufkommen neuer, rechtlich untereinander gleicher Nationen und Staaten gewinnt nun die planetarische Politik eine analoge Dichte und Mobilität wie die Massengesellschaften bzw. -demokratien, die auf den oligarchischen Liberalismus folgten. Es entsteht zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte eine wahre Weltgesellschaft, die zwar durch erhebliche faktische Ungleichheiten und Ungleichartigkeiten gekennzeichnet ist, doch sich andererseits zur prinzipiellen Gleichheit ihrer Mitglieder bekennt und ihnen dieselben Rechte zuerkennt. Wie im Inneren der entwickelten Massendemokratie, so ist auch innerhalb der Weltgesellschaft Gleichheit nicht materiell und allseitig verwirklicht, sie wird dennoch völkerrechtlich sowie auf der Ebene der Erklärungen garantiert und ständig propagiert; rassistische und sonstige Lehren, die kolonialistische und imperialistische Herrschaftsverhältnisse absegneten und noch vor dem Ersten Weltkrieg überall in Europa viel selbstverständlicher waren als man heute wahrhaben will, sind verpönt bzw. einerseits durch universalistische anthropologische und ethische Grundsätze und andererseits durch wohlwollende Würdigung der verschiedenen Kulturen, ihrer Einmaligkeit und ihres Beitrages zur universellen Kultur abgelöst worden. Nach dem Zusammenbruch des klassischen Imperialismus der (ehemaligen) planetarischen Mächte, der die liberale Trennung zwischen Bürger und Proletarier in die Welt der Nationen hineinprojizierte, werden nun die »unterentwickelten« Länder nicht mehr als unverfahrene Kinder angesehen, die der weisen Vormundschaft des weißen Mannes bedürfen, sondern eher als Hilfsbedürftige oder als (inferiore) Partner, denen dieselben Aufstiegschancen eingeräumt 10
werden müssen wie dem ehemaligen Proletarier in den Industrienationen. Indem auf internationaler Ebene jene Prinzipien geltend gemacht werden, die im Inneren der fortgeschrittenen Massendemokratie praktische Anwendung fanden, wird erwartet, daß die unteren Schichten der Weltgesellschaft durch Wohlstand und Demokratisierung den Anschluß an die höheren finden werden und daß schließlich der Planet, in seiner Einheit gesehen, einem riesigen Markt und zugleich einem riesigen Sozialstaat ähneln wird, in dem Ressourcen und Reichtümer zugunsten der bisher Benachteiligten umverteilt werden könnten. Nicht von einer solchen direkten Umverteilung, die unwillkommene und auf die Dauer vielleicht auch unnütze Opfer für die Reichen mit sich bringen würde, versprechen sich aber die führenden Mächte den globalen sozialen Ausgleich, sondern vielmehr vom schnellen Wirtschaftswachstum in den »unterentwickelten« Ländern - genauso wie in den fortgeschrittenen Massendemokratien der Wohlstand der breiten Massen eher durch die Schaffung neuer Reichtümer dank der Entwicklung der Technik und der steigenden Arbeitsproduktivität denn durch die drastische Umverteilung der bereits vorhandenen zustandekam. Wachstum an den bisher schwachen Stellen der Weltwirtschaft scheint übrigens den bereits starken Volkswirtschaften geradezu von Vorteil zu sein, so daß sich schließlich auf Weltmaßstab derselbe Vorgang wie in den westlichen Massendemokratien wiederholen dürfte, in denen der soziale Aufstieg des Arbeiters die Industrie langfristig beflügelte, obwohl sie dabei manche sozialstaatliche Last hat zähneknirschend tragen müssen. Folgender Aspekt der komplexen Analogie zwischen Massendemokratie und Weltgesellschaft muß nun besonders hervorgehoben werden. Wie innerhalb der ersteren, so wird auch innerhalb der letzteren das Verhalten der (kollektiven) Subjekte weniger durch die faktische und offenbar schwer zu behebende Ungleichheit bedingt und mehr durch das grundsätzlich anerkannte Recht auf Gleichheit - und zwar nicht bloß Gleichheit der formellen Rechte, sondern 11
Gleichheit des Genusses. Die feierliche Anerkennung dieses Rechtes, und sei es nur auf der Ebene der Grundsatzerklärungen, schafft die Erwartungshorizonte, die langfristiges Handeln inspirieren, obwohl im Alltag der Realpolitik die Rücksicht auf die faktischen Ungleichheiten an Macht und Reichtum normalerweise weiterhin den Ausschlag gibt. Dennoch ist die Ungleichheit nunmehr nur Realität, der man Rechnung tragen, nicht Prinzip, dem man sich beugen muß. Das Auftreten der unteren Schichten der Weltgesellschaft auf der internationalen Bühne wird daher immer selbstbewußter und die Grenze zwischen Subjekten und Objekten planetarischer Politik immer flüssiger. Diese dramatische und epochemachende Wandlung springt ins Auge, wenn man sich den Stellenwert mancher asiatischer oder arabischer Staaten in der planetarischen Politik vor fünfzig Jahren im Vergleich zu heute vergegenwärtigt. Nicht von ungefähr setzte sie mit der Machtergreifung der Bolschewiken ein, um während des Kalten Krieges weltweite Dimensionen anzunehmen und irreversibel zu werden. Denn in ihrem Bestreben, die farbigen und kolonialen Völker gegen die kapitalistischen Metropolen zu mobilisieren, haben die Kommunisten wesentlich zur Verbreitung der heute vorherrschenden Gleichheitsprinzipien beigetragen und zwangen zugleich durch ihre Konkurrenz das Lager der (ehemaligen) Kolonialmächte, sich allmählich desselben Vokabulars und derselben Positionen zu bemächtigen. Und noch in einer anderen Hinsicht hat der Antagonismus von Ost und West, zumal zur Zeit des Kalten Krieges, die Dichte planetarischer Politik in ihrer massendemokratischen Phase beträchtlich erhöht. Die Unversöhnlichkeit des Gegensatzes, der nur durch die Eliminierung einer der beiden Seiten überwunden werden konnte, machte aktuell oder potenziell jede Region des Planeten zum umkämpften Platz, sie rückte also alles in den Mittelpunkt des Weltinteresses, was für die eine Seite begehrtes Ziel war: denn dies reichte aus, um dasselbe Objekt auch für die andere Seite begehrtes Ziel werden zu lassen. Die Erstarrung der beiden Lager innerhalb der be12
stehenden Grenzen während des Kalten Krieges bei mancher Änderung an der Peripherie war eine Folge der atomaren Abschreckung und jedenfalls nicht mit der Teilung des Planeten in Einflußsphären vergleichbar, wie sie während der vorangegangenen Phase planetarischer Politik, also der Phase des Imperialismus, teilweise praktiziert wurde. Der Zusammenbruch des Kommunismus und das Ende des Kalten Krieges müssen die materiellen und ideellen Erwartungen steigern, die auf dem Boden des allerseits anerkannten materiellen Gleichheitsprinzips gedeihen. Denn der Sieger des Kalten Krieges, der massendemokratische Westen, scheint einen Weg in die Zukunft zu weisen, der nach dem Verschwinden des großen Widersachers der einzig mögliche und erfolgsversprechende sei. Die Koppelung von Freiheit und Wohlstand, die der Westen in seinem politischideologischen Kampf gegen den Kommunismus propagierte, gewann zunehmend gleichsam apodiktische Evidenz, und selbst da, wo es die politische Freiheit im westlichen Sinne nicht gibt, wird die Lösung der Wirtschaftsprobleme im Rahmen des jeweils politisch Erlaubten der freien Tätigkeit der wirtschaftenden Subjekte überlassen. Die Bestätigung des »westlichen Modells« durch das sinnfällige Scheitern der Planwirtschaft scheint Zweifel und unfruchtbare Versuchungen für immer beseitigt und sich insofern befreiend und zugleich richtunggebend ausgewirkt zu haben. Dennoch würde man der Hauptsache aus dem Wege gehen, wenn man sich nicht die elementare Frage stellte, wieso ausgerechnet solche Sorgen und Probleme in den Mittelpunkt planetarischer Politik gerückt sind. Noch konkreter läßt sich dieselbe Frage folgendermaßen formulieren: welches ist die sozialgeschichtliche und politische Identität der kollektiven Subjekte, die ihr politisches Tun mit solchen Zielsetzungen verbinden müssen, gleichviel, was sie sonst für nationale oder geopolitische Aspirationen hegen mögen? Was die industriell hochentwickelten westlichen Länder anbetrifft, so kann nicht genug betont werden, daß sie die Koppelung von Freiheit und Wohlstand, der sie ihren Sieg im 13
Kalten Krieg zuschreiben, nicht als liberale, sondern als massendemokratische Gesellschaftsformationen erreichten, indem sie nämlich den oligarchischen Liberalismus durch den Demokratisierungsvorgang hinter sich ließen und die Kluft zwischen Bürger und Proletarier durch den Massenkonsum und die soziale Mobilität überbrückten, was schließlich sowohl den Bürger als auch den Proletarier als klar umrissene soziologische Typen auflöste (s. Abschn. IV). Nicht der bürgerliche Liberalismus, sondern eben die Massendemokratie schwebt als Ideal den Ländern vor, die den Weg des Westens einschlagen wollen und übrigens weder über ein sozial ausschlaggebendes und herrschaftsfähiges Bürgertum noch über entsprechende politische Traditionen verfügen; sollten sie also je den Anschluß an den Westen finden, dann nur auf der Ebene der Massendemokratie. Sie müssen massendemokratische Zielsetzungen beherzigen, weil sie inzwischen Massengesellschaften bilden, sie haben sich also mehr oder weniger, nolentes oder volentes vom agrarischen Patriarchalismus und Traditionalismus verabschiedet und, wenn sie überhaupt einen sozialgeschichtlichen Standort in der modernen Welt haben wollen, dann kann dieser nur die Schwelle zur Massendemokratie sein. Diese Einordnung mag in einer Zeit befremden, in der allerlei Nationalismen, Regionalismen und Traditionalismen wiederaufzuleben und das Rad der Geschichte zurückzudrehen scheinen. Wer sich dennoch in der Kunst geübt hat, zwischen dem Nominalwert der Ideologien oder der Programme und ihrer objektiven Funktion zu unterscheiden, wer gar genug geschichtlichen Sinn hat, um einsehen zu können, daß die Berufung auf ein Prinzip oft zur Realisierung seines Gegenteils dient, der wird sich dadurch nicht beirren lassen. Eine nähere Untersuchung traditionalistischer Strömungen kann zeigen, wie sie eben durch Radikalisierung der Tradition in Modernisierungsbewegungen umschlagen müssen, wenn sie politisch relevant bleiben wollen (s. Abschn. II). Noch bestehende patriarchalisch-traditionelle Elemente sind geschichtlich nicht ausschlaggebend, selbst 14
wenn sie in bestimmten Regionen der Welt quantitativ überwiegen. Bereits der Kolonialismus der imperialistischen Mächte hatte die Verwandlung der patriarchalisch-sippenhaft organisierten Gesellschaften in Massengesellschaften eingeleitet, indem er vorher autonome Gruppen einer einheitlichen Verwaltung unterwarf, um sie schließlich in den Schmelztiegel von Staaten mit willkürlich gezogenen Grenzen hineinzuzwingen. Die Bevölkerungsexplosion und selbst die in weiten Teilen des Planeten herrschende Anomie haben ihrerseits kräftig zur Vermassung von traditionellen Gesellschaften beigetragen. Dazu kamen die sozialen Auswirkungen der kommunistischen Herrschaft in vielen Ländern, in denen die früheren, vielfach noch vorkapitalistischen Strukturen gewaltsam zerstört, d. h. die vorhandenen sozialen Einheiten atomisiert und dann die Individuen ohne Rücksicht auf traditionelle Zugehörigkeiten und Loyalitäten in politische und wirtschaftliche oder administrative Massenorganisationen eingegliedert wurden. Die unstabilen Massengesellschaften, die aus diesem langen und vielseitigen Vermassungsvorgang hervorgegangen sind, sehen sich mit den beiden großen Fragen konfrontiert, die in den fortgeschrittenen Massendemokratien des Westens mehr oder weniger befriedigend gelöst zu sein scheinen. Erstens handelt es sich dabei um die Frage der Demokratisierung, nämlich der unvermeidlichen Beteiligung von mobilen und drängenden Massen am politischen und sozialen Geschehen. Insofern diese Beteiligung durch Gewährung und Ausübung von politischen Rechten erfolgt, die vielfach als Menschenrechte aufgefaßt und als solche gefordert werden, sollten besagte Rechte nicht ethisch-abstrakt bewertet, sondern als die praktischen Mittel betrachtet werden, die die ständige Erweiterung des Kreises bewirken, aus dem herrschende Eliten rekrutiert werden können, um die alten Oligarchien abzulösen. Denn solche Rechte, z.B. die Redefreiheit, erblicken nicht erst durch die Demokratisierung das Licht der Welt; im vordemokratischen Zustand beschränkte sich bloß ihre Ausübung auf den Kreis der Herr15
sehenden, und ihre Übertragung auf andere bedeutet konkret, daß immer mehr Menschen herrschaftsfähig werden oder Herrschaftsansprüche anmelden dürfen. In ihrem wesenhaften und primären Zusammenhang mit dem Vermassungsvorgang findet Demokratisierung auch in Massengesellschaften statt, die politische Rechte im westlichen Sinne kaum kennen oder anerkennen, so daß in ihnen politische Tätigkeit durch andere Kanäle entfaltet werden muß; für Demokratisierung sorgen hier Cäsaren oder homines novi, die sich über die patriarchalischen Oligarchien hinwegsetzen und autonome Sippenherrschaften beseitigen, um Macht und Herrschaft unter ihre Gefolgsleute zu verteilen, sowie Massenbewegungen, gleichviel welcher Couleur, die ihre Loyalitäten teils von charismatischen Führern, teils von universellen Prinzipien ableiten, vor denen sich die Individuen untereinander gleich in der gemeinsamen Unterwerfung fühlen. Doch mit der Demokratisierung allein ist es in den neuentstandenen oder werdenden Massengesellschaften nicht getan. Wirtschaftliche Modernisierung und wirtschaftliches Wachstum müssen hinzukommen, und zwar nicht nur deshalb, weil die wachsende Bevölkerung Nahrung benötigt oder weil die Verteidigung eines armen Staates unter den heutigen technischen Bedingungen auf zunehmende Schwierigkeiten stößt. Mit diesen Beweggründen, die an sich drückend genug wirken, verbindet sich ein anderer, nämlich ein sozialer. Nur wirtschaftliche Modernisierung und Intensivierung der wirtschaftlichen Anstrengung kann letztlich soziale Strukturen erschaffen, die die Individuen an permanente Funktionen und ein übergreifendes Ganzes binden, so daß der akuten Gefahr der Anomie Einhalt geboten werden kann. Die patriarchalisch-traditionellen Formen sozialer Organisationen konnten nur bei einer begrenzten Anzahl von Menschen funktionieren, die Uberschaubarkeit des gesellschaftlichen Ganzen war also Existenzbedingung, die wegfällt, wenn sich die Menschen so vermehrt haben, daß sie sich nicht mehr in die engen Schranken der her16
kömmlichen Institutionen hineinpressen lassen. Anomie und sozialer Zerfall treten automatisch ein, wenn der alte Rahmen die Menschen nicht auffangen kann, ja unter ihrem Druck zerbricht, während es einen festen neuen nicht gibt. In diesem Mittelzustand kann nur die Modernisierung und Expansion der Wirtschaft Abhilfe schaffen, denn nur die damit zusammenhängende Arbeitsteilung kann größere Massen in Gestalt eines sozialen Ganzen gliedern und sie dementsprechend disziplinieren. Vermassung könnte sich somit als Kraft erweisen, die an sich sowohl zur Demokratisierung als auch zur wirtschaftlichen Modernisierung drängt. Demokratisierung und Wirtschaftswachstum auf hochtechnisierter Basis bilden ihrerseits die Brücke für den Ubergang einer Massengesellschaft zur Massendemokratie westlichen Typs. Letztere erwuchs ja auch aus einer Massengesellschaft, welche im Zuge der industriellen Revolution das feudal-partriarchalische Europa endgültig zerstörte und die Menschen herdenweise in die Städte trieb. Diese vordemokratische Massengesellschaft fiel also hier weitgehend mit der Herrschaft des oligarchischen Liberalismus zusammen. Darin liegt ein erheblicher und für die Zukunft vielleicht entscheidender Unterschied zwischen der westlichen Entwicklung und dem Verlauf der Dinge in den (meisten) anderen Gesellschaften, in denen sich der Vermassungsvorgang nicht in jenen Formen vollzieht, die im Westen die Weichen für einen mehr oder weniger schmerzlosen Ubergang zur modernen Massendemokratie gestellt haben. Hier wurden die Hierarchien der liberalen Klassengesellschaft durch die stürmische Entfaltung der Technik, die Fortschritte der Arbeitsteilung, die soziale Mobilität und den Massenwohlstand allmählich zum Einsturz gebracht. Atomisierung und soziale Nivellierung folgten auf diese Wandlungen oder gingen mit ihnen einher und wurden sogar durch Umdeutungen des bereits siegreichen Liberalismus ideologisch legitimiert. In den (meisten) anderen Gesellschaften haben sich hingegen soziale Nivellierung und Atomisierung längst aus17
gebreitet, ohne durch technische und wirtschaftliche Fortschritte ausreichend aufgefangen zu werden; deswegen setzen sie sehr oft die Kräfte der Anomie frei, die dann durch totalitäre oder autoritäre, religiöse oder cäsaristische Massenbewegungen eingedämmt werden müssen. Diese Erörterung weist bereits auf eine Quelle möglicher Konflikte im Rahmen der planetarischen Politik hin. Mancher Beobachter könnte meinen, die nach dem Ende des Kalten Krieges zunächst erzielte Übereinstimmung über die Überlegenheit des westlichen Systems und die darin gründende Gemeinsamkeit der Zielsetzungen würde zum Konsens und zur Zusammenarbeit führen. Die friedliche Koexistenz im gegenseitigen Einvernehmen ergibt sich aber keineswegs aus der Gemeinsamkeit der Zielsetzung an sich, sondern aus der Übereinkunft darüber, welchen Rang jede Seite bei der Verfolgung des gemeinsamen Zieles einnehmen und welche Vorteile sie aus seiner eventuellen Realisierung ziehen werde. Gehen über diese praktisch ausschlaggebende Frage die Meinungen auseinander, so trägt die Gemeinsamkeit des Zieles nicht etwa zur Milderung, sondern geradezu zur Intensivierung von Konflikten bei, und zwar aus demselben Grunde, aus dem der Metzger nicht mit dem Obsthändler gegenüber, sondern mit dem Metzger nebenan verfeindet ist. Gemeinsamkeit des Zieles heißt ja Konkurrenzkampf um dieselben Ressourcen, um dieselben Räume und um dieselben Prämien. Gerade Erfolge, die auf dem Wege des Westens erzielt worden wären, könnten die Erfolgreichen sowohl in Konflikte mit dem Westen als auch in Konflikte untereinander bringen. Aber auch das Ausbleiben von solchen Erfolgen könnte dieselbe Wirkung zeitigen. Im Spannungsfeld zwischen der Unausweichlichkeit der Zielsetzung und der Unmöglichkeit ihrer Realisierung könnten sich unberechenbare und sogar explosive Reaktionen Luft machen; ein Gefühl geschichtlicher Ausweglosigkeit und aggressiver Enttäuschung müßte Nationen ergreifen, die sich nicht imstande sehen würden, das zustande zu bringen, was nach allgemeinem Dafürhalten von jedem zu erwarten ist, 18
der nicht der Paria und der Aussätzige der modernen Welt sein will. Die sich abzeichnende Universalität der Zielsetzungen wird auch in dieser Hinsicht eher einen Spannungsdenn einen Verständigungsfaktor abgeben. Dieser Universalität wird auch die Tatsache keinen Abbruch tun können, daß jede Seite die universell anerkannten Ziele und Werte so auffassen und realisieren wird, wie ihre konkrete Machtposition und Lage es jeweils ratsam erscheinen läßt. Es wird übrigens kein weltgeschichtliches Novum sein, wenn die Massendemokratie als planetarisch entfaltete Gesellschaftsformation mehrere Formen aufweisen würde, die auf unterschiedliches Entwicklungsniveau und unterschiedliche Entwicklungsbedingungen zurückgingen; mit der Sklaverei, dem Feudalismus oder dem bürgerlichen Liberalismus hat es sich nicht anders verhalten. Es muß erwartet werden, daß sehr viele Konflikte des anbrechenden planetarischen Zeitalters in der Perspektive und im Selbstverständnis der ideologischen Subjekte wie Gegensätze zwischen unterschiedlichen geschichtlichen Traditionen vorkommen werden. Der entscheidende Faktor wird dennoch übersehen, wenn man die Sachlage in solchen Kategorien beschreiben will. Das Entscheidende steckt nämlich in der Frage, welche Triebkräfte ausgerechnet heute Traditionen mobilisieren und gegeneinander ins Feld führen. Diese Triebkräfte liegen nicht in den Traditionen selbst, die übrigens meistens in längst toten Welten wurzeln, sondern es sind die Triebkräfte der modernen massendemokratischen Zielsetzungen, die bereits den ganzen Planeten erfaßt haben. Sieht man das nicht, so kann man weder die heutige planetarische Konstellation noch die Rolle und das Gewicht der Traditionen in ihr angemessen beurteilen. Wenig erhellend wäre auch die pauschale Behauptung, Konflikte, und zwar blutige, habe es immer zwischen den Menschen gegeben und werde es auch in Zukunft geben. Das stimmt, dabei handelt es sich aber um eine anthropologische und nicht um eine soziologische und historische Aussage, die leer bleiben muß, wenn sie die Frage nicht klären kann, was denn 19
in dieser konkreten planetarischen Lage am stärksten und am wahrscheinlichsten den Konfliktstoff abgeben werde. Keine Wissenschaft vom Menschen und vom Politischen kann ohne den Rückgriff auf Konstanten auskommen, keine konkrete politische Analyse ist indes möglich, wenn sie die Spezifizierung der Konstanten in der jeweiligen Lage vernachlässigt. Für eine Analyse der planetarischen Politik im massendemokratischen Zeitalter empfiehlt sich eine solche Spezifizierung besonders im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Politischem und Ökonomischem sowie auf die Funktionen der Staatlichkeit.
2. Die Okonomisierung
des Politischen
Die Frage nach den Beziehungen zwischen Politischem und Ökonomischem mußte sich in der Neuzeit stellen, als eine Umwälzung, deren weltgeschichtliche Bedeutung nur mit jener der neolithischen Revolution verglichen werden kann, nämlich die nach langer und reger handelskapitalistischer Tätigkeit ausgebrochene industrielle Revolution, den Eindruck von der Eigenständigkeit, ja den sozialen Primat des wirtschaftlichen Faktors hervorrief. Das war kein bloß akademischer oder unpolemischer Eindruck, denn das triumphierende Ökonomische hatte einen handfesten sozialen Träger, der ein geradezu politisches Interesse an der Verbreitung der Auffassung hatte, die Politik (sprich: die Herrschaft von Monarchen und Schichten, die aus der vorkapitalistischen Welt stammten) sei im Vergleich zur offenbar lebensnotwendigen Wirtschaft nicht nur sekundär, sondern sogar hinderlich und langfristig entbehrlich; die hier implizierte scharfe Trennung des Politischen vom Ökonomischem erschien durch die Versuche antibürgerlicher (konservativer und absolutistischer) Kräfte bestätigt, den Staat nach Möglichkeit zu beherrschen und aus ihm ein Bollwerk gegen die Entfaltung des kapitalistischen Bürgertums zu machen. Aber auch nach seiner teilweisen oder vollständigen 20
politischen Durchsetzung hat das Bürgertum diese seine Auffassung über die Beziehungen zwischen Politischem und Ökonomischem nicht wesentlich geändert. Politik erschien weiterhin als mehr oder weniger notwendiges Übel, doch hier erfüllte die These von der Eigenständigkeit der Gesellschaft gegenüber dem Staat und der Wirtschaft gegenüber der Politik eine zusätzliche ideologische Funktion; sie sollte die konkrete Hilfe leugnen oder vertuschen, die der Staat auf mehreren Wegen und Umwegen der kapitalistischen Wirtschaft zukommen ließ, und den Staat als bloßen Garanten des Gemeinwohls hinstellen, der irgendwo im Hintergrund und möglichst diskret seine absolut unverzichtbaren Tätigkeiten ausübe. Gegen diese Fiktion erhoben die Sozialisten, vor allem marxistischer Provenienz, Einspruch; trotz des sozialpolitischen Gegensatzes von Liberalismus und Marxismus fand dennoch der liberale Ökonomismus in die marxistische Gedankenwelt in Form des geschichtsphilosophischen und soziologischen Grundsatzes Eingang, die Wirtschaft bilde die Basis, auf der sich der politische und ideologische Uberbau auftürme. Das gemeinsame dogmatische Bekenntnis von Liberalismus und Marxismus zum Primat von Wirtschaft und Gesellschaft gegenüber Politik und Staat schlug sich in den sozialen Utopien beider Richtungen nieder, die das Thema des Dahinwelkens von Staat und Politik variierten. Dem liberalen Wunschbild von der Ablösung des Krieges durch den Handel innerhalb einer einheitlichen Welt, in der teils die unsichtbare Hand, teils universalethische Prinzipien obwalten würden, entsprach die marxistische Zukunftsvision einer klassenlosen Gesellschaft, in der die wirtschaftenden Subjekte sich selbst verwalten würden, ohne Politik im traditionellen Sinne treiben zu müssen. Es liegt auf der Hand, daß beide Entwürfe im Glauben an die Möglichkeit einer Ökonomisierung des Politischen, d. h. eines Aufgehens der politischen Funktionen in den ökonomischen, gründeten und daß dieser Glaube seinerseits auf der Annahme von der Eigenständigkeit und der sozialen Priorität des Ökonomischen beruhte. 21
Die Ökonomisierung des Politischen hat sich weder unter liberalen noch unter marxistischen Vorzeichen realisieren lassen. Der Händler hat eher den Beistand denn die Beseitigung des Politikers und des Kriegers fordern müssen, während die an die Macht gelangten Marxisten eine beispiellose Politisierung des Ökonomischen praktizierten anstatt den umgekehrten Weg einzuschlagen. Das Ökonomische hat nicht die erwartete Eigengesetzlichkeit entfalten können, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil diese eine ideologische Annahme und keine Realität war. Das liegt nicht daran, daß - wie man oft gegen den historischen Materialismus argumentiert - ideelle, politische, geographische etc. Größen der Ökonomie als geschichtlichem Faktor mindestens ebenbürtig seien, sondern es liegt an der ursprünglichen und wesensgemäßen Verflechtung des Ökonomischen mit Macht- und Herrschaftsfaktoren; »Wirtschaft« ist nicht weniger als »Politik« oder »geistiges Leben« eine Frage von konkreter Gruppierung von Menschen, von konkreten Beziehungen konkreter Menschen zueinander. Aber wir können diese höchst heikle und zugleich reizvolle Frage hier nicht weiter verfolgen. Die Unfähigkeit von Liberalismus und Marxismus, das Politische in ihrem Sinne zu ökonomisieren, gewinnt ihr retrospektives Interesse aus der Art und Weise, wie sich eine ganz anders beschaffene Ökonomisierung des Politischen unter den Verhältnissen der westlichen Massendemokratie vollzog. Diese massendemokratische Ökonomisierung des Politischen hat nämlich weder die souveräne Alleinherrschaft des abgesonderten Ökonomischen noch den Fortfall des Politischen, sondern einen Zustand herbeigeführt, bei dem sich Politik ständig und systematisch mit ökonomischen Fragen befassen, also über die bloße Festlegung von allgemeinen Richtlinien hinausgehen muß, während Änderungen im politischen Kräfteverhältnis sehr oft über Umverteilungen und auch über mehr oder weniger institutionalisierte ökonomische Kämpfe erfolgen sowie umgekehrt. Die Wirtschaft befindet sich zwar zu einem sehr großen Teil in privaten Händen, das Ökonomi22
sehe steht aber im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit, und die politischen Eliten werden in ihrer Leistung nicht zuletzt auf Grund der Ergebnisse ihrer Tätigkeit im Hinblick auf die Wirtschaft beurteilt. Die bestehende Diskrepanz zwischen dem privaten Besitz sehr großer Teile der Wirtschaft und dem Öffentlichkeitscharakter des Ökonomischen in der Massendemokratie muß genau registriert werden. Sie impliziert, daß die privat gelenkte Wirtschaft unter ständigem politischem Druck steht, ihre Leistungsfähigkeit und ihre Eignung unter Beweis zu stellen, dem materiellen Gemeinwohl wirksamer als etwa eine Planwirtschaft zu dienen. Gerade deshalb, weil öffentliche Erwartungen an sie geknüpft werden, befindet sie sich im Zustand einer Osmose mit dem Staat und dem Politischen - sie rechnet also mit der Unterstützung der »Politik«, um ihrer sozialen Aufgabe gerecht zu werden. Profitund Statusstreben motiviert zwar die Träger der privaten Wirtschaft mehr als pure Menschenliebe, die »Politik« aber, die sich dem Druck massendemokratischer Erwartungen unmöglich entziehen kann, muß die Wirkungen privatwirtschaftlicher Tätigkeiten für das Kollektiv im Auge behalten und bei aller eventuellen Sympathie für den »Unternehmer« der vox populi Rechnung tragen. Die Erfolge des privaten Sektors der Wirtschaft in den westlichen Massendemokratien nach dem Zweiten Weltkrieg und sein neues Selbstbewußtsein nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Staatswirtschaften lassen allzuoft die sozialen und politischen Voraussetzungen privater wirtschaftlicher Tätigkeit vergessen und suggerieren bei den dazu Geneigten den Endruck, als hätte sich der liberale ökonomistische Traum jenseits traditioneller »Machtpolitik« verwirklicht. Es wird zudem übersehen, daß der öffentliche Sektor bei allen »Privatisierungen« quantitativ und oft auch qualitativ überlegen bleibt, er hat sich auch nicht durch den »neoliberalen« Rausch des letzten Jahrzehnts in erheblichem Ausmaß ersetzen oder einschränken lassen. Ökonomisierung des Politischen unter massendemokratischen Bedingungen bedeutet 23
also keineswegs dessen Abschaffung oder zunehmende Abschwächung, sondern eine notwendige Verflechtung des politischen Begriffs des Gemeinwohls mit ökonomischen Fragen vor dem Hintergrund einer massenhaft produzierenden und massenhaft konsumierenden Gesellschaft. Der Begriff des Ökonomischen verschränkte sich mit dem Begriff des Gemeinwohls und die Sorge um die Wirtschaft mit der Sorge um das Gemeinwohl, weil die Massendemokratie von ihrem sozialen Charakter her eine allmähliche Verwandlung der formellen Gleichheitsrechte in materielle anstreben muß. Die Materialisierung formeller Rechte läßt sich aber nur durch immer höhere Leistungen der Wirtschaft und durch Umverteilungen des Erwirtschafteten bewerkstelligen, die die Kaufkraft der großen Massen erhöhen. Die Priorität der Sorge um die Wirtschaft hängt unzertrennlich mit dem politischen Demokratisierungsvorgang zusammen, die Ökonomisierung des Politischen im erklärten Sinne macht daher ein Spezifikum der Massendemokratie aus, das sich mit anderen Gesellschaftsformationen, d.h. mit anderen Macht- und Herrschaftsverhältnissen schlecht verträgt. Sie gründet übrigens bereits in der Notwendigkeit, die elementare Daseinsvorsorge für riesige Zusammenballungen von Menschen zu treffen und somit eine unabdingbare Voraussetzung politischer Ordnung aufrechtzuerhalten. Das unerhörte und, man möchte sagen, skandalöse Novum der hochtechnisierten industriellen und Dienstleistungsgesellschaft im Vergleich zu den früheren Agrargesellschaften, nämlich Menschenmassen in den reichlichen Genuß von Nahrung und Energie kommen zu lassen, die derlei nicht unmittelbar produzieren, muß täglich durch unzählige kombinierte Aktionen erkämpft werden, und in seiner Zerbrechlichkeit darf es nicht Zufällen und unkontrollierten Improvisationen überlassen werden. Es wird zu einem Politikum ersten Ranges, und keine massendemokratische Politik kann Bestand haben, wenn sie die elementare Daseinsvorsorge nicht zu garantieren vermag. 24
In dieser direkten Abhängigkeit modernen Massendaseins von einer hochtechnisierten und leistungsfähigen Wirtschaft liegt der primäre Grund für das Ubergreifen der massendemokratischen Ökonomisierung des Politischen auf die planetarische Politik. Die Massengesellschaften der zweiten und der dritten Welt stehen vor der dringenden und komplizierten Aufgabe, enorme Menschenmengen zu ernähren, die sich zudem in den meisten von ihnen rasch vermehren. Die schon dadurch bedingte Notwendigkeit einer Verflechtung von politischen und ökonomischen Bestrebungen wird in ihrer ganzen Tiefe bewußt, wenn wir uns nochmals daran erinnern, daß Ökonomie und Arbeitsteilung infolge der fortschreitenden Auflösung patriarchalisch-traditioneller Gesellschaftsstrukturen immer mehr die Rolle von sozial disziplinierenden Kräften übernehmen, um die Anomie im Zaum zu halten. Das Politische wird also bereits in dem Maße ökonomisiert, wie eine zentrale politische Größe, die innere Ordnung, auf die Leistung der Wirtschaft angewiesen ist. Die Übertragung der so verstandenen Verbindung von Politischem und Ökonomischem aus dem Inneren der Staaten auf die weite Ebene planetarischer Politik ergibt die verbreitete Ansicht, internationale Ordnung würde sich am besten auf der Basis allgemeinen wirtschaftlichen Wachstums und effektiver Arbeitsleistung unter den verschiedenen Nationen festigen. Dabei wird angenommen, daß eine solche Entwicklung, falls sie harmonisch verläuft, die Forderung nach einer mehr oder weniger dirigistischen Umverteilung des Weltreichtums von sich aus gegenstandslos machen werde. Dennoch entspricht diese letztere Forderung ihrerseits aus der Übertragung eines anderen wesentlichen Aspekts der massendemokratischen Ökonomisierung des Politischen auf die planetarische Politik. Ökonomisierung des Politischen bedeutet ja auch, daß sich Politik über Verteilungen und Umverteilungen von Wirtschaftsgütern abspielt, die um so dringender werden, je mehr die materielle Interpretation des Gleichheitsgrundsatzes an Boden gewinnt und neben der Umverteilung von ökonomischen 25
auch die von politischen Gütern, also von Macht und Herrschaft, erzwingt. Die schon begonnene materielle Interpretation der Menschenrechte verschränkt sich mit solchen egalitären politisch-ökonomischen Zielsetzungen und läuft auf dasselbe praktische Ergebnis hinaus (s. Abschn.V, 2). Ökonomisierung des Politischen in der gegenwärtigen Phase planetarischer Politik bedeutet schließlich, daß die Politik zur Erreichung von Machtzielen im traditionellen strategischen und geopolitischen Sinne des Wortes zunehmend auf modernste Technik angewiesen ist. Gewiß, dies ist während der ganzen Zeit der zweiten industriellen Revolution nicht anders gewesen, die dritte industrielle Revolution aber, deren große Entfaltung nicht zufällig mit dem Ausbau der westlichen Massendemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg einherging, hat sich dahin ausgewirkt, daß auf der Basis von Elektronik und Automation die Grenzen zwischen »ziviler« und »militärischer« Technologie weitgehend verschwanden. Um entwickelte militärische Technologie ins Feld zu führen, muß man nicht andere Arbeitsmethoden und vielfach auch nicht andere Geräte benutzen als die in der zivilen Wirtschaft verwendeten, so daß das Uberspringen vom zivilen zum militärischen Sektor immer unproblematischer wird (vgl. Abschn. III). Das impliziert wiederum eine zunehmende Schwierigkeit, das Niveau der militärischen Technologie über das der zivilen in nennenswertem Maße zu heben, also die militärische Technologie als abgesonderten und privilegierten Bereich zu behandeln, wie es teilweise noch zur Zeit der zweiten industriellen Revolution möglich war. Die Sorge um die Sicherung der traditionellen Machtmittel der Politik vermischt sich somit immer mehr mit der Sorge um die Sicherung von deren wirtschaftlichen Voraussetzungen, das Politische wird diesbezüglich in demselben Ausmaß ökonomisiert, wie das Ökonomische ohne tiefgreifende Differenzierung vom Zivilen ins Militärische übergehen kann. Bei einer solchen Umstellbarkeit ziviler Wirtschaft auf militärische Zwecke oder, allgemeiner formuliert, bei einer 26
solchen Durchsetzung des Ökonomischen mit politischen Möglichkeiten (von der militärischen Präsenz bis zur Entwicklungshilfe) wird die traditionelle liberale Unterscheidung zwischen Politischem und Ökonomischem obsolet und irreführend. Diese beiden Termini in ihrer Gegenüberstellung dürfen nur noch konventionell und um der Verständigung willen verwendet werden, um Schwerpunkte entsprechend den geläufigen Vorstellungen zu umreißen. Daher kann die vielerorts gefeierte Aufwertung des wirtschaftlichen Faktors und des Ökonomischen nach dem politisch-militärischen Wettlauf des Kalten Krieges nicht als die einsetzende Verwirklichung der liberalen Utopie von der Ablösung des Krieges durch den Handel angesehen werden, die von der Annahme der Eigenständigkeit des Ökonomischen in seinem Gegensatz zum Politischen ausging. Es läßt sich kaum bestreiten, daß das Netz der internationalen Wirtschaftsbeziehungen in den letzten Jahrzehnten sich erheblich verdichtete, die multinationalen Unternehmen sich vervielfachten und die gemeinsame Herstellung hochtechnischer Produkte seitens zweier oder mehrerer Nationen sich häufte. Dennoch ist diese Entwicklung keineswegs so weit, daß sie den point of no return jenseits aller Interventionismen und Protektionismen erreicht hätte, und wir können daher nicht wissen, ob sie die Beseitigung aller Grenzen oder die Errichtung neuer Wirtschaftsimperien nach sich zieht, gegen die sich andere werden abgrenzen müssen. Geschichtliche Analogien zeigen jedenfalls, daß Spannungen gerade in Zeiten zunehmender Verflechtung wachsen können: Nähe, nicht Distanz erzeugt Friktionen. Verflechtungen größeren Ausmaßes verlaufen in der Regel so, daß eine Wirtschaftsmacht in das Gebiet einer anderen, ungefähr gleichwertigen tief genug eindringen kann, um diese in Unruhe oder Angst zu versetzen, nicht aber weit genug, um eine umfassende Einheit von Interessen auf dieser oder jener Basis zu stiften; indem sie bei ihrem Eindringen Partner gewinnt, schafft sie sich gleichzeitig Feinde, die sich durch Konkurrenz bedroht fühlen und vor dem Einsatz politi27
scher Mittel zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen nicht zurückschrecken wollen. Eine Einheit von Interessen ist eher unter Partnern ungleicher Stärke zu erwarten, wobei die schwächere Seite sich gerne oder ungerne der stärkeren anpaßt und durch diese Anpassung mehr oder weniger gut lebt. Aber es sind nicht solche Partnerschaften, die den Verlauf planetarischer Politik bestimmen. Unser Fazit kann daher unter nochmaliger Verwendung der herkömmlichen dualistischen Terminologie folgendermaßen lauten. Hinter der Ökonomisierung des Politischen, wie sie sich im massendemokratischen Zeitalter gestaltete, zeichnet sich ständig die Möglichkeit einer Politisierung des Ökonomischen ab. Ist Wirtschaft das Gebot und das Schicksal der Zeit, so muß sich Machtstreben, d. h. Kampf um Festigung oder Änderung bestimmter Beziehungen zwischen Menschen, durch die Wirtschaft seinen Weg bahnen. Es ist ein logischer und anthropologischer Fehler, Machtstreben mit Politik im Sinne des Nicht-Ökonomischen zu identifizieren und vom Fortfall der letzteren auf die unvermeidliche Eliminierung des ersteren zu schließen.
3. Ende oder Funktionswandel der souveränen Staatlichkeit? Vom Ende moderner Staatlichkeit, wie sich diese in der europäischen Neuzeit konstituierte, ist oft in unserem Jahrhundert die Rede gewesen. Die Anhänger universalethischer Anschauungen, die in der massendemokratischen Gedankenwelt gerade als Kehrseite eines radikalen Individualismus gedeihen, haben mit der Erwartung von diesem Ende emanzipatorische Hoffnungen verbunden, andere befürchteten dagegen den Verlust der realpolitischen Garantien für innere und internationale Ordnung. Um die Sache nüchtern betrachten zu können, müssen wir zunächst die demokratische ebenso wie die autoritäre Legende vom modernen souveränen Staat hinter uns lassen. Erblickte erstere in ihm eine 28
Macht oder vielmehr eine Gewalt, die im Interesse der Herrschenden Freiheitsregungen und Gleichheitsforderungen von unten unterdrückte, so stellte ihn letztere als eine über allen Klassen und Partikularinteressen stehende autonome Wesenheit, als einen das Gemeinwohl hütenden sterblichen Gott hin. In beiden Fällen hat die politisch-ideologische Absicht zu negativen oder positiven Hypostasierungen geführt, die zur Erfassung der jeweiligen Funktionen des neuzeitlichen Staates wenig taugen. Seit seiner Herausbildung ist dieser Staat bald der Reform, bald der Reaktion, manchmal der Verteidigung und manchmal der Bekämpfung von bestehenden Interessen zu Hilfe gekommen. Demokraten und Sozialisten haben sich nicht unwohl gefühlt, wenn sie in den Genuß der Staatsmacht kamen, während autoritär Gesinnte den Respekt vor dem sterblichen Gott prompt verloren haben, sobald er seine Gunst anderen schenkte. Das heißt: der neuzeitliche Staat ist ein unendlich plastisches und anpassungsfähiges Instrument gewesen, in seiner schon jahrhundertealten Geschichte hat er sich mit sehr unterschiedlichen sozialen Schichten verbündet und den unterschiedlichsten Zielsetzungen gedient, indem er seinen Umfang, seine Organisationsform und seine physischen Träger jeweils änderte. Die Rede vom Ende der Staatlichkeit konnte und wollte aber den geschichtlichen Sachverhalt und Hergang nicht berücksichtigen. Sie machte sich vor allem als autoritärer Protest vernehmbar, und zwar einerseits gegen die zunehmend massendemokratische Orientierung der Staatspolitik im 20. Jh., andererseits gegen das, was außenpolitische Handlungsunfähigkeit eines »liberalen« bzw. massendemokratischen Staates erschien. Hier schwebte offenbar ein normativer Staatsbegriff vor, der dann zum geschichtlichen, eine ganze Epoche prägenden Faktum hochstilisiert wurde. Der Angriff dieser autoritären (in ihrer sozialen Inspiration eigentlich altliberalen) Auffassung gegen den massendemokratischen Staat, welcher freilich aus der Sicht ihres normativen Staatsbegriffes kein »wahrer« Staat mehr sein konnte, konzentrierte sich nicht zuletzt auf die Ökonomi29
sierung des Politischen, die angeblich dem Staat seine ehemalige Würde als Hüter des Gemeinwohls entzog und ihn zum willenlosen Organ von Privatinteressen machte. Dabei wurden die geradezu politischen Aspekte der Ökonomisierung des Politischen verkannt, die wir im vorigen Abschnitt andeuteten. Nicht nur sind Daseinsvorsorge (als Damm gegen die Anomie) und Umverteilung politische Akte par excellence, sondern auch die Ökonomisierung des Politischen hat aus dem Staat den bei weitem größten Arbeitgeber und den Verwalter des Löwenanteils des Nationaleinkommens gemacht. Mai* muß freilich den hochpolitischen Charakter dieser Entwicklungen übersehen, wenn man an einem einseitigen und längst überholten Politikbegriff festhält. Im Hinblick auf die planetarische Politik dieses Jahrhunderts machte die These vom Ende der Staatlichkeit geltend, daß die Unterwerfung der außenpolitischen Tätigkeit der Staaten unter universalethische Prinzipien die Staatlichkeit deshalb zerstören müßte, weil sie die Staatsräson als legitime Richtlinie staatlichen Handelns kriminalisierte und diesem somit die einzig souveräne Grundlage entzog. Im Kalten Krieg schien die Staatlichkeit von beiden Seiten her unter Beschüß zu geraten, denn beide führten ihren Kampf im Namen universalistischer und internationalistischer bzw. freiheitlicher und proletarischer Prinzipien, denen die Loyalität des Einzelnen mehr gelten sollte als dem eigenen (gleichviel, wie beschaffenen) Staat. Diese Lagebeschreibung enthält in der Tat wichtige Beobachtungen und dennoch erschöpft sie nicht alle Aspekte, derart, daß von ihr auf das Ende der Staatlichkeit an sich und überhaupt geschlossen werden dürfte. Es ist zunächst geschichtlich und methodisch nicht korrekt, das ideologische Selbstverständnis einer stilisierten (europäischen) Vergangenheit mit Teilaspekten der (planetarischen) Wirklichkeit der Gegenwart zu kontrastieren. Selbst in ihrer Blütezeit verschmähte Staatsräson keineswegs das propagandistische Bündnis mit christlichen und ethischen (also universalistischen) Prinzipien, genauso wie die Propagierung universalethischer Prinzipien als 30
Richtlinien internationaler Politik in diesem Jahrhundert eine ziemliche Portion Staatsräson enthielt. Staatlichkeit stellte zwar ein völkerrechtliches Argument für die eigene Sache und den eigenen Staat dar, am nötigen Respekt vor ihren Regeln ließ man es aber oft fehlen, wenn es um den Staat des anderen ging; denn der Respekt dauerte normalerweise nur solange, wie das Kräfteverhältnis ihn erzwang. Daher nahm Staatlichkeit auf europäischem Boden eine besonders ausgeprägte Gestalt an, als ein System von Staaten entstand, die entweder gleich stark unter sich waren oder fehlende Stärke durch zweckmäßige Bündnisse wiedergutmachen konnten. Das, was die »klassische Staatlichkeit« genannt wurde, gedieh unter besonderen Bedingungen, die mit einer bestimmten Machtkonstellation zwischen den europäischen Großstaaten und nicht unbedingt mit der inneren Entwicklung des Staates als spezifisch neuzeitlichen Gebildes zu tun hatten. Deshalb waren mit den Attributen der souveränen Staatlichkeit im Grunde nur jene Staaten ausgestattet, die diese Konstellation bildeten. Die napoleonischen Kriege und die Art und Weise, wie in jenen weltgeschichtlich wichtigen Jahren Staatlichkeit gehandhabt wurde, beweisen übrigens ex negativo die Abhängigkeit der »klassischen Staatlichkeit« von einer bestimmten Lage, in der das Kräfteverhältnis bestimmte Spielregeln ermöglichte und sogar erforderte. Es war eine oligarchische Staatlichkeit, wenn man so sagen darf, und sie schwand nicht so sehr deshalb dahin, weil ihre Prinzipien außer Kraft gesetzt wurden, sondern vielmehr deshalb, weil letztere auf einem breiteren - zuerst europäischen und dann planetarischen - Raum ausgedehnt wurden, in dem die Staaten keinerlei Konstellationen der erwähnten Art unter sich bilden konnten. Der Kalte Krieg hat diese teils fiktive, teils durch die Besonderheiten europäischer Außenpolitik bedingte »klassische Staatlichkeit« tatsächlich in Frage gestellt, denn die eine Seite machte sich auf programmatischer Ebene für die Beseitigung aller Staatsgrenzen und Staaten bzw. für die Verbrüderung aller Völker innerhalb einer klassenlosen Weltgesell31
schaft stark, wobei sie die Anhänglichkeit an dieses Ideal höher als die Treue zum jeweils eigenen Staat schätzte; die andere Seite stellte wiederum totalitären Praktiken universalethische Grundsätze und der Abkapselung hinter dem Eisernen Vorhang die Vision einer offenen und einheitlichen Welt gegenüber. Hätten diese Positionen in die Tat umgesetzt werden können, so wären freilich Substanz und Form der Staatlichkeit dahin. Die Wirklichkeit ging aber differenzierter vor, sie kanalisierte nämlich die programmatischen Erklärungen derart, daß sie sich zugunsten jener Staatlichkeit haben instrumentalisieren lassen, die sie, in ihrem Nominalwert genommen, aufheben sollten. Auf kommunistischer Seite wurde der proletarische Internationalismus für die Zwecke der souveränen Staatlichkeit der ehemaligen Sowjetunion eingespannt, und gleichzeitig verflochten sich kommunistische Bewegungen größter Energie mit nationalistischen Zielsetzungen, da der Kampf gegen einen kapitalistischen Kolonialherren ein Bekenntnis des Nationalismus zum Kommunismus nahelegte; aus solchen Bewegungen gingen Staaten wie etwa China oder Vietnam hervor, die ihre staatliche Souveränität auf stolze und, man möchte fast sagen, »klassische« Weise geltend machten. Im westlichen Lager führte andererseits die Ablehnung des proletarischen Internationalismus zu einer positiven Einstellung zur Nation und zum unabhängigen Staat als den natürlichen politischen Einheiten. Gleichzeitig konnte sich auch im Westen der universalistische Ansatz vielfach in den Dienst der imperialen Aspirationen der führenden souveränen Staatsmacht stellen. Schon das massive Aufgebot universalistischmenschenrechtlicher Prinzipien zur Gestaltung internationaler Politik nach dem Ersten Weltkrieg hatte übrigens überaus deutlich gezeigt, wie sich diese selektiv handhaben und in machtpolitische Instrumente bestimmter Staaten gegen andere umfunktionieren lassen. Die konkrete und partikulare Anwendung von abstrakten und universellen Prinzipien bedeutete zwar die Abschwächung der souveränen Staatlichkeit des einen, gleichzeitig bewirkte sie aber die 32
Stärkung jener des anderen. Staatlichkeit hätte nur dann durch die Verbreitung universeller Prinzipien zerstört werden können, wenn diese in ihrem Nominalwert genommen und konsequent angewandt worden wären. Diese kurze Retrospektive dürfte den Blick für die heutige Konstellation schärfen, in der ebenfalls das Uberhandnehmen des menschenrechtlichen Universalismus - neben der Wirkung von internationalen Organisationen und den wirtschaftlichen Verflechtungen - das Ende der Staatlichkeit anzubahnen scheint. Tagespolitisch gesehen entspricht dieses Uberhandnehmen vitalen Interessen mehrerer Seiten, die in der Sprache der Menschenrechte manches handfeste Anliegen artikulieren wollen (s. Abschn. V). In struktureller Hinsicht handelt es sich um einen weiteren Aspekt der Planetarisierung massendemokratischer Phänomene, da sich in der ethischen Sprache des menschenrechtlichen Universalismus die soziologischen Fakten massendemokratischer Atomisierung und massendemokratischen Wertpluralismus niederschlagen. Die Folge davon wäre jedenfalls eine Aufhebung der Staatssouveränität durch Intervention fremder Mächte, die sich unter Berufung auf die Menschenrechte legitimieren würden; die deutliche Grenze zwischen Innenund Außenpolitik, ohne die ein souveräner Staat schwerlich auskommt, wäre somit hinfällig geworden, was als Pendant zur Verwischung der Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem im Inneren der Massendemokratie betrachtet werden könnte. - Es ist dennoch sehr zu bezweifeln, ob planetarische Politik diesen direkten Weg gehen und sich durch konsequente Anwendung der universalethischen und menschenrechtlichen Prinzipien von der Staatlichkeit verabschieden wird. Denn es läßt sich nicht damit rechnen, daß praktisch wirkungsvolle Eingriffe in die Innenpolitik der gegenwärtigen Staaten zur Durchsetzung dieser Prinzipien von allen möglichen Seiten in Richtung auf alle möglichen Seiten unternommen werden können. Die Großmächte werden sich diesbezüglich als viel beweglicher und effizienter erweisen, so daß der faktische Unterschied zwischen 33
Subjekten und Objekten planetarischer Politik auch unter der prächtigen Decke allgemein anerkannter menschenrechtlicher Gleichheit weiter bestehen wird. Anders gewendet: der menschenrechtliche Universalismus wird seine Wirkung nicht in abstracto, in seinem Nominalwert und unabhängig von der Beschaffenheit seiner jeweiligen Vertreter entfalten. Er wird dies über konkrete Akteure tun müssen, die ihn instrumentalisieren werden; wird aber ein Universalismus instrumentalisiert, so wird er eo ipso partikularisiert, also in den Dienst von Staatszwecken gestellt. In dieser Perspektive muß das allgemeine Bekenntnis zu universalethischen Prinzipien nicht die Staatlichkeit gefährden, wenn diese nicht durch immanente Schwäche gefährdet ist; allerdings wird sie unter Umständen gezwungen sein, ein Versteckspiel zu treiben, solange sie nicht zur unverblümten Verletzung jener Prinzipien greift. Die Verstellungs- und die Rationalisierungskunst werden jedenfalls im Zeitalter der Menschenrechte nicht aus der Welt verschwinden müssen. Trotz der kleineren oder größeren Vermischung von Innen- und Außenpolitik infolge eines allgemeinen Bekenntnisses zu universellen ethischen Prinzipien muß also keine totale Aufhebung der Grenze zwischen den beiden und somit der Staatlichkeit eintreten. Vielmehr wird es sich damit ähnlich verhalten wie mit der Wirtschaftsverflechtung: Grenzen werden in normalen Zeiten (viel) durchlässiger, sie fallen aber nicht, sondern sie bleiben im Hintergrund als ultima ratio für den Notfall bestehen. Die souveräne Staatlichkeit ist heute noch immer weit entfernt, sich in einem solchen Ausmaß preisgegeben zu haben, daß sie nicht das zurücknehmen kann, was sie bis jetzt in dieser oder jener Form hat abtreten wollen - vorausgesetzt freilich, sie hat die faktische Macht dazu. Man sollte nicht die politische Bedeutung des internationalen Rechts oder der internationalen Organisationen überbewerten und die Ansätze zu ihrem Ausbau als gezielte und unumkehrbare Aktionen zur Abschaffung souveräner Staatlichkeit deuten. Internationales Recht und internationale Organisationen sind angesichts 34
der inzwischen erreichten Dichte planetarischer Politik unentbehrlich geworden, es bleibt aber offen, ob sie den gemeinsamen Verständigungsort oder das gemeinsame Schlachtfeld abgeben werden. Denn ihre Herausbildung liegt offenbar im Interesse aller Beteiligten, das kann aber nicht immer mit ihrer jeweiligen Handhabung der Fall sein. Ebenfalls wäre es ein Kurzschluß, jene Phänomene massendemokratischen Lebens, in denen lamentierende Kulturkritiker Auflösungserscheinungen und harmlose »Alternative« sichere Zeichen der Emanzipation erblicken, in die Zukunft geradlinig hineinzuprojizieren, ihre lawinartige Zunahme zu prophezeien und sie als den Anfang vom befürchteten oder vom erhofften Ende der Staatlichkeit anzusehen. Zweifelsohne kann es innerhalb der entwickelten Massendemokratie oft den Anschein haben, als ob Staatsmacht ihre unumstrittene Autorität verloren hätte und zu einer unter mehreren untereinander konkurrierenden Machtinstanzen degradiert worden wäre, daß Staatliches und Privates nunmehr auf derselben Stufe stünden oder daß die Verbreitung hedonistischer Einstellungen die ideologischen und psychologischen tragenden Kräfte der Staatlichkeit unterminiere. Dazu sind zwei Bemerkungen am Platz. Erstens muß die strukturelle Notwendigkeit solcher Phänomene für das Funktionieren der Massendemokratie als Wirtschaft und als Institutionsgeflecht unterstrichen werden; nicht alle ihre Nebenwirkungen und Begleiterscheinungen sind freilich vorhersehbar und kontrollierbar, mit der Ambivalenz von Institutionen und Einstellungen haben aber viele Gesellschaftsformationen in der bisherigen Geschichte leben müssen, die sich als äußerst zäh erwiesen. Zweitens darf man nicht Erscheinungen, die in relativ ruhigen und prosperierenden Zeiten äußerlich den Ton angeben, als relevant oder entscheidend für jede künftige Lage halten. Staatlichkeit wird sich innerhalb der entwickelten Massendemokratie dann laut zu Wort melden müssen, wenn innere oder äußere Gefahr im Horizont auftaucht oder wenn plötzliche Umstellung der Konstellation Umorientierung 35
gebietet. Welche Gründe Staatlichkeit für die weniger entwickelten Massengesellschaften unverzichtbar machen, werden wir bei der Erörterung der Nationalismusfrage noch sehen (Abschn. II). In beiden Fällen gibt es heute keine Alternative zum Staat als Organisationsform. Wir haben bereits auf die »neoliberale« Uberschätzung der funktionellen Eigenständigkeit der Privatwirtschaft hingewiesen sowie auf die neuen, geradezu politischen Aufgaben, die dem Staat infolge der Ökonomisierung des Politischen zufallen. Privatwirtschaft kann sich ohne starke institutionelle Garantien und den vom Staat festgelegten wirtschafts- und finanzpolitischen Rahmen kaum entfalten, und es wäre höchst irreführend, den inneren Zusammenhang zwischen der allgemeinen Erweiterung der staatlichen Funktionen und dem allgemeinen Florieren der Privatwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg zu verkennen, obwohl andererseits die Folgen übertriebener und unzweckmäßiger Bürokratisierung bekannt sind. Sehr häufig lebt jedenfalls die Privatwirtschaft direkt davon, daß der Staat machen läßt statt selber zu machen - und dann lebt sie vielleicht sogar am besten, wie ihr eifriges Bemühen um die Erhaltung von öffentlichen Aufträgen indiziert. Die faktische wirtschaftliche Unentbehrlichkeit des Staates wird deutlicher, wenn wir bedenken, an wen sich Proteste und Forderungen richten, sobald der privatwirtschaftliche Sektor stagniert. Die Privatwirtschaft kann mit anderen Worten für nichts haften und für nichts verantwortlich gemacht werden, was mit dem Gemeinwohl zu tun hat. Nur die Rücksicht auf das Gemeinwohl (gleichviel, wer es jeweils verbindlich definiert) kann aber das Abgleiten in die Anomie und somit auch den Zusammenbruch wirtschaftlicher Tätigkeit - zumal einer sehr komplizierten - verhindern. Die faktische Autonomisierung einer internationalisierten Privatwirtschaft über die Köpfe von entmachteten Staaten hinweg würde einen Zustand tiefer Anomie, d.h. eine Rückkehr zum Faustrecht herbeiführen. Anomie läßt sich aber bei der gegenwärtigen Verfassung der Weltgesellschaft nur im Be36
reich und mit den Mitteln herkömmlicher Staatlichkeit wirksam bekämpfen. Diese Verbindung von wirtschaftlichen Funktionen mit der gewaltigen künftigen Aufgabe der Eindämmung der Anomie wird in der anbrechenden Phase planetarischer Politik die Grundlage abgeben, auf der sich Staatlichkeit in älteren und neueren Formen weiterhin behaupten wird. Es ist sicherlich überflüssig, die Rolle der außenpolitischen Konflikte oder Ernstfälle für die Erhaltung und gegebenenfalls die Verstärkung der Staatlichkeit eigens hervorzuheben. Wir wollen daher mit der Bemerkung schließen, die Staatsorganisation werde zu alledem noch die Zuflucht sowohl der großen als auch der kleinen Nationen vor den politischen Unwägbarkeiten der universalethischen und menschenrechtlichen Prinzipien bleiben. Denn nur als organisierte Staatsmacht kann sich eine große oder kleine Nation gegen Interpretationen dieser Prinzipien wehren, die sie im Verdacht hat, Machtgelüste anderer Nationen zu verbergen. Nur als Staat kann sich insbesondere eine große Nation notfalls gegen die ganze internationale Gemeinschaft stellen. Und nur als Staat kann eine kleine Nation mit einer großen Nation, die auch ein Staat ist, von gleich zu gleich reden.
4. Offenheit der
Konstellationen
Seitdem es menschliche Geschichte und geschichtliche Erinnerung gibt, führen die Schwierigkeiten der Gegenwart zur Idealisierung der Vergangenheit - auch der jüngsten. Kaum ist der Kalte Krieg zu Ende, da mehren sich schon die Stimmen, die in dramatischen Tönen vor einer sich abzeichnenden internationalen Unordnung warnen, so daß man den Eindruck gewinnen könnte, bis vor kurzem noch herrschten Ordnung und Harmonie in der Welt. In Wirklichkeit haben weder Ordnung noch Unordnung in der Geschichte absolut und dauerhaft sein können: absolute und dauerhafte Unordnung hätte bald die Auflösung sozialen 37
Lebens bewirkt, absolute und dauerhafte Ordnung hätte den Konflikten aller Art für immer ein Ende gesetzt, sie ließe sich also nie wieder aus den Angeln heben. Wenn wir von Ordnung in den internationalen Beziehungen aller Zeiten reden, so dürfen wir damit sinnvollerweise nur eine Kräftekonstellation meinen, die dank ihrer relativen Stabilität schwere Konflikte an den neuralgischen Punkten des Systems verhindert, obwohl solche Konflikte an der Peripherie oft ausbrechen und obwohl es hin und wieder auch im Zentrum knistert. Wann auch immer Ordnung - mit diesen Einschränkungen - geherrscht hat, beruhte sie jedenfalls auf zwei Voraussetzungen. Erstens, zwischen den führenden Mächten bestand ein direktes oder indirektes (nämlich durch Bündnisse hergestelltes) Gleichgewicht der Kräfte und gleichzeitig eine mehr oder weniger klare Hierarchie in den Beziehungen zwischen führenden und untergeordneten Mächten; zweitens, es war eine Leitidee oder ein Leitprinzip vorhanden, das zwar von mancher (in der Regel untergeordneten) Macht mit Vorbehalten oder wider Willen akzeptiert wurde, hinsichtlich seiner politischen Substanz und seiner politischen Folgen aber keine Mißverständnisse aufkommen ließ. Zwei Beispiele aus der planetarischen Politik der letzten hundert Jahre dürften dies illustrieren. Mit dem ungefähren Gleichgewicht der Kräfte zwischen den europäischen imperialistischen Mächten ging die klare Hierarchie zwischen Herr und Knecht im fast weltumspannenden kolonialen System einher; und diese Hierarchie legitimierte sich durch die selbstauferlegte zivilisatorische Mission jener Mächte, die sich als gemeinsame Vollstrecker derselben und zugleich als gleichberechtigte Angehörige eines christlichen, liberalen etc. Abendlandes ansahen. Ähnlich sah es während des Kalten Krieges aus: die beiden Großmächte hielten sich die machtpolitische Waage, wobei die eine in ihrem Lager unter Berufung auf das (entsprechend gedeutete) Prinzip des proletarischen Internationalismus unangefochten kommandierte, während die andere als Vertreterin und sogar als Verkörperung der freiheitlichen Prinzipien den Westen, wenngleich lockerer, an der Leine führte. 38
Im Hinblick auf die planetarische Konstellation nach dem Kalten Krieg muß demnach die Frage gestellt werden, welches Leitprinzip welche Mächte zu welchen Ordnungsvorstellungen und zu welchen damit zusammenhängenden Handlungen bewegen werde. Erwartungsgemäß wurde nun zum Leitprinzip der Weltpolitik das Leitprinzip des Siegers des Kalten Krieges, nämlich der menschenrechtliche Universalismus. Der Einsatz dieses Prinzips als Waffe gegen den Kommunismus war indessen politisch viel einfacher als seine praktische Umsetzung in ein tragfähiges Ordnungskonzept planetarischer Politik. Da, wo es nach Möglichkeit in den entsprechenden Bürgerrechten substanzialisiert wird, stützt es sich auf eine entwickelte Arbeitsteilung als Ersatz für die Auflösung traditioneller Bindungen, auf den Massenkonsum und auf dazu passende Mentalitäten und Verhaltensweisen. Aber die politischen Bestandteile des Planeten werden keineswegs durch die Kräfte zusammengehalten, die die Kohäsion der westlichen Massendemokratien gewährleisten, und daher erscheint die planetarische Anwendbarkeit des genannten Leitprinzips höchst fragwürdig. Es wäre theoretisch denkbar und ethisch orthodox, mit seiner planetarischen Realisierung eine Weltorganisation zu beauftragen, in deren Rahmen sich große und kleine Staaten im Einvernehmen miteinander zu diesem Zweck betätigen würden. Der Prüfstein für die so verstandene Handlungs- und Leistungsfähigkeit dieser Weltorganisation wäre der Fall, bei dem eine große oder gar eine planetarische Macht auf Initiative kleinerer Staaten notfalls mit direkter Intervention bestraft werden könnte, sollte sie sich der Verletzung der allgemein anerkannten ethisch-rechtlichen Grundsätze schuldig machen. Das kam freilich während des Kalten Krieges nie praktisch in Frage und erscheint auch heute einfach undenkbar: China bleibt selbstbewußtes ständiges Mitglied des Weltsicherheitsrates und arbeitet dort mit jenen Mächten zusammen, die ihm wirtschaftliche Sanktionen wegen Mißachtung der Menschenrechte auferlegen oder damit drohen; ebensowenig haben die Vereinigten Staaten wegen völkerrechtlicher 39
Fehltritte je leiden müssen. Der umgekehrte Fall, bei dem auf Initiative und durch die Schlagkraft einer Großmacht eine kleine Macht zur menschenrechtlichen Räson gebracht würde, beweist gar nichts für die Fähigkeit einer Weltorganisation, den menschenrechtlichen Universalismus zum Leitprinzip planetarischer Politik zu machen. Denn es hat sich bisher nie ereignet, daß eine Großmacht bei einer solchen Aktion gegen die eigenen machtpolitischen Interessen gehandelt hätte. Gerade die Durchsetzung menschenrechtlicher Prinzipien unter der Bedingung ihrer machtpolitischen Instrumentalisierung bezeugt die Unmöglichkeit, sie in ihrem Nominalwert in die Praxis umzusetzen - was sich allerdings sehr wohl mit dem allgemeinen Bekenntnis zu ihnen verträgt. Ihre selektive Handhabung, die sich nicht vermeiden läßt, solange Weltorganisationen nur unter der Führung von Großmächten handlungsfähig sind, muß Doppelzüngigkeit und Verwirrung hervorrufen. Hinzu kommt die Unsicherheit in der internationalen Rechtslage auf Grund der Tatsache, daß Normen theoretisch auch an Orten gelten sollen, wo sie faktisch nicht gelten (können). Das universale Recht greift nicht, vielmehr schwebt es über seinen vermeintlichen Anwendungsgebieten. Kommt es auf das Gewicht und die eigenen Ziele der Großmächte innerhalb der Weltorganisation an, so könnte man sich vorstellen, daß sie gemeinsam und auf lange Dauer unter taktisch flexibler Berufung auf menschenrechtliche Prinzipien das Weltgeschehen lenken, also im großen ganzen den Status quo bewahren oder manche Umstellung vornehmen, die für größere Stabilität bürgt. Dazu sind aber langfristig unveränderte Beziehungen zwischen diesen Mächten auf der Basis ihres heutigen Potenzials und ihres heutigen Status - vielleicht mit kleineren Anpassungen erforderlich. Als Garant dieses Systems müßte sich eine Großmacht an die Spitze der übrigen stellen, die sie dann koordinieren und leiten würde, ohne zwar in wichtigen Angelegenheiten gegen ihren Willen zu handeln, aber auch ohne ihnen ausschließliche und geschlossene Einflußsphären 40
zuzugestehen. Für diese Möglichkeit spricht die Tatsache, daß unmittelbar nach dem Kalten Krieg und unter seinem noch frischen Eindruck keine akute und unversöhnliche Konkurrenz zwischen (den) Großmächten zu herrschen scheint, mit der es sich nicht leben ließe; erst im nachhinein kann man übrigens wissen, mit welchen Konflikten eine Lage schwanger geht. Außerdem ist der unentbehrliche primus inter pares auch vorhanden, der Meinungen und Aktionen aufeinander abstimmen und notfalls allein ausführen kann. In der Tat gibt es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nur eine Großmacht auf der Welt, die die Bezeichnung »planetarisch« voll und ganz verdient: die Vereinigten Staaten. Als einzige verfügt sie über ein dichtes und weltweites strategisch-militärisches Netz sowie über die ganze Skala der Logistik und der Waffen, die Eingriffe in jede Lage und jede Stelle des Planeten mit den jeweils geeigneten Mitteln gestattet. Die Grundlagen dafür wurden schon während des Zweiten Weltkrieges gelegt, und der Kalte Krieg machte die Errichtung des heutigen mächtigen Baus unvermeidlich. Diese außerordentliche geschichtliche Konstellation wird sich auf absehbare Zeit nicht wiederholen, und deshalb wird keine andere Großmacht - angenommen, sie hätte die wirtschaftliche Potenz dazu - so schnell in den Besitz solcher strategischer Vorteile kommen, es sei denn, sie geht vor aller Welt auf direkten Kollisionskurs mit den Vereinigten Staaten und kann auch den Wettkampf mit ihnen überstehen. Sollte sich jedenfalls ein modus vivendi zwischen den Großmächten festigen, bei dem - wegen allgemeiner Schwäche oder wegen gleicher Stärke oder nach Abwägung der Vor- und Nachteile - jede von ihnen einen ausreichenden Entfaltungsraum innerhalb eines gemeinsam getragenen Sicherheitssystems besäße, so dürfte angenommen werden, daß die Vereinigten Staaten den primus inter pares stellen würden, selbst wenn der Akzent eher auf das »primus« denn auf das »pares« gelegt werden müßte. Nun setzt, wie gesagt, eine solche Konstellation stabile Beziehungen und begrenzte Ambitionen der sie tragenden 41
Großmächte voraus. Sie erfordert zudem, daß die führende Macht jederzeit bereit ist, die in ihrem ausschließlichen Besitz befindlichen Mittel für Zwecke einzusetzen, die nicht immer die eigenen wären, dennoch als gemeinsam gelten dürften. Das wird sie mit irreparablem Kräfteverschleiß tun müssen, wenn die anderen Mächte ihr wirtschaftlich und finanziell nicht unter die Arme greifen. Das muß wiederum auf gleichsam institutionalisierter Basis erfolgen, so daß die führende Macht nicht als der kopflose Söldner der anderen in der Stunde der Not dasteht; eine Regelung des Welthandels zu ihren Gunsten wäre z.B. eine naheliegende Folge dieser planetarischen Konstellation. Als führende Macht des Westens im Kalten Krieg waren die Vereinigten Staaten auf solche Unterstützung ihrer Verbündeten in relativ kleinem Ausmaß angewiesen (in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg war sogar gerade das Gegenteil der Fall), jetzt scheint sich aber die Lage diesbezüglich geändert zu haben. Die Großmächte, die die Sicherheitspartner der Vereinigten Staaten im Rahmen der hier geschilderten Konstellation wären, müßten zur Uberzeugung gelangt sein, der Nutzen davon würde die wirtschaftlichen und eventuell auch politischen Kosten decken. Wird mangels sichtbarer Gefahren oder wegen falscher Einschätzung bestehender Gefahren der Nutzen nicht hoch genug veranschlagt, so muß es zwischen der führenden Macht und den restlichen Großmächten zu Reibungen kommen. Denn die angedeutete politischmilitärisch-wirtschaftliche Arbeitsteilung käme vor allem der führenden Macht gelegen, während die anderen lieber in einer Welt leben würden, in der sich der eine große Weltpolizist vollends - aber ohne Risiko - erübrigt. Die zentrifugalen Kräfte müßten sich verstärken, sollte es sich wiederholt herausstellen, daß sich die führende Macht nur dann teilweise oder ganz engagiert, wenn eigene Interessen tangiert werden, oder daß sie - wiederum mit Rücksicht auf eigene Belange - eine Großmacht bevorzugt und andere benachteiligt. Es ist auch nicht leicht vorstellbar, daß die führende Macht bereit wäre, den großen Einsatz zu proben, 42
stünden ausschließlich die Interessen einer einzigen verbündeten Macht auf dem Spiel. Ebenfalls schwer vorstellbar ist die volle und bedingungslose Anteilnahme der anderen Mächte bei einem solchen Fall. Und schließlich muß man auch bei gemeinsamen Unternehmungen mit ständigen Meinungsverschiedenheiten über den zu wählenden Aktionskurs rechnen, worin sich unterschiedliche Interessenlagen widerspiegeln würden. Erreichen die Friktionen innerhalb dieser Konstellation eine solche Intensität, daß die notwendige Vertrauensbasis zerbricht oder der vorgesehene Mechanismus der Krisenbewältigung in kritischen Situationen versagt, so wird der Übergang zu anderen Konstellationen unumgänglich. Die Überlegung liegt nahe, daß in einem solchen Fall Großmächte, die bereits über einen eigenen relativ geschlossenen wirtschaftlichen und politischen Entfaltungsraum verfügen, sich von der Verpflichtung gemeinsamen Handelns freimachen und den eigenen Weg gehen, an dessen Ende die Herausbildung von Großräumen mit Interventionsverbot für andere Mächte stünde. Diese Überlegung bleibt beliebt und taucht immer wieder auf (sie schwingt übrigens manchmal auch in der geläufigen Rede vom »multipolaren« System mit), weil sie das Ordnungs- und Symmetriebedürfnis befriedigt und außerdem subjektive Wünsche nach Beförderung dieser oder jener Macht zur Großraummacht in einer objektiv klingenden juristischen oder politischen Sprache artikulieren läßt. Nicht von ungefähr gewannen ähnliche Überlegungen und Pläne, die vielfach durch die gerade entstandene »Geopolitik« begründet wurden, ihre größte Popularität im Zeitalter des Imperialismus, als die Aufteilung des Planeten in Großräume großenteils Realität wurde. Realität wurde sie ebenfalls, wenn auch unter wesentlich anderen Vorzeichen, zur Zeit des Kalten Krieges, damals waren aber die Worte »Geopolitik« und »Großraum« wegen ihrer Beliebtheit bei den Nationalsozialisten verpönt. Eine reale Basis für die Schaffung von Großräumen sieht man heute oft in der Entwicklung der hochtechnisierten Wirtschaft, 43
die aus ihrer inneren Dynamik heraus nationale Grenzen sprengt, bei ihrer Internationalisierung aber sich nicht ziellos ausbreitet, sondern Tendenzen zur Herausbildung einer Reihe von geballten Konzentrationspunkten innerhalb bestimmter Regionen des planetarischen Raums erkennen läßt. Jede dieser Regionen liegt im weiteren Umkreis des Landes, in dem die stärkste Volkswirtschaft beheimatet ist, und muß sich dadurch kennzeichnen, daß der in ihr abgewickelte Handel das Hauptvolumen des Handels sowohl der stärksten Volkswirtschaft als auch der von ihr abhängigen Volkswirtschaften ausmacht, während der Handel mit anderen Ländern oder Regionen nicht lebensnotwendig ist. Die schwächeren oder kleineren Volkswirtschaften können - nicht trotz, sondern geradezu - wegen ihrer Abhängigkeit von der stärksten prosperieren, weil das quantitative und qualitative Wachstum dieser letzteren immer neue Arbeitsmöglichkeiten und eine immer kompliziertere Arbeitsteilung schafft, die die Arbeitskräfte der stärksten Volkswirtschaft zum Teil überfordert und die in manchem ganz spezialisierten oder aber auch elementaren Bereich gleichsam durch das Delegieren von Aufgaben funktioniert. Diese Arbeitsteilung kann soweit gedeihen, daß die abhängigen Volkswirtschaften zeitweise das Selbstbewußtsein relativer Autonomie entwickeln können, um sich dann bei eintretenden Ermüdungserscheinungen der Lokomotive eines Besseren belehren zu lassen. Beobachter, die die Entstehung geopolitisch markanter Großräume von der Automatik einer großen expandierenden Volkswirtschaft und der Verflechtung benachbarter Volkswirtschaften erwarten, variieren im Grunde das alte Leitmotiv der Ablösung des Krieges durch den Handel, welches verständlicherweise nach dem Kalten Krieg eine Renaissance erlebt. Der Weg, der zu solchen Großräumen führen würde, ist aber keineswegs so geradlinig, wie es ökonomistisches Denken suggeriert. Wie bereits bemerkt, sind die wirtschaftlichen Verflechtungen noch immer keineswegs so weit fortgeschritten, daß die politische Notbremse nicht je44
derzeit - freilich mit den entsprechenden Kosten - gezogen werden könnte; Neuauflagen des Ediktes von Nantes, diesmal gegen ausländische Investitoren, wären in unserer Zeit sogar ohne religiöse Motivation und sogar in Kenntnis der wirtschaftlichen Folgen denkbar. Der Widerstand gegen die Herausbildung von echten Großräumen im Zeichen der jeweils stärksten Volkswirtschaft muß aber nicht nur von Nationen kommen, die sich in der betreffenden Region befinden und eine Überrumpelung befürchten, sondern auch von außen, nämlich von einer Großmacht, die den eigenen Großraum wenigstens ansatzweise bereits besitzt und darüber hinaus Möglichkeiten planetarischen Handelns hat, die sie nicht durch Interventionsverbote anderer Großraummächte begrenzt sehen will. Diese Großmacht sind heute die Vereinigten Staaten. Eine wirtschaftliche Großmacht, die den Aufbau eines in jeder Hinsicht souveränen Großraums in Angriff nehmen würde, müßte das planetarische politisch-militärische Netz der Vereinigten Staaten um ein ziemlich großes Stück auftrennen und dann nicht bloß dieses Stück durch eigenes politisch-militärisches Potenzial ersetzen, sondern darüber hinaus imstande sein, über die Grenzen des Großraums hinaus ihre Anwesenheit sowohl in normalen als auch in unruhigen Zeiten bemerkbar zu machen; eine Großraummacht müßte also mehr oder weniger auch planetarische Macht sein. Die heutigen wirtschaftlichen Großmächte werden sich indes nicht so schnell und nicht so leicht in der Lage dazu befinden, und zwar nicht so sehr deshalb, weil sich dies technisch bei der angemessenen Anstrengung nicht bewerkstelligen läßt, sondern eher aus der Zweideutigkeit ihrer Position heraus. Sie sind groß - und sogar Großraumaspiranten - während des Kalten Krieges und im Treibhaus der Vereinigten Staaten geworden (wenn man so sagen darf) und stehen noch immer unter deren militärischem Schirm. Sie befürchten weiterhin, daß die totale oder teilweise Auftrennung des amerikanischen politisch-militärischen Netzes unberechenbare Gefahren heraufbeschwören könnte; daher bleiben sie direkt oder indirekt 45
auf die Vereinigten Staaten angewiesen, um einen (wirtschaftlichen) Großraum aufzubauen, dessen politisch-militärische Verselbständigung zum Konflikt mit eben diesen Vereinigten Staaten führen müßte. Vom paradoxen Verhältnis der gegenwärtigen Wirtschaftsgroßmächte gegenüber den Vereinigten Staaten abgesehen, gibt es auch andere wichtige Hindernisse, die der Herausbildung von echten Großräumen im Wege stehen - und zwar selbst wenn es zu einem (freilich an sich unwahrscheinlichen) freiwilligen und schnellen Rückzug der Vereinigten Staaten auf die westliche Hemisphäre käme: daß Imperien auch ohne sichtbaren Druck von außen zusammenbrechen können, haben wir kürzlich erlebt. Die Regionen, die als Großräume in Frage kämen, bestehen nicht aus einer einzigen anerkannten Großmacht und einigen kleineren, die sich mit der bestehenden Hierarchie recht oder schlecht abgefunden haben, sondern in ihnen finden sich zwei, drei oder mehrere größere Mächte, wobei der vermeintliche Großraumaspirant unter ihnen mit verständlichem Mißtrauen von den anderen beobachtet wird. Es ist mehr als zweifelhaft, daß sich diese Lage in absehbarer Zukunft ändern wird. Das entwickelte Ostasien kann sich nicht zu einem Großraum zusammenschließen, solange China sein letztes Wort gegenüber Japan und der Welt noch nicht gesagt hat. Und »Europa« wird aus naheliegenden und übrigens allgemein bekannten Gründen auf der Basis der bisher vorgesehenen Verfahren niemals einen einheitlichen politischen und militärischen Willen haben; andere Verfahren oder Triebkräfte sind auch nicht in Sicht. Der große Vorteil der Vereinigten Staaten bei einem möglichen Konflikt mit Großraumaspiranten in der asiatischen oder europäischen Region bestünde im politischen Spielraum, den ihnen solcher Zwist gewähren würde. Anstatt der Herausbildung von echten Großräumen wird vielleicht ein anderes Phänomen die bereits begonnene Phase planetarischer Politik kennzeichnen: das Aufkommen und die Festigung verschiedener Mittelmächte mit regionalem hegemonialem Anspruch. Diese können die vielen 46
Lücken ausnützen, die sich ständig innerhalb von politisch amorphen Großräumen, zwischen streitenden Großmächten und unter dem müden Blick der führenden Großmacht auftun werden. Sie hätten ernstzunehmende Chancen, ihre regionalen Machtziele zu verwirklichen, wenn Großmächte, die aus politischen und psychologischen Gründen wiederholte und dezidierte Einsätze im Ausland zu vermeiden wünschen, sie gleichsam als Statthalter benutzen wollten. Diese Taktik zeichnet sich bereits ab, sie wird aber voraussichtlich nur zum Teil die erwarteten Resultate erbringen; wenigstens ebensoviel muß sie widerstreitende Kräfte ins Leben rufen und die betreffenden Großmächte in eben jene lokalen Konflikte verwickeln, von denen sie sich heraushalten möchten. Die unvermeidliche allmähliche Verringerung der militärischen Kluft zwischen Mittel- und (manchen) Großmächten würde das Ihrige zur Regionalisierung planetarischer Politik in Form eines gespannten Nebeneinanders von mehr oder weniger heterogenen größeren Staaten beitragen, die ihr Augenmerk vornehmlich auf die eigene geopolitische Umgebung richten und zu den restlichen Mittel- und Großmächten wechselnde Beziehungen unterhalten würden. Bestimmte einfache oder komplexe politische und wirtschaftliche Einheiten könnten dabei aktiver als andere sein und kleinere Mächte um sich gruppieren, ohne aber dadurch eine radikale Änderung im Gesamtbild herbeizuführen. Eine solche Konstellation muß nicht eine Egalisierung oder Homogenisierung ihrer Bestandteile bewirken. Vielmehr würde sie auf einer faktischen Hierarchisierung der Regionen beruhen, so daß manche Region planetarisch wichtig und manche andere planetarisch sekundär wäre. Zudem ist damit zu rechnen, daß sich die politischen Einheiten, die entweder als Subjekte oder als Objekte oder als Subjekte und Objekte zugleich an der gegenwärtigen Phase planetarischer Politik teilnehmen, durch die Vielfalt ihrer Verfassungen, aber auch ihrer inneren Beschaffenheit kennzeichnen werden. Westliche Massendemokratien werden neben autoritären Scheinparlamentarismen und cäsaristischen 47
Regimes oder Entwicklungsdiktaturen - und wirtschaftlich oder national zusammenhängende Räume neben multinationalen Staaten oder lockeren sprachlichen und religiösen Staatengemeinschaften sowie zersplitterten Regionen bestehen. Die Weltgesellschaft läßt sich insofern als eine bunte Massengesellschaft vorstellen, die nur regional lebensund leistungsfähige Zusammenschlüsse kennt und sonst entweder durch gelegentliche konzentrierte planetarische Aktionen von Großmächten bzw. der führenden Macht oder aber bloß durch das Schreckensgespenst der Uberlebensfrage der ganzen Menschheit zusammengehalten wird. Offenheit der Konstellationen ist daher ein wesentliches Merkmal der angebrochenen Phase planetarischer Politik. Das kann bedeuten, daß auf Grund der bestehenden Ausgangslage entweder eine von mehreren Konstellationen sich langfristig durchsetzen und ein ganzes Zeitalter prägen wird oder aber daß verschiedene Konstellationen einander abwechseln werden oder schließlich daß eine Mischung aus allen mit unterschiedlichen regionalen Schwerpunkten das Gesamtbild konstituieren wird. Wie eingangs erklärt, können und dürfen Prognosen nur die mögliche Entfaltung von Strukturen, nicht konkrete Ereignisse betreffen. Prognosen können nur Ordnungen erfassen, und das vorausschauende Fassungsvermögen hat seine Grenze da, wo Ordnungen aufhören zu existieren und nur zusammenhanglose Ereignisse übrig bleiben. Aus Ereignissen ohne Zusammenhang und Richtung besteht aber die Unordnung, die sich daher nur auf ihre möglichen Ursachen hin untersuchen, nie aber im voraus konkret erfassen läßt.
5. Von der Ökonomisierung zur Biologisierung des Politischen? Unordnung - gemeint ist hier nicht die normale Unordnung innerhalb jeder politischen Ordnung, sondern die elementare und entfesselte - entsteht nicht dadurch, daß eine 48
Partei sie bewußt anstrebt und ihren Sieg über die Ordnung erzwingt. Sie entsteht vorläufig während des Kampfes zwischen den Vertretern zweier unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen, bis sich die einen gegen die anderen durchsetzen, oder aber dadurch, daß die Prinzipien, die die Ordnung tragen sollen, bei ihrer praktischen Anwendung auf unüberwindliche Hindernisse stoßen und dabei eine ganz unerwartete innere Logik an den Tag legen, die ihren Nominalwert auf den Kopf stellen kann. In der gegenwärtigen planetarischen Konstellation gibt es Anzeichen dafür, daß eben dieses Geschick die beiden großen Richtlinien treffen könnte, die das Handeln der Akteure planetarischer Politik fortab leiten sollen: die Ökonomisierung des Politischen und den menschenrechtlichen Universalismus. Ihre enge soziale Verbindung miteinander und die Gemeinsamkeit ihres geschichtlichen Schicksals sowohl innerhalb der westlichen Massendemokratien als auch auf planetarischer Ebene kann heute kaum in Zweifel gezogen werden. Die beiden Aspekte der Ökonomisierung des Politischen - also die Daseinsversorgung von großen Massen auf hochtechnisierter Basis und durch hochentwickelte Arbeitsteilung und die Umverteilung der Güter zum Zwecke der Materialisierung von formellen Rechten - gründen ideell im menschenrechtlichen Universalismus, der allen Individuen unabhängig von jeder anderen Zugehörigkeit, Eigenschaft oder Bindung gleiche Würde zuspricht. Man wird sicherlich unsere Ethiker (das heißt: die Ideologen unserer Gesellschaft) skandalisieren, wenn man als Soziologe feststellt, daß sich in jenem Universalismus sowohl die soziale Atomisierung ideologisch widerspiegelt, die für die hochentwickelte Arbeitsteilung vor dem Hintergrund unbegrenzter Mobilität unentbehrlich ist, als auch der demokratische Anspruch auf materielle Gleichheit. Diese selbe Feststellung dürfte dennoch jedem nüchtern Denkenden einleuchten, wenn man sie banal formuliert und an die alte Erfahrung denkt: wo wenig Brot zu verteilen ist, da verengt sich auch der Platz für die Würde. Ist dem so, dann muß sich die Frage stellen, inwiefern das 49
westliche Ordnungskonzept sich ungewollt und unter der Hand in einen Auslöser von Unordnung verwandeln könnte, sollte die Verwirklichung seiner Prämissen, d.h. die Uberwindung der Güterknappheit und die menschenwürdige (also demokratische) Umverteilung von ausreichenden Gütern auf planetarischer Ebene ausbleiben. Theoretisch ist die Antwort klar: Engpässe würden zur Instabilität und dauerhafte Krisen zu Zuständen führen, in denen sich die Ökonomisierung des Politischen zu einer Identifizierung der Politik mit der Verteilung von knapp gewordenen (auch ökologischen) Gütern steigern würde. Reduziert sich das Politische aber in Zeiten höchster Not auf die Güterverteilung, so muß eine Biologisierung desselben in doppelter Hinsicht eintreten: nicht nur wäre das (direkte oder indirekte) Ziel des politischen Kampfes ein biologisches, nämlich das Uberleben in mehr oder weniger engerem Sinne, sondern auch die Unterscheidungsmerkmale, die dabei als Gruppierungskriterien dienen würden, wären höchstwahrscheinlich biologischer Natur, nachdem die traditionellen ideologischen und sozialen Unterscheidungen über den menschenrechtlichen Universalismus hinfällig geworden wären. Das Vermeiden von solchen Zuständen wird nun von einer Annäherung des planetarischen Durchschnittsniveaus an das Durchschnittsniveau der westlichen Massendemokratien erhofft. Letzteres beruht aber auf Voraussetzungen, die sich schwer nachschaffen lassen. Dabei geht es nicht bloß um geschichtliche und kulturelle Gegebenheiten, deren Bedeutung an sich ausschlaggebend sein kann, obwohl sie leicht unterschätzt wird, wenn man nicht aus langer Erfahrung weiß, wie weit Mentalitätsunterschiede reichen und sich verästeln können. Aber selbst wenn man davon abstrahiert, steht man der Tatsache gegenüber, daß die umfangreiche Verteilung und Umverteilung von riesigen Gütermassen, die im Westen massendemokratische Verhältnisse einleiteten und festigten, nur vor dem demographischen Hintergrund einer seit Jahrzehnten stabilen und manchmal sogar 50
rückläufigen Bevölkerungszahl stattfinden konnte. Auf planetarischer Ebene hinkt dagegen die Wachstumsrate der Güterproduktion hinter der Wachstumsrate der Bevölkerung her oder bestenfalls übersteigt sie diese in kleinem Ausmaß, so daß entweder die Knappheit der Güter steigt oder keine nennenswerte Umverteilung machbar ist. Länder, die sich nicht auf dem westlichen Niveau befinden, doch stabile Bevölkerungszahlen aufweisen, haben wiederum einen zweifelhaften Vorteil; denn ihnen fehlt dadurch der soziale Druck und zugleich die soziale Mobilität, die den wirtschaftlichen Fortschritt der westlichen Nationen während der ersten und der zweiten industriellen Revolution mitbedingt haben. Der Westen hat den doppelten Vorzug der wachsenden Bevölkerung zur Zeit des liberalen Kapitalismus und der stabilen Bevölkerung zur Zeit der Massendemokratie genossen. Es ist bekannt, unter welchen menschlichen Opfern, mit welchen Ausbeutungsmethoden und unter welchen Lebensbedingungen der wirtschaftliche Fortschritt zur Zeit des liberalen Kapitalismus erreicht wurde - und eben die politische, ethische und psychologische Unmöglichkeit, heute denselben Weg zu gehen, muß sich in rein wirtschaftlicher Hinsicht als Nachteil auswirken. Massendemokratische materielle und politische Erwartungen zu hegen ohne das Fegefeuer des liberalen Kapitalismus westlichen Schlages hinter sich zu haben, das ist eine explosive Situation für viele Länder und es wird eine explosive Situation für den ganzen Planeten werden, sollten solche Erwartungen unter dem Einfluß des materiell interpretierten menschenrechtlichen Universalismus von allen Seiten und gleichzeitig geltend gemacht werden. Es würde dabei wenig helfen, wollten die westlichen Nationen der logischen und moralischen Konsequenz den Tribut zollen und in geschichtlich beispielloser Selbstverleugnung das massendemokratische Ideal der materiellen Gleichheit in die planetarische Praxis umsetzen. Selbst wenn sie bereit wären, die mangelnde Leistung der Mehrheit durch die Umverteilung der Leistung der Minderheit wiedergutzuma51
chen, würde dies eine Gleichheit in allgemeiner Armut bedeuten. Eine Biologisierung des Politischen kann schon deshalb einsetzen, weil sich planetarische Politik in Zukunft immer intensiver mit einem biologischen factum brutum wird auseinandersetzen müssen: mit der Bevölkerungsexplosion. Das öffentliche Bewußtsein in den Wohlstandsregionen schreckt noch immer davor zurück, Ausmaß und Folgen dieses atemberaubenden weltgeschichtlichen Vorgangs ohne Beschönigungen und Ausflüchte durchzudenken, und der Grund dafür liegt nicht bloß in der Wirkung der bekannten Verdrängungsmechanismen, die vor Albträumen bewahren. Ebensosehr entspringt diese Gehemmtheit oder Verlegenheit der einfachen Tatsache, daß man an Hand des ideologisch herrschenden menschenrechtlichen Universalismus mit einem Phänomen wie der Bevölkerungsexplosion theoretisch und praktisch nichts anfangen kann. Bezeichnenderweise lehnen religiöse und andere ethische Richtungen, die den Begriff der Menschenwürde mit letzter Konsequenz ernst nehmen wollen, Geburtenkontrollen ab - und bezeichnenderweise können andere Ethiker, die nicht so weit gehen wollen, ihr Widerstreben dagegen nur unter Hinweis auf praktische Notwendigkeiten und auf Umwegen, nicht aber durch eine direkte Berufung auf den unverwässerten Begriff der Menschenwürde begründen. In der Tat ist nicht einzusehen, was man auf der bloßen Basis dieses Begriffes gegen die Bevölkerungsexplosion vorbringen könnte. Diese bringt ja ständig Menschen hervor, jeder dieser Menschen hat seine eigene einmalige und unantastbare Würde, und obwohl Quantität der Qualität nicht immer förderlich ist, wird doch die Qualität der Würde so definiert, daß sie unter dem Druck der Quantität nicht leiden muß; zehn oder zwanzig Milliarden unantastbare Würden wären deshalb womöglich besser als fünf Milliarden, da sie die kumulative Würde des Menschengeschlechts vergrößern dürften - auf jeden Fall können sie nicht schaden, wenn man nicht akzeptieren will, daß die Qualität der Würde durch große Quanti52
tat sinkt. Man kann solche Überlegungen als schlechte Witze abtun (und unseren Ethikern wird, wie ich befürchte, nichts Besseres dazu einfallen), in ihnen zeigt sich dennoch nur, daß Versuche, das Problem der Bevölkerungsexplosion mit dem Instrumentarium des menschenrechtlichen Universalismus zu bewältigen, zu witzigen Paradoxien führen müssen. Der menschenrechtliche Universalismus, der sich selbst treu bleiben will, darf ja die Bevölkerungsexplosion nicht einmal als ethisches Problem betrachten, da sich solche Probleme weder nach unten noch nach oben quantifizieren lassen. Insofern kann gesagt werden, daß er die ideologische Begleiterscheinung oder gar Legitimierung der Bevölkerungsexplosion bildet, genauso wie er sich sozial mit dem Atomisierungsvorgang und der hochentwickelten Arbeitsteilung in den westlichen Massendemokratien verschränkt; die in sich ruhende, inzwischen auch gegen metaphysische Begründungen indifferente Menschenwürde ist die sprunghaft wachsende Selbstbewunderung einer sprunghaft sich vermehrenden Menschheit. Aber was man hier vermißt, ist nicht nur die Möglichkeit einer Antwort auf die banale, aber brennende Frage der Menge. Auch die ökologische Frage läßt sich nicht zwingend beantworten, weshalb auch mancher zeitgenössischer Ethiker seine Zuflucht zu solch animistischen Hirngespinsten wie der »Würde der Natur« hat nehmen müssen. Die ökologische Frage ist viel konkreter und sie lautet: kann der Planet x-beliebigen Milliarden von Menschen »menschenwürdige« Lebensverhältnisse sichern, ohne in Bälde irreparabel zerstört zu werden? Ist es ökologisch vertretbar, daß der Chinese oder der Inder, der gleiche Würde wie der Nordamerikaner besitzt, gleiche Energie pro Kopf verbraucht? Fällt hier die Antwort nicht positiv aus, so muß man mindestens einräumen, daß sich der Begriff der Menschenwürde in diesem Fall vom materiell interpretierten Gleichheitsideal loslösen, daß er also seine spezifische und heute maßgebliche massendemokratische Bedeutung ablegen muß, um seine vordemokratische Konnotationen wieder zu erlangen, die sich mit Armuts53
idealen und auch mit sehr handfesten sozialen Hierarchien vereinbaren ließen. Wir bemerkten bereits, daß angesichts wachsender - oder auch nur stark befürchteter - Güterknappheit die Biologisierung des Politischen sowohl die Ziele der Politik (die zum Uberleben benötigten Güter) als auch die Gruppierungskriterien erfassen wird. Die Bevölkerungsexplosion vollzieht sich ja nicht in der abstrakten Form einer Anhäufung von neutralen Zahlen, sondern in der höchst konkreten Gestalt der Vermehrung von menschlichen Wesen, die zu bestimmten Nationen und Rassen gehören und bestimmten Raum besetzen oder besetzen wollen. Die Angst vor der Quantität wird sich in schwierigen Lagen höchstwahrscheinlich bei breiten Massen in einen Haß gegen die Qualität umschlagen. Ein bedeutender Historiker hat die Wirkung der Angst als psychologischem Auslöser der faschistischen Bewegungen eindrucksvoll geschildert. Diese selbe elementare Angst, diesmal bloß mit anderen Angriffszielen und unter anderen Vorzeichen, zeichnet sich bereits sowohl in Reaktionen innerhalb der westlichen Massendemokratien als auch am Charakter vieler Nationalismen weltweit ab (s. Abschn. II). Eine grobe Fehleinschätzung der Lage würde folgen, wenn man sich der Erkenntnis verschließen wollte, daß langfristige und starke Trends der gegenwärtigen planetarischen Konstellation solche Angst eher nähren denn abschwächen werden. Und es wäre ebenfalls ein Fehlurteil, die noch relativ kleinen Bewegungen, die im Westen und anderswo diese Angst laut artikulieren, einfach aus der rassistischen und faschistischen Gedankenwelt abzuleiten. Wer hier unverbesserliche oder noch unerfahrene Ideologen wittert und die dummen Anhänger bemitleidet, liegt falsch, und außerdem schreibt er diesen Bewegungen eine geistige Dimension zu, die sie nicht haben. Hier ist etwas viel Elementareres am Werk, nämlich die Aggression des Tieres, wenn ein fremdes Tier in sein Revier eindringt. Ideologische Fetzen, die sich rechts und links finden lassen, werden dann schnell zu »Programmen« und »Grundsätzen« zusammengeflickt, aber we54
der darin liegt das Wesentliche noch werden diese Bewegungen an ideologischer Unzulänglichkeit scheitern, wenn andere Umstände ihnen Auftrieb geben. Die Erfassung von politischen Größen an Hand biologischer Kategorien oder Wahrnehmungen hat in der westlichen Welt eine alte und feste Tradition, selbst wenn wohlmeinende Zensoren der Geistesgeschichte in solchen Auffassungen entweder Schönheitsfehler oder kurzfristige Abweichungen vom edlen Weg des Abendlandes sehen wollen. Für den unvoreingenommenen Beobachter ist die Feststellung wichtig, daß der grobe Reduktionismus, der sich in ihnen kundtut, manchmal ausgerechnet in Zeiten breiten Anklang fand und sogar salonfähig wurde, die sonst an geistigem Raffinement nichts zu wünschen übrig ließen. Als Beispiel sei ihre Wirkung - und zugleich ihre weitgehende Selbstverständlichkeit - im liberalen Europa der zweiten Hälfte des 19. Jh.s erwähnt. Besonders interessant ist diese Epoche für unsere Fragestellung, weil sich planetarische Politik gerade damals durch eine deutliche Zunahme ihres Dichtegrades auszeichnete. Biologistisches Denken diente vielfach als Bezugrahmen zur Bewältigung der Fragen, die die enger gewordene Beziehung der Völker miteinander stellte. Aus europäischer Sicht sollte dadurch die imperialistische Hierarchie begründet und die weltgeschichtliche Mission des weißen Mannes legitimiert werden. Die Biologisierung des Politischen kann aber nicht nur direkt auf der Basis des Hierarchiegedankens erfolgen, sondern auch als indirekte und ungewollte Nebenwirkung des menschenrechtlichen Universalismus auf den Plan treten. Denn dieser beseitigt die ideologischen und sozialen Trennungen, so daß Menschen, die nur als Menschen und nicht etwa als Kommunisten oder Liberale, Bürger oder Proletarier aufeinander stoßen, kein anderes Unterscheidungsmerkmal und Gruppierungskriterium unter sich mehr ausmachen können als das, was dem jeweiligen Menschsein von Geburt her sinnfälligerweise anhaftet. Es wird dabei oft nebensächlich sein, ob man mit Rücksicht auf laufende Legitimationsbedürfnisse 55
dem biologisch Bedingten das Nationale vorschieben wird. Dies wird nur solange geschehen können, wie die vor sich gehenden Auseinandersetzungen zwischen getrennt lebenden Nationen stattfinden, es würde aber in den Hintergrund treten, wenn Menschenmassen auf der Suche nach Gütern die Grenzen zwischen den Nationen sprengten und die direkte Auseinandersetzung von Mensch zu Mensch anfinge. Der menschenrechtliche Universalismus arbeitet durchaus konsequent übrigens - dieser Sprengung der Grenzen insofern vor, als er versucht, das Individuum in gewissen Hinsichten der Zuständigkeit des Nationalstaates zu entziehen und internationale Instanzen mit dem Schutz der Menschenrechte zu beauftragen. So bildet sich allmählich das Bewußtsein heraus, zwischen Menschheit und Nation zu schweben, und das, was als legale Absicherung der Menschenwürde gedacht war, wird zum Vorspiel der unkontrollierten Völkerwanderung - und der soeben erwähnten direkten Auseinandersetzung von Mensch zu Mensch. Auf die politischen Schattenseiten der Menschenrechte werden wir zurückkommen müssen (Abschn. V, 2). Diese Ausführungen sind nicht die düstere Voraussage einer Entwicklung, die mit absoluter Sichereit eintreten und die elementare Unordnung entfesseln wird. Es handelt sich vielmehr um eine emphatische Extrapolation der - in der Tat gewichtigen - Gründe, die dafür sprechen, daß das massendemokratisch inspirierte planetarische Ordnungskonzept schwer realisierbar ist. Die Absicht ist hier deskriptiv und analytisch; es soll keinem der Vorwurf gemacht werden, er hätte nicht das richtige Ordnungskonzept vorgelegt, und es soll auch kein solches Konzept vorgeschlagen werden. Ich kenne übrigens keinen ernstzunehmenden alternativen Vorschlag, und das Erstaunliche in der gegenwärtigen Konstellation ist eben das fast einstimmige Bekenntnis zu den massendemokratischen Zielen und Werten. Das kann nur heißen, daß jenes Ordnungskonzept nicht so sehr ein bewußt gewähltes und willkürlich angeordnetes Konstrukt darstellt, das durch ein beliebiges andere ersetzt werden 56
könnte, sondern vielmehr die notwendige Resultante der heute wirkenden sozialen und geschichtlichen Kräfte. Unter diesen Umständen müßte man mit dem Pathos des Predigers an die Macht des eigenen Wortes glauben, um persönliche Wünsche vortragen zu wollen. Statt dessen möchte ich mit zwei Bemerkungen schließen. Die eventuelle praktische Verwirklichung des massendemokratischen Weltprogramms, also die Annäherung des planetarischen politischen und wirtschaftlichen Durchschnitts an den westlichen, würde ohnehin nicht das Ende von blutigen Konflikten und Kriegen herbeiführen. Kriege finden nicht nur zwischen Armen und Reichen statt; die schlimmsten Kriege dieses tragischen Jahrhunderts wurden ausgerechnet zwischen den reichsten Nationen ausgetragen, und die Geschichte hat uns noch nicht wissen lassen, daß sie Tragödien ganz abschaffen oder künftig nur mit armen Protagonisten aufführen will. Zweitens kann das Scheitern des massendemokratischen Ordnungskonzepts nicht nur zu einer langen und wilden Unordnung, sondern auch zu einer brutalen Ordnung führen, in der die auf Güterverteilung reduzierte Politik eine strenge soziale Disziplinierung eben zur Bewältigung der Aufgabe der Güterverteilung aufzwingen würde. Das Gleichheitsideal könnte dann erhalten bleiben und weiterhin im demokratisch-materiellen Sinne gedeutet werden, nicht aber die hedonistischen Einstellungen, die den Massenkonsum in den heutigen westlichen Massendemokratien ideell tragen; eine neue Askese und vielleicht eine neue Religiosität unter den Umständen großer Bevölkerungsdichte und Güterknappheit würden dem Pluralismus massendemokratischer Anschauungen und Werte ein Ende bereiten. Es kann nicht genug betont und wiederholt werden: Pluralismus ist nur da möglich, wo es Raum für Viele und Vieles gibt.
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Π. Nationalismus zwischen radikalisierter Tradition und massendemokratischer Modernisierung
Die kräftigen und kämpferischen Nationalismen, die aus den Ruinen des Sowjetimperiums prompt hervorstießen, lösten bei vielen im Westen Befremden und Verlegenheit aus. Die lange ernsthafte Beschäftigung mit dem Massenkonsum und die entsprechende Verfeinerung der Sitten und der Psychen brachten hier allmählich eine andere Auffassung über die Bestimmung des Menschen auf dieser Erde hervor, so daß man nicht mehr recht verstand, wieso sich zivilisierte Wesen für etwas so Primitives wie die Nation begeistern konnten. Ein Gefühl vager und nur halb ausgesprochener Beunruhigung kam hinzu, denn angesichts eines solchen Ausbruchs von Emotionen, die man für längst überwunden hielt, mußten sich Zweifel über die eigene Lage und Zukunft einschleichen, die Frage drängte sich nämlich auf, ob nicht auch westliche, und zwar westeuropäische Gesellschaften rückfällig werden könnten. Selbst der normale, gleichsam eheliche Streit zwischen den westlichen Nationen wird fortab von allen Seiten mit solchen Hintergedanken beobachtet, und man beginnt, über den prekären Charakter der inzwischen geschaffenen übernationalen Institutionen nachzudenken und die Unumkehrbarkeit der eingeschlagenen Richtung oder zumindest die Vollendbarkeit des ge59
meinsamen Werkes mit Fragezeichen zu versehen. Der Versuch, die westeuropäischen Nationalismen durch die Europäische Gemeinschaft endgültig ad acta zu legen, beruhte ja auf speziellen politischen Voraussetzungen, d. h. neben der wachsenden Verflechtung von dynamischen Volkswirtschaften gab es zum ersten Mal einen gemeinsamen Feind aller westeuropäischen Nationen, dessen Gefährlichkeit jedes gegenseitige Mißtrauen bei weitem überstieg, und es gab auch die amerikanische politische und militärische Schirmherrschaft. Nach dem Fortfall der beiden letzteren Voraussetzungen könnte sich auch die erste als zerbrechlich oder jedenfalls als politisch sekundär erweisen. Solche halbunterdrückten Zweifel an der eigenen Sache und Lage werden vielfach in die laute oder leise Angst vor dem osteuropäischen und balkanischen Nationalismus hineingetragen. Die politisch und strategisch durchaus gerechtfertigte Sorge um die vermutlichen Kettenwirkungen von Kriegen oder Unruhen in anderen Teilen des Kontinents wäre jedenfalls geringer, könnte sich die Europäische Gemeinschaft der Einheit und Entschlossenheit ihrer Aktion von vornherein sicher sein. Statt dessen läßt der Mangel an fester Gemeinsamkeit in der Gegenwart Reminiszenzen an die Interessengegensätze der nationalistisch geprägten Vergangenheit lebendig werden - und zwar bezüglich derselben Orte und derselben Akteure. Die psychologisch erklärliche Fixierung auf die Vergangenheit legt indes Fehlurteile über den Charakter des Nationalismus in der Gegenwart nahe. Die Deutung des Nationalismus als einer Art von Einbruch der Vergangenheit in die Gegenwart verbindet sich wiederum sehr oft mit anthropologisch oder geschichtsphilosophisch untermauerten Auffassungen, die das zähe Fortbestehen nationalistischer Gesinnung auf das unausrottbare Bedürfnis des Menschen nach emotionalen und substanziellen Bindungen und nach einer entsprechenden Identität zurückführen, im Nationalismus also eine erwartungsgemäße Auflehnung gegen die instrumenteile Rationalität der technisierten Welt und 60
gleichzeitig gegen die utilitaristische Rationalität des Rechtsstaates erblicken. Aber gleichgültig, ob man die Auflehnung nachempfindet und begrüßt oder befürchtet und verurteilt: für die Analyse der heutigen konkreten Lage ist, wie eingangs des vorigen Abschnitts bemerkt, solange wenig gewonnen, wie Konstanten oder langlebige geschichtliche Größen nicht näher spezifiziert werden. »Irrationale« oder »emotionale« Bedürfnisse wirken in jeder Situation und zu jeder Zeit anders, sie lassen sich daher als geschichtliche und soziale Faktoren kaum sachgerecht einschätzen, wenn man nicht fragt, durch welchen Inhalt und welche Vorstellungen sie sich konkretisieren, welchen Feind sie haben und welche Ziele sie verfolgen wollen. Mit dem allgemeinen Verweis auf »die« Nation ohne nähere Schilderung der Welt, in der sich die Nation behaupten, entfalten - und definieren will, kommt man nicht aus. Selbst wenn sich bestimmte Nationen über längere Zeiträume immer wieder (ungefähr) nach dem selben Muster in Freunde und Feinde gruppieren, müssen wir die Frage nach den sie bewegenden Triebkräften jedesmal von neuem stellen und die Beziehung dieser letzteren mit den vorherrschenden weltgeschichtlichen Tendenzen untersuchen. Es ist nachweislich falsch, Freundschaft oder Feindschaft zwischen den Nationen unwandelbaren rassischen Gegebenheiten oder starren psychischen Archetypen zuzuschreiben und die unendliche Plastizität der sich ständig neu definierenden Interessen und Zielvorstellungen zu übersehen; »ewige Feindschaften« ergeben sich bloß aus permanent gegensätzlichen Interessenlagen. Wären westliche Beobachter aus den soeben erklärten Gründen nicht beunruhigt und verlegen gewesen, so hätten sie das Wiederaufleben des osteuropäischen und balkanischen Nationalismus als normale Erscheinung in einem Jahrhundert betrachten müssen, dessen erste Hälfte auch in Europa und dessen zweite Hälfe außerhalb Europas im Zeichen des Nationalismus stand. Dies fällt freilich erst dann auf, wenn man von der Nabelschau des sich übernational gerierenden Westeuropa Abstand nimmt, sich die planetari61
sehe Dimension vergegenwärtigt und einfach nachzählt, wie viele Staaten es vor vierzig Jahren im Vergleich zu heute gab. Die große Menge der hinzugekommenen Staaten wurde durch eine riesige nationalistische Welle auf dem afrikanischen und dem asiatischen Kontinent ausgebreitet, viele davon waren das Ergebnis von langen und opferreichen Kämpfen, im Laufe deren sich nationale Identitäten festigten. Ein Zugang zur Erfassung des geschichtlichen Charakters dieses Nationalismus bietet sich uns an, wenn wir seinen grundlegenden Unterschied zum europäischen bürgerlichen Nationalismus des 19. Jh.s ins Auge fassen, der sich unter dem frühen oder späten Einfluß der Französichen Revolution entfaltete. Die Revolution konstituierte die Nation durch die politischen Losungen der Freiheit und der Gleichheit, welche in concreto die Homogenisierung des nationalen Raumes durch die Beseitigung ständischer Privilegien und lokaler bzw. feudaler Autonomien bedeuteten. Der bürgerliche Nationalismus war also in seiner antifeudal-antipartikularistischen Einstellung eine Eroberung nach innen, nämlich eine Besetzung des nationalen Raumes durch soziale Kräfte, die willens und imstande waren, diesen Raum eben zu nationalisieren, d.h. ihn politisch, rechtlich und wirtschaftlich zu vereinheitlichen. Gewiß, die Vereinheitlichung des nationalen Raumes nach innen machte seine Grenzen nach außen schärfer und dies mußte Konflikte mit benachbarten Staaten nach sich ziehen, gleichviel, ob letztere ständisch-absolutistische oder nationalliberale Staaten waren. Aber nicht in diesen Konflikten, die als (unvermeidliche) Nebenwirkungen anzusehen sind, liegt der geschichtliche Schwerpunkt des bürgerlichen Nationalismus, sondern in der erwähnten Eroberung und Homogenisierung des jeweils verfügbaren inneren Raumes. Die Prioritäten kehrten sich bei den antikolonialen Nationalismen des 20. Jh.s um. Nicht, als ob hier Vereinheitlichungsbestrebungen nach innen nicht vorgekommen wären; im Gegenteil, solche wurden von manchen Nationalismen, vor allem den kommunistisch ausgerichteten, sehr 62
energisch unternommen, sie konnten aber auch mehr oder weniger nachlassen, wenn etwa an der Spitze der nationalistischen Bewegung patriarchalisch-traditionalistische Kräfte standen. Während also der europäische Nationalismus des 19. Jh.s einen identifizierbaren sozialen Träger hatte, nämlich das Bürgertum (selbst in Ländern wie z.B. Deutschland, in denen die nationale Frage so oder so durch die politische Aktion eines Flügels der konservativen Kräfte gelöst wurde, geschah dies unter dem Druck bürgerlicher Programmatik und um dem Bürgertum den Wind aus den Segeln zu nehmen), übernahmen sehr unterschiedliche Schichten oder Eliten die jeweilige politische Führung der Nationalismen des 20. Jh.s. Denn hier war das Grundproblem und das Hauptanliegen ein anderes, es ging nämlich nicht (primär) um die Eroberung des inneren nationalen Raumes, sondern um die Unabhängigkeit nach außen gegen einen fremden Herrscher oder jedenfalls um die außenpolitische Bewegungsfreiheit gegen einen bedrohlichen Nachbarn. Nationalismus war nunmehr in erster Linie das Bemühen, für die eigene Nation einen festen und unumstrittenen Platz innerhalb der sich herausbildenden Weltgesellschaft zu erkämpfen. Angesichts der Dichte, die planetarische Politik inzwischen durch den Imperialismus erreicht hatte, ηιμβίε sich Nationalismus eben nach dem Charakter planetarischer Politik richten. Die Konstitution der Nation zum unabhängigen Staat bildete fortab die einzige Möglichkeit ihrer Beteiligung an einer Weltgesellschaft, der man nicht fernbleiben konnte, ohne langfristig politischen und wirtschaftlichen Selbstmord zu begehen. In dieser Perspektive lassen sich die Neuauflagen der osteuropäischen und balkanischen Nationalismen eher verstehen. Die Frage der Homogenisierung des nationalen Raumes stellt sich hier nicht - zumal die kommunistische Herrschaft über die Homogenisierung hinaus Nivellierung und Atomisierung betrieb - , sondern die Hauptanstrengung gilt der sofortigen und möglichst vorteilhaften Eingliederung in die Weltgesellschaft. Das Zerfallen multinationa63
1er Staaten in nationale Staaten verbindet sich mit dieser Anstrengung: jede Nation will die genannte Eingliederung in eigener Regie in die Wege leiten, also die Vertretung ihrer Interessen selbst in die Hand nehmen, da sie meint, sie könne durch den direkten Kontakt mit den restlichen Mitgliedern der Weltgesellschaft mehr für sich erreichen - und darüber hinaus werde ihre wirtschaftliche Selbstbestimmung, also die Beendigung der tatsächlichen oder vermeintlichen Ausbeutung seitens einer fremden Nation, eine optimale Ausnutzung ihrer Ressourcen gestatten. Im Hinblick auf dieses letztere Desiderat ähneln sich diese Nationalismen, indem sie das selbstherrliche Gehabe der hegemonialen Nation im (ehemaligen) multinationalen Staat als kolonialistisch anprangern, teilweise den antikolonialen Bewegungen. Wie modern die Koppelung von national-kulturellen und ökonomischen Anliegen ist, wie sehr sie Umverteilungswünsche artikuliert und insofern einen echt massendemokratischen Impetus hat, zeigt sich heute gerade im Inneren mancher westeuropäischer Massendemokratien, wo Ethnien und Minoritäten sich mit langer Verspätung wiederentdecken oder sogar zum Teil konstruieren, wenn es darum geht, die relative Armut ihrer Regionen der »Fremdherrschaft« der Metropole in die Schuhe zu schieben und entsprechende Wiedergutmachung zu verlangen. Zweifelsohne hat die hastig vor sich gehende Verselbständigung und Absonderung der Nationen im ehemaligen kommunistischen Herrschaftsbereich mit Umverteilungswünschen und Wohlstandserwartungen sehr viel zu tun. Die politische Passivität der großen Mehrheit der dort lebenden Menschen deutet darauf hin, daß sie sich auch mit national (viel) lockereren politischen Lösungen zufrieden geben würden, sollten diese einen erheblich höheren Lebensstandard gewährleisten. Die politischen und intellektuellen Eliten, die die nationale Sache in den Vordergrund stellen, müssen sich dennoch ziemlich unangefochten durchsetzen, da eben keine anderen praktikablen Lösungen in Sicht sind. Die Nation bildet die nächstliegende mini64
male Einheit, die Umverteilungswünsche sowohl gegenüber den gestrigen Bundesgenossen als auch gegenüber der Weltgesellschaft (Wirtschaftshilfe, militärische Hilfe) artikulieren kann. Individuen oder private Vereine haben da keine Chance, wer also etwas fordern und erlangen und wer zudem mit anderen nicht teilen will, der kann nur als Nation im Sinne der genannten nächstliegenden minimalen Einheit auftreten. Die Nation gibt somit heute die kleinstmögliche Interessengruppe innerhalb der Weltgesellschaft ab - unter der Bedingung freilich, daß sie sich als souveräner Staat konstituiert. Unruhe kommt nicht einfach daher, daß Nationen sich wiederentdeckt haben und sich ihrer kulturellen Identität in Ruhe erfreuen wollen, sondern daher, daß sich Nationen als Staaten konstituieren müssen, um ihre, wie sie hoffen, effektive und ertragreiche Eingliederung in die Weltgesellschaft (genauer: ihre Annäherung an die wohlhabenden Schichten derselben) zu erzielen. Die Unruhe bei der Konstituierung der Nation als Staat ist wiederum aus zwei Gründen unvermeidlich. Die infolge der Auflösung der alten imperialen oder hegemonialen Strukturen eintretende Flüssigkeit und Offenheit der Verhältnisse bietet jeder Nation eine einmalige Gelegenheit an, nun alles von ihren Nachbarn zu beanspruchen, was sie für ihr Eigenes hält; die Zusammenführung aller nationalen Kräfte stärkt übrigens den neuen Staat und gewährt eine bessere Ausgangsposition für künftiges Wirken innerhalb der Weltgesellschaft. Andererseits geht die Konstituierung des nationalen Staates notgedrungen mit der Entscheidung einher, wer in ihm herrschen, wer also die Nation vertreten und ihren Willen verbindlich interpretieren soll - eine Entscheidung, die bekanntlich in der Regel nach manchem inneren Zwist fällt. Der anscheinend unaufhaltsame Drang der Nationen, die gerade ein imperiales oder hegemoniales Joch abschüttelten, ihre Grenzen und zugleich ihre Identität sowie ihre politischen und materiellen Ansprüche durch die Organisationsform des Staates abzusichern, muß als wichtiges Zeichen für 65
die Rolle und die Lebensfähigkeit der Staatlichkeit als solcher in der nun begonnenen Phase planetarischer Politik bewertet werden. Nationen, die in der Stunde Null die Wahl zwischen verschiedenen politischen Organisationsmöglichkeiten hatten, gingen ohne viel Federlesens an föderativen und übernationalen Lösungen überhaupt vorbei und gaben der souveränen Staatlichkeit ihren Vorzug. Aufschlußreich ist zudem, daß sich diese Nationen gleichzeitig zu den Grundsätzen des menschenrechtlichen Universalismus bekannten. Dadurch wollten sie aber nicht etwas unternehmen, das zur teilweisen oder totalen Uberwindung der souveränen Staatlichkeit als politischer Organisationsform geführt hätte, sondern sie bedienen sich dieses Bekenntnisses nicht zuletzt dazu, um ihr Hauptziel, nämlich ihre Eingliederung in die Weltgesellschaft, möglichst bald und leicht zu erreichen. Die Rolle von lange unterdrückten Freiheitsbedürfnissen darf dabei weder verkannt noch bagatellisiert werden, die überwiegend menschenrechtliche Ausrichtung des osteuropäischen und balkanischen Nationalismus wurde indes primär dadurch bedingt, daß hier der Feind, also der imperiale oder hegemoniale Herr, von Menschenrechten im westlichen Sinne wenig hielt. Gegen dessen proletarischen Internationalismus, der eben den imperialen oder hegemonialen Anspruch verdeckte, mußte also der Nationalismus und gegen seine totalitäre oder despotische Praxis der menschenrechtliche Universalismus aufgeboten werden. Konstituierung der Nation als Staat und Aneignung des menschenrechtlichen Universalismus ermöglichen wiederum gemeinsam den Beitritt der Besiegten des Kalten Krieges zu einer Weltgesellschaft, in der verständlicherweise nunmehr die Ideologie des Siegers den Ton angibt. Durchblickt man die facettenreiche innere Logik der Aneignung des menschenrechtlichen Universalismus seitens der neuen europäischen (und euroasiatischen) Staaten, so wird man sich nicht durch sehr wahrscheinliche künftige Entwicklungen in ihrem Bereich überraschen lassen. Es ist zunächst in vielen Fällen mit einer nur annähernden Um66
Setzung seiner Grundsätze in die politische Praxis zu rechnen, die dann auf einen autoritären Scheinparlamentarismus zusteuern dürfte. Noch wichtiger ist aber Folgendes. Verbindet sich die Aneignung der menschenrechtlichen, parlamentarischen etc. Prinzipien mit dem Wunsch und der Erwartung, den schnellen Anschluß an den Wohlstand und die Freiheit des Westens zu finden, so wird ein Scheitern bei dieser Bestrebung die positive Einstellung zum Westen und seiner Ideologie ändern müssen. Die Beziehung dieser Nationen zum Westen ist angesichts der Ungewißheit ihres praktischen Erfolgs von Anfang an mit einer Ambivalenz behaftet, mit einem Vorbehalt belastet. Ambivalent, wenn auch in jeweils anderem Sinne, ist auch die Beziehung derjenigen Nationen zum Westen, die sich als Staaten nicht durch die Befreiung von einem kommunistischen Herren, sondern eben durch den Kampf gegen den Westen konstituierten oder sich jedenfalls im Gegensatz zum Westen und den westlichen Werten fühlen. Hier muß wiederum zwischen zwei Haupttypen unterschieden werden. Die größte Nation der Welt grenzt sich noch immer gegen den Westen durch die kommunistische Verbrämung ihres Nationalismus ab. Das bedeutet praktisch, daß sie raschen und umfassenden Wirtschaftsfortschritt auf der Basis moderner (also westlicher) Technologie anstrebt, während sie gleichzeitig die politische Umsetzung des menschenrechtlichen Universalismus in ein parlamentarisches System ablehnt. Der Unterschied der eigenen nationalen Traditionen von den westlichen wird zwar aus naheliegenden Gründen hin und wieder unterstrichen, dem Westen wird aber nicht der Traditionalismus als Weltanschauung oder Lebensweise gegenübergestellt, sondern im Gegenteil wird technische Rationalität parallel mit der Auflösung traditioneller Sozialstrukturen offen und programmatisch vorangetrieben. Anders sieht die Lage bei der anderen antiwestlichen Version des Nationalismus aus, die nach der iranischen Revolution viel Beachtung fand und vielfach als Novum aufgefaßt wurde, obwohl sich Vorformen einer Vermischung von tra67
ditionellen, und zwar muslimischen, mit national-antiwestlichen Elementen schon im »arabischen Sozialismus« Nasserscher Inspiration finden lassen, der dann durch die sogenannten Baath-Parteien variiert wurde. Der Traditionalismus bildet in diesem Fall nicht einfach eine Verteidigung der bedrohten heimatlichen Sitten und Bräuche, sondern er tritt aggressiv als weltanschaulich fundierte Kampfansage an die westliche Gesellschaft, ihre Lebensweise und ihre Werte auf. Man wäre dennoch als Analytiker schlecht beraten, von diesen Parolen auf den Wunsch nach einem Verbleiben in der vordemokratischen und vorplanetarischen Welt zu schließen. Dieser Traditionalismus bricht in seiner Art der Eingliederung in die Weltgesellschaft ebenso Bahn wie dies bei anderen Nationen und unter anderen Umständen das Bekenntnis zur menschenrechtlichen Ideologie des Westens es auch tut. Das wird verständlicher, wenn wir bedenken, daß in der Vorstellung der Betreffenden Eingliederung nicht eine Aufnahme um jeden Preis, sondern das Bemühen um eine möglichst vorteilhafte Position bedeutet: so erklären sich ja nationalistischer Elan und Eifer in einer Welt, in der die inzwischen erreichte Dichte planetarischer Politik keine langfristige Einsiedlerexistenz gestattet. Die keineswegs traditionalistische Wirkung des Traditionalismus wird nun durch seine Radikalisierung gezeitigt. Die Möglichkeit einer solchen Radikalisierung läßt sich freilich erst begreifen, wenn wir uns von der konservativen Lieblingsvorstellung freimachen, Tradition wäre gleichsam eine überpersönliche Hypostase, die über Völkern und Einzelnen schwebt und sich der Willkür ihrer Entscheidungen entzieht. Nichts weniger als das. Traditionen, zumal in der modernen Welt, existieren und wirken in der Interpretation von konkreten Trägern, sie werden - auf der Basis von vorgegebenen, aber auch frei verarbeiteten oder erfundenen Materialien konstruiert und sie rücken gegen andere Traditionen oder Traditionsinterpretationen ins Feld. Der erste Schritt zur Radikalisierung der Tradition erfolgt, wenn derjenige, der Tradition verbindlich zu interpretieren vermag, 68
die Auffassung vertritt, Tradition sei nicht tote Vergangenheit, sondern lebendige Gegenwart, wer also der Tradition leben wolle, müsse sich nicht von der heutigen Welt abwenden und die Vergangenheit penibel rekonstruieren, um sich in sie wieder einzunisten, sondern in der Tradition den Glauben und die Richtlinien finden, an Hand deren sich die Aufgaben der Gegenwart am besten bewältigen ließen. Tradition soll nicht Abkapselung in der Zeit und im Raum heißen, sondern eine nach außen gekehrte Kraft darstellen, die sich mehr als Rückzugsgefechte leisten darf. Ist die Tradition Anweisung fürs Handeln in der Gegenwart und bewegt sich Gegenwart, wie es offenkundig ist, in breiteren Räumen und größeren Dimensionen als die Vergangenheit, so muß sich Tradition von den alten Partikularismen loslösen und zur übergreifenden Idee werden, die auf einheitliche Art und Weise Massen erfaßt. Als solche Idee - etwa als religiöse Idee vor dem Hintergrund eines nationalistischen Aktivismus, der sich gegen einen »atheistischen« und »materialistischen« Feind wendet - verallgemeinert und vereinheitlicht Traditionalismus die Loyalitäten, er läßt also die herkömmlichen lokal bedingten patriarchalischen Loyalitäten nur insofern gelten, wie sie unter den neuen Bedingungen die übergreifende Idee vertreten, und weckt ein Gefühl umfassender Zusammengehörigkeit und Gleichheit, da der Status der Einzelnen - aller Einzelnen - nun nach dem neuen Kriterium des Dienstes an der Idee definiert wird. Die dadurch erzielte Zusammenballung und Homogenisierung von Menschenmassen bildet die erste modernistische Komponente oder Wirkung des radikalisierten Traditionalismus. Eine zweite liegt in seiner Kraft, diese Massen in einem Ausmaß zu motivieren und zu mobilisieren, wie es für echt traditionelle Gesellschaften einfach undenkbar war. Tradition wird zum politischen Handlungsmotiv, wenn sie nicht bloß gelebt, sondern geradezu gefordert wird - offenbar sind das zwei sehr unterschiedliche Gemütslagen. Die Frau, die für die Beibehaltung der traditionellen Tracht demonstriert und in militanter Stimmung 69
zusammen mit anderen Frauen auf die Straße geht, ist nicht mehr die Frau, die seit eh und je diese Tracht getragen hat. Gewiß, diese Tracht hatte immer nicht nur einen Gebrauchs·, sondern auch einen symbolischen Wert, früher stand sie aber symbolisch etwa für die traditionelle Stellung der Frau gegenüber dem Mann, jetzt soll sie hingegen in erster Linie symbolisieren, daß die Frau, die sie trägt, sich ostentativ gegen eine andere Kultur abgrenzen will - und nicht mehr unbedingt, daß sie die soziale Überlegenheit des Mannes im früheren Sinne akzeptiert. Indem also Tradition militant gefordert und nicht gemäß einer selbstverständlich gewordenen Interpretation gelebt wird, ändern sich der Inhalt und die polemische Spitze ihrer Symbole, die Modifizierung oder gar Umkehrung des alten Inhalts vollzieht sich unter der Hand eben im Namen der verbissenen Verteidigung »der« Tradition. Die Interpretationsarbeit an der Tradition wird somit wichtiger als die realen Überbleibsel der Tradition. Das ist ein Punkt von extremer psychologischer Wichtigkeit für die Abwicklung des Modernisierungsvorgangs unter der Ägide des radikalisierten Traditionalismus. Eine derart verhüllte Abwicklung bringt zwar auch Hemmungen mit sich, sie bietet aber gleichzeitig eine erhebliche Entlastung, die in bestimmten Lagen dringender als die Freiheit von Hemmungen gebraucht wird. Moderne Inhalte lassen sich in der traditionellen Verkleidung viel leichter aneignen, ohne daß dabei das demütigende Gefühl entsteht, man äffe den verhaßten Westen nach oder man verrate die eigene Identität; und der Eindruck, man sei von der eigenen Tradition ohnehin nie abgewichen, schützt wiederum vor Enttäuschungen, sollte es sich herausstellen, daß der Modernisierungsversuch mißlang. Diese Bemerkungen bringen uns auf einen dritten modernistischen Aspekt des radikalisierten Traditionalismus, der von nicht geringer Bedeutung für dessen Zukunft sein dürfte. An sich bildet dieser Aspekt übrigens einen beredten Beweis dafür, daß der radikalisierte Traditionalismus ein gehemmter und verbrämter Modernisierungsvorgang unter 70
dem Druck einer sehr dichten planetarischen Politik, keine sterile »Reaktion« im geläufigen Sinne darstellt. Es fällt auf, daß weder in seiner Theorie noch in seiner Praxis (und in der Praxis noch weniger als in der Theorie) die moderne Technik und Industrie rundweg abgelehnt oder eine Rückkehr zu vorindustriellen Methoden des Wirtschaftens angestrebt werden. In diesem neuralgischen Bereich erlaubt sich radikalisierter Traditionalismus keine Narrenfreiheit und keine Illusionen über das politische Gewicht und Schicksal einer Nation, die zur Wahrung ihrer Traditionen bewußt und programmatisch auf die Mittel moderner Technik und Industrie verzichten würde. Auf Grund der inneren Logik der geschichtlichen Bewegung erweist sich aber der Gebrauch von modernen Mitteln als ausschlaggebender denn die Propagierung von traditionalistischen Zwecken. Gerade der unausweichliche tägliche Umgang mit den Mitteln, die Arbeitsteilung und die dadurch bedingten zwischenmenschlichen Beziehungen gestalten langfristig das gesellschaftliche Ganze. Die Eingliederung von wachsenden Teilen der Bevölkerung in moderne Wirtschaftsverhältnisse oder in moderne Armeen wird eine zwangsläufige Umstrukturierung des Dorfes, des Stammes, der Sippe und der Familie herbeiführen, und selbst wenn viele Fassaden aus Gründen der politischen Symbolik oder des antiwestlichen Selbstverständnisses intakt bleiben sollten, wird doch die Funktion nicht mehr die alte sein. Arbeiten die psychologischen Entlastungsmechanismen, von denen wir vorher sprachen, so kann der Modernisierungsvorgang sehr weit gedeihen, ohne daß die meisten Menschen einen unerträglichen Widerspruch zwischen Mitteln und Zwecken oder zwischen modernistischer Praxis und traditionalistischer Ideologie spürten. Symbolträchtige Handlungen, wie das regelmäßige ostentative Gebet der Frommen und das gleichermaßen ostentative Handabhacken für die Diebe, werden sogar auf der Suche nach Kompensationen womöglich um so beharrlicher ausgeführt, je mehr sich die politische Modernisierung in Form der Vermassung und die wirtschaftliche in 71
Form der entwickelten Arbeitsteilung vollzieht. Das wäre übrigens nicht das erste Mal seit den Anfängen des industriellen Zeitalters, wo Bewegungen, die mit traditionalistischen Losungen auf den Plan getreten sind, zügige Modernisierung betrieben haben. Die Floskel vom »Blut und Boden« hat z.B. die Nationalsozialisten keineswegs daran gehindert, die technisch-industrielle Entwicklung voranzutreiben und die Reihen des »Bauernstandes« unbekümmert zu lichten. Ob als (versuchte) Nachahmung des Westens oder als traditionalistische Absage an ihn: der zeitgenössische Nationalismus, der sich am planetarischen Geschehen beteiligen will, ja muß, folgt auf verschiedenen Wegen und Umwegen der massendemokratischen Logik und hat letztlich massendemokratische Zielsetzungen. Wie bereits bemerkt (Abschn. I, 1), werden sich in Zukunft höchstwahrscheinlich unterschiedliche Typen von Massendemokratie entwickeln, die vom - an sich schon vielfältigen - westlichen Typ abweichen werden. Insofern ist es nicht gleichgültig, ob eine Nation sich als modernistisch oder traditionalistisch definiert, andererseits darf man aber nicht erwarten, daß der heutige Nationalismus an Leistungen anknüpfen wird, die seine Vergangenheit kennzeichnen. Diejenigen werden vor allem eine Enttäuschung erleben, die sich vom »Wiederaufleben der Nationalismen« eine neue schöpferische Epoche der nationalen Kulturen in ihrer Individualität versprechen. »Kultur« überhaupt und als solche war ein bürgerlicher Wert und »nationale Kultur« war die Kultur in der Perspektive des bürgerlichen Nationalismus. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß der Begriff der nationalen Kultur noch lange überleben wird, da er offensichtlich noch immer Legitimationsaufgaben erfüllen und als Waffe nach außen sowie als identitätsstiftender Faktor im Inneren weiter benötigt wird. Es läßt sich sogar voraussagen, daß unter bestimmten Umständen ganze nationalistische Mythologien und selbstgefällige kollektive Epopöen entstehen. Dies alles ist aber noch nicht kulturelle Kreativität. Die großen Fragen des In72
halts und der Form stellen sich im massendemokratischen Zeitalter, und zwar schon seit der großen Wende um 1900, auf der Ebene der Weltgesellschaft - und nur Fragen, die sich hier stellen, spornen heute zur wahrhaft schöpferischen geistigen Tätigkeit an. Wie lange man noch an der eigenen nationalen Kultur auch kauen mag: als ausschließlich nationale Kultur wird sie in Zukunft kaum mehr als couleur locale, »interessante« Besonderheit oder Sehenswürdigkeit innerhalb des bunten Pantheons oder Pandemóniums der massendemokratischen Weltgesellschaft sein. An keinem anderen Beispiel zeigt sich diese Tendenz so deutlich, wie an der Unfähigkeit des traditionalistischen Nationalismus, schlicht und einfach beim Traditionellen zu bleiben. Zwei mögliche Funktionen des zeitgenössischen Nationalismus müssen abschließend ins Auge gefaßt werden. Die soeben angesprochene eventuelle Entstehung oder Aufblähung nationalistischer Mythologien könnte z. T. als Ersatz für die inzwischen ausgefallenen großen, geschichtsphilosophisch untermauerten utopischen Entwürfe dienen, also gleichsam kurz- und mittelfristige Utopien abgeben. In dem Maße gar, wie sich vitale Nationalismen einer übernationalen, etwa religiösen Idee bemächtigen und sie mit Ausschließlichkeitsanspruch vertreten würden, könnte sich der kurz- oder mittelfristige Chiliasmus in den Dienst von hegemonialen Ambitionen mittlerer oder größerer Mächte stellen. Dabei muß aber immer mit einer Zersplitterung der Träger und der Interpretationen der betreffenden übernationalen Idee gerechnet werden. Andererseits wäre es denkbar, daß der Nationalismus bei wachsender Güterknappheit auf planetarischer Ebene die Biologisierung des Politischen fördert. Engpässe bei der Güterverteilung müßten - solange sie wenigstens nicht zu einem Kampf aller gegen alle führen - die Abgrenzung zwischen den Gruppierungen der Weltgesellschaft vertiefen und würden wahrscheinlich die rassisch aufgefaßte Nationalität zum entscheidenden Unterscheidungs- und Klassifizierungsmerkmal erheben. In dieser Perspektive gesehen war es ein aufschlußreiches Zeichen, 73
daß die Gruppierungen, die heute erstmals in Form von souveränen Staaten die Bühne planetarischer Politik betreten (wollen), um ihre Interessen bei dem nun beginnenden planetarischen Verteilungs- und Umverteilungskampf anzumelden, sich vorzugsweise, ja fast spontan auf der Basis einer wahren oder vermeintlichen Blutsgemeinschaft als dem nächstliegenden gemeinsamen Nenner konstituierten.
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ΠΙ. Die neue Gestalt des warmen Krieges
Bildet der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, spiegelt sich also in der Kriegführung die Beschaffenheit der herrschenden politischen Verhältnisse wider, so ist es kein Wunder, wenn sich der Krieg im massendemokratischen Zeitalter demokratisieren muß. Hier geht es freilich nicht um die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht neben dem allgemeinen Wahlrecht, von der sich viele Sozialisten ehemals die Demokratisierung der Streitkräfte versprachen. Demokratisiert werden vielmehr die Kriegsmittel, und zwar im Laufe einer ambivalenten Entwicklung, bei der sich das frühere gesamtgesellschaftliche Verhältnis zwischen Zivil und Militär zuungunsten des Militärs ändert, gleichzeitig aber die neue Flexibilität der Waffen und der Kriegsformen militärische Einsätze erleichtert, ja geradezu provoziert. Angesichts der spätestens seit der zweiten industriellen Revolution bestehenden sehr engen Verbindungen zwischen technologischen Möglichkeiten und Strategie bzw. Taktik im Kriege mußte diese Entwicklung von den technologisch fortgeschrittenen westlichen Massendemokratien ausgehen; und angesichts der inzwischen erreichten Dichte planetarischer Politik muß sie, vor allem nach dem Ende des Kalten Krieges, die ganze, nunmehr mobilere Weltgesell75
schaft erfassen. Bahnbrechend wirkt dabei das Verfließen der Grenzen zwischen ziviler und militärischer Technologie, das durch die dritte industrielle Revolution gefördert wurde. Je mehr zivile und militärische Technologie auf die Dienste von Elektronik und Informatik angewiesen sind, desto mehr verringert sich der Abstand zwischen ihnen, nicht zwar auf den niedrigeren, wohl aber auf den höheren und höchsten Ebenen; gerade hier fallen aber die Entscheidungen über die Lenkung des gesamten verfügbaren Apparates, um dann dessen Glieder durch dieselbe Technologie in Bewegung zu setzen, die die Daten zum Treffen der grundlegenden Entscheidungen liefert. Der glatte Ubergang von ziviler und militärischer Technologie ineinander impliziert, daß zur Förderung der letzteren keine Sonderanstrengungen größeren Ausmaßes nötig sind, so sehr auch die Anwendung von allgemein gültigen Erkenntnissen auf den militärischen Sektor sowie die speziell militärische Kleinarbeit Zeit und Fachkräfte in Anspruch nehmen mögen. Der Druck der Kostensenkung, unter dem die Ziviltechnologie steht, wirkt sich auf die Herstellung militärischer Produkte günstig aus, während die parallelen Fortschritte auf beiden Gebieten zudem die Zeit verkürzen, die die Entwicklung von neuen Waffensystemen (von ihrem Entwurf bis zu ihrer Einsatzbereitschaft) erfordert. Im Extremfall ermöglicht der Fortschritt der Ziviltechnologie eo ipso ihre direkte militärische Verwendung. Dadurch wird die frühere, politisch vielfach privilegierte Stellung des Militärs insofern beeinträchtigt, als die Waffenindustrie allmählich aufhört, sich mit der finsteren Aura des arcanum imperii zu umgeben, und der zivile Techniker den militärischen teils ablösen, teils leiten kann; gleichzeitig ändert sich das Selbstverständnis des Militärs, es tritt also um zwei geläufige Stereotypen miteinander zu kontrastieren - an die Stelle des Haudegens der moderne nüchterne Techniker. Die Möglichkeit einer zahlenmäßigen Verringerung der Streitkräfte bei zunehmender Technisierung trägt das Ihrige zur Herabsetzung der sozialen Stellung des Militärs zu76
mindest innerhalb der westlichen Massendemokratien bei. Dennoch deuten diese Vorgänge ebensowenig auf eine Ausschaltung des militärischen Faktors hin wie die Ökonomisierung des Politischen die Politisierung des Ökonomischen ausschließt. Unter bestimmten politischen und psychologisch-ideologischen Bedingungen läßt sich sogar vermuten, daß die militärische Modernisierung oder der Ausbau des Militärs durch die Verflechtung mit der zivilen Technik und hinter ihrer unverfänglichen Fassade bequemer und effektiver betrieben werden kann. Gerade diese Verflechtung kann es ζ. B. Mächten gestatten, die in der strategischen Konstellation des Kalten Krieges zwar wirtschaftlich stark sein konnten, militärisch aber zweitrangig bleiben mußten, auf diesem Gebiet Versäumtes sehr schnell nachzuholen, da sie ihre fortgeschrittene Technologie einfach vom zivilen auf den militärischen Gebrauch umstellen können. Derselbe technologische Uberfluß des Westens füllt auch die Kanäle, durch die moderne Waffen, und zwar oft in ziviler Verpackung, in die außereuropäischen Räume gelangen. Die mittleren und größeren Mächte dieser Räume sind freilich von einer Verflechtung ziviler und militärischer Technologie auf hohem Niveau mehr oder weniger entfernt, doch sie benötigen vor allem jene Waffen, die auf diesem Niveau produziert werden. Sie können übrigens nicht einsehen, warum sie nicht das besitzen sollen, was die Großmächte schon haben und nicht einfach verschrotten wollen. Ein Verbot an sie, sich Kernwaffen oder sonstiges modernes Rüstzeug anzuschaffen, könnte letztlich nur durch die Annahme begründet werden, die Großmächte allein wüßten damit vernünftig umzugehen, sie selbst aber nicht. Eine solche diskriminierende Unterscheidung kann aber nicht getroffen werden, ohne die erklärten anthropologischen und universalethischen Gleichheitsprinzipien des Westens zu mißachten. Die Schlußfolgerung erscheint daher zwingend, Menschen mit gleicher Würde dürften auch dieselben Waffen besitzen. Verwandelt der Demokratisierungsvorgang auf hochtechnisierter Basis im Westen das Militär in einen »Job« neben 77
anderen - freilich in einen solchen, von dem noch immer im Ernstfall ganz spezielle Leistungen erwartet werden - , so vollzieht sich die Demokratisierung des Krieges auf planetarischer Ebene durch das Aufweichen oder die Beendigung von militärtechnischen Monopolen. Man kann nicht umhin, an das Wort des Philosophen zu denken - »Die Menschheit bedurfte des Schießpulvers, und alsobald war es da« - , wenn man die gegenwärtigen Formen betrachtet, die das Zusammenlaufen von politischen und militärischen Faktoren annimmt. Die strategischen Atomwaffen werden obsolet und lassen kleineren, flexibleren und relativ leicht erwerbbaren Waffen genau in dem Augenblick den Vortritt, in dem die mittleren und größeren Mächte, die sie besitzen und benötigen können, auf den Plan treten. Der Zersplitterung der politischen Kräfte nach dem Kalten Krieg entspricht die Aufwertung von Waffen, die sich in sehr unterschiedlichen lokalen Situationen mit hoher Präzision einsetzen lassen. Gerade umgekehrt sah die Lage während des Kalten Krieges aus, obwohl sie sich in dessen letzten Jahren durch die Entwicklung der Mittel- und Kurzstreckenraketen lockerte. Daß die strategischen Atomwaffen ihre Bedeutung dennoch keineswegs einbüßten, lag in der Logik der Gesamtkonstellation. Die grundsätzliche Unversöhnlichkeit von zwei riesigen und massiven Lagern, die sich starr gegenüberstanden und eher selten Nebenwege fanden, um einander zu überlisten oder sich miteinander zu treffen, schlug sich auf die anschaulichste Art und Weise im beiderseitigen Auftürmen von apokalyptischen Arsenalen nieder. Die charakteristische Eigenschaft dieser strategischen Waffen bestand darin, daß sie ihre ungeheuere Zerstörungsenergie nicht auf ein bestimmtes militärisch sinnvolles Ziel konzentrieren konnten; sie mußten massiv, also viel mehr als das zerstören, was zur politisch wünschenswerten Unterwerfung des Feindes nötig war. Gerade diese ihre Plumpheit, wenn man so sagen darf, sicherte ihnen die Abschreckungsfunktion. Politik mit ihnen machen hieß abschrecken, Krieg mit ihnen führen war aber mehr oder weniger unberechenbar. 78
Nach dem Kalten Krieg wird die planetarische Landschaft nicht mehr von zwei einander gegenüberstehenden und strategisch ausgerüsteten massiven Bollwerken beherrscht, sondern sie ähnelt vielmehr einer elektronischen Tafel, auf der dicht nebeneinander liegende kleinere rote Lichter ständig an- und ausgehen. Der nicht stattgefundene Weltkrieg hat sich auf mehrere regionale Konflikte aufgeteilt, von denen einige planetarische Relevanz erlangen könnten. Innerhalb des zersplitterten planetarischen Raums und außerhalb des Schattens eines atomaren Weltkrieges werden Kriege führbarer; die Verdrängung der strategischen Kernwaffen durch die Präzisionswaffen entspricht der Ablösung der alten Abschreckung durch die neue Kriegführung. Die Offenheit der neuen planetarischen Konstellation gebietet Flexibilität des militärischen Einsatzes, die Vielfalt der möglichen Angriffsziele, deren jedes wiederum zum Angriff übergehen kann, erfordert schnelle Konzentration der Mittel und jene Zielgenauigkeit, die eines der erstaunlichsten Resultate der neuen Waffentechnologien darstellt. Die planetarische Macht, die den Kalten Krieg gewonnen hat, muß nun, will sie weiterhin planetarische Macht bleiben, an Hand der neuen zivilmilitärischen Technologie jenes Konzept perfektionieren, das sich zunächst noch innerhalb der alten Abschreckungsstrategie als deren Ergänzung herausbildete; »flexible response« kann nun aber nicht bloß die Fähigkeit bedeuten, auf jeder Stufe einer eskalierenden Konfrontation mit den dem Ernst der Lage entsprechenden militärischen Mitteln zu reagieren, ohne gleich zum Äußersten greifen zu müssen, sondern - allgemeiner - die Fähigkeit, in jeden Konflikt mit der jeweils geeigneten Ausrüstung einzugreifen. Selbstverständlich muß eine planetarische Macht, die durch öftere flexible responses planetarisch relevante Konflikte unterdrücken oder unter Kontrolle bringen will, daran interessiert sein, die möglichen Urheber solcher Konflikte oder wenigstens ihre eigenen möglichen Gegner dabei nicht in den Besitz von Kernwaffen, aber auch von Waffen hoher Präzision kommen zu lassen; dasselbe dürfte im In79
teresse der Mächte liegen, die sich (in bestimmten Regionen) durch die planetarische Macht vertreten fühlen. Die Oligarchie hochmoderner Waffenträger scheint in dieser Perspektive eine effektivere Friedensgarantie als die egalitäre Waffendemokratie zu sein. Zwei Gründe sprechen indes dafür, daß sich die Verbreitung der genannten Waffen langfristig nicht verhindern läßt. Der politische Grund ist die Notwendigkeit, in der sich die Großmächte einschließlich der planetarischen Macht befinden, regionale polizeiliche Aufgaben an verbündete mittlere oder größere Mächte zu delegieren. Es ist zu erwarten, daß diese letzteren die Erfüllung ihrer Aufgaben von der Lieferung moderner Ausrüstung abhängig machen und die eventuelle Verteidigung fremder Interessen zum Ausbau ihrer eigenen regionalen Machtposition nutzen werden. Der wirtschaftliche Grund, der den Export hochentwickelter Waffentechnologie eher intensivieren wird, geht teilweise auf die erwähnte Verflechtung von ziviler und militärischer Technologie zurück und hängt mit dem Konkurrenzdruck zusammen. In dem Maße, wie immer mehr mittlere Mächte die üblichen konventionellen Waffen an die Interessenten verkaufen können, werden die Spitzenproduzenten hochentwickelte Waffensysteme anbieten müssen, um - vor allem untereinander - konkurrenzfähig zu bleiben. Die bereits angesprochene Verkürzung der Zeit zwischen einer waffentechnischen Erfindung und ihrer praktischen Durchführung wird dazu beitragen, daß die jeweils neuesten Errungenschaften auf diesem Gebiet schnelle Verbreitung finden werden. Dabei wird die technologische Kluft zwischen dem Produzenten und dem Abnehmer nicht notwendig ein unüberwindliches Hindernis darstellen, denn die Bedienung der Systeme ist weniger kompliziert als ihre Struktur. Die Verbreitung hochentwickelter Waffentechnologie in Ländern, die solche kaum oder nur ansatzweise produzieren, wird sicherlich keinen automatischen Ausgleich des militärischen Potenzials von Exporteuren und Importeuren herbeiführen können. Dieselbe Menge und Qualität des Ma80
terials hat in jedem Land einen anderen Stellenwert, der durch das allgemeine technologische und kulturelle Niveau bedingt ist; die Binsenweisheit von der Priorität des menschlichen Faktors wird also - wenigstens in diesem Sinne - ihre Gültigkeit weiter behalten. Außerdem können Länder, die ausschließlich oder hauptsächlich auf den Import von Waffentechnologie angewiesen sind, immer nur Teile oder Fragmente derselben, nicht aber den Gesamtzusammenhang importieren und meistern, innerhalb dessen diese Teile oder Fragmente ihre maximale Leistung erreichen. Mit der Bedienung modernen Geräts machen sich dementsprechend nur Teile ihrer Streitkräfte vertraut, die hochentwickelte Technisierung beschränkt sich also grundsätzlich auf Eliteeinheiten, während die große Masse der Truppe in ihrer Kampfart und Mentalität mehr oder weniger unberührt davon bleibt. Daraus folgt ein erheblicher Mangel an Homogenität, zugleich aber auch die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung von Massenarmeen. Denn ein nennenswerter zahlenmäßiger Abbau derselben ohne Beeinträchtigung ihrer Kampfkraft könnte nur bei einer extremen technologischen Verfeinerung der Führungssysteme für Aufklärung, Zielerfassung und Waffenlenkung vorgenommen werden, die die Feuerkraft multiplizieren, die Beweglichkeit erhöhen und bei hoher Zielgenauigkeit Munition sparen würde. Daher würden zweifellos beträchtliche Niveauunterschiede auftreten, sollte je ein Land, das hochentwickelte Waffentechnologie exportiert, mit einem Land Krieg führen, das solche importiert. Dieser Fall könnte in Zukunft nicht selten vorkommen, nicht nur an ihm werden sich aber die Wirkungen der Demokratisierung der Kriegsmittel bemerkbar machen. Bei den regionalen Konflikten, die infolge des Aufkommens mittlerer und größerer Mächte wahrscheinlicher werden, muß der merkliche technologische Vorsprung einer lokalen Macht die Kräfteverhältnisse beeinflussen, selbst wenn das Gros der Streitkräfte aller Seiten ansonsten auf einer überholten Stufe der technologischen Entwicklung zurückgeblieben ist. Technologisch un81
terentwickelte Länder, die einen heftigen Bedarf nach moderner Ausrüstung an den Tag legen, tun dies eben im Hinblick auf fremde oder eigene Hegemonialansprüche und auf die daraus erwachsenden Konfliktsituationen. Der erstgenannte Fall würde nun eintreten, wenn sich ζ. B. eine überregionale Großmacht den Hegemonialansprüchen einer bestimmten regionalen Macht widersetzen wollte und dabei entschlossen wäre, ihr technologisches Ubergewicht voll in die Waagschale zu werfen. Die Frage, die sich dann stellen würde, müßte folgendermaßen lauten: kann die regionale Macht, die einem allseitigen Kampf mit der Großmacht ohnehin nicht gewachsen ist, ihr dennoch solchen Schaden zufügen, daß dies als Abschreckung wirkt? Die Antwort, die die Zukunft auf diese Antwort geben wird, dürfte ungeheuere Folgen für die Herausbildung der Konstellation in der gegenwärtigen Phase planetarischer Politik haben. Es kann als sicher gelten, daß die Feuerkraft aller Seiten sowie die Beweglichkeit ihres Einsatzes zunehmen wird. Immer mehr Länder werden über Raketen mit wachsender Reichweite und Zielgenauigkeit verfügen, immer häufiger werden ballistische Flugkörper mit chemischen oder biologischen Waffen ausgerüstet. Sollten sich die interessierten Großmächte als unfähig erweisen, wirksame Frühwarn- und Abfangsysteme aufzubauen oder die Verbreitung solcher Waffen durch ständige gezielte Eingriffe zu unterbinden, so müssen sie früher oder später auch bei schließlich siegreichen kriegerischen Auseinandersetzungen mit Regionalmächten schwere Verluste in Kauf nehmen. Es ist damit zu rechnen, daß Länder, die wegen ihrer allgemeinen Wirtschaftslage keine Hoffnung hegen können, sich die hochmoderne Technologie in ihrer ganzen Breite anzueignen, zumindest die Anschaffung von Waffen anstreben werden, die auch auf Großmächte ihren Abschreckungseffekt nicht verfehlen würden. Realisiert sich diese Möglichkeit, so wird der politische und militärische Abstand zwischen mittleren, größeren und großen Mächten kleiner als der sein, den man auf Grund des jeweils bestehenden allge82
meinen technologischen Niveauunterschiedes vermuten würde. Der unterschiedliche Technisierungsgrad der Armeen deutet schon darauf hin, daß es in Zukunft mehrere Kampfformen und Arten von Kriegführung geben wird. Man wird zwar ein Idealbild von der modernen, also durchweg technisierten Kriegführung entwerfen, das heißt aber noch lange nicht, daß in bestimmten Lagen nicht andere Kampfformen den Ausschlag geben könnten - sowohl zwischen technologisch gleichwertigen als auch zwischen technologisch ungleichwertigen Feinden. Das wäre nicht nur deswegen möglich, weil äußere Widrigkeiten den Einsatz übersensibler Technologie verhindern würden, sondern auch auf Grund der Tatsache, daß Waffen durch einfachere Mittel als diejenigen zerstört werden können, die zu ihrer Herstellung erforderlich sind, obwohl freilich jede direkte Konfrontation von technisch hochentwickelten mit weniger entwickelten Waffen ceteris paribus zugunsten der ersteren ausgehen muß. So läßt sich etwa auf technologisch hoher Ebene die Zerstörung von Verteidigungssystemen im Weltraum durch Weltraumbomber leichter durchführen als ihr Aufbau, während auf einer technologisch niedrigeren Stufe terroristische Aktionen und Kommandounternehmen gerade unter den Umständen einer Ubertechnisierung an militärischer Bedeutung gewinnen dürften. Es ist zu erwarten, daß sich eine besondere Technik zur Neutralisierung von militärischer Spitzentechnologie entwickeln wird und daß sich überhaupt ein Schwerpunkt der waffentechnischen Bemühungen auf den Bereich konzentrieren wird, der zwischen den Kernwaffen und den herkömmlichen konventionellen Waffen liegt. Trotzdem werden die Kernwaffen und die damit verbundenen Kriegsformen aus dem breiten Spektrum der Möglichkeiten heutiger Kriegführung keineswegs verschwinden. Konventionelle Waffen neuer Art können zwar bereits die Aufgaben von taktischen Atomwaffen übernehmen, niemand kann aber garantieren, daß alle künftigen Kriegführenden ungeachtet des Kriegsverlaufs vom Einsatz dieser 83
letzteren absehen würden. Zudem steht einem Übereinkommen aller Staaten zur Nicht-Verbreitung von taktischen und strategischen Kernwaffen und zur Vernichtung der bestehenden praktisch Unüberwindliches im Wege. Die Großmächte können - von der Rivalität zueinander abgesehen - schon deswegen nicht darauf verzichten, weil sonst die abstruse Situation eintreten könnte, daß eine atomar bewaffnete mittlere Macht viel stärkere Staaten erpreßt. Den schwächeren Staaten geben solche Waffen wiederum Abschreckungsmöglichkeiten und sichern ihnen auf dieser Ebene eine gewisse Parität mit den stärkeren, die sie auf konventieller Ebene kaum erreichen können. Und schließlich kann keine Seite absolut sicher sein, daß eine allgemeine Vernichtung der Kernwaffen praktisch möglich und auch dauerhaft sein wird. Die in den letzten Jahren bekundete Bereitschaft der beiden führenden Atommächte, ihr Potenzial zum Teil abzubauen, sollte nicht als der Anfang einer allmählichen, aber vollständigen Beseitigung desselben gedeutet werden; nicht zuletzt geht sie auf die Einsicht in die Obsoletheit von strategischen Kernwaffen alten Schlages nach der Entwicklung der Präzisionswaffen zurück. Hochtechnisierte Militärmächte sind verständlicherweise strategisch und taktisch von den Fortschritten und den Wandlungen der Technologie noch abhängiger als andere insbesondere dann, wenn es um das Kräfteverhältnis zwischen ihnen geht. Eine wichtige technische Erfindung oder Erneuerung müßte hier höchstwahrscheinlich Umstrukturierungen großen Ausmaßes nach sich ziehen (Abschreckungswaffen könnten ζ. B. nicht mehr U-Boote als bevorzugte Träger haben, wenn das Meer transparent gemacht werden könnte). Bei hochtechnisierten und ungefähr gleichwertigen Gegnern, die die oben erwähnte Möglichkeit einer extremen Straffung ihrer Militärorganisation durch Verwendung modernster Führungssysteme voll ausgenutzt hätten, könnte man eine weitgehende Abhängigkeit der Kriegführung von eben diesen Systemen ohne nennenswerte massive Einsätze von Truppen annehmen. Ein Krieg etwa zwischen 84
Japan und den Vereinigten Staaten könnte größtenteils im Weltraum und im Ozean durch Einsatz von automatisierten Luftmitteln sowie Uber- und Unterwasserschiffen geführt werden. Das ist aber nur das eine Ende eines weitgefächerten Spektrums von Kriegsformen, die auf Grund der heutigen planetarischen Gegebenheiten theoretisch und praktisch in Frage kommen. Einer genaueren vorgreifenden Klassifizierung widerstreben diese Kriegsformen deshalb, weil die möglichen Kriegführenden alle nur denkbaren Stufen der politischen und militärischen Entwicklung vertreten - ihre Anzahl ist übrigens nach der Auflösung der beiden Lager des Kalten Krieges und der wachsenden Autonomisierung mancher Weltregion und manchen Staates erheblich gestiegen. Die lokalen Kriege, die infolgedessen nun wahrscheinlicher werden, dürften in strategischer und begrifflicher Hinsicht desto amorpher sein, je mehr sie in Räumen geführt werden, die keine Großmacht brennend interessieren. An das andere Ende des genannten Spektrums können wir daher Kriege setzen, die sich bei relativ veralteten Kampfmitteln und ungefährem Kräftegleichgewicht ohne strategische und taktische Glanzleistungen über längere Zeit hinziehen werden. Aber obwohl hypothetische Klassifizierungen der künftigen Vielfalt der Kriegsformen theoretisch riskant und praktisch sinnlos sind, könnte man an Hand der Faktoren, die bisher erörtert wurden, Kriterien aufstellen, um den jeweiligen Charakter künftiger Kriege in der breiteren kriegsgeschichtlichen Perspektive wenigstens annähernd zu erfassen. Die typologische Bemühung würde deutlichere Konturen gewinnen, wenn wir zudem mit Hilfe einer vertrauten - wenn auch oft falsch verstandenen - Terminologie Vergleiche mit klassischen Kriegsformen aus der Vergangenheit anstellten. Eine grundlegende Klärung könnte hier zunächst die Feststellung bringen, bei der gegenwärtigen sozialpolitischen Beschaffenheit der Akteure planetarischer Politik wären »totale« Kriege, wie jene, zu denen sich der Erste und der Zweite Weltkrieg entwickelt haben, kaum zu erwarten. 85
Der sogenannte »totale« Krieg ist die Art der Kriegführung von Nationen gewesen, die sich in einer bereits reifen Phase der zweiten industriellen Revolution befanden. Er wurde durch die wirtschaftliche Fähigkeit der mobilisierten arbeitenden »Heimat« möglich, die kämpfende »Front« unaufhörlich mit Materialmassen zu beliefern, die dann in Materialschlachten eingesetzt und relativ rasch verbraucht wurden. Die Kriegsmittel aller kriegführenden Seiten reichten aber - selbst bei massivem Einsatz der Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg - nicht aus, um über die Zerstörung des feindlichen Materials an der Front hinaus die wirtschaftlichen Quellen der Materialversorgung in der »Heimat« tödlich zu treffen, und eben diese Unfähigkeit ermöglichte die längere Dauer des »totalen« Krieges. Durch die Einführung der Atom- bzw. atomaren Fernwaffen, die zugleich den Auftakt zur dritten industriellen Revolution bedeutete, änderte sich diese Lage in zwei entscheidenden Hinsichten: die »Heimat« konnte in kurzer Zeit durch konzentrierte Schläge außer Gefecht gesetzt werden, und ihre »totale« Mobilmachung in Kriegszeiten wurde insofern überflüssig, als die Produktion der Atomwaffen, auf die es nun in erster Linie ankam, keiner solchen Mobilmachung bedurfte; bei erheblich geringerer Mobilmachung konnte also eine viel umfangreichere Zerstörung auf der Seite des Feindes erzielt werden. Es ist anzunehmen, daß bei künftigen Kriegen zwischen wirtschaftlich hochentwickelten Nationen und unabhängig davon, ob Atomwaffen zum Einsatz kommen oder nicht, doch hochtechnisierte Kriegsmittel verwendet werden, deren Produktion, zumal angesichts der Verflechtung von Zivil- und Militärtechnologie, nicht einmal eine besonders auffällige kollektive Anstrengung erfordert. Nationen, die die zweite industrielle Revolution hinter sich haben, besitzen entweder solche Kriegsmittel oder können sie schnell erwerben, während sich gleichzeitig die Fälle häufen, daß Nationen, die die zweite industrielle Revolution kaum gekannt haben, zum Teil die Kriegsmittel besitzen, die auf der Grundlage der dritten produziert wurden. Die Kriegsfor86
men, die sich aus der Kreuzung solcher Faktoren und solcher Akteure ergeben könnten, dürften dem »totalen« Krieg im oben erklärten eigentlichen Sinne des Wortes kaum ähneln. Es kann ja nur theoretische und historische Verwirrung stiften, wenn man als »total« amorphe Kriege bezeichnete, die an einer zwischenstaatlichen Grenze geführt werden und nur deshalb lange dauern, weil beide Seiten wirtschaftlich und militärisch schwach, nicht weil sie überaus stark sind. Will man im Hinblick auf das vermutliche Ausbleiben des »totalen« Krieges unter den gegenwärtigen Umständen von einer Rückkehr zum Vernichtungskrieg reden, so müßte man die geschichtlich scharf umrissene Bedeutung dieses Begriffes im Auge behalten und die nötigen Modifizierungen eingedenk der planetarischen Lage von heute vornehmen. Trotz des Eindrucks, den oberflächliche Kriegshistoriker verbreitet haben, bildet der Vernichtungskrieg weder ein Synonym noch einen Vorläufer des »totalen« Krieges, sondern das gerade Gegenteil davon. Die Vernichtung bezog sich ausschließlich auf die feindlichen Streitkräfte, und hier wiederum meinte sie nicht notwendig oder primär die physische Eliminierung, sondern die Unschädlichmachung im militärischen Sinne, sie implizierte also, daß der Krieg ausschließlich zwischen Armeen und durch Armeen geführt wurde, ohne Mobilisierung und auch ohne absichtliche Zerstörung des zivilen Bereichs; als Musterbeispiele solcher Kriegführung können etwa die Kriege von 1866 und 1870 dienen. Die Führung eines so verstandenen Vernichtungskrieges wäre heute zwischen hochtechnisierten Mächten denkbar, die sich ausschließlich auf ihre Führungssysteme und ihre Präzisionswaffen verlassen würden, um das militärische Rückgrat des Feindes zu brechen und ihn zur Kapitulation zu zwingen; besteht eine solche Möglichkeit real, so sind offenbar die absichtliche Zerstörung von zivilen Objekten oder gezielte Angriffe auf die Zivilbevölkerung nicht nur überflüssig, sondern sie zersplittern geradezu die Kräfte bei einer Aktion, deren Erfolg nicht zuletzt von der Schnel87
ligkeit und der Konzentration abhängt. Unterhalb der hohen Technisierungsebene auf beiden Seiten wäre indes ein Vernichtungskrieg stricto sensu problematisch. Er könnte zwar von einer technologisch hoch überlegenen Macht gegen einen technologisch schwachen Feind relativ mühelos geführt werden, sollte dennoch die schwächere Seite (atomare) Fernwaffen besitzen, die sie zu Vergeltungszwecken einsetzen könnte, so würde sich diese notgedrungen beschränkte Vergeltung eher gegen die Zivilbevölkerung denn gegen militärische Ziele richten: denn die militärische Kraft des ohnehin überlegenen Feindes wäre durch beschränkte Mittel nicht zu brechen, wohl aber könnten Zivilverluste politische Kettenreaktionen in Gang setzen, die den militärisch Überlegenen möglicherweise lähmen würden. Der auffallende Unterschied in der Qualität der verfügbaren Kriegsmittel hätte jedenfalls einen erheblichen Charakterunterschied zwischen dem Vernichtungskrieg des 19. Jh. s und dem des 21. zur Folge. Ersterer wurde durch Armeen geführt, die großenteils erst aufgestellt werden mußten, seine Vorbereitung fand also vor den Augen der ganzen Welt statt, selbst wenn sie nur einige Wochen oder Tage dauerte. Dies gestattete wiederum die Wahrung völkerrechtlicher Formen, d. h. es gab immer Zeit zu einer förmlichen Kriegserklärung, ohne daß dadurch Kriegsablauf und -ausgang wesentlich beeinflußt worden wären. Umgekehrt müßte die wachsende Bedeutung einer überraschenden massiven Verwendung von modernen Fernwaffen - zumal im Zustand einer ungefähren Parität - die völkerrechtlichen Sitten diesbezüglich deutlich verschlechtern. Blitzartige Präventivkriege werden wahrscheinlicher und zahlreicher sein, sollte es sich herausstellen, daß schon aus technischen Gründen nur solche Kriege zu gewinnen sind. Die Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskriegen würde dann vollends verblassen und überhaupt die Grenze zwischen Krieg und Frieden immer flüssiger werden. Gezielte Schläge »chirurgischen« oder einfach räuberischen Charakters könnten mit der Zeit als internationaler Normalzustand angesehen 88
werden, zumal wenn Großmächte davon oft Gebrauch machten, um kleinere Mächte teils für unbotmäßige Handlungen zu bestrafen, teils um deren Rüstung mit hochentwickelten Waffen zu verhindern. Die internationale öffentliche Meinung könnte sich an die Verbreitung und Veralltäglichung solcher Gewalt durch die Tatsache gewöhnen, daß diese jedesmal relativ wenige Opfer fordern würde, obwohl das kumulative Ergebnis womöglich noch bedauerlicher als das eines systematisch geführten Krieges wäre - es läßt sich sogar feststellen, daß solche Gewöhnung bereits weit fortgeschritten ist. Eine zwar begrenzte und verstreute, aber quasi institutionalisierte militärische Gewaltausübung würde sich übrigens mit anderen, auch kriminellen Formen von Gewaltausübung vermischen müssen. Gewalt, deren Umfang nur selten jenen eines regelrechten zwischenstaatlichen Krieges erreichen würde, wäre auch schwerer unter Kontrolle zu bringen. Solche Umstände könnten langfristig in die weltweite Anomie münden oder eine große und zentral gesteuerte Gewaltausübung auf den Plan rufen, um die kleinere und verstreute im Zaum zu halten. Jedenfalls muß man annehmen, daß die Art und Weise, wie sich die Weltgesellschaft mit dem Problem der Anomie auseinandersetzen wird, sowohl die Struktur der künftigen Weltordnung als auch den Charakter der künftigen Kriege beträchtlich beeinflussen wird.
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IV. Die Antiquiertheit der politischen Begriffe
Nicht erst in den Tagen des gescheiterten Moskauer Putsches konnte man immer wieder lesen, die »Konservativen« des KGB und der KPdSU wollten den Weg zur Marktwirtschaft und zum Parlamentarismus verbauen. Und viele publizistische Organe, die die sonst als »Stalinisten« oder »orthodoxe Kommunisten« Bezeichneten mit dem Adjektiv »konservativ« belegten, schrieben ganz ungeniert, manchmal auf derselben Seite, politischen Persönlichkeiten wie Reagan oder Thatcher, Bush oder Kohl dasselbe Attribut zu. Daraus müßte der gutgläubige Leser, der das ihm angebotene gedruckte Wort im Nominalwert nehmen will, logischerweise auf eine Gesinnungs- und Zielgemeinschaft der genannten westlichen Politiker mit den sowjetischen Feinden der »Perestroika« schließen. Vor einer solchen Absurdität konnte der gesunde Menschenverstand bewahren; dieser hat sich aber nicht als eigenwillig genug erwiesen, um der Schizophrenie des geläufigen politischen Vokabulars entgegenzutreten, er scheint sich damit sogar ohne Murren abgefunden zu haben. Einen Ausweg bietet freilich die Behauptung, konservativ sei der Verteidiger des jeweils Bestehenden, unabhängig davon, wie Bestehendes in jedem einzelnen Fall aussieht; so müßten konservative Politiker, die in ganz 91
unterschiedlichen Gesellschaften leben, erwartungsgemäß für ganz unterschiedliche, ja geradezu entgegengesetzte Programme eintreten. Dienen jedoch bei politischen Klassifizierungen nicht politische Inhalte als Maßstab, so müssen diese Klassifizierungen in psychologischen oder anthropologischen Faktoren, in Gemeinsamkeiten der Lebenseinstellung und des Lebensgefühls gründen. Aber selbst wenn man sich guten Gewissens zutrauen sollte, etwa zwischen Helmut Kohl und den russischen Putschisten derartige Gemeinsamkeiten zu unterstellen, würde trotzdem dieser interpretatorische Ansatz für die Analyse der konkreten Lage wenig Erhellendes erbringen. Denn in solchen Lagen geht es immer um die Durchsetzung von bestimmten Inhalten oder inhaltlich definierten Zielen im Hinblick auf die Gestaltung eines nationalen oder internationalen Kollektivs, wobei sich die freundlichen oder feindlichen Gruppierungen aus der Einstellung der jeweils Handelnden zu eben diesen Inhalten und Zielen ergeben. Die Legitimierung dieser letzteren im politischen Kampf erfolgt allerdings des öfteren unter Berufung auf anthropologische Annahmen; die politische Analyse kann dennoch aus formalen und an sich abstrakten anthropologischen Konstanten keine konkreten Inhalte ableiten, ohne einer schlechten Metaphysik zu verfallen. Dies alles gilt nicht nur im Hinblick auf den Begriff des Konservativismus. Nicht weniger verworren erscheint der publizistische, aber auch der wissenschaftliche Sprachgebrauch, wenn wir uns den anderen fundamentalen Begriffen zuwenden, um die sich das politische Vokabular der letzten hundertfünfzig Jahre positiv oder negativ gedreht hat. Gewiß, die Mehrdeutigkeit begleitet die politischen - und nicht nur die politischen - Grundbegriffe von ihrer Geburtsstunde an, sie ist aufgrund der polemischen Verwendung dieser Begriffe kaum zu umgehen, und dennoch ist sie von jener Bezuglosigkeit oder Amorphie ihres Inhalts zu unterscheiden, die ihren geschichtlichen Untergang anzeigt. Solange Begriffe lebendig und sozial tragfähig sind, können sie positiv oder negativ, eng oder weit interpretiert und je 92
nach den jeweiligen strategischen oder taktischen Bedürfnissen variiert werden, sie beziehen sich dennoch explizit oder implizit auf einen identifizierbaren und identischen Träger. Wer im 19. Jahrhundert »konservativ« sagte, meinte primär die sozialpolitischen Anliegen des antiliberalen Adels und des großen patriarchalischen Grundbesitzes, der sich durch die Fortschritte des industriellen Kapitalismus bedroht fühlte, während als soziale Träger dessen, was man heute jeweils »Konservativismus« nennt, bald die Verfechter der Planwirtschaft und der Diktatur im Osten, bald die Befürworter der Marktwirtschaft und des Parlamentarismus im Westen, bald die ökologisch motivierten Freunde der unversehrten Natur, bald die religiös gesinnten Feinde des Minirocks angeführt werden. »Liberal« hieß auch ursprünglich in erster Linie eine Politik, die die wirtschaftlichen oder verfassungsmäßigen Vorstellungen des Bürgertums artikulierte, nicht etwa ein Plädoyer für die Abtreibungsfreiheit oder das uneingeschränkte Asylrecht. Die Unverbindlichkeit des Vokabulars zeugt von seiner Obsoletheit. In der Tat hat sich die Politik des 20. Jahrhunderts großenteils im Zeichen von Begriffen abgespielt, die ihren realen geschichtlichen Gehalt mehr oder weniger verloren hatten oder zunehmend verloren. Das konnte zwar dem distanzierten Betrachter auffallen, die Akteure benötigten indes das Vokabular des 19. Jahrhunderts deshalb weiter, weil dies aus polemischen Gründen erforderlich war. Zudem hat der lange Kampf zwischen dem westlichen System und dem Kommunismus erheblich zur Verbreitung eines Sprachgebrauchs beigetragen, der in keinem der beiden Lager seine genauen sachlichen Entsprechungen hatte. Eben deswegen offenbart ausgerechnet das Ende des Kalten Krieges, und zwar dessen Ausgang, wie inhaltsleer die politische Sprache inzwischen geworden war. Das kann freilich kein abschließendes Urteil über ihre Wirksamkeit in Vergangenheit und Zukunft sein. Die drei Grundbegriffe des politischen Vokabulars der letzten hundertfünfzig Jahre, nämlich »Konservativismus«, »Liberalismus« und »Sozialismus« (oder soziale Demokra93
tie), verkörperten eigentlich nur zur Zeit ihrer (übrigens fast parallelen) Herausbildung drei reale und eindeutige gesellschaftliche Optionen. Denn nur um 1848 standen sich Adel, Bürgertum und Proletariat auf einem einzigen Schlachtfeld gegenüber. Das Triptychon schrumpfte aber noch im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Diptychon, denn der bereits geschwächte Adel ging großenteils im (Groß)Bürgertum auf, indem er seine patriarchalische Herrschaft auf dem Lande nolens volens aufgab und am kapitalistischen Wirtschaftsleben sowie am parlamentarischen Spiel in verschiedenen Graden und Formen teilnahm. Nachdem die Statik der societas civilis der kapitalistischen Dynamik nachgegeben hatte, konnte nicht mehr von Konservativismus im echten Sinne des Bewahrens einer gottgegebenen ewigen und hierarchischen Ordnung auf Erden die Rede sein. Wenn der Konservativismusbegriff trotzdem weiterhin am Leben blieb, so verdankte er dies weniger der Vitalität seiner natürlichen sozialen Träger und mehr der polemischen Wucht seiner triumphierenden Widersacher. Vor allem die Linke aller Schattierungen war nun ideologisch daran interessiert, den bürgerlich-liberalen Hauptgegner als Renegaten seiner eigenen »fortschrittlichen« Vergangenheit und als Fortsetzer der »obskurantistischen« oder »reaktionären« Positionen und Praktiken hinzustellen, die angeblich noch unmittelbar zuvor das Treiben der »feudalen Partei« kennzeichneten. Das »Konservative« wurde in dieser Perspektive vom Gegensatz zur Linken her definiert, »konservativ« war also etwas in dem Maße, wie es den Zielsetzungen der Linken widersprach, und zwar unabhängig davon, ob es sonst faktisch die Gesellschaft änderte: denn besaß die Linke definitionsgemäß das Monopol des Fortschritts, so konnte die Änderung der Gesellschaft in eine Richtung, die den Wünschen der Linken zuwiderlief, nicht als »echte« Änderung anerkannt werden. Dieses Denkschema wirkte jahrzehntelang nicht nur in der internationalen Politik schulbildend. Auch die etablierte »progressive« Politologie und Soziologie in Deutschland hat der Auffassung zur 94
Durchsetzung verholfen, Konservativismus sei kein geschichtlich gebundener und vergänglicher Begriff, sondern eine Einstellung, die sich in jeweils anderem Zusammenhang neu definiere und dementsprechend praktisch zum Tragen komme. Zumal in einer Zeit, in der philisterhaftes Mitläufertum (nämlich ein solches, bei dem alle Hintertüren offengehalten werden) intellektuell schick war, legte man auf die Feststellung wert, daß die Politologen des Ostblocks diese Uberzeugung teilten. Die Liberalen mußten sich ihrerseits den Konservativismusbegriff aneignen, als sie merkten, daß der ursprüngliche bürgerliche Sinn des Liberalismusbegriffes verblaßte, während seine Uminterpretation in antibürgerlicher demokratisch-egalitärer Absicht ständig an Boden gewann; »konservativ« nannte sich nun das Gedankengut und die sozialpolitische Praxis des klassischen Liberalismus, der sich ausdrücklich gegen egalitäre sozialistisch-demokratische Bestrebungen abgrenzen wollte. Diese traten ja oft mit dem Anspruch auf den Plan, das »wahre« Erbe des Liberalismus kreativ zu verwalten und den »echten« liberalen Gedanken konsequent zu Ende zu denken, indem sie aus den formellen Rechten materielle und aus der rechtlichen Gleichheit die soziale ableiteten. Unter diesen Umständen und im Lichte dieser Umdeutung mußte der Liberalismus als Theorie und Begriff den klassischen Liberalen selbst, die in den bürgerlichen Kategorien dachten, mehr oder weniger verdächtig vorkommen. Die großen Losungen von der Freiheit und der Gleichheit, die bereits im 17. Jahrhundert in der Sprache des säkularen Naturrechts propagiert wurden, gestatteten in der Tat bei manch gutem Willen eine extensive Interpretation, diese Möglichkeit wurde aber erst im 19. Jahrhundert allgemein bewußt. Denn die Urheber der genannten Losungen dachten dabei bloß an die Beseitigung der alten ständischen Schranken und Hierarchien, die sozialen Ungleichheiten aber, die für die späteren Demokraten der Stein des Anstoßes werden sollten, waren in ihren Augen vollkommen natürlich, und sie konnten sich daher 95
kaum vorstellen, daß bei voller Geltung des Naturrechts der Herr nicht mehr der Herr und der Knecht nicht mehr der Knecht wäre; eine Erinnerung an die Debatten des 19. Jahrhunderts über das Wahlrecht genügt, um diesen Punkt zu verdeutlichen. Auf jeden Fall kam es dazu, unter Hinweis auf einen ethisch geladenen Liberalismusbegriff sogar sozialstaatliche und dirigistische Tendenzen gutzuheißen, und zwar eingedenk des Stellenwerts des Individuums im liberalen Denkrahmen. Als höchster Wert sollte also nun das Individuum den Schutz der Gesellschaft durch die Vermittlung des Staates genießen und von ihm Garantien für seine freie und allseitige Entfaltung erhalten. Dabei handelte es sich freilich um eine drastische Uminterpretation des klassischen liberalen Individualismusbegriffes; doch hier interessiert nicht die Legitimität dieser Uminterpretation, sondern die Tatsache, daß sie unternommen wurde und die praktische Politik beeinflußte. Je mehr sich die bürgerlich geprägte Massengesellschaft der modernen Massendemokratie näherte, desto enger verband sich der Liberalismusbegriff mit teils ethisch-dirigistischen, teils radikal individualistischen und kulturrevolutionären Tendenzen. Aus naheliegenden sozialgeschichtlichen Gründen wurde der Sprachgebrauch nur in den Vereinigten Staaten dieser Sachlage gerecht, während es in Europa bei der Doppeldeutigkeit blieb. So konnte im 20. Jahrhundert der Konservativismusbegriff für liberale Zwecke und der Liberalismusbegriff für eine insgesamt antibürgerliche Politik eingespannt werden. Genauso vieldeutig und schillernd wurde indes im Laufe der Zeit der Begriff des Sozialismus oder der sozialen Demokratie. Die Machtergreifung der Bolschewiken vermochte es nicht, die schon vorher existierenden Sozialismen unter dem Banner des einzig siegreichen zu vereinheitlichen und somit der Idee des Sozialismus einen ausschließlichen und eindeutigen Inhalt zu geben. Im Gegenteil, sie bewirkte die endgültige Spaltung der sozialistischen Bewegung in einen revolutionären und einen reformistischen Flügel, wobei die besondere Entfaltung des Kommunismus in mancher 96
Region der Dritten Welt es mit sich brachte, daß mit dem Etikett »Sozialismus« Regime versehen wurden, die, abgesehen von der ideologischen Schminke, nichts anderes als nationalistische Diktaturen waren. Der reformistische Sozialismus westlicher Prägung knüpfte seinerseits an die erwähnte ethische Umdeutung liberal-individualistischer Gemeinplätze an, während die Versuche abtrünniger Marxisten (oder auch Marxisten-Leninisten), sich vom »Stalinismus« als Theorie und Praxis zu lösen und den »unverfälschten« Sozialismus ins Leben zu rufen, ein Spiel um immer neue Variationen bereicherten, das längst unübersichtlich - und langweilig - geworden war. Somit sind wir bereits bei den Folgen des Kalten Krieges für die wechselvollen Schicksale des modernen politischen Vokabulars. Denn der Kalte Krieg, also der politisch-militärische Antagonismus des westlichen und des kommunistischen Lagers nach dem Zweiten Weltkrieg, hat nicht bloß die Vieldeutigkeit und praktische Unverbindlichkeit des Sozialismusbegriffes teils mitverursacht, teils gefördert. Ahnliche Wirkungen übte er auf den Bedeutungsgehalt von Liberalismus und Konservativismus aus. In seiner neuen Funktion als Gegenbegriff zum »Totalitarismus« bedeutete der Liberalismus zwar auch den Wirtschaftsliberalismus und somit das private Eigentum der Produktionsmittel, der Schwerpunkt wurde aber nicht auf diese prosaische Tatsache gelegt, die übrigens vom Gegner als bloße »Kapitalistenherrschaft« abgetan wurde, sondern auf die mit dem Wirtschaftsliberalismus verbundenen Chancen für die Entfaltung der Gesellschaft und des Einzelnen. Liberalismus bestand demnach im Prinzip der unbegrenzten Erneuerung und Offenheit, der Toleranz und der Menschenwürde kurzum der großgeschriebenen Freiheit. Diese selbe Freiheit war gemeint, wenn man den Demokratiebegriff synonym mit dem des Liberalismus verwendete und den »kommunistischen Tyranneien« die »westlichen Demokratien« gegenüberstellte. »Liberalismus« und »Demokratie« wurden also hier eher werthaft-normativ aufgefaßt als auf konkrete 97
soziale Inhalte und Herrschaftsformen festgelegt. Die Kommunisten sprachen wiederum von »Konservativismus« oder »Reaktion«, um das System des »staatsmonopolistischen Kapitalismus« zu bezeichnen, das nach ihrer Auffassung zu keinem wesentlichen Fortschritt fähig, vielmehr zu permanenten Krisen verurteilt war und die Entfaltung von Gesellschaft und Einzelnen dem rücksichtslosen Profitstreben der herrschenden Clique opferte. Interessanterweise bekannten sich zum »Konservativismus« oft viele derjenigen, die sich sonst als Antikommunisten »Liberale« oder »Demokraten« nannten, wenn sie damit ausdrücken wollten, ewige Wahrheiten und Werte verteidigen zu wollen, die der Kommunismus bedrohte. Konkreter wurde das antikommunistische Bekenntnis zum »Konservativismus«, wenn es um die Abwehr gegen jene ging, die im Inneren der westlichen Staaten die erwähnte demokratische Umdeutung des Liberalismus betrieben und daher zu recht oder zu unrecht des Mitläufertums mit den Kommunisten bezichtigt wurden. Spätestens nach dem Ausgang des Kalten Krieges muß nun jeder wissen, daß die kommunistische und linke Diagnose vom »konservativen« oder gar »reaktionären« Charakter des westlichen Systems, wie sich dieses nach dem Zweiten Weltkrieg in den großen Industrienationen herausbildete, nicht einfach unhaltbar, sondern geradezu sinnlos war. Man kann und darf dieses System aus sehr verschiedenen ästhetischen oder ethischen Gründen ablehnen - nicht aber deswegen, weil es »konservativ« sei, weil es also den technischen Fortschritt und die damit zusammengehörende Umgestaltung der Gesellschaft hemme. Unabhängig davon, wie man technischen Fortschritt, Konsummöglichkeiten und Freiheiten als Werte beurteilt, kann man die Überlegenheit des Westens auf diesen Gebieten nicht bestreiten. Der Vorwurf des »Konservativismus« wurde sinnwidrigerweise gegen ein System gerichtet, das die Entwicklung der Produktivkräfte in einem weltgeschichtlich bisher unbekannten Ausmaß revolutionierte und dem Einzelnen materielle und ideelle Möglichkeiten zur Verfügung stellte, die sich 98
ebenfalls als erstaunliches weltgeschichtliches Novum ausnehmen. Wenn mancher Träger oder Befürworter dieses Systems sich weiterhin »konservativ« nennen will, so liegt der Grund dafür teils in den angesprochenen polemischen Bedürfnissen, teils aber auch in seinem ethisch-ideologischen Selbstverständnis, das sich nicht mit der Einsicht versöhnen will, dieses System lebe inzwischen längst von der ständigen Zersetzung alter Werte, ja sogar biologischer Grundgegebenheiten - es lebt also von dem, was man in wahrhaft konservativen Zeiten die »Hybris« nannte. Aber gleichgültig, wie sich solche »Konservativen« in Zukunft nennen werden: der Sieg des Westens im Kalten Krieg wird den »Progressiven« aller Couleur die Sprache verschlagen oder wenigstens das Vokabular durcheinanderbringen, da es nun kaum einleuchtend erscheint, das vitalere oder jedenfalls siegreiche System mit einem trägen Konservativismus in Verbindung zu setzen. Da die Tätigkeit von »progressiven« Intellektuellen vor allem im unaufhörlichen Reden besteht, so sind für sie plötzliche Umwälzungen im vertrauten Vokabular besonders schwer zu verkraften. In Deutschland wird jedenfalls in den letzten Jahren und Monaten »Konservativismus« im pejorativen Sinne immer weniger und immer halbherziger benutzt. Wir sind somit an einem Punkt angelangt, wo eine sehr wichtige terminologische und sachliche Frage gestreift werden muß. Wenn es nämlich falsch ist, den Ausgang des Kalten Krieges als Sieg des konservativen Westens über den revolutionären Osten aufzufassen, so ist es ebenfalls eine optische Täuschung, den Zusammenbruch des Kommunismus als Durchsetzung des Liberalismus zu feiern. So kann man nur reden, wenn man unter »Liberalismus« den Gegenbegriff zum »Totalitarismus« versteht, wie dies zur Zeit des Kalten Krieges üblich war. Wir deuteten bereits an, daß in dieser Gegenüberstellung der spezifisch bürgerliche Sinn des Liberalismus zu kurz kam. Das war keineswegs zufällig. Im Zuge der erörterten demokratischen Umdeutung des Liberalismusbegriffes und zweifellos im Zusammenhang mit dem 99
allmählichen sozialen Abstieg des Bürgertums, das selbst im Wandel begriffen war, hatte sich der bürgerliche Gehalt des klassischen Liberalismus noch vor dem Zweiten Weltkrieg erheblich verdünnt. Die bürgerliche Massengesellschaft befand sich bereits zu der Zeit auf dem Wege zur modernen Massendemokratie, als die Mechanisierung des Alltags einsetzte und der Arbeiter als Konsument entdeckt wurde. Diese entscheidende Wendung kam aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg und nicht zuletzt unter dem Einfluß des Kalten Krieges zum massiven Durchbruch. Denn ungeachtet der langfristig wirkenden sozialgeschichtlichen Tendenzen wurde die Umwandlung der bürgerlich-liberalen Massengesellschaft in die moderne Massendemokratie (auch) durch das Bestreben gefördert und beschleunigt, durch schnelle Hebung des Lebensstandards der Massen der Gefahr einer kommunistischen Machtergreifung vorzubeugen. Dieser Vorgang ging mit einer umfangreichen Demokratisierung auf allen Gebieten und mit der Herausbildung von neuen Eliten in Wirtschaft und Politik einher, die das alte Bürgertum weitgehend verdrängten oder ablösten; ihre eigene personelle Zusammensetzung ändert sich übrigens infolge der allgemein gesteigerten sozialen Mobilität viel schneller als die früherer herrschender Gruppen. Manager, Technokraten und Yuppies sind als soziologische Typen und Funktionsträger etwas wesentlich anderes als der Bürger; Bürgerlichkeit als Lebensstil erfüllt heute, wenn man das Gesamtbild im Auge behält, dieselben pittoresk-mondänen Aufgaben, die einst manch Überlebender der Adelsgeschlechter erledigte. Extreme Atomisierung, soziale Mobilität und Wertpluralismus bzw. Permissivität ergeben in Verbindung mit der parallel vor sich gehenden Nivellierung von Hierarchien und Autoritäten, also in Verbindung mit der Demokratisierung, ein allgemeines Bild, das nur bei Verkennung zentraler soziologischer und geistesgeschichtlicher Faktoren als das Bild einer bürgerlich-liberalen Gesellschaft bezeichnet werden darf. Die moderne Massendemokratie ist zwar aus dem Schöße der bürgerlichen Gesellschaft erwachsen, 100
sie bildet aber eine strukturell neue Gesellschaftsformation. Eben deswegen hat das politische Vokabular, das sich im bürgerlichen Zeitalter herausbildete, in ihr seinen realen Gehalt und Sinn verloren, obwohl die konkurrierenden Eliten sich dessen mangels eines anderen noch immer bedienen müssen, um ihre praktischen Anliegen zu ideologisieren, sich symbolisch voneinander zu unterscheiden und sich somit interessanter zu machen. Der Westen hat also den Osten erst dann besiegt, als die bürgerliche Klassengesellschaft der Massendemokratie wich, wodurch die kommunistische Kapitalismuskritik obsolet und unattraktiv wurde. Um es als Paradoxie zu sagen: der Abschied von der Utopie im Osten ist durch die Verwirklichung der Utopie im Westen ermöglicht worden. Tatsächlich wurde in der westlichen Massendemokratie zum ersten Mal in der Weltgeschichte die Güterknappheit überwunden und eine Gliederung der Gesellschaft nach funktionalen und Leistungskriterien erreicht, es wurde also die auf extremer Atomisierung beruhende Gleichheit grundsätzlich realisiert, während gleichzeitig die Selbstverwirklichung des Einzelnen gleichsam zum obersten Staatszweck erklärt wurde. Lücken und Schattenseiten dieses Bildes sind zur Genüge bekannt, sie ändern aber nichts an der Tatsache, daß diese - verzerrte, groteske, burleske oder wie auch immer man will - Verwirklichung der Utopie schließlich der kommunistischen Liberalismus- und Kapitalismuskritik den Wind aus den Segeln nahm. Die moderne Massendemokratie hat somit die Begriffe »Konservativismus«, »Liberalismus« und »Sozialismus« mit einem Schlag gegenstandslos gemacht. Durch die extreme Atomisierung der Gesellschaft und die unbegrenzte Mobilität, die sie aufgrund ihrer Funktionsweise absolut benötigt, hat sie die großen kollektiven Subjekte aufgelöst, mit denen sich jene Begriffe verbanden, solange sie einen konkreten geschichtlichen Gehalt und Bezug besaßen. Deren Schicksalsgemeinschaft wurde übrigens durch ihre gemeinsame Herkunft und Laufbahn gestiftet. Sie entstanden während der weltgeschichtlichen Wende von der 101
societas civilis zur Massengesellschaft oder von der agrarischen zur industriell geprägten Zivilisation, und sie gaben aus unterschiedlichen sozialpolitischen und weltanschaulichen Standpunkten Antworten auf die großen Fragen, die sich dabei stellen mußten. Der Vorgang, den wir hier meinen, begann ja bei der frommen Unterwerfung des Menschen unter Gott und endete mit seiner stolzen Herrschaft über die Natur, er setzte bei der grundsätzlichen Einordnung des Individuums in einen Stand an und lief auf die Atomisierung der Gesellschaft hinaus, er ging von fest hierarchisierten himmlischen und irdischen Substanzen aus und mündete in beliebig kombinierbare Funktionen ein. Diese Stichworte enthalten schon die zentralen Fragestellungen der Neuzeit, wie sie sich in der besonderen Problematik der Philosophie und der Sozialtheorie spezifiziert haben. Insofern gehören Konservativismus, Liberalismus und Sozialismus auf eine spezifische Art und Weise zur Neuzeit, und daher muß die Feststellung über die wachsende Inhaltslosigkeit und Irrealität dieser Begriffe während unseres Jahrhunderts die Frage aufwerfen, ob die Neuzeit als geschichtliche Epoche ihren Abschluß erreicht hat. In dieser Perspektive kann auch die Auflösung des Marxismus nicht einfach als Sieg der liberalen Ideen interpretiert werden. Denn geistesgeschichtlich gesehen hat der Marxismus seine wesentlichen Prämissen vom Liberalismus übernommen: genauso wie dieser hat er sich um die Synthese von Ökonomismus und Humanismus bemüht, während er gleichzeitig die Welt von der Geschichte als Fortschritt her hat verstehen wollen. Aus dieser Sicht bedeutet die Niederlage des Marxismus die Beseitigung der letzten systematisch organisierten Überbleibsel des humanistischen Liberalismus und den endgültigen Sieg eines Denkens, das man vorläufig postmodern nennen darf, wenn man dabei seine konkreten massendemokratischen Wurzeln und Funktionen im Auge behält. Die Einsicht in die Obsoletheit des politischen Vokabulars nach dem Sieg der westlichen Massendemokratie über den Kommunismus ist nicht bloß im Hinblick auf aka102
demische Zwecke unentbehrlich. Denn die planetarische Politik wird sich in Zukunft vor dem Hintergrund der Tatsache gestalten, daß die daran Teilnehmenden massendemokratische Werte und Ziele beherzigen werden, von der bloß quantitativ verstandenen ständigen Hebung des Lebensstandards bis zur qualitativen Egalisierung der Chancen und des Genusses sowohl innerhalb der einzelnen Nationen als auch in den Beziehungen der Nationen zueinander. Das heißt zunächst, daß ökonomische Fragen und Streitfragen ein größeres politisches Gewicht erlangen werden, daß also das Politische zunehmend vom Wirtschaftlichen her verstanden und gehandhabt, während die traditionell vorrangige Frage nach dem besten Staat und der besten Verfassung in den Hintergrund rücken wird. Bemerkenswerterweise herrscht nach dem Ende des Kalten Krieges eine fast weltweite Ubereinstimmung über diese Frage, es besteht nämlich eine Bereitschaft, die politischen Institutionen des Westens in dieser oder jener Variation nachzuahmen. Das hängt mit der Ökonomisierung des Politischen insofern zusammen, als angenommen wird, daß solche Institutionen den wirtschaftlichen Fortschritt fördern. Zugleich sind wichtige Probleme, wie etwa das ökologische oder das Ubervölkerungsproblem, im Horizont des enger gewordenen Planeten aufgetaucht, die sich an Hand der Kategorien und Denkgewohnheiten des Konservativismus, des Liberalismus und des Sozialismus kaum erfassen und bewältigen lassen. Man weiß ja inzwischen: Bewahren ist längst zur Organisationsfrage geworden, Freiheit in Massengesellschaften kann leicht zur Auflösung oder zur Explosion führen, während rigorose Planung Übel gebiert, die sie nicht von sich aus heilen kann. Es wäre dennoch Wunschdenken, zu meinen, die notgedrungene Loslösung von den traditionellen politischen Inhalten und Begriffen sowie die Ökonomisierung des Politischen würden die Konflike zwischen den interessierten Gruppen abschaffen oder auch nur mildern. Sie werden ohne Zweifel die Politik zum großen Teil entideologisieren, d. h., sie werden den Einfluß jener Ideologien verringern oder zurück103
drängen, die seit der Französischen Revolution politisches Handeln legitimieren sollten. Es ist dennoch kurzsichtig, die in den letzten zwei Jahrhunderten geführten politischen Kämpfe bloß ideologischem Fanatismus zuzuschreiben und sich ex contrario aus dem »Ende der Ideologien« das Ende der Kämpfe zu versprechen. Entideologisierte Kämpfe werden womöglich noch heftiger als die ideologisch geführten sein, sollten sich bestimmte Güter ausgerechnet in einer Zeit als knapp erweisen, in der die Uberwindung der Güterknappheit als oberstes Ziel der Menschheit erachtet wird. Die Entideologisierung und die Ökonomisierung des Politischen bedeuten letzten Endes, daß nunmehr um handfeste materielle Güter ohne nennenswerte ideologische Vermittlungen gekämpft wird. Um genau zu sein, müßte man dann die Entideologisierung als teilweise Rückkehr zum Tierreich bezeichnen. Ob es schön und wünschenswert ist, daß der Abschied von der Utopie so weit geht, bleibt freilich eine Frage des Geschmacks.
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V. Planetarische Politik und universale Ethik
1. Die philosophische Wendung zum ethischen Universalismus Während der vergangenen zwei Jahrzehnte vollzog ethisches Denken eine Wendung, die mit weltgeschichtlichen Entwicklungen zusammenhängt und Anlaß zu entsprechenden Überlegungen bietet. In idealtypischer Zuspitzung läßt sich sagen, daß es sich dabei um die Wende vom Naturalismus, Historismus und Relativismus zum ethischen Universalismus oder zur universalistischen Ethik handelt. In einer geistesgeschichtlichen Retrospektive der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kann freilich diese Wende nicht als unvermittelte Zäsur erscheinen. Naturrechtliches Denken erlebte bekanntlich infolge der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus eine regelrechte Wiederauferstehung, da bei vielen der Eindruck von einer, wenn nicht gewollten, so jedenfalls objektiven Komplizenschaft zwischen rechtspositivistischem Relativismus und totalitärem Amoralismus entstand. Unter demselben Eindruck und mit ähnlicher Motivation wurden modernisierte Reformulierungen kantischen und idealistischen ethischen Gedankengutes unternommen. Andererseits herrscht ethischer Universalismus noch im105
mer nicht unangefochten. Die skeptische Metaethik, in die die moralphilosophischen Bemühungen der analytischen Schule münden mußten, und der sogenannte kulturelle Relativismus, der sich vor allem auf ethnologische Befunde beruft, behaupten sich weiterhin gut in der angelsächsischen Welt, während sich in den romanischen Ländern das fröhlich-indifferente und tolerante Evangelium des Postmodernismus verbreitet hat. Deutschlands intellektuelle Schickeria kokettiert zwar gerne mit postmodernistischen Harmlosigkeiten, doch es sind auch allgemein die Gründe bekannt, die ein mehr oder weniger eindeutiges Bekenntnis zur Ethik und Vernunft in diesem Land zur Pflichtübung gemacht haben. Obwohl unser zeitgenössischer ethischer Universalismus seine Vorläufer in der noch jungen Vergangenheit und seine Konkurrenten in der Gegenwart hat, darf er doch als Novum und zugleich als Träger einer Wende angesehen werden. In der Tat macht er in seinen verschiedenen Formen bereits die einflußreichste Strömung ethischen Denkens aus, wobei sein Einfluß um so stärker erscheint, je mehr man sich vom engeren Spektrum der geistigen Produktion abund dem breiteren sozialen Spektrum zuwendet. Seine Kraft zeigt sich nicht zuletzt daran, daß er der Politik weitgehend ihre Rhetorik diktiert und darüber hinaus die sozial notwendigen geistigen Selbstverständlichkeiten und Konformismen prägt und trägt. Nicht weniger bezeichnend ist sein inzwischen vielfach erprobtes Vermögen, seine Konkurrenten in seine Logik hineinzuzwingen. So pflegt sich ethischer Relativismus, sowohl analytischer als auch postmodernistischer Prägung, unter Hinweis darauf zu legitimieren, nur die Einsicht aller Seiten in die Relativität und Perspektivität der Standpunkte und der Werte könne letztlich die ideelle Grundlage für Toleranz und friedliches Zusammenleben abgeben; ein universales ethisches Ideal dient somit auf logisch fragwürdige Weise dazu, eine Skepsis sozial zu rechtfertigen, für die vom Ansatz her jede Rechtfertigung zerbrechlich sein muß. Logische Sprünge lassen indes auf praktische 106
Sachzwänge schließen - in diesem Fall auf die Notwendigkeit, sich einem Denkstil und einer Argumentationsstrategie anzupassen, die sich mit der Aura des Unbestreitbaren und unmittelbar Einleuchtenden umgeben haben. Die Massendemokratie, die sich inzwischen bestimmte Lebensformen und Ideen der Kulturrevolution der 60er und 70er Jahre in verwässerter Form angeeignet hat, läßt zwar Wertpluralismus und Permissivität zu, ja teilweise lebt sie sogar davon, andererseits darf und kann sie aber auf die Narrenfreiheit im ethischen Denken keine Narrenfreiheit im sozialen Handeln folgen lassen. Es ist daher nicht damit zu rechnen, daß sich der verbale Nietzscheanismus der postmodernen Ideologie innerhalb der postmodernen Wirklichkeit in die tonangebende Form von sozialer Praxis umsetzen wird. Nicht nur hat universalistische Ethik das breitere soziale Bewußtsein durchdrungen, in dem sie sich freilich mit verschiedenen Versionen des »leben und leben lassen« vermischt, sondern es mehren und festigen sich auch nationale und internationale Institutionen, die ihre Arbeit wenigstens nominell auf ethische Prinzipien mit universeller Geltung gründen. Das charakteristische inhaltliche Novum dieser Wende macht sich in der Nonchalance bemerkbar, mit der sich universalethisches Denken über empirische, sowohl anthropologische als auch geschichtliche Faktoren hinwegsetzt. Wenn man mitten in der manchmal atemberaubenden Aufeinanderfolge der intellektuellen Moden noch nicht vergessen hat, daß noch vor kurzem jeder aufgeklärte Intellektuelle, der etwas auf sich hielt, als erstes die soziale Bedingtheit aller Verhaltensformen und -normen geltend machte und den Ideologieverdacht auf alles nur Mögliche bezog, dann muß man über die Feststellung staunen, mittlerweile würden ethisch inspirierte Gerechtigkeitstheorien auf erklärtermaßen unhistorischer vertragstheoretischer Basis aufgestellt und diskutiert - ohne daß irgendjemand deswegen protestierte oder lachte. In den letzten Jahren wird sogar der sogenannte »moralische Realismus« in zunehmendem Maße ge107
fragt und angeboten, der die moralischen Eigenschaften an den Dingen selbst auf dieselbe Art und Weise ausmachen will, wie man an ihnen die Farbe oder das Volumen feststellen kann. Von allen Varianten des ethischen Universalismus bemüht sich die kommunikationstheoretische am ehesten um soziologische Erklärungen und Begründungen, diese zollen aber einem bereits vergangenen Zeitgeist bzw. marxistischen Reminiszenzen Tribut und berühren weder ihren gerne zugegebenen Glauben an universale ethische Grundsätze, noch die innere Struktur der Theorie. Letztere befindet sich eigentlich dem moralischen Realismus und metaphysischem Denken überhaupt viel näher als sie selbst wahrhaben will. Denn sie projiziert in eine axiomatisch angenommene Urbeschaffenheit der »wahren« Kommunikation das hinein, was sie sich von der »wahren« Kommunikation ethisch verspricht, sie macht also nach uraltem bewährtem Muster aus dem Sollen ein Sein, um dann dieses selbe Sollen aus dem so konstruierten Sein abzuleiten. Unbeschadet ihrer ethischen Vorzüge wird Kommunikationstheorie als wissenschaftliche Theorie solange nichts taugen, wie sie das nicht leistet, was man sinnvollerweise von jeder wissenschaftlichen Theorie erwarten darf: daß sie nämlich zuerst jene Phänomene erklärt, die ihr widersprechen. Wie sind angesichts der behaupteten Wesensstruktur menschlicher Kommunikation so oft Feindschaft und gegenseitige Vernichtung in der bisherigen Geschichte möglich gewesen? Eine normativ angelegte Kommunikationstheorie, die sich im Ernst diese Frage stellen würde, würde wegen ihres im Grunde theologischen Charakters auf dieselbe Schwierigkeit stoßen wie jede normativistische Metaphysik auch - nämlich auf die Schwierigkeit, Ursprung und anhaltende Wirkung des Bösen zu enträtseln. In allen ihren Variationen zeichnet sich universalistische Ethik also durch ein Verwischen der Unterscheidung zwischen Sein und Sollen (die Polemik gegen sie ist in den letzten Jahren nicht von ungefähr immer heftiger geworden) sowie durch die Loslösung von der empirischen Anthropolo108
gie und der Geschichte aus. Gegenüber der klassischen ethischen Tradition - von den Vorsokratikern bis zur Aufklärung über Piaton, Aristoteles und das Christentum - ist dabei ein Verlust an Wirklichkeitsgehalt und Realitätssinn insofern zu verzeichnen, als jene Tradition vom Faktum und von der Notwendigkeit des unablässigen Kampfes der Vernunft gegen den ausufernden Drang unausrottbarer Triebe und Leidenschaften ausging und diesen Kampf direkt oder indirekt in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellte. Hingegen scheint sich heutige universalistische Ethik keine ernsthaften, auch theoretisch artikulierten Sorgen über die Fähigkeit des Menschen zu machen, der dunkleren Schichten seiner Existenz dauerhaft Herr zu werden. Ihre Mühen gelten vielmehr epistemologisch tragfähigen Definitionen der Vernunft, der Obligation etc., aus denen dann - ziemlich tautologisch allerdings - die ethischen Desiderata und die wohltuenden sozialen Folgen ihrer Verwirklichung deduziert werden. Mit der programmatischen oder faktischen Ausräumung der anthropologischen und geschichtlichen Faktoren muß auch jede verbindliche Tugend- und Pflichtlehre entfallen, und die Konstruktionen türmen sich im luftleeren Raum logischer Geschlossenheit; nicht zufällig hat sich inzwischen der Gebrauch mathematischer Formeln in ethischen Traktaten eingebürgert. Der Mensch wird dabei auf einen einzigen Punkt reduziert, nämlich auf seine Vernünftigkeit und seine Fähigkeit zum rationalen Diskurs oder Kalkül, so daß er ohne Widerstreben und gleichsam durch prästabilierte Harmonie bei allen theoretischen Spielen der Ethiker prompt mitmachen und sich wenigstens auf dem Papier entsprechend ihren Erwartungen verhalten kann. Auf ihre Vernünftigkeit reduziert, ähneln die Menschen einander nun wie Stecknadeln, bei denen bekanntlich auch die Köpfe nicht voneinander unterscheidbar sind. Denn, sind die Köpfe oder die einzelnen Vernünftigkeiten nicht miteinander identisch, so lassen sich universale ethische Ziele kaum ins Auge fassen, geschweige denn verwirklichen, die Vernunft kann dann keine Grundlage und kein 109
Vehikel universaler Verständigung sein. Die Welt wird also faktisch in eine Gemeinschaft homogener Geister aufgelöst, die man wiederum - brächte man den metaphysischen Mut dazu auf - aus einer einzigen geistigen Weltsubstanz hätte herleiten können. Dieser ausgesprochen unhistorische Zug universalistischer Ethik, der sich wahrhaft wie ein Novum nach langer Vorherrschaft des Historismus und des soziologisch-ethnologischen Relativismus ausnimmt, bezeugt per excellence die Verwurzelung der gegenwärtigen Versionen dieser Ethik in der massendemokratischen Gedankenwelt. Denn es läßt sich nachweisen, daß die anthropologische und historische Betrachtung das Wesensmerkmal der bürgerlichen Weltwahrnehmung bildete, die im postbürgerlichen oder »postmodernen« oder massendemokratischen Zeitalter zugrundegehen mußte. Aufschlußreich ist übrigens die strukturelle Verwandtschaft, die zwischen dem universalethischen Denkstil und seinen heutigen Gegnern in puncto Unhistorizität besteht. Der kulturelle Relativismus stützt sich weitgehend auf ethnologische Modelle, die funktionalistisch konzipiert sind und ethische Werte als wirkende Komponenten eines in sich geschlossenen Systems einander ergänzender sozialer Faktoren auffassen. Diese funktionalistische Ethnologie fand ihr soziologisches Pendant in ethisch neutralen Systemtheorien, die in ihrer starren Unhistorizität für unseren Zusammenhang deswegen von Interesse sind, weil sie soziales Handeln letztlich ähnlich erklären müssen wie das universalethische Denken es erklärt, d. h. indem sie eine gleichartig funktionierende und kalkulierende Vernünftigkeit der Einzelnen postulieren. Der ethische Universalismus erscheint aber auch in einer anderen wichtigen Hinsicht als echtes geistiges Produkt des massendemokratischen Zeitalters. Die Reduktion des Menschen auf sein bloßes vernunftbegabtes Menschsein übersetzt in die idealisierende Sprache der Philosophie das Faktum der extremen Atomisierung, das für die demokratische Massengesellschaft konstitutiv ist. Eben diese Reduktion 110
und diese Atomisierung ermöglichen den Übergang zum Universalismus, da das Ausrufen der Vernunft zur allein entscheidenden Anlage des Menschen alle substanziellen Bindungen (ζ. B. die an die Familie oder an die Nation) und somit alle Barrieren und Grenzen zwischen allen Einzelnen auf diesem Planeten beseitigt. Vernunft kann sich erst dann mit ethischer Absolutheit setzen und alle einzelnen Menschen miteinander vereinigen, nachdem der Vorgang der Atomisierung weit fortgeschritten ist. Die innere Zusammengehörigkeit und der parallele Fortschritt von Atomisierung und Universalismus kennzeichnet die seit der Zeit der Entkolonialisierung allmählich entstehende Weltgesellschaft. Dieser neuen planetarischen Wirklichkeit hat der gegenwärtige ethische Universalismus seinen Schwung und seinen beachtlichen Erfolg zu verdanken. Aus der Sicht des optimistischen Ethikers könnte es den Anschein haben, als ob der wachsende Einfluß universalethischen Denkens auf wachsende Einsicht und auf den kollektiven Wunsch zurückzuführen sei, nach bitteren geschichtlichen Erfahrungen und angesichts großer Zukunftsaufgaben einen neuen, ethisch inspirierten und fundierten Anfang zu machen; die epistemologische Ausschaltung der Geschichte im Namen der Vernunft wäre dann das Korrelat zum faktischen Ausräumen der Hindernisse, die die Geschichte bis jetzt der universalen Verständigung in den Weg gelegt hätte. Die Wirklichkeit sieht prosaischer aus. Die Universalisierung der Ethik bildet in demselben Sinne und Ausmaße eine Begleiterscheinung der fortschreitenden Vereinheitlichung des Weltmarktes und der planetarischen Politik wie etwa die allmähliche Standardisierung von wirtschaftlichen und juristischen Regeln oder Gepflogenheiten. Die Vereinheitlichung des ethischen Diskurses erleichtert die gegenseitige alltägliche Verständigung und fördert die internationale physische und geistige Mobilität genauso wie eine vereinheitlichte Semiotik es auch tut. Insofern stellen die universalethischen Gemeinplätze einen Teil der sich gerade herausbildenden internationalen lingua franca dar, und wer sie ver111
breitet, hat gute Chancen auf raschen internationalen Erfolg. Hinzuzufügen ist allerdings, daß die Denkarbeit, die von Philosophen und anderen Theoretikern dabei geleistet wird, in ihrer begrifflichen Eigenart und technischen Qualität nur innerhalb des engeren und breiteren Zunftkreises wahrgenommen und beurteilt wird; nach außen wirkt sie nur, indem sie vulgarisiert, selektiv behandelt und mit analogen Ansätzen (z.T. sogar mystischer Inspiration) verschmolzen wird. Besonderes und breites Interesse finden unter diesen Umständen jene Aspekte universalethischen Denkens, die sich mit aktuellen Streifragen verbinden oder als Anwendungen allgemeiner ethischer Prinzipien auf konkrete und zugleich planetarisch relevante Tätigkeiten auf den Plan treten. Das Anschwellen der Literatur über die Menschenrechte sowie über medizinische und ökologische Ethik bestätigt dies. Es wäre freilich naiv, den wachsenden Einfluß universalistischer Ethik auf wachsende Ethisierung der Weltgesellschaft zurückzuführen. Und wie die tatsächlichen Gründe für ihre Verbreitung nicht jene sind, die ihre Urheber oder Befürworter annehmen möchten, so werden auch höchstwahrscheinlich ihre realen mit ihren erhofften Wirkungen nicht zusammenfallen. Dieser hochpolitischen Frage wollen wir uns nun kurz zuwenden.
2. Die politischen Schattenseiten der Menschenrechte Die Rede von den Menschenrechten ist während der letzten Jahrzehnte in den Mittelpunkt des politischen Vokabulars gerückt. Ein optimistischer Beobachter könnte daraus die Schlußfolgerung ziehen, Politik stelle sich nun nach den bitteren Erfahrungen des Jahrhunderts die Aufgabe, die Welt nach ethischen Prinzipien zu gestalten. Indes war es in der geschichtlichen Vergangenheit oft so, daß beim Zusammenwirken des Ethischen und des Politischen sich das Ethi112
sehe der Logik des Politischen unterwarf - und außerdem, daß die Gründe für das Aufgebot des Ethischen selbst primär politisch waren. Nicht wesentlich anders hat es sich auch in der jüngsten Vergangenheit verhalten, und dies berechtigt uns, gewisse politische Aspekte und Implikationen der Menschenrechtsproblematik zu unterstreichen. Der menschenrechtliche Universalismus wurde zur Zeit des Kalten Krieges von seiten des Westens als politische Waffe gegen den Kommunismus eingesetzt - nicht ohne langfristigen Erfolg. Seine politische Rolle ist indes mit dem Zusammenbruch des Ostblocks keineswegs ausgeschöpft, eher das Gegenteil ist zu erwarten. Denn er hat inzwischen seine eigene Logik und Dynamik entfaltet, während gleichzeitig mehrere Seiten ein vitales Interesse daran haben, sich auf ihn zu berufen. Nicht nur die Sieger des Zweiten Weltkrieges gegen den Faschismus und nicht nur der Westen gegen den Kommunismus: auch die zahlreichen Völker, die im Zuge der Entkolonialisierung ihre Unabhängigkeit erlangten, haben sich der Sprache der Menschenrechte bemächtigt, um ihren Anspruch auf Gleichberechtigung im Rahmen der gerade entstehenden Weltgesellschaft mit letzten Argumenten zu begründen. Die Menschenrechte wurden somit die lingua franca, der große ideologische gemeinsame Nenner dieser Weltgesellschaft - und eben das universale Bekenntnis zu ihrem Nominalwert macht ihre konkrete Interpretation und Anwendung so kompliziert. Denn, hängt die Universalisierung der Ethik und der Rechte mit der Entstehung einer Weltgesellschaft zusammen, so wird sie mit den Widersprüchen und den Spannungen behaftet sein, die die gegenwärtige Weltgesellschaft auf dramatische Weise belasten. Die weltweite Anerkennung der menschenrechtlichen Grundsätze wird dann nicht die Grundlage für die weltweite ethische Verständigung, sondern vielmehr das gemeinsame Schlachtfeld abgeben, auf dem jede der konkurrierenden Seiten um die Durchsetzung der eigenen Interpretation der genannten Grundsätze und gegen alle anderen Interpretationen kämpfen wird. Es muß nachdrücklich vor der Täu113
schung gewarnt werden, der Nominalwert von Ideen könne ihre polemische Instrumentalisierung verhindern. Wäre dem so, hätten nie Kriege zwischen Nationen stattgefunden, die sich allesamt und aufrichtig zur Religion der Liebe bekannten. Die Möglichkeit einer Verwandlung der Menschenrechte in ein neues Spannungsfeld steckt in einer elementaren Tatsache, die aufgrund der bestehenden Bereitschaft aller Seiten, die eigene Sache mit der Sache der Menschheit zu identifizieren, kaum wahrgenommen wird. Es handelt sich um die Tatsache, daß bei der gegenwärtigen Verfassung der Weltgesellschaft von Menschenrechten stricto sensu keine Rede sein kann. Damit meinen wir nicht etwa die »Menschenrechtsverletzungen« in sehr vielen Ländern, sondern etwas Grundsätzliches. Menschenrechte, d. h. Rechte, die die Menschen in ihrer bloßen Eigenschaft als Menschen besitzen, können nur dann realen Sinn und Bestand haben, wenn alle Menschen, kraft ihres nackten Menschseins und unabhängig von ihrer Herkunft oder anderen Voraussetzungen, sie überall auf der Erde, und zwar am Ort ihrer freien Wahl, ohne Einschränkung genießen dürfen. Solange dies nicht geschieht, d. h. solange der Chinese nicht über dieselben Rechte in den Vereinigten Staaten wie der Amerikaner und der Albaner nicht über dieselben Rechte in Italien wie der Italiener verfügt, darf man, wenn man Begriffe nicht strapazieren will, nur von Bürgerrechten, nicht aber von Menschenrechten sprechen. Das, was heute euphemistisch Menschenrechte heißt, gewährt stets eine staatlich organisierte politische Einheit ihren eigenen Staatsangehörigen, und seine Geltung kann nur innerhalb des jeweiligen Staatsgebietes garantiert werden. Kein Staat kann also garantieren, daß Rechte, die als Menschenrechte par excellence gelten, wie etwa das Recht auf körperliche Unversehrheit oder Redefreiheit, außerhalb seiner Grenzen genossen werden können. Und umgekehrt: kein Staat kann, ohne sich aufzulösen, allen Menschen ohne Ausnahme gewisse Rechte zuerkennen, die gemeinhin als Bürgerrechte gelten, wie etwa das Wahl- und 114
Niederlassungsrecht. Mit anderen Worten: nicht alle Menschen können als Menschen alle Rechte besitzen (egal, ob diese in der geläufigen Terminologie Menschen- oder Bürgerrechte heißen) unabhängig davon, wo sie sich befinden. Rechte, die vom Staat gegeben bzw. garantiert werden und unter dem Vorbehalt der Staatlichkeit gelten, dürfen nur dann als Menschenrechte bezeichnet werden, wenn der betreffende Staat das Attribut des Menschen ausschließlich den eigenen Staatsangehörigen zuteil werden ließe. Aber selbst wenn er dies täte, hätte er dadurch wieder nicht erreichen können, daß seine Staatsangehörigen in anderen Ländern als absolut gleichberechtigte Bürger und als Besitzer von universalen Menschenrechten behandelt würden. Menschenrechte als Menschenrechte könnte die Menschheit als konstituiertes und einheitliches politisches Subjekt gewähren. Erst das Ende der Staatlichkeit in jeder heute bekannten Form würde das Zeitalter der realen Menschenrechte einleiten. Der menschenrechtliche Universalismus ist zwar von den reichen Ländern des Westens ausgegangen und wurde zuerst von ihnen politisch instrumentalisiert, er findet aber zunehmend Gehör und Verfechter in den weniger entwickelten und den armen Ländern des Ostens und des Südens, die verständlicherweise in ihm ein willkommenes Mittel erblicken, ihren Ansprüchen bei der Verteilung des Weltreichtums und der Weltressourcen Geltung zu verschaffen. Sie befinden sich freilich in einem Dilemma, denn sie sind nolentes oder volentes nicht imstande, im Inneren jene Prinzipien (voll und ganz) anzuwenden, von deren Realisierung auf internationaler Ebene sie sich eine merkliche Verbesserung ihrer Lage als Nationen und Staaten versprechen. Aus dieser Zwickmühle heraus hilft ihnen gelegentlich die auch im Westen verbreitete Auffassung, erst die Verbesserung ihrer materiellen Lage werde ihnen die Ethisierung ihres inneren sozialpolitischen Lebens ermöglichen. Es ist anzunehmen, daß sie aus eventuellen Fortschritten in dieser Richtung ein Recht auf größere »Hilfe« seitens der reichen Nationen ableiten werden. So oder so wird der Westen in moralischen 115
und politischen Druck geraten, dem er sich nicht leicht entziehen kann. Wer das Debakel des realen Sozialismus aus der Tatsache erklären will, dieser hätte sowohl seine eschatologischen als auch seine unmittelbaren (materiellen) Verheißungen nicht einlösen können, der muß auch im Ernst über die Möglichkeit nachdenken, daß sich die Nationen, die den Weg des Westens einschlagen wollen, ihn aber nicht werden gehen können, schließlich in ihrer Enttäuschung gegen den Westen und gleichzeitig gegen seine universalistische Ethik wenden. Denn sie werden geneigt sein, ihren Mißerfolg als Verrat des satten und egoistischen Westens gegen seine eigenen ethischen Prinzipien zu deuten. In den Erwartungen, die der Westen durch den Weltexport seines ethischen Universalismus geweckt hat, steckt ein explosives Potenzial. Der Sieg seiner Ideen hat den Westen nicht entlastet, sondern im Gegenteil mit Aufgaben und Hypotheken beladen, unter deren Druck er sich von Grund aus ändern könnte. Dieser Druck muß sich in dem Maße verstärken, wie die universalen Menschenrechte materiell ausgelegt werden, wobei sich mutatis mutandis das wiederholt, was sich zum ersten Mal im 19. Jahrhundert abspielte, als die Sozialisten die materielle Interpretation und Verwirklichung der vom Bürgertum propagierten formellen Freiheiten und Rechte forderten. Die christliche Auffassung von der Menschenwürde war ursprünglich nicht an die Vorstellung von einem materiellen »Existenzminimum« gebunden, was auch »progressive« Theologen darüber denken mögen. Nach heutigem Dafürhalten gehören aber minimale Menschenwürde und minimaler Konsum zusammen; wer hungert, ist bloß ein rechtloser Mensch, nicht etwa jemand, dem die gottgewollte materielle Entbehrung Gelegenheit gibt, sich der Sorge um materielle Güter vollends zu entledigen. Werden nun die Menschenrechte materiell ausgelegt und mit Konsumerwartungen verbunden, so müssen sie mit der bestehenden Knappheit der Güter auf Weltebene in Konflikt geraten, d. h. sie müssen sich in Waffen beim Kampfe um die Verteilung der knappen Güter verwandeln. Wer als Angehöriger
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einer reichen Nation für die genaue Einhaltung der Menschenrechte eintritt, wird seine Menschenrechte mit anderen, ihm unbekannten Menschen teilen müssen, und daraus wird mit ziemlicher Sicherheit eine Auseinandersetzung folgen, bei der Menschenrechte gegen Menschenrechte ins Feld ziehen werden. Auf jeden Fall kann als sicher gelten, daß je mehr Menschen sich auf die Menschenrechte berufen werden, desto extensiver ihre Auslegung ausfallen wird. Anders ausgedrückt heißt dies, daß immer mehr Menschen immer mehr ideelle und materielle Güter im Bewußtsein verlangen werden, diese würden ihnen von rechts wegen zustehen. Im Lichte dieser Überlegung, die sich kaum widerlegen läßt, muß man sich darauf gefaßt machen, daß sich Funktion und Sinn der Menschenrechte in Zukunft ändern werden. Zumal materiell verstandene Menschenrechte können nicht dasselbe bedeuten, gleichviel, ob zwei oder ob fünf oder aber ob zehn Milliarden Menschen gleichzeitig und konsequent Anspruch auf ihren Besitz und ihre aktive Ausübung erheben. Was das »Prinzip Verantwortung« nach der in den kommenden Jahrzehnten zu erwartenden neuen Verdoppelung der Weltbevölkerung diktieren wird, kann niemand heute mit Sicherheit sagen (vgl. Abschn. I, 5). Als Vorahnung künftiger Friktionen und als vorsorgliches Bestreben, ein Sicherheitsventil offen zu halten, darf jedenfalls die Tatsache gedeutet werden, daß die universalethischen Gebote und insbesondere die Menschenrechte noch immer unter weitgehendem Vorbehalt der Staatssouveränitätsrechte praktiziert werden. Auch Staaten, die die Menschenrechte voll anerkennen und innerhalb der eigenen Grenzen garantieren, behalten sich weiterhin das Recht vor, fremden Staatsangehörigen den Genuß dieser selben Rechte in ihrem Territorium zu verweigern; bereits die antiken Demokratien hüteten eifersüchtig die scharfe Trennungslinie zwischen den eigenen Bürgern und den Fremden. Die Propagierung der Menschenrechte verbindet sich also heute - und demnächst wird sie dies noch stärker tun - mit dem manchmal auch 117
unverblümt geäußerten Wunsch, der liebe Mitmensch solle gefälligst in seinem eigenen Herkunftsland seine Würde auskosten. Eine uneingeschränkte Anwendung der Menschenrechte, d. h. eine konsequente und rechtlich abgesicherte Reduktion der Menschen auf ihr nacktes Menschsein, ohne jede Rücksicht auf Nationalität und Staatsangehörigkeit, würde automatisch die Aufhebung der Staatlichkeit und aller Schranken der Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit nach sich ziehen - eine Schreckensvision für EG-Europäer und Nordamerikaner. Die Universalethiker, die bei Grundsatzerklärungen und praktisch unverbindlichen theoretischen Spitzfindigkeiten äußerst einfallsreich sind, haben bisher bezeichnenderweise über die konkreten Folgen einer konsequenten. Anwendung der Menschenrechte (d. h. der Rechte des Menschen in seinem bloßen Menschsein) auf planetarischer Ebene wenig Worte verloren. Indem der Westen Menschenrechte nur unter dem Vorbehalt der Staatlichkeit praktizieren kann, verwickelt er sich in einen Widerspruch, der verständlicherweise denjenigen eklatanter und unerträglicher erscheint, die an seine Tür klopfen. Dieser Widerspruch würde sich nur vertiefen, sollte der Westen in Versuchung geraten, die Menschenrechte (sprich: Rechte, die für die Bürger des Westens gelten) durch politische oder gar militärische Intervention in anderen Teilen der Welt durchzusetzen. Denn solche Interventionen müßten notgedrungen selektiv gehandhabt werden (ein Feldzug gegen China ζ. B. käme nicht in Frage) und daher würden sie schnell an Glaubwürdigkeit verlieren; es wäre sogar zu erwarten, daß fanatisierte Massen in Ländern wie ζ. B. dem Iran die Losung »Nieder mit den Menschenrechten« in eben dem Sinne lancieren würden wie die spanischen Kämpfer gegen Napoleon vor dem Hinrichtungskommando »Nieder mit der Freiheit« riefen. Darüber hinaus geht es auf die Dauer nicht an, fremde Staatlichkeit im Namen der Menschenrechte zu verletzen und die eigene Staatlichkeit gegen das abzukapseln, was andere für ihre Menschenrechte halten. Mit anderen Worten: der Westen wird sich gezwun118
gen sehen, die Durchsetzung der formellen Menschenrechte in anderen Ländern durch Zugeständnisse an die materielle Interpretation dieser selben Menschenrechte auszugleichen - und sich diesen Ausgleich einiges kosten lassen. Die erste Pflicht des Befreiers wird kurzum die sein, die Befreiten zu ernähren. Es gibt einen noch tieferen Grund, der ein Wachsen der Spannungen im menschlichen Universum - und zwar nicht trotz, sondern bei gleichzeitiger Verbreitung universalethischer Grundsätze - vermuten läßt. Das ethisch-normativ geladene Wort »Mensch« fungierte sprachlich als aufwertendes Eigenschaftswort, solange man es gegen andere Eigenschaftsworte abgrenzte, die bloß geschichtlich bedingte, aufhebbare und aufzuhebende Trennungen zwischen den Menschen zu bezeichnen schienen; in der Sprache des ethischen Universalismus hat »Mensch« immer etwas Edleres und Höheres bedeutet als Worte wie Jude oder Grieche, Christ oder Heide, Schwarzer oder Weißer, Kommunist oder Liberaler. Fallen alle partikularen Gegenbegriffe zum Universalium »Mensch« fort, so wird das Wort »Mensch« kein Eigenschaftswort mehr darstellen, also auf keine höhere Qualität mehr hindeuten, sondern es wird sich in ein Substantiv zur Bezeichnung einer bestimmten Tierart verwandeln. Die Menschen werden alle Menschen heißen, genauso wie die Löwen Löwen und die Mäuse Mäuse ohne weitere nationale oder ideologische Differenzierung genannt werden. Es mag paradox klingen und doch ist es so, daß sich der Mensch von allen anderen Tierarten eben dadurch unterschieden hat, daß er nicht bloß Mensch ledig aller anderen Attribute war. Nicht nur entstand Kultur durch die Uberwindung des bloßen Menschseins und die allmähliche Erlangung geschichtlich bedingter Attribute, sondern auch die Auseinandersetzungen und die Kämpfe zwischen den Menschen gewannen dank der Anwesenheit und Wirkung eben dieser Attribute gefühlsmäßige und ideologische Dimensionen, die weit über das bloß Tierische hinausreichten. Es ist daher nicht ausgeschlossen, daß die Reduktion 119
des Menschen auf sein bloßes Menschsein eine Epoche einleiten und begleiten wird, in der die Menschen gegeneinander werden um Güter kämpfen müssen, die für das nackte Uberleben der Tierart »Mensch« absolut notwendig sind im schlimmsten Fall um Luft und Wasser. Entsprechend einer bekannten Paradoxie geschichtlichen Handelns wird dann die Durchsetzung der Universalethik ganz andere Wirkungen zeitigen als die ursprünglich beabsichtigten. Es ist aus sachlichen Gründen zwar überflüssig, aus anderen und naheliegenden aber vielleicht ratsam, abschließend klarzustellen, daß diese Überlegungen nicht bedeuten können, der menschenrechtliche Universalismus sei für schlimme Sachen verantwortlich zu machen oder das Bekenntnis zum ethischen Relativismus wäre die geeignete Lösung für die großen Aporien unserer schon begonnenen planetarischen Geschichte. Die Dinge nehmen ihren Lauf, und dieser Lauf wird durch Ideen - im Sinne von selbständigen Kräften, die von außen in ein Geschehen eingreifen und es lenken können - viel weniger bestimmt als die Produzenten und Konsumenten von Ideen glauben oder glauben machen wollen. Dennoch bleibt die sich heute vollziehende Durchsetzung des menschenrechtlichen Universalismus für bestimmte wichtige politische Entwicklungen symptomatisch - und es ist besser, über diese Entwicklungen nachzudenken als es nicht zu tun.
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VI. Was war der Kommunismus?
Es ist verständlich und unvermeidlich, daß sich die Erklärungen über die Niederlage des Kommunismus im Kalten Krieg in der unmittelbar darauf folgenden Zeit vielfach mit dem lauten oder diskreten Selbstfeiern der Sieger vermischen. Menschlich ist der Wunsch der überzeugten und konsequenten Kalten Krieger, das, was früher den Inhalt ihrer Polemik ausmachte, nun unter Berufung auf das eingetretene Faktum zum Verdikt geschichtlicher Gerechtigkeit und zum Beweis eigener Voraussicht hochzustilisieren und allzumenschlich ist das Bestreben derjenigen, die noch vor kurzem jeden »blinden Antikommunismus« als Todessünde human-fortschrittlichen Geistes anprangerten und die Diktatoren des Ostens durch nichts provozieren und durch manches beschwichtigen wollten, nach der für sie unerwarteten Wendung der Dinge durch ostentative Klagen gegen den Totalitarismus und durch aktive Beteiligung an der Entlarvung und Verfolgung der Schuldigen und der Mitläufer eben das vergessen zu machen, was sie noch gestern von den eigentlichen Siegern von heute trennte, so daß sie das bittere Los der Ausgestoßenen nicht teilen müssen. In der so oder so hergestellten allgemeinen Euphorie scheint sich jedenfalls die Auffassung gefestigt zu haben, die Geschichte kehre 121
nach einer ebenso rätselhaften wie schrecklichen Abweichung zum königlichen Weg der Freiheit zurück und die menschlische Natur könne sich von neuem entfalten, nachdem der totalitäre Umerziehungsversuch an ihrem Widerstand gescheitert sei. Die Whig Interpretation der englischen Geschichte erweitert sich somit zu einer Whig Interpretation der Weltgeschichte überhaupt. Jene Auffassung und diese Interpretation werden zweifellos die geistig-politische Szene solange beherrschen, bis die nächste große geschichtliche Umwälzung die Greuel von gestern aus dem Gedächtnis verdrängt oder in anderen Dimensionen erscheinen läßt. So lange muß man dennoch nicht warten, um einsehen zu können, daß sie sich eher als Gegenstand einer ideologiekritischen Analyse denn als Schlüssel zum Verständnis des geschichtlichen Charakters des Kommunismus eignen. Ist das heutige westliche politische und wirtschaftliche System nicht unbedingt mit der menschlichen Natur verwachsen (wie hätte sie sonst in dem bei weitem längeren Zeitraum ihres Bestehens überleben können?) und hat Geschichte keine ethischen Ziele oder steuert sie womöglich noch schlimmeren Katastrophen als jenen entgegen, die der Kommunismus herbeigeführt hat, dann muß offenbar die geschichtliche Beurteilung dieses letzteren an Hand anderer Kriterien unternommen werden. Es ist nämlich zu fragen, welche die großen bewegenden Kräfte der Epoche waren, in der sich der Kommunismus entfaltete, und in welcher Beziehung er zu diesen Kräften stand, inwiefern er sie vertreten und gefördert oder gehemmt oder bei aller Verflechtung mit universalen Tendenzen er partikularen machtpolitischen Zwecken gedient und sich dabei jeweils modifiziert hat. In einer solchen Perspektive kann freilich das weltgeschichtliche bzw. messianische Selbstverständnis des Kommunismus ebensowenig in seinem Nominalwert genommen werden wie die Selbsteinschätzung seiner Feinde. Ethisch-normative Ideen werden nicht erdacht, um in ihrem Nominalwert genommen und verwirklicht zu werden, sondern um Identität zu stiften 122
und als Waffen dieser Identität im Kampfe gegen andere Identitäten eingesetzt zu werden. Wer das nicht verstehen kann, der wird auch nie weder ihre innere gedankliche Struktur noch ihre äußere geschichtliche Wirkung erfassen können. Die beiden weltgeschichtlich ausschlaggebenden und miteinander eng verbundenen Vorgänge dieses Jahrhunderts sind die beispiellose Verdichtung des Netzes planetarischer Politik und die weltweite Nivellierung aller aus der Vergangenheit bekannten sozialen Hierarchien durch die Massendemokratie. Zu beiden hat der Kommunismus wesentlich beigetragen, genauer gesagt, er war eine Kraft, die aus diesen Vorgängen erwuchs und sie ihrerseits intensivierte. Seine Theoretiker und Praktiker haben von Anfang an Politik in planetarischen Dimensionen aufgefaßt und geplant. Sie glaubten, daß die Erschaffung eines Weltmarktes durch den Kapitalismus eine entscheidende weltgeschichtliche Wende bedeute und daß die Weltgeschichte erst nach ihrer Vereinheitlichung ihren bis dahin verborgenen Sinn, nämlich die Errichtung der klassenlosen Gesellschaft, offenbaren könne; die Abschaffung der Klassen sollte ja die Abschaffung der Staaten und der Grenzen, also eine noch gründlichere Vereinheitlichung der Welt nach sich ziehen. In dieser Utopie der klassenlosen Weltgesellschaft spiegelt sich bereits in mystifizierter Form der planetarische Charakter der Zukunft der Menschheit wider. Aber das Konzept enthielt auch einen weiteren, politisch konkreteren Aspekt. War der Kapitalismus die erste echt planetarische Gesellschaftsformation, die die Geschichte gekannt hat, so mußte auf der Fahne seiner Feinde die Losung geschrieben werden: »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«. Die Revolution gegen einen weltweiten Feind mußte also eine Weltrevolution sein, und der Generalstab der Weltrevolution sollte die proletarischen Armeen nach übergeordneten Kriterien leiten, d.h. den Kampf auf nationaler Ebene den taktischen oder strategischen Bedürfnissen des Weltkampfes unterordnen. Der autoritäre Zentralismus, der den Gründern der Ersten Interna123
tionale vorschwebte, war die konsequente Konkretisierung dieses Konzepts, welches allerdings zunächst keine Früchte trug und sich in der Zeit der Zweiten Internationale weiter abschwächte. Als es in die Praxis umgesetzt werden konnte, war der proletarische Internationalismus bereits ein Instrument in den Händen einer Großmacht, die Weltmacht werden wollte. Das tut aber nichts zur Sache, um die es hier geht. In allen Phasen dieser Entwicklung - und gleichgültig, ob die revolutionäre Weltstrategie als erstes die Erstürmung der kapitalistischen Hochburgen oder das Brechen der kapitalistischen Weltkette an ihren schwächsten Stellen vorsah blieb das Bewußtsein wach, die Bewegung als ganze beteilige sich an einem weltweiten Vorgang, sie bringe weltweite und weltgeschichtliche Tendenzen zur Entfaltung und hänge in ihrem Ablauf von der weltpolitischen Lage ab, der jederzeit Rechnung getragen werden müsse. Weltweit verfolgte die Bewegung dieselben langfristigen Ziele und weltweit befiel den Klassenfeind dasselbe Zittern. Die Aneignung und verbindliche Interpretation des proletarischen Internationalismus durch die sowjetische Groß- und Weltmacht verstärkte den Druck, der den Dichtegrad planetarischer Politik erhöhte. Nun gab es in der Tat ein Zentrum, das den ganzen Planeten als Schachbrett betrachtete und seine einzelnen Züge auf den Flügeln oder in der Mitte in einen umfassenden Plan einordnete. Der universale Machtanspruch verwandelte aktuell oder potenziell jeden Ort des Planeten in eine umkämpfte Stelle, und zwar in eine solche, in der jedesmal der Kampf ums Ganze stellvertretend geführt wurde. Auch in einer anderen wichtigen Hinsicht hat die weltweite kommunistische Bewegung das Netz planetarischer Politik verdichtet. In einer Zeit, in der sich das koloniale System des europäischen Imperialismus noch in seinem Zenit befand, forderte sie die Aufhebung des Unterschiedes zwischen Subjekten und Objekten planetarischer Politik, sie trat also für die politische Emanzipation, die staatliche Organisation und die völkerrechtliche Gleichberechtigung der Kolonialvölker ein; nicht zuletzt diesen Völkern galt ja das 124
Augenmerk des Generalstabes der Weltrevolution, nachdem er für die Strategie der Brechung der schwächeren Stellen der kapitalistischen Weltkette optiert hatte. Bei aller machtpolitischen Motivation und Praxis des Moskauer Generalstabes läßt sich schwer bestreiten, daß seine Losungen einen ungeheueren Einfluß auf die sich herausbildenden intellektuellen und politischen Eliten der Kolonialvölker ausübten und daß überdies sein bloßes Vorhandensein einen starken materiellen Rückhalt der jungen Nationen in allen Phasen der Entkolonialisierung dargestellt hat. Kolonialmächte, die sich bis dahin kaum zu egalitären Gesten herabließen, mußten nun die Konkurrenz mit der kommunistischen Metropole befürchten und allmählich die Gleichheit aller Nationen, aller Rassen und aller Menschen entdecken. Das kollektive Selbstvertrauen der (ehemaligen) Kolonialvölker und der Völker der »Dritten Welt« überhaupt, wie es sich vor allem in den Jahrzehnten der Entkolonialisierung bemerkbar machte, scheint heute verflogen oder nur noch von wenigen mittleren und größeren Mächten vertreten zu sein, seine Bedeutung für die Ausgestaltung planetarischer Politik nach dem Zweiten Weltkrieg kann indes schwerlich überschätzt werden. Es beruhte nicht bloß auf den angedeuteten neuen Möglichkeiten politischen Wirkens nach der Festigung des Sowjetkommunismus, sondern ebensosehr auf dem Gefühl einer weltgeschichtlichen Rolle, ja Mission, das ebenfalls direkt oder indirekt kommunistischem Einfluß entsprang. In der Perspektive der kommunistischen Geschichtsdeutung hatten die proletarischen Völker auf Weltebene eine analoge Aufgabe zu erfüllen wie das Proletariat im Inneren der entwickelten kapitalistischen Nationen; dadurch bekamen sie zum ersten Mal eine weltgeschichtliche Identität und einen weltgeschichtlichen Standort zugewiesen. Darin lag übrigens die bisher unbeachtete politische Relevanz des bekannten stalinistischen fünfstufigen Schemas vom Geschichtsablauf. In der Rigidität, mit der es aufgestellt und verfochten wurde, hat man nur dogmatischen Starrsinn gesehen, es ging aber um etwas Substanzielleres. Wenn alle Nationen, 125
mit letztlich unbedeutenden Abweichungen oder Modifizierungen, alle Stufen der Geschichtsentwicklung durchlaufen müssen, dann entfällt die Unterscheidung zwischen fortgeschrittenen bzw. fortschrittsfähigen und auf immer zurückgebliebenen Völkern; die Frage nach der geschichtlichen Einmaligkeit des Okzidents und nach der Unwiederholbarkeit seiner Zivilisations- und Kulturleistung kann sich überhaupt nicht stellen. Das fünfstufige Geschichtsschema verwandelt sich somit in ein Entwicklungsgebot, eine Verheißung - noch mehr: in die Gewißheit der Beteiligung an einer Entwicklung, an deren Ende alle Nationen auf derselben Stufe stehen werden. Der Kommunismus konnte deshalb planetarische Bewegung sein und die Beteiligung aller Nationen am planetarischen Geschehen fordern, weil sein sozialer Entwurf den Anspruch auf universale Anwendung erhob. Unterschiede im Entwicklungsniveau der verschiedenen Nationen wurden zwar zugegeben und auf der Suche nach der geeigneten Strategie und Taktik im lokalen politischen Kampf sogar hervorgehoben, dennoch erschienen sie letztlich als gesamthistorisch gesehen vorübergehende Phänomene, die das beschleunigte Tempo der Geschichtsentwicklung im Sinne des genannten Schemas aufheben würde. Die nationale Form sollte mit einem sozialistischen Inhalt gefüllt werden: in dieser Formel fanden die kommunistischen Ideologen den theoretischen Mittelweg, um den universalen sozialen Entwurf mit partikularen Wirklichkeiten zu versöhnen, die sich offenbar nicht von einem Tag zum anderen aus der Welt schaffen ließen. Jedenfalls war die soziale Richtung klar. Die künftige Gesellschaft der Gleichen wurde nun insofern vorweggenommen, als die Reichtums- und Statushierarchien des alten Regimes mit Gewalt beseitigt wurden; die Elite, die die Macht übernahm, übte sie im Namen der Gleichheit und mit dem erklärten Ziel der Verwirklichung der Gleichheit aus. Auf diese Weise wurde ein riesiger Vermassungsvorgang vor allem in Ländern eingeleitet, in denen vorkapitalistisch-patriarchalische Sozialstrukturen den Ton 126
noch immer angaben und der bürgerliche Individualismus schwach oder fremd war. Die Zerschlagung der Dorfgemeinschaft und der Sippe, die Gleichberechtigung der Frau, die Eingliederung der Einzelnen in große wirtschaftliche, berufliche oder politische Organisationen - ja selbst die brutale Entwurzelung und die Deponierung haben diesen Vorgang in jeweils anderem Sinne gefördert. Nicht nur die Neustrukturierung der Gesellschaft, auch die Bespitzelung, die Verfolgung, der Terror begünstigten die Nivellierung und die Atomisierung. Von einem ökonomistisch-evolutionistischen Standpunkt aus könnte man freilich bemerken, die Auflösung der vorkapitalistischen Gesellschaften würde ohnehin mit der Zeit dank der allmählichen Industrialisierung und der Öffnung zum Weltmarkt erfolgen, die so verstandene Wirkung des Kommunismus wäre also im Grunde geschichtlich überflüssig oder sogar in ihrer Härte schädlich gewesen. Diesem Urteil wäre zuzustimmen, wenn die einzelnen geschichtlichen Fragen getrennt voneinander und der Reihe nach auf den Plan träten, so daß sie sich mit entsprechender zweckrationaler Eindeutigkeit ordnen und bewältigen ließen - wenn also ökonomische Fragen ζ. B. nur ökonomische Fragen wären und wenn sich nur ökonomisch denkende Subjekte mit ihrer Lösung abseits oder jenseits anderer Interessen und Gesichtspunkte befaßten. So verhält es sich aber keineswegs. Jede geschichtliche Frage, ökonomische oder andere, stellt sich und wird angepackt innerhalb eines konkreten Machtgeflechts, ihre Formulierung und ihre Lösung finden gemäß der Beschaffenheit dieses Geflechts statt, welches sich aus einer Dynamik von menschlichen Beziehungen ergibt. Die Geschichte gewährt nicht demjenigen die Macht, der ihre Fragen möglichst schmerzlos lösen kann, sondern im Gegenteil: sie zwingt denjenigen, der die Macht (erobert) hat, seine Energie so zu kanalisieren, wie die Fragen es gebieten, die sie stellt. Das Ergebnis ist die Bewältigung der jeweiligen Frage (etwa der ökonomischen oder der sozialen Modernisierung) aus der Sicht und mit den Mitteln des Machthabers. 127
Wir werden noch sehen, daß sich der Vermassungs- und Demokratisierungsvorgang, wie ihn die Kommunisten in ihrem Herrschaftsbereich vorangetrieben haben, auf die inzwischen bekannte Art und Weise deshalb gestaltete, weil er sich mit dem Streben bestimmter Nationen verband, sich eine neue und stärkere Position innerhalb der planetarischen Politik zu erkämpfen. Der Kommunismus hat aber auch indirekt der massendemokratischen Hauptströmung des Jahrhunderts zur Durchsetzung verholfen, und zwar durch seinen negativen und seinen positiven Einfluß innerhalb der industriell entwickelten Ländern des »kapitalistischen Lagers«. Negativ kann der Einfluß genannt werden, den er auf die Einstellung und die Verhaltensweisen seiner »Klassenfeinde« ausübte. Die Gefahr der Revolution und die Gewißheit, daß die innere Revolution sich nunmehr auf das große rote Land im Osten stützen konnte, haben ein Bürgertum, das sich bereits wandelte und seine soziale Vorherrschaft zunehmend mit aufsteigenden wirtschaftlichen und politischen Eliten teilen mußte, zu einem Umdenken bewogen, das jenem der Kolonialherren gegenüber den Kolonialvölkern analog war vielfach handelte es sich ja dabei um dieselbe Schicht und dieselben Personen. Dieses Umdenken schlug sich in der Bereitschaft nieder, gemäßigte Sozialisten oder das, was die Bolschewiken »Arbeiteraristokratie« nannten, am Regierungsgeschäft zu beteiligen sowie sozialstaatliche Einrichtungen und Umverteilungen im Rahmen des jeweils Unvermeidlichen hinzunehmen. Nun ging der Druck nach mehr Sozialstaat und gerechterer Verteilung der materiellen und politischen Güter großenteils auf das zurück, was wir den positiven Einfluß des Kommunismus auf das »kapitalistische Lager« nennen dürfen. Dieser bestand in der allmählichen Durchdringung eines sonst großen- oder größtenteils antikommunistisch eingestellten öffentlichen Bewußtseins mit dem Ideal der materiellen Gleichheit. Die Forderung nach konsequenter sozialer Materialisierung der formellrechtlichen Gleichheit des Liberalismus stand im Mittel128
punkt der kommunistischen Agitation und ergab sich übrigens direkt aus der Tradition marxistischer Kapitalismuskritik. Bezeichnenderweise wurde gerade diese Forderung, in welchen Variationen auch immer, zum Gemeinplatz der massendemokratischen Gedankenwelt, ja zur banalen Selbstverständlichkeit; Ungleichheit im Genuß darf nur auf Grund ungleicher Leistung stattfinden und auch dann ist sie nicht gegen das soziale Umverteilungsgebot immun. Es ist freilich nur allzubekannt, daß die massendemokratische Wirklichkeit von der materiellen Gleichheit sowie von der folgerichtigen Anwendung des Leistungsprinzips mehr oder weniger entfernt ist - sicher ist aber auch, daß in keiner anderen Gesellschaft der Vergangenheit Gleichheit als materiell zu konkretisierendes Ideal diesen allgemein anerkannten Stellenwert hatte. Die stattgefundenen direkten oder indirekten Umverteilungen, vor allem aber die Uberwindung der Güterknappheit ermöglichten jedenfalls teils den Schein, teils den Traum materieller Gleichheit. Das Pendant dieses ökonomischen Vorgangs auf der sozialen Ebene war die Auflösung des klassischen Bürgertums sowie des klassischen Proletariats und darüber hinaus die Ablösung der mehr oder weniger geschlossenen herrschenden Klasse durch mehr oder weniger offene Eliten, deren Zusammensetzung sich ständig ändert. Das paradoxe Resultat von all dem war eine karikaturhafte Realisierung des ursprünglichen kommunistischen Ideals der klassenlosen Gesellschaft, wobei freilich dessen ethisch-humanistische Aspekte zu kurz kamen oder sich mit knapper Not in die individuelle »Selbstverwirklichung« hinüberretteten; die soziale »Entfremdung« blieb und die Machtkämpfe blieben auch. In Anbetracht dieser geschichtlichen Paradoxie ist freilich die sehr interessante Frage zu stellen, inwiefern Utopien reale Tendenzen der geschichtlichen Entwicklung vorwegnehmen, d.h. inwiefern der jeweilige utopische Entwurf so konstruiert wird, daß er in einer idealisierten Form die viel banalere Wirklichkeit einer sich bereits herausbildenden Gesellschaftsformation wider129
spiegelt. Die Utopie wäre dann in dieser ihrer unbewußten geschichtlichen Bedingtheit nicht einfach Antipode des »politischen Realismus«, sondern ein Auslöser von Energien, die das geschichtlich Mögliche als Kurzfassung oder Karikatur des ursprünglichen Entwurfs realisieren. Hat die Utopie diese ihre Funktion erfüllt, so kann sie abdanken. Und nur eine optische Täuschung oder ein geistig träges Festhalten an einem obsoleten Vokabular kann die Tatsache verdecken, daß der Kommunismus als Utopie und als Politik erst dann zusammenbrach, als seine ursprünglichen Feinde, nämlich das Bürgertum und der klassische Liberalismus, eines sanften Todes gestorben waren (s. Abschn. V, 2). Das Ende des Kalten Krieges markierte auch das sichtbare Ende der Ideen und der Kräfte, die letztlich aus dem 19. Jh. hervorgegangen waren. Was jetzt anfängt und was noch kommt, bewegt sich auf einer anderen gesellschaftlichen Ebene und läßt sich nur an Hand anderer Kategorien und Begriffe gedanklich bewältigen. Wir deuteten bereits an, daß der Kommunismus zentrale weltgeschichtliche Tendenzen nicht abstrakt und allgemein förderte, sondern erst in seiner Verflechtung mit dem Streben großer Nationen nach einer Stärkung ihrer Machtposition innerhalb der sich verdichtenden Weltgesellschaft. Dies ist ein Punkt von extremer Wichtigkeit, wenn wir den geschichtlichen Hergang verstehen und ideologisch inspirierte Reden vermeiden wollen, die Vergleiche zwischen den »Systemen« in einem geschichtlichen Vakuum anstellen, um dann etwa auf die Überlegenheit des »westlichen Systems« auf Grund immanenter struktureller Kriterien zu schließen. Was miteinander verglichen werden kann, sind konkrete Nationen und Gesellschaften mit spezifischen Traditionen, kulturell bedingten Mentalitäten und entsprechenden technisch-wirtschaftlichen Möglichkeiten. Der Kommunismus, wie wir ihn seit 1917 kennen, war immer an einen solchen vorgegebenen Rahmen gebunden und seine Mängel sowie seine Leistungen trugen immer den Stempel einer langen und äußerst charakteristischen geschichtlichen Vergangen130
heit. So gesehen ist es sinnvoller - und gerechter - , nicht von der Niederlage der Utopie durch den Realismus, sondern etwa vom Sieg der erheblich reicheren und produktiveren Industrienationen des Westens über die ärmere und weniger produktive Sowjetunion zu reden. Denn es ist überhaupt nicht sicher, daß ein kapitalistisches Rußland in Anbetracht der sonstigen sozialen und kulturellen Faktoren wirtschaftlich mit den Vereinigten Staaten wird je im Ernst konkurieren können, und es darf auch bezweifelt werden, daß eine freie Marktwirtschaft in einem politisch unabhängigen Pakistan eine Planwirtschaft in einem politisch unabhängigen Deutschland je überholen würde. Es wird oft behauptet, eben der Kommunismus sei die Ursache der Verarmung und des wirtschaftlichen Versagens. Aber es könnte sich auch umgekehrt verhalten haben. Mit Ausnahme bestimmter europäischer Länder, die durch die Rote Armee erobert und dadurch in ihrer bereits anders verlaufenden Entwicklung tatsächlich gehemmt und sozial zurückgeworfen wurden, hat sich der Kommunismus aus eigenen Kräften nur in Nationen durchgesetzt, die ohnehin nur kurze Strecken auf dem technischen und kulturellen Weg der Moderne zurückgelegt hatten. Die Auffassung, Freiheit des Wirtschaftens könne unabhängig von anderen geschichtlichen und kulturellen Voraussetzungen an sich Panazee sein, wird jedenfalls durch das Massenelend in vielen lateinamerikanischen, afrikanischen und asiatischen Ländern widerlegt. U m diese These ausreichend zu untermauern, müßten wir eigentlich die Geschichte des Kommunismus in den zwei großen Nationen untersuchen, in denen er selbständig den Sieg davontrug und längere Zeit die Macht behalten hat bzw. noch immer behält, und diese Geschichte wiederum nicht als Geschichte des Scheiterns der Utopie, sondern vielmehr als Geschichte von Antworten auf national dringende Fragen betrachten. Es dürfte klar sein, daß wenn sich zwei Nationen mit der geopolitischen Potenz und mit dem traditionell starken Selbstbewußtsein Rußlands und Chinas ei131
ner weltgeschichtlichen Idee und einer Ideologie mit universalem Charakter bemächtigen, sie dann dadurch ihren Anspruch anmelden, Weltmächte zu werden und Subjekte nicht Objekte - der planetarischen Politik darzustellen; auch die Vereinigten Staaten würden übrigens ohne eine sich als universal gerierende Ideologie kaum in der Rolle einer Weltmacht auftreten können. Das mehr oder weniger symmetrische Verhältnis zwischen der physischen Größe dieser Nationen (als Indiz für ihre potenzielle Stellung in der Welt) und der Reichweite der von ihnen adoptierten weltgeschichtlichen Idee war für die Geschichte des Kommunismus grundlegend und unabdingbar. Hätte er sich nämlich nur in Albanien oder Sansibar durchgesetzt, so bliebe er ein Kuriosum für Ethnologen; erst die planetarische Potenz und Ambition ihrer Träger hat der weltgeschichtlichen Idee des Kommunismus den großen, drohenden Ernst verliehen. Und war diese Beziehung zwischen Träger und Idee einmal hergestellt, so mußte fortab die betreffende Nation im Namen der Geschichte handeln, nationale Anliegen in dogmatische Aussagen kleiden. Was als Praxis ausgegeben wurde, die die Theorie diktierte, ergab sich aus innen- oder außenpolitischen Notwendigkeiten. Das heißt aber, daß Vieles von dem, was aus der Sicht des Gegners als ideologische Paranoia und dadurch motiviertes Verbrechen erscheint, sich in der nationalen Perspektive zwanglos erklären läßt und keineswegs der angeblich inneren Logik der Utopie unabhängig von den konkreten nationalen Bedingungen und Zielsetzungen zugeschrieben werden muß. Nehmen wir einen zentralen Vorgang der sowjetischen Geschichte als Beispiel, dessen Sinn fast ausnahmslos mißverstanden wird, obwohl darüber wiederholte und überaus deutliche Erklärungen der damaligen sowjetischen Führung vorliegen - von der Logik der Lage ganz zu schweigen. Die forcierte Industrialisierung seit Ende der 1920er Jahre wurde nicht zuletzt in der begründeten Erwartung eines neuen großen Krieges in Angriff genommen, in dem die Sowjetunion ihren industriell hochüberlegenen Feinden ausgeliefert worden wäre, 132
hätte sie nicht in kürzester Zeit ihren Rückstand auf dem Gebiet der Schwerindustrie und der Produktion moderner Ausrüstung aufholen können. Dabei bedeutete Industrialisierung nicht nur Panzer und Flugzeuge, sondern auch sehr zahlreiche Menschen, die mit Maschinen und modernem Gerät überhaupt (auch dem, das die Verbündeten im Kriege dann lieferten) umgehen konnten, sie bedeutete also letztlich Zerstörung der vorindustriellen Dorfgemeinschaft, in der die große Volksmasse noch immer lebte. In voller Kenntnis der Brutalität und des Leidens, die das alles mit sich gebracht hat, kann man heute nüchtern feststellen: ohne die Zwangskollektivierung und die forcierte Industrialisierung hätte das nationalsozialistische Deutschland den Krieg gegen die Sowjetunion gewonnen. Gesinnungsethikern sei es überlassen, diesen gordischen Knoten zu lösen, die Bolschewiken haben ihn zerhauen müssen. Aus nationalen machtpolitischen Notwendigkeiten erwuchs auch ein maßgebliches strukturelles Merkmal der kommunistischen Regimes: ihr extremer Zentralismus, also das, was ihnen den Charakter von »orientalischen Despotien« verliehen hat. In Ländern wie etwa Albanien bedeutete Zentralismus neben dem Ausbau der Parteikontrolle zugleich Nationbildung, nämlich Hineinzwingen von weitgehend unabhängigen und hauptsächlich patriarchalischen Loyalitäten vertrauenden Sippen unter eine Dampfwalze, die Nation hieß; diese Nation mußte wiederum kommunistische Vorzeichen haben, denn alle anderen (etwa die religiösen) waren mangels eines nationalen Bürgertums mit den alten patriarchalischen Loyalitäten verbunden. Die beiden großen Nationen, in denen sich der Kommunismus durchsetzte, mußten ihrerseits mit Hilfe des Zentralismus andere Aufgaben bewältigen. In China wirkte und wirkt noch immer das Trauma des Auseinanderfallens des Reichs der Mitte in mehrere kleine teils halbfeudale, teils militärische Despotien - das Trauma einer Ohnmacht, die mit schweren Erniedrigungen bezahlt werden mußte. Der Westen mag glauben, daß er durch seine heutige menschenrechtliche 133
Rhetorik Absolution von seiner kolonialen Vergangenheit erhalten hat, er wird sich aber gewaltig in der Annahme irren, ein altes und stolzes Volk wie die Chinesen würde je die Kanonenbootdiplomatie und die Opiumkriege vergessen. Der zentralistische Zusammenhalt des Staates und der Nation bildete jedenfalls hier eine unabdingbare Voraussetzung sowohl für die Unabhängigkeit als auch für die anspruchsvolle Beteiligung an der nun verdichteten planetarischen Politik. Eine noch anspruchsvollere Beteiligung daran bezweckte Rußland; um sie zu erreichen, mußte es aber die Einheit des von ihm beherrschten riesigen multinationalen Staates durch einen rigorosen Zentralismus sicherstellen, welcher übrigens eine bereits lange Tradition hinter sich hatte. Man kann über den politischen und ethischen Wert oder Unwert eines solchen Staates geteilter Meinung sein, eins steht aber im Lichte der neuesten Entwicklung fest: wenn überhaupt, dann konnte er nur mit zentralistischen und autoritären Methoden zusammengehalten werden - gleichviel, wo man die Grenze zwischen »notwendigem« und »sinnlosem« Zwang jeweils ansetzen möchte. Die innere Verknüpfung von autoritärem Zentralismus und Weltmachtstellung im Falle Rußlands zeigte sich in noch größerem Maßstab, als die Rote Armee große Teile Europas eroberte. Aber während Rußland durch den Kommunismus wenigstens seine hegemoniale Position in der Sowjetunion sichern und gleichzeitig eine imperiale Weltpolitik betreiben konnte, haben die Völker von Ost- und Zentraleuropa, die derlei machtpolitische Ambitionen nicht hegen konnten, insgesamt gesehen durch die kommunistische Herrschaft nur Schaden erleiden müssen. Sie sind die größten, ja die eigentlichen Opfer einer Katastrophe gewesen, deren Wirkungen sich vielleicht nie wieder ganz wiedergutmachen lassen. Dennoch darf auch hier die Verflechtung von Kommunismus und nationaler Machtpolitik nicht aus den Augen verloren werden: Kommunismus war in diesen Ländern sowjetische Besatzung. In der Zeit des Kalten Krieges kamen Hinweise auf den inneren Zusammenhang von Kommunismus und russisch-na134
tionaler Weltmachtpolitik öfters vor, denn die Polemik des Westens war an der Aufdeckung des konkreten politischen Inhalts der Parole vom »proletarischen Internationalismus« dringend interessiert. Nach dem Zerfall des Ostblocks und der Sowjetunion ist man aber im Westen weniger bereit, den Hergang als einen Sieg von Nationen über Nationen aufzufassen; es würde vermutlich prosaischer und nicht besonders ruhmvoll klingen, wenn man einfach gesagt hätte, das zahlreichere und wirtschaftlich bei weitem überlegene Lager habe sich schließlich gegen Rußland durchgesetzt. Es ist alter Brauch, jeden großen Sieg als Sieg von höheren Idealen oder überlegenen Sozialsystemen zu feiern und seine vermeintliche Zwangsläufigkeit als Notwendigkeit des Obsiegens eben dieser Ideale oder Systeme auszugeben. Der Wunsch, die Überlegenheit des westlichen Systems im zentralen Bereich der Wirtschaft emphatisch herauszustellen, treibt nun e contrario (und obwohl dies logisch überhaupt nicht notwendig ist) dazu, den Zusammenbruch des Ostblocks, und zwar des Sowjetkommunismus, auf ein Versagen der Planwirtschaft zurückzuführen, das sich über die üblichen Inflexibilitäten und Verstopfungen hinaus zu einer totalen Lähmung kumulieren müßte. Diese Erklärung, die freilich einer ökonomistischen Denkweise verhaftet ist, kann sich auf den tatsächlich eingetretenen Kollaps der sowjetischen Planwirtschaft sowie auf deren längst bekannte geringere Leistungsfähigkeit im Vergleich zur westlichen Wirtschaft berufen. Die Notwendigkeit des totalen Zusammenbruchs folgt aber aus diesen an sich richtigen Beobachtungen überhaupt nicht, und sie wurde auch von keinem Experten etwa in den 1970er Jahren mit voller Überzeugung behauptet im Gegenteil: die Stimmen im Westen verrieten nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan viel mehr Angst vor dem arroganten Auftreten einer Weltmacht, die nach gewaltiger Anstrengung zumindest an der Grenze zur militärischen Parität mit dem Westen stand, als Zuversicht und Sorglosigkeit angesichts ihres bevorstehenden Wirtschaftsdebakels. 135
Läßt man ökonomistische Vorurteile und apologetische oder panegyrische Bedürfnisse beiseite, so wird man feststellen müssen, daß nicht der Zusammenbruch der sowjetischen Planwirtschaft die Auflösung des kommunistischen Systems herbeiführte, sondern es sich gerade umgekehrt verhielt: angesichts der institutionell verankerten weitgehenden Unterwerfung des Ökonomischen unter das Politische im Sowjetsystem mußte die Verunsicherung, Erschütterung und schließlich Zersetzung des organisierten Trägers politischer Macht das Wirtschaftschaos nach sich ziehen - ganz unabhängig davon, ob diese Entwicklung im Politischen (auch) durch Meinungskämpfe über das Ökonomische angebahnt wurde. Wo das Politische, also der Parteiapparat, die Verwaltung und das Verteilungssystem kontrolliert, wo also die Trennungslinien des westlichen Rechtsstaates zwischen Partei, Staat und Wirtschaft unbekannt sind, da muß der wirtschaftliche Kollaps auf den politischen folgen. Und der politische Kollaps ergab sich schließlich aus dem - obendrein im einzelnen ungeschickten - Versuch, ein System zu reformieren, das sich nicht nennenswert reformieren ließ, ohne sich selbst aufzuheben. Es ist wenig hilfreich, einen klassischen metaphysischen Terminus aufzubieten und zu behaupten, das System wäre von seinem »Wesen« her nicht reformierbar: jedes System muß ja sein »Wesen« aufgeben, sollte seine Reform eine bestimmte Grenze überschreiten. Die Nicht-Reformierbarkeit des Systems muß vielmehr wiederum im engen Zusammenhang mit seiner national bedingten Ausgestaltung, mit den nationalen politischen Traditionen und Zielsetzungen verstanden werden: was könnte Reform bedeuten und wie würde sie sich in einem multinationalen Staat auswirken, in dem die zentrifugalen Kräfte in der Politik nicht zuletzt durch die zentrale Lenkung der Wirtschaft im Zaum gehalten wurden? Niemand kann mit absoluter Sicherheit sagen, ob der Reformvorgang durch drückende Sachzwänge oder durch eine subjektive Entscheidung eingeleitet wurde, die deswegen folgenreich war, weil auf Grund der hierarchischen Struktur 136
des Systems Entscheidungen, die an höchster Stelle fielen, auf das Ganze durchschlagen mußten. Sehr wahrscheinlich war das Ende des Kommunismus in der Sowjetunion ebensowenig eine geschichtliche Notwendigkeit wie sein Sieg durch den Putsch von 1917 eine war. Westliche Beobachter sollten sich jedenfalls davor hüten, den unseligen hegelianisch-marxistischen Determinismus unter anderen Vorzeichen zu übernehmen, um beweisen zu können, daß der Zusammenbruch der Sowjetunion ein Gebot der Weltvernunft oder eiserner Wirtschaftsgesetze war. Man wird vielleicht nach einigen Jahren die Leistung der Planwirtschaft in Rußland verständnisvoller beurteilen, sollte es sich erweisen, daß auch unter den Bedingungen des freien Marktes die Russen nicht wesentlich besser wirtschaften. Und man wird ebenfalls die geschichtliche Leistung der zentralistischen Steuerung des multinationalen Sowjetstaates anders einschätzen, sollte die Entwicklung in seinem ehemaligen Bereich die alte Aporie der politischen Philosophie immer wieder aufwerfen, ob nämlich die Despotie dem Bürgerkrieg vorzuziehen sei oder nicht. - So oder so, der Kommunismus im ursprünglichen Sinne ist tot. In China kann er nur noch nationale und innere machtpolitische Aufgaben erfüllen, der utopische Schwung und die geschichtsphilosophische Legitimation sind aber unwiderruflich dahin. Die »Realisten« wären indessen schlecht beraten, darüber zu triumphieren. Es stirbt jeweils eine einzelne Utopie ab, nicht die Utopie. Und es vergehen in den Zeitläuften einzelne Grausamkeiten und Verbrechen, nicht die Grausamkeit und das Verbrechen. Die Kommunisten haben vorläufig als letzte beide Seiten des menschlichen Paradoxons in engster Verbindung miteinander verkörpert. Als Verfechter einer humanistischen Utopie und als Vollstrecker nackten Terrors haben sie wie kaum eine andere Bewegung die Größe und die Tragik ihrer Epoche geprägt. Sie waren Schwärmer und Machtpolitiker, Desperados und Strategen, Demagogen und Geheimagenten, Kreuzfahrer und Technokraten, Häretiker und Inquisitoren, Opfer und Henker in einem. Die Weltge137
schichte wird diese seltsamen Menschen, die mit solcher Gewalt in das 20. Jahrhundert eingebrochen sind, nicht leicht vergessen.
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Vom selben Autor
Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802, KlettCotta 1979. Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Klett-Cotta 1981; Taschenbuchausgabe dtv 1986. Macht und Entscheidung. Die Herausbildung der Weltbilder und die Wertfrage, Klett-Cotta 1984. Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Klett-Cotta 1986. Marx und die griechische Antike. Zwei Studien, Manutius Verlag 1987. Theorie des Krieges. Clausewitz, Marx, Engels, Lenin, KlettCotta 1988. Die neuzeitliche Metaphysikkñtik, Klett-Cotta 1990. Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne, Acta humaniora 1991.