Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen 9783495860823, 9783495488027


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Table of contents :
Vorwort
Teil I: Methodologisch-systematische Grundlagen
1. Leib und Geschlecht in der Phänomenologie
1.1 Einführung
1.2 Edith Stein als Pionierin der Leibphänomenologie und der Geschlechter-Theorie
1.2.1 Körper und Leib
1.2.2 Zur Theorie der geschlechtlichen Differenzierung
1.3 Impulse aus Frankreich
1.3.1 Sartre und Merleau-Ponty
1.3.2 Simone de Beauvoir
1.3.2.1 Die Ambiguität der Existenz
1.3.2.2 Geschlechtlichkeit und die Kategorie des Anderen
1.4 Die neuere Phänomenologie des Leibes
1.4.1 Alphabet und Topographie des Leibes (Hermann Schmitz)
1.4.2 Der Leib als die Natur, die wir selbst sind (Gernot Böhme)
1.4.2.1 Leibsein als Aufgabe
1.4.2.2 Geschlechtlichkeit als Thema radikaler Betroffenheit
1.4.3 Leibliches Responsorium (Bernhard Waldenfels)
1.4.3.1 Der Leib als der Gesichtspunkt aller Gesichtspunkte
1.4.3.2 Polymorphismus des Geschlechtsleibes
1.5 Phänomenologie und Feminismus
1.5.1 Der generische und der geschlechtliche Leib
1.5.2 Historisches zum Verhältnis von Phänomenologie und Feminismus
1.5.3 Feministische Kritik an der Phänomenologie
1.5.4 Auf dem Weg zu einer Phänomenologie geschlechtlicher Leiberfahrungen
2. Sex, Gender und der geschlechtliche Leib
2.1 Zur Theorie von sex und gender
2.1.1 Judith Butler
2.1.2 Gesa Lindemann
2.1.3 Die Krise der Kategorie gender
2.2 Geschlechtskörper, Geschlechtsleib und Geschlechtsidentität
2.2.1 Der geschlechtliche Körper (sex)
2.2.2 Der geschlechtliche Leib
2.2.3 Die Geschlechtsidentität (gender)
3. Genetische Phänomenologie des Leibes
3.1 Elementare Leiblichkeit
3.2 Natalität, Mortalität und die Lebensalter
3.3 Leibliches Lot, leibliche Integrität und Habitus
3.4 Situativität und Kontextualität
3.5 Quellen zu weiblichen Leiberfahrungen
Teil II: Topographie des weiblichen Leibes
4. Die Leibesinseln des weiblichen Geschlechtsleibes
4.1 Einleitung
4.2 Die Brust
4.2.1 Die Brüste als Paar
4.2.2 Die linke und die rechte Brust
4.2.3 Die Brustwarzen
4.3 Die genitale Zone
4.3.1 Die genitale Zone als Einheit
4.3.2 Die Binnenstruktur der genitalen Zone
4.3.2.1 Schamlippen
4.3.2.2 Harnausgang
4.3.2.3 Klitoris
4.3.2.4 Scheidenöffnung
4.3.2.5 Vagina
4.4 Der Unterleib
4.4.1 Ovarien
4.4.2 Uterus
4.4.3 Der zum Bauch expandierende Uterus
4.5 Die Wechselbezüglichkeit der Leibesinseln Brust, Genital und Unterleib
5. Ergänzende Systematik der Erfahrungsmodi
5.1 Vorbemerkungen zur Perspektive
5.2 Die Erfahrung des Flüssigen
5.2.1 Der blutende Leib
5.2.2 Der sekretierende Leib (Sexualsekrete)
5.2.3 Der gebärende Leib (Fruchtwasser)
5.2.4 Der ernährende Leib
5.3 Die Erfahrung des Festen
5.3.1 Der penetrierte Leib
5.3.2 Der gravide Leib
5.3.3 Der gebärende Leib (Säugling)
5.3.4 Der gebärende Leib (Plazenta)
5.3.5 Der ernährende Leib
5.4 Die Erfahrung der Fülle
5.4.1 Das gefüllte Genital
5.4.2 Der gefüllte Bauch
5.4.3 Die gefüllten Brüste
5.5 Schmerz, Angst, Scham und Lust
Teil III: Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen
6. Einführende Übersicht
7. Thelarche
7.1 Geschlechtertypisches Wachstum
7.2 Spürbare Veränderungen durch die Thelarche
7.3 Die Thelarche als Anlass für Irritationen
7.4 Reaktionen auf die Wirkung der Brüste
7.5 Zur Objektivierung weiblicher Brüste
8. Menarche
8.1 Das erste genitale Bluten
8.2 Die Menarche als rite de passage
8.3 Der hygienische Imperativ
8.4 Die Bedeutungsmatrix der Menarche
9. Menstruationen und Menstruationszyklen
9.1 Zum Diskurs um die Menses
9.2 Der menstruierende Leib: ein Erfahrungskonglomerat
9.3 Das Menstruationssubstitut
9.4 Menstruation und sexuelle Praxis
9.5 Abschließende Deutungen
10. Defloration
10.1 Defloration im engeren und weiteren Sinne
10.2 Basale Erfahrungen in der Deflorationssituation
11. Vergewaltigung
11.1 Angst als weibliche Grundbefindlichkeit
11.2 Viktimologie der Vergewaltigung
11.3 Das gestörte Körpergefühl / Verlust der leiblichen Integrität
12. Gravidität
12.1 Kinder- und Schwangerschaftswunsch
12.2 Befruchtung
12.3 Erste leibliche Sensationen
12.4 Ausbleiben der Menstruation
12.5 Allgemeinbefindlichkeit und Stimmungslagen
12.6 Medizinisches Wissen und die Hör- und Sichtbarkeit des Fötus
12.7 Das Spüren und In-Erscheinung-Treten des schwangeren Leibes
12.8 Kindsbewegungen
12.9 Fortschreitende und ausklingende Schwangerschaft
13. Geburt
13.1 Eröffnung des Geburtsvorgangs
13.2 Die ersten Wehen
13.3 Fortgesetzte Wehentätigkeit
13.4 Ende der Eröffnungsphase
13.5 Das Platzen der Fruchtblase
13.6 Presswehen und Austreibung des Kindes
13.7 Das Trennen der Körper
13.8 Austreibung der Plazenta
13.9 Unmittelbar nach der Geburt: Leere, Erschöpfung, Erleichterung
13.10 Erster Kontakt mit dem Kind
14. Puerperium
15. Laktation
15.1 Erstes Anlegen
15.2 Milcheintritt
15.3 Die Stillbeziehung
15.4 Aspekte der sozialen Situiertheit des Stillens
15.5 Das Abstillen
16. Klimakterium
16.1 Die körperlichen Veränderungen
16.2 Zur Repräsentanz und Thematisierung des Klimakteriums
17. Sexualität
17.1 Kindheit
17.2 Jugendalter
17.3 Verlieben
17.4 Leibeskontakte
17.5 Sexuelle Realitäten und die fehlende Theorie der weiblichen Sexualität
18. Der kranke weibliche Leib
18.1 Zur Pathologisierung des Frauenkörpers
18.2 Geschlechtervergleiche in der Gesundheitswissenschaft
Schluss: Die Sorge um den weiblichen Leib
Nachwort zur zweiten Auflage
Bibliographie
Personenregister
Sachregister
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Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen
 9783495860823, 9783495488027

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Ute Gahlings

Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495860823

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B

NEUE PHNOMENOLOGIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Über dieses Buch: Die Autorin führt leibphänomenologische und feministische Positionen zusammen und erarbeitet den Begriff des Geschlechtsleibes für die Analyse geschlechtsspezifischer Erfahrungen. Die theoretische Fundierung einer Phänomenologie der geschlechtlichen Leiberfahrungen wird durch exemplarische Untersuchungen ergänzt. Eine Topographie des weiblichen Leibes zeichnet die Weisen und Gegebenheiten des leiblichen Spürens nach. Einzelanalysen beziehen die subjektive Betroffenheit in konkreten Situationen der weiblichen Biographie ein und thematisieren mit Blick auf die in der technischen Zivilisation möglichen Eingriffe in früher unverfügbare Sphären des Körpers die Einflüsse geschlechtsspezifischer Leiberfahrungen auf die leibliche Integrität. Die Autorin: Ute Gahlings ist 1963 in Mönchengladbach geboren; Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft und Psychologie an der Bergischen Universität Wuppertal; 1988 M.A..; 1992 Dr. phil.; 1992–2001 wiss. Erschließung des Hermann-Keyserling-Archivs in Darmstadt; 2001–2004 wiss. Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der TU Darmstadt; 2005 Habilitation; Privatdozentin für Philosophie an der TU Darmstadt; Gastund Vertretungsprofessuren in Berlin und Darmstadt; Lehraufträge an verschiedenen Universitäten und Hochschulen; Gründungsmitglied und 2. Vorsitzende des Instituts für Praxis der Philosophie e. V. Darmstadt (IPPh); Initiatorin und Leiterin des Philosophischen Salons in Darmstadt; Philosophische Praxis in Frankfurt am Main.

https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Ute Gahlings

Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen

https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Neue Phänomenologie Herausgegeben von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie Band 7

https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Ute Gahlings

Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

2., um ein Nachwort erweiterte Auflage 2016 Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg/München 2006–2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: © Annegret Soltau, »Selbst«, 10, 1975, Fotoübernähung, Vorder- und Rückseite Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48802-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86082-3

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Gliederung

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16

Teil I: Methodologisch-systematische Grundlagen 1. Leib und Geschlecht in der Phänomenologie . . . . . . . . . 19 2. Sex, Gender und der geschlechtliche Leib . . . . . . . . . . . 93 3. Genetische Phänomenologie des Leibes . . . . . . . . . . . 111

Teil II: Topographie des weiblichen Leibes 4. Die Leibesinseln des weiblichen Geschlechtsleibes . . . . . . 143 5. Ergänzende Systematik der Erfahrungsmodi . . . . . . . . . 204

Teil III: Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18.

Einführende Übersicht . . . . . . . . . Thelarche . . . . . . . . . . . . . . . . Menarche . . . . . . . . . . . . . . . . Menstruationen und Menstruationszyklen Defloration . . . . . . . . . . . . . . . Vergewaltigung . . . . . . . . . . . . . Gravidität . . . . . . . . . . . . . . . . Geburt . . . . . . . . . . . . . . . . . Puerperium . . . . . . . . . . . . . . . Laktation . . . . . . . . . . . . . . . . Klimakterium . . . . . . . . . . . . . . Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . Der kranke weibliche Leib . . . . . . . .

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243 247 284 314 359 386 424 496 548 558 586 608 636

Schluss: Die Sorge um den weiblichen Leib . . . . . . . . . . . . 652

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16

Teil I: Methodologisch-systematische Grundlagen

. . . . .

19

1. Leib und Geschlecht in der Phänomenologie . . . . . . . . .

19

1.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

1.2 Edith Stein als Pionierin der Leibphänomenologie und der Geschlechter-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Körper und Leib . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Zur Theorie der geschlechtlichen Differenzierung . .

28 30 43

1.3 Impulse aus Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Sartre und Merleau-Ponty . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Simone de Beauvoir . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2.1 Die Ambiguität der Existenz . . . . . . . . . . 1.3.2.2 Geschlechtlichkeit und die Kategorie des Anderen

. . . . .

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58 58 61 61 63

1.4 Die neuere Phänomenologie des Leibes . . . . . . . . . . 1.4.1 Alphabet und Topographie des Leibes (Hermann Schmitz) . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Der Leib als die Natur, die wie selbst sind (Gernot Böhme) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2.1 Leibsein als Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2.2 Geschlechtlichkeit als Thema radikaler Betroffenheit 1.4.3 Leibliches Responsorium (Bernhard Waldenfels) . . 1.4.3.1 Der Leib als Gesichtspunkt aller Gesichtspunkte . . 1.4.3.2 Der Polymorphismus des Geschlechtsleibes . . . .

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71 71 73 78 78 79

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Inhaltsverzeichnis

1.5 Phänomenologie und Feminismus . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1 Der generische und der geschlechtliche Leib . . . . . 1.5.2 Historisches zum Verhältnis von Phänomenologie und Feminismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3 Feministische Kritik an der Phänomenologie . . . . 1.5.4 Auf dem Weg zu einer Phänomenologie geschlechtlicher Leiberfahrungen . . . . . . . . . . . . . . .

88

2. Sex, Gender und der geschlechtliche Leib . . . . . . . . . . .

93

2.1 Zur Theorie von sex und gender . . . . 2.1.1 Judith Butler . . . . . . . . . 2.1.2 Gesa Lindemann . . . . . . . 2.1.3 Die Krise der Kategorie gender

. . . .

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2.2 Geschlechtskörper, Geschlechtsleib und Geschlechtsidentität 2.2.1 Der geschlechtliche Körper (sex) . . . . . . . . . . 2.2.2 Der geschlechtliche Leib . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Die Geschlechtsidentität (gender) . . . . . . . . . 3. Genetische Phänomenologie des Leibes

80 80 81 85

. 93 . 94 . 98 . 100 . . . .

103 103 105 107

. . . . . . . . . . . 111

3.1 Elementare Leiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 3.2 Natalität, Mortalität und die Lebensalter . . . . . . . . . . . 115 3.3 Leibliches Lot, leibliche Integrität und Habitus . . . . . . . . 116 3.4 Situativität und Kontextualität . . . . . . . . . . . . . . . . 122 3.5 Quellen zu weiblichen Leiberfahrungen . . . . . . . . . . . 127

Teil II: Topographie des weiblichen Leibes

. . . . . . . . . . 143

4. Die Leibesinseln des weiblichen Geschlechtsleibes . . . . . . 143 4.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 4.2 Die Brust . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Die Brüste als Paar . . . . . . . . . 4.2.2 Die linke und die rechte Brust . . . 4.2.3 Die Brustwarzen . . . . . . . . . .

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148 150 155 158

Inhaltsverzeichnis

4.3 Die genitale Zone . . . . . . . . . . . 4.3.1 Die genitale Zone als Einheit . 4.3.2 Die Binnenstruktur des Genitals 4.3.2.1 Schamlippen . . . . . . . . . 4.3.2.2 Harnausgang . . . . . . . . . 4.3.2.3 Klitoris . . . . . . . . . . . . 4.3.2.4 Scheidenöffnung . . . . . . . 4.3.2.5 Vagina . . . . . . . . . . . .

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161 164 168 168 171 173 176 179

4.4 Der Unterleib . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Ovarien . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Uterus . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Der zum Bauch expandierende Uterus

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187 188 189 194

4.5 Die Wechselbezüglichkeit der Leibesinseln Brust, Genital und Unterleib . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 5. Ergänzende Systematik der Erfahrungsmodi . . . . . . . . . 204 5.1 Vorbemerkungen zur Perspektive

. . . . . . . . . . . . . . 204

5.2 Die Erfahrung des Flüssigen . . . . . . . . . 5.2.1 Der blutende Leib . . . . . . . . . 5.2.2 Der sekretierende Leib (Sexualsekrete) 5.2.3 Der gebärende Leib (Fruchtwasser) . 5.2.4 Der ernährende Leib . . . . . . . .

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207 209 215 219 220

5.3 Die Erfahrung des Festen . . . . . . . 5.3.1 Der penetrierte Leib . . . . . 5.3.2 Der gravide Leib . . . . . . . 5.3.3 Der gebärende Leib (Säugling) 5.3.4 Der gebärende Leib (Plazenta) 5.3.5 Der ernährende Leib . . . . .

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224 225 226 228 229 230

5.4 Die Erfahrung der Fülle . . 5.4.1 Das gefüllte Genital 5.4.2 Der gefüllte Bauch 5.4.3 Die gefüllten Brüste

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232 233 235 237

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5.5 Schmerz, Angst, Scham und Lust

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Inhaltsverzeichnis

Teil III: Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen 6. Einführende Übersicht

. . . . 243

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

7. Thelarche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 7.1 Geschlechtertypisches Wachstum

. . . . . . . . . . . . . . 247

7.2 Spürbare Veränderungen durch die Thelarche . . . . . . . . 249 7.3 Die Thelarche als Anlass zu Irritationen . . . . . . . . . . . 254 7.4 Reaktionen auf die Wirkung der Brüste

. . . . . . . . . . . 263

7.5 Zur Objektivierung weiblicher Brüste . . . . . . . . . . . . 270 8. Menarche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 8.1 Das erste genitale Bluten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 8.2 Die Menarche als rite de passage . . . . . . . . . . . . . . . 288 8.3 Der hygienische Imperativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 8.4 Die Bedeutungsmatrix der Menarche

. . . . . . . . . . . . 303

9. Menstruationen und Menstruationszyklen . . . . . . . . . . 314 9.1 Zum Diskurs um die Menses

. . . . . . . . . . . . . . . . 314

9.2 Der menstruierende Leib: ein Erfahrungskonglomerat . . . . 317 9.3 Die Menstruationssubstitution . . . . . . . . . . . . . . . . 341 9.4 Menstruation und sexuelle Praxis

. . . . . . . . . . . . . . 346

9.5 Abschließende Deutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 10. Defloration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 10.1 Defloration im engeren und weiteren Sinne . . . . . . . . . 359 10.2 Basale Erfahrungen in der Deflorationssituation . . . . . . . 366 11. Vergewaltigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 11.1 Angst als weibliche Grundbefindlichkeit

. . . . . . . . . . 388

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Inhaltsverzeichnis

11.2 Viktimologie der Vergewaltigung

. . . . . . . . . . . . . 398

11.3 Das gestörte Körpergefühl / Verlust der leiblichen Integrität . 404 12.

Gravidität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424

12.1 Kinder- und Schwangerschaftswunsch . . . . . . . . . . . 424 12.2 Befruchtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 12.3 Erste leibliche Sensationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 12.4 Ausbleiben der Menstruation

. . . . . . . . . . . . . . . 460

12.5 Allgemeinbefindlichkeiten und Stimmungslagen . . . . . . 464 12.6 Medizinisches Wissen und die Hör- und Sichtbarkeit des Fötus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 12.7 Das Spüren und In-Erscheinung-Treten des schwangeren Leibes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 12.8 Kindsbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 12.9 Fortschreitende und ausklingende Schwangerschaft 13.

. . . . 489

Geburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496

13.1 Eröffnung des Geburtsvorgangs . . . . . . . . . . . . . . 499 13.2 Die ersten Wehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 13.3 Fortgesetzte Wehentätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 504 13.4 Ende der Eröffnungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 13.5 Das Platzen der Fruchtblase . . . . . . . . . . . . . . . . 516 13.6 Presswehen und Austreibung des Kindes . . . . . . . . . . 518 13.7 Das Trennen der Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530 13.8 Austreibung der Plazenta

. . . . . . . . . . . . . . . . . 531

13.9 Unmittelbar nach der Geburt: Leere, Erschöpfung und Erleichterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 13.10 Erster Kontakt mit dem Kind . . . . . . . . . . . . . . . 544 14.

Puerperium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548 13

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Inhaltsverzeichnis

15.

Laktation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558

15.1 Erstes Anlegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 15.2 Milcheintritt

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562

15.3 Die Stillbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 15.4 Aspekte der sozialen Situiertheit des Stillens . . . . . . . . 573 15.5 Das Abstillen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 16.

Klimakterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586

16.1 Die körperlichen Veränderungen

. . . . . . . . . . . . . 587

16.2 Zur Repräsentanz und Thematisierung des Klimakteriums . 599 17.

Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 608

17.1 Kindheit

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610

17.2 Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 17.3 Verlieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 17.4 Leibeskontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618 17.5 Sexuelle Realitäten und die fehlende Theorie der weiblichen Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624 18.

Der kranke weibliche Leib . . . . . . . . . . . . . . . . . 636

18.1 Zur Pathologisierung des Frauenkörpers . . . . . . . . . . 638 18.2 Geschlechtervergleiche in der Gesundheitswissenschaft . . . 643 Schluss: Die Sorge um den weiblichen Leib . . . . . . . . . . . . 652 Nachwort zur zweiten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 Bibliographie

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 709 14

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Vorwort

Der Leib wurde in der Philosophie als eigenständiges Themengebiet im Unterschied zum Körper erst im 20. Jahrhundert systematisch erforscht. Wirkliche Durchbrüche wurden hier von der Phänomenologie erzielt, wie sie von Merleau-Ponty und heute von Schmitz oder Waldenfels vertreten wird. Erst mit diesen Autoren kann von einer Leibphänomenologie im strengen Sinn gesprochen werden, denn erst mit ihren methodischen Verfahren der Sichtung, Beschreibung und begrifflichen Erfassung des Leibes mit seinen Dispositionen, Prozessen, Strukturen und Topographien wurde eine wissenschaftliche Basis zur Verfügung gestellt, die es heute ermöglicht, sich verstärkt unter Gesichtspunkten der Geschlechter-Problematik mit leiblichen Phänomenen zu befassen. Konkrete menschliche Körper sind sicht-, tast-, hör- und riechbar voneinander unterschieden; sie sind von unter einem halben bis über zwei Meter groß, verschiedener Haar- und Hautfarbe, dick und dünn, jung und alt etc. Sie sind – mit einigen Ausnahmen – in zwei großen Gruppen, männlich und weiblich, präsent, mit je eigenen, aber von der anderen Gruppe verschiedenen körperlichen Merkmalen. Die Differenz ist unabweisbar, sie variiert sowohl hinsichtlich der Geschlechtergruppen als auch innerhalb ihrer in den verschiedenen Lebensphasen und -situationen. Den damit verbundenen Leiberfahrungen soll mit Schwerpunkt auf das Spüren nachgegangen werden. Die Geburt des geschlechtlichen Selbst bzw. der Geschlechtsidentität findet in der Kindheit statt und entfaltet sich sowohl an leiblich spürbaren und tastbaren Phänomenen als auch an den jeweils bereit gestellten kulturellen Praxen geschlechtlicher Existenz. Geschlechter-Realitäten, also das, was Männer und Frauen als ihre Wirklichkeit, ihre leibliche Existenz als Geschlechtswesen erleben, werden durch Körper und Leiberfahrungen sowie durch kulturelle Einschreibungen habitualisiert. Natur und Kultur prägen das Geschlechtswesen, sowohl unverfügbar im Sinne der Faktizität als auch verfügbar im Sinne des Entwurfs. Was das geschlechtliche Subjekt, bedingt durch die Ansprüche und Gegebenheiten von Natur und Kultur, leiblich erfährt bzw. was ihm widerfährt, kann in Topographien 15 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Vorwort

des Leibes und Prozessen seiner Biographie analysiert werden. Eine Phänomenologie der geschlechtlichen Leiberfahrungen sucht diese Erfahrungen in restrealistischer Verallgemeinerbarkeit verständlich zu machen. Ausgehend von dem philosophiehistorischen und methodologisch-systematischen Problem, dass es zwar eine breit entwickelte Leibphänomenologie gibt, in ihr aber die Geschlechter- und Lebensalterdifferenz kaum eine Rolle spielt, soll mit vorliegender Arbeit eine dringend benötigte Ergänzung vorgenommen werden, indem verstärkt weibliche Perspektiven Einlass in die Diskussion um den Leib finden. Deshalb stehen im ersten Teil die Kategorien Leib und Geschlecht im Vordergrund. Dabei werden sowohl Forschungsdefizite als auch Lösungsvorschläge zur Frage nach einer Theorie der geschlechtlichen Differenzierung thematisiert. Als gewinnbringend zeichnet sich der schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Edith Stein beginnende Dialog zwischen Feminismus und Phänomenologie sowie eine intra- und interdisziplinäre Perspektive ab, wie sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts insbesondere in der feministischen Theorie zum Tragen kam. In einer Heranführung leibphänomenologischer und feministischer Positionen wird die Kategorie Geschlecht reformuliert und die Geschlechtsidentität als personale Identität und leibliche Integrität an den Achsen von Körper, Leib, Biographie und Diskurs generiert. Während die klassische Sex-Gender-Dichotomie, wie Judith Butler zu Recht bemerkt, eine ›cartesische‹ Spaltung in das Subjekt einführt, wird mit dem Begriff des Geschlechtsleibes ein Instrument erarbeitet, mit dem biologistische oder sozialkonstruktivistische Determinismen entzerrt werden können. Methodisch ist hierfür die Perspektive einer genetischen Phänomenologie des Leibes relevant. Diese eignet sich für die Analyse geschlechtlicher Leiberfahrungen in besonderer Weise, da sie von einem Gefüge ineinander greifender Konstitutionsbedingungen ausgeht. Der zweite Teil befasst sich mit der Topographie des weiblichen Leibes. In phänomenologischen Deskriptionen wird das Spektrum leiblicher Regungen an den Merkmalen und Erfahrungsweisen des weiblichen Geschlechtsleibes evaluiert. Es wird deutlich, dass der Frauenkörper nicht nur an der genitalen Zone von spezifischen, anderen als männlichen Leiberfahrungen betroffen ist, sondern dass sich dem weiblichen Subjekt auch Brüste und Unterleib, und zwar in z. T. recht dramatischen Erfahrungen von Lust und Schmerz dominierend aufdrängen können. In einer ergänzenden Systematik werden bestimmte Erfahrungen des Flüssigen, des Festen und der Fülle als charakteristisch für den weiblichen Geschlechtsleib herausgestellt. Das geschieht methodisch zunächst durch allgemeine Deskription der Erlebnisspektren, mit dem Ziel, überhaupt einmal grundlegend Erfah16 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Vorwort

rungen am weiblichen Geschlechtsleib zu analysieren, vor allem auch hinsichtlich ihrer körperlichen Referenten. Der dritte Teil, der weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen und unter Berücksichtigung eines reichhaltigen Konglomerats von Zeugnissen subjektiver Betroffenheit aufnimmt, pointiert und ergänzt diese Perspektive mit Blick auf konkrete Situationen. Dabei ist es ein besonderes Anliegen dieser Forschungsarbeit, weibliche Leiberfahrungen in ihrem biographischen Kontext und in der Genese weiblicher Subjektivität sowohl im Einzelnen als auch in ihrem Spektrum systematisch aufzugreifen. Die Ausführlichkeit, mit der einzelne Leiberfahrungen im Sinne einer deskriptiven genetischen Phänomenologie ›nachbuchstabiert‹ werden, ist durch die Tatsache bedingt, dass konkrete Leiberfahrungen zwar durch ein Gefüge leiblicher Dispositionen vorgezeichnet, aber individuell sehr unterschiedlich sind. Gleichwohl lassen sich verallgemeinerbare Topoi weiblicher Leiberfahrungen ausweisen, die für jede ausgewählte Erfahrung analysiert werden. So verfolgt der dritte Hauptteil die Biographie des Leibes von der Thelarche, dem Brustwachstum, über basale Erfahrungen wie Menarche, Defloration, Sexualität, Schwangerschaft, Geburt, Laktation etc. bis hin zum Klimakterium. In diesen Erfahrungen ist das weibliche Subjekt bereits vom Beginn des zweiten Lebensjahrzehnts bis zu seinen Reifejahren in fundamentaler Weise von seinem Leib als Geschlechtsleib betroffen. Dass damit weitreichende Konsequenzen für die leibliche Integrität und das weibliche Selbstverständnis verbunden sind, soll in dieser Arbeit deutlich gemacht und herausgearbeitet werden.

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Teil I: Methodologisch-systematische Grundlagen

1. Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

1.1 Einführung Es ist eine Eigentümlichkeit der deutschen Sprache, dass für den menschlichen Körper zwei Wörter zur Verfügung stehen: Körper und Leib. Der Begriff »Leib« ist dem Menschen von heute jedoch nicht mehr geläufig. Für den Duden (1996) ist »Leib« gleich »Körper« und es wird allenfalls noch die veraltete Bezeichnung für »Leben« angeführt; der Brockhaus (2001) hat keinen Eintrag zum Stichwort »Leib«. Was den Gebrauch der Wörter Körper und Leib in der Alltagssprache angeht, so ist davon auszugehen, dass die Überfremdung durch Anglizismen im Bedeutungsfeld von »body« allmählich sogar den Begriff »Körper« verblassen lässt. Vom »Leib« redet man praktisch kaum noch. Das häufigste Vorkommen dieses Begriffs ist in theologischen bzw. kirchlich-rituellen Kontexten und in ausgewählten Bezeichnungen für »Körperliches«, vorwiegend als Komposita, etwa »Leibschmerzen«, »Unterleib«, »Mutterleib«, »Leibesfülle«, »Leibesübung«, »nach Leibeskräften« bzw. in Wendungen wie »Leibgarde« oder »Leibgericht« auszumachen. Die in den letzten Jahrzehnten entfaltete »Philosophie der Leibes« hat jedoch den Leib zu einem wissenschaftlichen Topos erhoben. Wenn Hermann Schmitz (1998b, 5) darauf verweist, dass der Mensch »nicht nur seinen eigenen Körper mit Hilfe der Augen, Hände u. dergl. sinnlich wahrnimmt, sondern in der Gegend dieses Körpers auch unmittelbar, ohne Sinneswerkzeuge zu gebrauchen, etwas von sich spürt«, so wird auf Körperliches als Sinnlich-Wahrgenommenes und Leibliches als 19 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

I Methodologisch-systematische Grundlagen

Gespürtes und Empfundenes Bezug genommen. Wenngleich qua Definition, wie Schmitz (ebd., 7) sagt, nichts »der Möglichkeit im Wege« steht, dass »etwas zugleich leiblich und körperlich sei«, haben er und eine Reihe anderer Phänomenologen diese Unterscheidung genutzt, um bei Analysen zur Subjektivität den Leib als das Gespürte ins Zentrum zu stellen. Um diese Perspektive zu verdeutlichen, verwenden anderssprachige Philosophen häufig Ergänzungen der jeweiligen Bezeichnungen für »Körper«, z. B. living body oder corps vécu. Wenn sich deutsche Phänomenologen auf die Doppelheit Körper/Leib kaprizieren, so basieren daran anknüpfende Definitionen auf Vorzeichnungen von Begriffsfeldern, die etymologisch verankert sind. Die Geschichte des Wortes »Leib« gibt Aufschluss über »geistesgeschichtliches Geschehen« und »die geänderte Auffassung von Kernbegriffen« sowie über Verschiebungen »der Rangordnung ganzer Felder, ganzer Bereiche menschlichen Denkens« (Adolph, 1937, 6). Die Etymologie des Wortes »Leib« führt in das 11. Jahrhundert. Im althochdeutschen Sprachgebrauch heißt lîp »durchweg Leben (bzw. Person) und corpus wird mit lîchame (lîch) wiedergegeben« (ebd., 13), was in unser Wort »Leichnam« eingeht; erst ab Mitte des 11. Jahrhunderts findet sich im oberdeutschen Sprachgebiet die Bezeichnung lîp für Leib. Das Wort lîp ist zwar in althochdeutscher Zeit bekannt, aber »unfest«, weil lîp hochdeutsch ursprünglich Neutrum war. Als das hochdeutsche lîp die Bedeutung von Leib annahm, hat es einen »Wandel zum Maskulinum vollzogen« (ebd.). Dieser »Geschlechtswandel« betraf parallel auch die Bezeichnung corpus, die ebenfalls lange Zeit Neutrum blieb, ehe sie ›vermaskuliniert‹ wurde, insbesondere in Analogie zu dem Maskulinum »Tod«. Hatte lîp im 11. Jahrhundert die Bedeutung Leben, so vollzieht sich mit der Maskulinisierung die Verschiebung zu lîp gleich Leib. Allerdings gab es auch in der sprachlichen Umgebung von lîp gleich Leben bereits Differenzierungen: lîch(n)ame war die weltliche Bedeutung von corpus, in weltlich eingeschränktem Sinne gab es die Bedeutung corpus mortuum, in sakraler Hinsicht corpus domini und in halbsakraler Bedeutung der »Leib eines Heiligen, der Jungfrau oder des Erlösers« (ebd., 18). Für das Mittelhochdeutsche zeigt Adolph (ebd., 23 f.), dass »lîchame Restpositionen bewahrt und vielfach vor lîp zurückweicht«, insofern persona und lîp gleichermaßen den Körper als teuren Besitz des Menschen bezeichneten, während corpo den Körper ohne gefühlsmäßige Beziehung zur Seele meinte. Während sich für lîp gleich Leib die Bedeutung gerade im Gegensatz zu lîch(n)ame entfaltete, hat sich botah, cadaver, corpus mortuum unter dem 20 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

Eindruck von Kriegen als eine Bezeichnung für den Leib im Allgemeinen durchgesetzt, was auch der mittelenglische Sprachvollzug zu body verdeutlicht (ebd., 24). Mit der Bezeichnung bûch bzw. botah setzte sich die Markierung bestimmter Körperteile (z. B. der Rumpf ) durch, während lîp gleich Leben klar davon unterschieden wurde und außerdem in der Bedeutung »Mutterleib« mit botah konkurrierte. Jedenfalls bezeichnete lîp ursprünglich vorwiegend sowohl Leben als auch Person und wurde lîp (lebender Leib) von lîch und lîchame (toter Leib) im Mittelhochdeutschen unterschieden. Im 13. Jahrhundert wurde diese Unterscheidung aufgeweicht, als der vitalistische Charakter von »Leben« Bedeutung gewann (lîp = lat. vita; Lebensdauer; ewiges Leben), doch wurde lîp einem eher reduktionistischen Verständnis anheim gestellt. Obwohl lîp und sêle lange Zeit synonym verwendet wurden, weil sie mit dem Lebensprinzip in Verbindung gebracht wurden, scheint lîp »von Anfang an die Möglichkeit gehabt zu haben, sich nach zwei Richtungen hin zu differenzieren, entsprechend den zwei Redensarten lîp haben« und »lîp leiten« (ebd., 34). Für »Lebenskraft« wurden zunächst die Begriffe ferah und sêla verwendet. Als ferah »veraltete und sêla die rein jenseitige Bedeutung annahm«, rückte »lîb auf den freigewordenen Posten« nach und wurde wie ferch und das vitalistische sêle als »körperlich gebundene Lebenskraft« verstanden, so dass der Übergang zu lîp gleich Leib leicht gegeben war. Auch die Bedeutung lîp gleich Mutterleib und das tautologische sêle unde lîb (neben der kirchlichen Formel sêle unde lîchamo) boten Ansatzpunkte für Bedeutungsverschiebungen, die Adolph (ebd., 35) vor allem auf das »Prävalieren des so definierten Lebensbegriffs« bezieht. Sie betont, »daß in einem früheren Begriffsfeld Seele, Lebenskraft, Leben, Leib eng beieinander lagen und daß lîp = Leib die Spur dieses heidnischen Lebensbegriffs noch ›am Leibe‹ trägt« (ebd.). Jedoch wurde der »heidnische« Begriff Leib auch durch mönchisch-kirchliche Weltanschauung mitgeprägt. Es kommt zu einer »Halbierung und Spaltung von lîb in eine diesseitige und eine jenseitige Hälfte«, darüber hinaus »verflüchtigt und vergeistigt sich die Idee der körperlich bedingten Lebenskraft zur Idee der bloßen Lebensdauer« (ebd., 40). Die Rede von lîp und sêle wandelte sich in einer Zwischenstufe zu der Formel »Leben und Seligkeit«, bevor lîp in einem Prozess der Belebung und Verdinglichung die Bedeutung Leib und Person erhielt. Für das spätere Mittelalter ist das Aufkommen des Begriffs »Körper« bezeichnend, der aus der früheren Formel lîch(n)ame hergeleitet wurde, aber zunehmend auf die Bedeutung von lîp übergriff bzw. diese verdrängte. Corper wird zum »Rechtsnachfolger« von lîch(n)ame und bezeichnet 21

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I Methodologisch-systematische Grundlagen

jetzt zwar den toten wie den lebendigen menschlichen Körper, steht aber noch in starkem Gegensatz zu lîp gleich Leib. Eine grundlegende sprachliche Wandlung hatte sich jedoch schon um die Mitte des 13. Jahrhunderts vollzogen, worin Sprachforscher den Wandel zum geistigen Klima der Neuzeit sehen (Adolph, 1937, 74 f.): »Nicht nur in der Politik sollte der Partikularismus und Realismus den hochmittelalterlichen Universalismus und Idealismus ablösen; auch die Zwei-Einheit Leib und Seele wird aufgehoben; fortan geht der Körper, geht die Seele (Geist) jedes den eigenen Weg – er den Gesetzen der Materie untertan, sie schon im Diesseits zur vollen Entfaltung berufen, und beide gewillt, ohne Rücksicht auf den Partner für sich den Titel vollen Menschentums in Anspruch zu nehmen.« (ebd., 75)

Nach der »totalen Umgliederung des Begriffsfeldes Leib/Seele, innerhalb dessen Körper, die neue Bezeichnung, eine wesentlich andere Stellung einnimmt«, kommt es zum Zurückweichen von lîp, das sogar durch Formen von lîchame ersetzt wird, was früher unvereinbar gewesen wäre, jetzt aber den Gegensatz zu Seele und Geist hervorhebt. Parallelentwicklungen in anderen Sprachen gleichen stark derjenigen von lîch(n)ame zu Körper (ebd., 77 ff.). Das Englische entfaltete sich wie das Französische eingleisig, insofern body und corps konkurrenzlos sind, das Deutsche dagegen mehrgleisig, wobei das germanische Wort Leib eine Neuerung darstellt, denn lîchame und Körper sind ebenso bedeutungsverwandt wie body und corps. 1 Die Einbürgerung von Bezeichnungen für corpus verlief durch zahlreiche Integrations- und Abstraktionsprozesse. Obwohl corpus zunächst keine ausschließliche Gegenstandsbezeichnung war, lag der Ausgangspunkt für die Begriffsfelder vielfach »im Realen, im handgreiflich Gegebenen« (ebd., 86). So ist hier an die Körperteile zu denken, die integrierende Funktion hatten: Leib im engeren Sinne (Rumpf ) und die Haut als Körperoberfläche. Während in die Kategorie »Leib, Rumpf, Brust, Bauch« Ausdrücke fallen, deren Etymon eine Wurzel der Bedeutung »gewölbt, geschwellt« oder »hohl« bildet, hat der »Weg von Haut zu Körper« möglicherweise über den Begriff »Fleisch« geführt (ebd.). Das Wort »Fleisch« ist in einem differenzierten Bedeutungsfeld für Körper und Leib angesiedelt. All1

»Für den lebenden Körper allein gibt es Körper und Leib, bzw. lichaam und lijf; kropp, lif und lekame, bzw. legeme, krop und lîf. Für den toten Körper besteht, der Zweiheit von body und corpse entsprechend, überall lík (und seine Abkömmlinge) neben der für Totes und Lebendes (z. B. Körper) geltenden Bezeichnung. Das Hochdeutsche hat auch hier einen besonderen Reichtum des Ausdrucks entfaltet, indem es Leichnam und Leiche unterscheidet. … Leiche ist der anonyme Corpus, Leichnam derjenige, an dem noch die Erinnerung an den einstigen Träger haften blieb; toter Körper mit oder ohne Spur von Persönlichkeit.« (Adolph, 1937, 82)

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Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

gemein verbreitet war zwar die Unterscheidung von menschlichem Fleisch gleich Körper und Fleisch als Nahrungsmittel (engl. flesh und meat, frz. chair und viande), der Substanzbegriff Fleisch für den menschlichen Körper hat sich aber gegenüber den Konkurrenten im Bedeutungsfeld von Leben und Leib nicht durchgesetzt. Das Aufeinander-beziehen von corpus und funus zeigt schließlich »die volle Ausbildung des Dingbegriffs an, in dem Lebendes und Totes umschlossen liegen« (ebd., 89). So wird durch gr. soma, lat. corpus, frz. corps, dt. Körper, engl. body etc. »nicht mehr bloß der menschliche Leib, sondern die ganze Dingwelt bezeichnet« (ebd.). Die Bedeutungswandlung von corpus gibt mit der »Reihe lík – líkhamo – lîp – Körper, deren ursprünglicher Sinn annähernd mit Gestalt – Fleischkleid – Leben – toter Körper wiederzugeben ist, darüber Auskunft, daß hier geistige Umwälzungen stattgefunden haben« (ebd., 102). In dieser Entwicklung wurde der menschliche Körper, »erst nur als Mächtigkeit gewertet«, »zum Ding unter den Dingen« (ebd., 103). Sie führt bis an den Rand der Neuzeit, in der die Ausdehnung des Begriffs »Körper« auf die physikalische Welt üblich wurde. In der Zwei-Substanzen-Lehre des Descartes kommt der Körper als ›nur‹ noch ausgedehnte Sache, als res extensa, im Unterschied zur res cogitans in den Blick, und das cartesische Bild von der Gliedermaschine korrespondiert mit der neuzeitlichen Auffassung von der Natur als eines mechanistisch beschreibbaren Zusammenhangs. Die Entfaltung der Anatomie als Wissenschaft vom menschlichen Körper und die damit einhergehende Entzauberung, Eroberung und bildliche Schematisierung seines ›Innenlebens‹ hat mit vielen anderen historischen Entwicklungen dazu beigetragen, dass sich die materialistische Vorstellung vom Körper als Objekt unter Objekten durchsetzte. Mit dem 19. Jahrhundert beginnt dann die »philosophische Entdeckung des Leibes« (Grätzel, 1989). Nach einer Jahrhunderte langen Verdrängung, ja Tabuisierung wird der Leib mit den sprachgeschichtlichen Bedeutungskonnotationen Leib=Leben, Leib=Person, Leib=lebender Körper als philosophischer Forschungsgegenstand etabliert. 2 Bereits Hegel (1975, 327) wirft in Bezug auf den Körper neue Fragestellungen auf. Das »System des innern Empfindens in seiner sich verleiblichenden Besonderung« wäre würdig, »in einer eigentümlichen Wissenschaft, einer psychischen Physiologie, ausgeführt und abgehandelt zu werden.« Eingeweide und Organe, von der Physiologie »als Momente nur 2

Zur Geschichte der Verdeckung und Entdeckung des Leibes vgl. u. a. Schmitz, 1998b, 365 ff.; Böhme, 1985, 113 ff.; Rappe, 1995, 35–272.

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I Methodologisch-systematische Grundlagen

des animalischen Organismus betrachtet«, »bilden zugleich ein System der Verleiblichung des Geistigen und erhalten hierdurch noch eine ganz andere Deutung«. 3 Ein »System der Verleiblichung« wird später von Schmitz als Topographie des Leibes ausgearbeitet und unter das Postulat der Idee einer »neuen Wissenschaft« gestellt (Schmitz, 1998b, 283). Hegels Kontrahent Schopenhauer und Nietzsche sind zu Vorläufern der Leibphänomenologie im engeren Sinne zu zählen. Für Schopenhauer, der zu den Wegbereitern der Lebensphilosophie gehört, steht der Leib im Zentrum seiner Lehre vom Willen. Der Leib ist »den Gesetzen der Objekte unterworfen, obwohl er unmittelbares Objekt ist« (Schopenhauer, 1977, Bd. I, 31). Auf »zwei ganz verschiedene Weisen gegeben«, als Objekt unter Objekten und zugleich »als jenes Jedem unmittelbar Bekannte, welches das Wort Wille bezeichnet« (ebd., 143), ist der Leib »das einzige Objekt«, »von dem ich nicht bloß die eine Seite, die der Vorstellung, kenne, sondern auch die zweite, welche Wille heißt.« (ebd., 172 f.) Der ganze Leib sei nichts anderes, »als der objektivirte, d. h. zur Vorstellung gewordene Wille« (ebd., 143). Den Zusammenhang, ja die Identität von Wille und Leib beschreibt Schopenhauer als »philosophische Wahrheit« (ebd., 146). 4 Gegen Erklärungsmodelle der Physiologie behauptet er, der Wille habe »seinen Sitz nicht im Gehirn« (ebd., Bd. II, 287), noch auch sei er in Funktionen und Organen auszumachen; er sei vielmehr »im ganzen Leibe überall gleichmäßig gegenwärtig« (ebd., 292). Die Erkenntnis von meinem Leib als einem »Ausgedehnten, Raumfüllenden und Beweglichen« ist nur »ein Bild in meinem Gehirn, welches mittelst Sinne und Verstand zu Stande kommt« (ebd., Bd. II, 317), kein unmittelbares Spüren. »Unmittelbar gegeben ist mir der Leib allein in der Muskelaktion und im Schmerz oder Behagen, welche Beide zunächst und unmittelbar dem Willen angehören.« (ebd.) Den Leib als Objektivierung des Willens zu betrachten, bedeutet auch, seine Teile als Manifestationen und sichtbaren Ausdruck des Willens zu begreifen. So seien »Zähne, Schlund und Darmkanal« »der objektivirte Hunger«, die Genitalien der »objektivirte Geschlechtstrieb« (ebd., Bd. I, 153). Der Leib sei »der objektivirte Wille zum Leben selbst«, und der Mensch, als »vollkommenste Objektivation jenes Willens«, »das bedürftigste unter allen Wesen« (ebd., 3

Vgl. hierzu auch Rappe, 1995, 23, 25, 28. Vgl. Schopenhauer (1977, Bd. I, 146): »mein Leib und mein Wille sind Eines; – oder was ich als anschauliche Vorstellung meinen Leib nenne, nenne ich, sofern ich desselben auf eine ganz verschiedene, keiner andern zu vergleichenden Weise mir bewusst bin, meinen Willen; – oder, mein Leib ist die Objektivität meines Willens; – oder, abgesehen davon, daß mein Leib meine Vorstellung ist, ist er nur noch mein Wille«.

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Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

Bd. I, 390 f.). Sein Leben habe stets auf diese Bedürftigkeit zu reagieren, denn der Mensch sei ständig bedroht von »verschiedenartigsten Gefahren«; »es giebt für ihn keine Sicherheit« (ebd., Bd. I, 391). Mit dem Topos vom Willen als Willen zum Leben rückt der ›Daseinsdurst‹ in den Vordergrund. Da dieser im Leib verankert und als Wille zum Leben unersättlich ist, zielt Schopenhauers Denken auf eine Abkehr von dem die Welt immer wieder neu schaffenden Willen durch Willens- und d. h. Leibverneinung. Wenngleich seine Willensmetaphysik eine phänomenologisch adäquate Erfassung leiblicher Gegebenheitsweisen verhindert, sieht Schopenhauer im leiblichen Spüren einen wesentlichen Zugang zu Erfahrungen außerhalb der auf Interpretationskonstrukten basierenden Welt der Vorstellung, die er in Vorwegnahme moderner neurophysiologischer Ansätze als ›Gehirnphänomen‹ charakterisiert. 5 An Schopenhauer anschließend, aber ohne die erkenntnistheoretischen Finessen zu übernehmen, und ohne klaren, vom naturwissenschaftlich konstruierten ›Körpermodell‹ abgegrenzten Leibbegriff kritisiert Nietzsche die in Philosophie, Wissenschaft und Religion tradierte Verachtung des Leibes und sucht mit dem emphatischen Aufruf »bleibt der Erde treu« den Leib zu rehabilitieren: »Einst blickte die Seele verächtlich auf den Leib: und damals war diese Verachtung das Höchste: – sie wollte ihn mager, gräßlich, verhungert. So dachte sie ihm und der Erde zu entschlüpfen.« (Nietzsche, 1983, Bd. 1, 294)

Der Erwachte dagegen weiß: »Leib bin ich ganz und gar, und nichts außerdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe.« (ebd., 314) Der Leib ist für Nietzsche die »große Vernunft«, der Geist lediglich eine »kleine Vernunft«, ein Werkzeug des Leibes, ein »kleines Spiel- und Werkzeug« der großen Vernunft (ebd.). Es stehe dem Philosophen nicht frei, zwischen Seele und Leib, noch weniger, zwischen Seele und Geist zu trennen. Denn: »Wir sind keine denkenden Frösche, keine Objektivir- und Registrir-Apparate mit kalt gestellten Eingeweiden«; vielmehr müssten wir »beständig unsre Gedanken aus unsrem Schmerz gebären und mütterlich ihnen alles mitgeben, was wir von Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhängnis in uns haben.« (ebd., Bd. 4, 10) Obwohl Nietzsche den Begriff des Leibes nicht systematisch ausarbeitet, hat gerade er, wie Guido Rappe (2000, 149) ausführt, »mit seiner Betrachtung der Philosophie als transformierter Leiblichkeit, mit seiner These von den leiblichen Untergründen philosophischer Spekulation sowie 5

Zum Willen als metaphysisches Konzept bei Schopenhauer vgl. Rappe, 2005.

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I Methodologisch-systematische Grundlagen

mit seiner Kritik am überkommenen Leibbegriff und an den zu abgehobenen Konstruktionen metaphysischer Geist- und Bewusstseinsvorstellungen« die Besinnung auf den Leib vorangetrieben und auf die zu heilende »Wunde der verdrängten Leiblichkeit« hingewiesen. Nietzsche hat im Anschluss an Schopenhauer radikal mit herkömmlichen Auffassungen vom Leib gebrochen. 6 Für ihn verblasst aber die Leibthematik zugunsten seines metaphysisch problematischen Ansatzes vom Willen zur Macht und einer entsprechend interpretierten Lebenslehre. In anderen philosophischen Richtungen dieser Zeit ringt man sich erst allmählich dazu durch, Leiblichkeit als Ausgangspunkt philosophischer Erkenntnis ernst zu nehmen. Dies ändert sich mit Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Heute ist die Phänomenologie des Leibes vielerorts monographisch aufgearbeitet und hat sich durch eine breite Anschlussfähigkeit im interdisziplinären Diskurs bewährt. 7 Die Retrospektive ist in weiten Teilen geleistet. Im Folgenden soll jedoch gezeigt werden, dass Edith Stein als eine wichtige Vertreterin der Leibphilosophie so gut wie gar nicht beachtet wurde. Stein hat den Leib nicht nur in seiner Bedeutung für die Anthropologie erkannt, sondern mit ihrer Theorie der geschlechtlichen Differenzierung auch ein bis heute vernachlässigtes Grundthema der Leiblichkeit, die Geschlechtlichkeit, aufgegriffen. Die Beschäftigung mit Stein steht daher am Anfang dieses evaluativen Kapitels, das die Leibphänomenologien u. a. mit der Frage nach dem Geschlecht konfrontiert. Einen zweiten Schwerpunkt bilden die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus Frankreich stammenden Leibkonzepte, in deren Kontext einzig Simone de Beauvoir Analysen zur Bedeutung der Geschlechterdifferenz vorlegt. Der dritte Schwerpunkt befasst sich mit der neueren Leibphänomenologie, die partiell auf die Thematisierung des Geschlechts im feministischen Diskurs reagiert. Wenn man an die verschiedenen Konzeptionen zum Leib die Frage richtet, inwiefern darin das Geschlecht einen Ausgangspunkt der Auseinandersetzung bildet, so stößt man auf ein Desiderat, das nicht nur die Phänomenologie betrifft, sondern das gesamte Fach Philosophie. Zur Abwesenheit der Kategorie Geschlecht in der Geschichte der Philosophie bis weit in das 20. Jahrhundert hinein schreibt Cornelia Klinger (1999, 1239): 6

Vgl. dazu auch Grätzel, 1989, 117 ff. und, mit kritischem Blick auf Grätzels Interpretation der Leibkonzeption bei Nietzsche, Rappe, 2000, 135–150. 7 Vgl. Waldenfels, 1985, 2000 u. a.; Petzold, 1985; Böhme, 1985, 113–138, 1992, 77–93, 2003, 7–72; Thomas, 1996; Fuchs, 2000; Gugutzer, 2002.

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Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

»Die traditionelle abendländische Philosophie hat die Kategorie des Geschlechts weder als Aspekt der conditio humana, als alle Menschen betreffende Gegebenheit und Bedingung menschlicher Existenz, noch als Grundstruktur jeder Organisation von Gesellschaft, und erst recht nicht im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Konstitution des philosophischen Denkens reflektiert. Geschlecht, Geschlechterdifferenz, Geschlechterverhältnis und Geschlechterordnung sind über weite Strecken der Geschichte der abendländischen Philosophie kein Thema.«

Diese Bilanz korrespondiert mit dem realen und symbolischen Ausschluss von Frauen aus der institutionalisierten Philosophie. Erst nach ihrem Einzug in den Wissenschaftsbetrieb und nach der Etablierung feministischer Theorie wurden die damit verbundenen Theoriedefizite in ihrer ganzen Tragweite sichtbar. Heute blicken wir auf einen 30 Jahre umfassenden Forschungszusammenhang, in dem verschüttete Traditionen weiblichen Philosophierens 8 , androzentrische sowie misogyne Strukturen in den philosophischen Systemen und Begriffsbildungen aufgedeckt9 und äußerst heterogene Konzeptualisierungen der Kategorie Geschlecht entfaltet wurden. Während sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Stein eine Geschlechtertheorie formiert, die um Rehabilitation des Eigenwerts der Frau bzw. der Weiblichkeit in Abhebung vom Postulat der Minderwertigkeit bemüht ist, und Beauvoir das Geschlechterverhältnis auf der Basis der Kategorie des Anderen evaluiert, ist für die 1970er Jahre die Kontrapunktierung zwischen Theorien der sexuellen Differenz und der Sex-Gender-Dichotomie relevant. Nach der Krise der Kategorie Gender in den 1990er Jahren lässt sich derzeit von einer Post-Gender-Phase sprechen (vgl. Braidotti, 1994a). Wissenschaftshistorisch ist heute von einem durch die feministische Theorie erfolgten Paradigmenwechsel auszugehen, der die Frage nach dem Geschlecht in den Geistes- und zunehmend auch in den Natur- und Technikwissenschaften fruchtbar gemacht hat. Von diesem Wandel blieb auch die Philosophie nicht unbeeindruckt, wenngleich feministische Theorien bzw. Gender-Studien immer noch genuine Orte für Auseinandersetzungen mit der Kategorie Geschlecht sind und die wechselseitige Kenntnisnahme von feministischer Philosophie und philosophischen Einzeldisziplinen von zahlreichen Asymmetrien geprägt ist. Die integrative Verbindung von Phänomenologie und Feminismus gehört zwar zu den jüngsten Allianzen in der Theorienlandschaft, sie verweist aber gleichwohl auf die Anfänge der Phänomenologie und hat gerade im Thema Leib ein 8 9

Vgl. Rullmann, 1994, 1995; Meyer, 1995–1998; Meyer/Bennent-Vahle, 1997. Vgl. Stopczyk, 1980; Pieper, 1993; Klinger, 1998; Nagl-Docekal, 2001.

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›gemeinsames Problem‹. Der letzte Abschnitt dieses ersten Kapitels geht daher auf die Anschlussfähigkeit von Phänomenologie und Feminismus sowie die Zusammenführung der beiden Diskurse für eine Phänomenologie geschlechtlicher Leiberfahrungen ein.

1.2 Edith Stein als Pionierin der Leibphänomenologie und der Geschlechter-Theorie Edith Stein (1891–1942), Husserl-Schülerin und -Assistentin, die 1922 vom jüdischen zum katholischen Glauben konvertierte, 1933 in den Karmel eintrat und 1942 aus einem niederländischen Kloster nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde, gehörte zur ersten Generation promovierter Frauen in Deutschland. Habilitation und Lehrstuhl blieben ihr jedoch verwehrt, so dass ihre Berufsbiographie stark durch die Geschlechter-Realitäten ihrer Zeit geprägt war. 10 Vor diesem Hintergrund ist es um so bemerkenswerter, dass ihr Gesamtwerk, das neben philosophischen auch pädagogische und theologische Werke umfasst, in den Forschungsfeldern »Leib« und »Geschlecht« bahnbrechende Arbeiten enthält. Damit ist Stein nicht nur Wegbereiterin der Leibphänomenologie, sondern auch Vorläuferin feministischer Theorie. Als Pionierin der Leibphänomenologie macht Stein den Leib zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Analysen zum »psychophysischen Individuum«, wobei sie in vielem auf Erkenntnisse der neueren Leibphänomenologie vorausweist. Hier sind zu nennen 1. die doppelte Gegebenheit des Leibes als »leibwahrgenommener« Leib und sicht- bzw. tastbarer Körper der Außenwelt, 2. die Gebundenheit und Zugehörigkeit des Leibes zu mir als mein Leib, 3. seine Allgegenwärtigkeit im »Hier«, 4. seine Räumlichkeit im »Wo«, als raumfüllendes »Etwas« (Einheit des Leibes) und als von die10

Trotz bester Voraussetzungen scheiterte Steins Bemühen um Anerkennung als Mitglied der scientific community. Sie war Husserls Assistentin, musste aber ihre eigene wissenschaftliche Arbeit zurückstellen, weil Husserl völlige Hingabe an sein Werk verlangte, was schließlich dazu führte, dass sie ihre Assistentenstelle kündigte – ein aufschlussreiches Detail der Husserl-SteinBeziehung. Man kann Husserl zu Recht vorwerfen, seine Assistentin bei ihrem Habilitationsvorhaben nicht genügend unterstützt zu haben. Anstatt sie in Freiburg selbst zu habilitieren, empfahl er sie nach Göttingen weiter, wo man aber eine Habilitation von Damen für unstatthaft hielt. Stein machte eine Eingabe an das Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, um die Benachteiligung von Frauen bei der Habilitation gesetzlich verbieten zu lassen. Es gab zwar schon am 21. 2. 1920 einen Runderlass des Ministeriums an die Universitäten, Stein blieb die Habilitation jedoch auch bei Gesuchen in Kiel und Hamburg weiterhin verwehrt. Vgl. Wimmer, 1995, 192 ff.

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ser Einheit abgehobene »Etwasse« (Stellen des Leibes), 5. der Leib als nicht geometrisch erfassbare Umgebung eines »Nullpunktes der Orientierung« für mich (Leibraum im Unterschied zum Außenraum), 6. die Gegebenheit des Leibes als empfindender und die Gegebenheit der Empfindungen am Leib, 7. die Beweglichkeit des Leibes in doppelter Hinsicht als eigenleibliche und als körperliche Bewegung, 8. die leibliche Dimension der Gefühle, Empfindungen und Stimmungen, 9. der ›atmosphärische‹ 11 , d. h. unabgeschlossene und zur Entladung tendierende Charakter der Gefühle und schließlich 10. die – wenn auch verhalten formulierte – Unverfügbarkeit des Leibes. Als Vorläuferin feministischer Theorie befasst Stein sich im Unterschied zu ihren Kollegen eingehend mit der Geschlechterdifferenz. Ihre Vorträge und Schriften zur Frau, die in der Gesamtausgabe einen ganzen Band füllen, sind philosophiehistorisch interessant, weil Stein als erste Phänomenologin Geschlechterforschung betrieben und ein Stück ›feministische‹ Theorie geschrieben hat, lange bevor diese sich ihren Platz in den Wissenschaften erobert hat. Damit ist Stein Vorläuferin jener Koalition zwischen phänomenologischem und feministischem Denken, die sich heute in Diskursen über »Phänomenologie und Geschlechterdifferenz« (Stoller/Vetter, 1997) 12 , »Phänomenologie und Feminismus« (Fisher, 1997, 2000) und »Feminist Phenomenology« (Fisher/Embree, 2000) 13 formiert hat. Außerdem sind Steins Schriften von Belang, weil sie eine kulturkritische Diagnose der Geschlechter-Realitäten mit Blick auf die Lage der Frau, die Frauenbewegung und gesellschaftliche Zukunftsperspektiven enthalten. In ihnen wird eine Theorie der geschlechtlichen Differenzierung sowie eine Geschlechter-Typologie entworfen und auch eine ethische Direktive entwickelt. Darüber hinaus werden in ihrem Aufriss der Geschlechter-Frage Probleme, wie beispielsweise das des Essenzialismus, sichtbar, die bis heute in der feministischen Philosophie diskutiert werden. Im Folgenden wird Steins zweifache Pionierleistung im Kontext des phänomenologischen Umfelds dargelegt.

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Ich verwende diesen Begriff hier mit aller Vorsicht, da Stein nicht explizit von Atmosphären spricht. Ihre Analyse der Unabgeschlossenheit der Gefühle und der Tendenz, sich zu entladen, scheint aber schon das anzudeuten, was Heidegger, Bollnow, Tellenbach und Schmitz später unter dem Begriff verstehen. 12 Das Buch enthält seltsamer Weise keinen Beitrag zu Stein. 13 Zu Stein vgl. hier Haney, 2000, 213–236.

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1.2.1 Körper und Leib In der Perspektive historischer Chronologie ist davon auszugehen, dass Max Scheler, Edith Stein und Edmund Husserl nahezu zeitgleich am Problem des Leibes gearbeitet haben: Scheler in seinen von 1913 bis 1916 erfolgten Veröffentlichungen unter dem Titel »Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik«, Stein in ihrer 1916 fertig gestellten Dissertation und Husserl in seinem zweiten Buch der »Ideen«, das aber Manuskript blieb und erst 1952 aus dem Nachlass herausgegeben wurde. Schelers Leibtheorie ist wie bei Stein in einen weiteren Zusammenhang eingebettet. Insofern Stein am Problem der Einfühlung arbeitet und Scheler an der Fundierung einer Wertlehre mit Fokus auf die Sympathiegefühle, sind für beide Gefühl, Mitgefühl und Einfühlung von besonderem Interesse für die Frage nach der leiblichen Disposition des Menschen. Scheler (1954, 408 f.) will aufs »schärfste zwei Dinge trennen«: Leib und Körper. Wenn wir alle Funktionen der sinnlichen Wahrnehmung unseres Körpers ausklammern, so bleibe doch das Phänomen unseres Leibes übrig. Vom Leib haben wir »mit dem möglichen äußeren Bewußtsein auch noch ein inneres Bewußtsein, dessen wir bei allen toten Körpern entbehren« (ebd., 409). Der Leib selbst ist uns »unabhängig und vor allen irgendwie gesonderten sog. ›Organempfindungen‹ und vor allen besonderen äußeren Wahrnehmungen seiner als ein völlig einheitlicher phänomenaler Tatbestand, und als Subjekt eines So- und Anders-›befindens‹ gegeben« (ebd., 410). Die unmittelbare Totalwahrnehmung des Leibes fundiere sowohl die Gegebenheit »Leibseele« als auch die Gegebenheit »Leibkörper«. Für Scheler ist »dieses fundierende Grundphänomen« »›Leib‹ im strengsten Wortsinn« (ebd.). Den herkömmlichen Lehren vom Körper tritt Scheler (ebd., 411 f.) mit dem Aufweis verschiedener Irrtümer entgegen, die – positiv gewendet – wie folgt extrahiert werden können: das innere »Leibbewußtsein« ist mehr als eine Gruppe von Empfindungen; Leibsensationen sind Leibzustände und damit wesenhaft von »Organempfindungen« zu unterscheiden; der Körperleib wird anders vorgefunden als andere Körper; Leibsensationen sind von anderer Art als seelische Phänomene; das innere Leibbewusstsein ist bereits ursprünglich gegliedert, unabhängig davon, wie Körperteile darauf projiziert werden; es kann in der Medizin zu diagnostischen Zwecken herangezogen werden; es ist ausgedehnt und hat eine raum- und zeitartige Ordnung; der Wille verfügt über den Leib wesenhaft anders als über die Dinge der äußeren Welt; der Leib wird ursprünglich als Ganzes, mehr oder weniger gegliedert, erfahren. Dieser Themenkomplex, der in Verbindung 30 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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mit Schelers weiterer Anthropologie jedoch problematisch erscheint, ist auch für Steins Analysen von Bedeutung. Bei Husserl finden sich dagegen in seinen 1913 veröffentlichten »Ideen« nur marginale Hinweise auf den Leib, was nicht verwundert, weil seine Methode darauf zielt, Leibliches und Weltliches auszuklammern, um zum transzendentalen Ich zu gelangen. Wenn gelegentlich vom Leib die Rede ist, z. B. als einem »Raumding« (Husserl, 1992a, 71), einer Art cartesische res extensa, so steht die Beziehung zwischen Erfahrung, Bewusstsein und Leib im Vordergrund: »Nur durch die Erfahrungsbeziehung zum Leibe wird Bewußtsein zum real menschlichen« und »nur durch die Verknüpfung von Bewußtsein und Leib zu einer naturalen, empirisch-anschaulichen Einheit« sei »so etwas wie Wechselverständnis zwischen den zu einer Welt gehörigen animalischen Wesen möglich« (ebd., 116). Schließlich spricht Husserl vom »körperlichen Sein« als »prinzipiell erscheinendes, sich durch sinnliche Abschattungen darstellendes« und vom »Strom der Erlebnisse« »in Verknüpfung mit Körperlichkeit« (ebd., 117). Die »psychophysische Natureinheit Mensch« »als eine leiblich fundierte Einheit« (ebd.) ist systematisch jedoch wenig relevant. Anders verhält es sich damit in der 1935 veröffentlichten »Krisis«-Schrift (dazu später mehr) und wir wissen, dass Husserl sich im zweiten Buch der »Ideen« mit dem Leib als Doppelrealität befasst hat (vgl. Zahavi, 1994; Thomas, 1996, 52 ff.). Es sind insbesondere die unter dem Titel »Ideen II« zusammengestellten Texte, die in der Forschung für Husserls Analysen zum Leib herangezogen werden. Einen wichtigen Durchbruch erzielt er hier mit seiner Betonung der Subjektivität des Leibes gegenüber der objektivierenden Zugangsweise zum Körper. Wenngleich Husserl als Phänomenologe »eine Erkenntnis des Leibes eröffnet«, indem er »Weisen der Selbstgegebenheit« entdeckt (Böhme, 2003, 20 f.), steht seine Deutung der »Empfindnisse« im Kontext eines vorwiegend aktivistischen Zugangs und einer Fundierung im Körper. Steins leibphilosophischer Ansatz, der auch die pathischen Weisen leiblicher Existenz aufgreift, war Husserl zu dieser Zeit bereits bekannt, denn Stein hat dem Leib schon zu Beginn ihres Philosophierens eine zentrale Stellung eingeräumt. In ihrer nur noch zum Teil erhaltenen Dissertation »Das Einfühlungsproblem in seiner historischen Entwicklung und in phänomenologischer Betrachtung« legt sie eine bislang wenig beachtete Theorie des Leibes vor. Husserl hat die Tragweite dieser Arbeit nicht nur an sich, sondern auch in Bezug auf seine eigene Philosophie einzuschätzen gewusst. Folgt man der Wiedergabe eines Gesprächs zwischen Husserl und Stein in Steins Autobiographie (1950–1987, Bd. VII, 289), so hat Husserl trotz – besser müsste man wohl sagen: wegen – seiner Hochschätzung für 31 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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diese Arbeit »Bedenken« hinsichtlich einer zeitgleichen Publikation mit seinen »Ideen« im Jahrbuch für Phänomenologie geäußert, weil er den Eindruck hatte, dass Stein »manches aus dem II. Teil der ›Ideen‹ vorweggenommen« hat. In der Tat wurde Steins Werk zur Einfühlung nicht im Jahrbuch veröffentlicht (ebenso wenig wie Husserls zweites Buch der »Ideen«) und ging als Ganzes verloren. Das Kernstück ließ sie unter dem Titel »Zum Problem der Einfühlung« 1917 in Halle drucken, ohne die historische Einleitung und ohne den Schlussteil zur Einfühlung auf sozialem, ethischem und ästhetischem Gebiet. Da dieses Kernstück einen zentralen Abschnitt zum Leib enthält, soll darauf ausführlicher eingegangen werden. Gemeint ist das Kapitel »Ich und Leib« (III, § 4) unter der übergeordneten Überschrift »Die Konstitution des psychophysischen Individuums«, das in ihrer Arbeit den »Schritt vom Psychischen zum Psychophysischen« erforderlich macht, denn »Seele ist notwendig immer Seele in einem Leibe« (Stein, 1980, 44). Die Fragen »Was ist der Leib? Wie und als was gibt er sich uns?« beantwortet Stein in einem ersten Schritt (§ 4a) mit der »Gegebenheit des Leibes« in zweierlei Weisen: »Einmal habe ich meinen Körper gegeben in Akten äußerer Wahrnehmung« (ebd.), das andere Mal ist er »empfindender (leibwahrgenommener) Leib« (ebd., 47). Um diesen Unterschied zu veranschaulichen, stellt sich Stein vor, der Körper wäre für uns nur ein Ding der Außenwelt und nicht auch gespürter Leib. In dieser Perspektive baut sich ein »höchst sonderbares Objekt« auf: »Ein reales Ding, ein Körper, dessen motivierte Erscheinungsreihen merkwürdige Lücken aufweisen, der mir mit einer noch größeren Hartnäckigkeit als der Mond seine Rückseite vorenthält« (ebd., 44).

Es ist zwar manches, was sich dem Blick entzieht, durch die tastende Hand erreichbar, aber »dies Verhältnis von Sehen und Tasten ist ein anderes als bei allen anderen Dingen«. Jedes andere Ding ist mir durch Sehen und Tasten gleichermaßen, also prinzipiell von allen Seiten, verfügbar, der eigene Körper jedoch nicht: Gewisse Körperoberflächen sind nicht ohne Hilfsmittel zu sehen, allenfalls zu tasten. Hinzu kommt noch als Eigentümlichkeit, dass ich mich von jedem anderen Ding entfernen oder mich ihm nähern kann. 14 Dieses Objekt, der Körper, ist also in Erscheinungs14

Damit ist für Stein (1980, 45) aber bereits die Grenze ihres Experiments mit der Perspektive erreicht: »Dies Nähern und Entfernen, die Bewegung meines Körpers und der anderen Dinge, dokumentiert sich in einer Änderung der Erscheinungsreihen jener Dinge, und es ist gar nicht abzusehen, wie es zu einer Scheidung beider Fälle (der Bewegung der anderen Dinge und der Bewegung meines Körpers) oder überhaupt zur Erfassung der Bewegung des eigenen Körpers

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weisen gegeben, die »nur in ganz engen Grenzen variierbar sind, und es ist mit einer unentwegten Aufdringlichkeit immerfort da, solange ich die Augen aufhabe, und immer in derselben greifbaren Nähe wie kein anderes Objekt: Es ist immer ›hier‹, während alle anderen Objekte immer ›dort‹ sind« (ebd., 45). Der Körper ist uns aber nicht nur als sicht- und tastbares Ding oder Objekt gegeben: »Denn auch wenn wir die Augen fest schließen, und die Hände weit von uns strecken, … so daß wir den Leib weder greifen noch sehen können, auch dann werden wir ihn nicht los, auch dann steht er in voller ›Leibhaftigkeit‹ (daher der Name), unabwendbar da und finden wir uns unablöslich an ihn gebunden. Eben diese Gebundenheit, die Zugehörigkeit zu mir, könnte sich in äußerer Wahrnehmung nie konstituieren. Ein nur äußerlich wahrgenommener Leib würde immer nur ein besonders gearteter, ja einzigartiger Körper sein, aber nie ›mein Leib‹.« (ebd., 45)

Mit dieser an dem Kriterium der Sicht- und Tastbarkeit gewonnenen Unterscheidung zwischen Körper und Leib zeichnet sich nicht nur ein interessanter – meist unberücksichtigter – Einfluss auf Husserl ab (ohne dass dieser als konstitutiv für Husserls Sicht behauptet werden soll), sondern Stein nimmt mit ihr ein zentrales Kriterium vorweg, das als Unterschied zwischen der (wie Heidegger sich ausdrückt) »Jemeinigkeit« leiblicher Regungen, also der subjektiven Gegebenheitsweise des Leibes, und der Zugangsweise einer objektivierenden Vergegenständlichung des Leibes zum Körper bis heute Gültigkeit beanspruchen kann. Da Stein sich explizit sowohl konkret damit befasst, wie der Leib und was an ihm gespürt wird, als auch die Räumlichkeit des Leibes untersucht, gelangt sie zu wichtigen Erkenntnissen, die heute von der neueren Leibphänomenologie bestätigt werden. Stein spricht aber nicht bzw. nur gelegentlich, wie später Schmitz, vom Spüren, sondern von den Empfindungen. Die Empfindung – sie erwähnt Druck-, Schmerz- oder Kälteempfindungen – ist etwas »absolut Gegebenes«; sie ist »immer ›wo‹, räumlich lokalisiert« (ebd., 46). Damit figuriert Stein den für Schmitz so bedeutenden Gedanken des Leibes als absoluten Ort vor. 15 Dieses »Wo« ist kein »leerer Ort im Raume, sondern ein raumfüllendes Etwas; und alle diese Etwasse, an denen meine Empfindungen auftreten, schließen sich zusammen zu einer Einheit, der Einheit meines Leibes«. Diese »Etwasse« sind aber auch selbst »Stellen des Leibes« (ebd.). Stein hebt also hinsichtlich der Räumlichkeit zweierlei hervor: die Einheit als das »raumfüllende Etwas« und die »Etwasse« als Stellen des Leibes. Mit kommen sollte, solange wir an unserer Fiktion festhalten, daß unser Körper sich nur in äußerer Wahrnehmung und nicht eigentümlich als Leib konstituiert.« 15 Vgl. die Diskussion von Schmitz bei Rappe, 2005, 437 ff. u. 449 ff.

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dieser Wortwahl macht sie deutlich, dass die Empfindung des Leibes etwas Diffuses an sich hat; sie ist zwar konkret vorhanden, aber nicht scharf begrenzt. Innerhalb der »einheitlichen Gegebenheit, durch die der Leib jederzeit als Ganzes für mich da ist« (ebd.), zeigen sich Unterschiede, d. h. wir empfinden am Leib »Stellen«, Regionen in unterschiedlichen Entfernungen voneinander. Schmitz prägt hierfür später den Ausdruck »Leibesinseln« oder »leibliche Zentren«. Stein macht auf die Schwierigkeiten im Umgang mit dem Empfinden von Entfernungen am eigenen Leib und in Bezug auf die Welt aufmerksam. Wenn ich z. B. sage, dass die Extremitäten weiter von mir entfernt sind als der Rumpf, so ist zu fragen, wie diese Entfernung im Verhältnis zu einem Ich zu verstehen ist. Wie kommt dieser empfundene »Abstand« vom Ich zustande, wo das Ich doch eigentlich unräumlich gedacht wird? Stein führt hier einen »Nullpunkt der Orientierung« ein, »den mein Leib umgibt«, eine Bezeichnung, die Husserl in den »Ideen II« verwendet und die in der Forschung gewöhnlich der Husserlschen Originarität zugeschrieben wird. 16 Dieser Nullpunkt ist, so Stein, »nicht exakt geometrisch an einem Ort meines Körpers zu lokalisieren, er ist außerdem nicht derselbe für alle Daten, sondern für die visuellen im Kopf, für die taktilen Daten im Zentralleib gelegen.« (ebd.) Das Ich, so Stein weiter, »hat keine Distanz vom Nullpunkt, und alles, was von diesem, ist auch von ihm entfernt gegeben«. Doch die Distanz der Teile meines Leibes von mir ist von anderer Beschaffenheit als die Distanz fremder Dinge von mir: »Der Leib als Ganzes ist am Nullpunkt der Orientierung, alle Körper außerhalb. Der ›Leibraum‹ und der ›Außenraum‹ sind völlig voneinander verschieden.« (ebd., 47) In der zweifachen Gegebenheit, als empfindender Leib und äußerlich wahrgenommener Körper, und im Erleben dieser Doppelheit füllt der Leib einen Teil des Raums. Der Leib ist also als empfindender und die Empfindungen sind ihrerseits am Leib gegeben. Stein verfolgt nur exemplarisch einzelne Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Zugangsweisen zum »äußerlich« wahrgenommenen Körper und »leibwahrgenommenem Leib« und erkennt die Notwendigkeit einer »Phänomenologie der Sinne und Sinneswahrnehmungen« (ebd., 49). Maurice Merleau-Ponty hat sich in seiner »Phénoménologie de la Perception« (1945) eingehend mit diesen Proble16

Es mag eine eigene Analyse Wert sein, diese und andere Kernstücke der Steinschen Leibphänomenologie systematisch mit Husserls Ausführungen in den »Ideen II« zu vergleichen. Ob dadurch freilich die Frage nach der Urheberschaft hinsichtlich bestimmter Begriffsbildungen zu klären ist, bleibt dahingestellt und ist für diese Arbeit ohne Belang.

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men befasst. Wichtig ist hier Steins Analyse der doppelten Gegebenheit des Leibes: »… der gesehene Leib erinnert uns nicht daran, daß er der Schauplatz mannigfacher Empfindungen sein kann, er ist auch nicht bloß ein Körper, der denselben Raum einnimmt, wie der in der Leibwahrnehmung als empfindend gegebene Leib, sondern er ist als empfindender Leib gegeben« (Stein, 1980, 49).

Auch in der Eigenbewegung des Leibes dokumentiert sich die eigentümliche Doppelheit von Körper und Leib, bei der u. U. eine »identifizierende Deckung zwischen der leiblichen und der Körperbewegung eintritt«: »Wenn ich ein Glied meines Leibes bewege, so habe ich neben dem leiblichen Gewahrwerden der Eigenbewegung eine äußere (visuelle oder taktile) Wahrnehmung der in veränderten Erscheinungen des Gliedes sich dokumentierenden Körperbewegungen. … der sich bewegende Leib wird zum bewegten Körper.« (ebd., 50)

Die Bewegung eines Körperteils wird also als gesehene und gespürte erfasst. Indem ich die Welt erschließe, mich Gegenständen nähere oder mich von ihnen entferne, verändere ich mein »Hier« in Bezug auf das »Dort« der Dinge. »Dabei nehme ich meinen Leib immer mit. Nicht nur ich, sondern auch er ist immer ›hier‹, und die verschiedenen ›Abstände‹ seiner Teile von mir sind nur Variationen innerhalb dieses Hier.« (ebd., 51)

Stein macht auf die spezifische Gebundenheit des Ich an den empfindenden Leib aufmerksam. Dass das Ich »nicht vom Leibe loskommt«, auch wenn es in der Phantasie »aus der Haut fahren kann« (ebd., 52), bedeutet zugleich, dass ein Leib ohne Ich undenkbar ist: »Meinen vom Ich verlassenen Leib phantasieren heißt nicht mehr meinen Leib, sondern einen ihm Zug um Zug gleichenden physischen Körper, meinen Leichnam phantasieren.« (ebd.) Die Vorstellung »mein Leib« ist immer an ein Ich gebunden, das den Leib empfindet und den Körper als Ding der Außenwelt wahrnimmt; denke ich den Leib ohne Ich, fällt auch die Eigenwahrnehmung als Körper fort. Dann habe ich es nur noch mit einem toten Körper zu tun, der sich von keinem anderen Ding der Außenwelt unterscheidet. Für Stein ist also von fundamentaler Bedeutung, dass der Leib empfunden wird: »Der Leib ist eben wesensmäßig durch Empfindungen konstituiert, Empfindungen sind reelle Bestandstücke des Bewußtseins und als solche dem Ich zugehörig. Wie sollte also ein Leib möglich sein, der nicht Leib eines Ich wäre?« (ebd., 52)

Hier könnte aber das Phänomen des Schlafens oder Dösens als Grenzfall der Diffundierung des Ich angeführt werden. Die Frage, ob ein »empfin35

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dendes Ich ohne Leib« denkbar wäre, hält Stein für vorläufig unbeantwortbar, da »die Empfindungen der verschiedenen Sinnesgebiete nicht in gleicher Weise am Aufbau des Leibes beteiligt sind« (ebd.) und in einer Phänomenologie der Sinne eigens evaluiert werden müssten. Entscheidend ist jedoch, dass sich mit den Empfindungen die Einheit von Ich und Leib konstituiert. Außer Acht bleibt in diesem Kontext das Phänomen des Schlafes und das Verhältnis, das im Schlaf zwischen Leib, Körper und Ich besteht. Das Schlafen gehört zu den Themen, die in der Leibphänomenologie generell wenig berücksichtigt werden. Allerdings verdeutlicht Stein den Unterschied zwischen Leib und Körper am Beispiel des eingeschlafenen Gliedes. Ein »abgestorbenes« Glied, ohne Empfindungen, sei »kein Teil meines Leibes« (ebd., 52). Ein »eingeschlafener« Fuß hängt mir »wie ein Fremdkörper an, den ich nicht abzuschütteln vermag und liegt außerhalb der räumlichen Zone meines Leibes, in die er im Moment des ›Erwachens‹ wieder einbezogen wird« (ebd.). Versuche ich das »eingeschlafene« Glied zu bewegen, so ist diese Bewegung nicht als »lebendige Eigenbewegung« gegeben, der »Fremdkörper« ist u. U. nicht einmal sofort als zu bewegender verfügbar. Die Bewegung ist eher mechanisch auf ein Objekt bezogen und wird erst allmählich wieder lebendige Leibesbewegung, oft begleitet von Kribbeln oder Stechen im »erwachenden« Glied. Der zweite Komplex der Leibtheorie betrifft den Leib und die Gefühle (§ 4b). Gefühle und die sie fundierenden Empfindungen sind für Stein untrennbar und gehen verschiedene Allianzen ein, wobei sie zwischen »sinnlichen Gefühlen« (z. B. eine wohlschmeckende Speise, ein bohrender Schmerz, ein weiches Gewand), »Gemeingefühlen« (z. B. Frische und Mattigkeit) und »Stimmungen« (z. B. Heiterkeit und Trübsinn) unterscheidet. Sinnliche Gefühle werden an einem Ort des Leibes verspürt, sie sind aber »zugleich auch in mir, sie entquellen meinem Ich« (ebd., 53). Gemeingefühle dagegen füllen nicht nur das Ich, sondern ich »spüre sie in allen Gliedern«, d. h. jede Aktivität, gleich welcher Art, wird matt, wenn ich mich matt fühle: »Mit mir ist mein Leib matt und jeder seiner Teile.« (ebd.) Als fördernder oder hemmender Einfluss auf das Ich werden Gemeingefühle immer als »herkommend vom Leibe erlebt« (ebd., 54). Davon werden schließlich die Stimmungen abgegrenzt als »›Gemeingefühle‹ nicht leiblicher Natur«. Obwohl auch hier wieder deutlich wird, dass Stein zeitgleich mit (oder sogar noch vor) Scheler an einer Abgrenzung der leiblichen Regungen von den Gefühlen arbeitet, ist das eine unglückliche Formulierung im Hinblick darauf, dass im Folgenden doch von einer wechselseitigen Wirkung zwischen Stimmungen und Leib, also zwischen 36 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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seelischen und leiblichen Gemeingefühlen, ausgegangen wird. Denn einerseits beschreibt Stein den Unterschied: »Die Heiterkeit und der Trübsinn füllen nicht den Leib, er ist nicht heiter oder betrübt wie er frisch oder matt ist«, andererseits sieht sie auch, dass beide Erlebnisarten nicht isoliert nebeneinander stehen: »vielmehr verspüre ich einen gegenseitigen ›Einfluß‹ beider« (ebd.). Stein zeigt das am Beispiel einer Erholungsreise, die in eine sonnige, anmutige Landschaft führt und an sich eine Stimmungshebung zur Folge haben müsste. Ich »fühle, wie angesichts dieser Umgebung eine heitere Stimmung sich meiner bemächtigen will, aber nicht aufzukommen vermag, weil ich mich matt und abgespannt fühle.« (ebd.) Somit liegt eine Abhängigkeit des seelischen Erlebens von Gegebenheiten des Leibes vor. Auch mit diesen Untersuchungen greift Stein auf eine Thematik vor, die später – z. B. bei Bollnow – aufgegriffen wird. Um Seele und Leib und die »psychophysische Kausalität« geht es im nächsten Kapitel (§ 4c): »Alles Psychische ist leibgebundenes Bewußtsein« (ebd., 54), innerhalb dessen sich verschiedene Erlebnisse unterscheiden lassen. Die Seele wiederum denkt Stein wie Scheler als »substanzielle Einheit«, die »auf Leib fundiert« ist und mit ihm das psychophysische Individuum bildet (ebd.). In diesem Sinne sind selbst die sogenannten »geistigen Gefühle« (z. B. Freude und Trauer), die herkömmlicherweise als unleiblich vorgestellt wurden, in Resonanz mit dem Leib. Stein hält, wie Scheler (1954, 410 ff.) und später Schmitz (1998b, 54 f.), die psychologische Definition der Gefühle als »Komplexe von Organempfindungen« (Stein, 1980, 55) für absurd. Doch geht sie (ebd.) von einer Wirkung auf den Körper und seine Funktionen aus, also von einer psychophysischen Kausalität: »Vor Freude ›steht uns das Herz still‹, es ›krampft sich zusammen vor Schmerz‹, es pocht vor banger Erwartung, und der Atem stockt uns.« Ferner erwähnt sie die Wirkung der »geistigen Gefühle« auf die Psyche: »Vor Schreck ›steht mir der Verstand still‹, d. h. ich verspüre eine lähmende Wirkung auf meine Denkakte, oder ich bin ›verwirrt‹ vor Freude, weiß nicht, was ich tue, nehme zwecklose Handlungen vor.« (ebd.)

Schließlich wirkt Physisches auch auf Psychisches: »›ein Genußobjekt‹, das mir immer wieder vorgesetzt wird«, »erregt schließlich Überdruß und Ekel« (ebd., 56). Die Klärung der spezifischen Art der jeweiligen Wirkung verweist Stein auf das Gebiet einer »exakten kausal-genetischen Psychologie« (ebd.). Im nächsten Schritt behandelt Stein das »Phänomen des Ausdrucks« (§ 4d), die Ausdruckswahrnehmung (um den von Scheler und Cassirer 37

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I Methodologisch-systematische Grundlagen

geprägten Begriff zu benutzen)17 , besonders beim Ausdruck von Gefühlen: »Ich erröte vor Scham, ich balle zornig die Faust, ich runzle ärgerlich die Stirn, ich stöhne vor Schmerz, juble vor Freude.« (ebd., 56 f.) Stein trennt strikt den Zusammenhang zwischen Gefühl und Ausdruck von dem zwischen Gefühl und physischer Begleiterscheinung. Beim Ausdruck eines Gefühls bemerke ich weder eine kausale Verknüpfung etwa von Erröten und Scham noch auch eine Gleichzeitigkeit, »sondern ich fühle, indem ich das Gefühl durchlebe, wie es in einem Ausdruck endigt oder ihn aus sich entläßt« (ebd., 57). Der Ausdruck ist also Teil des Gefühls. »Das Gefühl ist seinem reinen Wesen nach etwas nicht in sich Abgeschlossenes, es ist gleichsam mit einer Energie geladen, die zur Entladung kommen muss.« (ebd.) Die Art der Entladung ist variabel, durch kulturelle Faktoren bedingt. Mit der Theorie von der Unabgeschlossenheit der Gefühle weist Stein voraus auf Thesen von Schmitz, der – gegen den Introjektionismus gewendet – Gefühle als Atmosphären im Raum versteht. Das Gefühl verlangt nach Ausdruck; ich fühle aber nicht nur, »wie das Gefühl hineinströmt in den Ausdruck und sich in ihm ›entlädt‹, sondern ich habe diesen Ausdruck zugleich in einer Leibwahrnehmung gegeben« (ebd., 59). Beim Lächeln ist mir mit der Freude auch eine »Verzerrung meiner Lippen gegeben«, aber nicht »bewußt«, nicht im Modus der Aktualität. Die Leibwahrnehmung, wird sie in der Reflexion zugänglich, trennt die erlebte Einheit von Gefühl und Ausdruck. So kann ich »eine Verzerrung meines Mundes herbeiführen, die dem Lächeln ›zum Verwechseln‹ ähnlich, aber doch kein Lächeln ist« (ebd.). Gleiche Wahrnehmungsphänomene können verschiedene Ausdrucksphänomene bedeuten: »Ich erröte vor Zorn, vor Scham und vor Anstrengung; in allen Fällen habe ich die gleiche Wahrnehmung, daß mir ›das Blut ins Gesicht steigt‹. Aber ich erlebe denselben Vorgang einmal als Ausdruck des Zornes, einmal als Ausdruck der Scham und einmal gar nicht als Ausdruck, sondern als kausale Folge der Anstrengung.« (ebd., 60)

Stein besteht aber auf einer Korrelation zwischen Wahrnehmungs- und Ausdrucksphänomenen, denn das jeweilige Erröten wird verschieden erlebt, je nach Gefühl, sowohl in der Leibwahrnehmung, als auch in der äußeren Wahrnehmung. Neben dem Wahrnehmungsphänomen ist auch das Ausdrucksphänomen objektivierbar und damit einer willkürlichen Hervorbringung zugänglich. 17

Vgl. hierzu insbesondere Rappe, 2005, 367 ff.

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Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

»Indessen ist die einem Ausdruck gleichende Leibesveränderung doch nicht als die gleiche gegeben. Das Stirnrunzeln aus Ärger und das Stirnrunzeln, um Ärger vorzutäuschen, sind in sich deutlich zu unterscheiden, auch dann, wenn ich von der Leibwahrnehmung zur äußeren Wahrnehmung übergehe.« (ebd.)

Schließlich nimmt Stein das Verhältnis zwischen Wille und Leib in den Blick (§ 4e). Obwohl zum Willenserlebnis Gefühlskomponenten gehören, die einen leiblichen Ausdruck bedingen, hat der Wille selbst keinen Ausdruck in dem Sinne wie die Gefühle. »Aber wie das Gefühl, so ist auch der Wille nicht in sich abgeschlossen, sondern bedarf eines Sichauswirkens. Wie das Gefühl den Willensakt (oder einen anderen möglichen ›Ausdruck‹ im weiteren Sinne) aus sich entläßt oder motiviert, so äußert sich der Wille in der Handlung.« (ebd., 61)

Handeln ist schöpferische Tätigkeit, das »Schaffen eines Nichtvorhandenen«. Wie das Gefühl den Willen benutzt, um seinen Ausdruck zu realisieren, so bedient sich der Wille auch des »psychophysischen Mechanismus«, um sich zu erfüllen. Gleichzeitig wird die »Herrschaft über den Mechanismus – mindestens das ›Einschalten der Maschine‹ – erlebt« (ebd.), wobei Stein auf die traditionelle Maschinen-Metapher zurückgreift. Diese Herrschaft ist aber nicht absolut und erfährt gleichwohl »Gehorsamsverweigerung« (ebd., 62), sowohl von der Seele als auch vom Leibe her. Eine leiblich ergreifende Müdigkeit kann z. B. den Willensakt hemmen; ein durchgreifender Wille kann sie jedoch überwinden. 18 In den Erörterungen zum psychophysischen Individuum, die zur Kernfrage der Abhandlung, diejenige nach der Einfühlung, führen bzw. diese methodisch vorbereiten, spielt der Leib die zentrale Rolle. Das psychophysische Individuum als Ganzes »ist Glied im Zusammenhang der Natur« (ebd., 63). Zusammenfassend schreibt Stein (ebd.): »Der Leib ist gegenüber dem Körper dadurch charakterisiert, daß er Träger von Empfindungsfeldern ist, sich im Nullpunkt der Orientierung der räumlichen Welt befindet, selbst frei beweglich und aus beweglichen Organen aufgebaut, Feld des Ausdrucks der Erlebnisse des ihm zugehörigen Ich und Instrument seines Willens ist.«

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Stein (1980, 63) unterscheidet noch das Streben vom Wollen. Gemeinsam ist beiden, dass sie sich der psychophysischen Kausalität bedienen, »doch nur vom wollenden Ich kann man sagen, daß es Herr des Leibes ist«. Das scheint dem vorher über die Herrschaft des Willens und die Gehorsamsverweigerung Gesagten vordergründig zu widersprechen, trifft für den extremen Willensakt der Selbsttötung aber zu.

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I Methodologisch-systematische Grundlagen

Die doppelte Gegebenheit als »leibwahrgenommener« Leib und als Körper der Außenwelt verfolgt Stein schließlich am fremden Leib. Dieser ist mir durch »einfühlende Vergegenwärtigung« (ebd., 64) gegeben, also nicht nur als gesehener Körper qua Ding der Außenwelt, sondern auch als Leib und d. h. als Träger von »Empfindungsfeldern«. »Empfindungsfelder« – ein Begriff, der den der »Atmosphären« von Schmitz vorzeichnet – lassen sich nicht mit den Sinnen wahrnehmen, aber in ihrer Präsenz erfühlen. Das fremde Individuum ist mir also durch Einfühlung gegeben. Stein führt aus (ebd., 65): »Die Möglichkeit der Empfindungseinfühlung (›Einempfindung‹ müßte man präzis sagen) ist gewährleistet durch die Auffassung des eignen Leibes als Körpers und des eignen Körpers als Leibes, vermöge der Verschmelzung von äußerer und Leibwahrnehmung«.

Stein weist bei der analytischen Unterscheidung zwischen Körper und Leib wiederholt auf die unabdingbare Verschränkung beider in der Erfahrung hin. Methodisch entfaltet sie eine Theorie der Einfühlung, die mit Rekurs auf den »Nullpunkt der Orientierung« den fremden Leib als »Orientierungszentrum der räumlichen Welt« (ebd., 69 ff.) begreift. Indem ich den Anderen nicht nur als Körper wahrnehme, sondern zugleich als Leib, »gewinne ich« »einen neuen Nullpunkt der Orientierung« (ebd., 69). Den Unterschied zwischen wahrgenommener und gefühlter Kausalität verdeutlicht Stein an einem trivialen Beispiel: Es ist etwas anderes, einen Nagel in die Wand zu schlagen oder eine Nadel in die Hand zu stechen. »Die Hand empfindet Schmerz, wenn sie gestochen wird« (ebd., 80). Wir sehen beide Vorgänge in ähnlicher Weise, aber am Anderen »sehen« wir die Wirkung (Schmerz), »weil wir die Hand als empfindende sehen, weil wir uns einfühlend in sie hineinversetzen« (ebd.). In diesem Sinn erfahren wir »interpsychische Kausalität« nicht durch Wahrnehmung des Körperdings, sondern grundlegend durch Einfühlung, was Stein u. a. auf den Prozess der »Gefühlsansteckung« (ebd., 81) bezieht, womit sie – mit Blick auf den Leib als »Nullpunkt der Orientierung« – Phänomene expliziert, die Schmitz später unter dem Topos der Gefühle als Atmosphären beschreibt. Stein hat wie Scheler, aber mit stärkerem Bezug zum Leib, das Empfinden in der Einfühlungstheorie rehabilitiert und sich gegen eine reduktionistische Deutung menschlicher Verstehensprozesse gewandt. Einfühlung als »Fundament intersubjektiver Erfahrung« ist nach Stein »Bedingung der Möglichkeit einer Erkenntnis der existierenden Außenwelt« (ebd., 72). Die Explikation der Einfühlungsakte kann hier ebenso wenig verfolgt werden wie ein allgemeiner Vergleich zwischen Scheler und Stein sowie der 40 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

Leibphänomenologie Steins und den Analysen zum Leib in Husserls »Ideen II«. In der »Krisis«-Schrift (1935) lässt Husserl gegenüber den publizierten »Ideen« ein dezidiertes Verständnis des Begriffsfeldes ›Leib‹ und der Doppelheit bzw. Verschmelzung von Körper und Leib erkennen. So sei die »Sinnlichkeit, das ich-tätige Fungieren des Leibes bzw. der Leibesorgane, zu aller Körpererfahrung grundwesentlich zugehörig« (Husserl, 1992b, 109). Sie vollziehe sich »bewußtseinsmäßig nicht als bloßer Verlauf von Körpererscheinungen, als ob diese in sich, durch sich allein und ihre Verschmelzungen, Erscheinungen von Körpern wären«. Es gebe keine reine, isolierte Körpererfahrung; sie müsse vielmehr in eins gedacht werden mit einer »kinästhetisch fungierenden Leiblichkeit«. Der Leib ist »in ganz einziger Weise ständig im Wahrnehmungsfeld«; er ist das, »wobei ich als Ich der Affektion und Aktionen in ganz einziger Weise und ganz unmittelbar bin, als worin ich ganz unmittelbar kinästhetisch walte« (ebd.). Mit der Akzentuierung der Unmittelbarkeit rekurriert Husserl auf das, was ich als meinen Körper wahrnehme, was mein Körper für mich ist – ein Gedanke, den später auch Sartre (1989, 398) formuliert, wenn er vom Sein meines Körpers für-mich spricht. Körper und Leib sind für Husserl (1992b, 109) wie schon für Stein »rein wahrnehmungsmäßig« unterschieden, »Leib nämlich als der einzig wirklich wahrnehmungsmäßige Leib, mein Leib«. Mit dem ›Kinästhetischen‹ greift Husserl die vielfältigen Aspekte subjektiver Wahrnehmung auf. Das Wort »leiblich« besage nicht »bloß ›körperlich‹«, sondern verweise auf »jenes Kinästhetische und in dieser eigenen Weise ichliche Fungieren«, zu dem neben Sehen, Hören etc. noch andere »ichliche Modi« gehören (ebd., 110). Aber »leibliche Ichlichkeit ist selbstverständlich nicht die einzige, und jede ihrer Weisen ist von jeder anderen nicht abzutrennen; sie bilden bei allem Wandel eine Einheit.« So seien »wir konkret leiblich, aber nicht nur leiblich, als volle Ich-Subjekte, je als das volle Ich-der-Mensch im Wahrnehmungsfeld u. s. w., und, wie weit immer gefaßt, im Bewußtseinsfeld.« (ebd.) In Husserls Spätphilosophie geht es um die »unausgesprochene ›Voraussetzung‹ Kants: die selbstverständlich geltende Lebensumwelt« (ebd., 105), die auch als das Leibliche selbst gedeutet werden kann, denn, wie immer uns »Welt als universaler Horizont« bewusst sei, »wir, je Ich der Mensch und wir miteinander, gehören als miteinander in der Welt Lebende eben zur Welt« und »sind ständig aktiv auf dem Grunde der passiven Welthabe« (ebd., 110). Immerzu ist »Welt in irgendeinem Objektgehalt im Wandel der verschiedenen Weisen (anschaulich, unanschaulich, bestimmt, unbestimmt usw.) bewußt«, es besteht immer ein »Gesamtbereich der Affektion« und dazu gehören wir selbst mit unserer Leiblichkeit, als 41 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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Wahrnehmende unseres Leibes, »die wir immerzu unweigerlich zum affektiven Bereich gehören, immerzu fungierend als Akt-Subjekte, aber nur gelegentlich thematisch gegenständlich als Gegenstand der Beschäftigung mit uns selbst« (ebd., 111). Für Husserls Nachweis einer vorgängigen Lebenswelt ist bedeutsam, dass bei der Aufdeckung der »selbstverständlichsten Selbstverständlichkeiten«, der »Seinsgeltungen« und »beständige[n] Voraussetzungen des wissenschaftlichen und zuhöchst philosophischen Denkens« (ebd., 112) das Leibliche eine Rolle spielt. In der »passiven Welthabe« könnte der Leib verstanden werden als die Welt, die wir als Leib auch selbst sind. Die Reihe früher Leibkonzeptionen ist hinsichtlich ihrer Bedeutung für spätere Rezeptionen mit Helmuth Plessner abzuschliessen, der mit seinem 1928 publizierten Werk »Die Stufen des Organischen und der Mensch« einen weiteren wesentlichen Beitrag zur Beschäftigung mit dem Leib leistet. Plessners Lehre von der »exzentrischen Positionalität« wird bis heute vielfach aufgegriffen und nutzt ebenfalls die Bedeutungsnuancen der Begriffe Leib und Körper. Der Leib ist »nicht dasselbe wie der Körper, mit dem er doch objektiv identisch ist« (Plessner, 1965, 35). Als »lebendige Realität« geht er über das hinaus, was am Körper erfasst, empfunden und bewusst wird. 19 Plessners Lehre, eine »Philosophie des Lebens im nüchternen, konkreten Sinne des Wortes« (ebd., 37), will das cartesianische Alternativprinzip im Interesse einer »Wissenschaft vom Leben« revidieren. Dieser als »geisteswissenschaftliche Biologie« verortete Ansatz unterscheidet sich grundlegend von der phänomenologischen Erfassung des Leibes. 20

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Dies zeige sich in der Art, wie wir den Leib beherrschen: »Gehen, Heben, Setzen, Aufstehen, Liegen sind lebendige Verhaltensweisen«, »die in der lebendigen Position des Individuums aber einen besonderen Aspekt bedingen, auf den es sehr wesentlich immer Rücksicht zu nehmen hat, der also in Wesenskorrelation zur Person bzw. zum Lebewesen als einem Lebendigen steht.« (Plessner, 1965, 36). 20 Plessner versuche, so Böhme (2003, 27), die Organismen »unter Berücksichtigung des naturwissenschaftlichen Wissens« zu verstehen, »indem er sie in ihren charakteristischen Merkmalen logisch rekonstruiert«. Die »Exzentrizität« habe auch »nur indirekt mit der Differenz von Leib und Körper« (ebd., 28) zu tun, und die Weisen des Seins und Habens werden von ihm auch in anderen Relationen zu Körper und Leib verwendet, als dies in der Formel vom Körperhaben und Leibsein deutlich wird. Dennoch könne man »mit der Pseudo-Plessnerschen Unterscheidung« weiterarbeiten, wenn man Körper-Haben als eine »Vermittlung körperlicher Erfahrung durch den Blick des anderen« verstehe, und zwar als »durch Sozialisation und Alltagspraxis tief ins eigene Selbstverständnis eingelassen, sodass dieses Körper-Haben als das Natürlichste und Selbstverständlichste erscheint« (ebd., 29).

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Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

1.2.2 Zur Theorie der geschlechtlichen Differenzierung Fragt man nun, ob das Thema »Geschlecht« bei Scheler, Husserl und Plessner eine Rolle spielt, muss diese Frage pauschal verneint werden. Es fehlt aber nicht an Versuchen, z. B. Husserls Werk für die Frage nach dem Geschlecht anschlussfähig zu machen. So könnte mit Hans Reiner Sepp (1997, 47) gefragt werden, ob Geschlechterdifferenz »nicht ein Thema in, sondern für Husserls Phänomenologie ist«. Es ließe sich etwa mit Husserl erörtern, »inwiefern Weibliches und Männliches die Konstitution von Normalitäts- und Anomalitätsstrukturen betrifft« (ebd., 48), oder wie in seinem Zugang zur Genesis der Konstitution des generativen Zusammenhangs die universale »Triebintentionalität« (Hua XV, 595) zu verstehen ist, von der Husserl behauptet, sie könne »nur als geschlechtlicher Mensch«, »in aktueller Einfühlung, von Mann zu Weib« (ebd., 594) ausgelegt werden. Doch wenn ihn z. B. an der »Intentionalität der Kopulation« (ebd., 596) nur interessiert, inwiefern »im Zeugungsakt bezüglich des neuentstehenden Lebens modifizierte Prozesse der Selbstzeitigung in Gang gebracht werden« (Sepp, 1997, 49), so kommen weiterführende Auslegungen – wie Sepp richtig bemerkt – nicht zum Tragen, da Husserls Analysen auf die Differenz zwischen mundanem und transzendentalem Sein gerichtet sind. Seine Arbeiten zum Leib als subjektivem Körper dienen zwar für die Frage nach dem Geschlecht als Wegweiser (vgl. Fisher, 1997, 2000; Heinämaa 2003), und Husserl (1992b, 192) führt »das Problem der Geschlechter« als Thema künftiger Studien an (vgl. Heinämaa 2003, 21), doch sollten diese Erwähnungen nicht überinterpretiert werden, denn nach Husserl kann die Phänomenologie auf jedes Problemfeld angewendet werden. 21 Und konkret findet sich – bis heute – in der Phänomenologie wenig zum Thema »Geschlecht«. Edith Stein hat aber eine solche Anwendung für die Geschlechterfrage vorgenommen, ohne freilich eine Philosophie der Geschlechter systematisch auszuarbeiten. 22 Ihre Vorträge und Beiträge zur Frauen- und Geschlechterfrage entstanden zwischen 1928 und 1933 meist auf Anfrage und sind, da sie eine pointierte Vorzeichnung unter Berücksichtigung katholischer Weltanschauung verlangten, nicht durchgehend philosophisch, sondern werden u. a. von theologischen und pädagogischen Standpunkten 21

So schreibt Husserl (1992b, 192), »daß es kein erdenkliches sinnvolles Problem der bisherigen Philosophie und kein erdenkliches Seinsproblem gibt, das nicht die transzendentale Phänomenologie auf ihrem Weg einmal erreichen müßte.« 22 Vgl. zu diesem Thema als Einzeldarstellung Gahlings, 2004.

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aus entwickelt. In einer eigentümlichen Mischung aus Konventionalismus, »sogar fromm-betuliche[n] Sicht- und Sprechweisen« und »scharf belichteten Problemanalysen und – jedenfalls für den kirchlich-katholischen Bereich – mutigen, unzweideutigen Stellungnahmen« (Wimmer, 1995, 208) zeigt sich ein Ansatz, der sowohl differenztheoretisch verfährt als auch mit der Idee der Individualität und einer gendertheoretischen Perspektive das Differenzdenken überschreitet. Stein tritt gegen das Konstrukt von der Minderwertigkeit der Frau für die Gleichberechtigung ein, ohne die ›weibliche‹ Eigenart preiszugeben, ja mit dem Ziel, sie für das gesellschaftliche Miteinander aufzuwerten. Diese Position, die sich bei ihr aus einem dezidierten Verständnis der Leiblichkeit ergibt, wird bis heute in der feministischen Theorie vertreten. Systematisch lassen sich die recht heterogenen Texte auf drei Themen zurückführen: Kritische Diagnose der Geschlechter-Realitäten, Theorie der geschlechtlichen Differenzierung/Geschlechter-Typologie sowie Geschlechter-Ethik. Für unseren Zusammenhang ist vor allem das zweite Thema von Belang. Aber auch Steins kritische Untersuchung der Geschlechter-Realitäten dürfte in der Art ihrer Dokumentation nicht nur von historischem Interesse sein. Als Stein in ihrer Vorlesung »Probleme der neueren Mädchenbildung« (1932) die gegenwärtige Lage der Frau in den Blick nimmt, problematisiert sie die Rede über die Frau und die Verallgemeinerbarkeit ihrer Lage. Bei der Frau handele es sich um eine »so große Mannigfaltigkeit von Typen und Individuen, daß von einer ihnen allen gemeinsamen Lage schwerlich gesprochen werden kann« (Stein, 2000, 129). Die Situation der Frau sei abhängig von Faktoren wie Generation, Stand und Weltanschauung, womit Stein die soziale Komponente der Geschlechterprägung im Blick hat, wie sie in der feministischen Theorie seit den 1970er Jahren unter dem Begriffspaar Sex (biologisches Geschlecht) und Gender (soziales Geschlecht) thematisiert wird. Vorbehaltlich der – später vorgenommenen – Klärung der Frage, was die Frau ist und ob es eine Spezies Frau gibt, zieht Stein dennoch Bilanz zur Lage der Frau. Dabei rekurriert sie sowohl auf vorherrschende Zeiterscheinungen in der Kultur als auch konkret auf die von der Frauenbewegung hervorgebrachten Veränderungen und nimmt eine Analyse der mit ihnen verbundenen Probleme vor. So habe die »Frauen-Revolution« die Erfüllung »nahezu aller radikalen Forderungen« gebracht, ohne dass »eine ausreichende Vorarbeit geleistet war« (ebd., 133). Diese »Kinderkrankheit« »in den Anfängen einer großen Kulturumwälzung« zeige, »daß wir tatsächlich auf die Natur des Mannes und der Frau zurückgehen müssen, um die 44 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

ihrer Eigenart entsprechende Berufsbildung und Berufsformung und -verteilung anzubahnen und so allmählich zur naturgemäßen Eingliederung der Geschlechter in das soziale Ganze zu gelangen« (ebd.). Stein stellt also fest, dass eine Integration der Geschlechter in das soziale Ganze noch nicht erreicht ist. Mit den gleichwohl sichtbaren Veränderungen habe sich jedoch die öffentliche Meinung über die Frau nur schleppend gewandelt. Die öffentliche Meinung, das ist eine »große Menge von Gedankenlosen« (ebd., 136) mit verschiedenen Typen: der völlig Gedankenlose, der sich gar kein Bild über die Frau und ihre Leistungen mache, der Romantiker, dessen Frauenideal »in zarten Farben auf Goldgrund gemalt ist« (ebd.), der Biologist, gemeint ist der Nationalsozialist, der die Frau auf ihre Gebärfähigkeit reduziert, und der Kommunist, der unter dem Deckmantel der Gleichberechtigung in der Frau nur »den wirtschaftlichen Faktor und den Machtfaktor im Klassenkampf« (ebd., 137) sieht. Die öffentliche Meinung werde aber auch von Männern und Frauen repräsentiert, die »ernstlich bemüht sind, Eigenart und Eigenwert der Frau zu ergründen« (ebd.), wobei Stein zwei Positionen herausarbeitet, die gesellschaftstheoretische, die Geschlechter-Divergenzen als historisch gewachsen auffasst, und die differenztheoretische, die an der Verschiedenheit der Geschlechter qua Natur festhält. Für die letzte Position macht sie geltend, dass sich die Rede von der Minderwertigkeit der Frau gewandelt habe. Für Stein spiegelt sich das historisch gewachsene Konglomerat von Geschlechter-Realitäten in eklatanter Weise im Bildungswesen, auf dessen Verbesserung schon die zentralen Forderungen der frühen Frauenbewegungen zielten. Sie tritt für eine Reform der Mädchen- und Frauenbildung ein, würdigt die Verdienste der Frauenbewegung und reflektiert die Voraussetzungen einer geschlechterspezifischen Pädagogik. Hier stößt sie auf grundlegende Fragen, denn beim Thema der Mädchen- bzw. Frauenbildung steht die Besinnung auf die »Natur der Frau« und die Bedeutung der geschlechtlichen Differenzierung im Vordergrund. Scharf kritisiert Stein den Mangel an ernsthafter Bearbeitung der Geschlechterfrage in den »Lösungsversuchen« ihrer Zeit: »es gibt vielleicht wenige Gebiete, über die mit so viel naivem Selbstvertrauen und so unbesorgt um die Methode geredet und geschrieben worden ist, wie dieses.« (ebd., 142) Die Erörterungen erfolgten »nicht auf einer wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisgrundlage«, »sondern aus einer traditionellen oder gefühlsmäßig oder durch willkürliche gedankliche Konstruktion bestimmten Stellungnahme« (ebd., 143) und seien durch weltanschauliche und wirtschaftliche Gesichtspunkte beeinflusst. Eine »ernsthafte, wissenschaft45 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

I Methodologisch-systematische Grundlagen

liche Bearbeitung« stehe, wie Stein richtig konstatiert, noch in den »ersten Anfängen«. Dem Dilettantismus und den hegemonialen Strukturen, die den Geschlechterauffassungen anhaften, tritt sie mit einer Theorie der geschlechtlichen Differenzierung entgegen, in der sie deutlich macht, »daß die Frage nach der Species Frau die Prinzipienfrage aller Frauenfragen ist« (ebd., 152). Damit zielt Stein ins Zentrum der bis heute diskutierten Topoi feministischer Theorie: Setzt man eine Spezies Frau (und Mann) voraus, vermag kein äußerer und innerer Einfluss daran etwas zu ändern; diese Position wird in der feministischen Theorie als biologischer oder essenzieller Determinismus bezeichnet, oder in der Sprache der Sex–GenderDichotomie: Aus dem biologischen Geschlecht folgt zwingend eine unabänderliche Geschlechtsidentität. Gibt es keine solche Spezies, sind Mann und Frau also Typen, »dann ist unter gewissen Bedingungen die Überführung des einen Typus in den anderen möglich« (ebd.). Das ist in dieser radikalen Wendung die Vorwegnahme des poststrukturalistischen Feminismus, wie er von Judith Butler in Umkehrung des biologischen Determinismus in einen ›sozialkonstruktivistischen‹ formuliert wird. In diesem Fall ist die geschlechtliche Differenzierung so zu denken, dass die Geschlechtsidentität (gender) das Geschlecht (sex) bestimmt. Für »so absurd« hält Stein eine solche Theorie nicht; selbst »gegen die Unaufhebbarkeit der körperlichen Unterschiede« ließen sich »gewisse Tatsachen, Zwitter- und Übergangsformen« (ebd.) anführen. Überlegungen dieser Art werden heute, u. a. gestützt von Erkenntnissen aus der Biologie, durch das In-FrageStellen des Zweigeschlechtermodells weitergeführt. Stein fordert einen vielschichtigen methodischen Zugriff auf die geschlechtliche Differenzierung und führt die Prinzipien dieser Problematik auf die Themen der formalen Ontologie zurück, etwa im Sinne von Aristoteles’ Erster Philosophie, die das Verhältnis zwischen Genus, Spezies, Typus und Individuum zu klären versucht. Logischer Ort einer Erörterung über das Wesen von Mann und Frau sei die philosophische Anthropologie: »Zur Lehre vom Menschen gehört die Klärung des Sinnes der geschlechtlichen Differenzierung, die Herausstellung des Inhaltes der Species, ferner die Stellung der Species im Aufbau des menschlichen Individuums, des Verhältnisses der Typen zu Species und Individuum und der Bedingungen der Typenbildungen.« (ebd., 152)

Indem Stein im Folgenden vier Methoden analysiert, weist sie auf interdisziplinäre Forschungsansätze voraus, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem wichtigen Instrument für die Untersuchung der Kategorie Geschlecht geworden sind. 46

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Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

Die erste, naturwissenschaftliche, speziell elementar-psychologische Methode umfasst Anatomie und Physiologie (Bau und Funktion des Körpers) sowie Elementarpsychologie (Sinneswahrnehmung, Lernfähigkeit, Gedächtnis, Begabung etc.). Diesen Methoden sei gemeinsam, dass sie »den Unterschied der Geschlechter als allgemeine Erfahrungstatsache« voraussetzen und exakt feststellen möchten, »worin er im einzelnen besteht« (ebd., 153). Ergebnis ist die Kennzeichnung einer Reihe von Merkmalen in ihrem durchschnittlichen Auftreten. Die Naturwissenschaften geben aber, so Steins Kritik, keinen Aufschluss über das »Gesamtbild der Eigenart« und darüber, »ob die Eigenart als variabler Typus oder als feste Species anzusehen ist.« (ebd., 154) Die zweite, geisteswissenschaftliche, speziell individual-psychologische Methode sieht psychische Tatsachen in einem gewachsenen Zusammenhang und ist angewiesen auf Erfahrungsbeschreibungen aus dem persönlichen Leben, der pädagogischen und psychiatrischen Praxis, der Tagebuchund Memoirenliteratur etc. Doch auch diese Methode stößt auf »den weiblichen Typus bzw. auf eine Mannigfaltigkeit weiblicher Typen«, da sie nicht beim Individuum stehen bleibt. 23 Sie entgehe aber der Gefahr, die von ihr eruierten Typen 24 in einem starren Kontext zu betrachten und schärfe den Blick für ihre Mannigfaltigkeit und Wandelbarkeit. Mit ihrer Ausrichtung auf die »Seele im Zusammenhang der leib-seelischen Einheit« sowie auf die Person in ihrem »Sein in der Welt« (ebd., 155) sei die Individualpsychologie offen für anthropologische, soziologische und kosmologische Aspekte. Ihre Grenze erreiche sie aber mit der Annahme eines »irrationalen Restbestand[s]«, der sich als unbeeinflussbar erweise. Dann würde wieder eine Spezies Frau vorausgesetzt. Die empirische Psychologie könne, wie jede andere positive Wissenschaft, nur sagen, »daß ein Ding unter den und den Umständen so und so beschaffen ist und sich so und so verhält, ev. verhalten muss« (ebd.). Die dritte, philosophische Methode setzt dort ein, wo positive Wissenschaften aufhören, bei der Analyse des »X einer unerkennbaren ›natürli23

Stein (2000, 154 f.) gibt drei Gründe dafür an: »1. weil jede Beschreibung mit Typenbegriffen arbeiten muss; die Individualität als solche läßt sich begrifflich gar nicht fassen; 2. weil an dem Material sehr bald bestimmte Typen zur Abhebung kamen: der Strukturzusammenhang ist weder ein schlechthin allgemeiner, bei allen Menschen ohne jede Differenzierung gleicher, noch ein schlechthin individueller, bei jedem einzelnen einzigartiger ohne Gemeinsamkeit mit anderen; 3. weil die Typen als Stützpunkte für Methoden der Beeinflussung in Erziehung und Heilbehandlung praktisch wichtig sind.« 24 Stein beruft sich beispielsweise auf Else Croners Typenlehre vom mütterlichen, erotischen, romantischen, nüchternen und intellektuellen Frauentypus.

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I Methodologisch-systematische Grundlagen

chen Anlage‹« (ebd., 156). Das von Stein favorisierte Verfahren ist die Phänomenologie. Unter Intuition bzw. Wesensschau versteht sie »die Erkenntnisleistung, die an konkreten Gegenständen ihre allgemeine Struktur zur Abhebung bringt«. 25 Erst mit dieser Methode sei sinnvoll über Wesen oder Spezies der Frau zu reden. Jeder kenne Frauen und glaube zu wissen, was eine Frau sei. Der berechtigte Anspruch, dass in der alltäglichen Erfahrung etwas Allgemeines miterfasst werden kann, berge aber ohne methodische Absicherung Irrtümer. Der Philosophie erwachse die Aufgabe, »diese allgemeine Erkenntnisfunktion, die in der Erfahrung wirksam ist, zur Abhebung zu bringen, so systematisch zu schulen und dadurch zum Rang einer wissenschaftlichen Methode zu erheben« (ebd., 157). Mit der Ontologie als Lehre vom Sein und Seienden führt Stein die analogia entis ein. In den Stufenformen des Seins nimmt der Mensch »eine eigentümliche Stellung« ein, weil »in seinem Wesensbau alle niederen Stufen enthalten sind«: »Sein Leib ist ein materieller Körper, aber nicht nur das, sondern zugleich ein Organismus, der von innen her geformt wird und tätig ist; und wiederum ist der Mensch nicht nur Organismus, sondern ein beseeltes Lebewesen, das in eigentümlicher Weise – empfindungsmäßig – für sich selbst und seine Umwelt aufgeschlossen ist; und schließlich ein geistiges Wesen, das für sich selbst und für anderes erkenntnismäßig aufgeschlossen und sich selbst und anderes freitätig gestalten kann.« (ebd., 161)

Zur Spezies gehöre, dass der Mensch eine »unwiederholbare Eigenart« habe, die Individualität. Die Differenzierung in eine Vielheit von Individuen werde aber »durchschnitten von einer anderen, einfachen: der geschlechtlichen Differenzierung« (ebd.). Gegenüber der Lehre von der »Seinsrhythmik« bei Thoma Angelica Walter (1932) 26 , die eine geschlechtliche Differenzierung auf allen Seinsstufen verfolgt, erhebt Stein (2000, 162) allerdings »Bedenken«. Ihre Kritik richtet sich auf eine solche geschlechtsspezifische Zuschreibungspraxis, in der z. B. die »Daseinskomponente« »als die weibliche, die Soseinskomponente als die männliche« gefasst wird. Sie schreibt: »Erst auf Grund einer sauberen Analyse der ganzen ontischen Struktur des geschaffenen Seienden halte ich das Problem für lösbar, ob ›männlich‹ und ›weiblich‹ wirklich nur als ›Seinsrhythmen‹ zu fassen sind oder ob nicht ein Unterschied der substanzialen Form dem verschiedenen Seinsrhythmus zu Grunde liegt.« (ebd. 162 f.) 25

Eine so verstandene Intuition liegt nahe am traditionellen Begriff der Abstraktion, und Stein behauptet selbst, eine phänomenologische Untersuchung würde zeigen, dass es keinen Sinn habe, darüber zu streiten. 26 Zur Kritik und Würdigung des Werks s. Stein, 2000, 157 f. u. 162.

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Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

Für die anthropologische Bestimmung der Geschlechterdifferenz ist zu fragen: »Ist der Unterschied von Mann und Frau so zu fassen, daß wirklich die gesamte Struktur des Menschen als solchen durch die geschlechtliche Differenzierung geschnitten wird oder betrifft die Differenzierung nur den Leib und diejenigen seelischen Funktionen, die notwendig an leibliche Organe gebunden sind, und kann der Geist als davon frei angesehen werden …?« (ebd., 163) 27

Unter Berufung auf die »genetischen Probleme« argumentiert Stein gegen einen essenzialistischen Determinismus: Der Mensch sei als Spezies nicht von Anfang an »fertig ausgewirkt«, sondern entfalte sich fortschreitend. Da dieser Prozess niemals eindeutig festgelegt ist und u. a. von der Bildungsfähigkeit und Freiheit des Menschen abhängt, ist hier die »Möglichkeit einer Mannigfaltigkeit von Typen begründet«, »in denen die Species unter wechselnden Bedingungen sich ausprägen kann«. Ferner überliefere sich die Spezies in einer Folge von Generationen und wandele sich »in mannigfaltigen Typen im Fortgang des geschichtlichen Werdens« ab. Die Philosophie habe sich zwar nicht konkret mit solchen Wandlungen zu befassen, aber mit der Frage, »welche prinzipiell möglich sind« (ebd.). Mit der genetischen Perspektive will Stein eindimensionale Geschlechtermodelle überschreiten. Wenn sie aber als letzte Methode noch die theologische anführt, die im Verweisungskontext der »göttlichen Offenbarung« (ebd., 164) 28 Fragen beantworten könne, die von der Philosophie offen gelassen werden müssten, so begibt sie sich auf ein fragwürdiges interdisziplinäres Terrain. 29 Divergenzen zwischen der philosophischen und der 27

Anhand dieser Fragen diskutiert Stein (2000, 163) u. a. die Alternative von geschlechtsspezifischer Bildung und Koedukation: Würde man die letzte Frage zustimmend beantworten, »dürfte Geistesbildung weitgehend ohne Rücksicht auf Geschlechtsunterschiede angestrebt werden«, im Falle der Verneinung »müsste die Bildungsarbeit der spezifischen Struktur des Geistes Rechnung tragen«. 28 Stein hat u. a. in ihrer Studie »Beruf des Mannes und der Frau nach Natur- und Gnadenordnung« (2000, 56–78) Analysen zur Geschlechterproblematik in theologischer Deutung vorgenommen und die Spielarten des Egalitäts- und Differenzdenkens betont. Wenn der Schöpfungsbericht z. B. erklärt, Gott habe den Menschen nach seinem Bild geschaffen und ihn als Mann und Weib erschaffen, so sei damit »die Tatsache der Einheit und die Tatsache der Differenzierung ausgesprochen« (Stein, 2000, 164). 29 Stein (2000, 165) meint, Philosophie und Theologie könnten einander ergänzen: »Die Glaubenstatsachen stellen den philosophierenden Verstand vor die Aufgabe, sie – so weit möglich – begreiflich zu machen. Andererseits schützen sie ihn vor Irrtum und beantworten gewisse Tatsachenfragen, die er offen lassen muss.« Vor dem Hintergrund der Koalitions- und Distanzierungsbemühungen im disziplinären Selbstverständnis von Philosophie und Theologie ist ein solcher Verweisungszusammenhang allerdings problematisch.

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theologischen Methode führt Stein auf ontologische Probleme zurück. So müsse z. B. das Wesen der Frau, das die Philosophie erforscht, nicht zwingend mit der Natur der Frau, die von der Theologie beschrieben wird, identisch sein. ›Natura‹ und ›essentia‹ könnten, obwohl vielfach – wie z. B. bei Thomas von Aquin – synonym gebraucht, als verschiedene Zugriffe auf das Was-Sein eines Dings gedeutet werden. In diesem Sinne würde ›Natur‹ auf das verweisen, was dem Ding qua Schöpfungsakt mitgegeben ist, »als was es ins Dasein gesetzt und womit es zu wirken bestimmt ist« und ›Wesen‹ würde demgegenüber bezeichnen, was »es eigentlich und notwendig ist«, frei von »allen äußeren Beschaffenheiten, Verhaltungs- und Erscheinungsweisen, die von den zufälligen äußeren Bedingungen seines Daseins abhängen« (ebd., 160). Die philosophische Wesenserkenntnis käme »über das, was und wie das Ding tatsächlich gegenwärtig ist«, zu der Bestimmung dessen, »was notwendig zu seinem Aufbau gehört«. Also »könnte die Natur der Frau, wie sie ihrer Bestimmung angemessen ist, Abwandlungen zulassen, ohne daß das Wesen der Frau dadurch aufgehoben würde.« (ebd.) Das Wesen der Frau ließe sich als allgemeine Größe qua Notwendigkeit und Eigentlichkeit, die ›Natur‹ der Frau dagegen als variabel darstellen. Diese Diskussion um Wesen und Natur der Geschlechter, ergänzt durch die Erkenntnisse von Naturwissenschaft und Psychologie, lässt Stein zu dem Ergebnis kommen, »dass die Species Mensch sich als Doppelspecies Mann und Frau entfaltet«, dass also »das Wesen des Menschen« »auf zweifache Weise zur Ausprägung kommt« und »daß der ganze Wesensbau die spezifische Prägung zeigt«: »Es ist nicht nur der Körper verschieden gebaut, es sind nicht nur einzelne physiologische Funktionen verschieden, sondern das ganze Leibesleben ist ein anderes, das Verhältnis von Seele und Leib ist ein anderes und innerhalb des Seelischen das Verhältnis von Geist und Sinnlichkeit, ebenso das Verhältnis der geistigen Kräfte zueinander.« (ebd., 167)

Der weiblichen Spezies entspreche »Einheit und Geschlossenheit der gesamten leiblich-seelischen Persönlichkeit, harmonische Entfaltung der Kräfte«, der männlichen Spezies dagegen »Steigerung einzelner Kräfte zu Höchstleistungen« (ebd.). Die Eigenart von Mann und Frau komme aber, so relativiert Stein ihren heute als problematisch geltenden Essenzialismus, in den Individuen zu verschiedener Ausprägung. Individuen sind »mehr oder minder vollkommene Realisierung der Species« und »sie prägen jeweils den einen oder den andern Zug stärker aus« (ebd., 168). Frauen könnten »starke Annäherung an die männliche Art zeigen und 50

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Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

umgekehrt.« Was für die Spezies gilt, muss nicht für das Individuum gelten. 30 Eine Typologie der Geschlechter extrahiert Stein aus der Erfahrung: Hier sei die männliche »sachliche« im Unterschied zur weiblichen »persönlichen« Einstellung offensichtlich. Dem Mann sei es natürlich, »einem Sachgebiet« »seine Kräfte zu widmen und sich dabei den Gesetzen dieser Sache zu unterwerfen«, wodurch er »leicht eine einseitige Entwicklung« (ebd., 3 f.) erfahre. Die Einstellung der Frau sei dagegen »persönlich«, sie sei »gern mit ihrer ganzen Person an dem beteiligt, was sie tut« und sie habe »besonderes Interesse für die lebendige, konkrete Person«. Folglich lebe in der Frau »ein natürlicher Drang nach Ganzheit und Geschlossenheit«. Diese charakteristischen Züge, »wie sie von Natur aus sind«, stellen für Stein aber keinen Wert dar, »es liegen darin sogar große Gefahren« (ebd.), beim Mann z. B. durch übertriebene, weltfremde Unterwerfung unter eine Sache, eine Partei oder Gesetze sowie einseitiges Spezialistentum, bei der Frau z. B. durch eine »ungesunde Steigerung« (ebd., 20) der persönlichen Einstellung in übertriebener Beschäftigung mit sich selbst oder in der Abneigung gegen sachliche Disziplinierung. So sei die Realisation der Spezies im »Gang der Weltgeschichte« durch geschlechtertypische Entartungsformen gezeichnet: »Die spezifische Entartung des Mannes ist die zu brutalem Herrentum (allen Geschöpfen und speziell der Frau gegenüber) und zur Versklavung durch die Arbeit bis zur Verkümmerung seines Menschentums. Die spezifische Entartung der Frau ist die sklavische Bindung an den Mann und das Versinken des Geistes im leiblichsinnlichen Leben.« (ebd., 169)

Solche »Entartung« sei aber nicht zwingend, sondern von beiden Geschlechtern im Streben nach ›ganzem Menschentum‹ zu überwinden. Für den Menschen qua Gattungswesen vertritt Stein das Prinzip der Gleichheit. Ihre kulturkritischen Analysen legen dar, dass der Mensch seine Integrität 31 verspielt habe. Die Aufgabe, sie wiederherzustellen, sei für alle 30

Stein (2000, 168) schreibt: »Wenn für das Geschlecht als Ganzes Ehe und Mutterschaft erster Beruf sind, so sind sie es doch nicht für jedes Individuum. Es können Frauen zu besonderen Kulturleistungen berufen und ihre Anlagen dem angepaßt sein.« So gäbe es verschiedene Frauentypen »nach Naturanlage«. 31 Unter integerer Natur versteht sie (2000, 173) »vollkommene Kraft, Gesundheit und Schönheit des Leibes, reibungsloses Funktionieren aller seiner Organe, unbedingte Gefügigkeit des Leibes gegenüber der Leitung durch den Geist, d. h. den durch den Verstand erleuchteten Willen. Das reibungslose Funktionieren der leiblichen Organe besagt zugleich Tadellosigkeit der Sinnesfunktionen, täuschungsfreie sinnliche Erkenntnis. Die vollendete Geistesverfassung besagt irrtumsfreie Verstandeserkenntnis der Geschöpfe und des Schöpfers durch die Geschöp-

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Menschen eine gleiche, eine Geschlechterscheidung also irrelevant. Ziele der Bildung und Selbstkultivierung hätten sich erstens am Mensch-Sein, aufgrund der Doppelspezies zweitens an der Geschlechter-Gruppe und, da Individuen die Spezies auf je ihre Weise zum Ausdruck bringen, drittens an der Individualität zu orientieren. Steins Geschlechter-Theorie ist damit durch Egalitäts-, Differenz- und Individualitätsdenken charakterisiert. Die Explikation der weiblichen Eigenart erfolgt vornehmlich im Rahmen pädagogischer Zielbestimmungen, z. B. über das Ethos der Frauenberufe. Hier vertritt Stein die Annahmen, dass »der weiblichen Seele gewisse dauernde Haltungen eigen sind, die ihr Berufsleben von innen her formen« und dass »die weibliche Eigenart eine Berufung zu bestimmten Aufgaben einschließt« (ebd., 18). Eine »handgreifliche Tatsache« sei nun, »daß Leib und Seele der Frau zu besonderem Zweck gebildet sind«, zur Mutterschaft. Dazu sei »ihr Leib ausgerüstet, dem entspricht aber auch ihre seelische Eigenart.« (ebd.) »Augenscheinliche Erfahrungstatsache« (ebd.) sei ihre Einstellung auf das Lebendig-Persönliche: »Hegen, hüten und bewahren, nähren und im Wachstum fördern: das ist ihr natürliches, echt mütterliches Verlangen. Das Tote, die Sache interessiert sie in erster Linie, soweit es dem Lebendig-Persönlichen dient … Abstraktion in jedem Sinn liegt ihr von Natur aus fern. … ihre natürliche Erkenntnisweise ist nicht so sehr die begrifflich-zergliedernde als die auf das Konkrete gehende, anschauende und erfühlende« (ebd., 19).

Gemäß dieser ›natürlichen Ausrüstung‹ eruiert Stein vier Wege zum »vollendeten Frauentum«, die durchaus von traditionellen Geschlechter-Hegemonien geprägt sind: So hält sie an dem »Ewigkeitswert der Geschlechtertrennung« (ebd., 177) und der biblischen Geschlechterordnung fest. 32 fe; vollkommene Harmonie von Verstand und Willen, unbeirrte Einstellung des Willens auf das höchste Gut, widerstandslose Unterordnung des niederen Strebens unter dieses höhere und höchste.« 32 Die Auffassung, dass die Frau »dem Mann als Mittel zur Erreichung seiner Zwecke und zur Befriedigung seiner Lust zu dienen« (Stein, 2000, 175) habe, bezeichnet sie als ein »nach der Entartung« aufgetretenes Missverständnis – eine Deutung, der man mit Blick auf die bis heute wirksamen Misogynien in Kirche und Theologie Verharmlosung vorwerfen muss. Die »gottgewollte Stellung an der Seite des Mannes« bedeute, so Stein, »nicht an seiner Stelle«, hier kann also weder von Gleichheit noch von Reziprozität der Rollen die Rede sein, »aber auch nicht in einer erniedrigenden Rolle, die der personalen Würde des Menschen nicht entspricht« (ebd.). Die ›Unterwerfungsgeste‹ unter den Willen des Mannes und das Gebot zum Gehorsam verliert durch eine solche, an der Würde des Menschen geschienten Interpretation keineswegs den Charakter patriarchalischer Strukturen. Auch Steins Vorstellung von genuiner Frauen-Macht im ›Lobpreis‹ der Mutterschaft und mit Rekurs auf die »königliche Stellung« (ebd., 176) der Mutter in der Familie ist letztlich in das hegemoniale Prinzip der Gefährtenschaft integriert.

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Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

Neben dem ›natürlichen‹ Beruf als Gefährtin und Mutter stellt sie Erwerbszweige heraus, die der weiblichen Eigenart, dem Bezug zum Konkreten, Lebendig-Persönlichen und Ganzen entsprechen, entgegenkommen oder auf sie angewiesen sind. 33 Schließlich verweist sie auf den Ordensberuf, in dem die ›Natur‹ der Geschlechter »nicht aufgehoben«, sondern »eingebaut« sei (ebd., 24). 34 Mit Rekurs auf den Leib schreibt Stein, »daß die Bindung an den Leib natürlicherweise bei der Frau durchschnittlich inniger ist«, »daß die Frauenseele stärker in allen Teilen des Leibes lebt und gegenwärtig ist und von dem, was ihm geschieht, innerlich betroffen wird, während beim Mann der Leib stärker den Charakter des Werkzeuges hat, das ihm bei seinem Schaffen dient, was eine gewisse Fernstellung mit sich bringt« (ebd., 86). Hier liegt eine Auffassung von Natur zugrunde, die wesentlich an den Leib gebunden ist, und eine Auffassung von Seele, die wichtige Impulse aus dem Leiblichen erhält. Eine feministische Kritik hat allerdings nachzufragen, wie das Verhältnis zwischen Leib und Seele gedacht wird, also ob und wie die früher angeführte ›genetische‹ Dimension, d. h. die gesellschaftliche Prägung zum Tragen kommt und welche Rolle der weibliche Körper und weibliche Leiberfahrungen dabei spielen. Ist die ›natürliche Ausrüstung‹ der Frau nicht vielleicht doch ein diskursiv erzeugter Tatbestand, der sich über gendering einschreibt? Historische Forschungen legen immerhin nahe, dass ein Gefühl wie beispielsweise die Mutterliebe, das Frauen gerne als ›angeboren‹ zugeschrieben wird, als Phänomen sozio-kultureller Geschlechterprägung mit erheblicher Wandlungsfähigkeit gedeutet werden kann (vgl. 33

Hier nennt Stein (2000, 22) alle sozialen Berufe, in den Wissenschaften vor allem die Geisteswissenschaft und jene Arbeiten, »die einen helfenden und dienenden Charakter haben, Übersetzung und Herausgabe, ev. auch verständnisvolle Leitung fremder Arbeiten«, womit sie die Geschlechtervorurteile ihrer Zeit repetiert. Sie sieht aber in jedem Beruf die Möglichkeit, nach weiblicher Eigenart zu wirken, durch Teilnahme am menschlichen Miteinander, um z. B. »zum segensreichen Gegengewicht« dort zu werden, »wo jeder in Gefahr ist, ein Stück Maschine zu werden und sein Menschentum zu verlieren« oder bei abstrakten Tätigkeiten durch den Fokus auf das Ganze, »wenn man über dem Teil das Ganze aus dem Auge verliert« (ebd., 23). 34 Das formale Moment des Ordenslebens, das restlose Hingabe erwarte, sei eine »adäquate Erfüllung des weiblichen Sehnens« (Stein, 2000, 26). Vorbild sei hier, wie in jedem weiblichen Wirken, Maria, die als »Urbild reinen Frauentums« (ebd., 179) Mütterlichkeit und Jungfräulichkeit in sich vereine und sich in »dienender Liebe« (ebd., 178) »allen Geschöpfen« gegenüber verpflichte. Wenn Stein von Maria sagt, sie »repräsentiert nicht den Herrn«, wie der Priester als sein Stellvertreter, »sondern sekundiert ihm« (ebd.), so wird ihre Affirmation theologischer Geschlechterhierarchien mit der Auffassung vom Weiblichen als ›Sekundärem‹ besonders deutlich.

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I Methodologisch-systematische Grundlagen

Badinter, 1981). Unter dem Eindruck einer solchen Kritik, darf jedoch nicht vergessen werden, dass diese ›starke‹ Differenztheorie nach wie vor, z. B. in Anknüpfung an ähnliche Postulate von Gilligan (1988), vertreten wird und darüber bis heute eine intensive Diskussion z. B. bei Benhabib, Butler und Nagl-Docekal geführt wird. Obwohl Stein sich zeitbedingter Stereotypen bedient und geschlechtliches Sein nach der ›gottgewollten‹ Zweigeschlechterordnung bzw. idealtypisch nach dem Wesen der Doppelspezies konzipiert, relativiert sie damit verbundene Essenzialismen wieder und berücksichtigt emanzipatorische Aspekte der Überschreitung ›natürlicher‹ Voraussetzungen, indem sie auf die Individualität jedes Menschen und die Mannigfaltigkeit der Individuen verweist. Eine Frau sei nicht nur Frau, sondern Individuum und als solches mit einer einzigartigen ›Naturanlage‹ ausgestattet, die sie zu bestimmtem Sein hin prägt und mit der ihr eine spezifische Berufung obliegt. Hier könnte sogar Butler (1991, 18) beipflichten: »Eine Frau zu ›sein‹, ist sicherlich nicht alles, was man ist.« Es sei, so Stein, aber nicht möglich, die Idee des vollendeten Individuums zu zeichnen, analog zu den Ausführungen über das vollendete Menschen- und Frauentum: »Man muß sich nur klar sein, daß reines Menschentum und reines Frauentum das Ziel nicht vollständig durchbestimmen, sondern nur in der konkreten Einheit einer individuellen Person zur Entfaltung kommen können.« (Stein, 2000, 180)

Menschentum und Geschlechtszugehörigkeit bilden also eine Art ›Hintergrundfolie‹, vor der sich die Person entfaltet. Butler (1991, 35) schreibt dagegen, es sei »falsch, von vornherein anzunehmen, daß es eine Kategorie ›Frau(en)‹ gibt, die einfach mit verschiedenen Bestandteilen wie Bestimmungen der Rasse, Klasse, Alter, Ethnie und Sexualität gefüllt werden muß, um vervollständigt zu werden«. Während Butler die »Unvollständigkeit der Kategorien« Mann und Frau »als normatives Ideal« und Geschlechterdifferenz als diskursiv hervorgebracht konzipiert, beharrt Stein auf unhintergehbaren Divergenzen. Sie führt die Idee der Individualität jedoch ziemlich weit, wenn sie Geschlechterspezifisches an der individuellen Ausprägung beinahe gänzlich bricht. Für Stein (2000, 22) besteht kein Zweifel daran, dass Männer und Frauen in gleicher Weise z. B. beruflich befähigt sein können. Ferner könne es je nach Anlage, Ausprägung und Förderung ein Nebeneinander oder einen Gegensatz zwischen geschlechtlicher Bestimmung und Individualität geben, so dass sich Geschlechtlichkeit qua ›Naturanlage‹ nivelliert oder dem jeweils anderen Geschlecht annähert. Wenn Stein dennoch die Differenzen der ›geschlechtlichen Bestimmung‹ aufrecht erhält, so rekurriert sie auf die Gegebenheiten der 54

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Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

Doppelspezies und weist voraus auf die breite Auseinandersetzung um den Körper, die in der feministischen Theorie zu einer Art ›Kampfplatz‹ divergenter Positionen geworden ist. Wenn ich abschließend versuche, Stein unter der Perspektive des Feminismus zu würdigen, so ist freilich anzuführen, dass es den Ausdruck »Feminismus«, wie wir ihn heute kennen, damals nicht gegeben hat. Für Stein muss aber jenes »feministische Bewußtsein« 35 geltend gemacht werden, das die Historikerin Gerda Lerner in seiner Jahrhunderte alten Entstehungsgeschichte rekonstruiert hat und das sich zunächst traditionslos mit mehr oder weniger großem Einfluss auf gesellschaftliche Veränderungen entfaltet hat, bis es zur Bildung von Frauengruppen kam und zu den politischen Frauenbewegungen mit ihrem letzten großen Auftritt in den 1970er Jahren. Stein ist in der Tradition weiblicher Intellektueller zu sehen, die in Reflexion auf ihre Zeit nicht nur feministisches Bewusstsein und Engagement entwickelten 36 , sondern bereits einen beachtlichen Beitrag zu dem geleistet haben, was wir feministische Theorie nennen. Stein kritisiert offen das unwissenschaftliche Dilettieren über das Geschlecht und führt uns zu Grundfragen feministischer Theorie: Was ist die Frau? Gibt es ein Wesen der Frau, des Weiblichen? Es ist diese Frage, die Beauvoir in der Einleitung zu ihrem Buch »Le deuxième sexe« so formuliert: »Wenn ihre Funktion als ›Weibchen‹ nicht genügt, um die Frau zu definieren, und wenn wir es gleichfalls ablehnen, sie durch das ›Ewigweibliche‹ zu erklären, aber doch andererseits zugestehen, daß es vorläufig wenigstens Frauen auf Erden gibt, so müssen wir uns doch wohl einmal die Frage stellen: was ist eine Frau?« (Beauvoir, 1970, 9)

Und es ist diese Frage, die ein halbes Jahrhundert später, nachdem das feministische »Wir« in den Frauenbewegungen und die Sex-Gender-Dichotomie als klassische Modelle feministischer Theorie obsolet geworden waren, die vielbeschworene Krise der Kategorie Gender herbeiführte. Im 35

Elemente des »feministischen Bewußtseins« sind nach Lerner (1993, 324): »1. die Wahrnehmung und das Eingeständnis der Frauen, daß sie zu einer untergeordneten Gruppe gehören und als Mitglieder einer solchen Gruppe unter Ungerechtigkeiten zu leiden haben; 2. die Erkenntnis, daß der Zustand der Unterordnung nicht naturbedingt, sondern gesellschaftlich verursacht ist; 3. die Entwicklung eines Begriffs der Schwesternschaft; 4. die autonome Definition ihrer Ziele und Strategien im Sinne der Veränderung ihrer Lebensbedingungen; und 5. eine alternative Vorstellung von der Zukunft.« 36 Stein hatte sich als Studentin einem sozialistischen Frauen-Verein angeschlossen. Später trat sie mit Nachdruck für bessere Berufs- und Bildungschancen von Frauen ein. In der katholischen Frauenbewegung galt sie als Reformfigur, die sich z. B. für die Wiedereinführung des Frauendiakonats einsetzte und die Frage des Priestertums für Frauen aufwarf.

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I Methodologisch-systematische Grundlagen

feministischen Diskurs besteht zwar weitgehend Konsens über die Tatsachen der Geschlechter-Differenzen, es herrscht aber Uneinigkeit über ihre Ursachen und Quellen: Ist die Biologie, die Gesellschaft, die Kultur, die Natur etc. oder eine Kombination aller dieser Faktoren und, wenn ja, in welchem Verhältnis dafür verantwortlich? Daneben stehen Ansätze, die schon das Denken im Zweigeschlechtermodell kritisch hinterfragen und als kulturell kodiert betrachten. So schreibt z. B. Butler (1991, 23): »Können wir noch von einem ›gegebenen‹ Geschlecht oder von einer ›gegebenen‹ Geschlechtsidentität sprechen, ohne wenigstens zu untersuchen, wie, d. h. durch welche Mittel, das Geschlecht und/oder die Geschlechtsidentität gegeben sind? Und was bedeutet der Begriff ›Geschlecht‹ (sex) überhaupt? Handelt es sich um eine natürliche, anatomische, durch Hormone oder Chromosomen bedingte Tatsache? Wie muß eine feministische Kritik jene wissenschaftlichen Diskurse beurteilen, die solche ›Tatsachen‹ für uns nachweisen sollen?«

Auf die Frage nach der geschlechtlichen Differenzierung und ihrer theoretischen Fundierung gibt es nach drei Jahrzehnten feministischer Theorie im internationalen wissenschaftlichen Diskurs keine homogenen, sondern vielschichtige Antworten. Es zeichnet sich ab, dass die seit den Anfängen verfolgte interdisziplinäre Forschung das wichtigste methodische Instrument für den Zugriff auf die Kategorie »Geschlecht« bleiben wird und Möglichkeiten bietet, Kontroversen nicht nur zu formulieren, sondern auch produktiv zu entzerren. Die Anschlussfähigkeit des Steinschen Ansatzes an heutige Debatten feministischer Philosophie liegt darin, dass Stein eine Denkerin zwischen divergenten Positionen ist und bereits mehrdimensional auf die Kategorie Geschlecht zugreift. Sie lehnt den biologischen Determinismus ab, der Frauen qua Natur eine festgelegte Geschlechtsidentität zuschreibt. Indem sie die genetischen Probleme, also die Situation der Frau in der Gesellschaft aufgreift, zeigt sie sich dezidiert offen für eine gendertheoretische Perspektive. Gleichwohl würde sie einen sozialkonstruktivistischen Determinismus mit den gleichen Argumenten ablehnen, die sie für die Absurdität des Biologismus anführt. Wenn sie an der Geschlechterdifferenz festhält, so resultiert dies aus ihrer Arbeit am Problem der Doppelspezies, für die sie ein phänomenologisch evaluiertes Wesen und eine theologisch konstatierte Natur herausfiltert. Sie weiß zwar, dass Wesen und Natur der Geschlechter im alltäglichen, individuellen Leben niemals in Reinform realisiert werden, die Rede vom Wesen des Männlichen und Weiblichen als vermeintlich statische Größen, d. h. qua phänomenologisch eruierter Notwendigkeit, ist jedoch missverständlich, wenn sie sich auf zeittypische Ge56 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

schlechter-Realitäten stützt, die Stein im Grunde selbst in ›genetische‹, vielfach bedingte Kontexte stellt. Mit solchen Auffassungen hat nicht zuletzt Beauvoir aufgeräumt. Geschlechtsspezifisches manifestiert sich aber, so Stein, immer auch im individuellen Leben, und hier argumentiert sie mit Leib und Seele. Ein Vergleich der Steinschen Position von der weiblichen Eigenart mit Differenztheorien, z. B. einer Luce Irigaray, für die eine Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse und die Wiederentdeckung sowie Aufwertung weiblicher Genealogien maßgeblich war, oder mit Denkerinnen, die ihr nahe stehen (u. a. Julia Kristeva, Hélène Cixous, Luisa Muraro), würde auf Divergenzen, aber auch auf Parallelen und gemeinsame Ausgangspunkte stoßen. Steins Theorie der geschlechtlichen Differenzierung ist außerdem in ihrer ethischen Direktive für die heutigen Debatten relevant. Neben dem ethischen Auftrag des Menschen qua Gattungswesen arbeitet sie geschlechterspezifische ethische Aufgaben als Ergänzungszusammenhang heraus. Indem sie für die ethischen Belange der Frau das Ideal der Mütterlichkeit in personen- und situationsbezogenen Kontexten geltend macht und als Eigenwert stützt, ist sie eine frühe Vorläuferin der »ethics of care«, wie sie z. B. bei Gilligan (1988) eine Ausarbeitung gefunden hat. Im Sinne einer feministischen Textkritik ist nicht von der Hand zu weisen, dass Stein in der theologischen Deutung der ›Natur‹ der Geschlechter und der phänomenologischen Extraktion ihres Wesens einigen Essenzialismen erliegt, die als diskursive Elaborate oder wohlwollende Interpretationen hegemonialer Geschlechterkonstruktionen zu identifizieren sind. Mit Blick auf die Erfahrung kann man Stein aber zustimmen, wenn sie von der Doppelspezies ausgeht und konstatiert, dass Geschlechterspezifisches im individuellen Leben sowohl manifest wird, als auch – in Grenzen – überschritten werden kann, unabhängig von den berechtigten Fragen, ob diese Spezifika natürlich vorgegeben oder diskursiv erzeugt sind (oder beides) und ob sich darüber Aussagen über das Wesen des Weiblichen/der Frau bzw. des Männlichen/des Mannes legitim ableiten lassen. Auch wenn Stein diese Zusammenhänge nicht explizit aufarbeitet und einem Konzept der Seele verhaftet bleibt, das nach der neueren Leibphänomenologie obsolet geworden ist, sind sowohl in ihrer Leib- als auch in ihrer Geschlechtertheorie wegweisende Themen vorfiguriert.

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I Methodologisch-systematische Grundlagen

1.3 Impulse aus Frankreich 1.3.1 Sartre und Merleau-Ponty In Anknüpfung an die deutsche Phänomenologie sind in Frankreich JeanPaul Sartre und Maurice Merleau-Ponty den Fragen der ›Leiblichkeit‹ nachgegangen. Deutsche Übersetzer stehen vor dem Problem, für »corps«, steht dieses Wort isoliert, entweder »Leib« oder »Körper« einzusetzen, was im Hinblick auf die deutsche Sprachkonnotation eine interpretatorische Vorentscheidung darstellt. So wurden in Sartres »L’Être et le Néant« (1943) und in Merleau-Pontys »Phénoménologie de la Perception« (1945) die Abschnitte unter dem Titel »Le corps« im Deutschen jeweils mit »Der Leib« übersetzt, was etymologisch zwar irreführend, philosophisch aber legitim ist, insofern dem Terminus »corps« im Text Attribute beigefügt sind, die auf das deutsche Begriffsfeld »Leib« verweisen. Nur äußerst selten wird das Wort »chair« (Fleisch) verwendet. Sartre spricht vom »corps-pour-autres«, wie er für Andere ist, nämlich als Ding (Körper), und vom »corps-pour-moi«, wie er für mich ist (Leib): »So, wie mein Leib für mich ist, erscheint er mir nicht als Stück in der Welt.« (Sartre, 1989, 398) Mit Rekurs auf die »Faktizität« knüpft er an Gedanken von Husserl und Heidegger an und sagt vom Leib, er sei nichts anderes als das Für-sich-selbst. Der »Leib-für-mich« sei »nie ein Gegebenes, das ich erkennen könnte: er ist da« (ebd., 405). Er ist stets gelebter Leib, konkret und voll gegeben, »in jeglichem Handeln, wenn auch unsichtbar, gegenwärtig« (ebd., 423). Insofern der Leib das ist, »was ich unmittelbar bin«, ist er auch »Natur-für-uns« (ebd., 424). Sartre beschreibt drei ontologische Dimensionen von »corps«: »Ich existiere meinen Leib«, »Mein Leib wird vom Anderen gebraucht und erkannt« und »Ich existiere für mich als vom Anderen als Leib Erkannter« (ebd., 454). Damit stellt er die Reflexivität und Objektivation meines Leibes durch Andere heraus und geht über bisherige Analysen zum fungierenden Leib (Husserl) hinaus. Der Leib des Anderen ist »die Faktizität der Transzendenz-als-transzendierter, insofern sie sich auf meine Faktizität bezieht« (ebd., 445). Der fremde Leib könne, »insofern er Fleisch ist«, nicht als »isoliertes Objekt« wahrgenommen werden; solche Äußerlichkeitsbeziehungen könnten allein »für den Leichnam« gelten. »Der Leib des Anderen als Fleisch ist mir unmittelbar als Beziehungsmittelpunkt einer Situation gegeben, die sich synthetisch um ihn herum aufbaut, und er ist unabtrennbar von dieser Situation; man darf also nicht fragen, wie der Leib des

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Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

Anderen zunächst Leib für mich sein kann, um anschließend erst in Situation zu stehen. Vielmehr ist mir der Andere ursprünglich als Leib-in-Situation gegeben.« (ebd., 445 f.)

In dem Leib-in-Situation-Sein »gibt sich mein Leib nicht einfach als das rein und schlicht Erlebte dar« (ebd., 455). Ebenso wenig wie der Andere isoliertes Objekt oder »Leib der Anatomie und Physiologie« (ebd., 451) ist, ist mein Leib ›monadische‹ Gegebenheit. Das als mein Leib Erlebte »verlängert« sich vielmehr »in und durch die zufällige und absolute Tatsache des Anderen nach außen in einer mir entgehenden Fluchtdimension«, so dass die »Seinstiefe meines Leibs-für-mich« »dieses ständige ›Außen‹ meines intimsten ›Innen‹ ist« (ebd., 455). Mithin ist mein Leib »nicht nur da als der Standpunkt, der ich bin, sondern auch als ein Standpunkt, dem gegenüber jetzt Standpunkte eingenommen werden, die ich nie werde einnehmen können; er entzieht sich mir nach allen Seiten« (ebd.). Am Leitfaden der Verbindung zwischen dem Leib-für-uns und dem Leib-fürden-Anderen thematisiert Sartre Entfremdungs- und Überschreitungsphänomene. Bei Scham oder Verlegenheit, die häufig von dem Wunsch begleitet sind, ›keinen Leib mehr zu haben‹ oder ›im Boden zu versinken‹, beziehe sich dieser Wunsch nicht auf die Vernichtung des Leibs-für-sich, sondern auf die Vernichtung meines Leibes als Leib-für-den-Anderen (ebd., 457). Erkennen könne ich »meinen Leib nur mittels der Begriffe des Anderen«, indem ich ihn so erfassen suche, »als wäre ich ihm gegenüber der Andere« (ebd., 459), obgleich z. B. beim Schmerz die zur Überschreitung geratene Entfremdung am »erlittenen Leib« ihr Material hat. Hinsichtlich der Wahrnehmung meines Leibes als Körper unter Körpern macht Sartre die eigentümliche Entziehung des Leibes-für-uns durch die Einnahme des Standpunktes des Anderen deutlich. Die Bedeutung der Erfahrung am Leib des Anderen expliziert Sartre aber nicht eigens für die Geschlechterperspektive. Merleau-Ponty macht den Leib zum Thema einer Phänomenologie der Wahrnehmung, eine Perspektive, die Stein für ausgesprochen wichtig hielt. Bei Merleau-Ponty ist der Leib Gegenstand einer deskriptiven Phänomenologie und zugleich transzendentaler Gesichtspunkt, von dem alles Wahrnehmen seinen Ausgang nimmt. Er stellt den »corps comme objet«, also den objektiven oder objektivierten Körper, wie ihn die Naturwissenschaft erfasst, dem individuell wahrgenommenen Leib, dem Leib-für-uns und d. h. dem eigenen Leib (»corps propre«) gegenüber. Mit dem Leib ist dem Menschen kein Gegenstand gegeben, der den Charakter eines Objekts hat, der eigene Leib ist in einer eigentümlichen »Ständigkeit« (»permanence« = wörtlich »Dauerzustand«) immer präsent. 59 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

I Methodologisch-systematische Grundlagen

»Seine ›Ständigkeit‹ ist keine solche der Welt, sondern Ständigkeit ›meinerseits‹ [»Sa permanence n’est pas une permanence dans le monde mais une permancence de mon coté.« (Merleau-Ponty, 1945, 106)]. Daß er stets bei mir und ständig für mich da ist, besagt in eins, daß ich niemals ihn eigentlich vor mir habe, daß er sich nicht vor meinem Blick entfalten kann, vielmehr immer am Rand meiner Wahrnehmung bleibt und dergestalt mit mir ist.« (Merleau-Ponty, 1966, 115)

Die »permanence« ist eine absolute, und insofern ist der Leib das unmittelbar und immer vorhandene Gegenwartsfeld und der Wahrnehmungsbereich, von dem alles Sich-der-Welt-Zuwenden ausgeht. Die »Ständigkeit« des Eigenleibes führt zu einem Begriff des Leibes als Mittel der Kommunikation und »zu einem Begriff der Welt selbst«, »als des latenten Horizonts all unserer Erfahrung, der in gleicher Weise allem determinierenden Denken zuvor unaufhörlich schon gegenwärtig ist« (ebd., 117 f.). Der Leib ist Ausdruck unserer gesamten Existenz, »nicht als deren äußere Begleiterscheinung, sondern weil sie in ihm sich realisiert« (ebd., 198). Leib und Existenz setzen einander voraus: »der Leib geronnene oder verallgemeinerte Existenz, die Existenz unaufhörliche Verleiblichung« (ebd., 199), »incarnation perpétuelle« (Merleau-Ponty, 1945, 194). Merleau-Ponty beschäftigt sich weiter mit der Problematik der Empfindungen am Leib, dem Reich der affektiven Zustände, etwa dem Phantomgliederschmerz, der Wahrnehmung von Schmerz überhaupt und der Räumlichkeit des eigenen Leibes (»spatialité du corps propre«). Außerdem geht es um den Leib als »geschlechtlich Seiendes«, »Le corps comme être sexué« (ebd., 180–202), wobei Merleau-Ponty die Intentionalität des Geschlechtslebens herausarbeitet. Eine Reduktion der Geschlechtlichkeit auf die Existenz oder der Existenz auf die Geschlechtlichkeit ist für ihn ebenso wenig möglich wie die Reduktion der Existenz auf den Leib. Denn »die Existenz selber ist kein Tatsachenzusammenhang (etwa von ›psychischen Tatsachen‹), den man auf andere oder auf den man andere zurückführen könnte, sondern das äquivoke Milieu ihrer Kommunikation, der Punkt, an dem ihre Grenzen sich verwischen, oder ihr gemeinsamer Einschlag« (Merleau-Ponty, 1966, 199). Scham, Begierde und Liebe haben für Merleau-Ponty metaphysische Bedeutung, wobei er unter »metaphysisch« wörtlich ein über bloß Körperliches (»corps comme objet«) Hinausgehendes verstanden wissen will. Die Geschlechtlichkeit sei beständig »im Leben gegenwärtig als Atmosphäre« (ebd., 201). Indem Merleau-Ponty die Wahrnehmung grundlegend als ein ZurWelt-Sein versteht, rückt der Leib als Ausgangs- und Durchgangspunkt menschlicher Existenz in den Blick. Während Sartre mit der Differenz von Für-sich und An-sich einem Dualismus verhaftet bleibt, ist für Mer60 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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leau-Ponty das Ich leiblich; der Leib erhält »Ich-Charakter« und »enthält selbst Intentionalität« (vgl. Böhme, 2003, 24). Mit dieser Konzeption, die Böhme als »Ausarbeitung des Konzepts des fungierenden Leibes von Husserl« (ebd.) deutet, wird er als ein Wegbereiter moderner Leibphänomenologie bis heute weltweit rezipiert, in Deutschland vornehmlich durch Bernhard Waldenfels, für den Merleau-Pontys inkarniertes Ich zum leiblichen Selbst wird (Waldenfels, 2000). In Merleau-Pontys Entwurf sind allerdings die pathischen Weisen leiblicher Existenz kaum relevant, während bei Sartre Schmerz, Scham und Ekel eine Rolle spielen. Doch weder für Sartre noch für Merleau-Ponty sind die Geschlechterdifferenz oder geschlechtsspezifische Leiberfahrungen ein Thema. 1.3.2 Simone de Beauvoir 1.3.2.1 Die Ambiguität der Existenz Simone de Beauvoir ist nach Edith Stein die zweite Denkerin, die Phänomenologie und Geschlechtertheorie miteinander verbindet. Allerdings wird häufig übersehen, dass sie – wie Sartre und Merleau-Ponty – ihre philosophischen Wurzeln in der Phänomenologie hat. Beauvoir selbst hat diese Wurzeln nie bestritten, wie die neuere Forschung, die sie gerade als Phänomenologin wiederentdeckt, zu Recht herausstellt. 37 Sie habe, so Kristana Arp (2000, 71), in größerem Umfang als Sartre phänomenologische Perspektiven einbezogen, indem sie nicht nur Merleau-Pontys Konzept des im Leib inkarnierten Ich, sondern auch den Topos der Situation aufgegriffen habe. 38 Sara Heinämaa (2003, XIII) verweist auf diese Bezüge in der phänomenologischen Tradition, »in order to realize the full strength of Beauvoir’s work«. Debra Bergoffen liest ihre Philosophie als »gendered phenomenology«; Linda Fisher (2000, 1 f.) nennt Beauvoir »an important example of the intersection of feminism and phenomenology« und sieht in 37

Vgl. Bergoffen, 2000, 57–70; Arp, 2000, 71–82; Heinämaa, 2003. »As a phenomenologist«, so Bergoffen (2000, 57), »Beauvoir’s roots are Cartesian«: »Agreeing with Descartes that the individual subject is the proper philosophical point of departure, Beauvoir, like Sartre and Merleau-Ponty, follows Husserl to retrieve the lived body for philosophy. Where Husserl, Sartre, and Merleau-Ponty save us from Cartesian dualism and solipsism by appealing to the experiences of perceiving subjects, Beauvoir saves us by appealing to the possibilities of the erotic subject. For Beauvoir, retrieving the lived body for philosophy means more than retrieving the full meaning of perceptual experience – it requires according philosophical significance to the lived erotic.« (ebd., 58)

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ihrem Denken »perhaps one of the earliest articulations of a feminist phenomenology«. An Beauvoir ließe sich, so Silvia Stoller (2002, 1), zeigen, »dass die Berücksichtigung der phänomenologischen Wurzeln eines feministischen Werks nicht nur von historischem Interesse ist.« Vor allem in ihren frühen moralphilosophischen Schriften befasst sich Beauvoir unter dem Topos der Ambiguität mit der leiblichen Existenz. Der Mensch erleide nicht nur die »tragische Ambivalenz« seines Daseins, sondern erfasse sie auch geistig, wodurch »sein Los um ein weiteres Paradox vermehrt« würde: »… als ›vernunftbegabtes Tier‹, als ›denkendes Schilfrohr‹ versucht er, dieser seiner naturgegebenen Lage zu entfliehen, ohne sich indessen aus ihr lösen zu können; er ist gleichzeitig Bewußtsein und Bestandteil dieser Welt; er weiß sich als reine Innerweltlichkeit, der keine äußere Macht etwas anhaben kann, und erfährt sich doch gleichzeitig als Sache, auf der schwer das Gewicht der anderen Sachen lastet.« (Beauvoir, 1997, 79)

Dem Menschen sei es gegeben, »ein souveränes, einzigartiges Subjekt inmitten einer Welt von Objekten zu sein«, und doch müsse er »dieses Privileg mit allen seinesgleichen teilen«. Für die Anderen wiederum sei er »seinerseits Objekt« und innerhalb der Gesamtheit, »von der er abhängt, ist er nichts als ein Einzelwesen« (ebd.). Beauvoir stellt sich mit Bezug auf Kierkegaard und Sartre der ambivalenten Struktur menschlicher Existenz und unterscheidet in Anlehnung an Heidegger zwischen Faktizität und Entwurf. Die Ambiguität wird von ihr hinsichtlich der Kategorien Ich und Andere grundlegend weitergeführt, und sie kritisiert das Bemühen vieler Philosophen, »diese Ambivalenz zu vertuschen« (ebd.). Der Rekurs auf den Leib und eine Körpertheorie werden zwar nur an wenigen Stellen ausgeführt, sie liegen aber Beauvoirs Analysen zur Ambiguität zugrunde, die wiederum später auf die Geschlechterfrage Anwendung gefunden haben. Im Hinblick auf den Körper führt Beauvoir (1970, 26) aus, dass das Dasein in der Welt »unerbittlich die Tatsache eines Körpers« einschließe, »der gleichzeitig ein Ding auf der Welt und ein Gesichtspunkt auf dieser Welt ist«; ein Bewusstsein ohne Körper sei undenkbar. Sie schließt sich Heidegger, Sartre und Merleau-Ponty an: Der Leib ist nicht »eine Sache«, sondern »eine Situation«. Er ist »unser Mittel zur Erfassung der Welt« (ebd., 48). Wenn aber der Körper »das Instrument ist, mit dem wir die Welt wahrnehmen«, so »stellt sich die Welt ganz anders dar, je nachdem sie mit diesem oder jenem Körper wahrgenommen wird« (ebd., 46). Die Verschiedenheit der Körper z. B. von Mann und Frau, die im biologischen Diskurs der Zeit den weiblichen Körper als den schwächeren und benach62 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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teiligteren ausweist, gäbe uns zwar »einen Schlüssel für das Verständnis der Frau«, sie genüge aber nicht, »um eine Hierarchie der Geschlechter zu begründen«. Sie erklärten nicht, »weshalb die Frau die Andere ist« und »sie verdammen sie nicht dazu, für immer diese untergeordnete Rolle zu spielen« (ebd.). Diese Phänomene lassen sich einzig aus der Erfahrung gesellschaftlicher Realitäten ableiten. Im Unterschied zu Sartre betont Beauvoir, dass der gelebte Körper immer vergeschlechtlicht ist und dass die im Patriarchat wirkenden Objektivierungsprozesse zwischen Mann und Frau asymmetrische Verhältnisse geschaffen haben, die für die Frau den Entzug von Subjektivität bedeuten. 39 Damit führt Beauvoir in die Beziehung Ich und Andere das Konzept und den Prozess des gendering ein. 1.3.2.2 Geschlechtlichkeit und die Kategorie des Anderen Im Aufriss des Themas ›Leib und Geschlecht‹ entwickelt Beauvoir einen deskriptiv-phänomenologischen Zugang zu den Bedeutungen der Geschlechterdifferenz. Für die Frau, so Beauvoir (1970, 50), existiert »in Wirklichkeit nicht der von den Gelehrten beschriebene Körper als Objekt, sondern der vom Subjekt erlebte Körper«. Der Körper der Frau sei »eines der wesentlichsten Elemente für die Situation, die sie in der Welt einnimmt«, aber er genügt nicht, »um sie zu definieren«; »er besitzt keine erlebte Wirklichkeit außer durch das Bewußtsein, das ihn durch Handlungen und im Schoße der Gesellschaft einnimmt« (ebd., 51). Nicht die Natur determiniere die Frau, sie bestimme sich vielmehr selbst, »indem sie die Natur ihrerseits in ihre Bezüglichkeit einbezieht«. Eine solche Bezüglichkeit ist aber undenkbar ohne Berücksichtigung des ontologischen, sozialen und ökonomischen Zusammenhangs, den Beauvoir in »Le deuxième sexe« (1949) analysiert. Die Verankerung Beauvoirs in der phänomenologischen Tradition wird in ihrer Auffassung vom Körper als Situation, insbesondere im zweiten Buch ihres Hauptwerks mit dem Titel »L’expérience vécue« (»Gelebte Erfahrung«), wo sie auf Merleau-Ponty verweist, aber auch mit Blick auf die umfangreichen Analysen zur Lebenswelt und zum Selbstverständnis von Frauen deutlich. Damit ist der Situationsbegriff bei Beauvoir über seine Bezeichnungsfunktion für den Körper hinaus konstitutiv für die geschlechtliche Existenz selbst. Wenn sie (1970, 10) schreibt: »Die Frau hat 39

Vgl. Bergoffen (2000, 61): »it is the woman, not the man, who experiences the objectivation of her body and it is the man, not the woman, who has the power to objectify her as the target of his desire«.

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Ovarien und Uterus; das sind die besonderen Voraussetzungen für ihre subjektive Situation«, so ist damit ein Aspekt des Körpers als Situation benannt, wenn sie aber hinzufügt: »man sagt gern, sie denke mit ihren Drüsen« (ebd.), so zeigt sie weiter, dass für diesen Körper Situationen geschaffen werden bzw. bedeutsam sind, die durch Fremde konstituiert sind und z. B. die Existenz der Frau als die Andere (die Zweite) bestimmen. Deutlich wird dieser Begriff der Situation auch, wenn Beauvoir (ebd., 17) tiefe Analogien »zwischen der Situation der Frauen und der Schwarzen« aufzeigt, wofür sie Unterdrückungsstrukturen verantwortlich macht, die sie in ihrem Essay »Pour une Morale de l’Ambiguité« anhand der Beziehung zwischen Unterdrücker und Sklave (z. T. mit Bezug zu Hegel) analysiert. Auch hier valiert sie einen Topos, der bis heute diskutiert wird. Dass es ihr um den Körper als Situation und die geschlechtliche Existenz als veränderbare Situation geht, belegt das klassische Zitat: »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Kein biologisches, psychisches, wirtschaftliches Schicksal bestimmt die Gestalt, die das weibliche Menschenwesen im Schoß der Gesellschaft annimmt.« (ebd., 265)

Mit dieser Formulierung prägte sie den ganzen späteren feministischen Diskurs. Der Akzent liegt eindeutig auf der Gestalt der Frau »im Schoß der Gesellschaft«, also auf der durch kollektive Entwürfe geschaffenen anderen geschlechtlichen Realität. So finden wir unter dem Abschnitt »Situation« Topoi wie »Ehe«, »Mutterschaft«, »Dirnen- und Hetärentum« etc., die auf die Institutionalisierung der Frauenrolle bezogen sind. Anders als Stein, die von der Doppelspezies Mann und Frau qua Wesen und Natur ausgeht, hält Beauvoir (1970, 592) es für absurd, »von der Frau im allgemeinen wie vom ewigen Mann zu sprechen« und von dort aus Überlegungen über Wesensunterschiede und Hierarchieverhältnisse anzustellen. Für Beauvoir steht fest: »Ihre Situationen sind grundverschieden.« (ebd.) Im Vergleich dieser Situationen sieht Beauvoir klare Hegemonien, die zu einer Bevorzugung der männlichen Situation führen, die angeblich durch Selbstentwurf und Transzendenz geprägt ist, während die Frau qua Objektivierung als die Andere zur Immanenz verurteilt und damit ihrem Subjektstatus entfremdet wird: 40

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»Wenn man diese Situationen miteinander vergleicht, wird es klar, daß die des Mannes unendlich vorzuziehen ist, d. h. daß er viel mehr konkrete Möglichkeiten hat, seine Freiheit in die Welt zu projizieren. Daraus folgt notwendigerweise, daß der Mann sich ganz wesentlich mehr in der Welt verwirklichen kann als die Frau. Ihr ist es so gut wie untersagt, überhaupt etwas zu tun.« (Beauvoir, 1970, 592)

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»Die Frau wird weder durch ihre Hormone noch durch geheimnisvolle Instinkte bestimmt, sondern durch die Art und Weise, wie sie durch das Bewußtsein Fremder ihren Körper und ihre Beziehung zur Welt erfaßt.« (ebd., 675)

Auf der Grundlage dieser Auffassung vom Körper unternimmt Beauvoir phänomenologische Analysen, um die geschlechtliche Existenz der Frau als einen durch viele Faktoren bestimmten, von der Gesellschaft weitgehend determinierten Zustand darzulegen, der inkorporativ wirkt und die Frau sowohl in die Rolle der Unterdrückten zwingt als auch zur ›Mittäterschaft‹ veranlasst. Wenngleich Beauvoir die Wirkmacht des Patriarchats und anderer Unterdrückungsstrukturen – wie nach ihr z. B. Kate Millett in »Sexual Politics« (1969) – als absolutes Übel analysiert, kritisiert sie – wie Stein vor ihr – die Frau, insofern sie in der Geschichte ihrer Unterdrückung gelernt habe, sich in der Immanenz auszubreiten und es sich in ihrem ›Gefängnis‹ bequem zu machen. Einer der Faktoren für die geschlechtliche Existenz als einer Situation ist für Beauvoir die Faktizität des Körpers selbst, sein Eigenleben, das sie einerseits in einem biologisch-generischen Sinne unter der Rubrik »Schicksal« im ersten Buch und andererseits in dem Abschnitt »Formierung« (»Kindheit«, »Jugend«, »Erste Erfahrung«, »Lesbische Liebe«) im Sinne der biographischen Entfaltung im zweiten Buch ihres feministischen Klassikers behandelt. Beauvoir rekurriert explizit auf weibliche Erfahrungen wie die Menstruation und demonstriert, wie die gesellschaftliche Interpretation dieser unverfügbaren, »schicksalhaften« Leibesäußerung die Erfahrung der Frau als stigmatisierte bestimmt. Sie führt an, dass sich psychoanalytische Theoreme wie der Kastrations-Komplex, der ÖdipusKomplex und der Minderwertigkeits-Komplex radikal ändern würden, wenn sich die geschlechterspezifische Erziehung wandelte. Das Mädchen müsste sich nicht mehr als die Andere in einer durch und durch männlichen Welt empfinden: »Das junge Mädchen würde dann also im Narzißmus und im Traum keinen sterilen Ausgleich suchen, es würde sich nicht als gegeben hinnehmen, es würde sich für das interessieren, was es tut, es würde sich rückhaltlos in seinen Unternehmungen einsetzen. Ich habe schon gesagt, wie viel leichter ihr ihre Pubertät fiele, wenn sie diese wie der Junge in Richtung auf eine freie Zukunft als Erwachsene überschritte. Die Menstruation schreckt sie nur deshalb so sehr, weil sie einen brutalen Rückfall in ihre Weiblichkeit darstellt. Sie würde auch viel ruhiger ihre junge Erotik durchleben, wenn sie nicht Verwirrung und Abscheu vor ihrem gesamten Schicksal empfände.« (Beauvoir, 1970, 676 f.)

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Beauvoirs Körpertheorie, die eine biologistische Interpretation des Geschlechts zu widerlegen sucht, werde zwar nach Stoller (2002, 1), »von phänomenologischen Erkenntnissen gestützt«, doch möchte ich kritisch anmerken, dass Beauvoir selbst biologistischen Interpretationen verhaftet bleibt, wenn sie gängige Annahmen der damaligen Medizin reproduziert, etwa die von der Menstruation als »organische Verwirrung« oder »Selbstvergiftung« (vgl. Beauvoir, 1970, 315 f.), und damit eine gewisse Verachtung für den weiblichen Körper legitimiert. Wenngleich sie auf die Bewertungen biologischer ›Tatsachen‹ verweist und dazu konkrete Erfahrungen analysiert, bleibt sie den Interpretationsmustern zum Frauenkörper ihrer Zeit verhaftet und hat die Inszenierungsmacht des Körperdiskurses nicht völlig durchschaut. In dieser Frage haben die feministische Forschung (Irigaray, Kristeva, aber auch Butler) oder Arbeiten von Barbara Duden (1987, 1991a, 2002) und Thomas Laqueur (1992) weitere Aufklärung erreicht. Anders als Stein, die von den »Entartungsformen« beider Geschlechter ausgeht und im Streben nach ganzem Menschentum – existenzialistisch gesprochen – sowohl vom Mann eine Besinnung auf Immanenz fordert als auch von der Frau eine Eroberung der Transzendenz, verabsolutiert Beauvoir die Sphäre der Transzendenz für beide Geschlechter und weist die in der gelebten Erfahrung relevanten Determinanten unverfügbarer Leiblichkeit letztlich ab. Diese Haltung ist in der Perspektive ihrer »existentialistischen Ethik« (Beauvoir, 1970, 21) begründet, die maßgeblich vom Gedanken der Freiheit ausgeht. Wenngleich Beauvoir bei der Explikation des »Dramas der Frau« beizupflichten ist, das »in dem Konflikt zwischen dem fundamentalen Anspruch jedes Subjekts« besteht, »das sich immer als das Wesentliche setzt, und den Anforderungen einer Situation, die sie als unwesentlich konstituiert« (ebd.), erscheint der Körper in Beauvoirs existenzialistischer Forderung nach Selbstentwurf letztlich als zu überwindender. 41 Gleichwohl integriert Beauvoirs Moraltheorie, die sich als philosophische Grundstellung ihres Werks bezeichnen lässt 42 , mit dem Topos der Erotik noch eine andere Perspektive auf die Leiblichkeit. Der Körper, in Beauvoirs Vokabular das Fleisch (»chair«), kann den Menschen nicht nur 41

Beauvoir (1970, 21) schreibt in »Le deuxième sexe«: »Jedesmal, wenn die Transzendenz in Immanenz verfällt, findet ein Absturz der Existenz in ein Ansichsein statt, der Freiheit in Faktizität; dieser Absturz ist ein moralisches Vergehen, wenn er vom Subjekt bejaht wird; ist er ihm auferlegt, so nimmt er die Gestalt einer Entziehung und eines Druckes an; in beiden Fällen ist er ein absolutes Übel.« 42 Zur Reinterpretation ihres Werkes mit Blick auf die Bedeutung Beauvoirs als Moraltheoretikerin vgl. Kruks, 1995, Vintges, 1996 u. Bergoffen, 1997.

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auf seine Faktizität zurückwerfen. In freien Akten lasse sich vielmehr die Bedeutung seiner Ambiguität, nämlich zugleich subjektiv und objektiv zu sein, mit dem und am Anderen erfahren und somit auch die Differenz von Ich und Du konkret umfangen. Das Fleisch werde dann nicht als Veräußerung der Immanenz erfahren, sondern seiner selbst gewahr als das Andere, als das es für und durch den Partner wird, sprich »als Geschenk«, und gleichzeitig als eigener Leib (vgl. Bergoffen, 1997, 163). Damit überschreitet Beauvoir Sartres Konzept der Unaufhebbarkeit der Vereinzelung. Diese Analyse deutet Bergoffen als bahnbrechend, insbesondere wenn Beauvoir von der erotischen Erschütterung als einer unkalkulierten Reziprozität spricht und betont, dass in ihr die Ambiguität des Daseins wirklich investiert wird und diese Geste des Geschenks auch Wagnis bedeutet. 43 Die Erkenntnis der Subjektivität des Leibes führt nicht zuletzt zur zentralen Pointe von Beauvoirs Patriarchatskritik: Indem sie das Subjekt als Transzendenz definiert, beklagt Beauvoir, dass im Patriarchat nur zu oft die Transzendenz des Mannes von der Unterdrückung des Subjekt-Seins der Frau abhängt; indem sie das Subjekt als Immanenz definiert, beklagt sie, dass die subjektiven Dimensionen der Immanenz verleugnet werden. Die Reduktion auf die Position der Anderen entfremdet Frauen von ihrer Subjektivität durch die Entfremdung von Männern und Frauen von der lebendigen Bedeutung ihres Leibes. So tritt Beauvoir mit der am Schluss von »Le deuxième sexe« formulierten Utopie der Freundschaft zwischen den Geschlechtern für die Humanisierung sexueller Beziehungen ein. Das post-patriarchalische Subjekt würde das Andere seiner selbst nicht im Kontext von Übergriffen, sondern von Überschreitungen – auch der Geschlechtergrenzen – erfahren.

1.4 Die neuere Phänomenologie des Leibes 1.4.1 Alphabet und Topographie des Leibes (Hermann Schmitz) Gegenüber den bisher dargestellten Leibphilosophien hat Hermann Schmitz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Paradigmen43

Bergoffen (1997, 163) schreibt: »This analysis of erotic love breaks new grounds. Here the ambiguity of the body is embraced by the subject. The subject, instead of experiencing its flesh as the alienation of immanence, is aware of its flesh as the other it becomes for its lover. That is, flesh is not that which objectifies me, but that through which I express myself as gift. In offering myself as flesh I express the ambiguity of my subjectivity. As gift I am a transcending intentionality.«

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wechsel eingeleitet. Von ihm stammt, eingebettet in das »System der Philosophie« (1964–1980), eine systematische Leibphänomenologie mit einer eigenen Terminologie, einem »Alphabet« und einer »Topographie des Leibes«. Die von Schmitz begründete Neue Phänomenologie steht im Zeichen einer Reduktionierung und Relativierung des Phänomenbegriffs, wie er von Husserl, Scheler, Heidegger und Sartre verwendet wurde. Der metaphysische Anspruch dieser Phänomenologen solle so weit zurückgenommen werden, »daß nüchternes, geschmeidiges und stets klar verfolgbares Arbeiten in beständigem Kontakt mit der unbefangenen Lebenserfahrung und der wissenschaftlichen Empirie möglich wird« (Schmitz, 1980, 21). Im Unterschied zu den hypothetisch-konstruktiven Wissenschaften, die mit theoretischen Vorannahmen auf die Praxis blicken, versuche der Phänomenologe möglichst unbeeindruckt von Hypothesen und Konstruktionen, »sich an die unwillkürliche Lebenserfahrung aufdeckend und begreifend heranzutasten, das Unverfügbare in seinen und tunlichst den gemeinsamen Überzeugungen vieler oder gar aller herauszuschälen« (ebd., 23). Daher ist in dieser Methode das Sichten, Prüfen und Analysieren unterschiedlicher Quellen zu einem Themenkreis von Bedeutung, um im Sinne Diltheys Erleben und Verstehen in Einklang zu bringen. »Der Phänomenologe sucht nach Phänomen« (ebd.), nach dem, was unbestreitbar als Tatsache anerkannt werden kann, und zwar nicht allein im Sinne des common sense, sondern in Bezug auf die großen Probleme des MenschSeins. Die philosophische Aufgabe bestehe darin, nicht bei einem unbefangenen Sehen von Phänomenen stehen zu bleiben, sondern dieselben begrifflich und systematisch zu erfassen. Mit analytisch-rekonstruktiver Methode sollen Phänomene und Phänomenzusammenhänge »nachbuchstabiert« werden. Schmitz spricht in diesem Kontext von einem »terminologisch geeichten Alphabet« (ebd., 25), das einer steten Überprüfung standzuhalten habe. Es geht also auch um eine Arbeit an der Sprache, möglicherweise um ein fundamental neues Sprechen-Lernen über die in Frage stehenden Erfahrungen. Eine so verstandene Phänomenologie soll den Menschen befähigen, sich im Horizont phänomenaler Erfahrungen sprachlich zu bewegen und zu orientieren – und insofern mag ihr Nutzen weit über wissenschaftliche Zwecke hinaus gehen, indem es nämlich möglich wird, »verdeckte und ungeschützte Möglichkeiten des Lebens ans Licht zu bringen« (ebd., 25 f.) und einseitig orientierten Lebensformen entgegen zu wirken. In der Philosophie von Schmitz spielen das leibliche Befinden, die Betroffenheit, Gefühle und Atmosphären eine bedeutende Rolle. Der Körper

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wird – wie in der Tradition vielfach dargelegt – durch Sehen und Tasten mit eindeutigen Begrenzungen erfahren. Der Mensch verfügt daneben über ein unmittelbares Spüren, das nicht an die Sinne geknüpft ist, sich aber dennoch, etwa bei Hunger, Durst, Angst, Schmerz, Müdigkeit etc. »in der Gegend dieses Körpers« (Schmitz, 1998b, 5) aufdrängt. Dieses Spüren ist leiblich und bezieht sich auf bestimmte Regionen ohne scharfe Konturen (Leibesinseln) oder auf den Leib als Ganzheit. Schmitz (1995, 1) will »mit dem Licht genauer Beobachtung und Begriffsbildung zum ursprünglichen, unwillkürlichen Betroffensein« hinabsteigen und unternimmt den Versuch einer philosophischen Bewältigung solchen Betroffenseins. In seinen Definitionen des Leiblichen unterscheidet Schmitz (1998b, 53) nicht nur zwischen Körper und Leib, sondern auch zwischen »reinem Körper«, »körperlichem Leib« und »reinem Leib«, und zwar hinsichtlich der Örtlichkeit und Räumlichkeit. Der »reine Körper« ist ausschließlich »relativ örtlich«, »teilbar ausgedehnt« und bezieht sich auf das naturwissenschaftliche, anatomisch-physiologische Körpermodell, den sicht- und tastbaren Körper, wie er sinnlicher Wahrnehmung zugänglich ist. Dagegen ist der »reine Leib« ausschließlich »absolut örtlich«, unteilbar ausgedehnt, »er kommt bei den panischen Zuständen von Angst, Schmerz und Wollust vor, wenn die räumliche Orientierung verloren gegangen ist«. Dazwischen liegt der »körperliche Leib«, der sowohl relativ wie auch absolut örtlich ist: »das Gewoge verschwommener Inseln, die ebenso je für sich einen relativen und einen absoluten Ort haben, wie sie durch einen absoluten Ort zur Einheit des Leibes im Ganzen zusammengehalten werden«. Diese dreifache Gliederung, die in der Bezeichnung »körperlicher Leib« die eigentümliche ›Schnittmenge‹ zwischen Körper und Leib sichtbar macht, hat Schmitz in späteren Schriften aufgegeben. Sie wird aber von Rappe (2005) wieder aufgenommen und weitergeführt. Mit seiner Lehre von den »Leibesinseln« tritt Schmitz (1998b, 55) als Gegner der Theorie von sogenannten Organempfindungen auf: Was in der normalen Lebenserfahrung als z. B. Herzrasen oder Magenschmerz gespürt wird, sind »diffus ausstrahlende Herde«, die keineswegs identisch sind mit den Organen des Körpers. Ein sprechendes Beispiel hierfür ist der sogenannte Bauch- oder Leibschmerz, der eine ganze Region, den Unterleib, betrifft, wo, anatomisch-physiologisch betrachtet, mehrere Organe vorhanden sind. Leibliches Befinden ist nach Schmitz wesentlich eingebettet in einen Dialog von Enge und Weite, der die leibliche Ökonomie bestimmt.

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»Leiblichsein bedeutet in erster Linie: zwischen Enge und Weite in der Mitte zu stehen und weder von dieser noch von jener ganz loszukommen, wenigstens so lange, wie das bewußte Erleben währt.« (ebd., 122 f.)

Unabhängig von dem Kategorienpaar Enge und Weite, den Phänomenen von Spannung und Schwellung sowie der zwischen diesen Antagonisten vermittelnden leiblichen Richtung unterscheidet Schmitz noch zwischen protopathischen und epikritischen Tendenzen im leiblichen Erleben, etwa in der Schmerzerfahrung: »Protopathisch ist die Tendenz zum Dumpfen, Diffusen, Ausstrahlenden, worin die Umrisse verschwimmen, epikritisch die schärfende, spitze, Punkte und Umrisse setzende Tendenz.« (ebd., 126)

Außerdem finden wir in seinem Alphabet der Leiblichkeit einige Neologismen, wie etwa die Begriffe »Einleibung«, als spontane Bildung »übergreifender quasi-leiblicher Einheiten« (Schmitz, 1995, 137), und »Ausleibung«, als Ausströmen, Versinken und Sich-verlieren in die Weite ohne Zusammenfassung. Auf diese und andere Kernstücke der Leibphänomenologie von Schmitz wird im Kontext der weiblichen Leiberfahrungen noch näher einzugehen sein. Doch auch die Leibphilosophie von Schmitz enthält keine Analysen zur Geschlechterdifferenz. In ihr geht es um Grundstrukturen und Topographien des generischen Leibes. Zu deren Verdeutlichung werden zwar exemplarisch Erfahrungen von Männern (z. B. die Ejakulation) und Frauen (z. B. das Gebären) herangezogen, aber die systematische Frage nach geschlechter- und lebensalterdifferenten Leiberfahrungen bleibt ungestellt. Das von Schmitz entwickelte Instrumentarium bietet aber, weil es um die Rehabilitation der subjektiven Tatsachen bemüht ist, zahlreiche Anknüpfungspunkte für einen Zugriff auf Leiberfahrungen, die für bestimmte Menschengruppen, wie den Geschlechtern, charakteristisch sind. Subjektive Tatsachen können, so Schmitz (1995, 7), »nicht in bloß registrierender Einstellung hingenommen werden«, sie gewinnen »ihre Tatsächlichkeit, sogar schon ihre bloße Sachverhaltlichkeit, erst aus dem Engagement im affektiven Betroffensein«. 44 Ohne affektives Betroffensein »gäbe es keine Bewußthaber« und wäre alles »in gleichmäßige Neutralität getaucht« (ebd.), »als ein Komplex von Weltelementen, zu denen außer Temperatu44

»Es ist ein uraltes Missverständnis, die Subjektivität zu einer besonderen, irgend welchen Objekten angehängten Sache zu verdicken, damit sie in der Welt einen Platz hat; so kommt es zu der Konstruktion privater Innenwelten, die z. B. als Seele oder Bewußtseinsstrom an einen physischen Körper angebunden werden.« (Schmitz, 1995, 8)

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ren und elektrischen Ladungen freilich noch Gedanken, Empfindungen und Strebungen gehören könnten, aber nicht mehr jemand, der sie hätte« (ebd., 7 f.). 1.4.2 Der Leib als die Natur, die wir selbst sind (Gernot Böhme) 1.4.2.1 Leibsein als Aufgabe Gernot Böhme (1985, 120) würdigt den Versuch von Schmitz, »ein explizites Wissen vom Leib als dem im eigenleiblichen Spüren Gegebenen zu entwickeln«, und verfolgt eine Aktualisierung des Themas im Kontext der Kreatürlichkeit des Menschen sowie der Herausforderungen in der technischen Zivilisation. Dabei spielt die für den heutigen Menschen charakteristische Fremdheit des eigenen Leibes eine wichtige Rolle: »Der moderne Mensch weiß nichts von seinem Leib, er fühlt sich durchaus unheimisch in ihm, was er von ihm erfährt, ist ihm unheimlich« (ebd., 116). Die vom medizinischen Weltbild vorgeprägte Beziehung zum eigenen Leib als Körper, als einem Ding, über das Andere besser Bescheid wissen als wir selbst, bedeute »eine totale Entfremdung« und führe letztlich zur instrumentellen Manipulation des Körpers (ebd.). Unter Leib sei dagegen dasjenige zu verstehen, »als was ich mich selbst spüre«; im eigenleiblichen Spüren ist wesentlich enthalten, »daß ich es selbst bin, was ich da spüre« (ebd., 120). Dieses Sich-Selbst-Spüren ist durch affektive Betroffenheit gekennzeichnet, wie sie nach Schmitz in Angst, Schmerz und Simultanscham zentral erfahren wird. Der Leib sei indes, so Böhme (1992, 77), heute in anderer Weise als früher »auffällig geworden«, und zwar als Natur. Während elementare Vollzüge leiblicher Existenz »wie Atmen, Essen und Trinken, Schwimmen, Schlafen« (ebd., 78) oder Gebären und Sterben in den Leibphilosophien keine zentrale Rolle spielen, nimmt Böhmes Definition vom Leib als die Natur, »die wir selbst sind« (ebd., 77 ff.), ihren Ausgang beim Spüren des Leibes, wie es sich z. B. in der Betroffenheit von Umweltproblemen zeigt (Atembeschwerden, Allergien, Lärmstörungen etc.). In diesen Erfahrungen wird uns mit dem Leib als die Natur, die wir selbst sind, auch die Natur, die wir nicht selbst sind, bewusst. Selbst Natur zu sein, bedeutet aber mehr als »naive Eingelassenheit in die Natur«, und tatsächlich sind wir in unserer Erfahrung niemals ganz Natur, sondern immer auch reflektierende, wissende Person:

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»Mit der Emanzipation der Person setzt die Dialektik von Leibsein und Leibhaben, Natursein und Naturhaben ein, und das Selbst konstituiert sich jenseits und gegen die Verfallenheit an den Leib.« (ebd., 87)

Diese Dialektik ist »tendenziell destruktiv«, weil Selbst und Leib auseinander treten und die Integrität der Person gestört wird (ebd., 89). Das heißt weiter, dass »die Weisen, in der wir unsere Natur selbst sind, in hohem Maße durch Entfremdung, Selbstvergessenheit, durch Selbstausbeutung und Unsicherheit gekennzeichnet sind« (ebd., 91). Böhme weist zu Recht darauf hin, dass eine Leibphilosophie weder den cartesianischen Dualismus übergehen kann, da das Selbst seinen Leib durchaus als Körpermaschine wahrnehmen kann (vgl. Böhme, 2003, 51 ff.), noch auch einem »bloßen Holismus« das Wort reden kann, der die Möglichkeiten »entfremdender und objektivierender Selbstthematisierung und Selbststeuerung« negiert (Böhme, 1992, 91). Im Rahmen einer »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« steht vielmehr zur Debatte, wie der Mensch sich selbst konstituiert und wie er sich zu sich selbst verhält. Nach dem »Durchgang durch die Dialektik der Reflexion und des Wissens« wird in dieser Leibphilosophie das »Sicheinlassen auf die eigene Natur« (ebd., 92) thematisiert und im Kontext einer Philosophie als Lebensform »Leibsein als Aufgabe« verstanden (Böhme, 1998, 174 ff.). »Leibsein als Aufgabe« (Böhme 2003) ist vor dem Hintergrund der Entfremdung vom eigenen Leib als das philosophische Bemühen »um Leibsein-Können« zu verstehen (Böhme, 1998, 175). Dabei fokussiert Böhme (2003, 7 ff.) in einer »Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht« den »Vorrang der Praxis«. Dieses Bemühen philosophisch zu nennen, zeigt bereits, dass etwas gemeint ist, das den ganzen Menschen und sein ganzes Leben betrifft. Bewusstes »Leibsein-Können« bedeutet demgemäss auch nicht, irgendwelche körperlichen Fertigkeiten zu erwerben oder akrobatische Kunststücke zu trainieren, sondern »Reintegration des Leibes in das menschliche Selbstverständnis« (Böhme, 1998, 175). Gleichwohl geht es um leibliche Übung, die durch »Techniken der Leibbemeisterung« (Schmitz) angeregt werden kann, aber diese Praxis »muss die Lebensform im ganzen verändern« (ebd.) und bis in alltägliche Lebensvollzüge hineinwirken. Böhme nennt u. a. zwei Beispiele für eine Wiederaneignung des Leibes, in der es um eine »paradoxe Form des Könnens«, die »Kunst des Sichlassens« geht: das Einschlafen und die leibliche Liebe. 45 Auch in elementaren leiblichen Vollzügen wie Gehen, Stehen, Sitzen oder Atmen 45

Anstatt solche Vollzüge in die Macht von Medikamenten und Stimulanzien zu stellen, die eine Entfremdung vom Leib bedingen, könne geübt werden, »sich auf Antriebe und Vorgänge

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kann Leibsein eingeübt oder neu angeeignet werden. 46 Schließlich spielt der Bereich leiblicher Anwesenheit eine wichtige Rolle für das Leibsein als Aufgabe: »Gerade im Gegenzug gegen die Entleiblichung aller menschlichen Vollzüge in der technischen Zivilisation muß der Philosoph lernen, die Bedeutung und das Gewicht persönlicher Anwesenheit zu schätzen und zu nutzen.« (ebd., 177)

Die Anwesenheit eines anderen Menschen ist über das bloße Faktum der Präsenz hinaus leiblich spürbar, da der Andere eine Atmosphäre in den gemeinsamen Raum ausstrahlt. »Das Spüren solcher Atmosphären zu erlernen gehört zur Wiedergewinnung des Leibes.« Folglich muss die Reintegration des Leibes in das Selbstbewusstsein »zugleich zu einer Rehabilitation der persönlichen Anwesenheit von Menschen führen.« (ebd.) Voraussetzung, Ziel und Ergebnis dieser philosophischen Bemühungen um das Leibsein-Können ist das leibliche Bewusstsein, und dieses kann »geradezu als Glück oder sogar als das Glück erfahren werden«, zumindest aber als »Erfüllung des menschlichen Daseins, insofern dieses nämlich als Leben an die ephemere Präsenz gebunden ist« (ebd., 178). Im Leibbewusstsein wird der Mensch seiner »radikalen Zeitlichkeit« inne und geht bewusst in der Präsenz auf. Ausgehend von der fundamentalen Entfremdung des Menschen von seinem Leib und der Analyse der technischen, den Leib überflüssig machenden Zivilisation, scheint in dieser Leibphilosophie am Ende »im Leibbewußtsein eine Chance persönlicher Erfüllung« auf (ebd.). Diese Chance wird jedoch durch die Herausforderungen unserer Zeit, wie z. B. Transplantationsmedizin, Gentechnik und Schönheitschirurgie (Böhme, 2003, 149 ff.) hintertrieben, so dass es heute darum geht, in der betroffenen Selbstgegebenheit Stand zu gewinnen – ein Thema für eine Ethik leiblicher Existenz. 1.4.2.2 Geschlechtlichkeit als Thema radikaler Betroffenheit Über den Bezug auf die Natur hinaus ist Böhme der erste Leibphilosoph, der sich schon früh mit der Geschlechterdifferenz befasst. Er nimmt das Thema Geschlechtlichkeit in seine »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« (1985) auf. Darüber zu reden sei aber »noch immer schwierig«, da einzulassen, die zwar einem tieferen Selbst angehören, deren Ursprung man als bewußte Person aber nicht ist« (Böhme, 1998, 176). 46 Böhme (1998, 177) erwähnt die Bedeutung des Sitzens in der Zen-Praxis. Bewusst atmen zu können sei »nicht wirklich eine Aktivität, sondern ein Sicheinlassen und Sicheinspielen, gewissermaßen ein Horchen auf einen Rhythmus«.

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jeder »von diesem Thema radikal betroffen« ist (ebd., 77). Das Geschlecht gehört zum Mensch-Sein in seiner Faktizität und ist prinzipiell unverfügbar, d. h. es fällt uns zu und entzieht sich einer vorhergegangenen Wahlfreiheit: »Man ist Mensch nur entweder als Mann oder als Frau, und was man ist, das hat man sich nicht ausgesucht.« (ebd.) Außerdem wird man es auch nicht wieder los, kann es nicht »verflüssigen«, wenngleich eine Minderheit sich zwischen den Geschlechtern bewegt oder zumindest zeitweise das andere Geschlecht zur Schau stellt oder durch plastochirurgische und hormonelle Eingriffe künstlich erzeugt. 47 Aufgrund der fundamentalen Betroffenheit durch Geschlechtlichkeit erörtert Böhme zunächst einen metaphysischen Ausgangspunkt, der für alles Seiende eine Grundpolarität konstatiert. »Man erfährt, daß man selbst nur ein Teil des Menschseins ist, daß man das Menschsein in sich nur zum Teil realisieren kann.« (ebd., 78) Der Einzelne stellt jeweils nur den männlichen oder weiblichen Exponenten des ganzen Menschen dar. Dieser Gedanke hat auch Stein beschäftigt, wenn sie schreibt, dass sich die Menschheit erst durch diese Doppelspezies im Verlauf der Geschichte realisiert. Während Stein jedoch einen abstrakten Zusammenhang meint, geht Böhme auf die am eigenen Leib erfahrbare Betroffenheit von diesem Teilsein ein. In der – u. U. als schmerzhaft empfundenen – Sehnsucht nach dem Anderen seiner selbst erfährt man dieses Teilsein und sucht es in Liebe und Sexualität zumindest für einige Momente in das Einssein zu überführen. Die Biologie hat den Nachweis geführt, dass menschliche Sexualität im Unterschied zur tierischen weniger eindeutig an die Fortpflanzung gekoppelt ist und dass darüber hinaus das Sexualverhalten wesentlich durch Lehre und Vorbilder bestimmt ist (Primaten finden nicht ›von selbst‹ zur Kopulation). Diese naturwissenschaftlichen Tatsachen interpretiert Böhme (ebd., 81 f.) dahingehend, »daß die kulturelle Ausprägung des Bereichs der Sexualität nicht quasi nur ein Überbau über den biologischen Notwendigkeiten und Instinkten ist, sondern ein unverzichtbarer Anteil der Sexualität selbst«. Das führt zur Sozialgeschichte und -wissenschaft der Geschlechtlichkeit und der Geschlechter. Die Cluster von Merkmalen, die den Geschlechtern im historischen Rückblick zugeordnet werden, und ihre Veränderung durch gesellschaftlichen Wandel sind heute wohlbekannt, ebenso die Verschiebung des Ge47

Böhme (1985, 77) weist darauf hin, dass diejenigen, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterziehen, in besonderer Weise von der Geschlechtlichkeit betroffen sind, »weil sie, sich gegen ihre Faktizität auflehnend, sie noch expliziter zum Thema machen«.

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Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

schlechterdiskurses von der Geschlechterdifferenz »von Natur aus« bzw. »durch göttliche Bestimmung« über die Geschlechtsrollendifferenz hin zur Benennung asymmetrischer Herrschaftsbeziehungen durch die Frauenbewegung. Was Stein mit ihrer Betonung des Individuums für eine Überschreitung von Geschlechterstereotypen, ›Naturanlagen‹ und ›Wesenskonstanten‹ pointiert, macht Böhme mit Rekurs auf den feministischen Diskurs der Rollendifferenz plausibel. Mit dem Aufweis der historischen Bedingtheit von Geschlechtsrollen sei »eine mögliche Differenz zwischen der Person und ihrer Geschlechtsrolle eingeführt« (ebd., 90). Damit stehe aber prinzipiell zur Debatte, »ob man als Individuum sich den Zumutungen der Geschlechtsrolle fügen will oder nicht, bzw. in welcher Situation man rollenspezifisch handeln will und in welcher nicht« (ebd.). Mit der feministischen Kritik sei aber nicht allein die inhaltliche Ausprägung der Geschlechterdifferenz diskreditiert worden; vielmehr wird – und das kritisiert Böhme z. B. an Beauvoir – das Männliche und das Weibliche als etwas dargestellt, das überwunden werden müsse. Damit sei aber das Problem nicht gelöst. Nicht nur im Alltag bleiben nach Geschlechtern und Lebensaltern unterschiedene Rollenzuweisungen wirksam, auch die Theorie kann »der Notwendigkeit von Geschlechtsrollen« nicht entgehen (ebd., 91). Heranwachsende lernen soziale Rollen maßgeblich an der Differenz der Lebensalter und der Geschlechter. Es sei unvermeidlich, »daß der Mensch, der Mann sich als Mann und die Frau sich als Frau, muß verstehen lernen«, weil in der gegenwärtigen Situation unserer Zivilisation »auch ohne subjektive Reflexion die Verhaltensweisen schon reflektiert sind« (ebd.). Der Mensch ist also immer schon bedrängt durch vorgegebene Identitätsmuster, die im Falle der Geschlechterdifferenz – wie Böhme zu Recht konstatiert – »durch Herrschaftsbeziehungen zwischen Mann und Frau« geprägt sind (ebd.). Was Stein als Wesen von Mann und Frau »von Natur aus« konzipiert, obwohl sie Einflüsse der Sozialisation anerkennt, erscheint hier als Rolle von Mann und Frau »von Kultur aus«. Beide Vorstellungen implizieren ein unverfügbares Element, das der Mensch in sein Selbstverständnis zu integrieren hat. Stein richtet den Blick auf das konkrete Individuum, das in der Lage ist, sich von diesem Unverfügbaren zu emanzipieren. Die Bestimmung der Geschlechterdifferenz als Rollendifferenz birgt ebenfalls die Möglichkeit der Distanzierung. Die Frauenbewegung hat durch die Betonung des sozio-kulturell hervorgebrachten Geschlechterdogmas dazu beigetragen, dass die kulturelle Stigmatisierung von Geschlechtern nicht nur bewusst, sondern auch der Verfügbarkeit anheim gestellt wird. Bei Böhme (ebd., 92) findet sich zum Thema »Geschlechtlichkeit« 75 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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noch eine andere Herangehensweise, indem er über die Rollendifferenz hinaus die Frage stellt, »ob Mann zu sein oder Frau zu sein nicht etwas Substantielleres ist, als die Rolle des Mannes oder der Frau zu spielen; man fragt sich, was es für einen selbst bedeutet, Mann zu sein oder Frau zu sein«. Eine Evaluierung am Leitfaden der Betroffenheit und der persönlichen Erfahrung zeige, dass das Mann- bzw. Frausein nicht ausschließlich eine Rolle ist, sondern auch ein Schicksal. Ein Mann oder eine Frau zu sein gehört, wie erörtert, zur Faktizität des Daseins. »Bevor man noch sich im Rollenschema orientieren kann, hat bereits eine männliche oder weibliche Biographie angefangen.« (ebd.) Wenngleich das Rollenspiel ein bestimmender Aspekt ist, erweist sich die Biographie ebenso durch Faktoren bestimmt, die »nicht erst der kulturellen Ausprägung der Geschlechtsdifferenz entspringen«. Als Beispiele nennt Böhme hier »Pubertät, der Menstruationszyklus, Schwangerschaft und Kinder gebären, Menopause, Klimakterium« (ebd.) für die weibliche Biographie, in späteren Publikationen werden auch Charakteristika der männlichen Biographie wie Stimmbruch, nächtliche Pollutionen, Bartwuchs etc. angeführt (Böhme, 2003, 314–339). Böhme verweist also auf Geschlechterdifferenzen, die nicht allein durch sozio-kulturelle Einschreibungen verinnerlicht werden. Mit Rekurs auf geschlechterspezifische Biographien könnten Differenzen, die sich im Rollenkonzept zu verflüchtigen scheinen, wieder eingeholt werden. Unter dem Topos einer Definition des Leibes als die Natur, die wir selbst sind, könne die »Erfahrung von Geschlechtlichkeit als Naturerfahrung« »gesichert werden«, d. h. die »Geschlechtlichkeit als Selbsterfahrung« (ebd., 315 f.). Die bisherige Vernachlässigung der Geschlechtlichkeit in der Leibphilosophie führt Böhme gerade darauf zurück, dass »sie sich nicht zugleich als Phänomenologie der Natur begriffen hat« (ebd., 316). Folglich versteht Böhme Geschlechtlichkeit als »Grundzug unseres leiblichen Daseins«, »in dem wir uns als Natur erfahren« (ebd., 320): »Trotz aller Bemühungen, die Natur loszuwerden, trotz der Disponibilität der Geschlechtsrollen, der Erfindung neuer Vokabulare, der hormonellen Steuerungen, der gesellschaftlichen Anerkennung der Homosexualität, trotz der Spiele der Transvestiten und der ernsten Schritte der Transsexuellen – für die meisten Menschen, ja sogar für die Geschlechtsdissidenten selbst bleibt die Zweigeschlechtlichkeit grundlegend.«

Geschlechtlichkeit ist »eine pathische Kategorie«, »etwas, das einem widerfährt« (ebd.), auch »als gesellschaftliche Zumutung« in Gestalt der »Zwangsheterosexualität« (Butler), das aber gleichwohl charakteristische Leiberfahrungen betrifft. »Bei beiden Geschlechtern sind das relativ dra76

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Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

matische Erfahrungen des Leibes als Natur.« (ebd., 325) So verweist Böhme auf Geschlechter-Biographien und Leibesinselerfahrungen, die im Kontext vorfigurierter gesellschaftlicher Ansprüche in den Lebensentwurf zu integrieren sind. 48 Böhmes Beschäftigung mit der Geschlechterfrage richtet sich noch auf einen anderen Aspekt, wenn er (2000, 127) in dem Aufsatz »Du trittst in Erscheinung« die Geschlechtlichkeit im Sinne einer Erfahrung des anderen und des eigenen Geschlechts »im leichten Anflug einer erotischen Atmosphäre« in den Blick nimmt. Dabei werden grundsätzliche Probleme einer »Phänomenologie der Geschlechter« (so der Untertitel) aufgezeigt. Zu Recht fragt Böhme, »aus welcher Perspektive« ein solcher Ansatz überhaupt zu leisten ist. Wenn Phänomenologen davon ausgehen, dass Erscheinung Erscheinung für jemand ist, so sei zu berücksichtigen, dass dieser jemand als leibliches Ich geschlechtlich bestimmt ist. 49 Gibt es aber, wie Böhme Buytendijk zitiert, »eine je besondere Erscheinungsweise des Geschlechts für das eigene und für das andere Geschlecht« (ebd., 118), so sei stets – was Buytendijk nicht tut – zu bedenken, dass man als Mann oder als Frau über das eigene oder das andere Geschlecht schreibt. Das eigene Geschlecht ist also mitanwesend, und dies bedingt gewisse Grenzen. Daraus zieht Böhme die Konsequenz: »… wir können diese Phänomenologie der Geschlechter überhaupt nur gemeinsam zustande bringen, wobei gemeinsam nicht einmal im üblichen Sinne kooperativ heißt, sondern strikt im Dialog, zweistimmig« (ebd., 118 f.).

Damit ist der Horizont für einen Diskurs um die Phänomenologie der Geschlechter umrissen, der unvollständig bliebe, wenn er nicht die Stimme und die Erfahrungen des je geschlechtlichen Anderen anruft und einbezieht.

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Eine Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht richtet sich auf die Aufgabe, »sich auf die eigene Natur als geschlechtliche einzulassen« und den Geschlechtsleib »zur Quelle des Selbst«, »eines lustvoll erfahrenen Selbst« werden zu lassen (Böhme, 2003, 336). 49 Die Geschlechtlichkeit wird aber, so Böhme (2000, 188), in einer »längst geschlechtsneutral gewordenen Arbeits- und Verkehrswelt« nur gelegentlich zur Kenntnis genommen, so dass geschlechtliche Existenz allenfalls als »ästhetische und die Geschlechterdifferenz als Konstellation im erotischen Spiel« gelebt wird.

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1.4.3 Leibliches Responsorium (Bernhard Waldenfels) 1.4.3.1 Der Leib als der Gesichtspunkt aller Gesichtspunkte Neben Schmitz und Böhme gehört Bernhard Waldenfels zu den bedeutenden Leibphänomenologen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 50 Er verfolgt mit Rekurs auf Husserl, Scheler, Plessner und vor allem Merleau-Ponty einen Ansatz, der den Leib in seiner Rätselhaftigkeit, seiner Zwischenstellung als weder den Dingen noch dem Geist zuschreibbar und schließlich in seiner Vieldimensionalität behandelt. Der Leib als Grundphänomen sei »der Gesichtspunkt aller Gesichtspunkte«, mithin eröffne sich mit ihm nicht irgendein Gegenstandsgebiet oder Thema, sondern »der Leib selber wirkt zurück auf die Zugangsweise, in der uns dieses und jenes begegnet« (Waldenfels, 2000, 9). Ein Paradox der philosophischen Bearbeitung des Themas Leib formuliert Waldenfels so: »Wir haben es mit einem Paradox der Selbstbezüglichkeit zu tun, denn über den Leib sprechen heißt in gewisser Weise, leiblich sprechen. Der Leib ist mit im Spiel, auch wenn wir über ihn sprechen.« (ebd.)

Neben Dimensionen der Leiblichkeit wie Empfinden und Wahrnehmen, Orientierung und Bewegung, Spontaneität und Gewohnheit sowie leiblicher Ausdruck ist für Waldenfels der Leib als »Umschlagstelle« 51 von Bedeutung, da er sich weder eindeutig dem Bereich des Geistes und der Kultur noch dem Bereich der Natur zuordnen lasse (ebd., 247). Er führt Merleau-Pontys »Ambiguität« und Plessners »exzentrische Positionalität« des Menschen an, um Selbstverdoppelungs- und Selbstdifferenzierungsprozesse sowie Phänomene der Selbstspaltung deutlich zu machen. In den Analysen zum leiblichen Selbst, das in einem Selbstbezug und in einem Fremdbezug gegeben ist, und das in der Zwischenleiblichkeit die Verschränkung von eigenem und fremdem Leib erfährt, thematisiert Waldenfels als einer der wenigen Leibphänomenologen auch die Generativität, wenngleich der Aspekt der leiblichen Biographie zugunsten der Bezie-

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Obschon sich viele Gemeinsamkeiten mit der Schmitzschen Leibphänomenologie aufweisen lassen, bleibt die Intensität unklar, mit der Waldenfels (2000, 267–273 u. 276–284) sich gerade von Schmitz abzugrenzen versucht bzw. ihn als Kontrahenten produziert. Es ist nicht beabsichtigt, auf diese Differenzen einzugehen, da für die vorliegende Arbeit beide Ansätze fruchtbar sind und deutlich wird, wie eng sie miteinander verbunden sind bzw. aufeinander verweisen. 51 Waldenfels verweist auf entsprechende Stellen in Husserls »Ideen II«. Vgl. Hua IV, 286.

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Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

hungsgeflechte der Generationen noch unterbelichtet bleibt. Auch die Geschlechterdifferenz findet in diese Überlegungen Eingang. Die Position von Waldenfels zeichnet sich dadurch aus, dass sie »den Leib nicht nur vertikal als Verbindung von Geist und Natur, von Animalität und Rationalität« betrachtet, sondern auch berücksichtigt, »wie der Leib auf der horizontalen Ebene« »von der Differenz zwischen Eigenem und Fremden gezeichnet ist« (ebd., 365). Zur Geschlechterdifferenz führt Waldenfels aus, dass sich im Leib ein Selbstbezug realisiere, der als solcher aber nur im Fremdbezug, »im Bezug auf einen anderen, fremden Leib« zur Entfaltung kommt. Diesen Gedanken entwickelt er in einer Theorie des leiblichen Responsoriums, die Leiblichkeit als responsive Leiblichkeit begreift, als eine »Verhaltens- und Erlebensweise«, die »immer schon auf fremde Ansprüche antwortet« (ebd.). Damit ist ein Instrumentarium gegeben, das bei der Analyse geschlechtlicher Leiberfahrungen aufgegriffen werden kann. 1.4.3.2 Polymorphismus des Geschlechtsleibes Am Thema Geschlecht ist Waldenfels (1997, 2000) interessiert, insofern er die von ihm entfaltete Phänomenologie des Fremden für eine Phänomenologie der Geschlechterdifferenz fruchtbar zu machen sucht, wobei er diese Themenstellung als »philosophisches Neuland« bezeichnet. Auch für Waldenfels ist die Rede über die Geschlechter problematisch. In einer phänomenologischen Betrachtungsweise wandele sich die Frage danach, wie wir vom anderen Geschlecht sprechen sollen, in die Frage: »Wie begegnet uns das ›andere‹ Geschlecht?« (Waldenfels, 1997, 66) Damit greift er die Dimension von Eigenheit und Fremdheit sowie die »gelebte Geschlechterbeziehung« (ebd., 71) auf, die wesentlich auf Leiblichkeit verweise. Hier sei der »Aspekt der Männlichkeit und Weiblichkeit« grundlegend, »da der Leib immer als geschlechtlicher Leib« auftrete; selbst die Neutralität erscheine noch »als Abschwächung einer Vielfalt oder als Verwischung eines Gegensatzes« (Waldenfels, 2000, 329). Um die Vielfalt des Geschlechtlichen anzudeuten, spricht Waldenfels mit Merleau-Ponty vom »Polymorphismus« des Geschlechtsleibes und greift auf die Begriffe Allianz, Konsanguinität und Deszendenz von Lévi-Strauss zurück. Eine Thematisierung der Geschlechtlichkeit des Leibes müsse »alle drei Dimensionen berücksichtigen: der Leib ist ein Geflecht aus verschiedenen Geschlechterbeziehungen und Geschlechterrollen« (ebd., 357). Das Spektrum der Analyse erstreckt sich z. B. auf die Termini männlich und weiblich als Attribute, als Qualitäten, als morphologische Begriffe, als ge79 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

I Methodologisch-systematische Grundlagen

schlechtliche Wörter und nimmt Bezug auf Personalpronomina, die Vielfalt der Geschlechterrollen usw. Methodisch fordert Waldenfels, die Erfahrung und Bestimmung der Geschlechter in vertikaler und horizontaler Dimension zu behandeln. Diese beiden Perspektiven seien aber keine Alternativen, sondern gleichermaßen unentbehrlich: »Bei der vertikalen Dimension von Allgemeinem und Besonderem geht es um die Bestimmung der Geschlechterdifferenz, während in der Behandlung der horizontalen Dimension die fremdgeschlechtliche Erfahrung bzw. der Zugang zum jeweils anderen Geschlecht im Mittelpunkt stehen.« (ebd., 340).

Schließlich weist er wie Böhme darauf hin, dass eine genetische Phänomenologie der Geschlechter in Betracht ziehen müsse, »daß der Leib als Geschlechtsleib selber eine bestimmte Geschichte durchläuft« (ebd., 360). Sein Beispiel, das Ritual der Beschneidung, stellt aber gerade den kulturellen Aspekt dieser Geschichte in den Vordergrund und rekurriert nicht darauf, dass der Geschlechtsleib einer eigenleiblichen Autorität und Biographie untersteht. Auch wenn also Waldenfels mit Bezug auf Merleau-Ponty den »Geschlechtsleib« thematisiert und den Aspekt der Männlichkeit und Weiblichkeit für grundlegend hält, so nimmt er doch keineswegs geschlechtsspezifische Leiberfahrungen selbst in den Blick.

1.5 Phänomenologie und Feminismus 1.5.1 Der generische und der geschlechtliche Leib Die vorangegangenen Analysen haben gezeigt, dass die phänomenologische Philosophie des Leibes heute auf eine breit entfaltete Tradition zurückblicken kann, die als junge Forschungsdisziplin in erster Linie darum bemüht war, theoretische Grundlagen zu schaffen. Während kulturgeschichtliche und -vergleichende Aspekte dabei schon eher berücksichtigt wurden, 52 kann die Thematisierung des Geschlechts als marginal bezeichnet werden. Die Phänomenologie hat den Leib in der Regel als gattungsmäßigen thematisiert. Worauf bezieht sich aber die Rede von dem Leib? Gibt es den Leib, sprich den verallgemeinerten Leib überhaupt? Einigen Theoretikern ist es selbstverständlich, von dem Leib zu sprechen, umfassende Topographien, Alphabete und Responsorien der Leiblichkeit zu entwickeln sowie bis auf die Ebene affektiver Betroffenheit als Konkretion 52

Vgl. u. a. Rappe, 1995; Berkemer/Rappe, 1996.

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Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

leiblicher Erfahrung zurückzugehen, also den Leib, obschon er einem umfangreichen lebensweltlichen Zusammenhang ausgesetzt ist, als Neutrum zu sehen. Die gelebte Erfahrung lässt sich aber nicht ausschließlich vom Allgemein-Menschlichen her, das oft mit dem Männlichen identifiziert wird, verstehen. Der seinen Leib erfahrende Mensch kann ein Kind sein, ein Heranwachsender, ein Kranker, ein Greis, er kann Mädchen oder Junge, Frau oder Mann, Mutter oder Vater etc. sein, und in diesem Spektrum zeigen sich fundamentale Differenzen der Leiberfahrung. Die generische Analyse des Leibes stößt hier auf Grenzen bzw. bricht sich an Grenzen, die selbst als konstitutiv für die Gattung Mensch anzusehen sind. Wenn wir z. B. vom Menschenkörper behaupten, dass er Öffnungen für Ausscheidungen besitzt, so sehen wir uns der einen Tatsache gegenüber, dass es Ausscheidungen gibt, die alle Menschen betrifft, gleich welcher Kultur, welchen Geschlechts, Alters und sozialen Stands, und der anderen Tatsache, dass die eine Hälfte der Menschheit über andere Körperöffnungen als die andere verfügt und sich an ihnen auch andere Ausscheidungen ereignen. Wie sind solche Phänomene hinsichtlich eines verallgemeinerten Leibes zu bewerten? Müssen wir nicht davon ausgehen, dass solcherart differenzierte Körper auch anders gespürt werden? Die Philosophiegeschichte jedenfalls ist reich bestückt mit Beispielen unreflektierter Ausschlusspraxen und hat sich in einer Tradition weitreichender Androzentrismen, Eurozentrismen und Essenzialismen entfaltet. Es mag nicht verwundern, dass eine sich konstituierende Phänomenologie des Leibes zunächst einem androzentrischen Zusammenhang verhaftet blieb und sich die Frage nach der Geschlechtlichkeit des Leibes ebenso wenig stellte wie die nach den Lebensaltern oder der sozialen Situiertheit des Leibes. Dass aber Denkerinnen wie Stein ihre Kritik an der unwissenschaftlichen bzw. fehlenden Thematisierung der Geschlechterfrage formulierten, deutet einen Wandel im philosophischen Denken an. Dieser ging maßgeblich vom Feminismus aus, also jener aus der Erfahrung von Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Verletzbarkeit entstandenen politischen Bewegung, die vor allem in den westlichen Kulturen eine umfassende Umwälzung sozialer Verhältnisse herbeigeführt hat. 1.5.2 Historisches zum Verhältnis von Phänomenologie und Feminismus Was haben zwei so unterschiedliche Diskurse wie Phänomenologie und Feminismus gemeinsam? Die Antwort auf diese Frage fällt angesichts deutlicher Divergenzen vielschichtig aus. Sie führt sowohl in die Anfänge 81 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

I Methodologisch-systematische Grundlagen

der Phänomenologie als auch in die aktuelle feministische Philosophie und wird erst seit wenigen Jahren diskutiert (Stoller/Vetter 1997; Fisher/ Embree 2000; Heinämaa 2003). Am Leitmotiv des Geschlechts lassen sich Aspekte einer Koalition zwischen Phänomenologie und Feminismus verdeutlichen, wobei die Phänomenologie den Feminismus braucht, will sie nicht in ihrer systematischen Einheit unvollständig bleiben und – wie Linda Alcoff (1997, 227) sagt – »museales Artefakt der Philosophiegeschichte sein«, und umgekehrt die feministische Theorie die Phänomenologie braucht, will sie nicht durch Dekonstruktion der Geschlechterdifferenz ihr originäres Thema, das geschlechtliche Subjekt, verlieren bzw. der Beliebigkeit anheim stellen. Phänomenologie und Feminismus haben bekanntermaßen eine ungleiche Geschichte, insbesondere wenn man Personalia und institutionelle Verankerungen betrachtet. Während die Phänomenologie im universitären Betrieb entstand und in der phänomenologischen Bewegung einen gewissen Einfluss auf die Kultur hatte, entstammt die feministische Philosophie der Tradition einer politischen Bewegung mit einer eigenen Geschichte der Theoriebildung, die im akademischen Bereich erst allmählich Wirkungen zeigte. Skizzen einer feministischen Philosophie werden zwar schon in der Antike, etwa bei der Epikureerin Leontion, vermutet, und lange vor Husserls »Logischen Untersuchungen« (1900/01) hatten sich die Frauenbewegungen politisch formiert. In der Gründungsphase der Phänomenologie jedoch waren Frauen in Deutschland nicht einmal wahlberechtigt. An den Universitäten waren sie nur Randerscheinungen und wurden u. a. aufgrund der Habilitationsverweigerung nicht als vollwertige Mitglieder der scientific community akzeptiert. Als Beauvoir 1949 »Le deuxième sexe« veröffentlichte, verstand sie sich nicht als Feministin. Sie ließ sich erst in den 1970er Jahren als ›Gründungsmutter‹ der feministischen Philosophie rückwirkend adoptieren. Phänomenologische und feministische Philosophie weisen heterogene Diskursstrukturen auf. Die Phänomenologie, als Methode und Grundlagenwissenschaft konzipiert, hat weitreichenden, international gestreuten Einfluss auf einige philosophische Strömungen im 20. Jahrhundert ausgeübt. Doch schon bei Husserl lassen sich Phasen phänomenologischer Entfaltung unterscheiden, und das Themenspektrum seiner Schule erstreckt sich auf transzendentale, mundane, ontologische, hermeneutische, existentialistische Aspekte. Die feministische Philosophie war stets durch Methodenvielfalt und eine ideologiekritische Haltung charakterisiert. Ihre Forschungsschwerpunkte entstanden u. a. durch Koalitionen mit der Kritischen Theorie, dem Marxismus, der Psychoanalyse, der Analytischen 82 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

Philosophie, und dem Poststrukturalismus, erst neuerdings auch mit der Phänomenologie. 53 Seit Beginn ihres Einzugs in die Universität besteht jedoch eine auffällige Affinität von Frauen zur Phänomenologie, die bis heute ungebrochen ist. 54 Diese Nähe verweist auf weitere, wissenschaftstheoretische Fragen, nämlich, ob es geschlechterspezifische Präferenzen bei der Wahl philosophischer Theoreme gibt, ob es so etwas wie ein weibliches und ein männliches Philosophieren gibt, wie sich Männer und Frauen in der ungleichen Geschichte ihres Etablierens im wissenschaftlichen Betrieb konstituieren und wie sie aufeinander reagieren – Fragen, die weit über das Thema dieser Arbeit hinausweisen. Das Interesse der ersten graduierten Philosophinnen an der Phänomenologie wurde beispielsweise von der italienischen Phänomenologin Angela Ales Bello untersucht, die sich an der Frage orientierte: »Enthielt die Methode an sich nicht eigentlich mehr als nur ›Männerdenken‹ ?« (Ales Bello, 1996, 167). Dabei sieht sie eine geschlechtsspezifische, eher weibliche Eigenart der phänomenologischen Methode in ihrer »nicht-aggressiven Vorgehensweise«, die sich bemühe, »die Sachen selbst« sprechen zu lassen: »Es ist eine friedliche Begegnungsform, die die Bedeutung ›der Sachen‹ intuitiv aufnimmt und, jenseits einer rein intellektualistischen Sicht, die Wirklichkeit in ihrer ganzen Tiefe erfaßt.« (ebd., 168)

Ob es sich hier allerdings um eine treffende Charakterisierung handelt, erscheint zweifelhaft. Während Husserl seiner eigenen Methode nach Ales Bello nicht konsequent Rechnung getragen habe, hätten Edith Stein, Hedwig Conrad-Martius und Gerda Walther in einer Wendung zur »realistischen Phänomenologie« viel eher dem Anspruch Husserls entsprochen. Sie hätten die Notwendigkeit betont, vom intellektuellen Nachdenken »einen der Wirklichkeit gerecht werdenden Gebrauch zu machen, um der Welt empfindsam, respektvoll, unter Berücksichtigung der Mannigfaltigkeit und Komplexität der Phänomene begegnen zu können« (ebd., 168 f.). 53

Zur aktuellen Bestandsaufnahme feministischer Philosophie s. Nagl-Docekal, 2001. Die feministische Philosophie ist die einzige philosophische Disziplin, in der Männer beinahe völlig unsichtbar sind, obwohl sich das Projekt »feministische Philosophie«, wie Hilge Landweer (2000, 231) ausführt, »an Männer ebenso wie an Frauen« richtet, »da es innerhalb der Philosophie nicht um Selbstverständigung von Frauen, sondern um die Transformation einer Wissenschaft geht«. 54 So gründete Anna Teresa Tymieniecka das World Institute for Advanced Phenomenological Research and Learning in Massachusetts, dem zahlreiche nationale Institute angegliedert sind. Die Forschungs- und Organisationstätigkeit dieser Institute wird oft – und häufiger als bei vergleichbaren Einrichtungen – von Frauen geleitet. Vgl. Ales Bello, 1996, 167.

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I Methodologisch-systematische Grundlagen

Für Ales Bello waren diese drei Phänomenologinnen »unterwegs zu einer weiblichen Philosophie« (ebd., 172). Das Thema einer »weiblichen Philosophie« wird jedoch von keiner dieser Denkerinnen aufgegriffen, und es lässt sich bezweifeln, ob man Geschlechterstereotypen so zur Geltung bringen kann, bzw. ob man überhaupt von einer männlichen und weiblichen Philosophie sprechen sollte. Ähnlich geartete wissenschaftstheoretische Annahmen, wie die vom Logozentrismus der europäischen Philosophie im Unterschied zum ganzheitlichen Ansatz des asiatischen Denkens, gelten heute auch im Kulturvergleich als überholt. Bemerkenswert ist aber, dass die Biographie der drei genannten Phänomenologinnen in eklatanter Weise von geschlechtsspezifischen Ausgrenzungen bestimmt war. Bei Stein und Walther, die beide der Frauenbewegung nahestanden, stoßen wir jedenfalls auf eine erste Verbindung zwischen Phänomenologie und Feminismus. Stein und Beauvoir haben dann phänomenologisch gestützte Geschlechtertheorien konzipiert, noch bevor die feministische Theorie in der Philosophie überhaupt eine Rolle gespielt hat. Weitere Verbindungen zwischen feministischen Philosophinnen und der sich wandelnden Phänomenologie lassen sich auch für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts aufweisen, z. B. bei Luce Irigaray in einer kritischen Auseinandersetzung mit Merleau-Ponty und Lévinas, bei Gesa Lindemann mit der Anknüpfung an Plessner und Schmitz hinsichtlich der »leiblichaffektiven Konstruktion« des Geschlechts oder mit Landweers Bezugnahme auf Schmitz im Hinblick auf die Gefühle. Sogar bei Butler lassen sich Bezüge finden, obwohl sie nicht gleich offensichtlich sind. 55 Sie versteht in dem Aufsatz »Performative Acts and Gender Construction: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory« (1988) die Intentionalität als performative Konstruktion. Über ihre Kritik an Merleau-Ponty aus dem Jahr 1981 schreibt Butler später (1997a, 185), sie habe trotz ihrer »Enttäuschungen« über sein Werk auch »nach einer Möglichkeit« gesucht, »seinen Ansatz für die feministische Theorie aufrechtzuerhalten«. Sie hält einen »phänomenologischen Feminismus« für möglich, wenn phänomenologische Analysen geschlechtsspezifisch und geschichtlich ausgerichtet würden. Butler greift auch Beauvoirs Position vom Körper als Situation auf: »Wenn der Leib eine Situation ›ist‹, dann ist er nicht ganz dasselbe wie der Kontext, in dem er steht, und tatsächlich kann man diesen Kontext nicht als etwas dem

55

Butler war an der Yale University Schülerin des Phänomenologen Maurice Natanson, der wiederum bei Alfred Schütz hörte.

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Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

gelebten Körper Äußerliches denken. Der Begriff ›Situation‹ meint, daß der Kontext leiblich gelebt wird.« (ebd., 184)

In ihren neueren Arbeiten zum Leib als Chiasmus sieht Butler sich wieder in der Nähe Merleau-Pontys. Beide Begriffe, Leib als Situation und als Chiasmus, könnten von ihm »hergeleitet werden« und der letztere bilde »die Grundlage für vieles von dem«, was sie »in Körper von Gewicht über das Verhältnis von Sprache und Leib sagen« wolle (ebd., 185). 56 Damit wird deutlich, wie wichtig gerade für die heutige Diskussion um die Konstruktion von Geschlecht der Dialog zwischen Phänomenologie und Feminismus ist. 1.5.3 Feministische Kritik an der Phänomenologie Allerdings darf Butlers Verbindung zur Phänomenologie nicht überinterpretiert werden. Grundsätzlich repräsentiert sie eher die kritische Haltung gegenüber der Phänomenologie. Die Vorwürfe der feministischen Kritik an die Phänomenologie richten sich auf ihre Neigung »zu einer generischen Beschreibung«; Erfahrung werde gattungsbezogen behandelt, »als Erfahrung eines der Gattung Mensch angehörenden [generic] Individuums« (Fisher, 1997, 23). »Sogar wenn es um eine Phänomenologie des Leibes oder der leiblichen Erfahrung geht«, so skizziert Linda Fisher (ebd.) die Kritik, wird »ein Leib vorgeführt, der wesentlich gattungsmäßiger Leib ist«. Dem kann man nach den bisherigen Ausführungen weitgehend zustimmen. Das Bewusstsein ist für Husserl wesentlich Bewusstsein als solches, die Erfahrung, selbst die leibliche Erfahrung bei Schmitz, ist Erfahrung als solche – und das heißt: nicht geschlechtlich geprägt. Demgegenüber kritisiert Fisher (ebd.), dass die »gelebte Erfahrung als solche, und hier besonders die leibliche Erfahrung«, nicht »in einer generischen Analyse« abgehandelt werden könne: Körper hätten »ein biologisches und Individuen ein soziales Geschlecht«. Dies weise hin auf die »irreduzible Besonderheit der weiblichen Erfahrung, die die Phänomenologie, wie es scheint, nicht beachtet« (ebd.). Ergänzend muss man sagen, Körper haben 56

Butler (1997a, 185) konkretisiert: »Obwohl der Leib wie eine Sprache ist und durch die Sprache zugänglich gemacht wird, überschreitet er doch auch die Sprache, von der er abhängt. In ähnlicher Weise verlangt die Sprache, daß der Leib geschrieben und gesprochen wird, aber sie löscht diese Abhängigkeit von ihm aus, ohne sie wirklich zu überwinden. Genau auf diese ›Verflechtung‹ … macht uns Merleau-Ponty aufmerksam, und sie bleibt ein Knoten in allem Denken über den Leib.«

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I Methodologisch-systematische Grundlagen

eine biologische Entwicklung und Individuen eine leibliche Biographie, was in der Phänomenologie auch weitgehend übergangen wird. Der universalistische Anspruch der Phänomenologie hat die Kritik des Feminismus herausgefordert, die der Phänomenologie vorwirft, hegemonial, androzentrisch und männlichkeitsorientiert zu sein. Obwohl Fisher diese Aspekte in erster Linie mit der traditionellen Phänomenologie in Zusammenhang bringt und dabei ihren Blick auf die nordamerikanische feministische Rezeption der Phänomenologie richtet, läßt sich ihre Kritik auf die neuere Leibphänomenologie ausweiten. Fisher schreibt zu Recht: »Wenn ein Ansatz nicht erkennt, daß seine Beschreibungen die Besonderheiten der weiblichen Erfahrung ausschließen – so z. B. diejenige des schwangeren Leibes –, dann verrät er die ihm zugrundeliegende (maskulinistische) Annahme, die generische Beschreibung würde alle Möglichkeiten abdecken.« (ebd., 31)

Gleiches gilt für die Besonderheiten etwa kindlicher Leiberfahrungen, die in der statischen Perspektive des geschlechtslosen Erwachsenen mittleren Alters ebenfalls keinen Ort haben. Zwar muss mit Fisher zugestanden werden, dass eine gattungsmäßige Analyse nicht zwingend hegemonial ist und spezifischere Darstellungen nicht ausschließt. Die feministische Philosophie kann aber für die Phänomenologie, vor allem wenn es um Leib und Leiberfahrungen geht, ein Korrektiv sein, will man sie, wie Landweer (2000, 231) im Anschluss an Nagl-Docekal als einen Ansatz verstehen, der alle Gebiete der Philosophie neu zu durchdenken hat, und zwar »am Leitfaden des Interesses, Diskriminierungen und Vereinseitigungen innerhalb der Theorie« aufzuheben. Der Widerspruch zwischen der generischen Ausrichtung phänomenologischer Konstitutionsanalysen und den feministischen Analysen konkreter gesellschaftlicher Zustände wurde von der feministischen Theorie lange Zeit als unüberwindliches Hindernis einer Annährung der Diskurse betrachtet. Untermauert wurde diese Perspektive durch den Vorwurf des Essenzialismus, des Eurozentrismus und einer Subjekttheorie jenseits sozialer und kultureller Differenzierung. Dazu Fisher (1997, 28): »Aus der Sicht einer feministischen Kritik gibt es einen solchen Aspekt schlichtweg nicht.« Obwohl Fisher den dargelegten Vorwürfen in großen Teilen zustimmt, setzt sie sich – wie auch Stoller – für eine positive Deutung des feministisch-phänomenologischen Dialogs ein und beharrt auf einer Lektüre der Husserlschen Methodologie als Wegweiser für offene Forschungsfelder. Fisher fordert sowohl von der Phänomenologie als auch vom Feminismus, sich wechselseitig mehr Raum zu geben. Für die Phänomenologie 86 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

bestehe die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit den Unterschieden von sex und gender: Sie müsse sich »mit solchen Fällen spezifischer Erfahrungen auseinandersetzen, ohne die ihre Beschreibungen ernsthafte Lücken aufweisen« (ebd., 30). Für Alcoff (1997, 227) ist es eine Tatsache, »daß die Phänomenologie den Feminismus braucht«. Zu einer konstruktiven Weiterführung gehöre, dass sie sich »zu den Momenten, in denen sie von männlichen und – wie ich behaupte – rassistischen und eurozentristischen Grundannahmen beeinflußt wurde, bekennen und diese erforschen« müsse. Umgekehrt könne für den Feminismus, nach Fisher, die Phänomenologie bei der Analyse weiblicher Erfahrung von Gewinn sein. Dies gilt insbesondere für die neuere Leibphänomenologie, die Fisher wohl aufgrund fehlender Übersetzungen nicht kennt. Der phänomenologische Blick auf die Erfahrung könne durch Berufung auf die »subjektive Objektivität« feministische Erfahrungsbeschreibungen methodisch fundieren und etwa mit der Analyse von Evidenz und Gegebenheit legitimieren. Auch Alcoff sieht in der Phänomenologie eine Schlüsselfunktion für die feministische Theorie, wenn es darum geht, Erfahrung in Bezug auf Diskursformationen zu untersuchen, was insbesondere seit dem poststrukturalistischen Feminismus relevant ist. Die feministische Theorie benötige »eine zutreffendere Darstellung der Beziehung von Theorie und Erfahrung, eine Darstellung, in welcher die Theorie in einem grundlegenden Sinne verleiblicht ist und nicht vom Körper losgelöst in irgendeinem immateriellen, diskursiven Raum« (ebd., 237). Für die gegenwärtige Begegnung zwischen Phänomenologie und Feminismus ist eine Asymmetrie bezeichnend, bei der eine größere Rezeption der Phänomenologie in der feministischen Theorie sichtbar wird als umgekehrt eine Aufnahme feministischen Gedankengutes in die Phänomenologie. Die feministische Philosophie kritisiert die Phänomenologie, greift sie aber auch bereits zur Selbstkritik und für eigenständige Analysen auf. Die Phänomenologie öffnet sich aber nur zögernd der feministischen Kritik an ihr und spezifischen Fragestellungen des Themas Geschlecht. Eine Begegnung zwischen Phänomenologie und Feminismus könne aber, so Fisher, über Vergleich und Kritik hinaus zu einer wirklichen Zusammenarbeit führen. 57 Ihr Ziel wäre indes eine »synthetische Beziehung«, eine »Verschmelzung der Horizonte« im Sinne Gadamers (Fisher, 1997,

57

Fisher (1997, 31) spricht hier von einer »feministischen Phänomenologie« oder einem »phänomenologischen Feminismus«, dem sie in dem Buch »Feminist Phenomenology« (2000) Nachdruck verleiht.

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I Methodologisch-systematische Grundlagen

42). Allerdings sind die in einem Bündnis zwischen der philosophischen Tradition und der feministischen Theorie entstehenden »Ehen« kritisch zu hinterfragen, denn sie würden, so Klinger, häufig zu Ungunsten der feministischen Theorie verstanden. Hier macht Stoller (2002, 2) auch für die Koalition zwischen Phänomenologie und Feminismus deutlich: »Sollte es sich zeigen, dass die Phänomenologie feministische Fragestellungen und Themen lediglich als Anwendungsfall benützt, dann ist der feministische Teil einer solchen Verbindung so viel wert wie eine Alibifrau im öffentlich männlich dominierten Raum.«

Stoller (ebd., 3) sieht den Gewinn einer feministischen Phänomenologie »in einem bilateralen Verhältnis der gegenseitigen Kritik und Korrektur zwischen feministischer und phänomenologischer Philosophie« und beschreibt als »günstigsten Fall« nicht nur einen Beitrag zum »theoretischen Binnendiskurs der feministischen Philosophie«, sondern zur »Weiterentwicklung der Philosophie allgemein«. Dieser optimistischen Einschätzung stehe ich allerdings skeptisch gegenüber. Die wenigen Ansätze, die sich aus phänomenologischer Perspektive mit dem Geschlecht befassen, können als Reaktion auf den Feminismus gelesen werden, so z. B. schon die kritische Antwort Buytendijks auf Beauvoir (vgl. Banchetti-Robino, 2000, 83– 101). Wenngleich Böhme und Waldenfels den Leib auch als Geschlechtsleib thematisieren, wird der Horizont subjektiver Betroffenheit vom Geschlecht inhaltlich noch wenig bis gar nicht gefüllt. Böhmes Forderung nach »Zweistimmigkeit« ähnelt aber Fishers Überlegungen zu einer feministischen Phänomenologie, in der es auch um Analysen geht, die »geschlechtlich geprägt« sind.

1.5.4 Auf dem Weg zu einer Phänomenologie geschlechtlicher Leiberfahrungen Für eine vertiefende Begegnung der Diskurse geht Fisher verschiedene Spielarten durch, die sie unter den Topos einer feministischen Phänomenologie stellt, für die sie aber bei der Entfaltung eines synthetischen Modells noch weitere Benennungen einführt. Eine systematische Zusammenführung von Phänomenologie und Feminismus sieht sie in der methodischen Fundierung des subjektiven Standpunktes. Die vom feministischen Körperdiskurs eingebrachten Erfahrungsbeschreibungen würden »von der philosophischen Kritik häufig als eher anekdotisch, subjektivistisch und daher unphilosophisch verworfen«. Die Einbettung der subjek88 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

tiven Perspektive in einen phänomenologischen Rahmen könne aber »die Möglichkeit geben, solchen Kritiken zu begegnen.« Denn: »Der phänomenologische Zugang zur Beobachtung und Verifikation von Erfahrungsansprüchen entspricht weder den objektivistischen analytischen Kriterien, noch ist er einfach unbegründet und subjektivistisch. Er ergreift das Wort für eine ›subjektive Objektivität‹ als eines der wesentlichen Aspekte phänomenologischer Methodologie.« (Fisher, 1997, 32 f.)

Auffallend an dieser Position ist die Nähe zu Thesen von Schmitz. Fisher tritt praktisch für das ein, was Schmitz mit der Rehabilitation der »subjektiven Tatsachen« verfolgt, denn, so Schmitz (1995, 7): »Subjektive Tatsachen sind sozusagen in höherem Maße als objektive Tatsachen tatsächlich; sie haben die Lebendigkeit des blutvoll und dringlich Wirklichen, während die bloß objektive, allein durch objektive Tatsachen konstituierte Welt so etwas wie ein Präparat ist, abgeblaßt und zurechtgemacht für Erzählungen in der dritten grammatischen Person …«.

Weil aber subjektive Tatsachen in objektive und diese in jene eingebettet seien, »im Wechsel von Subjektivierung und Objektivierung«, könne Philosophie verstanden werden als das »zwischen Objektivität und Subjektivität« vermittelnde »Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung« (ebd., 9). Mit Bezug auf die »subjektive Objektivität« sieht Fisher (1997, 34) ein feministisch-phänomenologisches Zusammenspiel etwa in dem »Unternehmen einer Beschreibung weiblicher Erfahrung – mit dem Ziel, die geschlechtlich geprägten Besonderheiten herauszuarbeiten und so die Mängel früherer phänomenologischer Analysen zu beheben«. Hier hat u. a. Iris M. Young bereits Ergebnisse vorgelegt, z. B. mit dem Aufsatz »Throwing like a Girl: A Phenomenology of Feminine Body Comportment, Motility, and Spatiality«. Mit Rekurs auf Merleau-Pontys Analysen zum gelebten Leib beschreibt sie weibliche Leiblichkeit unter dem Aspekt der Orientierung im Raum. Außerdem widmet sie sich weiteren Leiberfahrungen in den Aufsätzen »Pregnant Embodiment: Subjectivity and Alienation«, »Women Recovering Our Clothes« oder »Breasted Experience: The Look and the Feeling« (vgl. Young, 1990, 141- 209). In einer solchen Kombination von Phänomenologie und Feminismus sieht Fisher jedoch die Tragweite des Dialogs noch nicht ausgeschöpft. Wirkliche Zusammenarbeit müsse sich auch an den jeweiligen Widersprüchen abarbeiten. Dem feministischen Vorwurf des Essenzialismus hält Fisher entgegen, dass nicht jeder auf Allgemeingültigkeit zielende Ansatz so89 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

I Methodologisch-systematische Grundlagen

gleich verdinglichend sei und generische Beschreibungen des Leibes nicht grundsätzlich falsch seien. Vielmehr sollte mit der Wesensanalyse versucht werden, »meine eigenen Erfahrungen, die für mich individuell und singulär sind, gleichzeitig als gemeinsam und allgemein zu beschreiben und sie insofern innerhalb eines weiter gefaßten kategorialen Begriffsrahmens zum Ausdruck zu bringen« (Fisher, 1997, 39). Dieser Trend zu ausgewogenen Beschreibungen hinsichtlich der objektiven und subjektiven Aspekte kann mit Schmitz (1995, 9) weiter geführt werden, denn er spricht von einem mehrstufigen Verfahren des Herausfilterns »objektiver Rumpftatsachen« aus den subjektiven Tatsachen. Diese seien dann »zur vollblütigen Subjektivität für sich in Beziehung zu setzen«; der »objektivierte Rest« sei aber, da die Objektivierung nie vollständig gelingen könne, wiederum als »Umgebung« aufzufassen, in der man sich erst noch zu finden habe. Fisher (1997, 39 f.) fragt, ob »die Darstellung einer allgemeinen Erfahrung des Einen-Leib-Habens« überhaupt möglich sei, wobei es ihr um eine Darstellung geht, »die die Besonderheiten meines Leibes nicht negiert oder übersieht, sondern sie im positiven Sinne kodiert«. Damit würde die Wesensanalyse im Sinne eines »strukturierenden, kodierenden Prozesses« interpretiert, der Besonderheiten weder leugnet noch tilgt, sondern »Wegweiser für weitere individuelle Spezifizierungen« (ebd., 40) wie Rasse, Kultur, Können usw. sein könne. Diese Konstruktion Fishers bleibt aber aus meiner Sicht unklar, wo es um eine »allgemeine Erfahrung des EinenLeib-Habens« geht, und zeigt Explikationsbedarf, wie der Brückenschlag vom Generischen zum Besonderen zu verstehen ist. In Bezug auf die subjektive Tatsache der leiblichen Existenz würde ich mit Fishers Argument von der »subjektiven Objektivität« gerade umgekehrt nach Darstellungsformen des Meinen-Leib-Habens suchen, die vom Subjekt ausgehend die allgemeine Erfahrung des Einen-Leib-Habens nicht negiert. Dadurch könnte die generische Ebene grundsätzlich durch eine Vielzahl konkreter Leiberfahrungen eingeholt werden, ein Verfahren, das schon Schmitz anwandte, nun aber auf die geschlechtliche Leiberfahrung zu beziehen ist. So könnte die Forderung von Alcoff (1997, 246) erfüllt werden, nämlich »die diskursiven Beschreibungen der Konstruktion geschlechtlicher Erfahrung mit den phänomenologischen Beschreibungen der leiblichen Auswirkungen gewisser Praktiken auf die Subjektivität zu ergänzen« und umgekehrt. Im Spannungsfeld von Feminismus und Phänomenologie entsteht so ein fruchtbarer hermeneutischer Zirkel, der im Weiteren am Geschlechtsleib seine Anwendung finden soll. Ein synthetisches Modell, das über einen »Feminismus aus phänomenologischer Perspektive« oder eine »Phänomenologie aus feministischer 90 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Leib und Geschlecht in der Phänomenologie

Perspektive« hinausginge und sowohl feministisch als auch phänomenologisch wäre, beschreibt Fisher (1997, 42) als »geschlechtlich geprägte Phänomenologie oder Phänomenologie der Geschlechtlichkeit und geschlechtlich geprägter Erfahrung«. Das bedeute nicht nur eine phänomenologische Analyse »des Geschlechts (die ihren Ort im Rahmen einer Kulturphänomenologie finden könnte) oder des Geschlechts als regionaler Ontologie, sondern phänomenologische Analysen, die geschlechtlich geprägt sind.« Dabei hat sie die Strukturanalysen der Subjektivität im Blick. Bei der Frage »Ist z. B. das Bewußtsein geschlechtlich geprägt?« will sie die Relevanz allgemeiner Analysen des Bewusstseins nicht leugnen, sondern »zusätzliche Aspekte« thematisieren, »das Ausmaß nämlich, in dem der Begriff des Bewußtseins im Sinne der subjektiven Aktivität eines situierten, sozialen, geschlechtlich geprägten Subjekts sich durch bestimmte Überlegungen (in unserem Falle das Geschlecht betreffend) wandelt« (ebd.). Das bedeute die Zusammenführung »von Allgemeinheit und Besonderheit als mit-determinierender strukturaler Komponenten«, »die für Wesen und Sein des Bewußtseins in seiner Strukturgesamtheit konstitutiv sind« (ebd., 43). Darin sieht Fisher eine der provokativen Möglichkeiten einer feministischen Phänomenologie. Solche Überlegungen lässt Fisher jedoch als noch auszuführendes Programm stehen, so dass zu klären bleibt, wie das Konglomerat verschiedener Benennungen für mögliche Diskursformationen inhaltlich und methodisch abzugrenzen und wie das Verhältnis zwischen Generischem und Geschlechtlichem bei der Wesensanalyse im Sinne eines »strukturierenden, kodierenden Prozesses« zu fundieren ist. Eine feministische Kritik fordert ferner Rechenschaft über die Kriterien ein, die eine phänomenologische Analyse als »geschlechtlich geprägt« kategorisieren. Wir stehen hier vor der prekären Situation, dass die feministische Theorie, will man sie denn in der Phänomenologie ernst nehmen, die Kategorie »Geschlecht« in einer Weise aufgeweicht hat, dass damit sogar ihre Selbstauflösung drohte. Wie immer man Fishers Bezeichnungen für synthetische Modelle im Einzelnen bewerten mag, eine »Phänomenologie der Geschlechter« befindet sich, sofern sie nach dem Zweigeschlechtermodell verfährt – und auch das darf heute keineswegs mehr unhinterfragt geschehen –, auf einer Gratwanderung zwischen biologischem Determinismus einerseits, der die Identität von sex und gender qua Natur postuliert, und einem poststrukturalistischen Determinismus à la Butler andererseits, der die Identität von sex und gender qua Diskurs konstatiert. Mit Blick auf die Probleme der Zusammenführung von phänomenologischer und feministischer Philosophie scheint es naheliegend, eine 91 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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»Phänomenologie geschlechtlicher Leiberfahrungen« zu entwickeln, die ausgehend von der subjektiven Erfahrung mit Hilfe des oben erwähnten hermeneutischen Zirkels den geschlechtlichen Leib in den Fokus rückt. Eine solche leibphänomenologische Analyse der Geschlechterdifferenzen nach Maßgabe der Sicht- und Tastbarkeit des Körpers und der gespürten Leiblichkeit ist methodisch in der Lage, neben weiblichen und männlichen auch zwischengeschlechtliche Typen sowie lebensalter- und kontextbedingte Geschlechtserfahrungen adäquat zu erfassen. Im Zentrum steht die Frage, wie der so oder anders definierte geschlechtliche Leib gespürt wird bzw., was ich erlebe, wenn ich mich in bestimmten Situationen als männliches, weibliches, hermaphroditisches, transsexuelles oder indifferentes Geschlechtswesen empfinde bzw., wenn sich der Leib als Geschlechtsleib aufdrängt und mich betroffen macht. Damit wird das heute wichtigste Anliegen einer »Phänomenologie geschlechtlicher Leiberfahrungen« deutlich, das in der Evaluation geschlechtsspezifischer Erfahrungen an den Achsen von Körper, Leib, Biographie und Diskurs besteht. Durch eine solche »Phänomenologie geschlechtlicher Leiberfahrungen« werden das geschlechtliche Subjekt und die krisengeschüttelte Kategorie gender als wissenschaftliche Begriffe zurückgewonnen. Außerdem könnten die politischen Forderungen des Feminismus argumentativ gestützt werden, da der Verleiblichung von Geschlechterdiskursen nachgegangen und nachbuchstabiert wird, wie Diskriminierungsstrategien inkorporiert werden. In diesem Sinne nimmt meine Arbeit als genetische Phänomenologie des Geschlechtsleibes weibliche Leiberfahrungen in den Blick, ohne aber – dies sei schon hier in aller Deutlichkeit gesagt – von diesen Leiberfahrungen aus auf ein genuin weibliches Wesen zu schließen. Dass heute nicht mehr voraussetzungslos vom ›Weiblichen‹ und ›Männlichen‹ geredet werden kann, hat die neuere feministische Theorie gezeigt. Damit wird erneut die Dringlichkeit deutlich, in phänomenologischen Analysen von Geschlechtskörper, Geschlechtsleib und Geschlechtsidentität den Zugang zu dem zu finden, was in einer »Phänomenologie der geschlechtlichen Leiberfahrungen« hinsichtlich weiblicher Erfahrungen zu thematisieren ist.

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2. Sex, Gender und der geschlechtliche Leib

Junge oder Mädchen? Diese Frage wird Eltern mit einem neutral bekleideten Säugling häufig gestellt. Die fehlende Sichtbarkeit des Geschlechts im Gesicht, wie sie in den ersten Lebensjahren begegnet, scheint Neugier, manchmal Unbehagen hervorzurufen. 1 Die Geschlechtlichkeit ist ein Phänomen, das den Menschen auf fundamentale Weise angeht. Es bedeutet etwas anderes, eine Frau oder ein Mann zu sein, für sich selbst und für Andere. Diese Bedeutung entscheidet heute dank sonographischer Geschlechtsbestimmung zuweilen schon im Mutterleib über Leben und Tod, z. B. in China und Indien, wo eine erhöhte Abtreibungsrate bei der Diagnose ›weiblich‹ bereits zu einer statistischen Verschiebung der Geschlechterverteilung geführt hat. Die Geschlechterdifferenz, die weit mehr umfasst als eine anatomische Verschiedenheit, hat die Frauenbewegung und im Anschluss daran die feministische Theorie zu einem zentralen Topos gemacht.

2.1 Zur Theorie von sex und gender Amerikanische Theoretikerinnen haben seit den späten 1970er Jahren die Unterscheidung zwischen anatomischem Geschlechtskörper (sex) und Geschlechtsrolle bzw. -identität (gender) in die Geschlechterdebatte eingeführt, die – mit einer Verzögerung von etwa zwei Jahrzehnten – in Europa dankbar aufgegriffen wurde. Der Begriff gender enthält, anders als das deutsche Wort »Geschlecht«, bereits terminologisch den Unterschied zwischen dem biologischen und dem sozialen Geschlecht, der für die Überwindung des biologischen Determinismus von fundamentaler Bedeutung war. Aber es ging in den Frauenbewegungen nicht allein um Gleichberechtigung de jure, und hier spiegelt der politische Schauplatz eine grundlegen1

Harding (1989, 434) behauptet: »Für gewöhnlich weigern wir uns sogar, mit einem Neugeborenen Kontakt aufzunehmen – es zu berühren oder mit ihm zu sprechen –, solange wir nicht wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist.«

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I Methodologisch-systematische Grundlagen

de Problematik feministischer Theorie: Frauen hatten (und haben) einerseits die hegemoniale Geschlechterhierarchisierung, -differenz und -asymmetrie zu dekonstruieren und hatten (und haben) andererseits gerade auf der Grundlage der Differenz ihrer Körperlichkeit und Leiblichkeit Rechte für sich selbst als Frauen zu erkämpfen. Der Feminismus stand und steht vor der Herausforderung, mit der in seiner inneren Struktur angelegten Ambivalenz konstruktiv umzugehen. Feministische Theorien enthalten »notgedrungen eine Theorie der Leiblichkeit, sei diese implizit oder explizit« (Giuliani, 1997a, 104). Sie hat sich z. B. als Leibesverachtung (Beauvoir) oder Leibesverehrung (Irigaray) artikuliert und seit mehr als einem Jahrzehnt durch die Politisierung des Leibes (Butler) erhebliche Sinnverschiebungen bezüglich der Kategorien sex und gender herbeigeführt. Hinsichtlich des Paradigmenwechsels vom »Standpunktfeminismus zu postmodernen Feminismen« bemerkt Benhabib (1995, 230 ff.), dass weder die Voraussetzungen noch die Konsequenzen dieses Wandels hinreichend analysiert wurden. Diese Feminismen haben grundlegende und für selbstverständlich genommene Kategorien wie Geschlecht, Körper, Frau, Mann, Zweigeschlechtlichkeit etc. in Frage gestellt. Parallel dazu hat sich das künstlerische Inszenieren von und das Experimentieren mit Geschlechtergrenzen, etwa in der Plastochirurgie und den digitalen Medien, neu etabliert. Besonders bemerkenswert ist jedoch, wie Andrea Maihofer (1995, 13) feststellt, »daß innerhalb des Feminismus eine breite Debatte über die soziale Konstruiertheit des geschlechtlichen Körpers und die Idee einer geschlechtslosen Gesellschaft genau in dem historischen Moment beginnt, in dem aufgrund der Fortschritte in den Reproduktionstechnologien eine Abkoppelung der ›Reproduktion der Gattung‹ von der Gebärfähigkeit der Frau technisch zumindest als Möglichkeit aufscheint«. Obwohl wir noch davon entfernt sind, die leibliche Präsenz der Frau beim Fortpflanzungsprozess auszuklammern – anders sieht es schon mit der des Mannes aus – scheint die poststrukturalistische feministische Theorie sich bereits vom weiblichen Körper verabschiedet zu haben. 2.1.1 Judith Butler In ihrem Werk »Das Unbehagen der Geschlechter« (1991), betreibt Butler eine kritische Genealogie der Kategorie Geschlecht, in der sie nachzuweisen versucht, dass sowohl der Geschlechtskörper als auch die Geschlechtsidentität kulturelle Konstrukte sind. In der Dekonstruktion der Kategorien sex und gender unterwandert sie den feministischen Separatismus 94 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Sex, Gender und der geschlechtliche Leib

(hier Geschlechtskörper, dort Geschlechtsidentität) und setzt den biologischen Determinismus (aus dem Geschlechtskörper folgt eine Geschlechtsidentität) geradezu in sein Gegenteil: Für Butler bestimmt die Geschlechtsidentität den Geschlechtskörper. Damit stellt sie den ontologischen Status eindeutig definierter Geschlechtskörper in Frage. Butler (1991, 22) weist zu Recht darauf hin, dass die übliche »Unterscheidung zwischen anatomischem ›Geschlecht‹ (sex) und Geschlechtsidentität (gender) eine Spaltung in das feministische Subjekt« einführe und kritisiert diese als cartesisch. Dazu arbeitet sie eine »grundlegende Diskontinuität zwischen den sexuell bestimmten Körpern und den kulturell bedingten Geschlechtsidentitäten« (ebd., 23) heraus. D. h., selbst wenn man von einer biologischen Zweigeschlechtlichkeit ausgeht, folgt daraus nicht, dass das soziale Konstrukt ›Mann‹ ausschließlich dem männlichen Körper zukommt und umgekehrt die Kategorie ›Frau‹ ausschließlich dem weiblichen Körper. Außerdem folgt daraus auch nicht, dass es nur zwei Geschlechtsidentitäten geben muss, die in einem mimetischen Verhältnis zu den anatomischen Körpern stehen. Butler sucht »den kulturell bedingten Status der Geschlechtsidentität als radikal unabhängig vom anatomischen Geschlecht« zu denken, so dass »die Geschlechtsidentität selbst zu einem freischwebenden Artefakt« wird (ebd.). Butler sieht im »Leib« selbst eine Konstruktion und spricht den Körpern keine Existenz zu, die der »Markierung ihres Geschlechtes vorherginge« (ebd., 26). Damit wird die diskursiv erzeugte Geschlechterbinarität zu einer Praxis, die dem Körper als Tabula rasa oder beliebig kodierbare Projektionsfläche eine Identität von außen einschreibt, wodurch diese zwangsläufig als künstlich erscheint. Die sozial vorgängige heterosexuelle Matrix produziert ein spezifisches Begehren. Unter dem Einfluss dieser instituierten »Zwangsheterosexualität« ist die »Geschlechtsidentität ebenso determiniert und festgelegt wie nach der Formel ›Biologie ist Schicksal‹. Nur hätte hier die Kultur an Stelle der Biologie die Rolle des Schicksals eingenommen« (ebd., 25). Das »Geschlecht« könne »keine vordiskursive, anatomische Gegebenheit« sein, da »Geschlecht (sex) definitionsmäßig immer schon Geschlechtsidentität (gender)« sei (ebd., 26). Insofern sind die Kategorien sex und gender nicht voneinander zu lösen. Während der biologische Determinismus eine unmittelbare Verknüpfung von sex und gender qua Natur postuliert, verfährt Butler nach einer solchen qua Diskurs. Geschlechtskörper und Geschlechterdifferenz sind in diesem Ansatz durch und durch politisiert. Für Butler ist das Zweigeschlechtermodell, wie Giuliani (1997a, 12) zusammenfasst, »ein Konstrukt, das der kulturellen Absicherung und der symbolischen Verfestigung 95 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

I Methodologisch-systematische Grundlagen

einer gesellschaftlichen Ordnung dient und eine kulturell konstruierte Geschlechterbinarität nachträglich ›naturalisiert‹, um dem Geschlechtergegensatz eine prädiskursive, biologisch-natürliche Basis zu verschaffen«. 2 Butler zeichnet die Spuren dieses mühsamen Konstruktionsprozesses nach, für den die »Innenwelt« keinen Topos mehr darstellt, da für Butler die Unterscheidung zwischen innen und außen bereits konstruiert ist. Dann aber »wird auch die innere Fixiertheit des Selbst und sogar der innere Schauplatz der geschlechtlich bestimmten Identität (gender identity) suspekt« (Butler, 1991, 197). Bei Butler spielt das Geschlechter-Schauspiel, also auch die gender-parody, eine wichtige Rolle für den exemplarischen Nachweis ihrer Thesen. In der Gender-parody stehen wir zwar vor drei kategorialen Dimensionen signifikanter Leiblichkeit: »dem anatomischen Geschlecht (sex), der geschlechtlich bestimmten Identität (gender identity) und der Performanz der Geschlechtsidentität (gender performance)« (ebd., 202), doch will Butler nicht voraussetzen, dass »es ein Original gibt, das diese parodistischen Identitäten« (ebd., 203) imitiert. Es geht ihr vielmehr um eine Parodie des Begriffs »Original« selbst. Die Geschlechter-Parodie offenbare, »daß die ursprüngliche Identität, der die Geschlechtsidentität nachgebildet ist, selbst nur eine Imitation ohne Original ist. Oder genauer gesagt: sie ist eine Produktion, die effektiv« »als Imitation auftritt« (ebd.). Dabei ist der Begriff der Performanz der Attribute einer Geschlechtsidentität (im Unterschied zur Expression) relevant: »Wenn die Attribute und Akte der Geschlechtsidentität, die verschiedenen Formen, in denen ein Körper seine kulturelle Bezeichnung zum Vorschein bringt oder produziert, performativ sind, gibt es keine vorgängige existierende Identität, an der ein Akt oder Attribut gemessen werden könnte.« (ebd., 207 f.)

Das Postulat einer geschlechtlich bestimmten Identität offenbart sich jetzt nur noch als »regulierende Fiktion«: »Daß die Geschlechterrealität (gender reality) durch aufrechterhaltende gesellschaftliche Performanzen geschaffen wird, bedeutet gerade, daß die Begriffe des wesenhaften Geschlechts und der wahren oder unvergänglichen Männlichkeit und Weiblichkeit ebenfalls konstituiert sind.« (ebd., 208) 2

Feministische Theoretikerinnen beziehen sich in diesem Kontext häufig auf den Körperhistoriker Laqueur (1992), der anhand historischer Zeugnisse zeigt, dass Aussagen über das Geschlecht des Leibes (sex) immer schon Aussagen über das Geschlecht im sozio-kulturellen Raum (gender) enthalten. Er (1992, 38) bekennt aber, dass ihn die »offensichtlichste und beständigste Auslassung in diesem Buch traurig macht: eine durchgängige Darstellung von Körpererfahrung«. Zu Laqueur und Duden s. Giuliani, 1997b, 148–165.

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Sex, Gender und der geschlechtliche Leib

Auch in Butlers Buch »Körper von Gewicht« (1997), mit dem Untertitel »Die diskursiven Grenzen des Geschlechts«, geht es um die Fragen (ebd., 21): »Besteht eine Möglichkeit, die Frage nach der Materialität des Körpers mit der Performativität der sozialen Geschlechtsidentität zu verknüpfen? Und welche Rolle spielt die Kategorie des ›biologischen Geschlechts‹ [sex] in einer solchen Beziehung?«

Die Differenz der Geschlechter will Butler weiterhin nicht als eine ontologische gelten lassen, zumindest nicht als statische Größe, als »Funktion materieller Unterschiede« (ebd., 21), sondern nur als normative Fiktion. Körper von Gewicht sind also die Körper, die vom Diskurs materialisiert, d. h. allererst produziert werden. Sie schreibt (ebd.): »Das ›biologische Geschlecht‹ ist … also ein regulierendes Ideal, dessen Materialisierung erzwungen ist, und zu dieser Materialisierung kommt es (oder kommt es nicht) infolge bestimmter, höchst regulierter Praktiken. Anders gesagt, das ›biologische Geschlecht‹ ist ein ideales Konstrukt, das mit der Zeit zwangsweise materialisiert wird.«

In der Nische der Instabilität, die solche Diskurspraktiken mit sich führen, da »die Körper sich nie völlig den Normen fügen, mit denen die Materialisierung erzwungen wird« (ebd.), sieht Butler die Möglichkeit der Anstiftung zur Geschlechterverwirrung. Butlers Kritik an der Naturalisierung, Politisierung und Moralisierung der Geschlechterdifferenz wird heute als längst überfällig aufgefasst, ihre These von der gesellschaftlichen Hervorbringung der Geschlechtskörper jedoch zu Recht angegriffen. 3 Butler steht stellvertretend für einen breit angelegten Diskurs, in dem Weiblichkeit von Natürlichkeit »befreit« wird und die dekonstruktive »Leistung« darin besteht, in größtmöglicher Distanz zu dem zu bleiben, was der Körper selbst ist und wie er leiblich gespürt wird. Kritik daran üben z. B. Barbara Duden, Regula Giuliani und Theresa Wobbe. So spricht Duden (1994, 165) von »Judith Butlers Entkörperung«, von der »Frau ohne Unterleib«, also vom Frauenkörper als einem »Epiphänomen«, »das je nach sozialer Witterung als ›Kosmonautin‹ in der Gesprächsblase eines Diskurses zustande kommt«. Giuliani (1997a, 121) spricht vom »übergangenem Leib« und vom »verordnetem Geschlecht« und kritisiert Butlers Wendung gegen eine »Positivierung« der 3

Zu den Diskussionen um Butlers Werk s. a. »Feministische Studien«, 11. Jg., Nov. 1993, Nr. 2; Wobbe/Lindemann, 1994; SFBF, 1997. Stephan (2000, 58–96) zeichnet die Reaktionen auf Butlers »Gender Trouble« im deutschen Sprachraum zusammenfassend nach.

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Differenz, die eine »Suche nach Emanzipationspotentialen« ausschließt, »über die Frauen gerade aufgrund ihres Anderssein verfügen«. Butler operiere mit einem reduktionistischen Körperbegriff, der, wie Wobbe (1994, 177 ff.) betont, den Leib als »absolute Örtlichkeit« im Sinne von Schmitz, als unhintergehbare Größe nicht berücksichtigt. Selbst wenn man mit Butler die diskursive Hervorbringung der heterosexuellen Matrix zugesteht, so korreliert die Geschlechterbinarität teilweise doch mit einer unabweisbaren Materialität der Geschlechtskörper und damit einhergehender Leiberfahrungen. So ist zumindest fragwürdig, all das als reine Diskurswirkung zu betrachten, was als Geschlechtskörper und leibliche Disposition gegeben ist. Mit Butlers Ansatz kommt kaum in den Blick, dass geschlechtsspezifische Leiberfahrungen bereits im sozialen Kontext relevant sind und die Geschlechtsidentität immer schon mitkonstituiert ist bzw. aufrechterhalten wird von Ereignissen in der biographischen Genese des Leibes. 2.1.2 Gesa Lindemann Im Unterschied zu Butlers Blick auf den Körper steht bei Lindemann der Leib und seine Verschränkung mit der Kultur im Vordergrund. In dem Artikel »Die leiblich-affektive Konstruktion des Geschlechts« (1992) kritisiert sie die tradierte Haltung in der Soziologie, die Phänomene des Leiblichen als natürlich bzw. vorgesellschaftlich abzutun, aber gleichzeitig eine am anatomischen Geschlechtskörper orientierte Geschlechterbinarität vorauszusetzen. Dagegen vertritt sie (1992, 331) die Auffassung, »daß Leiblichkeit und Affektivität Phänomene sui generis sind und man nicht nur von einer sozialen Konstruktion der Gefühle, sondern auch umgekehrt von einer leiblich-affektiven Konstruktion sozialer Realität auszugehen hat«. Außerdem wirft Lindemann der soziologischen Leibthematisierung vor, nur die aktivistische Seite in den Blick zu nehmen, die Tatsache aber, dass der Leib auch »passiv erlitten wird«, als irrelevant abzutun (ebd., 332). 4 In Ergänzung der Forschungsergebnisse Dudens geht es Lindemann darum, Dudens »Projekt einer ›Geschichte unter der Haut‹ um eine mikrosoziologische Analyse der Konstruktionen unter der Haut zu ergänzen, d. h. um eine konkrete Analyse der leiblichen Erfahrung, die auch deren passive Dimension, das Spüren des eigenen Leibes nicht übergeht« (ebd., 4

Zur soziologischen Leibthematisierung s. a. unlängst Gugutzer, 2002.

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334). Ihr Bezugspunkt ist Plessners »exzentrische Positionalität«, die es durch Zusammenschau von eigenleiblichem und umweltlichem Erleben ermöglicht, die »soziale Strukturiertheit der passiven Leiberfahrung« (ebd., 335) zu thematisieren. Bei Duden sieht Lindemann wiederum nachgewiesen, dass es keine »in sich abgekapselte beziehungslose Leiberfahrung« gibt; Leiberfahrung ist vielmehr immer durch das »alltagsweltlich relevante Wissen über den Körper strukturiert« (ebd.). Auf die Geschlechterkonstruktion bezogen wirft Lindemann zwei Fragestellungen auf, die sie in einer durch Plessner erweiterten Mikrosoziologie zu erforschen sucht: Unter der Voraussetzung, dass bestimmte Körperregionen das Geschlecht bedeuten, will sie erstens den Zusammenhang zwischen »alltagsrelevantem Wissen über den Körper als Differenzkriterium zwischen Menschen und der Dinghaftigkeit des Körpers« erforschen und unter der Voraussetzung, dass leibliche Erfahrung in der Verschränkung von Körper und Leib durch den Körper strukturiert ist, zweitens die Frage klären, »wie der Körper als die Realität erfahren wird, die jemand ist«. Dabei geht es ihr darum, »wie das Wissen über die Geschlechterdifferenz in einer gegebenen Situation i. S. sozialer Kontrolle wirksam wird und welche Bedeutung dabei der Struktur der leiblich-affektiven Erfahrung für die kontinuierliche Aufrechterhaltung der sozialen Konstruktion Geschlecht zukommt« (ebd., 336). In dem anschließenden empirischen Teil des Aufsatzes, der sich mit der Selbst- und Fremdwahrnehmung im Kontext des Transsexualismus auseinandersetzt, stellt Lindemann die Bedeutung der zuständlichen oder passiven Leiberfahrungen für die Stabilität der sozialen Konstruktion Geschlecht dar. Sie erkennt gleichwohl an, dass darüber hinaus »die Untersuchung des detaillierten Spürens des eigenen Leibes« (ebd., 336) zu erfolgen habe. Sie sieht mit Plessner die Möglichkeit, die Ebene des Kognitiven und Symbolischen, also »den das Geschlecht bedeutenden Körper« mit der Ebene der »zuständlichen Gegebenheiten des eigenen Leibes zusammenzuschließen« und weist damit einen Weg zur Analyse der passiven Leiberfahrungen, »ohne sich in den Fallstricken einer ›natürlichen‹ Leiberfahrung zu verfangen« (ebd., 345). Lindemanns Terminologie der »passiven Leiberfahrung« scheint nicht ganz unproblematisch zu sein, wenngleich sie der Sache nach mit Erkenntnissen aus der Phänomenologie des Leibes übereinstimmt. Im Sinne von Schmitz ist der Leib das sich Aufdrängende, das betroffen macht, also ein phänomenal Gegebenes, das sich unserer Willkür in vielerlei Hinsicht entzieht. Insofern handelt es sich bei der Leiberfahrung zunächst einmal um Pathisches, der Leib wird erfahren. Was eine ›passive‹ im Unterschied zu 99 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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einer ›aktiven‹ Leiberfahrung sein soll, ergibt sich aus ihrem Text: Eine ›aktive‹ Leiberfahrung liege in der praktischen Weltbewältigung, in der – wie der soziologische Aktivismus nahe legt – der Körper als Mittel dazu diene, »etwas zu tun« (ebd., 332). Dieses Modell zielte aber eher auf den Körper als Ding, auf das Körper-Haben, weniger auf das Leib-Sein. Sich nicht in den »Fallstricken der ›natürlichen‹ Leiberfahrung zu verfangen«, bedeutet, in phänomenologischen Analysen zu klären, wie Leiberfahrungen kulturell hervorgebracht oder modifiziert werden – was beispielsweise bei Schmitz kaum erörtert wird. Insofern weist Lindemann auf eine wichtige Komponente in der Interpretation von Leiberfahrungen hin, nämlich ihre kulturelle Situiertheit. Bezeichnenderweise liegt bei ihr ein Versuch vor, Leibliches in der Geschlechterdebatte positiv zu thematisieren, ohne einem biologischen Determinismus zu verfallen und ohne den Einfluss des Geschlechterdiskurses zu unterschätzen. Lindemann zeigt damit einen Weg, den Dualismus zwischen sex und gender von einer anderen Seite her aufzuweichen als Butler. 2.1.3 Die Krise der Kategorie gender In den aktuellen Auseinandersetzungen stellt allerdings ein Ansatz wie der von Lindemann eher eine Ausnahme dar. 5 Zur Zeit scheint sich in der feministischen Theorie geradezu eine Krise abzuzeichnen, in der die Frage nach dem weiblichen Subjekt neu zu stellen ist. Benhabib (1995, 239) behauptet, dass die feministische Theorie im »Übergang vom Standpunktfeminismus zum poststrukturalistischen Feminismus« »das weibliche Subjekt verloren« und damit »ihre eigene Möglichkeit beinahe ausgelöscht« habe. Die Kategorie gender scheint ihre Bedeutung für Theorie und Praxis mehr und mehr zu verlieren. Heute müsste man, wie Braidotti (1994, 11) sagt, gender als einen Begriff definieren, der »eine Reihe von Formationen anbietet, in denen feministische Theorie die soziale und diskursive Konstruktion und Repräsentation der Differenz zwischen den Geschlechtern erklärt hat«. Gender hätte dann die primäre Funktion, »die universalistische Tendenz einerseits kritischer Sprache, andererseits von sowohl epistemologischen Systemen, als auch Systemen des wissenschaftlichen Diskurses herauszufordern« (ebd.). Solche Herausforderungen stellen z. B. schon Beauvoirs und Milletts 5

Vgl. aber auch Martin, 1989; Akashe-Böhme, 1995. Zur Thematisierung des Körpers in der feministischen Theorie s. Price/Shildrick, 1999.

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kritische Ansätze dar. Eine Radikalisierung erfolgt dann etwa durch Adrienne Rich, die den weiblichen Körper als den morphologischen und politischen Raum des weiblichen verleiblichten Subjekts verortet und Verleiblichung als bio-kulturelle Situation versteht. Monique Wittig kritisiert bereits die binäre Begrifflichkeit ›Frau‹ und ›Mann‹ und führt die Kategorie ›Lesbe‹ als drittes Geschlecht ein, wobei sie u. a. gegen die Differenztheorien von Irigaray und Cixous polemisiert. Unter Berufung u. a. auf Linguistik und Psychoanalyse betont die französische Theorie (die »écriture feminine«) die semiotischen und symbolischen Strukturen in der Konstruktion von sexueller Differenz und steht damit den soziologisch und materialistisch orientierten Gender-Theoretikerinnen gegenüber. Einen Konsens sieht Braidotti (1994, 16) in der Idee, »dass feministische Praxis, und mithin ›women’s studies‹, die universalistische Stellung wissenschaftlichen Diskurses durch das Angreifen seines inhärenten Dualismus in Frage stellen muss«. Von einer »Neumischung« vorher entgegengesetzter Positionen – gender-Theorie und Theorie der sexuellen Differenz – spricht Braidotti in Bezug auf die sogenannte »Post-gender-Phase« der 1990er Jahre, z. B. durch Joan Scott, die gender nunmehr definiert als »Knotenpunkt von Sprache und Sozialem«, »als Verbindung von Text und Realität, Symbolischem und Materialem, Theorie und Praxis« (ebd., 17). Transdisziplinäre und transnationale Denkerinnen wie de Lauretis, Haraway und Butler vertreten wiederum mehrschichtige Ansätze. Für Braidotti steht die neue Generation von gender-Theoretikerinnen 6 zwar unter dem Einfluss der Wirkung von Differenztheorien und bezieht eine Vielzahl von Variablen (z. B. Rasse, Klasse, Alter etc.) ein, doch sei sie »in einer nicht produktiven Weise über sie hinausgegangen« (ebd., 18). So sieht sich die feministische Theorie nach wie vor dem Paradox gegenüber, mit den Begriffen gender und sexuelle Differenz zu operieren, die sie eigentlich dekonstruieren und deessenzialisieren muss. Die zentrale Frage vor diesem Hintergrund formuliert Braidotti mit den Worten: »Wie kann eine Vorstellung weiblicher Subjektivität wieder aufgebaut werden, nachdem die Gewißheiten von ›gender-dualism‹ eingestürzt sind und mithin Ideen 6

Die sie (1994, 18 ff.) in fünf Gruppen aufteilt: 1. die in deutscher Tradition stehenden, kritischen feministischen Theoretikerinnen mit gemeinsamem Bezug zur Frankfurter Schule (Benhabib, Benjamin, Flax), 2. die französischen Denkerinnen rund um Irigaray, 3. die italienische, von Irigaray beeinflusste Gruppe (Muraro, Cavarero), 4. die lesbischen Theoretikerinnen (Wittig, Butler) und 5. die ethnischen und kolonialen Denker (Spelman, Lordes, Spivak, Mohanty, Smith u. Trinh).

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des Selbst als Prozess (Scott), Komplexität (Braidotti), Wechselbezüglichkeit (Haraway), als post-koloniale Gleichzeitigkeiten von Unterdrückung (Spivak, Mohanty et alia) und die vielschichtige technology of the self?« (ebd., 21 f.)

Wird der Leib mehr oder weniger ausgeklammert, ist das Selbst etwas, das in verschiedenen sozio-kulturellen Formationen entsteht und einem als Ding aufgefassten Körper ohne Eigenleben eingeschrieben wird. Insofern ist das weibliche Selbst Artefakt. Was also ist weibliche Subjektivität? Wie wird sie von erlebter Leiblichkeit her zugänglich? Butler (1991, 26) stellt hier die wichtige Frage: »Wie können wir den Körper neu und anders begreifen denn als passives Medium und Instrument, das gleichsam auf die lebensspendende Kraft eines getrennten, immateriellen Willens wartet?«

Ihre Antwort, die von einer diskursiven Hervorbringung der Geschlechtskörper ausgeht, hinterlässt freilich ein Vakuum. Butler stellt die Kategorie ›Frau‹ in den normativen Kontext definitorischer Unvollständigkeit und bringt für die Geschlechtsidentität den Begriff der Relation ins Spiel: »Als sich ständig verschiebendes (shifting) und kontextuelles Phänomen bezeichnet die Geschlechtsidentität nicht ein substantiell Seiendes, sondern einen Schnittpunkt zwischen kulturell und geschichtlich spezifischen Relationen.« (ebd., 29)

Gerade im Hinblick auf die Relationalität der Geschlechtsidentität scheint aber ohne die Dimension des Leiblichen weder eine adäquate Rekonstitution des weiblichen Subjekts noch der Geschlechtsidentität möglich. Geschlechtliche Leiberfahrungen rühren an das Selbstverständnis des Menschen, können Schlüsselerlebnisse und Wendepunkte sein, die sich in den Lebenslauf und -entwurf einschreiben und insofern identitätsstiftenden Charakter haben. Ich möchte deshalb in die Diskussion um sex und gender und die Krise der Kategorie gender den Begriff des geschlechtlichen Leibes einführen. Daraus ergibt sich eine neue Antwort auf Butlers Frage nach dem Körper und zugleich eine Antwort auf Braidottis Frage nach der Rekonstitution des weiblichen Subjekts. Außerdem wird mit dem Begriff eine Reformulierung der Kategorie gender möglich, die diese in einen anderen, phänomenologisch vertieften Zusammenhang stellt. In Nutzung und Fortführung der Erkenntnisse der feministischen Forschung kann so ein neuer Weg beschritten werden, der Feminismus und Phänomenologie produktiv zusammenspannt.

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2.2 Geschlechtskörper, Geschlechtsleib und Geschlechtsidentität Die folgende Terminologie von Geschlechtskörper, Geschlechtsleib und Geschlechtsidentität beruht in den ersten beiden Schritten auf der phänomenologischen Unterscheidung zwischen Körper und Leib. In ihrer Anwendung auf die Geschlechterproblematik geht es um eine Analyse der Geschlechtskörper und ihrer Differenzen sowie des Geschlechtsleibs und seiner Erfahrungshorizonte. Schließlich soll die Kategorie gender an den Achsen von Körper, Leib, Biographie und Diskurs neu formuliert werden. Der geschlechtliche Körper (sex): Gemeint ist der Körper in seiner äußeren Form als Körperding, wie er sich bei der Gattung Mensch in einer durchschnittlichen Zweigeschlechtlichkeit zeigt. Zugangsweise ist die Sicht- und Tastbarkeit, also der Blick von außen auf den Körper. Der geschlechtliche Leib: Gemeint ist das, was in der Gegend des Körpers gespürt wird: Erfahrungen, die sich am Leib, an einzelnen Leibesinseln oder an seiner Ganzheit aufdrängen. Zugangsweise ist das Spüren und Erleben, also die subjektive Betroffenheit. Die Geschlechtsidentität (gender): Sie entfaltet sich als personale Identität und leibliche Integrität durch kulturelle Praxen und Interaktionen an den Achsen von Körper, Leib, Biographie und Diskurs. Zugangsweise ist der Schnittpunkt von Individuum und Kollektiv bzw. die Verschränkung von Leib und Diskurs. 2.2.1 Der geschlechtliche Körper (sex) Es gibt keinen geschlechtlich neutralen Körper, von dem aus männliche, weibliche oder andere Abweichungen definiert werden könnten. Bei der Analyse von Differenzen ist immer die eine Seite in Abhebung von anderen zu betrachten, wobei Unterschiede keineswegs in symmetrischen und auch nicht zwingend konstant vorhandenen Formen zu klassifizieren sind. Die Medizin, deren naturwissenschaftliche Ausrichtung sich auf ein spezifisches Körpermodell bezieht, hält eine Fülle von Unterscheidungskriterien für die durchschnittliche Differenz der Geschlechter bereit, wobei heute z. B. bekannt ist, dass alle Embryonen in den ersten Wochen weiblichen Geschlechts sind. Dennoch sind seit jeher Fälle physiologischer Uneindeutigkeit hinsichtlich einer vorausgesetzten Doppelspezies bekannt. 7 7

Der Mediziner Jacques Duval (1612, 404 ff.) hat im 17. Jahrhundert erstmals ein zweideutiges Geschlecht zweifelsfrei durch »Tastprobe« nachgewiesen. Vgl. dazu auch Vogl, 1993.

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Ihre statistische Häufigkeit ist zwar weltweit schwer zu ermitteln oder historisch zu erheben, da der Umgang mit diesen Menschen meist nicht unter der Prämisse eines Schutzes von Minderheiten gestanden hat und steht. Aber es handelt sich um eine im Vergleich zur Gesamtbevölkerung kleine Gruppe, die eine Zweigeschlechtlichkeit der Gattung Mensch nicht anficht. Auf diese kann hier nicht weiter eingegangen werden. Nachfolgend stehen lediglich der männliche und weibliche Geschlechtskörper und ihre Differenzen im Mittelpunkt. Der phänomenologische Blick auf den geschlechtlichen Körper sieht den Körper als äußeres Ding in seiner jedermann erkennbaren, geläufigen Erscheinung mit bestimmten Körperteilen und einer bestimmten Entwicklung. Aus einer genetischen Perspektive wird jedoch deutlich, dass sich die Differenzen zwischen weiblichem und männlichem Körper in einer Vielschichtigkeit manifestieren, die nicht in einem statischen Modell zu erfassen sind, sondern eine Gliederung in vier Ebenen nach Maßgabe des Lebensalters nahelegen: Die ersten Lebensjahre: Dem Säugling ist sein Geschlecht nicht im Gesicht anzusehen. Eine Unterscheidung wird am nackten Körper ausschließlich an der Körpermitte offenbar, in Form verschiedener Genitalien und einer unterschiedlichen Anzahl von Körperöffnungen. Der weibliche Körper verfügt im Vergleich zum männlichen über eine zusätzliche Körperöffnung, die als Ein- und Ausgang fungiert, insofern in bestimmten Situationen etwas hervortreten oder hineingelangen kann. Diese schon bei der Geburt ausgeprägten Differenzen haften den Geschlechtskörpern zeitlebens an. Zweites Lebensjahrzehnt: Nachdem im ersten Lebensjahrzehnt das Geschlecht meist auch im Gesicht sichtbar geworden ist, treten im zweiten Lebensjahrzehnt weitere Unterschiede in den Bereich der Sicht- und Tastbarkeit, die ebenfalls für die Dauer des Lebens Differenzen verankern. Der Körper unterliegt neben anderen auch geschlechtertypischen Wachstumsprozessen, die sich auf die Entwicklung unterschiedlicher Körperproportionen beziehen. Während der männliche Körper im zweiten Lebensjahrzehnt u. a. zum Bartwuchs tendiert, bildet der weibliche mit den Brüsten auch neue Körperteile aus, die als Körperöffnungen fungieren können, und zwar ausschließlich als Körperausgang. Diese Ausprägung des Geschlechtskörpers ist also nicht mit der Geburt gegeben, sondern entfaltet sich deutlich im zweiten Lebensjahrzehnt. Zweites bis fünftes Lebensjahrzehnt: Die zuvor genannten Kriterien umschreiben den kleinsten Nenner der Differenz und sind prinzipiell zeitlebens festzustellen. Die geschlechtlichen Körper lassen sich darüber hi104 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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naus in zusätzlichen Unterschieden erfassen. Diese Variationsbreite ist jedoch zeitlich begrenzt. Von den sicht- und tastbaren Verschiedenheiten der sexuellen Reaktion abgesehen (Erektionen des Penis und Ejakulationen beim Mann; Schwellungen an Klitoris und Scheide, vaginale Sekretion sowie erigierte Brustwarzen bei der Frau), die sich nicht nur auf das zweite bis fünfte Lebensjahrzehnt beschränken, kann die Differenz der Geschlechtskörper vorübergehend größer oder kleiner sein. In einer maximalen Modifikationsbreite kann der weibliche Körper sich im Wesentlichen in drei Hinsichten vom männlichen Körper unterscheiden: 1. durch Ausscheidung von Flüssigkeiten: Blut (Menstruations-, Deflorations- und Wöchnerinnenblut) und Fruchtwasser an der vaginalen Öffnung sowie Milch an den Brüsten, 2. durch Gewichtsveränderungen und erhebliche Ausdehnungen im Bauch- und Brustbereich: Gravidität und Laktation, und 3. durch Ausscheidung fester Substanzen an der vaginalen Öffnung: Kindskörper und Plazenta. Nach dem fünften Lebensjahrzehnt: Diese Lebensspanne ist durch das Ausbleiben der maximalen Differenzbreite charakterisiert und bezeichnet eine Art Regression auf die Ebene der Differenzkriterien, die sich im zweiten Lebensjahrzehnt ausgebildet haben. Dem Körper sind freilich die Spuren seiner Geschichte deutlich eingeschrieben. Soviel zu den geschlechtlichen Körpern, in der Dimension dessen, was an ›nackten‹ Körpern zu sehen und zu tasten ist, was also an ihnen und ihren Öffnungen in der Perspektive ihrer Dinghaftigkeit in Erscheinung tritt oder nicht. Mit dem Blick des Anderen auf das Objekt ›Geschlechtskörper‹ ist dieses Körperschema weitgehend zeit- und kulturübergreifend gültig. 2.2.2 Der geschlechtliche Leib Mit der Thematisierung von Leiblichkeit wird nun die Sphäre berührt, die im weitesten Sinne Erfahrungen meint, Erlebnisse eines Ich, das diesen Körper ›bewohnt‹, ihn spürt, sich von ihm betreffen lässt, in gewisser Weise ihm ausgeliefert ist. Die Erfahrungen am geschlechtlichen Leib beziehen sich auf das, was in der Gegend des Körpers gespürt wird, was also relativörtlich und absolut-örtlich sowie ortlos erlebt wird bzw. werden kann. Der geschlechtliche Leib wird als solcher nicht dauernd gespürt. Es handelt sich vielmehr um Erfahrungen, die in einem biographischen Zusammenhang stehen. Biographie ist, »wie die Biographieforschung der letzten 20 Jahre deutlich gemacht hat, nicht einfach das Stück individuelle Le105 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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benszeit, das durch die biologische Uhr vorgegeben ist und als statistische Größe verrechnet werden kann« (Dausien, 1999, 177). Zur Biographie gehört die individuelle Geschichte des Leibes und geschlechtlicher Leiberfahrungen, die in einer genetischen Phänomenologie erschlossen werden können. Eine Analyse des geschlechtlichen Leibes geht primär folgenden Kernfragen nach: Was drängt sich am Geschlechtsleib unverfügbar auf? Was wird unmittelbar im Sinne von Leibesinseln oder in Ganzleiblichkeit gespürt? In welcher Weise, zu welchem Zeitpunkt, in welcher Situation und in welchem Lebensalter sind Frau und Mann von ihrem Geschlechtsleib affektiv betroffen? Analog zur Analyse des Geschlechtskörpers zeigt sich, dass sich die Biographie geschlechtlicher Leiberfahrungen bei der Frau in anderer Weise entfaltet als beim Mann. Der weibliche Leib ist also seinem Subjekt anders gegeben als der männliche. Leiberfahrungen werden zu bestimmten Zeitpunkten, Zeitphasen und in Zeiträumen gemacht, unterliegen einer Prozessualität, Situativität, Punktualität und Wechselbezüglichkeit und treten in der Weise des Sowohl-als-auch bzw. des Entweder-Oder auf. So kann sich die weibliche Erfahrung des tropfenden, verströmenden Leibes sowohl am Genital hinsichtlich der Flüssigkeiten Menstruationsblut, Deflorationsblut und Lochien als auch am oberen Leib in Bezug auf die Muttermilch ereignen. Das Verströmen von Menstruationsblut schließt das von Wöchnerinnenblut aus, ist aber damit verwandt, andererseits kann das Verströmen und Tropfen von Muttermilch zeitgleich mit dem von Wöchnerinnen- und Menstruationsblut auftreten. Wir sehen also eine Mannigfaltigkeit möglicher zusammenhängender Leiberfahrungen mit je eigenem Erlebnisspektrum, die sich nur schwer einem statischen Kategoriensystem fügen. Eine Terminologie, die diese Vielfalt erfassen will, kann etwa nach der Methode des Perspektivewechsels verfahren, wobei einzelne Erfahrungen durchaus in mehreren Kategorien oder als Zwischenformen vertreten sein können. Leiberfahrungen sind u. a. durch das Spüren des Leibes in seiner relativen Örtlichkeit, also an Leibesregionen oder auch -zentren charakterisiert. So ist z. B. bei allen Arten, ein blutendes weibliches Genital zu spüren, das jeweilige Erleben des Verströmens von Blut, seiner Konsistenz, seiner Stärke, seines Fließens etc. unterschiedlich. Das Spüren kann sich in ganzleibliches Empfinden ergießen, wie u. a. in begleitenden Stimmungen und Atmosphären. So kann sich der weibliche Leib in der Laktation sowohl an den Leibesinseln ›Brüste‹ im Sinne von Schwellung, Fülle oder auch Schmerz relativ-örtlich aufdrängen, aber ebenso in ganzleiblich ergreifender Wollust und weitendem Entspannen in der »Einlei106 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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bung« 8 mit dem Kind. Schließlich besteht die Möglichkeit, dass in geschlechtlichen Leiberfahrungen die Räumlichkeit des Leibes nicht mehr gespürt bzw. als »absoluter Ort« 9 erfahren wird, z. B. in extremen Schmerzund Angstzuständen bei einer Geburt oder Vergewaltigung. Zur Erschließung der Betroffenheit und der Atmosphären im Rahmen geschlechtlicher Leiberfahrungen gehört unabdingbar die Dimension des individuell-biographischen und sozio-kulturellen Kontextes. Hier spielen Elemente hinein, die von individuellen und kollektiven Bedingungen erheblich mitbestimmt sind, also von spezifischen Situationen. Man denke an die Zustände von Schrecken, Entsetzen und Angst, in die z. B. unaufgeklärte Mädchen bei der Menarche geraten können. Man denke an Situationen, in denen eine Schwangerschaft als Freude oder Hindernis erlebt wird. Man denke an den Einfluss der modernen Medizin auf die Angst der Schwangeren vor einem »unnormalen« Kind. Man denke nicht zuletzt daran, dass Angst vor Vergewaltigung als chaotisch-mannigfaltige Atmosphäre den weiblichen Leib in bestimmten Situationen regelrecht überfallen kann. So kommt mit der Thematisierung affektiver Betroffenheit auch schon das zur Sprache, was die feministische Theorie als gender bezeichnet. 2.2.3 Die Geschlechtsidentität (gender) Die Geschlechtsidentität bezeichnet, und damit schließe ich mich Butler (1991, 29) an, »nicht ein substantiell Seiendes, sondern einen Schnittpunkt«. Dieser Schnittpunkt aber, und hier entferne ich mich von Butler, ist nicht ein solcher »zwischen kulturell und geschichtlich spezifischen Relationen« allein, sondern auch ein solcher zwischen geschlechtsspezifischer Körperlichkeit und biographisch generierter Leiberfahrungen. Die Geschlechtsidentität wird niemals allein vom Geschlechtskörper her konstituiert, und eben sowenig ist sie ausschließlich ein Diskurs-Phänomen. Die Geschlechtlichkeit des Menschen ist nicht ohne körperliche Entwicklung, nicht ohne leibliche Biographie und ihre Interaktion mit Diskursen und nicht ohne Intersubjektivität zu haben, ebenso wenig lässt sie sich erschöpfend anhand der Binarität ›weiblich‹ und ›männlich‹ evaluieren. Geschlechtsidentität entfaltet sich an den Achsen von Körper, Leib, Biogra8

Zum Phänomen der Einleibung, jedoch ohne Bezug zum Stillen, s. Schmitz, 1995, 137 ff. Hierzu Schmitz (1998b, 208): »Im Zusammenbruch des Bewußtseins dieser räumlichen Orientierung in Angst und Schmerz meldet sich ein Bewußtsein von einem Ort, der nicht im beschriebenen Sinn relativ ist. Ich nenne ihn den absoluten Ort.«

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phie und Diskurs in vielfältiger Wechselbezüglichkeit und im Kontext von Schicksal und Freiheit, Unverfügbarkeit und Entwurf. Dazu seien nun – ohne dass hier eine vertiefte Diskussion der Identitäts-Debatte erfolgen kann – einige Aspekte herausgestellt. So gehört zur Geschlechtidentität erstens die Art und Weise, wie im gegebenen historischen Kontext auf die Geschlechtskörper und ihre Differenzen reagiert wird und wie diese Reaktionsmuster verinnerlicht werden. Exemplarisch seien hier Kleiderordnungen, Haartracht, Hygieneanweisungen etc. erwähnt, die u. a. auch einer Markierung und, im Sinne Butlers, einer Performativität der Attribute des Geschlechtskörpers dienen. Die Gesellschaft prägt der Sicht- und Tastbarkeit des Geschlechtskörpers verschiedene Images auf, meist entlang einer Werteskala, indem sie z. B. Idealformen produziert, aufrechterhält und modifiziert. So dominiert in den westlichen Industrienationen z. Zt. ein Vor-Bild vom weiblichen Körper, das viele Frauen mit Problemen konfrontiert. Hier sei an die mittlerweile nicht mehr nur typisch weibliche Krankheitsform der Anorexie erinnert oder an Millionen von Frauen, die mit Brustimplantaten versuchen, einen diskursiv erzeugten Identitätskonflikt am Körper auszutragen. Zweitens gehört zur Geschlechtsidentität das Spektrum von Strategien zur Verarbeitung, Interpretation und Kanalisation von Erfahrungen am geschlechtlichen Leib. Diese bilden in ihrer Variationsbreite sozusagen Ausgangs- und Angriffspunkte, an denen sich die Kultur im weiteren und gender im engeren Sinne einschreibt. Die Diskurswirkungen an der Achse geschlechtlicher Leiberfahrungen sind deshalb so effektiv, weil diese Erfahrungen von Betroffenheit begleitet und von Atmosphären umgeben sind. Exemplarisch seien Formen von Scham und Schuldgefühl, sexuelle Tabus, aber ebenso medizinische, psychologische und andere Wissenskontexte sowie warenwirtschaftliche und politische Interessen genannt. Da geschlechtliche Leiberfahrungen wegen ihrer relativen oder absoluten Unverfügbarkeit z. T. auch lebenspraktische Bewältigung verlangen, spielt sich eine diesbezügliche Wissensaneignung gleichfalls im Rahmen von Interpretationen ab, die Einfluss auf die Geschlechtsidentität haben. Schließlich spielt unser differenziertes Wissen um die Vorgänge im Körperinneren eine große Rolle bei der Erfahrung des Leibes. So kann diese regelrecht vom Diskurs erzeugt oder verändert werden, wie Duden am Beispiel der sonographischen Veröffentlichung des Leibesinneren einer Schwangeren dargelegt hat. Die Professionalisierung der medizinischen Technologien hat die Wahrnehmung des Körpers hin zu einer zweckdienlichen KörperMaschine und damit die Erfahrung der Leiblichkeit verändert. Zu solchen Erfahrungen zählt auch die Menstruationssimulation durch hormonelle 108 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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Kontrazeptiva, bei der die Monatsblutung zum terminierbaren Ereignis wird, oder die gewollte, also medizinisch nicht notwendige Kaiserschnittentbindung. 10 Als weibliche Leiberfahrung, die in einem spezifischen gender-Diskurs entsteht, ist nicht zuletzt auch die Vergewaltigung bzw. die Angst vor Vergewaltigung zu erwähnen. Drittens ist die Geschlechtsidentität in einem biographischen Zusammenhang zu sehen. Sie ist keine stabile Größe und unterliegt mannigfachen Wandlungen, ist insofern abhängig von persönlichen Erfahrungen mit sich selbst und mit Anderen als Geschlechtswesen, kollektiven Anund Zumutungen und dergleichen mehr. Dieser Aspekt nimmt ausdrücklich Bezug auf die geschlechtlichen Leiberfahrungen, die sich als Schlüsselerlebnisse in den Lebenslauf und die Identität eines Menschen einschreiben. Bei beiden Geschlechtern können z. B. der erste Geschlechtsverkehr oder die Elternschaft biographische Wendepunkte darstellen. Deutlich treten Wesensveränderungen in der Pubertät auf, in der weiblichen Biographie z. B. mit dem Brustwachstum (Thelarche). Auch die Menarche wird mit erstaunlicher Detailkenntnis erinnert, wobei weitgehend irrelevant ist, in welche Richtung die Betroffenheit ihren Weg nahm, ob sie in Freude erlebt wird (z. B. bei ersehntem Eintreten der Blutung, nachdem Gleichaltrige sie schon lange hatten), oder als Scham (z. B. wenn sie im unpassenden Moment auffällig wird), oder als Entsetzen, Panik und Erschrecken (z. B. bei Unaufgeklärten), oder einfach mit Unmut über eine lästige Störung. Es handelt sich um eine Erfahrung, die den Lebensentwurf der Frau zu einem bestimmten Zeitpunkt verändert, wobei auch kulturgeschichtliche Entwicklungen auf die biographische Relevanz von Leiberfahrungen einwirken, bei der Menarche schon allein deshalb, weil sie heute wesentlich früher eintritt als noch vor hundert Jahren. Geschlechtliche Leiberfahrungen haben für das Individuum in den verschiedenen Lebensaltern und -situationen unterschiedliche Bedeutungen und sind im Rahmen dessen zu analysieren, was Frauen und Männer jeweils mit ihnen verbinden, wie sie sich in Bezug auf sie verhalten, wie und wodurch sie Veränderungen bewirken. Insofern geschlechtliche Leiberfahrungen in einem biographischen Kontext stehen, kann man auch von einem biographischen Wandel der Geschlechtsidentität sprechen. 10

Kurios erscheint in diesem Zusammenhang, dass es in dem Sortiment der Barbie-PuppenImitate mittlerweile eine ›hochschwangere‹ Puppe gibt (Firma Simba, Puppe Steffi), deren Bauch aufklappbar und abnehmbar ist. Ein zusätzlicher ›dünner‹ und im Sinne des Körperideals tadelloser Bauch stellt danach die Proportionen der ›unterernährten‹ ›Model-Frau‹ wieder her.

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Viertens und in einem übergeordneten Sinne umfasst die Geschlechtsidentität die Summe der sozio-kulturell hervorgebrachten Rollen- und Identitätszuweisungen für die Geschlechter, also ein variabler Katalog von Verhaltensweisen, Rechtssetzungen, Lebensbedingungen, Situationen etc., in dessen Kontext sich der Mensch als Geschlechtswesen vorfindet und zu bewegen hat. In diesem Sinne kann das Kollektiv mehr oder weniger Einfluss darauf haben, in welche Richtung bzw. ob überhaupt geschlechtliche Leiberfahrungen in der Identitätsbildung ausschlagen. Ob und wie nun dieser ständig waltende Einschreibungsprozess, von Butler treffend gendering genannt, wirkt, hängt letztlich von der personalen Konstitution und dem Verhältnis von Individuum und Kollektiv ab, wobei beide nicht als statische Größen zu begreifen sind. Die gender-Kategorie stellt in dieser Reformulierung aber nur einen Aspekt in der Identitätsbildung dar, auch wenn sie die Dimensionen Körper, Leib, Biographie und Diskurs in einem Kontext wechselseitiger Bedingung beschreibt. Die Identität des Menschen sowie der Prozess seiner personalen Entfaltung und Biographie gehen weit über das hinaus, was wir hier Geschlechtsidentität nennen.

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3. Genetische Phänomenologie des Leibes

Im Folgenden werden allgemeine Grundzüge einer genetischen Phänomenologie des Leibes entwickelt, die für die spätere Evaluation weiblicher Leiberfahrungen relevant sind. Das geschieht in vier Schritten, die sich pointiert mit den basalen Bedingungen menschlichen Existierens, mit der Genese des Leibes, der Entfaltung personaler Identität und den Konstitutionsbedingungen konkreter Leiberfahrungen befassen. Den Abschluss des Kapitels bildet die Diskussion der Quellen zu weiblichen Leiberfahrungen.

3.1 Elementare Leiblichkeit Unter elementarer Leiblichkeit sind bei weitgehender Abstraktion von Kultur, sozialem Stand, Lebensalter und Geschlecht all jene Prozesse zu verstehen, in die wir qua Lebensnotwendigkeit eingebunden sind. Systematisch wurde dieser Bereich in der Leibphänomenologie noch kaum erschlossen. Ansätze finden sich aber bei Schopenhauer, und wenngleich Schmitz Aspekte elementarer Leiblichkeit untersucht und mit Böhme der Leib als Natur in den Blick kommt, ist es doch erstaunlich, wie selten die basalen Voraussetzungen des Lebens in der Leibphilosophie eine Rolle spielen. Elementare Leiblichkeit erschließt sich mit Blick auf den verallgemeinerten Leib und verweist auf anthropologische Existenzialien, auf die konstituierenden Bedingungen menschlicher Existenz, in die unser gefühltes Dasein unabdingbar eingebettet ist. Gemeint sind Ein- und Ausatmen, Trinken und Urinieren, Essen und Stuhlgang, Schlafen und Wachen sowie Wärmehaushalt und Schutzreaktionen. Dass es sich dabei nicht allein um biologische Fakten oder sicht- und tastbare Phänomene handelt, zeigt das breite Spektrum damit verbundener leiblicher Regungen, etwa Atemnot, Durst und Harndrang, Hunger und Stuhldrang, Müdigkeit und Frische, Schwitzen und Frieren sowie Schmerz- und Lustempfindlichkeit. Im Atmen wird leibliche Existenz grundlegend vollzogen und tritt der 111

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Mensch in Kontakt mit seiner Umgebung: Er lässt Luft in sich hinein und aus sich heraus. Schmitz (1998b, 94) hat als strukturale Phänomene des Atmens das »Zusammenwirken leiblicher Engung und Weitung, bei dem die Engung zur Spannung und die Weitung zur Schwellung wird«, beim Einatmen herausgearbeitet. Die Vermittlung beider findet beim Ausatmen »als ein Richten, das aus der Enge in die Weite führt«, statt (ebd., 100). Diese Vorgänge geschehen unwillkürlich, sie können aber kultiviert werden. Die Atmung wird auffällig z. B. bei Anstrengungen, wenn heftiges Atmen der Leistungsfähigkeit Grenzen setzt, beim Tauchen, wenn ihr Aussetzen die Dauer des Aufenthalts unter Wasser bestimmt, in Höhenlagen der Berge oder bei Smog in Städten, wenn es zu Kurzatmigkeit kommt, bei Erkrankung, in Gefühlslagen etc. Atmen ist ein leiblicher Vollzug, der uns unausgesetzt begleitet. Mit dem Trinken und Essen sowie den flüssigen und feststofflichen Ausscheidungen wird der Vollzug einer Aufnahme und Abgabe zwischen Leib und Welt in eine grobstoffliche Ebene gestellt. Durst und Hunger sowie Harn- und Stuhldrang sind leibliche Regungen, die sich mit Autorität an verschiedenen Leibesregionen aufdrängen. Schmitz hat den Hunger als »höchst energische Engung, die an der Grenze zwischen Spannung und privativer Engung steht« bezeichnet, nennt aber für fortgesetztes Fasten auch Phänomene »privativer Weitung«, z. B. gespürte Schwerelosigkeit (ebd., 231). Der Durst führe eine »weit zentralere Gefährdung der Leiblichkeit herbei, als der Hunger« und sei »das Ganze leiblicher Enge, Weite und Richtung in rhythmischer Innigkeit – die unrhythmische Gestalt par excellence der Leiblichkeit« (ebd., 237). Zum Harn- und Stuhldrang finden sich bei ihm keine vergleichbaren Analysen, abgesehen von Ausführungen zum »analen Drama« (Schmitz, 1995, 132 ff.). In Analogie zu Durst und Hunger kann dem Harndrang eine Priorität gegenüber dem Stuhldrang zugeschrieben werden. Harn- sowie Stuhldrang und die damit verbundenen Ausscheidungsprozesse sind in Dialoge von Engung und Weitung, Spannung und Schwellung eingebettet. Als weitere ›Ausscheidungen‹ können m. E. noch Haare sowie Fuß- und Fingernägel angeführt werden. Sie vollziehen sich aber unbemerkt und sind mit Wachstumsprozessen vergleichbar. Für die ›Ausscheidung‹ der Milchzähne ließen sich dagegen Phänomene von Drang und Schmerz anführen. Wachen und Schlafen folgen eigenleiblichen Impulsen und ihr Rhythmus ist in die Zyklen der Natur eingebunden. Müdigkeit und Frische begleiten als leibliche Regungen den Wechsel von Schlafen und Wachen. Stein (1980, 54) zählt Frische und Mattigkeit – wie erwähnt – zu den »Gemeingefühlen«, die das gesamte leibliche Befinden durchdringen. 112 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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Von diesen »Gemeingefühlen«, die Scheler als ganzheitliche Lebensgefühle bezeichnet, hebt Stein die Stimmungen ab, die den Leib auf andere Weise »füllen« (ebd.). Mit der gleichen Argumentation will Scheler die Lebensgefühle von den sinnlichen Gefühlen unterschieden wissen. Diese Klassifizierung kann mit dem Schmitzschen Begriff der »leiblichen Regung« und der eigentümlich vermischten Gemengelage regionalen und ganzheitlichen Spürens als überwunden gelten. Für die Frische macht Schmitz (1998b, 247) die »überwiegende Schwellung im Verbande der leiblichen Ökonomie« geltend und verweist auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Wollust. Müdigkeit definiert er (ebd., 251) als »Überschwemmung des Leibes durch protopathische Tendenz unter Lockerung des Bandes der leiblichen Ökonomie, wobei Spannung abgespalten und das Richten gestört wird«. Zur elementaren Leiblichkeit gehört ferner der Wärmehaushalt des Körpers. Schwitzen und Frieren sind leibliche Regungen, die sich sowohl regional (z. B. heißer Kopf, kalte Füße) als auch ganzheitlich (z. B. Fiebrigkeit, Schüttelfrost) aufdrängen und durch Weitung und Engung sowie beim Schwitzen noch durch Abgabe und u. U. spürbares Abfließen körpereigener Flüssigkeit charakterisiert sind. Die Beschaffenheit des Körpers, vor allem die seiner leicht durchdringbaren Oberfläche, erfordert Schutz vor Verletzungen. Eine zur elementaren Leiblichkeit gehörige Regung ist das Schmerzempfinden. Das Lustempfinden ist nicht nur Abwesenheit von Schmerz, sondern sowohl selbst ein Drang, wie in der sexuellen Lust, als auch eine Empfänglichkeit für ›lustvolle‹ Berührungen, wie sie z. B. beim Kitzeln eines Kindes an typischen Regionen deutlich wird. Diese wenigen Aspekte illustrieren elementare leibliche Dispositionen, die insbesondere durch ihre Wechselwirkung mit der Um- und Mitwelt bestimmt sind: Wir atmen die Luft, die uns umgibt; wir essen und trinken, was die Natur hervorbringt; wir scheiden ›in die Natur‹ aus; wir schaffen Wohnstätten für Essen, Trinken, Ausscheiden und Schlafen; wir begegnen dem Klima durch Kleidung und Behausung und schützen den Leib vor Verletzungen. In der fundamentalen Bedürftigkeit leiblicher Existenz zeigt sich die Anfälligkeit für multikausale Einflüsse und Störungen: Das Ausbleiben der Atemluft führt nach wenigen Minuten zum Exitus; der Tod durch Erfrieren und Überhitzung kann innerhalb weniger Stunden eintreten; das Ausbleiben flüssiger Nahrung führt innerhalb weniger Tage, das Ausbleiben fester Nahrung innerhalb weniger Wochen zum Tod – das sind natürliche Grenzen unserer Existenz, ohne überhaupt schon die Empfänglichkeit für Krankheiten zu berücksichtigen. Leibliche Existenz ist vielfältig und umfassend ständig bedroht, wie 113 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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schon Schopenhauer betont, und die meisten Aktivitäten zielen darauf, diese Bedrohung vorausschauend auf ein Minimum zu reduzieren. Primum movens dieser Sorge, die in den gesamten Lebensentwurf eingeht, ist der Schmerz bzw. die Angst vor Schmerz. Elementare Leiblichkeit ist von leiblicher Autorität getragen und zwingt zu Handlungen. Mit Blick auf den Schmerz kann spezifiziert werden: Wir sind gezwungen, uns an Orten mit ausreichender Luftzu- und abfuhr aufzuhalten, weil Atemnot weh tut; wir essen und trinken, weil Hunger und Durst schmerzhaft sind; wir sorgen für die Abfuhr der Ausscheidungen, weil ein Einbehalten Schmerzen verursacht; wir kümmern uns um Schlaf, weil Schlafentzug Schmerzen hervorruft; wir werden aus dem Schlaf in Wachheit gedrängt, weil fortgesetztes Liegen Schmerzen verursacht und weil wir essen, trinken und ausscheiden müssen; wir sorgen durch Kleidung und Behausung für konstante Eigenwärme, weil Unterkühlung und Überhitzung schmerzhaft sind; schließlich sorgen wir für Situationen, in denen wir Angriffen auf den Leib so wenig wie möglich ausgesetzt sind. Soweit der Blick auf den verallgemeinerten Leib. In der Perspektive der Lebensalter und der Geschlechterdifferenz muss das Spektrum elementarer Leiblichkeit erheblich erweitert werden. Gemeint sind primär die früher erwähnten geschlechtsspezifischen Ausscheidungen, die zwar nicht in allen Lebensaltern auftreten, die aber so elementar sind, dass sie zum Mensch-Sein schlechthin zu zählen sind. Neben den Vollzügen, die der individuellen Lebenserhaltung dienen und sich durch Schmerzvermeidung konstituieren, müssen auch Dispositionen angeführt werden, die auf Lustgewinn und über Individuelles hinaus zielen. Ob aber von einem primum movens der Lust die Rede sein kann, lässt sich nur für einzelne Regungen eindeutig entscheiden. Bemerkenswert ist aber das Konglomerat wechselseitiger Bezüglichkeit geschlechtertypischer Ausscheidungen und Einverleibungen und, hinsichtlich der leiblichen Ausrichtung auf Lustgewinn, der Bezug zum Mitmenschen. Die männliche Ausscheidung Ejakulat und die weiblichen Ausscheidungen sowie Einverleibungen gehören unabdingbar zur elementaren Leiblichkeit, da sie – gemeinsam – zu den Existenzbedingungen qua Gattung gehören. Sie weisen nicht nur über die Erhaltung des Individuums hinaus, sondern unmittelbar, wie im Fall der Menschengeburt, auf die Existenz der Anderen. Menschen sind keine Einzelgänger, und ihr Existieren ist durch Natalität, Mortalität und eine Entfaltung in Lebensaltern bestimmt und – am Lebensbeginn sogar notwendigerweise – auf Mitmenschen angewiesen.

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3.2 Natalität, Mortalität und die Lebensalter Menschliches Dasein ist an Geburtlichkeit und Sterblichkeit geknüpft und unterliegt dem Wachstum, der Veränderung und dem Altern. In dieser Perspektive sind uns die Lebensalter gegeben. Für die Genese leiblicher Existenz ist es – vor dem Hintergrund der Bio-Technologien muss man wohl sagen noch – eine unverrückbare Tatsache, dass wir aus einem anderen Leib stammen. Die Dauer dieser Leibesgemeinschaft ist auf elementare Weise definiert, wenngleich die Medizin sie zu verkürzen vermag. Um zu einem lebensfähigen Körper heranzureifen, ist aber immer noch ein mehrmonatiger Aufenthalt im Mutterleib unabdingbar. Nach Ablauf dieser Frist erfolgt eine nicht mehr rückgängig zu machende körperliche Trennung, die uns in ›selbstständige‹ Existenz entlässt. Im sozialen Sinne selbstständig wird unser In-der-Welt-Sein jedoch erst nach einigen Jahren. In der absoluten Hilflosigkeit, in die uns die Geburt entlässt, sind wir an einen Ort gebunden, den wir eigenmächtig nicht verlassen können. Mit Ausnahme der Gliedmaßenbewegung und einer rudimentären Gesichtsmimik vermögen wir keine weitere Eigenbewegung des Leibes auszuführen: Wir liegen. Es folgen dann, u. U. in verschiedener Reihenfolge oder im Überspringen einzelner Phasen, das Sitzen, Drehen, Krabbeln und Laufen, schließlich das Bedienen von Geräten und Maschinen zur Fortbewegung. Die Geburt entlässt uns in vielerlei Hinsicht wenig ausgestattet zum selbstständigen Dasein, kurz gesagt bedeutet leibliche Existenz als Neugeborene, Kinder und Heranwachsende eine sukzessive sich verringernde Abhängigkeit von Anderen und eine große Anforderung an Entwicklungspotenziale. Bei dieser Entwicklung ist von sehr unterschiedlichen Leiberfahrungen auszugehen: Säuglinge erleben ihren Leib anders als sitzende und krabbelnde Kleinkinder oder zum Gehen und Autofahren befähigte Erwachsene. Im Sterbeprozess und bei Krankheit kann die Fähigkeit zur eigenmächtigen Ortsveränderung wiederum verloren gehen. Zu den Prozessen des Wachstums, des Erwachsen-Werdens gehört, dass wir den Leib ›erobern‹ (z. B. beim ›Trocken-Werden‹ im Erspüren des Harn- und Stuhldranges), dass wir uns seiner ›bemächtigen‹, wozu auch das Erlernen und Sich-Aneignen von Umgangsformen mit dem Leib als Körper gehört, und sei es nur durch basale Vorgänge wie Essen, Trinken, Ausscheiden, Waschen, Ankleiden oder komplizierte Vorgänge wie Sprechen, Rad fahren, Schwimmen, Schreiben und dergleichen. Bei allen diesen Prozessen sind andere Menschen anleitend oder als Modell beteiligt. Vom Lebensbeginn an sind wir an Andere gebunden und in verschiedene Horizonte des Einanderberührens, -erlebens und -nahesein gestellt. 115 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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Neben den allgemeinen lebensalterbedingten Leiberfahrungen sind bei Prozessen wie dem ›Erobern‹ des Leibes und dem Erlernen von Umgangsformen mit dem Leib als Körper zahlreiche geschlechtsspezifische Unterschiede auszumachen. Die heranwachsende Frau hat sich z. B. bei der Thelarche oder Menarche mit Leib und Körper in anderer Weise auseinander zusetzen als der heranwachsende Mann. Das Wachstum der Brust vollzieht sich in einem bestimmten Lebensalter und in Situationen wie der Schwangerschaft. Der Menstruationszyklus folgt zeitlichen Rhythmen. Die Schwangere bewegt und spürt sich in den Phasen ihrer Gravidität unterschiedlich; Geburt und Laktation sind Erfahrungen von leiblicher Autorität, die der Mann nicht kennt und die eine Frau nur in gewissen Zeiträumen und Situationen ihres Lebens erleben kann. Solche Aspekte verweisen auf Differenzen in der subjektiven Erfahrung von Leiblichkeit.

3.3 Leibliches Lot, leibliche Integrität und Habitus Zur Genese des Leibes gehört, dass der Mensch seinen Körper ›erobern‹ und ›bewohnen‹ lernt, dass er leibliches Selbst wird. Für diese Prozesse ist am Lebensbeginn, aber auch im gesamten Lebensverlauf u. a. das leibliche Lot von Bedeutung. Der Begriff des leiblichen Lots bezieht sich zwar allgemein auf den Gleichgewichtssinn, leibphänomenologisch ist damit aber mehr bzw. anderes gemeint als jene am anatomisch-physiologischen Körpermodell im Innenohr auszumachenden Gleichgewichtsorgane, die allenfalls bei ihrer Erkrankung bemerkt werden, ansonsten aber im eigenleiblichen Spüren nicht präsent sind. Die Rede vom Gleichgewichtssinn verweist auf die basale Bedeutung leiblicher Lotung, auch im Gefüge der anderen Sinne, denn der Gleichgewichtssinn steht zu ihnen in Wechselbeziehung. Dass dabei das Hören und mithin das Ohr wichtig ist, zeigt das Phänomen der Irritation des Gleichgewichtssinns bei ›abgedeckten‹ Ohren; doch auch das Verschließen der Augen führt zur unmittelbaren Umorientierung im Raum. Der Begriff des leiblichen Lots lässt sich in Zusammenhang mit dem Steinschen »Nullpunkt der Orientierung« und der Schmitzschen Leibesinseltheorie verstehen, aber ebenso gut auf das beziehen, was Schmitz (1995, 119) »Körper und perzeptives Körperschema« nennt, die »stetig ausgedehnt und flächig begrenzt« sind, und was er im Rahmen der leiblichen Richtung als motorisches vom perzeptiven Körperschema unterscheidet, sowie ferner auf das, was Waldenfels (2000, 115) mit Bezug auf das Körperschema als »Situationsräumlichkeit und Positionsräumlichkeit« be116 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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zeichnet und letztlich – wie Schmitz – auf die »Vorstellung, die man vom Körper hat« (ebd., 121) zurückführt. Ohne im Einzelnen terminologische Abgrenzungen vorzunehmen oder die Theorie der Räumlichkeit zu explizieren, was an dieser Stelle zu weit führen würde, soll der Begriff des leiblichen Lots einen übergeordneten Phänomenbezirk für das umreißen, was alle Orientierungsleistungen, Positionierungen und Bewegungen des Leibes im Raum und als Raum ausmacht. Insofern das leibliche Lot mit der ›Körpermasse‹ als res extensa, mit ›Bodenhaftung‹, ›Schwerkraft‹ und ›Widerständigkeit‹ ebenso zu tun hat wie mit der Sinneswahrnehmung, der Körpervorstellung sowie mit dem Einleibungsvermögen und dem leiblichen Befinden, verweist es als basale leibliche Disposition über eine Zentrierung, Balancierung und Gewichtung des Körpers hinaus auf die leibliche Integrität und den Habitus. In leiblicher Lotung ist der Mensch in der Welt verankert: die vor Freude hüpfenden Kinder, die leichtfüßigen, ›schwebenden‹ Verliebten, die schwer an ihrem Leib tragenden Hochschwangeren, die sich dahin schleppenden Betagten etc., sie alle loten nicht nur eine Körpermasse aus, sondern fühlen ihren Leib in jeweils spezifischer situativer Lotung. Dass der Mensch mit einem Sinn für sein Gleichgewicht, also mit der Fähigkeit zur Ausbalancierung seines Körpers, ausgestattet ist, ist für Erwachsene eine triviale Alltagserfahrung. Der Blick auf die Lebensalter zeigt jedoch, dass es sich um eine durch Bewegungsübung hart erkämpfte Fertigkeit handelt, die sich allmählich schient und später nur noch in besonderen Situationen eine bewusste Aufgabe wird. Im Säuglings- und Kindesalter lernt der Mensch, aus der Unfähigkeit zur Ortsveränderung heraus die ›Masse‹, die sein Körper ist, in vielen Lernschritten selbst zu bewegen. Dabei findet die Ausrichtung des leiblichen Lots an Widerständen, vorzugsweise dem Boden statt. Physiologisch-anatomisch werden diese Vorgänge u. a. mit der Ausbildung der den ganzen Körper durchziehenden Muskeln erklärt. Die Fähigkeit, den Körper in allen Lebensvollzügen im Gleichgewicht zu halten, wird grundlegend beim Gehenlernen erworben und hat viel mit dem festen Stand auf den Füßen zu tun, von dem eine der wichtigsten Ausbalancierungen ausgeht. Die leibliche Lotung kann aber ihre Verankerung an beinahe jedem ›Körperteil‹ finden, wie z. B. beim Hand- oder Kopfstand, und ist in steter Veränderung und fließenden Übergängen präsent. Jede Lotung vollzieht sich immer am Leib als Ganzen und in Bezug auf den sich bietenden Widerstand. In einem naturwissenschaftlichen Modell könnte für jede Position der Körpermasse ein Schwer- oder Kristallisationspunkt berechnet werden, in dem alle Glieder zusammenstimmen bzw. zu dem alle Glieder in Relation 117 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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stehen müssen, damit eine spezifische Position oder Bewegung und keine andere möglich ist. Dieser ›materiale‹ Schwerpunkt wird in der leiblichen Lotung nicht als solcher gespürt. Das leibliche Lot wird nicht als Leibesinsel erfahren, es lässt sich nicht regional erfassen. Es betrifft die Art, wie der eigene Leib in der Welt, präziser ›auf dem Boden‹ und ›mit den Dingen‹, gespürt wird. Nach jahrelanger Schienung durch Erspüren von Widerständigkeit ›wissen‹ Erwachsene um das Zusammenstimmen aller Leibesglieder als Einheit, also wie ihre Körper im Verhältnis zu den Dingen auszubalancieren sind, wie etwa auf einem Balken die Balance auf einem Bein bzw. Fuß zu halten ist und wie Gewichtsverlagerungen auszuführen sind. Dieses Spüren und Tasten, dieses Wackeln und Wabern der Glieder, bis der Zustand erreicht ist, an dem der Leib so stabil zentriert ist, dass der andere Fuß den nächsten Schritt wagen kann, ist eine pointierte Erfahrung mit leiblicher Lotung. Mit Blick auf die durch die Schwerkraft bedingte ›Bodenhaftung‹ und die an Widerständen erfolgende Aufrichtung beruht die leibliche Lotung auf Einleibung. Allenfalls bei einem Sprung oder im freien Fall wird der Leib ohne solide Bodenhaftung erfahren. Beim Schwimmen bietet das Wasser einen anderen Widerstand, der zu einer Veränderung leiblicher Lotung führt, indem man sich typischerweise leichter fühlt und anders bewegt. Insofern wir normalerweise stets mit Teilen des Körpers den Boden berühren und uns mit der ›Körpermasse‹ im Verhältnis zu ihrer Bodenhaftung in allen Positionen und Bewegungen ausloten, sind wir immer schon an Widerständen ›eingeleibt‹ in die materielle Welt und erfahren die Widerständigkeit unseres Körpers im Verhältnis zur Widerständigkeit der Dinge. Auch wenn wir Kleidung, Taschen, Rucksäcke tragen, wenn wir, wie afrikanische Frauen, schwere Gewichte auf dem Kopf tragend uns fortbewegen, wenn wir ein Kind auf den Arm nehmen, wenn wir im Liebesspiel auf den anderen Leib reagieren, mit ihm in ein gemeinsames Lot kommen, wenn wir im Sport einen Ball ›erwischen‹, oder wenn wir es uns auf einem Stuhl bequem machen, immer loten wir uns aus, in Relation zu anderen ›Massen‹, Gewichten, Gegenständen in der Umgebung. Die Bedeutung eines soliden Widerstands für die sich an ihm ausrichtende und ›einleibende‹ Lotung wird deutlich, wenn man nach langer Schifffahrt wieder Land betritt. Wer kennt nicht das merkwürdige Gefühl, das der feste Boden mit einem Mal vermittelt, und die Gewöhnungszeit, die es bedarf, um – zunächst noch leicht taumelnd – wieder ins Lot zu kommen. Raumfahrer müssen bei der Rückkehr aus dem All häufig zunächst getragen werden. Obwohl sie ein strenges Muskeltraining absolvieren, um dem Muskelschwund vorzubeugen, der sich ohne spürbare Widerständigkeit 118 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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(des Leibes und der Dinge) schnell einstellt, ist die Erfahrung der Schwerelosigkeit offenbar so einschneidend, dass die erneute leibliche Lotung ›auf der Erde‹ längerer Zeit bedarf. Dass mit leiblicher Lotung mehr gemeint ist als eine ausbalancierte Haltung, kommt in der Alltagssprache z. B. darin zum Ausdruck, dass wir von jemandem sagen, er sei »aus dem Gleichgewicht geraten«, oder wenn wir anstelle der Frage »wie geht’s?« danach fragen, »ob alles im Lot ist«, oder auch, wenn wir von »Haltung bewahren«, »aufrecht gehen«, »Aufrichtigkeit«, »Stand gewinnen« etc. reden. Es ist bekannt, dass Kinder mit der Eroberung des Raumes durch das Gehenlernen einen enormen Entwicklungsfortschritt machen, dass sie diese Erfahrung mit kaum zu bremsendem ›Arbeitseifer‹ und großer Schmerz- und Frustrationstoleranz einüben, dass mit dem Laufenlernen ein Zuwachs ihres Selbstbewusstseins und Selbstvertrauens einhergeht, dass sie danach drängen, den Körper qua Lotung im Griff zu haben, um mit ihm dies und das tun zu können. Kinder eignen sich im Ausloten und Aufrichten an Widerständen ihren Leib an und zugleich ein Stück Welt. Die Eroberung des Körpers zum eigenen Leib durch leibliche Lotung verweist also auch auf die Eroberung der Welt und, insofern sich in diesen Prozessen die Person herausbildet, auf die leibliche Integrität. Die leibliche Integrität bestimmt die »leibliche Ökonomie« (Schmitz, 1995, 122), das In-der-Mitte-Stehen zwischen Enge und Weite, zwischen personaler Regression und personaler Emanzipation, und habitualisiert sich in leiblicher Lotung. Die durch ›zivilisierte‹ Sitzkultur bedingten Haltungsschäden mit der Ausbildung starrer Leibesinseln (etwa steifer Nacken, hochgezogene Schultern, ›eingeschnürte‹ Brust oder ›eingedrückter‹ Oberbauch) verdeutlichen, dass leibliche Lotung immer auch im Kontext der Integrität und des Habitus eines Menschen steht. Es ist bemerkenswert, dass Menschen mit den für die technische Zivilisation typischen Haltungsschäden, die sich schon im Schulalter habitualisieren, bei über alltägliche Verrichtungen hinausgehenden Gleichgewichts- und Orientierungsaufgaben leicht ins ›Schwanken‹ geraten. Andererseits können Fehlhaltungen oder Verspannungsinseln durch Körper- und Atemtraining, Gleichgewichts- sowie Symmetrieübungen korrigiert werden. Die leibliche Integrität steht, obschon sie sich als personale Identität im breiten Feld leiblicher Responsivität entfaltet, in Zusammenhang mit leiblicher Lotung und drückt sich auch in individueller Lotung aus. Damit wird deutlich, dass die Beziehungen zwischen dem leiblichen Lot und der sich im Werden der Person herausbildenden leiblichen Integrität, die sich schon in jungen Jahren über den Habitus (Bourdieu) realisieren, äußerst komplex 119 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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sind und auf eine ungemein enge Verwobenheit z. B. von Körperhaltung, Atmungsverhalten und Gefühlsdisposition verweisen. Mit dem Begriff der leiblichen Integrität wurde schon auf den Habitus verwiesen, der nach Pierre Bourdieu ein lebendes System inkorporierter sozialer Erfahrung bezeichnet. Schmitz (1995, 127) spricht in einem ähnlichen Kontext von leiblichen Dispositionen: »Den Hintergrund der momentanen leiblichen Regungen bilden längerfristige, z. T. lebenslange leibliche Dispositionen, die den ganzheitlichen leiblichen Regungen verwandt sind und wie diese und die teilheitlichen nach dem Alphabet der Leiblichkeit ›nachbuchstabiert‹ werden können.«

Schmitz nimmt sowohl auf eine leibimmanente, von Außenreizen unabhängige Dynamik der leiblichen Ökonomie Bezug, »in der Schwellung und Spannung antagonistisch konkurrieren« (ebd.), als auch auf Dispositionen, die durch Anmutungen verursacht sind bzw. auf Resonanzen beruhen, wie die »weitverbreitete Verstimmung der leiblichen Disposition in der naßkalten Übergangszeit des Jahres mit den Merkmalen: Mattheit, Mißmut, reizbare Schwäche, Wankelmut« (ebd., 128). Seine Theorie der leiblichen Ökonomie und Disposition sieht Schmitz in der humoralpathologischen Temperamentenlehre ebenso bestätigt wie in der Physiognomie und Charaktertypologie, die er jedoch im Einzelnen anders akzentuiert. Schmitz verweist über individualanthropologische Aspekte hinaus ferner auf »relativ homogene leibliche Dispositionen«, die »kollektiv, in Menschengruppen« auftreten, sowie auf »spontane kollektive Umstimmungen der leiblichen Disposition, die durch Veränderung des leiblichen ›Klimas‹, in dem ein Zeitalter oder eine Generation in mehr oder minder weitgespanntem Zusammenhang lebt, Gestaltungskraft und spezifische Resonanzfähigkeit beeinflussen, dadurch aber auch den Gang der Geschichte« (ebd., 130). Die Schmitzsche Lehre von der leiblichen Disposition eines Individuums und den relativ homogenen leiblichen Dispositionen in Menschengruppen lässt sich mit Bourdieus Konzept des Habitus auf das gesamte Spektrum sozialer Interaktionen und Konditionierungen beziehen. Bourdieu (1993, 98 f.) schreibt: »Die Konditionierungen, die mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen verknüpft sind, erzeugen die Habitusformen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d. h. als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepaßt sein können, ohne jedoch bewußtes Anstreben von Zwecken und ausdrückliche Beherr-

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schung der zu deren Erreichung erforderlichen Operationen vorauszusetzen, die objektiv ›geregelt‹ und ›regelmäßig‹ sind, ohne irgendwie das Ergebnis der Einhaltung von Regeln zu sein, und genau deswegen kollektiv aufeinander abgestimmt sind, ohne aus dem ordnenden Handeln eines Dirigenten hervorgegangen zu sein.«

Als System von Dispositionen ist der Habitus zugleich strukturierte und strukturierende Struktur und bildet sozusagen die Schnittstelle zwischen den sozialstrukturellen Lebensbedingungen und bestimmten kollektiven wie individuellen Handlungen. Gegenüber dem älteren soziologischen Konzept der sozialen Rolle schließt das Habitus-Konzept dynamische und statische Aspekte ebenso ein wie die umfangreichen Prozesse von Habitualisierungen und nimmt daher die Einverleibung gesellschaftlicher Strukturen in den Blick: »Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus die wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat. Deswegen macht gerade er die Praktiken relativ unabhängig von den äußeren Determiniertheiten der unmittelbaren Gegenwart. Diese Selbständigkeit ist die der abgehandelten und fortwirkenden Vergangenheit, die, wie ein akkumuliertes Kapital fungierend, Geschichte aus Geschichte erzeugt und damit die Dauerhaftigkeit im Wandel gewährleistet, die aus dem einzelnen Handelnden eine eigene Welt in der Welt macht. Als Spontaneität ohne Willen und Bewußtsein steht der Habitus zur mechanischen Notwendigkeit nicht weniger im Gegensatz als zur Freiheit der Reflexion, zu den geschichtslosen Dingen mechanistischer Theorien nicht weniger als zu den ›trägheitslosen‹ Subjekten rationalistischer Theorien.« (ebd., 105)

Robert Gugutzer hat auf Schnittstellen zwischen der Schmitzschen Lehre von der leiblichen Disposition und der Bourdieuschen Lehre vom Habitus hingewiesen. Für den Habitus betont er (2002, 119) die Integration von drei wesentlichen Aspekten: »Der Habitus ist im Sinne von Denk-, Wahrnehmungs- und Interpretationsschemata ein kognitives Konzept, im Sinne der Verkörperung von Lebensgeschichte ein körperliches Konzept, und verstanden als leibliches Wissen oder Spürsinn ein leibliches Konzept.«

Interessante Parallelen zwischen Schmitz und Bourdieu ergeben sich insbesondere über die von beiden angestrebte Überwindung der ›scheinbaren‹ Antinomien von Objektivität und Subjektivität, bei Bourdieu bezogen auf die Antagonisten Sozialphänomenologie und Sozialphysik durch die »Objektivität des Subjektiven«, bei Schmitz bezogen auf den Körper-GeistDualismus und den Seelenbegriff bzw. den introjektionistischen Reduktionismus durch die Rehabilitation der subjektiven Tatsachen. Beide arbeiten an den porösen Stellen zwischen Subjektivität und Objektivität 121

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aus ihrer je eigenen Perspektive und mit eigenem Vokabular: Schmitz spricht z. B. von Gefühlen als Atmosphären im Raum, Bourdieu vom einverleibten, habitualisierten Sozialen. Verankerungspunkt beider ist der Leib als der Resonanzboden, auf dem sich die Schnittmenge zwischen Materialem (Körper) und Immateriellem (Soziales) ereignet. Ebenso wie das Soziale auf die Vorzeichnungen des Leiblichen angewiesen ist, um sich einzuschreiben und zu verfestigen (Habitus), ist der Leib dem Sozialen ausgeliefert (Genese, Generativität). Das leibliche Selbst findet sich also sowohl von der Natur als auch von der Kultur konstituiert vor und entfaltet in seinem Werden eine leibliche Integrität, die immer schon geschichtlich ist (Körper als Speicher) und stetig Geschichte fortschreibt (Habitus als lebendes System). In existenzialistischen Begriffen formuliert ist die Faktizität des Daseins nicht nur bezogen auf unverfügbare Natur, sondern auch auf unverfügbare Kultur, und es ist davon auszugehen, dass dem Entwurf von der einen wie der anderen Seite Grenzen gesetzt sind. Die leibliche Integrität kann in dem durch die Positionen von Schmitz und Bourdieu entstehenden Ergänzungszusammenhang gedeutet werden als die labile Einheit zwischen einverleibtem Sozialem und sozialisierter Leiblichkeit. Das Soziale entkommt dem Leib ebenso wenig wie der Leib dem Sozialen, und da der Mensch an den sozialen Determinanten nicht selbst mitgewirkt hat, bevor sie sich ihm inkorporierten, und da er ebenso wenig den Resonanzboden abzustreifen vermag, der sein Leib ist und der sein Erleben vorzeichnet, bedeuten leibliche Integrität und personale Identität individuelle Vermittlungs- und Anpassungsleistungen in einer zugleich strukturierenden wie strukturierten Struktur. In Fragen der Geschlechterdifferenz, des sozialen Felds, der Rasse und weiterer Strukturkategorien menschlichen Existierens ergeben sich für das leibliche Lot, die leibliche Integrität und den Habitus eine Reihe von Unterschieden. Leiberfahrungen lassen sich nicht aus ihren Situationen oder Kontexten lösen, so dass deren Analyse ein wichtiger Aspekt der genetischen Phänomenologie ist.

3.4 Situativität und Kontextualität Leibliches Existieren ist in Situationen und Kontexte gestellt, die Summen einer Mannigfaltigkeit von Bedingungen sind. Wie erwähnt, ist es zeitlebens in elementaren Vollzügen wie Atmen, Essen, Schlafen etc. fundiert und eingebettet in eine körperliche Entwicklung, eine leibliche Biographie und ein umfassendes leibliches Responsorium. Es ist es immer mit122

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Genetische Phänomenologie des Leibes

bestimmt durch Situationen und Kontexte, die von uns umgebenden Individuen und Kollektiven (Familie, Gesellschaft, Kultur, Geschichte etc.) geschaffen bzw. mitgeschaffen wurden. Wie der eigene Leib erfahren wird, verweist nicht ausschließlich auf Prädiskursives, wie es durch elementare Leiblichkeit sowie Natalität, Mortalität und die Lebensalter umrissen ist, sondern ebenso auf individuell-situative und kollektiv-kontextuelle Komponenten. Einzelne Leiberfahrungen werden durch historische Entwicklungen, etwa die der technischen Zivilisation, beeinflusst, hervorgerufen oder abgewandelt. Aufgabe einer genetischen Phänomenologie ist es, die Bedingungen einer konkreten Leiberfahrung der wissenschaftlichen Analyse zugänglich zu machen. Nimmt man den Begriff der Genesis wörtlich, so ist damit die Entstehungsgeschichte gemeint, die eine leibliche Situation in konkreter Gegenwart konstituiert. Dabei muss mitgedacht werden, wie diese Situation, wie das Spüren reflexiv zugänglich wird, also wie und ob wir darüber reden können bzw. wie und ob wir das Erlebte zum Ausdruck bringen. Eine genetische Phänomenologie des Leibes hat sich damit auseinander zu setzen, wie individuelle Situationen und kollektive Kontexte in einer konkreten Leiberfahrung zum Tragen kommen. Eine korrelative Wechselwirkung zwischen Leib und Kultur ist insbesondere dann von Belang, wenn wir uns im Horizont von Körperbildern, medizinischen Wissenskontexten, Körperkult und Leibeskultur bewegen. So können in einer Geschichte des Körpers und des leiblichen Empfindens erhebliche Unterschiede in den Phasen der Menschheitsentwicklung, in den Regionen menschlicher Populationen, innerhalb von Personengruppen, in den Lebensaltern eines Individuums etc. ausgemacht werden. Wie der Mensch seinen Leib erlebt, hat eine unabdingbare pathische Dimension, aber Menschen, die am Lebensbeginn als autonome Wesen gar nicht existieren können, sind immer schon eingebunden in kollektive Umgangsformen mit Körper und Leib, die Einfluss auf die individuelle Situation haben. Umgekehrt reagieren Individuen auf die Situativität und Kontextualität ihrer Erfahrungen und prägen bzw. verändern sie. Solche Wandlungsprozesse vollziehen sich jedoch nur allmählich, wofür Bourdieu die fundamentale Trägheit des Habitus und dessen Verankerung im ›Leibgedächtnis‹ verantwortlich macht. Was unter Situativität und Kontextualität verstanden wird, sei am Beispiel einer modernen Erlebnismöglichkeit, dem Bungee-Jumping, erläutert: Von einem dramatischen Sturz des Körpers in die Tiefe hätte früher kaum je ein Überlebender, allenfalls eine Minderheit, wie die Klippenspringer, berichten können; dem heutigen Bungee-Springer jedoch ist ein 123 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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Teil dieser Leiberfahrung zugänglich, nur ein Teil, weil er, und hier sind Aspekte der Genese der Situation wichtig, weiß, dass er an einem Seil hängt und – mit aller Wahrscheinlichkeit – von dem Sturz keine Verletzung davontragen wird, sondern ›nur‹ das Gefühl und Erlebnis des freien Falls. Will er darüber berichten, ist er möglicherweise zunächst sprachlos und bringt vermutlich das Exzeptionelle dieser Erfahrung zum Ausdruck oder bedient sich des Vokabulars, das er sich bei der Beschäftigung mit dem Thema durch Medien, Werbung oder Berichte Anderer angeeignet hat. Schon der Begriff ›Bungee-Jumping‹ steht in einem jungen kulturellen Kontext, der auf das Bedürfnis nach außergewöhnlichen Grenzerfahrungen reagiert bzw. dieses hervorgebracht hat. Eine phänomenologische Analyse der Leiberfahrung des BungeeSpringens hätte die Summe der Bedingungen in den Blick zu nehmen, die zu dieser Art des eigenleiblichen Spürens führt und dieses sodann in seiner Prozessualität zu beschreiben. Fragen wir uns, wer eine solche Leiberfahrung macht, so stoßen wir auf einen spezifisch gearteten kollektiven Rahmen, also Kulturen, die eine solche Freizeitgestaltung überhaupt realisieren, was den geographischen Ort strikt limitiert. Die historische und ethnologische Forschung hat gleichwohl Vorformen oder verwandte Erlebnisarten, etwa bei Initiationsriten, nachgewiesen, die zum Vergleich herangezogen werden könnten. Ferner ist unter kollektiven Bedingungen, nun innerhalb der ›geeigneten‹ Kultur, zu berücksichtigen, dass auch der Personenkreis, der diese Leiberfahrung macht, stark eingeschränkt ist, und zwar, einmal abgesehen von den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln (Klasse), sowohl hinsichtlich der elementaren Verfasstheit des Leibes (Gesundheit) in der spezifischen Situation (die Person sollte nicht kurz zuvor gegessen haben), als auch in Bezug auf das Lebensalter (Kinder, Jugendliche und Greise sind ausgeschlossen) und das Geschlecht (Schwangeren ist der Sprung verboten). Zu den individuellen Aspekten gehört die Motivation für die Erfahrung des extremen freien Körperfalls (»Angstlust« 1 ) und die situative Gegebenheit (Gruppen- oder Einzelereignis sowie erste oder wiederholte Erfahrung). Beide Aspekte verweisen auf den Habitus bestimmter Personengruppen. Sind auf diese Weise Situativität und Kontextualität grob umrissen, kann die phänomenologische Analyse zu dem kommen, was die Person am Leibe spürt, wenn sie einen Bungee-Sprung macht, wobei ein Prozess ›vorlaufenden‹ Erlebens, etwa einer Anspannung des Leibes, berücksichtigt 1

Vgl. dazu Schmitz, 1998b, 334 ff., oder Heft 707 »Angstlust« der Zeitschrift »du« (Juni 2000).

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Genetische Phänomenologie des Leibes

werden muss, des weiteren dann die Mannigfaltigkeit dessen, was unmittelbar vor dem Sprung, während des Fallens in seinen verschiedenen Phasen und nach dem Sprung gespürt wird, an einzelnen Leibesinseln oder in ganzleiblich ergreifender Betroffenheit. Aus Selbsterfahrung (im besten Falle), Erlebnisbeschreibungen Anderer, durch Beobachtung und Einfühlung sowie eventuell unter Einbeziehung interdisziplinärer Methodik (Medizin, Endokrinologie etc.) kann sodann ein Bild von der Leiberfahrung des Bungee-Springens entstehen. Der Bungee-Sprung ist eine Leiberfahrung, die im Vollzug des freien Willens und nur von sehr wenigen Menschen gemacht wird. Ein durch Situativität und Kontextualität mitbestimmter genetischer Zugang lässt sich gleichwohl auf alle Arten konkreter Erfahrung anwenden. Hier kann auf Phänomene elementarer Leiblichkeit, wie z. B. das Atmen, zurückgegangen werden: Dem heutigen Großstädter, der durch abgasgeschwängerte Luft geht, drängt sich das Atmen manchmal schwer und unangenehm auf; in übel riechender Luft oder Smog sträubt sich der Leib, tief einzuatmen und gerät zuweilen in Atemnot. Das zeigt sich vor allem nach einer längeren Luftveränderung bei der Rückkehr in die heimatliche Großstadt. Mit der Gewöhnung zerstreut sich das Sich-Aufdrängen des Schwerer-Atmen-Könnens wieder. Die Art, wie in Großstädten geatmet wird, ist im Kollektiv habitualisiert. Doch auch die individuelle Situation spielt bei einer konkreten Atemerfahrung eine Rolle. So kann die schwere Luft einer Hauptverkehrsstraße dennoch ›befreiend‹ wirken und zu einem tiefen Einatmen, also einer Abweichung vom habitualisierten Atmen führen, wenn man gerade aus einem verrauchten oder von Streit und Aggression atmosphärisch ›vergifteten‹ Innenraum kommt. Auch Hunger und Durst lassen sich von kollektiven und individuellen Konstellationen her begreifen. In der Wohlstandsgesellschaft sind diese beiden Erfahrungen elementarer Leiblichkeit beim Gros der Menschen aus dem Erlebnishorizont mehr oder weniger verschwunden, da Nahrung und Getränke im Überfluss vorhanden sind, ja viel mehr gegessen und getrunken wird als zur Lebenserhaltung nötig – hier haben sich z. B. im Völlegefühl andere Formen leiblichen Empfindens in Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme eingestellt, die bereits medikalisiert sind. Dennoch gibt es auch hier Menschen, die hungern und dürsten, sei es aus Armut oder freiem Willen. Das individuelle Empfinden ist bei gewollter Diät oder Askese jedoch ein völlig anderes als das eines von Hunger und Durst existenziell Betroffenen. Bekanntlich ist auch das, womit der Mensch Hunger und Durst stillt, von Situativität und Kontextualität bestimmt. Was dem Einen als Delikatesse gilt, lässt beim Anderen jeden 125 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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Hunger weichen; vor die Wahl gestellt, zu verhungern oder zu essen, ist der Mensch aber bereit, sich sogar von seinesgleichen zu ernähren. Es ist ebenfalls unklar, ob das Spüren von Hunger und Durst nicht auch in den Lebensaltern verschieden ist. Kinder können erst nach einigen Lebensjahren von sich sagen, dass sie Hunger/Durst haben bzw. hungrig/durstig sind. Über die Hunger- und Durstregungen eines Säuglings wissen wir so gut wie nichts. Da die Nahrung ausschließlich flüssig ist, ist schon die Differenzierung in Hunger und Durst obsolet. Es lässt sich vermuten, dass Hunger/Durst sich beim Säugling ganzleiblich und unmittelbar ergreifend aufdrängen. Säuglinge schreien oft wie um ihr Leben, und beruhigen sich augenblicklich, wenn die Nahrungsquelle angeboten wird. Möglicherweise spüren sie aber gar nicht das, was Erwachsene als Hunger oder Durst beschreiben. Vielleicht geht es nicht primär oder immer um Ess- bzw. Trinkbares, sondern um anderes leibliches Verlangen, das etwa auch durch den Schnuller gestillt werden kann, und das z. B. von der Psychoanalyse als Phänomen der »oralen Phase« beschrieben wird. Damit wird die Wichtigkeit einer genetischen Phänomenologie deutlich. Die Betroffenheit des Menschen von seinem Leib nur in generischer Hinsicht zu betrachten, bedeutet zu übergehen, dass Leiber geschlechtlich differenziert sind, eine lebensalterbedingte Geschichte haben und auf soziale Kontexte reagieren. Weibliche und männliche Leiber drängen sich in je eigener Weise qua Natur und Kultur auf und konstituieren unterschiedliche Situationen, in denen sich die Person jeweils zu finden hat. Der weibliche Leib menstruiert, gebiert und ernährt, und die Tatsache, dass mit dem Gebären der Fortbestand der Gattung gewährleistet wird, hat ihm von jeher besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen. Durch Fruchtbarkeit und Gebärfähigkeit drängt sich jeder einzelnen Frau der Leib in seiner Geschlechtsspezifik auf, in Kulturen ohne Familienplanung ebenso wie in Kulturen mit Geburtenkontrolle. Eine Schwangerschaft verändert das leibliche Lot, eine Geburt führt zu Arbeitsunfähigkeit und das Stillen bringt eine zeitweise Absorption vom Alltagsleben mit sich – diese wenigen Aspekte verdeutlichen, wie sehr durch Mutterschaft leibliche Dispositionen und soziale Konstellationen in den Vordergrund treten. An geschlechtsspezifischen Leiberfahrungen wirkt sich auf fundamentale Weise das aus, was Butler als gendering bezeichnet, was Lindemann verfolgt, wenn sie von der leiblich-affektiven Konstruktion des Geschlechts spricht und was Bourdieu die geschlechtertypischen Habitus nennt. Eine genetische Phänomenologie des Leibes stellt Leiblichkeit in einen multikausalen Bedingungszusammenhang und eröffnet die Möglichkeit, z. B. geschlechtsspezifische Besonderheiten in konkreten Erfahrungen zu thematisieren. 126 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Genetische Phänomenologie des Leibes

Aspekte elementarer Leiblichkeit, die Lebensalter, das leibliche Lot, die leibliche Integrität, der Habitus sowie Situativität und Kontextualität mögen analytisch im Wechsel der Perspektiven pointiert deutlich werden, in der Erfahrung verschmelzen und diffundieren sie jedoch. Der Leib wird immer in einer mannigfach geprägten Situation erfahren, und ist, wie Beauvoir sagt, selbst eine Situation.

3.5 Quellen zu weiblichen Leiberfahrungen Eine phänomenologische Erforschung weiblicher Leiberfahrungen ist noch nicht systematisch versucht worden. Geschlechtsspezifisches Leiberleben wurde weder in seiner Gesamtheit noch für einzelne Geschlechtergruppen zu einem eigenständigen philosophischen Thema erhoben. Ich betrete also eine noch weitgehend unerschlossene Landschaft. Weibliche Leiberfahrungen werden dagegen seit jeher gemacht. Über sie gibt es eine Vielfalt von Zeugnissen subjektiver Betroffenheit, und sie sind von verschiedenen Forschungsperspektiven in den Blick genommen worden. Die Philosophie ist nun nicht die Disziplin, in der empirische Untersuchungen wie Befragungen, Interviews, Feldstudien etc. durchgeführt werden. Für den hier verfolgten Zugang werden gleichwohl Erkenntnisse aus einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen herangezogen, empirische Studien und Statistiken konsultiert, aber ebenso Quellen aus Kunst, privaten Schriftformen sowie freie Äußerungen. In theoretischer Klärung der phänomenologischen Methode sagt Schmitz (1980, 22), dass es für den Phänomenologen von großer Wichtigkeit sei, »zu seinem jeweiligen Thema Zeugnisse von jederlei Art zur Kenntnis zu nehmen und zu prüfen«, und zwar »im Sinne des von Dilthey formulierten Zirkels von Erleben und Verstehen«. Die Entscheidung, »was er gelten lassen muß, hat jeder für sich zu treffen«. Schmitz räumt ein, dass verschiedene Personen bei der phänomenologischen Reduktion zu möglicherweise divergierenden Ergebnissen kommen, und doch bleibe die Hoffnung, »sich über die unabdingbaren Fundamente wissenschaftlicher Überzeugung einigen zu können« (ebd.). Diese Hoffnung beruhe nicht auf Gründen, sondern sei heuristisches Prinzip. Dessen eingedenk habe sich der Forscher um Gründlichkeit und Selbstprüfung zu bemühen und seine Überzeugungen im Spiegel der Anderen auf die Probe zu stellen, habe sich »durch fremde Perspektiven zu bereichern und aus fremden Erfahrungen zu lernen« (ebd., 22 f.). Daran anknüpfend ist es ein Anliegen dieser Arbeit, ein reiches Material an Quellen nicht nur zugrunde zu legen, 127 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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sondern – besonders im dritten Hauptteil – auch zu Wort kommen zu lassen. Es versteht sich von selbst, dass die Zeugnisse über das, was am weiblichen Leib gespürt wird, von Frauen zu stammen haben. Wie aber kommunizieren Frauen über ihre Leiberfahrungen? Der Blick auf die Geschichte der Frauen und die jahrhundertelange Verweigerung bzw. Einschränkung der Möglichkeiten zur freien Darstellung auf künstlerischem, literarischem, religiösem und wissenschaftlichem Gebiet zeigt in historischer Hinsicht ein immenses Vakuum an erforschbaren Quellen. Es ist davon auszugehen, dass ein Sprechen über weibliche Leiberfahrungen im öffentlichen Sektor einer weitreichenden Tabuisierung unterlag und, falls überhaupt, im privaten mündlichen Bereich oder in privaten Schriftformen wie dem Tagebuch oder dem Brief stattfand. Daneben wurden im Rahmen medizinischer Konsultationen und kirchlicher wie weltlicher Gerichtsvorgänge Äußerungen von Frauen protokolliert und überliefert, die Aufschluss darüber geben können, wie Frauen ihren Leib in früheren Zeiten erfahren haben. Abgesehen von Einzel- und Ausnahmefällen in früheren Jahrhunderten, liegen erst aus dem 20. Jahrhundert eine ganze Reihe von Quellen vor, in denen Frauen ihre Leiberfahrungen selbst öffentlich thematisieren. In dieser Arbeit wird vornehmlich auf diese Zeugnisse zurückgegriffen, Dokumente aus anderen Zeiten sollen aber zur Verdeutlichung Pate stehen. Sofern typische Aspekte zur Darstellung kommen, werden gelegentlich Beiträge von Männern herangezogen. Die Quellen stammen vorwiegend aus dem westlichen, also europäisch-nordamerikanischen Kulturraum. Es wird also ausdrücklich Bezug genommen auf den kulturellen Horizont der Verfasserin und eine kulturspezifische Perspektive in gewissem Umfang akzeptiert. Im Sinne des Habitus-Konzeptes muss eine sozio-kulturell bedingte Perspektive nicht nur für die Verfasserin und ihren Forschungskontext, sondern auch für die Quellen zunächst einmal vorausgesetzt werden und müssen folglich die zu behandelnden Leiberfahrungen als subjektive Tatsachen einer bestimmten Zeit und Kultur gewertet werden. Mit Rekurs auf die phänomenologische Methode bleibt zu hoffen, dass zumindest für Teilbereiche wie der Topographie des weiblichen Leibes und seiner Erfahrungsmodi doch auch Zeit- und Kulturunspezifisches zur Sprache kommt. Die Arbeit an den Zeugnissen subjektiver Betroffenheit vom weiblichen Leib zeigte große Unterschiede bei der Quellenlage, die auf verschiedene Umgangsformen mit der Versprachlichung des Erlebten, zuweilen auf Tabus hindeuten. Gerade die Heterogenität der Quellen und die z. T. fehlende Vielfalt von Beschreibungen zu bestimmten Leiberfahrungen 128 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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mag in den Evaluationen u. U. problematisch erscheinen. Eine breit angelegte und interdisziplinär ausgerichtete empirische Studie zur Rede von Frauen über ihren Körper und ihre Erfahrungen wäre wünschenswert gewesen, liegt aber bis heute nicht vor. Allenfalls einzelne Erfahrungen oder Aspekte wurden bislang aufgearbeitet. Der Mangel an systematischen Forschungsergebnissen zu weiblichem Leiberleben für die heutige Zeit ist bedauerlich, zumal sich im Laufe dieser Arbeit immer wieder herausstellte, dass Frauen, persönlich angesprochen, über einen großen Fundus und Erfindungsreichtum verfügen, wenn es darum geht, ihr Betroffensein vom Geschlechtsleib zu artikulieren. Kunst: Wichtige Auskunftsquelle ist die Kunst, da ihre Werke, wie Schmitz (1995, 476) sagt, »vielsagende Eindrücke« sind, die mit »leiblich ergreifenden Atmosphären (Gefühlen)« geladen sind und uns mit unmittelbarer Präsenz zur Verfügung stehen. An sie ist die Frage zu richten, ob und wie der weibliche Leib und das mit und an ihm Gespürte zum Ausdruck kommt. Schon aus frühester Zeit sind mythologische, schwer zu deutende Darstellungen von Frauenkörpern überliefert, namentlich Fruchtbarkeitsgöttinnen und Matronen. In der Kunst, insbesondere der erotischen, ist der weibliche Körper zwar von jeher Gegenstand der Abbildung gewesen, die Thematisierung weiblicher Leiberfahrungen bleibt aber bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein dürftig. Als wichtiges Thema kam die stillende Mutter in der bildenden Kunst zur Illustration. Jahrhundertelang war die Stillende Teil der christlichen Ikonographie, bis dieses Motiv im 17. Jahrhundert durch die holländische Genremalerei in den weltlichen Bereich gelangte und auch von Frauen aufgegriffen wurde, etwa von Constance Mayer (1787–1821). Gustav Klimt hat, als er 1903 das mit vielen allegorischen Elementen versehene Aktbild einer Hochschwangeren mit dem Titel »Hoffnung I« vorstellt, ein Tabu der Abbildung, die Fruchtbarkeit des weiblichen Leibes, verletzt. Sein Anliegen, nicht nur den sozialisierten Körper, sondern gerade den erotisierten wie gefährdeten, ja verletzlichen schwangeren Leib dominieren zu lassen, brachte das Werk auf den Index und seinem Schöpfer eine gerichtliche Verfügung wegen Verletzung von Sittlichkeit und Schamhaftigkeit ein. Künstlerinnen, die ihre eigenen Erfahrungen thematisierten, wie u. a. Paula Modersohn-Becker, Frida Kahlo, Niki de Saint Phalle setzten diesen Tabubruch fort. Modersohn-Becker malte drei Jahre nach dem Klimt-Bild ein Selbstbildnis als unbekleidete Schwangere. Kahlo, die Malerin der Schmerzen, hat sich in Selbstporträts und Bildern wie »Meine Geburt« (1932), »Frida und die Fehlgeburt« (1932) und »Ein paar kleine Stiche« (1935) mit der Verwundung im weiblichen Erlebnishorizont be129 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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schäftigt. Dagegen wirken die Skulpturen von Saint Phalle heiter und fröhlich, insbesondere ihre »Nanas«, bunt bemalte, rundbäuchige Frauengestalten mit kleinem Kopf. Ihre 1966 in Stockholm installierte Riesenskulptur einer Schwangeren mit dem Titel »Hon« (»Sie«), die durch ihr Geschlechtsteil begehbar war und die Betrachter durch ihr Inneres führte, wurde zum Skandal in der Kunstszene. Seit Beginn der Frauenbewegung wird die Thematisierung des weiblichen Körpers ernsthaft in den ästhetischen Diskurs aufgenommen; vor allem in den 1970er Jahren begannen Künstlerinnen mit exzessiven Darstellungen weiblicher Körperthemen, etwa in den Menstruationsbildern von Gina Pane, Friederike Petzold, Mary Beth u. a. Während in den 1980er Jahren Annegret Soltau in Foto- und Videosequenzen ihren schwangeren Leib für sich sprechen lässt und mit Fotovernähungen Aufsehen erregt, reaktiviert Judy Chicago in kunsthandwerklichen Projekten, z. B. in dem »Birth-Project«, herkömmliche weibliche Ausdrucksformen wie Nadel- und Textilarbeiten. Unter den Regisseurinnen sind in Deutschland u. a. Margarethe von Trotha, Doris Dörrie, Valie Export, Helke Sander und Ulrike Öttinger zu nennen, die weibliche Körpererfahrungen in Filmen verarbeiten. Auf diese und andere Künstlerinnen und ihre Werke wird im Verlauf der Arbeit ebenso Bezug genommen wie auf die Werke der Literatur, für die sich bei der Thematisierung des weiblichen Körpers ähnliche Entwicklungen nachzeichnen lassen. In Lyrik und Prosa, in Gedichten, Romanen, Tagebüchern, Autobiographien und Briefen haben sich Frauen schon früh durch Kreativität autorisiert, ihren Erfahrungen Ausdruck verliehen und, spätestens in Wechselwirkung mit der In-Frage-Stellung gesellschaftlicher Tabus durch die Frauenbewegung, ihre eigene Sprache für Themen wie Geburt und Sexualität gefunden. Einzelne Wissenschaften: Die Kunst des 20. Jahrhunderts hat traditionelle Tabus der Abbildung von Weiblichkeit gebrochen. Parallel dazu haben die Wissenschaften den Körper der Frau in einzelne Teile zergliedert und diesen wiederum biologische, soziale und kulturelle Aufgaben und Werte beigemessen. Wenn in den Einzelwissenschaften über Menstruation, Gravidität, Geburt, Wochenbett, Laktation und Klimakterium gesprochen wird, macht man aufmerksam auf anatomisch-physiologische Gegebenheiten, kulturellen Wandel, gesellschaftliche Leitbilder oder psychoanalytische Gesetzmäßigkeiten, auf ein – wie Labouvie (1998, 3) für die Kulturgeschichte der Geburt deutlich macht – »scheinbar einförmiges Verständnis von und ein egalitär anmutendes Sprechen« über jene mit Geschlechtlichkeit und Körperlichkeit verbundenen Ereignisse im Lebenszyklus von Frauen. Die Perspektive und Erfahrbarkeit von Leiblichkeit 130 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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scheint dabei hinter einem normierten, naturwissenschaftlich konstruierten Körpermodell und einem »kontrollierten kulturellen Körper ohne Gesicht und Namen« (ebd.) zu verschwinden. Es kann in diesem Kapitel nicht darum gehen, den wissenschaftstheoretischen Kontext der Thematisierung weiblicher Leiberfahrungen zu erörtern. Nach dem Einzug von Gender-Studien in nahezu alle Geistesund mittlerweile auch Natur- und Technikwissenschaften ist die Kategorie Geschlecht im Wissenschaftsverständnis jedenfalls keine unbekannte Größe mehr (vgl. von Braun/Stephan, 2000). Das bedeutet jedoch nicht, dass auch der weibliche oder männliche Leib zum Thema wird; vielmehr stehen, wie der neuere feministische Diskurs zeigt, gerade die Kategorien Frau, Mann, Körper, Zweigeschlechtlichkeit etc. auf dem Prüfstand oder werden unhinterfragt vorausgesetzt. Der weibliche Körper wird dennoch in einzelnen Wissenschaften explizit zum Thema, besonders traditionsreich in Medizin und Psychologie, aber auch in den Sozial- und Geschichtswissenschaften. Geschichte: Zur Erforschung weiblicher Leiberfahrung kann die Geschichte in ihren verschiedenen Teildisziplinen als Quelle befragt werden, um z. B. aus unserer Zeit vorliegende Zeugnisse in historischer Perspektive zu kontrastieren. Die Jahrhunderte lang vernachlässigte bzw. ausgeblendete Geschichte der Frauen hat seit den Frauenbewegungen umfangreiche Aufarbeitung gefunden (vgl. z. B. Utrio 1987, Anderson/Zinsser 1992, Duby/Perrot 1993 f.). Erfahrungshorizonte von Frauen wurden ebenso nachgezeichnet wie ihre gesellschaftliche Emanzipation (Lerner 1991, 1993). Literaturgeschichtliche Forschungsarbeiten darüber, wie und in welcher privat-schriftlichen Form – Brief, Tagebuch, Autobiographie – Frauen über ihre Leiberfahrungen Auskunft geben, sind bis heute nicht explizit betrieben worden. Auf den Gebieten Körperhistorik und Kulturgeschichte haben aber Feher (1989) für den menschlichen Körper und insbesondere Duden und Labouvie für die weiblichen Leiberfahrungen Quellen erschlossen. In dem Buch »Geschichte unter der Haut« (1987) richtet Duden ihr Augenmerk auf Erfahrungen von Frauen mit ihrem Körper bzw. die Wahrnehmungen des weiblichen Körpers in früheren Jahrhunderten, insofern sie von einem in Eisenach tätigen Arzt mitgeteilt werden. Damit hat sie nicht nur eine unerschlossene Quelle, die Aufzeichnungen des Dr. Storch, für eine körpergeschichtliche Analyse zugänglich gemacht, sondern innerhalb ihrer Wissenschaft etwas zum Forschungsgegenstand erhoben, was gemeinhin als ungeschichtlich gilt: die Erfahrung des Leibes in ihrem Zusammenspiel von ›abergläubischem‹ und medizinhistorischem Hinter131 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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grund, Selbstwahrnehmung, Verständigungsvokabular und Therapierung. Das ausgewertete Material zeigt ein für uns heute verblüffendes Konglomerat von Körperwahrnehmung und -vorstellung sowie Umgangsformen mit dem eigenen Leib, oftmals bevor der Arzt zu Rate gezogen wird. Es zeigt, wie Frauen einer anderen geschichtlichen Epoche ihren Leib erlebten und in welchen Sinnfeldern sich die Vorstellungen vom Leib bewegten. Insofern erschließt Duden (1987, 13) eine untergegangene »Wirklichkeit der ›Leibhaftigkeit‹«. Wenn wir heute sagen: wir ›haben‹ einen Körper, so trifft diese Wahrnehmung für Storchs Patientinnen keineswegs zu. Hier gibt es diffuse, undurchschaubare Metamorphosen des Leibes, das »Geblüt«, das etwa durch Schreck oder Feuersbrunst zum »Stocken« kommt und durch »Abfluß« (Aderlass, offene Wunden) wieder in Gang gebracht werden muss. Hier hat »ein ›etlich 30jährig Weibs-Mensch‹« »einen ›bösen Schenkel‹, an dem das ›Monatliche‹ austritt, das nie an seinem eigentlichen Ort kommt« (ebd., 143); hier kann sich bei einer Dienstmagd die Menses als eine »schwammige Beule auf dem Haupte« einfinden (ebd., 142). Es gibt innere und äußere Flüsse, die vielfältige Verbindungen eingehen, nicht nur bei der Frau – auch der Mann hat seine Blut-Abflüsse (Nasenund Wundenbluten). Duden thematisiert die Schwierigkeit, sich in diese Bilderwelt einzufühlen, also das eigene historisch generierte Körperschema zurückzustellen. Sie bedient sich in ihrer Analyse auch eines deskriptiv-rekonstruierenden, also phänomenologischen Instrumentariums, um aufzudecken, was sich diesen Frauen – und dem Arzt – vom Leiblichen her aufdrängte, und das ist wesentlich die »Natur«, ein Begriff, der für den praktizierenden Arzt damals keineswegs problematisch war. Körpervorstellung und Natur gehen für ihn ineinander auf: »Aus der Bio-Logie, der Lebens-Erzählung und der Klage der Frau entnimmt er eine Vorstellung von der Natur in dieser Frau, und mit seiner Rezeptur bespricht er, wenn auch in chemischen Zeichen, die Natur, um sie in die rechten Wege zu führen oder sie in ihnen zu bestärken.« (ebd., 195) 2

Die Natur wird als diffus im Leib ansässig und aktiv wirkend vorgestellt: »Die Natur ›handelt‹ im Leib, sie sitzt im Leib und ist doch an keiner Stelle, an keinem Organ, keinem Körperteil findbar und permanent behaust. Gelegentlich hat die ›Natur‹ zwar einen ›Sitz‹, aber sie nimmt diesen nur auf eine Zeit ein, ist 2

Bezeichnenderweise ist für das Eingreifen des Arztes oftmals nicht einmal die Anwesenheit der Patientin vonnöten; er »verordnet« aufgrund von Schilderungen, vermittelt durch Dritte oder schriftliche Notizen.

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Genetische Phänomenologie des Leibes

nie ›eigentlich‹, d. h. immer dort, es ist bloß der jeweilige Ort ihrer Intention.« (ebd., 196)

Das ›Handeln‹ der Natur besteht in diesem historischen Kontext hauptsächlich im Herausbringen, Auswerfen von Materie jedweder Art, um den Leib gesund zu erhalten. Die Natur »verkörpert sich in den exkretorischen Trieben des Leibes, so daß sie eben jenen ›Sitz‹ jeweils am Ort des Ausflusses einnimmt.« (ebd., 196) Dieses Treiben der Natur ist aber, so der Arzt, gelegentlich fehlerhaft und diese Fehler bleiben dem Leib eingraviert. Die Natur kann »ungestüm und unbedacht«, »erfinderisch« (in Bezug auf neue Ausgänge, z. B. Menses in der Achsel) sein und auch »erlahmen«, »machtlos werden« (ebd., 198 f.), und die Aufgabe des Arztes besteht darin, mit dieser »fehlerhaften« Natur zu ringen. Auch die Historikerin Eva Labouvie richtet ihren Blick auf Leibwahrnehmungen von Frauen aus früheren Jahrhunderten und setzt sich in dem Buch »Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt« (1998) mit den Erfahrungen rund um die Geburt auseinander. Anhand zahlreicher Archivalien beschreibt sie für den Zeitraum vom 16. bis zum 19. Jahrhundert den Erlebnishorizont der Frauen im ländlichen Bereich unseres Kulturkreises. Im Vordergrund stehen emotionale, rituelle, religiöse und kulturelle Aspekte, wobei Labouvie möglichst viele Quellen aufzuspüren versucht, die von den Frauen selbst stammen. »Zwar verfügen wir nicht über ausführliche Egodokumente von Frauen aus dem bäuerlichen Milieu, die uns genaue Kenntnisse über ihren ›Entdeckungsgang‹ von den ersten leiblichen Wahrnehmungen über die vorläufige Diagnose bis zur subjektiven Gewißheit einer Schwangerschaft vermitteln.« (Labouvie, 1998, 10)

Aber Labouvie erschließt Quellen, die weit über gerichtlich initiierte, vermittelte und gefilterte Befragungen – etwa von ledigen Schwangeren oder Kindsmörderinnen – hinausgehen. Sie unterscheidet ein solcherart erzwungenes Sprechen von freier Berichterstattung und dokumentiert Auskünfte, die auf Freiwilligkeit beruhen, »sei es, daß sie von einer legitimen und erwünschten Gravidität berichten, daß sie ihren Zustand mit anderen Personen besprechen oder ihn selbst vor Gericht anzeigen, um eine Eheerlaubnis, die Zusage von Alimenten oder den Erlaß von Strafen zu bewirken« (ebd., 11). Hier ist z. B. von Interesse, wann diese Frauen ihre Schwangerschaft ohne die heute verfügbaren Diagnose-Verfahren für gewiss oder zumindest annähernd gewiss erachteten, d. h. welche Leibwahrnehmungen Frauen in Bezug auf ihre ausbleibende Menses und mögliche Schwangerschaft hatten und wie sie damit umgingen. Es werden aber auch der soziale Kontext der Frauen auf dem Lande, Verhaltensmaßregeln für Schwangere, 133

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I Methodologisch-systematische Grundlagen

Leiberfahrungen bei Geburt und Wochenbett sowie die rituelle Hilfs- und Festgemeinschaft der Frauen beleuchtet. Die Analysen veranschaulichen, dass sich in der Neuzeit über lange Zeit hinweg im ländlichen Milieu eine eigenständige Frauenkultur mit Initiationen, Traditionen und Festen erhalten hat, auf die Staat und Klerus nur durch rigiden Einsatz ihrer Macht Einfluss nehmen konnten. Obwohl Labouvie nicht über ein Vokabular aus der Leibphänomenologie verfügt, drängt sich ihr – wie vorher Duden – die Thematisierung von Leiblichkeit und leiblicher Selbstwahrnehmung auf und versucht auch sie, Erfahrungen deskriptiv-rekonstruierend zu analysieren. Den damaligen Frauen fehlte der Blick ins Körperinnere: »Die Erfahrbarkeit des Körperlichen und Leiblichen war nach diesem Verständnis eine individuell variierende, sinnliche, die sich nicht an medizinischen Maßstäben oder technischen Vorgaben, sondern an kulturellem Wissen, an gemeinsamen Bildern, soziokulturellen Wahrnehmungsmustern, Selbsterfahrungen und subjektiven Empfindungen orientierte.« (ebd., 9)

Das Buch hält, obwohl es nicht eigens körperhistorisch ausgerichtet ist, Quellenmaterial über weibliche Leiberfahrungen in früheren Jahrhunderten bereit. Wenngleich solche historischen Arbeiten noch selten sind, zeigt doch das Forschungsspektrum z. B. von Duden und ihr Bemühen um eine historische Disziplin wie die Körpergeschichte, dass es möglich ist, Leiberfahrungen aus früheren Jahrhunderten nachzubuchstabieren. Duden weist in ihren neueren Arbeiten zu Recht darauf hin, dass das medizinische Wissen einer Geschichtsperiode wesentlichen Einfluss auf Leiberfahrungen hat (vgl. z. B. Duden 2002). Medizin: Die Medizin hat es mit einem naturwissenschaftlichen Körpermodell zu tun, für das der Körper Objekt ist. Dem weiblichen Körper hat aufgrund seiner Fruchtbarkeit von jeher ein besonderes Interesse gegolten. Die antiken gynäkologischen Schriften, der Papyrus Ebers (ca. 1500 v. Chr.), die hippokratische Schrift »Über die Krankheiten der Frauen« und das Werk des Soranus von Ephesus stellten die Frau mit ihren Ausflüssen und in ihrer Schwangerschaft als therapiebedürftiges Wesen dar. Eine an Körperfunktionen erfolgte Untermauerung der Minderwertigkeit der Frau gegenüber dem Mann wurde u. a. von Platon, Aristoteles und Galenos von Pergamon, im Mittelalter durch die theologische Argumentation (Thomas von Aquin u. a.) geliefert. Die praktische Gynäkologie und Geburtshilfe blieb dagegen Jahrhunderte lang in der Hand von Frauen, den Weh-Müttern. 3 Durch die mit der Inquisition einsetzende Verfolgung 3

In der Neuzeit gab es vor allem in Frankreich noch berühmte Hebammen, z. B. Louise Bourgeois/Boursier (1563–1636), Marie-Louise Lachapelle (1769–1821) und Marie-Anne-Victoire

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und Diskreditierung der Hebammen ging die gynäkologische und geburtshelferische Praxis allmählich in Männerhände über, vornehmlich die des Chirurgen. 4 Dieser Prozess ist von einem erbitterten Kampf der Hebammen um ihr traditionelles Wirkungsfeld getragen und in zahlreichen kirchlichen Dekreten und Erlassen dokumentiert, die sich auch gegen die von Frauen institutionalisierten Riten und Bräuche rund um die Geburt, wie z. B. die Kindbettzeche, wenden.5 Die überragende Rolle der HebeMütter in früheren Jahrhunderten degenerierte schließlich zur bloßen Arzthelferin. Erst am Ende des 20. Jahrhunderts wurde staatlich ausgebildeten Hebammen wieder gestattet, Geburten ohne Hinzuziehen eines Arztes durchzuführen. Die Gynäkologie wurde im 17. Jahrhundert vor allem durch Regnier de Graaf vorbereitet, der die vormals als »weibliche Hoden« benannten Eierstöcke als Ovarien bezeichnete. Das Ovar wurde in der Folge zum »Kristallisationskern einer von der weiterhin gebärmutterzentrierten Geburtshilfe losgelösten, selbständigen Gynäkologie« (Fischer-Homberger, 1984, 137). Mit der Ablösung der zentralen Stellung des Uterus durch das Ovar, mit der Einführung medizinischer Instrumente wie Uterussonde und Spekulum, mit der Etablierung von Anästhesie, Antisepsis und chirurgischen Eingriffen in der Geburtshilfe konstituierte sich im 19. Jahrhundert die Gynäkologie als Spezialfach. Die Bedeutung der Chirurgie sowie von Uterus und Ovar wurde im 20. Jahrhundert durch die Entdeckungen der Endokrinologie verdrängt, in deren Folge die ›Natürliche Familienplanung‹ 6 und kontrazeptive Medikamente (Hormonpräparate) 7 entwickelt wurden. 8 Die Medizin und insbesondere die Gynäkologie sind im Rahmen einer Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen vor allem Quellen für das anatomisch-physiologische Körperschema und das historisch relevante Wissen um die Vorgänge am Frauenkörper. Indem die Gynäkologie den Körper als naturwissenschaftliches Objekt auffasst, gibt sie wenig AufBoivin (1773–1841). In Deutschland war die chur-brandenburgische Hof-Wehe-Mutter Justine Siegemundin (gest. 1705) bekannt. 4 Die Hebammen wurden zur Zielscheibe der Inquisitoren, da sie mit ihrem Wissen über Geburtenregulierung Einfluss auf die demographische Entwicklung hatten. Heinsohn/Steiger (1985) vertreten die These, dass bei der Verfolgung der Hebammen bevölkerungspolitische Aspekte eine große Rolle spielten. 5 Vgl. hierzu Labouvie, 1998, 198 ff. 6 Zur Geschichte der NFP s. zusammenfassend z. B. Raith, Frank u. Freundl, 1994. 7 Zur Geschichte der Pille s. z. B. Guillebaud, 1992. 8 Zur Geschichte der Gynäkologie s. Fischer-Homberger, 1984, 122–144.

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schluss über leibliche Erfahrung, wenn sie nicht etwa in die Prosa eines Krankenberichts eingeht. Allerdings wird sich im Verlauf der Arbeit zeigen, dass medizinisches Wissen, Medizintechnologie sowie die Medikalisierung und Pathologisierung des Frauenkörpers weibliche Leiberfahrungen mitprägen und verändern. Psychologie: Im Unterschied zur Medizin, aber auch auf deren Grundlage, hat die Tiefenpsychologie mit der Entdeckung des Unbewussten den ›seelischen Innenraum‹ des Menschen erschlossen. Psychotherapie und psychosomatische Behandlung konnten Erfolge verzeichnen, in deren Folge das rein organisch orientierte Begreifen von Krankheiten hinterfragt wurde. Ein Beispiel hierfür waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts die vergleichsweise größeren Heilungschancen der »Hysterie« bei psychoanalytischer Behandlung im Unterschied zur chirurgischen, der Hysterektomie. An der Entstehungsgeschichte der Psychoanalyse waren Frauen in verschiedenen Positionen im Beziehungsgeflecht rund um Freud beteiligt. Die familiären Frauenfiguren, die Freundinnen und Geliebten gehörten ebenso dazu wie die Patientinnen 9 und die Forscherinnen – die Psychoanalyse zählte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum bevorzugten Karrierefeld für Frauen. In der Nachfolge Freuds und anderer Tiefenpsychologen sind einige Werke von Psychologinnen über die Frau entstanden, die mit Referenz auf das ›seelische‹ Erleben auch Leiberfahrungen berücksichtigen. Zu den frühen Vertreterinnen gehörte z. B. Helene Deutsch, die in ihrer 1948 veröffentlichten »Psychologie der Frau« eigene Wege ging, indem sie etwa eine »Psychologie der Schwangerschaft« und eine »Psychologie des Entbindungsaktes« schrieb. Die Freudsche Auffassung von der Frau als homme manqué wurde bereits von Karen Horney und Ernest Jones kritisiert. Auch Jeanne Lampl-de-Groot, Edith Jacobson u. a. traten für ein modifiziertes Bild der Weiblichkeit ein, das traditionelle psychoanalytische Begriffe in Frage stellte. 10 Nach seiner Verdrängung durch den Nationalsozialismus kam der psychoanalytische Diskurs über die Weiblichkeit erst mit der mo9

So fragt z. B. Stephan, ob nicht die Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim, die als die berühmte Patientin Anna O. in die Geschichte einging, die »eigentliche Entdeckerin der Psychoanalyse« ist (Stephan, 1992, 39 ff.). Sie habe »spontan eine Methode der freien Assoziation entwickelt und selbst entdeckt«, dass »sie sich durch Erzählen von den Krankheitssymptomen befreien kann« (ebd., 46). 10 Jacobson (1937, 412) sprach von einem in der Entwicklung begriffenen »weiblichen Zukunftstyp«, dem »›vaginalen‹ Frauencharakter mit selbständigem Über-Ich, starkem affektivem Ich und gesunder expansiver weiblicher Sexualität«, der nach der Aufgabe traditioneller psychoanalytischer Begriffe verlange.

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dernen Frauenbewegung, in Deutschland durch Margarete Mitscherlich, wieder in Gang. Die Forscherinnen der neuen Generation 11 wandten sich entschieden gegen tradierte Begriffe der Psychoanalyse und entwickelten auch im feministischen Kontext neue Positionen. 12 Insofern Psychologie, Psychoanalyse und Psychosomatik Leibliches und Leiberfahrungen – freilich unter einem bestimmten Blickwinkel – zur Sprache bringen, ist ihre Einbeziehung als Quelle für eine Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen schon wesentlich ergiebiger als im Fall der Medizin und speziell der Gynäkologie. Als komplexer theoretischer Ansatz steht die Psychologie vor der Herausforderung, im Kontext der Prägekraft von Erfahrungen auch den Leib zu thematisieren. Sie liefert ferner Quellenmaterial in Form von Krankengeschichten und Erfahrungsberichten. Allerdings geht, wie die feministische Reflexion zeigt, auch von der Psychologie eine nicht zu unterschätzende Inszenierungsmacht hinsichtlich bestimmter Bilder vom Frauenkörper aus, die in Pathologisierungsprozessen erheblichen Einfluss auf weibliche Leiberfahrungen hat. Soziologie: Neben Geschichte, Medizin und Psychologie stellt die Soziologie eine wichtige Disziplin dar, in der weibliche Erfahrungen evaluiert werden, insofern die in allen Kulturen – wenn auch unterschiedlich – ausgeprägte Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau ein grundlegendes Strukturierungsprinzip menschlicher Gesellschaften ist und die soziale Praxis trägt. Bourdieu kann, wie Krais und Gebauer (2002, 48) ausführen, »als einer der wenigen Soziologen gelten, die diesen Umstand in ihren Arbeiten immer berücksichtigt haben«. Das Habituskonzept findet bei Bourdieu nicht nur hinsichtlich Klasse und sozialem Feld Anwendung, sondern auch in Bezug auf Geschlecht, Geschlechterverhältnisse und darin enthaltene Herrschaftsansprüche. Die Soziologie ist die Wissenschaft, in der Geschlechterverhältnisse am umfangreichsten zum Thema gemacht wurden, was die Vielfalt von Publikationen aus feministischer Perspektive belegt. Empirische Untersuchungen zu Geschlechterverhältnissen können zur phänomenologischen Evaluation weiblicher Leiberfahrungen herangezogen werden und wurden für einzelne Aspekte auch schon explizit am Leitfaden des Körpers orientiert, z. B. bei Martin (1989) im Hinblick auf milieuspezifische somatische Kulturen. Dass jedoch ein defizitäres Verständnis vom Leib in der Soziologie auch zu innerdisziplinärer Kritik ge11

Gemeint sind u. a. J. Chasseguet-Smirgel, H. Lerner, Chr. Rohde-Dachser, L. SchmidtHonsberg, M. Nadig, L. Irigaray, S. D. Bernstein, J. Benjamin. 12 S. Mitscherlich/Rohde-Dachser, 1996; Chasseguet-Smirgel, 1974; Stephan, 1992; Schlesier, 1990.

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führt hat, wird bei Lindemann deutlich. Ihre Arbeiten und die z. B. von Gugutzer zeigen aber, dass ein Aufgreifen philosophischer Leibkonzeptionen die soziologische Ausrichtung bereichern kann. Weitere Quellen zu weiblichen Leiberfahrungen sind in vielen anderen, vor allem geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen aufzuspüren, etwa auch in Etymologie, Linguistik oder Literaturwissenschaft, die Auskunft darüber geben können, in welche Form das Reden über den weiblichen Leib und das an ihm Gespürte eingebettet ist bzw. mit welcher Form ein Erfahrungshorizont sprachlich eröffnet oder verweigert wird. So sind z. B. Erkenntnisse aus der Symbol- und Metaphernforschung für das Verständnis des überlieferten Materials und seiner geschichtlichen Bedingtheit von Belang. Im Rahmen einer Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrung dient die Bezugnahme auf außerphilosophische Wissenschaften vor allem der Überlieferung von Quellen zum Erlebnishorizont von Frauen. Leibphänomenologen und Körpertheoretiker greifen häufig auf Quellen aus Medizin und Psychologie zurück, um an den Deskriptionen pathologischer Fälle den Normalfall zu explizieren. Ein charakteristisches Beispiel hierfür ist der Phantomgliederschmerz, der schon Descartes auf der Suche nach einer Schnittstelle zwischen der res cogitans und der res extensa beunruhigte, und der für Merleau-Ponty und Schmitz von großem evaluativem Wert für das eigenleibliche Spüren war. Beauvoir und Schmitz greifen bevorzugt Quellen aus der Psychologie auf. Allerdings ist bei diesen Quellen immer auch der Kontext zu berücksichtigen, denn gerade bei Krankenberichten ist es meist der Arzt, der die Erfahrungen beschreibt und nicht der Betroffene selbst. Dieser befindet sich noch dazu in einer auf Diagnose und Therapie ausgerichteten Situation mit entsprechender persönlicher Einstellung. Die Soziologie verfügt wohl über das breiteste Spektrum zur relativ offenen Evaluation von Erfahrungen und hat in vielfältigen Befragungsmethoden, z. B. durch qualitative oder open-end Interviews, differenzierte Instrumentarien auch für das entfaltet, was ›zwischen den Zeilen‹ und ›jenseits der Sprache‹ erfasst werden kann. Die Quellen aus nichtphilosophischen wissenschaftlichen Disziplinen werden aber in dieser Arbeit nicht nur durch die Integration der Kunst, sondern auch durch das Aufgreifen freier Äußerungen in entlastenden Situationen, z. B. in der Anonymität des Internet, erweitert. Freie Äußerungen und Neue Medien: Neben Kunst und Wissenschaften stehen viele andere Zeugnisse von Betroffenen zur Verfügung, im privaten, halb-privatem und öffentlichem Bereich, z. B. in persönlichen Gesprächen, Briefen, Aufzeichnungen, Tagebüchern, autobiographischen Berichten, populärwissenschaftlichen Schriften, in Print- und audiovisuel138 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Genetische Phänomenologie des Leibes

len Medien. Die Auswertung solcher Quellen birgt, sofern ihre Authentizität nachvollziehbar ist, keine größeren Schwierigkeiten. Anders sieht es dagegen mit öffentlichen Zeugnissen in den Neuen Medien aus. Heute ermöglicht das Internet mit seinen Foren und Chatrooms eine überregionale öffentliche und auf Wunsch dennoch anonyme oder pseudonyme Kommunikation, und von diesem Angebot wird auch zum Thema weiblicher Leiberfahrungen – zumindest für bestimmte Typen von Erfahrungen – reichlich Gebrauch gemacht. Dokumente dieser Art werden zwar hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Verwendung in formaler und inhaltlicher Hinsicht noch wenig diskutiert, das bei meinen Recherchen vorgefundene Material, insbesondere im Kontext von Erfahrungen rund um die Geburt, war jedoch quantitativ und qualitativ so aufschlussreich, dass gelegentlich darauf zurückgriffen wird. In formaler Hinsicht ist zu bemerken, dass es sich um jedermann zugängliche Zeugnisse handelt, die an bestimmten ›Orten‹ der virtuellen Welt für einen gewissen Zeitraum sichtbar sind und durch Speicherung oder Papierdruck überliefert werden können. Häufig werden von Betreibern der Foren selbst Archive angelegt. Eine Zitation kann über den Namen der Webpage, den Titel des Forums oder Chatrooms, das Datum und, je nach Art der Mitteilung, über eine Uhrzeit und einen ›Namen‹ (z. B. ein Vorname, häufig Fantasienamen oder -wörter) erfolgen. Bei Internetforen, weniger bei Chatrooms, gibt es ferner Herkunftsinformationen in Form elektronischer Postadressen. Mit dem Einstellen einer Äußerung ›ins Netz‹ ist das Einverständnis zur Veröffentlichung und mögliche Einsichtnahme durch Dritte verbunden. Damit sind formal alle Voraussetzungen für eine zitier- und überprüfbare Quelle erfüllt. Da es über die wissenschaftliche Zitation solcher Dokumente noch keine Normierung gibt, weise ich meine Quellen in der Reihenfolge ›Name‹, Forum, Website, Datum, Uhrzeit nach. In inhaltlicher Hinsicht stellt sich vor allem die Frage der Authentizität. Es ist in der virtuellen Welt möglich, durch frei gewählte Persönlichkeiten (Avatars) alle menschlichen Attribute zu verändern, also Geschlecht, Alter, Hautfarbe etc., oder durch Verwendung eines bekannten Namens, etwa eines Stars oder Politikers, in die Rolle eines Anderen zu schlüpfen, oder sich gänzlich in Anonymität zu hüllen. Bekanntlich wird von diesen Möglichkeiten vielfältiger Ge- und Missbrauch gemacht. Insbesondere die vor einiger Zeit vielfach aufgetretenen privaten oder kommerziellen Internetumfragen haben sich bei der Auswertung als ›virtueller Unsinn‹ erwiesen. Anders sieht es jedoch mit themenbezogenen Foren aus, in denen Menschen in ausgewählten Kontexten zueinander finden, um 139 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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sich z. B. über eine Krankheit auszutauschen, also virtuelle Selbsthilfe-, Selbsterfahrungs- oder Betroffenengruppen. Zu solchen Gesprächsräumen gehören auch die Foren, die zu weiblichen Leiberfahrungen konsultiert werden können, etwa zu den Themen Schwangerschaft oder Geburt, die von betroffenen Eltern, meist Müttern, besucht werden, um Erfahrungen zu schildern oder deren Berichte zu lesen, Fragen zu stellen, Ratschläge zu geben, Trost zu finden etc. Diese Foren erfreuen sich einer enormen Frequentierung mit täglich neuen Beiträgen, und neben vielem anderen berichten Frauen auch – unaufgefordert, aber häufig – über leiblich Gespürtes. Es ist ihnen offenbar ein Anliegen, über diese Erlebnisse, über Privates und Intimes, Unterleibliches, Eigenleibliches zu kommunizieren, im weltweit öffentlichsten ›Raum‹, den es gibt. Das klingt paradox, erscheint aber bezüglich der Situation, die das Medium schafft, plausibel. In der möglichen Anonymität steckt nämlich die Chance, Grenzen zu überschreiten, die in Präsentationen mit leiblicher Anwesenheit gewöhnlich nicht überschritten werden. So werden z. B. Grenzen der Scham bei der Thematisierung weiblicher Körperteile entzerrt; die Sprache wird zu einem Instrument freierer Schöpfung im kreativen Ausdruck des Erlebten, indem z. B. bildreich beschrieben wird, wie sich der schwangere Leib, Kindsbewegungen, Wehen usw. anfühlen. Frauen diskutieren ferner über angenehme oder unangenehme Erlebnisse im Kontakt mit medizinischem Gerät und Personal in Geburtskliniken und machen damit Erfahrungen verfügbar, die früher nur einem kleinen Kreis bekannt werden konnten. Sie geben in ihren Beiträgen viele persönliche Daten preis (Alter, Anzahl der Kinder etc.) und hinterlassen gern ihre elektronische Adresse, um Kontakte außerhalb der Foren weiter zu pflegen. Die Beiträge sind inhaltlich und sprachlich sehr vielfältig, und ich habe den Eindruck, dass einige Frauen hier tatsächlich unabhängiger über ihre Erfahrungen sprechen als in Interview- und Fragebogensituationen oder persönlichen Gesprächen. Zudem verspricht die immense Größe des Adressatenkreises eine breite Verständigungsbasis, so dass selbst entlegene und diffizile Probleme zum Thema werden. Das ›virtuelle Frauengeflüster‹, in das sich gelegentlich auch Männer einschalten, entwickelt – wie andere Dialoge in Foren und Chatrooms – ein Eigenleben, das sich in dynamischen Prozessen immer wieder neu strukturiert. Im Vergleich zu Tests, Umfragen und empirischen Forschungsverfahren sind relativ offene Interaktionen möglich, deren Lebendigkeit mit keiner Methode im Experiment zu simulieren ist. Die Erforschung dieser Quellen kann z. B. in reiner Beobachtung und Sammlung bestehen, und die Selektion und Auswertung, ja die Verwendung der Dokumente zu Forschungszwecken er140 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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folgt ohne Wissen der ›Urheber‹ – ein aktives, etwa fragendes Eingreifen als Forschende würde die Dynamik des Geschehens stören. Was nun die Authentizität dieser Darstellungen betrifft, so ist anzuführen, dass in den Foren, die für diese Arbeit konsultiert wurden, und zwar primär die am häufigsten frequentierten Foren zu Schwangerschaft und Geburt, keine geschäftlichen Interessen im Spiel sind und einer Motivation zum ›Unsinn-treiben‹ (Verwirrspiele und Amüsement) wenig Raum gegeben wird. 13 Dennoch kann die Möglichkeit, dass es erfundene Geschichten und Selbstdarstellungen sind, nie ausgeschlossen werden. Interessanterweise geht es den Mitteilenden dieser Foren selbst um ein hohes Maß an Aufrichtigkeit. So werden offenkundig absurde Beiträge mit Vehemenz zurückgewiesen und Fragen der Authentizität selbst aufgegriffen. Vor dem Hintergrund, dass im Bereich der Auswertung und Selektion von Zeugnissen der Selbsterfahrung und subjektiven Betroffenheit aus Internet-Foren noch keine Evaluationsinstrumente entwickelt wurden, ist freilich äußerste Vor- und Umsicht bei der Verwertung solcher Quellen für die wissenschaftliche Forschung geboten. Bei aller prinzipiellen Fragwürdigkeit scheint mir die Mehrzahl dieser Zeugnisse aber – wie mich selbst überraschte – von einer großen Authentizität zu zeugen. Wenn also in den folgenden Hauptteilen eine Vielzahl heterogener Dokumente einbezogen wird, mag sowohl der Mangel an systematischen empirischen Untersuchungen zu einigen Leiberfahrungen als auch der von Schmitz erarbeitete Topos der »subjektiven Tatsachen« eine Rechtfertigung für die Berücksichtigung dieses Konglomerats von Quellen individueller Betroffenheit sein. Wie schon früher vermerkt, ist es ausgesprochen wichtig, interdisziplinäre Forschungen auf diesem Gebiet anzustrengen bzw. weiterzuführen. Nicht zuletzt führt die vorliegende Arbeit u. a. den Nachweis, dass in bestimmten Bereichen wie z. B. der Thelarche oder der Sexualität noch erhebliche Forschungsdefizite zu verzeichnen sind.

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Welches Anliegen sollte eine Person haben, sich hier einzuwählen und Märchen oder Lügen zu verbreiten? Hätte z. B. ein Mann Interesse daran, mit einem frei gewählten weiblichen Namen ›seine‹ fantasierten Geburtserfahrungen mitzuteilen? Wohl kaum.

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Teil II: Topographie des weiblichen Leibes

»Frauen hätten vielleicht von vorne herein eingesehen, daß der Leib nicht nur und nicht einmal hauptsächlich dann spürbar ist, wenn er zum Spähen oder Rauchen dient, sondern daß er vornehmlich sein Schicksal in sich selbst hat, sei er nun betroffen oder unbetroffen von außen her: in seinem eigenen Blühen und Brennen, Schwellen und Spannen, Strömen und Einhalten, spröde oder weich, krampfend oder locker, sich öffnend oder verschließend und in all dem spottend der sonderbaren Illusion, man müsse immer irgend etwas tun.« (Schmitz, 1998b, 601)

4. Die Leibesinseln des weiblichen Geschlechtsleibes 4.1 Einleitung Der Begriff der Leibesinseln geht auf Untersuchungen von Schmitz zur Topographie des Leibes zurück. Der eigene Leib wird demnach einerseits als Einheit gespürt – und präsentiert einen absoluten Ort –, andererseits in einer eigentümlichen Struktur, als »Gewoge verschwommener Inseln«, worin einzelne Regionen ihren relativen Ort haben. Gespürt werden in dichterer oder dünnerer Verteilung Leibesinseln, »die noch durch räumliche Orientierung – namentlich durch Lagebeziehungen, wie über-unter, vorhinter – verbunden sind, aber nicht mehr stetig zusammenhängen« (Schmitz, 1998b, 26). Zur Gegebenheitsweise des so bezeichneten »körperlichen Leibes« gehören nach Schmitz ferner »die labile Wandelbarkeit 143

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II Topographie des weiblichen Leibes

der Inseln und ihr unscharfer Umriß« (ebd.). In dem Gewoge verschwommener Inseln wird ein stetiger Wandel einzelner Inseln gespürt, die mal mehr mal weniger betont, mal unbetont sind, und doch »erhalten sich in diesem unablässigen Fluten einige beharrliche Leibesinseln, die kaum je vermißt werden, wie der zum Schlund erweiterte Mund und die anale Zone« (ebd.). Doch auch die beharrlichen Leibesinseln sind im eigenleiblichen Spüren beständigem Wandel ausgesetzt. »Keine Leibesinsel bietet sich je als starre, feste Masse an.« (ebd., 27) Vielmehr spricht Schmitz von »strahlenden Herden, die oft durch Hervortreten einiger betonter Stellen oder Schwerpunkte in sich körnig sind, gelegentlich auch einen einzigen Schwerpunkt, aber niemals scharfen Umriß besitzen.« (ebd.) Der spürbare Wandel von Leibesinseln betrifft sowohl das Verhältnis der Leibesinseln zueinander als auch die »Binnengliederung einzelner Leibesinseln« (ebd.). In seiner Inselstruktur ist der körperliche Leib gewöhnlich unaufdringlich gegeben, in bestimmten Erfahrungen drängen sich aber einzelne Leibesinseln hervor, ändern sich und schwinden wieder. Hier spricht Schmitz (ebd., 151 ff.) von »Leibesinselbildung und Leibesinselschwund« und unterscheidet drei Arten: »die Umbildung bestehender Inseln, das Schwinden alter und die Bildung neuer Inseln«. Schmitz hat die Zusammenhänge dieses leiblichen Geschehens im Hinblick auf die Phänomene von Enge und Weite sowie Spannung und Schwellung nachbuchstabiert. Wenn er behauptet, »in der normalen Lebenserfahrung« gebe es »sicherlich keine Organempfindungen« (ebd., 54), so bezieht er sich auf das Definitionsgerüst, das zwischen dem »reinen Körper«, dem »körperlichen Leib« und dem »reinen Leib« unterscheidet. Von Organempfindungen zu reden, bedeutet nach Schmitz ein Missverständnis, da Organe im Sinne des Körpermodells als isolierte, abtrennbare Gegenstände einen teilbaren und klar umrissenen Ort haben, der etwa durch anatomische Exploration sinnlich wahrnehmbar gemacht werden kann. Das unmittelbare Innesein des eigenen Leibes kennt aber keine solchen Gegenstände, sondern diffus ausstrahlende Herde, die eine unteilbare Ausdehnung besitzen. So folgert Schmitz: »Der Glaube an Organempfindungen führt also auf den logischen Widerspruch, daß etwas zugleich teilbar und unteilbar ausgedehnt sein müßte. Das kann freilich nicht geschehen. Die in den vermeintlichen Organempfindungen gespürten Leibesinseln sind also verschieden von den Teilen des sicht- und tastbaren Körpers, deren relativen Ort sie einnehmen. Diese Gemeinsamkeit des relativen Ortes ist die einzige präzis faßbare Übereinstimmung zwischen Leibesinseln und Teilen des reinen Körpers. Sie ermöglicht es, mit der tastenden Hand auf die Stelle hinzuzielen, an der sich eine Leibesinsel … bemerkbar macht.« (ebd., 55)

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Die Leibesinseln des weiblichen Geschlechtsleibes

In den nachfolgenden Kapitelüberschriften mag es verwirrend erscheinen, wenn neben den großen Leibesinseln Brust, Genital und Unterleib Begriffe des Körpermodells wie »Schamlippen« oder »Ovarien« zur Sprache kommen. Diese bezeichnen zwar Organe oder Körperteile, sie sollen hier aber lediglich als Hinweise auf die uns durch diese Begriffe zugänglich bzw. bekannt gewordenen Regionen und Strukturen fungieren. Allerdings ist der Gebrauch des physiologisch-anatomischen Vokabulars auch dadurch gerechtfertigt, dass es zwischen Leibesinseln und Organen, wie Schmitz sagt, »eine Gemeinsamkeit des relativen Orts« gibt, die es ermöglicht, bei Regungspotenzialen die »Stelle« am eigenen Leib zu bezeichnen und darauf, wenn nötig, zu zeigen. Die phänomenologische Analyse verdeutlicht, dass dort aber nicht jene in der Anatomie bekannten Organe oder Teile empfunden werden, sondern Leibesinseln, also diffus ausstrahlende Regungsherde, u. U. mit einer spezifischen Binnenstruktur, nicht aber Körperteile mit klar abgegrenzten Rändern. Die Leibphänomenologie von Schmitz unterscheidet nur äußerst selten, z. B. bei der Hervorhebung besonderer Erfahrungen, zwischen weiblichem und männlichem Leib. 1 Insofern ist der Leib bei Schmitz ein geschlechtlich unspezifischer Leib. Für diesen gelte, so Schmitz (1995, 132), dass die »orale« und die »anale Zone« Leibesinseln bezeichneten, die »nahezu dauernd gespürt werden« und sich durch »einzigartige Chancen für das eigenleibliche Spüren« auszeichneten. Der Mund sei unter allen Leibesinseln »unerreicht durch die Vielfalt der Gelegenheiten und Überraschungen, die er zu bieten hat, ein Leib im Kleinen« (ebd.). An diesem »Leib im Kleinen«, mit Zunge, Gaumen, Zähnen und Lippen, treten alle von Schmitz eruierten Kategorien aus dem Alphabet der Leiblichkeit hervor, also Spannung und Schwellung, Engung und Weitung, hier auch mit besonderer Brisanz deshalb, weil in den Mund ›Fremdkörper‹ hineingelangen und sich berühren lassen. Ebenso bedeutend ist in Mimik und Gestik, also etwa beim Sprechen und Lächeln, »die protopathische, diffuse und epikritische, pointierende Tendenz des Leibes« (ebd., 133). Zu Recht schreibt Schmitz, dass der Mensch »sein Leben lang an seinem Mund einen Mikrokosmos seines spürbaren Leibes und ein Modell der Verwachsenheit dieses Leibes mit seinem tastbaren Körper« (ebd., 134) habe. Doch 1

So spricht Schmitz im Kontext der Wollust häufig von der männlichen Ejakulation, ohne zu problematisieren, dass diese männliche Leiberfahrung nicht mit der weiblichen Lust und ihren spezifischen Ausprägungen zu vergleichen ist. Andererseits führt er gelegentlich die Geburt an, ohne dabei in den Blick zu nehmen, dass diese weibliche Leiberfahrung für das Spüren noch ganz andere Konnotationen birgt als seine Vergleiche mit dem Seilziehen als großer Kraftanstrengung vermuten lassen.

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II Topographie des weiblichen Leibes

hält er auch die anale Zone für zwar unscheinbarer, aber »kaum weniger bedeutungsvoll«, da sich dort eine »beständige Erfahrung leiserer, mehr oder weniger unterschwelliger Vorgänge« zeige, die »den Dialog von Engung und Weitung mit modellhafter Deutlichkeit unterhalten und zum Verfügen anbieten« (ebd.). In der analen Zone spiele sich »eine ständige intensive und rhythmische Konkurrenz von Spannung und Schwellung ab«, die auch auf andere Leibesinseln ausstrahle; »so einfach geschlossen und vollständig« manifestiere sich »das Grundgeschehen der leiblichen Ökonomie kaum anderswo« (ebd.). Im »analen Drama«, dem Stuhlgang, trete diese nicht nur in »reiner, von ablenkenden Zusätzen freier Gestalt dem Menschen entgegen, sondern auch so, daß sie seiner regulierenden, probierenden Verfügung weitgehend anheimgestellt ist« (ebd., 135). Insofern biete die anale Zone ein ideales »Experimentierfeld für das Einüben der Regulierung des Antagonismus von Spannung und Schwellung, der Brücke zur Welt und leibliche Grundlage aller dialogischen Verhältnisse« (ebd.). Es mag dahingestellt bleiben, ob wir die orale und anale Zone tatsächlich dauernd spüren, wobei das Alltagsverständnis sicher eher nahe legt, die orale Zone für die bedeutendere zu halten, da sich dort wesentlich mehr auch äußerlich sichtbare Aktivitäten abspielen. Dennoch muss Schmitz insofern zugestimmt werden, als diese beiden Leibesinseln in generischen Erfahrungen eine herausragende Rolle für das Spüren des Leibes spielen, vor allem auch dadurch, dass sich an ihnen Prozesse des Aufnehmens und Entleerens ereignen. In Bezug auf die Entleerung, also die Ablösung körpereigener ›Produkte‹ vom Leib, ist allerdings auch die Harnöffnung bzw. deren durch Muskelkontraktionen definierte Umgebung eine Leibesinsel, die in ähnlicher Weise deutlich die Antagonisten von Engung und Weitung sowie Spannung und Schwellung zum Erleben bringt, und zwar geschlechterunspezifisch, was verallgemeinernd durchaus behauptet werden kann, auch wenn die Harnöffnung bei Mann und Frau in unterschiedliche Leibesinseln eingebettet ist. Hinsichtlich der Ablösung körpereigener ›Produkte‹ und insbesondere der Verschiedenheiten der Körper von Mann und Frau darf aber ein Alphabet der Leiblichkeit nicht auf Fragen der Geschlechterdifferenz verzichten. Vielmehr lässt sich zeigen, dass gerade in dem Gewoge verschwommener Inseln bei Mann und Frau unterschiedliche Erfahrungen zum Tragen kommen. Wenn es im Folgenden um die Leibesinseln des weiblichen Geschlechtsleibes geht, so wird damit nicht behauptet, dass Frauen bestimmte Leibesinseln dauernd spürten, sondern dass es in kleinerer oder größerer Beharrlichkeit und in veränderlichen Regungen und Sensationen 146 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Die Leibesinseln des weiblichen Geschlechtsleibes

zu einem spezifisch gearteten Spüren gewisser Leibeszonen kommt. Wenn ich die Brust, die genitale Zone und den Unterleib als solche Leibesinseln bezeichne, so wird damit nicht gesagt, dass Männer diese Leibesinseln nicht ebenfalls spürten – in der Tat sind Brust, Genital und Unterleib Leibesregionen, die von jedem Menschen gespürt werden, aber diese Leibesinselerfahrungen variieren je nach Lebensalter, Geschlecht und individueller leiblicher Situation und Disposition. Es soll vielmehr danach gefragt werden, wie diese Leibesinseln sich im leiblichen Spüren der Frau aufdrängen, wie sie ihre Gegenwart geltend machen, wie ihre Bildung, Umbildung, Änderung und ihr Schwinden erlebt werden. Dieses Kapitel dient also einer phänomenologischen Analyse der Leibesinseln des weiblichen Geschlechtsleibes. Methodisch soll die deskriptive Wesensbetrachtung im Vordergrund stehen, um in möglichst komprimierter Form, und d. h. auch ohne umfangreichen Zugriff auf empirische Daten, Charakteristika des weiblichen Erlebens an markanten Regionen herauszustellen. Dabei stehen die Fragen danach im Mittelpunkt, was gespürt wird, d. h. was das Besondere ist, das sich aufdrängt, wenn Brust, Genital und Unterleib als Leibesinseln gespürt werden, sich also von der Erfahrung des Leibesganzen abheben und herauslösen, ferner ob und wie die genannten Regionen in ihrer Binnenstruktur im Erleben repräsentiert werden sowie, ob und wie dieselben in einem interaktiven Zusammenhang stehen, etwa hinsichtlich der gemeinsamen Bildung neuer Inseln. Insofern in der Definition der Leibesinseln bereits enthalten ist, dass es sich nicht um starre, stets präsente Stellen mit klarem Umriss handelt, sondern um ausstrahlende Herde, die mehr oder weniger betont bzw. von Regungen betroffen sind, dürfte auch evident sein, dass sie von weiblichen Individuen unterschiedlich akzentuiert gespürt werden und in den Leiberfahrungen, wie sie in den verschiedenen Lebensaltern begegnen, variieren. Brust, Genital und Unterleib werden nicht von Geburt an und bis ans Lebensende in einer bestimmten, präzise berechenbaren Weise gespürt, sondern bilden in der Leibesganzheit unregelmäßig und/oder rhythmischdynamisch ins Erleben tretende Inseln, die zwischen dem zweiten bis fünften Lebensjahrzehnt von erheblichen Veränderungen und Metamorphosen betroffen sein können. Es gilt, zumindest einige charakteristische Weisen des vielfältigen damit verbundenen Spürens herauszuarbeiten, wobei Erlebnisspektren nachbuchstabiert werden, innerhalb derer ein individuelles Leiberleben anzusiedeln wäre. Dem biographischen Aspekt solcher Leiberfahrungen wird im dritten Hauptteil, also in den Einzelbeschreibungen, eingehend Rechnung getra147 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

II Topographie des weiblichen Leibes

gen, wo auch Bezug genommen wird auf Prozesse des gendering, die das Leiberleben in einen situativen und kontextuellen Zusammenhang bringen. Jetzt soll es zunächst darum gehen, in allgemeiner Form zu analysieren, was an diesen ausgewählten Leibesinseln gespürt wird bzw. gespürt werden kann, um dann einzelne Leiberfahrungen herauszuschälen und in einem systematischen Kontext unter Berücksichtigung des Perspektivewechsels darzustellen. Das Kapitel konzentriert sich auf den Lebensabschnitt der Frau, in dem sich die Differenz zum Mann im maximalen Bereich bewegt. Diese Eingrenzung wurde durch die Tatsache motiviert, dass jene Lebensjahrzehnte den Durchschnitt repräsentieren; mit Blick auf die normale Lebenserwartung verbringt die Frau die längste Zeitspanne in den Lebensjahrzehnten der Fruchtbarkeit mit charakteristischen Erfahrungen an Brust, Genital und Unterleib. Vor dem zweiten und nach dem fünften Lebensjahrzehnt werden zwar Brust, Genital und Unterleib nach wie vor als Leibesinseln gespürt, einige leibliche Regungen und Metamorphosen des Leibes sind dann jedoch entweder noch nicht oder nicht mehr vorhanden bzw. möglich.

4.2 Die Brust Schmitz (1998b, 221) schreibt vom »Brustraum« als einer Leibesinsel, die »vor anderen Leibesinseln durch besonders feine Empfänglichkeit für wechselnde Grade von Spannung und Schwellung ausgezeichnet zu sein« scheint, wobei er vor allem die Atmung im Blick hat, denn in ihr spielen Brust und Brustkorb eine entscheidende Rolle. Schmitz hat die leibliche Seite des Einatmens als »gleichzeitiges und unzertrennliches Geschehen von Spannung und Schwellung, Engung und Weitung des Leibes« gekennzeichnet und das Ausatmen als »ein Richten, das aus der Enge in die Weite führt« und das die durch das Einatmen bedingten »Zuspitzungen« wieder einebnet (ebd., 100). Dem Atmen wird im autogenen Training, bei Entspannungsübungen, im asiatischen Kampfsport oder auch bei den Techniken des Pranayama eine außerordentliche Bedeutung beigemessen und ein großer Einfluss auf die leibliche Verfassung des Menschen nachgesagt. Körperhaltung und Positionierung des Brustkorbes, etwa das preußische »Brust raus, Bauch rein« oder die Rede von der »stolz geschwellten« oder »niedergedrückten« Brust, sind deutliches Indiz für den Ausdruck bestimmter Stimmungen und Haltungen zur Welt. Der Schmitzsche »Brustraum« ist geschlechterunspezifisch auf den Brustkorb als eine Leibeseinheit bezogen, die mehr und anderes umfasst 148

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als die auf ihm sitzenden Brüste. Mann und Frau unterscheiden sich aber gerade hinsichtlich dessen, was auf dem Brustkorb sitzt. 2 Hier kommen mehr oder weniger gravierende Unterschiede im ›fleischlichen‹ Volumen zum Tragen, die dem weiblichen Körper nicht nur andere Formen geben, sondern auch anders ins eigenleibliche Spüren treten. Man kann von einer geschlechtertypischen Ausbalancierung der jeweils vorhandenen ›BrustMasse‹ mit Einfluss auf das leibliche Lot sprechen, die u. U. sogar sichtbar zu anderen Körperhaltungen und Bewegungsformen führt. Eine der wenigen Autorinnen (wenn nicht die einzige), die auf der Grundlage phänomenologischer Erkenntnisse, und zwar mit Rekurs auf Merleau-Ponty, über die weibliche Brust schreibt, ist Iris M. Young in ihrem Artikel »Breasted Experience«. Sie geht der Frage nach, was es bedeutet, eine weibliche Brust zu haben und zu erfahren. Ihr Ausgangspunkt ist die Brust bzw. der Brustkorb, »the house of the heart« (Young, 1990, 189), als wichtiges Zentrum persönlichen Seins. Man mag das Bewusstsein im Kopf lokalisieren, »but my self, my existence as a solid person in the world, starts from my chest, from which I feel myself rise and radiate« (ebd.). Da die Brust von Mann und Frau unterschiedlich ausgeprägt ist, schließt Young auf unterschiedliche Erfahrungspotenziale: »If the chest is a center of a person’s sense of being in the world and identity, men and women have quite different experiences of being in the world.« (ebd.) Young verdeutlicht dies an dem simplen Beispiel, dass eine Frau, die ihre Hand über ihrem Herzen platziert, dies zwischen ihren Brüsten tut, also zwischen zwei Wölbungen. Wenn aber die Brust diese große Bedeutung für das Sein eines Menschen in der Welt hat, sind die weiblichen Brüste unmittelbar verwoben mit dem Selbstverständnis der Frau, zumal die Brüste genau zu dem Zeitpunkt heranreifen, in dem das Mädchen sich seines Geschlechtsleibes bewusst wird. Young schreibt (ebd., 189): »How could her breasts fail to be an aspect of her identity, since they emerge for her at that time in her life when her sense of her own independent identity is finally formed?« Für viele Frauen, wenn nicht für alle, sind die Brüste ein wichtiger Aspekt des körperlichen Selbstbildes; ihre Brüste sind für eine 2

Das Atmungsverhalten wurde in seiner Geschlechtsspezifik noch kaum wissenschaftlich untersucht. Allenfalls in populärwissenschaftlicher Literatur zu Yoga und Pranayama finden sich Hinweise, z. B. bei von Lysbeth (1982, dazu mehr im Kapitel zur Thelarche). Da die weiblichen Brüste dem Brustkorb vorstehen, dort also ein fleischliches Volumen angesiedelt ist, das beim Einatmen mitgedehnt und mitgehoben wird, wäre es interessant, dem Spüren von Atmung und weiblicher bzw. männlicher Brust einmal nachzugehen, was hier nicht geleistet werden kann. In der Literatur wird der ›wogende Busen‹ besonders Frauen zugeschrieben, meist im Kontext spezifischer Gefühlslagen, die mit veränderter Atmung zusammenhängen.

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Frau nicht neutral – darauf wird im Kapitel zur Thelarche noch ausführlich eingegangen. 4.2.1 Die Brüste als Paar Die weiblichen Brüste werden erstens als Paar, als Ganzes, d. h. als Einheit einer ›fleischlichen‹ Masse sinnlich wahrgenommen und leiblich gespürt. Dieser Aspekt betrifft z. B. in der Thelarche die Tatsache, dass die heranwachsenden Brüste das gesamtleibliche Lot verändern, also in Haltung, Bewegung und in Berührung mit der Außenwelt (z. B. mit Kleidung) als vom Körper abgehobene, mehr oder weniger stark vor- bzw. herausstehende ›Weichteile‹ gespürt werden. In diesem Sinne können sie nach ihrem In-die-Erscheinung-treten als wackelnde, wabernde, wiegende, hüpfende, springende, schaukelnde, herab- oder heraufziehende, hervor- oder zurückschnellende, pendelnde, hin- und herschwingende Brüste erlebt werden, häufig einhergehend mit der Empfindung, dass sie nicht von einer spezifischen Festigkeit sind. Young (1990, 195) spricht mit Irigaray sogar vom eher flüssigen Charakter in der Erfahrung von Brüsten: »Many women’s breasts are much more like a fluid than a solid; in movement, they sway, jiggle, bounce, ripple even when the movement is small.« In dem bemerkenswerten Buch über Brusterfahrungen von Daphna Ayalah und Isaac J. Weinstock mit dem Titel »Brüste. Frauen sprechen über ihre Brüste und ihr Leben« (1983) spricht eine Frau vom »eigenen Willen« der Brüste, der sich dadurch bemerkbar macht, dass Brüste auf jede Aktivität des Körpers unwillkürlich reagieren: »Sie haben ihren eigenen Willen. Ich habe sie wirklich nicht unter Kontrolle. Wenn ich zum Beispiel gehe, kann ich nichts dagegen tun, daß sie hin- und herschwingen. Ober wenn ich körperlich arbeite, kann ich nicht verhindern, daß sie sich mitbewegen. Nicht mal, wenn ich einen BH tragen würde, würde das einen großen Unterschied machen.« (Ayalah/Weinstock, 1983, 70)

Während Büstenhalter oder Implantate die wechselhaften und vielfältigen Bewegungen der Brust eingrenzen und eher einer Erfahrung der Brüste als solide, weniger bewegliche Objekte, als erstarrtes Paar, Vorschub leisten, wird an der ungebundenen und uneingeschränkten Brust eine Mannigfaltigkeit unterschiedlicher Bewegungsarten erlebt. Die Bewegungen, die an und mit der Brust gespürt werden, haben jedoch nicht den Charakter von initiierten Bewegungen – Brüste können nicht durch einen Impuls des Willens aus sich selbst heraus bewegt werden, und dies ist für die leibliche 150

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Konstitution der Frau eigentümlich. Wir können unsere Glieder, unseren Kopf, unseren Rumpf bewegen; wir können unseren Bauch hereinziehen und herausdrücken und selbst unseren Po, der optisch wie die Brüste durch halbkugelförmige Wölbung, Ausbuchtung charakterisiert ist, können wir anspannen und lockern, beinahe überall können wir durch Muskeln, die in unserer Wirkmacht stehen, Bewegungen nach unserem Willen am Leibe ausführen, Einfluss nehmen, doch an den Brüsten ist dies nicht möglich. Selbst der Brustmuskel liegt unter der Wölbung der Brust und kann bekanntlich von Männern wie Frauen trainiert werden. Das bedeutet jedoch, dass die weibliche Brust wesentlich passiv in das Leib-Sein eingegossen ist. Was sich an ihr voluminös hervorwölbt, ist aber nicht starr und beinahe reaktionslos, wie z. B. die Ohren, die wir ebenfalls – normalerweise – nicht selbst bewegen können, sondern reagiert umfassend auf die Motorik des gesamten Körpers. Schon die kleinste Bewegung versetzt die Brust in Mitschwingung, d. h. in der Brust hat jede Bewegung eine Resonanz, und häufig klingt eine Bewegung des Körpers oder eines Körpergliedes noch in den Brüsten nach, wenn diese bereits zur Ruhe gekommen ist. Insofern ist die weibliche Brust geradezu dafür prädestiniert, sich häufig dem Erleben aufzudrängen, sich als besondere Zone aus der Gesamtempfindung des Leibes herauszulösen und sich als eigenartig konstituierte, u. U. sogar fremdartige, weil nicht in der sonst am Leibe üblichen Weise verfügbare, ›fleischliche‹ Masse zu manifestieren. So schreibt Susan Brownmiller (1984, 35) zu Recht: »Brüste sind der hervorstechendste und variabelste Teil der weiblichen Anatomie. Und obwohl ihre Funktion im wesentlichen mit der Fortpflanzung zusammenhängt, … werden sie durch ihre symbolträchtige Augenfälligkeit und eindeutige Verwundbarkeit zum eigentlichen Wahrzeichen des Geschlechts. Brüste erregen Aufmerksamkeit, sind jedoch weich und nachgiebig und bieten nahe am Herzen Schutz und Wärme. Brüste scheinen eine Eigenbewegung zu besitzen. Mit ihrem eigenwilligen Schaukeln, dem unbeeinflußbaren Heben und Senken bringen sie sich immer wieder in Erinnerung und überraschen. Brüste können groß oder klein sein, schlaff oder fest, erregbar oder empfindungslos; sie reagieren unterschiedlich auf hormonelle Veränderungen, schwellen lustvoll oder unter Schmerzen. … Brüste sind eine Quelle weiblichen Stolzes und sexueller Identifikation, aber sie sind auch eine Quelle von Konkurrenzkampf, Verwirrung, Unsicherheit und Scham.«

Als solche Leibesinseln, die noch dazu stets in das untere Gesichtsfeld der Wahrnehmung des eigenen Körpers als Ding der Außenwelt hineinragen, treten die Brüste der Frau gelegentlich unangenehm ins Bewusstsein, als immerzu »da« seiend, als aus dem gesamtleiblichen Empfinden herausgelöste, stetig spürbare Einheit. So schreibt eine Frau, ihre Brüste seien 151

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»hübsch und nett, aber sie sind so groß und so da!« Sie würden sie beeinträchtigen, weil sie ihr »andauernd bewußt sind« (Ayalah/Weinstock, 1983, 45). Eine Frau mit sehr großen Brüsten, die später einer operative Verkleinerung vornehmen ließ, beschreibt ihren früheren Zustand mit folgenden Worten: »Wenn ich Kleider anhatte, waren sie so mächtig, daß ich an ihnen vorbei nicht an mir runtersehen konnte. Sie fühlten sich wie halbe Wassermelonen an, die horizontal über meiner Brust saßen – so ein Riesenberg war das. Sie rissen mich richtiggehend aus der Balance, so daß ich wie eine Schwangere beim Gehen von einer Seite auf die andere wackelte.« (ebd., 25)

Diese Frau spricht deutlich die Volumosität der Brüste an, ein »Riesenberg«, der ihr den Blick auf den unteren Leib versperrte und Probleme mit dem Gleichgewicht mit sich brachte. Das Mitschwingen der Brüste wurde ihres Gewichtes wegen zu einem Balanceakt, weil sie sich bei jeder Bewegung des Körpers aufdrängten und das Gleichgewicht irritierten. Es musste quasi in jeder Körperhaltung Rücksicht genommen werden auf die fleischliche Masse der Brust, die ihre Gegenwart dadurch geltend machte, dass sie nicht an ihrem Ort blieb, sondern in Mitschwingung versetzt, gleichsam ausufernd am Leibe riss und zerrte. In dieser Weise sind Brüste im Leiberleben der Frau häufig präsent und ›genießen‹ durch ihr pathisch ausgerichtetes Da- und Sosein eine ›Bewegungsfreiheit‹, die selbst durch eigens zugeschnittene Kleidungsstücke wie Büstenhalter nicht gänzlich unterbunden werden kann. Es ist der weibliche Leib, der sich hier als die Natur, die er selbst ist, aufdrängt, mit freischwebenden und/oder -hängenden, vom Leibe abstehenden Wölbungen, Hügeln, Ausbuchtungen aus ›Fleisch‹ von diffuser Masse, Schwere und Volumen. Dieses ›Fleisch‹ wird aber in der Alltagserfahrung nicht mit klar umrissenen Konturen gespürt, sondern als mitunter feste, aber gewöhnlich eher weiche räumliche Ausdehnung und -wölbung des Leibes, als mehr oder weniger üppige, mehr oder wenige dichte Fülle oder geradezu ausufernde Formlosigkeit. Der Büstenhalter gibt dieser ›fleischlichen‹ Masse eine definierte Form, und die Geschichte weiblicher Mode zeigt die Vielfältigkeit von Formungen, die mit den biegsamen, hin- und her- sowie hoch-, herum- und herunterschiebbaren Brüsten unternommen wurde. Dazu schreibt Brownmiller (1984, 34): »Historisch gesehen wurden Brüste jeder Form und Größe in enge V-förmige Mieder gezwängt, nach oben gedrückt und präsentiert wie zwei Orangen auf einer Schale, bis zur Unkenntlichkeit flach nach unten gepreßt, wie ein Balkon nach vorne geschoben und in dieser Form als Monobusen bekannt, wie ein Brett unter-

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Die Leibesinseln des weiblichen Geschlechtsleibes

stützt und getragen, um den Brustansatz möglichst deutlich zu betonen, durch Drahtgestelle gewaltsam auseinanderhalten und geradeaus gerichtet wie zwei Raketen auf der Abschußrampe, oder mit Hilfe einer Kombination aus Trägern, Schnallen, elastischem und dehnbaren Material dazu gebracht, bewegungslos an einem vorgesehenen Platz auf halber Höhe zu bleiben.«

Hier gilt das Phänomen der Einleibung ebenso wie bei jedem anderen Kleidungsstück: Kleider werden einverleibt, d. h. sie werden beim Anoder Ausziehen deutlich gespürt, diffundieren aber schließlich in das leibliche Erleben als Ganzes. Sie treten dann zwar nicht mehr gesondert ins Erleben, geben aber dem Leib eine Form, die einen großen Beitrag zum Empfinden als bestimmte Person leisten kann, wie der Spruch »Kleider machen Leute« sinnfällig zum Ausdruck bringt. Büstenhalter oder Brustbandagen, wie sie früher üblich waren, geben der weiblichen Brust in besonderer Weise eine spürbare Kontur, da sie das ›lockere‹ und ›lose‹, mitunter ausufernde Fleisch enger an den Leib drücken, z. T. auch zwingen, und dadurch das pathische Ergossensein der Brüste in den Raum sowie ihre respondierende Bewegungsfreiheit hemmen. Brüste in Büstenhaltern fühlen sich eher gehalten, getragen, aufgehoben, vielleicht sogar mehr dem Leibe zugehörig an, können jedoch dem Phänomen, dass es sich um willentlich nicht gänzlich bezwingbare oder arretierbare Auswölbungen handelt, nur bedingt entgegenwirken. Allzu großer Kleiderzwang im Brustraum, wie etwa das Korsett, hat erhebliche Auswirkungen auf das gesamtleibliche Befinden, auch auf die Atmung, für die der Brustkorb eine so entscheidende Rolle spielt. 3 Brüste werden mit den Bewegungen des Körpers und einzelner seiner Glieder mitbewegt, und in der relativen Nähe der Brüste zu den Oberarmen kommt es häufig zu Berührungen zwischen Armen und Brüsten. Schon beim profanen Begrüßungshandschlag ergibt sich beispielsweise ein solcher Kontakt: Der rechte Arm bewegt sich nach links vor den Kör3

Die Bedeutung des Korsetts für das leibliche Befinden wird von Brownmiller (1984, 30) wie folgt eingeschätzt: »Das Korsett führte nicht nur zu einer hoheitsvollen Haltung und kleinen, weiblichen Bewegungen – eine Dame konnte sich kaum vorbeugen oder tief Luft holen, dafür bebte ihr Busen, und der Fächer flatterte im angestrengten Bemühen, genug Luft zu bekommen –, sondern wurde der notwendige Unterbau für jede Frau, die mit der Mode ging. … Je nach Stil einer Zeit und der Entschlossenheit seiner Trägerin konnte ein Korsett schätzungsweise zwischen zwanzig und achtzig Pfund Druck ausüben.« Die durch das Korsett diktierten weiblichen Körperformen haben selbst in der Akt-Malerei ihren Niederschlag gefunden. So behauptet Hollander (1978), dass viele berühmte Werke den nackten weiblichen Leib nicht in seiner natürlichen Form darstellen, sondern in Korrespondenz zu den Kleider- und Korsettmoden ihrer jeweiligen Zeit.

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II Topographie des weiblichen Leibes

per und schiebt, wenn er nicht weit auslädt, die rechte Brust ein Stück in die Mitte des Brustkorbes. Wird der Arm zurückgezogen, schwingt die rechte Brust wieder von der Brustkorbmitte zurück, wird von dem damit verbundenen Schwung sogar noch etwas nach außen gezogen, um sich dann wieder zu ihrer normalen Position hin auszupendeln. Auf diesen Vorgang reagiert mitschwingend auch die linke Brust, so dass sich in jeder kleinsten Bewegung ein korrespondierendes und korrelierendes Bewegungsspektrum an den Brüsten ereignet. Brüste stehen selten tatsächlich still und unbeweglich im leiblichen Raum; sie bilden eine überaus dynamische, vielleicht die auf Bewegungen am empfindlichsten reagierende Zone des weiblichen Leibes. Die Oberarme oder andere Leibesglieder können die Brüste zur Körpermitte schieben und sie sich u. U. berühren lassen oder sie auseinander, nach oben oder unten schieben. Wenn Frauen ihre Arme vor dem Leib verschränken, ›umarmen‹, umschließen sie quasi ihre Brüste. Beim Laufen, beim Begehen von Treppen, bei vielen Sportarten hüpfen Brüste mit jedem Schritt mit, beim Rennen werden sie nach unten gezogen und oben gehoben, bei ruckartigen Erschütterungen schnellen sie vor oder zurück. Brüste werden bei allen Bewegungen hin- und hergeschoben bzw. -geschwungen, zuweilen geschleudert, was je nach Brustgröße und Schnelligkeit der Bewegung schmerzhaft sein kann, wie überhaupt, namentlich bei großen Brüsten, die Wirkung der Schwerkraft Nacken- und Rückenschmerzen und Haltungsschäden verursachen kann. Doch nicht nur bei den Bewegungen, die mit dem Leib selbst oder einzelnen Gliedern ausgeführt werden, stehen Brüste stets in Resonanz zu dem, was der Leib gerade tut und werden als solche mehr oder weniger aufdringlich gespürt, auch in passiven Zuständen, wenn der Leib bewegt wird, z. B. beim Autofahren, können sie sich als ›fleischliche‹, formlose Masse aufdrängen und reagieren auf jeden kleinsten Anstoß mit entsprechenden Impulsen. Neben der Bedeutung der weiblichen Brüste als ausladendes Paar formlosen Fleisches für das leibliche Lot, für Körperhaltung und Bewegung, drängen sich Brüste für und an sich selbst in einem vielfältigen Erlebnisspektrum auf. Brüste unterliegen der Veränderung: Sie ›reifen‹ während der Thelarche, sie verändern sich während der Menstruationszyklen, in der Schwangerschaft, in der Laktation, beim und nach dem Abstillen, beim Altern, d. h. sie sind niemals die gleichen und treten durch unterschiedliche Empfindungen an ihnen selbst als Leibesinseln ins Erleben. Zu diesen Spielarten gehören die Erfahrungen von ziehenden, schmerzenden, spannenden, auch geschwollenen, schweren, harten, vollen, festen, empfindlichen und größeren gegenüber eher leichten, 154 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Die Leibesinseln des weiblichen Geschlechtsleibes

schlaffen, weichen, eher leeren, losen, lockeren, unempfindlicheren und kleineren Brüsten. Ein besonderes Regungspotenzial zeigt sich an den Brüsten aber auch außerhalb der bereits genannten Leiberfahrungen z. B. unter Einwirkung von Kälte und Wärme. Bei Kälte verändert sich nicht allein das Empfinden der Brustwarzen, sondern dasjenige der Brüste als Ganze, indem sie nun den Eindruck vermitteln, sie würden durch leibliche Engung straffer, angespannter, weniger voluminös, dafür fester, voller, dichter, gleichsam an den übrigen Leib ›heran‹- oder auch in ihn ›hereingezogen‹. Außerdem treten durch Straffheit und Festigkeit ihre Konturen stärker, ja schärfer ins Erleben und ihre übliche Bewegungsfreiheit wird als geringfügig weniger ausladend empfunden. Geht die Kälte in Wärme über, scheinen sich die Brüste sogleich durch leibliche Weitung räumlich auszudehnen, ins Weite und Weiche zu diffundieren, lockerer und loser im Gesamtgefüge des Leibes zu werden und an Konturhaftigkeit zu verlieren. Es gehört zu den typischen Erfahrungen von Frauen, dass sich bei Kälte ihre Brüste als herausgehobene Leibesinseln in ihrer Veränderbarkeit und Wandlungsfähigkeit mit spezifischen Erlebnisqualitäten aufdrängen. Ähnliche Spannungserfahrungen werden an den Brüsten in der Sexualität gemacht. Brüste reagieren äußerst sensibel auf Berührungen. Werden sie berührt, und sei es nur durch Kleidungsstücke, nehmen sie für das Erleben sogleich an Konturhaftigkeit zu. Während sie unberührt eher als ins Formlose tendierende Masse gespürt werden, tritt ihre eigentümliche halbkugelförmige Rundung durch eine Berührung konkret in das eigenleibliche Empfinden. Sexuell erregte Brüste werden, ganz ähnlich den Erfahrungen bei Kälteeinwirkung, als gespannte, volle, straffe, dichte, an den Leib herangezogene Inseln in klareren Formen und eindeutigerer Oberflächenstruktur erlebt als außerhalb der sexuellen Erregung. Dass hier von einer ähnlichen Leiberfahrung wie bei Kälte gesprochen werden kann, scheint auch die Tatsache nahe zu legen, dass sich die Brustwarzen bei Kälte und in sexueller Erregung aufrichten, doch lassen sich spezifische Unterschiede ausmachen, die sich insbesondere auf die Brustwarzen beziehen und weiter unten behandelt werden. 4.2.2 Die linke und die rechte Brust Die Brüste sind ein Paar und treten in der Alltagserfahrung auch als solches ins leibliche Spüren. Dennoch gibt es ein Spektrum von Leiberfahrungen, für das ein Hervortreten und Herauslösen von einer Brust aus 155 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

II Topographie des weiblichen Leibes

dem Leibesinselpaar charakteristisch ist. Brüste werden also nicht nur als Paar, sondern auch als einzelne linke oder rechte Brustleibesinsel erlebt. Dieser Aspekt bezieht sich nicht allein darauf, dass fast keine Frau zwei identisch geformte Brüste hat und insofern Unterschiede, etwa in der Größe, je nach Ausprägung verschieden erlebt werden. Dieser Aspekt versucht vielmehr das Erlebnisspektrum an zwei ähnlichen Leibesregionen in den Blick zu nehmen. Dass es Unterschiede zwischen zwei Leibesinseln, die als Paar auftreten, gibt, verdeutlicht der Vergleich mit den Händen. Wer hätte als Rechtshänder nicht schon einmal versucht, mit links zu schreiben und dabei festgestellt, dass die rechte Hand ganz andere Fähigkeiten hat als die linke. Nun mag man die jahrzehntelange Übung anführen, und doch bleibt das Phänomen zweier unterschiedlicher Leibesinseln, die bei geschlossenen Augen an verschiedenen Orten lokalisiert werden können, die aber andererseits durch exaktes Aufeinander-Beziehen als Paar unmittelbar interagieren können. Auch von den Füßen wissen wir, welcher der linke, welcher der rechte ist, und wir spüren unseren Leib anders, je nachdem, ob wir auf dem linken oder rechten Fuß stehen. Ebenso beim Schließen oder Verdecken eines Auges: Wir spüren, dass es das linke Auge ist, durch das wir nun zweidimensional die Welt sehen, und wir bemerken sofort, wenn es das rechte ist; und dennoch können wir nicht behaupten, dass die Wahrnehmung auf beiden Augen die gleiche ist. Dieses Phänomen hängt mit der relativen Örtlichkeit von Leibesinseln im Sinne von Schmitz zusammen, indem wir nämlich, wie wiederum Stein schrieb, über einen Nullpunkt der Orientierung verfügen, von dem aus räumliche Dimensionen am eigenen Leib und in der Welt wahrgenommen werden. Nun haben wir es bei den Brüsten mit Leibesinseln zu tun, deren Eigenbeweglichkeit nicht durch den Willen herbeizuführen ist, d. h. wir können die Brüste weder als Paar in Bewegung versetzen noch die je einzelne linke oder rechte Brust. Dennoch können sowohl die linke als auch die rechte Brust als eigene, separate Leibesinsel in das Erleben eingehen. Ähnlich verhält es sich mit den Ohren, die, ebenfalls ein Paar, nicht selbst beweglich sind, jedoch Träger unterschiedlich lokalisierter Empfindungen sein können, und sei es nur in Form von Schmerzen, die man an dem einen oder dem anderen Ohr haben kann. In diesem Sinne und mit Bezug auf ihre unterschiedliche Örtlichkeit sind die linke und die rechte Brust eingebettet in das Gesamtgefüge des Leibes und insofern auch von Aktivitätsschwerpunkten hinsichtlich der beiden ›Körperhälften‹ betroffen. Das mag sich im Alltag nicht ständig bemerkbar machen, es ist aber eine Tatsache, dass der Mensch seine ›Körperhälften‹, insbesondere seine Arme und Hände, in unterschiedlicher Weise zur Lebensbewältigung benutzt. 156 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Die Leibesinseln des weiblichen Geschlechtsleibes

Durch die relative Nähe von Brust, Armen und Händen ist damit schon gegeben, dass wir je nach Links- oder Rechtshändigkeit die eine oder die andere Brust häufiger beim Mitschwingen und in Resonanz mit den Armen und Händen spüren. Weiter oben wurde schon beim trivialen Begrüßungshandschlag deutlich, dass eine Berührung zwischen rechtem Oberarm und rechter Brust stattfindet, die sich zwar auch auf die linke Brust auswirkt und gleichsam auf diese übergreift, aber beide Brüste sind von dieser Bewegung in unterschiedlicher Weise betroffen. So ist bei vielen Frauen die Brust, die zu ihrer Aktivitätsseite hin orientiert ist (also bei Rechtshändern die rechte) nicht nur geringfügig größer, weil der Brustmuskel stärker entwickelt ist, sondern ebenfalls viel häufiger in Berührung mit anderen Leibesgliedern. Auch wenn sich über die historischen Gründe für die sogenannten Brustamputationen bei den Amazonen spekulieren lässt, verweisen diese als Sinnbild doch auf die Tatsache, dass die einzelne Brust für Bewegungsabläufe eine herausgehobene Rolle spielen kann. Während z. B. bei Kälteempfindungen beide Brüste in etwa gleich empfunden werden, insbesondere beim Steifwerden der Brustwarzen und beim Zusammenziehen der Brüste an den Leib, können sich Erregungspotenziale durch Berührung von außen auf je die eine oder die andere Brust beziehen, und in diesen Erfahrungen können Unterschiede ausgemacht werden. Insofern wird die sexuelle Stimulierung von nur einer Brust im Erleben vor allem an dieser einen Brust bemerkt, so dass man von einer erregten und einer weniger erregten Brust sprechen kann. Auch bei beidseitiger Erregung sind unterschiedliche Lustempfindungen möglich. Es treten aber ebenso Wechselwirkungen auf, z. B. wenn bei fortgesetzter Stimulierung und Erregung einer Brust bzw. Brustwarze die Erregung mit der Zeit auf die andere Brust übergreift, selbst wenn diese nicht eigens stimuliert wird. Kurz vor und im orgasmischen Gipfel kommen die Erregungszustände beider Brüste meist zur Angleichung, d. h. hier greifen Spannungs- und Schwellungserfahrungen, die womöglich zuvor eher an einer Brust gespürt werden, auf die Brüste als Leibesinselpaar über. In besonderer Weise sind Empfindungen an einer Brust als herausgehobene Insel aus dem Brüstepaar bei der Laktation manifest. Beim Stillen werden die Brüste abwechselnd eingesetzt, so dass sich je die eine oder die andere Brust aus dem Leibesinselpaar herauslöst und mit Erregungspotenzialen dem eigenleiblichen Empfinden aufdrängt. Das Saugen des Säuglings, die spezifische Rhythmik der Einleibung, die sich im Prozess des Stillens einstellt, spielt sich an dieser einen Brust ab, die gerade involviert ist. Das muss nicht bedeuten, dass nicht auch die andere, nicht unmittelbar beteiligte Brust, ebenfalls von den Sensationen und Attraktionen 157 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

II Topographie des weiblichen Leibes

des Stillens betroffen wäre, es handelt sich vielmehr um Intensitätsunterschiede für das Erleben. Es treten in diesem Kontext ebenfalls unterschiedliche Empfindungen hinsichtlich der Fülle und ›Leere‹ der Brust auf, aber auch in Bezug auf das Steif- und Hartwerden der Brustwarzen. Während sich eine ›leergesaugte‹ Brust weniger dicht anfühlt, ist die andere noch prall gefüllt, was im übrigen Auswirkungen auf das leibliche Lot haben kann; während beim Stillen die Brustwarze einer Brust als besonders abgehobene Leibesinsel durch das Saugen gespürt wird, ist die andere Brustwarze im Erleben noch eher mit der Brust als Ganze verschmolzen. Hier spielen aber ebenso gut Wechselwirkungen eine wichtige Rolle, wie dies schon bei der sexuellen Stimulation gezeigt wurde. Möglicherweise tritt beim Anlegen des Säuglings an die eine Brust bei der anderen Milch aus, oder es kommt zumindest zu einem geringen, aber doch spürbaren Herausheben der anderen Brustwarze. Mitunter führt schon das Saugen an einer Brust zu dem Empfinden der Erleichterung bei der anderen Brust, etwa wenn sich bei längerer Stillpause die angestaute Milch bereits unangenehm in prall gefüllten Brüsten bemerkbar gemacht hat. Hier tritt also ein Spektrum von Erfahrungen hervor, das sich auf das Spüren der einen oder der anderen Brust bezieht, sich aber gleichsam auf die Brüste als Paar wieder erstrecken kann. 4.2.3 Die Brustwarzen An den Brüsten werden drittens die Brustwarzen als darin eingebettete, herausgehobene Regionen gespürt und zwar – analog zu den vorangegangenen Kapiteln – als Paar und als je die eine oder die andere Brustwarze. Die Brustwarzen können als Leibesregionen einerseits völlig ergossen sein in die Empfindung der Brust als Einheit und insofern unbemerkt und ungespürt bleiben; man kann dann von ›versunkenen‹ Brustwarzen sprechen, wobei aber durchaus – bei besonderem Aufmerken – eine Region erspürt werden kann, die von anderer ›Fleischlichkeit‹ ist als die sie umgebende Brust. Andererseits sind die Brustwarzen empfänglich für vielfältige Eindrücke und Erregungsformen, in denen sie als herausgehobene Regionen explizit gespürt werden und dann sozusagen aus ihrem ›versunkenen‹ oder in die Leibesinsel Brust ›hineingegossenen‹ Zustand hervortreten. Zunächst sei dabei an den Temperaturwechsel, insbesondere zur Kälte hin, erinnert, der die Brustwarzen hart und steif werden lässt, d. h. sie heben sich plötzlich von der Brust als Leibesinseleinheit in einer besonderen Binnenstruktur ab. Gefühlt wird dieses Hart- und Steifwerden als runde 158 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Die Leibesinseln des weiblichen Geschlechtsleibes

und zugleich spitze Dichte und zusammengezogene Fülle – als rund wird die Region empfunden, die sich als Fläche an der Leibesinsel Brust heraushebt und als spitz, fest, dicht, voll, zusammengezogen und doch fokussiert wird ein Zentrum an dieser runden Region gespürt. In jedem Fall korrespondiert das sicht- und tastbare Hervortreten der Brustwarzen mit einer leiblichen Regung der Enge mit epikritischer Tendenz, die auch die Brust als Ganze betrifft, mit einer diffus zentrierten Spitze, an der sich das Erleben verdichtet. Das Hart- und Steifwerden der Brustwarzen ist ein Phänomen, das in der Regel durch seine Engungs- und Zusammenziehungstendenz unmittelbar ins Erleben drängt. An dem Leibesinselpaar bildet sich eine Binnenstruktur heraus, die verdichtet, auch körnig, mit Konnotationen von Fülle und Festigkeit gespürt wird. Die Brust als Ganze und diese Binnenstruktur gewinnen für das Empfinden eindeutig an Kontur und Solidität, und der Charakter der Körnigkeit kann sich von den Brustwarzen aus auf die gesamte Brust erstrecken, indem etwa eine sie überziehende ›Gänsehaut‹ eigens wahrgenommen wird. Mit dem Aufrichten der Brustwarzen erhält die je einzelne Leibesinsel Brust einen Schwerpunkt, ein spitzes, an ihrer Oberfläche sich manifestierendes Zentrum, das den Brüsten im Richtungsraum des Leibes einen besonderen Fokus erteilt. Sind die Brustwarzen ›versunken‹, werden die Brüste eher als formlose Masse gespürt, sind sie aufgerichtet, gewinnen sie an ihnen und von ihnen ausgehend Form, Fülle, Dichte. Der Eindruck, dass sich bei starker Kälte, besonders in Zusammenhang mit auf die Brust kommendem kalten Wasser, die Brüste engend an den Leib heranziehen, nimmt an den Brustwarzen als Binnenstruktur ihren Ausgang. Es gibt keine solche Engungserfahrung, ohne dass die Brustwarzen in Körnigkeit und Fülle erlebnismäßig beteiligt sind. Wenn sich also die Empfindung aufdrängt, die ganze Brust würde sich an den Körper heran- und zusammenziehen und fester werden sowie mehr Solidität erhalten, so spielt die Binnenstruktur der Brustwarzen dafür eine zentrale Rolle. Mit dem Beispiel des Wassers ist schon der Kontakt zwischen Brustwarzen und Außenwelt angedeutet, der von vielfältigen Reaktionsmustern an den Brustwarzen begleitet sein kann. Die Berührung der Brustwarzen, sei es durch Kleidung oder andere Gegenstände, durch den eigenen Leib oder andere Menschen, kann eine Veränderung im Erleben auslösen und die Brustwarzen als eigenständige Leibesregion einer auffallend gespürten Abhebung zuführen. Young (1990, 194) spricht sogar von einem Eigenleben in den Brustwarzen, wenn sie schreibt, dass die Sensibilität der sogenannten Nippels »often seems to have a will of their own, popping out at the smallest touch, change of temperature, or embarrassment«. Diese 159 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

II Topographie des weiblichen Leibes

Empfindlichkeit der Brustwarzen ist jedoch keine statische, gleichbleibende Größe, sie ist, und das scheint Young zu meinen, letztlich nicht im vollem Sinne berechenbar, wenngleich ihre Reaktionen bei Kälte doch einem unmittelbaren Ursache-Wirkungs-Verhältnis entspringen. Aber wie die Brüste selbst etwa in den einzelnen Phasen des Menstruationszyklus unterschiedlich erlebt werden, so variiert auch die Sensibilität der Brustwarzen. So sind Brüste Quelle und Ort sexueller Lust, wie Young hervorhebt: »For many women breasts are a multiple and fluid zone of deep pleasure quite independent of intercourse, though sometimes not independent of orgasm.« (ebd.) In der sexuellen Lust werden Brustwarzen als herausgehobene Leibesregionen an der Brust erlebt und zeigen eine Reihe von Reaktionen, die mit ihrem Hart-, Steif- und Festwerden bei Kälte eng verwandt sind. Die Brustwarzen als Erregungs- und jetzt auch Schwellkörper weisen jedoch erhebliche Veränderungen im Vergleich zu den ›versunkenen‹, ›weichen‹ oder durch Kälte aufgerichteten Brustwarzen auf. Was Frauen in der Sexualität an ihren Brustwarzen als Lust erleben, korrespondiert mit dem, was am Körper deutlich zu sehen und zu tasten ist, denn in der Lust kommt es nicht nur zu einem Hart-, Steif- und Festwerden der Brustwarzen, sondern außerdem zu einer Vergrößerung und tiefen Rötung derselben. In der an den Brustwarzen erlebten Wollust tritt dann im eigenleiblichen Spüren trotz der mit dem Aufrichten der Brustwarzen verbundenen Engungstendenz eine Weitungstendenz hinzu, und zwar hinsichtlich der erlebten Ausdehnung der Brustwarzen, ihrer spannungsgeladenen Erstreckung in den Raum. Diese Phänomene deuten auch den Unterschied zwischen dem eher neutralen, schlichten Sich-Aufdrängen der Brustwarzen als Binnenstruktur in der Kälteempfindung und dem lustbetonten Hart- und Steifwerden in der Sexualität an. Der in Spannung und Schwellung aufgebaute Drang zur Weitung kann dazu führen, dass – in einer zur Kälteempfindung gegenläufigen leiblichen Sensation – die Leibesinseln der Brüste in die nun eigenständig gewordenen Leibesinseln der Brustwarzen hinein diffundieren, d. h. kurz vor und in der sexuellen Gipfelerfahrung kann sich ein Leibesinselschwund der Brust hin zur vollständigen Leibesinselentfaltung der Brustwarzen ereignen. Der ›phallische‹ Charakter, den Brustwarzen in der sexuellen Erregung haben können, sowie die trotz steifer, harter Brustwarzen erlebte Weitungstendenz geht mitunter so weit, dass stillenden Frauen bei der leiblichen Liebe, insbesondere beim Orgasmus, Milch aus den Brustwarzen schießt oder spritzt. Das Stillen selbst, das ebenfalls eng mit dem Sich-Aufrichten, Steifund Hartwerden der Brustwarzen einhergeht, zeigt eine weitere Variante, 160 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Die Leibesinseln des weiblichen Geschlechtsleibes

in der die Brustwarzen als Binnenstruktur der Leibesinsel Brust erlebt werden. In Abhebung von der Kälteerfahrung mit ihrer Engungstendenz, tritt hier jedoch erneut auch die Weitung in den Vordergrund, die durch das Saugen des Säuglings zu Spannung und Schwellung und damit Ausdehnung in den Raum hinein führt. Im Unterschied zur Erfahrung der Brustwarzen bei der sexuellen Erregung, besonders beim Orgasmus, diffundiert aber nicht die Leibesinsel der Brust vollständig in die Binnenstruktur der Brustwarzen hinein; vielmehr bilden und bleiben beide durchaus eine Einheit, die allerdings einen verdichteten, körnigen Schwerpunkt an den Brustwarzen haben. Das hängt mit dem Saugen des Säuglings zusammen, das als leibliche Attraktion auf die gesamte Brust sich ausbreitend ausstrahlt. Hier handelt es sich um ein rhythmisches Geschehen der Einleibung, in dem zwei Aktivitätsimpulse ineinander fließen und dadurch gleichmäßig Engung und Weitung aneinander vermitteln. Interessanterweise werden beim Stillen an der Brustwarze weder Öffnungen gespürt, noch das konkrete Austreten der Milch oder der Milchfluss – ein Phänomen, das uns noch bei anderen weiblichen Körperöffnungen begegnet, die von Flüssigkeitsaustritt betroffen sind. Allerdings spüren Frauen das vom Saugen ausgelöste Drängen in die Weite hinein und das ›Leerwerden‹ ihrer Brüste als das Weichen von Schwere und Fülle.

4.3 Die genitale Zone Mit der genitalen Zone ist jene Leibesregion bezeichnet, die ihren Ort im sogenannten Schritt hat und damit quasi von unseren Blicken abgewendet, nach unten gerichtet ist und nur bei großer Gelenkigkeit oder mit einem Hilfsmittel (Spiegel) dem eigenen Auge gänzlich sichtbar ist. Erica Jong (1990, 346) hat den Aspekt der Verborgenheit und Unzugänglichkeit der genitalen Zone mit folgenden Worten reflektiert: »Das schlimmste daran, eine Frau zu sein, ist das Verborgensein, die Heimlichkeit des eigenen Körpers. Man verbringt praktisch seine gesamte Pubertät in der Rückenbeuge vor dem Badezimmerspiegel, in dem Bemühen, die eigene Möse auszukundschaften. Und was sieht man? Die gekräuselte Gloriole aus Schamhaar, die purpurnen Schamlippen (wieso eigentlich Scham?), den rosenfarbenen Alarmknopf der Klitoris – doch man sieht nie genug! Das Wichtigste bleibt unsichtbar. Eine unerforschte Schlucht, eine unterirdische Höhle, in der die verschiedensten verborgenen Gefahren auf der Lauer liegen.«

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Was wir dort am Körper sehen und tasten können, ist hinlänglich bekannt und kann oberflächlich und äußerlich als eine in Hautfalten gelegte ovale bzw. länglich gezogene, teils behaarte, teils aus grob strukturierten Hautschichten bestehende, meist asymmetrische Einheit bezeichnet werden, die aus vier sogenannten Lippen, den äußeren und inneren Schamlippen besteht. Mit der Bezeichnung Lippen ist vorgegeben, dass die Möglichkeit besteht, diese – wenn auch nicht willkürlich – zu öffnen, und mit der Öffnung der Lippen treffen wir auf das, was die Lippen verbergen und dieses Verborgene ist im Wesentlichen – wie der Mund – in ein feuchtes Milieu eingebettet und von einer anderen Oberflächenstruktur als die Lippen selbst und ihre unmittelbare Umgebung. Was in bzw. hinter oder unter den Hautfalten angetroffen wird, ist eine durch Sicht- und Tastbarkeit zu eruierende Vierheit, die physiologisch als Klitoris (am oberen Ende), Harnausgang (unmittelbar darunter), als Scheidenöffnung (am unteren Ende) und Vagina (im Körperinneren) bezeichnet wird. Das an dieser Körperregion bzw. an diesen anatomisch-physiologisch ausgewiesenen Stellen Gespürte bezieht sich einerseits gleichsam undifferenziert auf die genitale Zone als Einheit und andererseits auf ihre Binnenstruktur mit diffus ausstrahlenden Regungsherden, die sich als eigenständige Leibesinseln entfalten können. Bevor nun diese beiden Weisen des Spürens des weiblichen Genitals näher analysiert werden, sei – um der Definition willen und um Missverständnissen vorzubeugen – vorausgeschickt, dass man das, was die Physiologie als Vagina bezeichnet, was also sozusagen im Körper liegt, ebenso gut zur Leibesinsel des Unterleibs zählen kann und nicht zu derjenigen des Genitals. Das hat seine Gründe vor allem in der Tatsache, dass das, was hinter der Scheidenöffnung liegt, als Leibesinneres gespürt wird, in ähnlicher Weise, wie die Lippen des Mundes für sich gesonderte Regungsherde bilden, während der Mund als eine eigene und auch eigenständige Leibesinsel ins Spüren gelangt. Freilich können in dem Gewoge verschwommener Inseln, das den körperlichen Leib strukturiert, einzelne Leibesinseln ineinander diffundieren, und dies gilt für Mund und Lippen ebenso (etwa beim Essen oder beim Kuss) wie für Vagina und Schamlippen bzw. Genital. Dennoch gehört die Vagina für das leibliche Erleben – und hier sei in erster Linie auf die Sexualität verwiesen – unabdingbar zunächst einmal zur genitalen Zone in ihrer Einheit, auch wenn einzelne ihrer Regungen eher im Unterleib gespürt werden. Abschließend und auf die folgenden Ausführungen vorausgreifend sei gesagt, dass die Art, wie die genitale Zone ins leibliche Spüren gelangt, individuell sehr verschieden sein kann und durch die vielfältigen Ausprä162 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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gungen am Körper beeinflusst wird. Leider gibt es diesbezüglich keine einschlägigen Untersuchungen, die eine statistische Häufigkeit bestimmter Erfahrungen evaluiert hätten. Auch in der Frauenbewegung, die eine Vielzahl von Büchern über den Körper der Frau hervorgebracht hat, findet man eher anatomische Abhandlungen, weniger Analysen dessen, was als genitale Zone oder als deren Binnenstruktur eigenleiblich gespürt wird. In dem amerikanischen Klassiker »unser körper unser leben« finden wir z. B. in Zusammenhang mit dem Venushügel den stark am Körpermodell orientierten Hinweis, man könne »durch die Haut die Knochen der Symphyse (Schambein) fühlen« (Boston Women’s Health Book Collective, 1981, 51). Wann wäre je ein Knochen eigenleiblich gespürt oder gar gefühlt worden? Es kann nur gemeint sein, dass man durch Berührung an dieser Stelle auf etwas Hartes stößt, das dann als das Schambein identifiziert wird. Möglicherweise wird das Schambein auch bei gymnastischen Übungen schon einmal als Widerstand wahrgenommen, gefühlt wird es selbst aber nicht. Ferner heißt es über die Venuslippen, man könne »fühlen, daß sich das behaarte Gebiet zwischen deinen Beinen fettreich und weich anfühlt, genauso wie der Venushügel« (ebd.). Auch diese Aussage ist, wenngleich sie den wichtigen Aspekt der Weiche anspricht, zwiespältig, denn hier steht eher wieder das Tasterlebnis im Vordergrund, wobei zu fragen wäre, wie sich »fettreich« für die tastende Hand anfühlt. Mit dem Begriff der Weiche ist allerdings ein Aspekt genannt, der sich einer tastenden Hand ebenso aufdrängt wie dem Spüren dieser Region. Mit diesen Beispielen sei lediglich angedeutet, dass sich Frauen mittlerweile zwar sehend und tastend sowie anatomisch-physiologisch mit ihrem Genital auseinandersetzen und damit ein jahrhundertealtes Tabu abgeschafft haben, dass es jedoch keine – mir bekannten – Versuche gibt, das an der genitalen Zone und ihrer Binnenstruktur Gespürte nachzubuchstabieren. So sehen wir uns immer noch Begriffen für die komplexe Formation der Genitalzone gegenüber, die ich mit den erwähnten Einschränkungen noch aufgreifen muss, die aber ausschließlich am Körpermodell orientiert sind. Termini wie »Schamlippen«, aber ebenso das von Feministinnen als Substitut verwendete Wort »Venuslippen«, »Schamspalte«, die »Scham«, »innere« und »äußere« Schamlippen etc. suggerieren ein Körpermodell, das den Blick von außen, nicht aber die Dimension der eigenleiblichen Empfindung aufgreift. Es kann sich bei den folgenden Beschreibungen also nur um einen – vermutlich ziemlich begrenzten – Versuch des Nachbuchstabierens handeln, der durch weitere Forschungen und vor allem breite Befragungen noch fundiert werden muss. Hier sollen also 163 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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nur Richtungen vorgegeben werden, in denen sich das individuelle Erleben wahrscheinlich bewegt bzw. bewegen kann. 4.3.1 Die genitale Zone als Einheit Das Genital wird als die oben bezeichnete Gesamtheit im leiblichen Empfinden zunächst einmal als Einheit erlebt, also als eine Zone oder Region und d. h. ohne besondere Binnenstruktur und auch ohne ins Leibesinnere verweisende Anbindung. Was in dieser Gegend gespürt wird, ist völlig verschieden von dem, was dort zu sehen oder zu tasten ist. Es wird zwar bemerkt, dass die Oberfläche, die dort die Begrenzung des Körpers ausmacht, von anderer Beschaffenheit ist, als die Oberfläche der Haut etwa an Armen oder Beinen, dies aber vor allem in Bezug auf den Kontakt, den diese Region etwa mit der Kleidung hat. Gespürt wird eine ausgewiesene, diffus umrissene Leibeszone von spezifischer Beschaffenheit, die in dem geschützten Raum zwischen den Beinen angesiedelt ist. Als diese spezifische Beschaffenheit wird vor allem eine gewisse Elastizität und Weichheit wahrgenommen, aber auch eine ›fleischliche‹ Dichte und Dicke, die in verschiedenen Zuständen mehr oder weniger hervortreten und unterschiedliche Formen annehmen kann. Der Ort zwischen den Beinen bzw. am Beinansatz bildet für das Genital eine Zone, die eine gewisse Ähnlichkeit mit den Achselhöhlen hat, die ebenso natürlicherweise behaart sind. In der Tat schwitzen wir an den Achselhöhlen genauso wie am Genital, und in beiden Fällen wird das Schwitzen nicht als Schwitzen selbst gespürt, also als Abstoßung von Wasser aus Hautporen, sondern als sich ausbreitende Nässe, und zwar erst dann, wenn sich bereits eine bestimmte Menge des Schweißes, also von Feuchtigkeit, angesammelt hat. Dann nämlich fühlt sich die Haut in der Achselhöhle anders an, oder es wird die eingenässte Kleidung oder das Abfließen eines Schweißrinnsales gespürt. Das verhält sich beim Schwitzen am Genital ähnlich, nur dass das Genital nicht eigentlich in einer Höhle liegt und die Feuchtigkeit sich deshalb anders ausbreitet und in Nässe übergeht, und zwar primär an den äußeren, zum Beinansatz nach unten und zur Leistenbeuge nach oben hin gerichteten Rändern. Das Spüren des Genitals als Einheit steht noch in einer anderen Weise in schroffem Gegensatz zum Gesehenen und Ertastbaren. Was als ›feuchtes Milieu‹ am Körper ertastet werden kann – gemeint ist nicht mehr das Schwitzen und noch nicht die durch Blut oder Sexualsekret verursachte Nässe oder Feuchtigkeit – ist im leiblichen Empfinden völlig anders ge164 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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artet. Erspürt wird dort primär keine Feuchte oder Nässe, sondern Weiche und Elastizität; der Eindruck des Feuchten und Nassen kann sich jedoch bei einem wie auch immer gearteten Kontakt mit einem Gegenstand, z. B. einem Kleidungsstück, aufdrängen und ist an sich bereits in ein variables Spektrum gestellt, wobei man von einem mehr oder weniger dichten feuchten bzw. nassen Milieu sprechen kann. Schmitz (1995, 133) hat einmal von der Zunge als »weiche, schleimige Masse im feuchten Milieu des Speichels« gesprochen – diesen Speichel und das feuchte Milieu spüren wir nur bei Bewegungen der Zunge, nicht aber bei ihrem Stillstand. Das Genital nun verfügt nicht über eine ›Zunge‹, mit der das feuchte Milieu erspürt werden könnte, und insofern wird dieses nur durch Kontakt mit etwas Anderem wahrgenommen, und dann auch erst, wenn die Feuchtigkeit eine gewisse Dichte erreicht hat und in Nässe umschlägt. Die natürliche, mehr oder weniger dichte Feuchtigkeit des Genitals ist also eigenleiblich nicht als solche zu bemerken; allerdings muss angefügt werden, dass in den Blut-, Schleim-/Sekret- und Wassererfahrungen durchaus Feuchtigkeit, Nässe und der Abfluss von Flüssigkeit, ja sogar das ›Verflüssigen‹ des Genitalbodens selbst erlebt werden können. Unbekleidet und in stehender Körperhaltung lässt sich an dieser Leibeszone eine Verdickung und Verdichtung im Sinne einer leichten Auswölbung nach unten hin bemerken. Je nach Länge und Ausprägung der Hautfalten kann auch der Eindruck entstehen, dass etwas an dieser Zone herab- oder herunterhängt, das sich, beispielsweise beim Laufen, relativ frei, wenn auch träge, hin und her bewegt. Beim Sitzen wird diese Auswölbung als in die Breite gedrängte erlebt und namentlich beim Sitzen mit übereinandergeschlagenen Beinen als zusammengedrückte oder -geschobene, was auch mit dem Spüren der Elastizität korrespondiert. Spreizen wir dagegen die Beine leicht, so wird im Sitzen wie im Stehen eine diffuse Auswölbung in die Breite und minimal nach unten wahrgenommen. In verschiedenen Körperhaltungen und Bewegungen tritt die genitale Zone als Einheit vor allem durch ihre im Vergleich zu anderen ›Körperbegrenzungen‹ anders geartete ›Oberflächenstruktur‹ ins Erleben. Unter Körperbegrenzung und Oberflächenstruktur ist das zu verstehen, was wir dort spüren, wo unsere Haut ist, und in der Tat ist die Empfindung unserer Haut an den Armen und Beinen oder auch im Gesicht eine andere als am Genital, und zwar eine eher straffe und glatte, sogar leicht gespannte. Am Genital drängt sich der Eindruck auf, dass Weiche, Elastizität, und keineswegs straffe Spannung vorliegt, dass einzelne Hautpartien je nach Haltung und Bewegung ineinandergeschoben, übereinandergelegt und 165 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

II Topographie des weiblichen Leibes

hin- und hergeschoben werden, ohne zu ziehen oder gleich zu schmerzen, wie das bei straffer Haut der Fall wäre. Dieses Empfinden könnte auch als Biegsamkeit oder Dehnungsfähigkeit beschrieben werden, was sich in den Erfahrungen sexuellen Erlebens bestätigt, wo der Eindruck einer erheblichen Ausdehnung des gesamten Genitals entsteht. Während in der Alltagserfahrung die ›geometrische‹ Form dieser Leibesinsel eher als flach, oval und wenig voluminös oder ausgedehnt erspürt wird, scheint sie sich in der sexuellen Erregung als gefüllte, fast kugelartige Rundung und Ausbuchtung zu entfalten, die mit ihrer unteren Seite ein wenig über ihre sonstige Oberflächenbegrenzung hinausreicht, deren Hauptfülle sich jedoch im Richtungsraum des Leibesinneren befindet. Bei Kälte- und Wärmeeinwirkung kann eine Veränderung der genitalen Zone in ihrer ›geometrischen‹ Form erspürt werden: Beim Frieren scheint sie sich als Einheit zusammenzuziehen und zu verkleinern, sich gleichsam einzufalten, sich ins Leibesinnere zurückzuziehen und auch zu verhärten; ihre flache und ovale Ausdehnung scheint sich geradezu auf eine schmale Ebene hin zu fokussieren. Wärme kann mitunter den Eindruck einer leichten Ausdehnung und Vergrößerung hervorrufen, zusammen mit einer sich ausbreitenden Verweichlichung und Elastizität; diese Ausdehnung findet aber in den Dimensionen des Flachen und Ovalen statt und entfaltet sich nicht, wie in der sexuellen Erregung, zu einer durch Fülle gekennzeichneten Rundung. Die genitale Zone ist von besonderer Empfindlichkeit für Lust- und Schmerzsensationen. Entsprechend der Einbettung des Genitals in den geschützten Raum zwischen den Beinen ändert sich das hier Gespürte in verschiedenen Körperhaltungen und es besteht eine Tendenz, sei sie nun anerzogen oder natürlich, diese Zone in einem geschützten Zustand, also etwa von aneinander gelegten oder übereinander geschlagenen Beinen umschlossen, zu belassen, eine Tendenz, die in der sexuellen Erregung in ihr Gegenteil gewendet wird. In der Alltagserfahrung wird die Einheit, die das Genital bildet, als von einer bestimmten Empfindlichkeit durchdrungen erlebt, die aber im Grunde unauffällig bleibt und nur in besonderen Situationen zum Bewusstsein kommt. Nicht nur die Beine schützen diese Zone, auch die Arme, vor allem die Hände befinden sich in der relativ-örtlichen Lage, die Region zu bedecken bzw. abzudecken und zu schützen. Bei Strafstößen im Fußballspiel ist die Umhüllung des Genitals durch die Hände eine auffällige Handlung der Männer, doch auch Frauen kennen diese Geste, und es ist anzunehmen, dass bei Männern wie Frauen neben dem Gesicht die Genitalien die empfindlichsten Leibeszonen sind, die im Falle eines tätlichen Angriffs reflexartig geschützt werden. Jedoch sind auch die 166 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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weiblichen Brüste ausgesprochen verwundbar und werden von Frauen mit Schutzhandlungen bedacht. Die genitale Zone ist dem weiblichen Leiberleben aber nicht nur passiv gegeben, wie das bei den Brüsten der Fall ist. Sie steht auch ohne Zuhilfenahme der Glieder durch einen willentlichen Zugriff zur Verfügung, der sich eines umfangreichen Konglomerats von Muskelpartien bedienen kann. Die genitale Zone ist eingebettet in eine Vielzahl von Muskelsträngen, die auf die anale Zone übergreifen und in bestimmten Impulsen diese beiden Zonen aneinander binden. Selbst wenn diese Verfügbarkeit in der Regel nur in bestimmten Situationen praktiziert wird bzw. Anwendung findet, z. B. beim Urinieren, können willkürliche Initiativen von Engung und Weitung bzw. Spannung und Schwellung die genitale Zone jederzeit an ihrem relativen Ort zu Bewusstsein bringen. Das ist ein fundamentaler Unterschied zum Erleben der Brüste: Während die Brüste in der Alltagserfahrung vor allem dadurch gespürt werden, dass sie in ihrer räumlichen Ergossenheit am oberen Leib auf Körperhaltungen und Bewegungen oder auf Berührungen respondierend reagieren, bleibt die genitale Zone, wenig ausgewölbt und vorstehend, kaum als ›fleischliche‹ voluminöse Masse hervortretend, von Bewegungen mehr oder weniger unbeeindruckt, ist aber durch willentlich vollziehbare Kontraktionen im Zugriff. Andererseits ist die genitale Zone visuell nicht in der Weise zugänglich wie die Brüste. Wenn das Körpermodell oder umgangssprachliche Redewendungen suggerieren, das weibliche Genital bestünde aus verschiedenen Teilen bzw. Separata, etwa aus einer Spalte, Rändern bzw. Ränderpaaren, einem Kanal, einem ›Loch‹ oder aus einer ›Ansammlung von Löchern‹, so sei nochmals betont, dass die genitale Zone im leiblichen Spüren völlig anders repräsentiert ist, normalerweise als in sich geschlossene Einheit. Es bedarf eingehender Analysen der Empfindungen an Körperöffnungen, die in dieser Arbeit weiterverfolgt werden, um sich über die Diskrepanz zwischen dem Gesehenen und Ertasteten und dem dort Gespürten Rechenschaft abzulegen. In diesem Kapitel ging es vor allem darum darzustellen, was als genitale Zone durch Spüren wahrgenommen wird, eine zwar diffus umgrenzte, aber doch eindeutig als Einheit aufgewiesene Region, die im alltäglichen Leben relativ unaufdringlich bleibt. In bestimmten Erfahrungen ist diese Zone aber von immenser Bedeutung, mitunter für das gesamte leibliche Befinden, und wird dann mit einer Binnenstruktur erlebt, innerhalb derer sich wiederum Leibesinseln entfalten können.

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4.3.2 Die Binnenstruktur der genitalen Zone Die genitale Zone tritt in dem Gewoge verschwommener Inseln, das den körperlichen Leib ausmacht, erst dann in hervorgehobener Weise ins Bewusstsein, wenn sich an ihr Veränderungen oder Regungen und Sensationen abspielen. Wenngleich selbst dann das Genital primär als eine Einheit empfunden wird, ist in verschiedenen Situationen und Erfahrungszuständen eine Binnenstruktur erspürbar, die in fünffacher Weise entfaltet ist. Um diese Binnenstruktur eindeutig zu machen, beziehe ich mich auf die von der Anatomie vorgegebenen Bezeichnungen, also Schamlippen, Harnausgang, Klitoris, Scheidenöffnung und Vagina, wobei es weiterhin um das Spüren geht, das sich in der Gegend dieser am Körper sicht- und tastbaren Stellen abspielt bzw. ereignet. 4.3.2.1 Schamlippen Gewisse Charakteristika beim Spüren des Genitals verwiesen bereits auf die Schamlippen als seine sichtbare Umschließungsregion. Schamlippen bilden in der Binnenstruktur des Genitals eine besondere Region, allerdings werden in keiner Weise klar begrenzte Lippen, geschweige denn ein äußeres und ein inneres Lippenpaar wahrgenommen. Auch die an den äußeren Schamlippen vorhandene Beharrung tritt nicht ins eigenleibliche Spüren, was im übrigen für die Körperbehaarung generell zutrifft. Das in der Gegend der Schamlippen Empfundene ist eher, wie oben erwähnt, als Weiche, Biegsamkeit und Elastizität zu beschreiben. Darin kann kein Unterschied zwischen äußeren und inneren Schamlippen oder überhaupt einer paarweisen Ausrichtung ausgemacht werden, und in der alltäglichen Erfahrung wird dort auch nicht eine Region erlebt, die entweder geöffnet oder geschlossen ist oder die Potenz zur Öffnung hat. Gespürt wird ein Konglomerat dichter Hautfalten bzw. eingefalteter Haut, die aber nicht als solche klar umgrenzt sind bzw. ist. An den Schamlippen können keine eigenleiblichen Bewegungen vorgenommen werden, d. h. sie sind passiv und passen sich jeweils den Haltungen und Bewegungen des Leibes an. Im Stehen ›zieht‹ die Schwerkraft sie – je nach Ausmaß – geringfügig nach unten, beim Laufen schwingen sie mit einer gewissen Trägheit in der Bewegung des Leibes mit, beim Sitzen werden sie zusammengedrückt oder -geschoben, beim Spreizen der Beine werden sie in die Breite gezogen – dies alles manifestiert sich aber unaufdringlich, so dass nur ein besonderes Aufmerken diese Phänomene ins Erleben bringt. In ihrer eigentümlichen Passivität reagieren sie gegenüber 168 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Die Leibesinseln des weiblichen Geschlechtsleibes

Kälte und Wärme mit Zusammenziehung und Ausdehnung. Während bei Kälte eine Engung und Verkleinerung der Schamlippenregion als Ganze möglich ist, kann es bei Wärme mit der damit verbundenen Weitung nicht nur zu ihrer Ausdehnung kommen, sondern ebenfalls zu der Empfindung eines Auseinanderklaffens, die aber unterschieden werden muss von der Empfindung des ›Sich-Öffnens‹ in der sexuellen Erregung. Andererseits kann der Eindruck, dass dort etwas auseinander klafft, auch unabhängig vom Einfluss der Wärme entstehen, etwa bei starker Spreizung der Beine. Dann mag sich das Empfinden aufdrängen, dass die vorher ununterschiedene Einheit sich nun in zwei längliche Regionen in einer unspezifizierten Mitte aufzieht. Die Lippen – der Anatom würde sagen, die inneren Schamlippen – lösen sich voneinander ab. Gespürt wird aber lediglich dieser Moment des Ablösens, denn danach bildet das Konglomerat von Hautfalten für das Erleben bereits wieder eine Einheit. Die momenthaft wahrgenommene ›Spaltung‹ der Schamlippen betrifft nicht die genitale Zone als solche, sondern jene spezifische Binnenstruktur an deren nach unten gerichteter Oberfläche. Allerdings kann sich nach dem Auseinanderklaffen der Lippen der Gesamteindruck der genitalen Zone für das eigenleibliche Spüren verändern. Jetzt, wo die Lippen ›geöffnet‹ sind, tritt eine weitere, anders empfundene ›Hautbegrenzung‹ des Genitals ins Erleben, jetzt ist gewissermaßen eine neue Region freigelegt, die auf Luftzug, die Berührung durch Wasser, Kleidung, Gegenstände oder die streichelnde Hand anders, sensibler reagiert als zuvor, wo dieser Bereich von den Hautfalten umschlossen war. Es gehört zu den Alltagserfahrungen am weiblichen Genital, dass die Schamlippen in der Regel geschlossen sind und eine Einheit bilden, die durch das Auseinanderklaffen kurzfristig aufgehoben wird, um einer anderen Erfahrung Raum zu geben. Hierbei darf jedoch nicht aus dem Blick geraten, dass es sich um reaktive Erfahrungen handelt. Die Schamlippen lassen sich nicht durch einen Willensakt öffnen, sie können sich aber von selbst bei bestimmten Haltungen (z. B. bei weit gespreizten Beinen), in bestimmten Umgebungen (z. B. im warmen Badewasser) und insbesondere in der sexuellen Erregung ›öffnen‹. Die momenthafte Empfindung einer oberflächlichen ›Spaltung‹, die eigentlich viel eher die herausgehobene Empfindung einer weniger dichten ›Mitte‹ ist, tritt erst auf, wenn die Schamlippen sich öffnen; es können dann gewisse Verdichtungen als längliche Regionen ausgemacht werden, die sich um diese leichte, lockere Mitte herum gruppieren. Bei ganzleiblicher Weitung im warmen Badewasser kann dieses spezifische Sich-Öffnen der Lippen deutlich gespürt werden, u. a., weil jene Mitte, die von den 169 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

II Topographie des weiblichen Leibes

Lippen nun freigegeben wird, in unmittelbaren Kontakt mit dem Wasser gerät. In der sexuellen Erregung treten noch andere Erlebnisweisen der Schamlippen ins Bewusstsein. Diese sind jetzt insbesondere durch Fülle, Ausdehnung und Schwellung gekennzeichnet, wobei sich der viel beschworene Lippencharakter auch hier im eigenleiblichen Spüren nicht primär manifestiert. Fülle, Schwere, Ausdehnung und Schwellung werden nämlich an den Lippen, d. h. an dem Konglomerat von Hautfalten, als Einheit gespürt, möglicherweise mit einem Schwerpunkt im hinteren und unteren Bereich, wobei man dann von einer Leibesinselentfaltung sprechen kann, da sich im Unterschied zur sonst spürbaren Binnenstruktur der Schamlippen nun eine auffallende Voluminosität abhebt. Es ist jetzt wieder nur dieser kurze Moment des Aufklaffens, in dem von zwei Seiten eines Ganzen auch im Erleben gesprochen werden kann, das unmittelbar danach wieder zur Einheit diffundiert. Allerdings besteht ein großer Unterschied zwischen dem Erlebnis des Auseinanderklaffens im sexuell erregten oder nicht erregten Zustand, da die Binnenstruktur der Schamlippen in der sexuellen Lust eine spürbar andere räumliche Ausdehnung annimmt und insbesondere an Empfindungen der Fülle, auch der Schwere und der Schwellung gekoppelt ist. Was auseinander klafft, kann sich auch wieder zusammenfügen. Was aber im Bereich der Sicht- und Tastbarkeit sofort auszumachen ist, dass nämlich die Schamlippen wieder geschlossen sind, muss leiblich nicht unbedingt bemerkt werden. Eigentümlicherweise wird das ›Sich-schließen‹ der Schamlippen eher selten, wenn überhaupt, gespürt, da es sich in der Regel allmählich vollzieht, also nicht den Charakter einer Plötzlichkeit hat. Das Zusammenschieben der Schamlippen wird eher in Form des Bewirkten erlebt, so dass nun die von den Lippen bedeckte Binnenstruktur des Genitals nicht mehr in unmittelbarem Kontakt zur Außenwelt, sprich zu Lufteinwirkung oder Berührung steht. Die Schamlippen können nicht selbst, d. h. ohne Zuhilfenahme unserer Gliedmaßen, ›geöffnet‹ oder ›geschlossen‹ werden, so, wie mit den Lippen der Mund geöffnet oder geschlossen wird. Auch die starken Muskelstränge, die in das Genital eingebettet sind, haben keinen Einfluss auf den Zustand ihres Auseinander- oder Ineinandergeschoben-Seins. Das bedeutet: Die Schamlippen, gewöhnlich ineinandergeschoben und verwoben, ›öffnen‹ sich in bestimmten Situationen von selbst bzw. schieben sich auseinander und wieder zusammen. Dem Öffnen korrespondiert aber nicht ein Erlebnis des ›Öffnens‹, d. h. die Lippen werden nicht als Ausgangsort oder -region für einen Zugang ins Leibesinnere empfunden. Vielmehr tritt das ›Öffnen‹ als Verschiebung und Verlagerung der als Einheit erlebten 170 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Die Leibesinseln des weiblichen Geschlechtsleibes

Hautfalten ins eigenleibliche Spüren, wobei kurzfristig eine weniger körnige, weniger dichte Mitte bemerkt wird. Schamlippen sind pathisch gegeben und manifestieren – wie die Brüste – einen Eigenwillen, der zwar in gewissem Umfang, aber nicht gänzlich berechenbar, geschweige denn durch willentlichen Einfluss zu manipulieren ist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Schamlippen im eigenleiblichen Spüren weder als symmetrisches Paar noch als zwei nach außen und innen differenzierte symmetrische Paare von Lippen repräsentiert sind, sondern als eine aus Hautfalten zusammengefügte Einheit, die sich in sich und an ihrer Oberfläche weich, dicht und elastisch anfühlt, die sich in verschiedenen Körperhaltungen und Bewegungen verändert, also zusammengeschoben oder auseinandergerückt wird, die als Leibesinsel anschwellen und sich ausdehnen kann, die als Fülle und/oder Schwere mit diversen Schwerpunkten ins Erleben tritt und an der momenthaft beim ›Auseinanderklaffen‹ eine diffus umgrenzte, weniger dichte Mitte bemerkt wird, die sich danach sofort wieder in die Einheit auflöst. 4.3.2.2 Harnausgang Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Topographie des menschlichen Leibes, dass sich in der Region der Geschlechtsteile eine wichtige, nicht mit Sexualität oder Fortpflanzung in Verbindung stehende Körperöffnung befindet – beim Mann noch enger zusammenhängend als bei der Frau. Dieser Bezirk des weiblichen Genitals weist in Sicht- und Tastbarkeit bei auseinandergeschobenen Schamlippen ein winziges Loch, das des Harnausgangs auf. Vergegenwärtigen wir uns aber, was dort gespürt wird, so wäre es lächerlich, zu behaupten, es würde jemals ein Loch bemerkt. Die als Harnausgang bezeichnete Binnenstruktur ist dem alltäglichen Erleben nur in einer ganz bestimmten Situation gegeben, dem Vollzug des Urinierens. Es bildet sich hier überhaupt erst eine herausgehobene Insel innerhalb der Einheit der genitalen Zone, wenn dem Urin durch einen Willensimpuls das Abfließen gestattet wird. Diese bei Erwachsenen automatisierte Betätigung besteht, wie Anatomen sagen, in Muskelkontraktionen. Muskeln oder Muskelgeflechte werden zwar nicht als solche gespürt, wohl aber in deren Gegend das Erzeugen von Engungs- und Weitungsimpulsen (Anspannung, Entspannung), das hier den Urinfluss willentlich lenkt. Gleichwohl lassen sich diese Impulse, die auf das ganze Genital ausstrahlend und keineswegs ausschließlich an der Insel des Harnausgangs empfunden werden, auch außerhalb des Urinierens initiieren. Was im Vollzug des Urinierens konkret gespürt wird, lässt sich eher als ein nach unten gerichtetes 171 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

II Topographie des weiblichen Leibes

›Abfließen‹ und ›Freigeben‹ charakterisieren, das normalerweise mit nachlassendem Druck und einer gewissen Erleichterung am unteren Unterleib einhergeht, wobei dieser Eindruck durch Spannung der unteren Bauchmuskulatur verstärkt werden kann. Es gibt verschiedene ineinander übergehende Varianten des Verströmens, in einem mehr oder weniger dichten und gebündelten, auch mehr oder weniger schweren, harten Strahl oder auch einem leichten, versiegenden, ins Tröpfeln übergehenden Schwall. Das Urinieren wird also in der Weise gespürt, dass gewisse Regionen an der genitalen Zone in Engung und Weitung versetzt werden und dabei etwas, das als Widerstand jetzt konkret am Regungsherd der Harnöffnung zu spüren ist, freigesetzt wird. Dabei ist – wie erwähnt – das Genital als Ganzes beteiligt, weil die Engungs- und Weitungstendenzen nicht ausschließlich die Region des Harnausgangs betreffen. Diese wird erst durch das Heraustreten des Urins fokussiert, wenn sie sich an ihrem materiellen Referenten als herausgehobene Struktur verdichtet. Durch die bewusste Einflussnahme beim Urinieren steht das dort angesiedelte Regungspotenzial in einem gewissen Maß zur Verfügung. Das Herausdrängen der Flüssigkeit kann willentlich unterbrochen und wieder aufgenommen werden und damit, wie z. B. bei Übungen gegen Harninkontinenz, den zu steuernden Dialog von Enge und Weite deutlicher zu Bewusstsein bringen als das außerhalb des Urinierens möglich wäre, weil dabei eine Arbeit am Widerstand erfolgt. Gespürt wird aber, um es noch einmal zu betonen, keineswegs ein Schließmuskel, der betätigt würde, und schon gar nicht ein auf den Harnausgang selbst isoliert gerichteter Muskel. Vielmehr wird eine abgehobene, dichte Struktur bemerkt, die sich mit dem Willen weitet oder verengt, die aber weit über die Gegend des Harnausgangs bis hin zum anderen Ende der genitalen Zone hinausreicht. Das Bewirkte dieses Prozesses tritt ins Erleben, wenn die Flüssigkeit verströmt, und selbst in diesem Moment wird kein wie auch immer geartetes Loch gespürt. Es gibt im Normalfall ebenfalls kein leibliches Empfinden einer Ansammlung von Flüssigkeit im Leibesinnern; selbst in Zuständen, in denen wir, wie der Volksmund sagt, »das Wasser kaum noch an uns halten können«, fehlt im eigenleiblichen Spüren jegliche Repräsentation einer ›gefüllten Blase‹, also eines konkreten Orts, an dem Flüssigkeit einlagert. Der Harndrang selbst ist wiederum eine leibliche Regung, die sich gar nicht unmittelbar auf die Harnöffnung bezieht, sondern sich im unteren Unterleib als Druck oder Schwere und u. U. leicht geschwollene Dichte und Fülle mit Richtungstendenz nach unten manifestiert. Dass es sich aber um Flüssigkeit handelt, die für diese Regung verantwortlich ist, wird erst zum Erlebnis, wenn sie abfließt und heraustritt. 172 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Die Leibesinseln des weiblichen Geschlechtsleibes

Ist der Strahl versiegt, folgt die Erfahrung des Tropfens, umgangssprachlich auch »Nachtröpfeln« genannt. Dabei wird in exponierter Weise bemerkt, dass die genitale Zone nass wird. Während der Druck des Urinstrahls das Wasser zunächst bündelt und mit der Schwerkraft entsprechend fokussiert abströmen lässt, verlaufen sich die nachfolgenden Tropfen eher ohne Schwere auf der Haut bzw. auf den Hautfalten, in die der Harnausgang nun einmal eingebettet ist, und nässen diese ein. Das Gefühl der Nässe am Genital ist wohl der Grund dafür, dass man Mädchen in ›zivilisierten‹ Kulturen dazu anleitet, sich nach dem Urinieren mittels eines Gegenstandes die verlaufende Nässe von der Oberfläche des Genitals abzustreifen. Dieser Ritus, der eng verflochten ist mit anderen an der genitalen Zone vorgenommenen Hygienemaßnahmen, bezeichnet freilich eine spezifische Form des gendering, die Frauen vor Probleme stellt, wenn das Toilettenpapier als ›zivilisatorische Errungenschaft‹ nicht vorhanden ist. Schon das Urinieren in freier Natur stellt für viele Frauen unseres Kulturkreises eine schwierige Situation dar: Ungeübt im Urinieren ohne stuhlähnliche Sitzgelegenheit, sind sie aufgrund der Gegebenheiten des Harnausgangs gezwungen, eine hockende Körperstellung einzunehmen und dem Abfluss besondere Aufmerksamkeit zu schenken, um nicht außerhalb des Genitals einzunässen. 4 Die spezifische Nässe, die sich ohne den Ritus des Abstreifens oder vergleichbare Körpertechniken 5 am Genital vor allem durch einnässende Kleidung bemerkbar macht, wird als unangenehm empfunden, besonders dann, wenn sie abkühlt und etwa in einem Luftzug als kalte Nässe einwirkt. Hier erweist sich die Oberfläche der genitalen Zone als ungemein empfindlich. 4.3.2.3 Klitoris Die für das leibliche Erleben wohl wichtigste Region der genitalen Zone ist der als Klitoris bezeichnete ›Schwellkörper‹ am vorderen, oberen Teil der Scham, der seit dem 20. Jahrhundert offiziell als das wesentliche Sexualorgan der Frau gilt. 6 Ebenso wie den Brustwarzen im Gefüge der Brüste 4

Jong thematisiert diese Aspekte in einem Roman (1990, 395): »Am Straßenrand pinkeln ist in der Theorie entzückend rousseauisch, doch in der Praxis bleibt man davon klebrig im Schritt. Für eine Frau hat es zudem den Nachteil, daß man sich in die Schuhe pinkelt. Oder auf dieselben.« Hier zeigt sich freilich auch die ›überzivilisierte‹ Amerikanerin, die mit diesen Vorgängen keine Übung hat und sich vielleicht deshalb nicht vorstellen kann, dass der zuletzt genannte Sachverhalt nicht zwingend eintreten muss. 5 Z. B. ruckartige, abschüttelnde Bewegungen des Beckenbodens. 6 Die Klitoris war als Sexualorgan schon länger bekannt, insbesondere seit der »wissenschaft-

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II Topographie des weiblichen Leibes

eine eigentümliche Rolle zukommt, ist die Klitoris im Gefüge des Genitals von herausragender Bedeutung. Sie kann sich zu einer Leibesinsel entfalten und von intensiven Regungen und Sensationen betroffen sein, die nicht allein die gesamte genitale Zone metamorphotisch verändert, sondern auch den Leib als Ganzen mitreißt. In diesem Sinne kann man einerseits von Zuständen sprechen, in denen das gesamte Leiberleben in die zur Leibesinsel entfaltete Klitoris diffundiert, also alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, und andererseits von Erlebniszuständen, in denen das an dieser Leibesinsel fokussierte Erleben sich in die Leibesganzheit hinein streut, sowie von verschiedenen Erlebnisformen, die sich zwischen diesen beiden Polen bewegen. Bei den Verrichtungen des Alltags ist die Binnenstruktur der Klitoris in der Regel völlig unaufdringlich, sie kann aber, da sie auf Einwirkungen von außen besonders sensibel reagiert, schnell als eine herausgehobene ›Stelle‹ zum Bewusstsein kommen. Der Druck, der etwa beim Fahrradfahren oder in allzu enger Kleidung auf den Boden des Genitals als Ganzes wirkt, wird vor allem an der Klitoris, also im vorderen und oberen Bereich des Genitals, empfunden, ohne dass eine scharf umrissene Quelle ausgemacht werden könnte. Da die Klitoris in den fleischlichen Falten des Genitals mehr oder weniger verborgen, in jedem Fall jedoch eingebettet ist in eine Oberflächenstruktur des Leibes, die sich durch Weiche und Elastizität auszeichnet, ist ihr spezifischer Ort in gewissem Umfang variabel. Die Klitoris ist in Grenzen verschiebbar und kann ihren Ort mit den Körperhaltungen und -bewegungen verändern, wenngleich sie sich nicht durch einen Willensimpuls bewegen lässt und auch von den beim Urinieren ausgelösten Engungs- und Weitungsimpulsen nahezu unbetroffen bleibt. Sie ist als Binnenstruktur des Genitals völlig verschieden von der Region der Harnöffnung, die gleichsam straffer und enger am Leibe anliegt, weniger beweglich ist. Die Klitoris wird dagegen als körnige Struktur mit einer gewissen Ausdehnung und Festigkeit gespürt, als kleine, dichte, auch füllige Auswölbung, die aber in die sie umgebende Region mit diffus ausstrahlenden Rändern eingegossen ist. Die meisten an der Klitoris gespürten leiblichen Sensationen spielen sich im Rahmen der sexuellen Erregung ab, wobei es zu einer durch Spanlichen« Erforschung der Lust im 16. Jahrhundert. So wurde von dem Venezianer Renaldus Columbus die Klitoris als »Sitz der weiblichen Lust« bezeichnet und ihre Stimulierungsmöglichkeiten beschrieben. Ärzte und Hebammen rieten zur Stimulierung der Klitoris beim Geschlechtsverkehr, um die Empfängnis zu erleichtern und das weibliche Verlangen zu befriedigen. Vgl. Young-Eisendrath, 1999.

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Die Leibesinseln des weiblichen Geschlechtsleibes

nungs- und Schwellungszustände evozierten herausgehobenen Strukturbildung in dieser Region kommt, die zu einer Leibesinselentfaltung des ganzen Genitals führen, also von der als Binnenraum gespürten Klitoris unvermittelt auf das Genital als solches übergreifen kann. Es handelt sich – will man einen Vergleich anführen – bei diesen Phänomenen um eine Umkehrung dessen, was in der sexuellen Erregung an den Brustwarzen und mit den Leibesinseln der Brüste geschieht. Während in der sexuellen Stimulation der Brustwarzen die Leibesinseln der Brüste gleichsam in den Brustwarzen ›verschwinden‹, in die Teilinseln zugespitzt einschmelzen, strahlt die Erregung der Klitoris auf das Ganze des Genitals aus und diffundiert sukzessive sich ausbreitend in die genitale Zone selbst, um schließlich in der Gipfelerfahrung an einem anderen, wesentlich weiter und u. U. auch anders lokalisierten Ort das Verströmen in die Weite zum Erleben zu bringen. 7 Die bis zum ›Zerreißen‹ aufgebaute Spannung und Schwellung, die als an der Klitoris evoziert und von ihr ausgehend wahrgenommen wird, ›entlädt‹ sich quasi am Genital als Ganzem, das dann eine völlig andere räumliche Ausdehnung im leiblichen Spüren erhält. Im Zustand fortgeschrittener Erregung scheint die zur Leibesinsel entfaltete Klitoris ihren fokussierten Ort zu verlieren und das Potenzial des Dialogs von Spannung und Schwellung auf andere Regionen der genitalen Zone zu übertragen oder an andere Schwerpunkte, d. h. neu sich bildende Leibesinseln, z. B. in der Vagina, abzugeben, wobei es aber ebenso gut wieder ›zurückfließen‹ kann, um erneut einen Fokus an der Klitoris zu nehmen und schließlich abermals andere Leibesinseln einzubeziehen. Es handelt sich um ein eigentümliches Phänomen des Ineinander-Verwoben-Seins mehrerer Leibesinseln, das aber ausschließlich in der sexuellen Erregung Interaktionen entfaltet und auch nicht in gleichförmige Automatismen aufgeht, sondern ein vielfältiges Spektrum wechselseitiger Diffusionen aufweist. Die Erfahrung der ›Erlösung‹ oder ›Erleichterung‹, die mit dem Orgasmus einhergeht, gemeint ist die Erlösung von der lustvollen bis zum Zerbersten aufgebauten Spannung und Schwellung, scheint sich in diesem Wechselspiel von Transformationen jedenfalls nicht zwingend an einem klar definierten Ort, wie etwa ausschließlich der Leibesinsel der Klitoris, zu ereignen, sondern am Genital als Ganzem, das sich dann als eine ungegliederte, nicht mehr in Teilinseln zerlegbare Einheit entfaltet hat. 7

Die neueste anatomische Entdeckung von 1998 bestätigt auch von biologischer Seite die gerade beschriebenen Vorgänge. Die australische Ärztin Helen O’Conell fand heraus, dass die Klitoris keineswegs nur wenige Millimeter bzw. maximal ein bis zwei Zentimeter groß ist (was sich auf ihren sichtbaren Teil bezieht), sondern ungefähr zehn Zentimeter in das Körperinnere und die Vagina hineinragt.

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II Topographie des weiblichen Leibes

In der Komplexität dieses Geschehens ist wohl die Tatsache begründet, dass Frauen bei den verschiedenen Erklärungsversuchen zur weiblichen Sexualität, unabhängig von ihren jeweiligen Konnotationen, stets ein gewisses Unbehagen empfinden, zumindest aber eine Unvollständigkeit im Hinblick auf ihr eigenes Erleben konstatieren. So muss in Bezug auf den oben beschriebenen Phänomenbezirk nicht nur der Freudsche Dualismus von klitoridalem und vaginalem Orgasmus aufgegeben werden, sondern auch die in feministischen Kreisen gerne vertretene Auffassung, es gäbe keinen vaginalen Orgasmus. Wenngleich die aus dieser Richtung stammende Rehabilitation klitoridalen Erlebens unbedingt ihre Berechtigung hat, da der Zyklus sexuellen Erlebens in jedem Fall von der Leibesinselentfaltung der Klitoris abhängt, wird in ihr doch vernachlässigt, dass der Fokus der Erregung dort nicht unbedingt verweilt bzw. verweilen muss. In gesteigerter sexueller Erregung kommt es zu einer Leibesinselentfaltung des Genitals als solchem, mit verschieden lokalisierten und ineinander diffundierenden Erregungszonen. Das Genital wird in seiner vollen Gestalt als eigenständige Insel erst im orgasmischen Verströmen in die Weite gänzlich Erfahrung. Hier wird eine erhebliche Vergrößerung und Ausdehnung der genitalen Zone, ja Fülle, Dichte und Schwere erlebt, die sich um einen bestimmten Regungsherd in dem verschwommenen Gefüge mehrerer Leibesinseln herum kristallisiert und häufig auf den Unterleib ausstrahlt. Kurz vor und in der sexuellen Gipfelerfahrung kann es dazu kommen, dass vom Leibe zunächst nichts weiter gespürt wird als diese eine Leibesinsel, in die sich das Leiberleben aufgelöst hat, um dann von diesem Ort aus, der zum ›Zerbersten‹ voll von Spannung und Schwellung ist, eventuell auch über Spannungs- und Schwellungsphänomene am Unterleib, in die Weite der ›Leiblosigkeit‹ hin wiederum zu ›entschwinden‹. In diesen Momenten wird möglicherweise die Räumlichkeit des gesamten Leibes nicht mehr wahrgenommen, sie kehrt aber in das Erleben zurück und bleibt dann eine gewisse Zeit noch an der Leibesinsel des Genitals fokussiert, um später wieder in das verschwommene Gefüge des Leibesganzen zu diffundieren. 4.3.2.4 Scheidenöffnung Am hinteren Ende des Leibesinselbodens des Genitals befindet sich die Scheidenöffnung, die als Körpereingang und -ausgang fungiert. Zur Natur der Körperöffnungen und ihrem Gespürt-Werden muss wiederholt werden, was bereits für den Harnausgang galt: Selbst wenn eine Öffnung sicht- und tastbar ist, wird sie nicht als solche gespürt. In ähnlicher Weise werden z. B. die Nasenlöcher in der alltäglichen Erfahrung nicht gespürt, 176 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Die Leibesinseln des weiblichen Geschlechtsleibes

allenfalls dann, wenn ein Schnupfen die Atmung behindert und wir dann sagen, »ein Nasenloch ist zu«, weil wir den Strom des Atems nicht mehr oder nur noch an der linken oder rechten Seite spüren können oder, um ein anderes Beispiel zu nehmen, wenn wir uns bei erheblichen Minustemperaturen im Freien aufhalten und uns die Kälte in die Nase zieht. Gleichwohl bildet die Scheidenöffnung eine herausgehobene Region innerhalb des Genitals, auch und vor allem hinsichtlich des Austretens von Flüssigem und Festem. Die den Scheidenausgang passierenden Flüssigkeiten sind jedoch nicht, und dies ist anders als beim Harnausgang, durch Impulse des Willens zu steuern, d. h. auf- oder einzuhalten, zu unterbrechen und wieder einzusetzen, obwohl das, was beim Urinieren als eigene Tätigkeit an der Region des Harnausgangs gespürt wird, auf die genitale Zone als Ganze bezogen ist. Im bewussten Steuern des Harnstroms ist das ganze Genital und so auch die Region der Scheidenöffnung spürbar. Die Muskelkontraktion kann aber ebenso unabhängig vom Urinieren geschehen (der PC-Muskel, Pubococcygeal-Muskel, umgibt nicht nur das Genital, sondern auch den After), und wenn dies der Fall ist, wird das durch sie hervorgerufene Empfinden von Enge und Weite primär an bzw. auch kurz hinter der Scheidenöffnung gespürt. Die Erfahrung, dass Flüssiges an der Scheidenöffnung austritt, ist dem Empfinden am Harnausgang aber insofern wieder verwandt, als Flüssiges an der Scheidenöffnung erst beim Austreten selbst, und zwar nach einer gewissen Ansammlung und dann als Nässe erlebt wird, die sich von ihr ausgehend ausbreitet. Das betrifft jegliche Art von Nässe, die – in verschieden erlebten Konsistenzen – durch Blut, Sekret und Fruchtwasser hervorgerufen wird. Es ist eigentümlich, dass der Austritt dieser Flüssigkeiten nicht der Willkür unterliegt, obgleich an der Scheidenöffnung Engungs- und Weitungsimpulse ausgeführt werden können und nach einem Training dieses leiblichen Dialogs sogar eine Art Saug- oder auch Abstoßungswirkung ins Leibesinnere bzw. aus demselben heraus möglich ist. Anders als beim Austritt von Flüssigkeiten sieht es mit Feststofflichem aus, das diesen Ein- und Ausgang passiert. Bei der Penetration wird gespürt, dass und wo etwas in den Leib eindringt, verbleibt, sich bewegt und austritt, doch ein klar umrissenes Empfinden einer Öffnung gibt es nicht oder, um es zu präzisieren, ein »Loch« – wie es manche Redensart thematisiert – wird am Leib nicht gespürt. In ähnlicher Weise wird auch beim Heraustreten und -drängen von Säugling und Plazenta, die Scheidenöffnung nicht als Öffnung wahrgenommen, wohl aber das sich im Unterleib abspielende von Spannung und Schwellung begleitete Drängen, Drücken und Nach-Unten-Ziehen. Eine Gebärende kann genau sagen, 177 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

II Topographie des weiblichen Leibes

wann das Kind ›herauskommt‹, aber dieses ›Heraus‹ wird als das Ergebnis einer erheblichen Weitung mit Abfallen von Spannung und Schwellung erlebt. Kind und Plazenta werden an der Scheidenöffnung nicht als konturierte Körper mit klaren Strukturen erlebt, sondern im Falle des Kindes als eine diffuse durch Solidität und Widerständigkeit, Dichte und Härte gekennzeichnete Masse und im Falle der Plazenta als zwar stark verdichtete und solide, aber eher weiche, anschmiegsame, teigartige und zusammendrückbare, also weniger widerständige Masse. In beiden Fällen wird die Berührung dieser Masse als Widerstand an der Region gespürt, wo sich die Öffnung befindet. Auf besondere Weise wird die Insel der Scheidenöffnung schließlich in der sexuellen Erregung gespürt. Wie im vorangegangenen Kapitel verdeutlicht, ist hier von einem Regungsgeschehen zu sprechen, das von der Klitoris ausgehend auf das Genital als solches übergreift und so ebenfalls die Scheidenöffnung einem herausgehobenen Erleben zuführt bzw. zuführen kann, aber jetzt wie zuvor niemals als Erleben einer Öffnung. Vielmehr scheint sich im hinteren Bereich der genitalen Zone eine konzentrierte Verdichtung, Fülle, Schwere zu manifestieren, in der diese Binnenstruktur schärfere Konturen erhält. In eins damit kann eine erhebliche Ausdehnung dieser Insel empfunden werden, die sich vor allem durch eine sich verstärkende Weiche, Elastizität und Nachgiebigkeit auszeichnet. Dieser Eindruck wiederum korrespondiert mit der die sexuelle Erregung meist begleitenden Einnässung des Genitals durch körpereigene Sekrete, die als Erfahrung des ›Verflüssigens‹ des Genitals, besonders aber seiner als Scheidenöffnung charakterisierten Binnenstruktur, beschrieben werden könnte. Während also dieser Bezirk – wie das Genital als Ganzes – im Alltag gänzlich unauffällig bleibt, auch hinsichtlich seines feuchten Milieus, drängt er sich in der sexuellen Erregung förmlich dadurch ins Bewusstsein, dass er seinen relativen Ort erheblich vergrößert, durch Dichte, Fülle und Schwere gleichsam einkreist und mit ausgewiesenen Konturen beeindruckt, sich aber dennoch als ausgedehnte Weiche gibt und sich mit der spezifischen Erfahrung des Einnässens ›verflüssigt‹. Dieses Einnässen ist – anders als das durch Blut oder Fruchtwasser – von eher zähflüssiger und stark an die Umgebung anhaftender Natur. Das Sekret verbreitet sich allmählich, schmiegt sich an den gesamten Genitalboden an und bettet ihn mit zunehmender Masse in ein glitschig-schleimiges, gelee- bzw. gallertartiges oder als warmer, dichter ›Schaum‹ wahrnehmbares Milieu. Es scheint angebracht, den besonderen Charakter des Einnässens in der sexuellen Erregung noch einmal hervorzuheben, da sich im Gegensatz zu allen anderen Arten des Einnässens ein Regungsspektrum an der Scheiden178 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Die Leibesinseln des weiblichen Geschlechtsleibes

öffnung bzw. am Genital selbst ereignet und dadurch der Eindruck des ›weichen Verflüssigens‹ an seinem relativen Ort selbst entsteht. Das, was als Ausdehnung und Weiche, Dichte, Schwere und Fülle im Verbund mit Spannung und Schwellung erfahren wird, korrespondiert unmittelbar mit dem Einnässen bzw. wird sogar als dessen Folge, Verursachung oder Begleiterscheinung ausgemacht – eine Erfahrung, die während des Einnässens durch Blut und Fruchtwasser nicht gemacht wird, da diese Flüssigkeiten die Scheidenöffnung unbeteiligt, sie nur berührend passieren, weshalb diese auch nicht weiter bzw. nur geringfügig auffällig wird. Dass die menstruierende Frau an der Scheidenöffnung blutet, muss ihr nicht unbedingt sofort bewusst werden und wird häufig erst durch den Eindruck der Nässe bei einer gewissen Ansammlung und deren Abkühlung bemerkt. Das spezifische Einnässen – lieber spreche ich hier von Verflüssigen – in der sexuellen Erregung drängt sich dagegen sofort auf; es kann nicht verborgen bleiben, sondern ist unmittelbar mit auffälligen Regungspotenzialen verknüpft. In sexueller Erregung nässt das Genital also durch Sensationen an seinem eigenen Ort ein und die ›Verflüssigung‹ drängt sich sogleich auf, während Blut und Fruchtwasser kein Regungsspektrum am Genital selbst betreffen. Vom eigenleiblichen Spüren ausgehend kann man somit tatsächlich – und zwar auch unabhängig davon, wie viel Sekret objektiv ausgestoßen wird – von einer ›Verflüssigung‹ des Genitals in der sexuellen Erregung im Unterschied zum bloßen ›Einnässen‹ in den anderen Erfahrungen des Flüssigkeitsaustritts sprechen. 4.3.2.5 Vagina Was in der Binnenstruktur des Genitals als Region der Scheidenöffnung gespürt wird, steht in inniger Verknüpfung mit der vaginalen Zone. Dennoch lassen sich beide als Leibesinseln differenzieren und identifizieren, vor allem dahingehend, dass die Scheidenöffnung im eigenleiblichen Raum an der Grenze der Haut, die Vagina dagegen bereits im Leibesinneren liegt. So kann namentlich auch Druck und Reibung von außen, z. B. durch enge Kleidung, die Scheidenöffnung, nicht aber die Vagina betreffen. Im Alltag wird die Vagina als solche nicht gespürt, d. h. beim Gehen, Sitzen, Stehen gibt es von ihr keine Empfindung, die auf ihre Existenz aufmerksam machen würde. Allerdings ist es im Normalfall möglich, einen Bereich der Vagina ins Bewusstsein zu rufen, insofern in ihrer vornehmlich in der unteren, zur Scheidenöffnung gerichteten Umgebung ein Dialog von Engung und Weitung, An- und Entspannung erzeugt werden kann (anatomisch ist die 179 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

II Topographie des weiblichen Leibes

Betätigung des erwähnten PC-Muskels gemeint). Diese Betätigung kann sowohl an der Zone der Scheidenöffnung als auch in der unteren Region der Vagina pointiert gespürt werden. Beim Urinieren setzt dieser Dialog automatisch ein; in noch stärkerer Weise ist er mit der analen Zone verknüpft und kann auch auf andere Leibesinseln, etwa den Unterleib, Einfluss haben. Dieser willkürlich vollziehbare Dialog von Enge und Weite ist nicht auf den an bzw. kurz hinter der Scheidenöffnung liegenden Umkreis zu isolieren, sondern strahlt immer auf andere Regionen aus. Schmitz hat in anderem Zusammenhang auf die ungeheure Bedeutung der analen Zone für respondierende Reaktionen am ganzen Leib oder an einzelnen Regionen hingewiesen. Insofern die genitale Zone der Frau durch eine mannigfach verzweigte Muskelgruppe vom Harnausgang bis zur Vagina an die anale Zone angeschlossen ist, betrifft der Zustand ständiger Konkurrenz von Spannung und Schwellung in besonderer Weise die genitale Zone mit und findet an der Vagina eine exponierte Fokussierung, die vor allem im sexuellen Erleben diejenige der analen Zone überdecken kann. In den willkürlichen Kontraktionen, die im ›sexuellen Drama‹ in unwillkürliche umschlagen können, wird die Vagina eigenleiblich spürbar. Die große Bedeutung der genitalen Muskelgruppe, die der Frau für Spannungs- und Schwellungsimpulse zur Verfügung steht, ist von vielen Forschern, z. B. in den 1940er Jahren maßgeblich von Arnold Kegel, für die Schwangerschaftsgymnastik und zur Behandlung der Harninkontinenz bestätigt worden. 8 Die vaginale Muskulatur gilt von alters her in klassischen chinesischen Texten als Schlüssel für Gesundheit und intakte Sexualität und hat Eingang in moderne Übungsprogramme zur »sexuellen Fitness« gefunden. 9 In solchen Kontexten wird dann auch behauptet, dass über den PC-Muskel hinaus der Frau noch weitere, daran angeschlossene Muskelpartien in der Vagina, und zwar im mittleren Abschnitt des Vaginalkanals und vor dem Gebärmutterhals, zur kontraktiven Verfügung stehen, die – etwa durch »Eier-Übungen« in oder das Gewichtheben mit der 8

Obwohl schon Joshua Davies 1932 Beckenbodengymnastik, also auch genitale bzw. vaginale Muskelübungen, bei Harninkontinenz vorgeschlagen hat, wurden diesbezügliche Praktiken hauptsächlich als sogenannte Kegel-Übungen bekannt, wobei Kegels Augenmerk anfänglich der Schwangerschaftsgymnastik galt. Kegel gilt historisch auch als früher Erfinder einer Methode des Biofeedbacks: Sein Kegel Perineometer bestand aus einem vaginalen Luftdruckkegel, verbunden durch einen Schlauch mit einem Luftdruckmessgerät, dessen Ausschlag durch eine Quecksilberskala kalibriert wurde. Mit Hilfe dieses Gerätes lernten Frauen, die Stärke und Dauer ihrer Muskelkontraktionen zu beobachten, um ihre Übungen effektiv einzustellen. Offenbar hat Kegel dadurch eine hohe Heilungsquote bei Harninkontinenz erreicht. Vgl. Kegel, 1952. 9 Vgl. hierzu z. B. Bryce, 1983.

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Vagina – trainiert werden können. Offenbar erleichtert die Anwendung widerständiger »Festkörper«, z. B. der sogenannten »Eier«, das Bewusstwerden und die Kontrolle über diese leiblichen Regungsfelder, die durch Übung spür- und verfügbar gemacht werden und »gleichzeitig die Beherrschung zahlreicher unwillkürlicher Muskeln in diesem Bereich« (Chia, 1987, 187) ermöglicht. 10 Dabei handelt es sich um Verfügungspotenziale, die wohl ausschließlich durch spezielle Übungen erzielt werden und in der Alltagserfahrung keine Rolle spielen. Während gezieltes Training eine erweiterte Verfügbarkeit im mittleren und oberen Bereich des leiblichen Ortes der Vagina ermöglicht, ist der PC-Muskel am Übergang von Vagina und Scheidenöffnung jeder Frau ohne weiteres sofort und d. h. unvermittelt – auch außerhalb des Urinierens – verfügbar. Die damit verbundenen leiblichen Regungen strahlen unwillkürlich auf die Binnenstruktur des Harnausgangs (nach außen und vorne), die anale Zone (nach hinten und oben) sowie auf die Vagina (nach innen und oben) aus. Abgesehen von den durch den PC-Muskel und/oder weitere Muskeln ohne fremden Widerstand initiierbaren eigenleiblichen Impulsen spielt die Vagina in jenen Erfahrungen eine besondere Rolle, die sie – um es allgemein zu formulieren – in Kontakt mit Flüssigem und Festem bringen. Es wurde bereits von dem feuchten Milieu gesprochen, in welches das Genital eingebettet ist und auch darüber, dass diese Feuchte oder Nässe nicht als solche gespürt wird. In dieser Weise wird der Binnenraum der Vagina auch nicht gespürt, wenn durch ihn Flüssiges abfließt oder in ihn hineingelangt. Es gibt keine Erfahrung an der Vagina, von der man behaupten könnte, es würde das Abfließen von Menstruationsblut oder Fruchtwasser oder gar das Einfließen von Sperma am oberen, quasi in der Tiefe des Inneren liegenden Ende oder an den ›Innenwänden‹ wahrgenommen. Wohl aber wird – in seiner stärksten Form beim Fruchtwasserabgang – ein warmer Schwall mit der Richtungstendenz nach unten gespürt, wenn dieser die Vagina über die Scheidenöffnung bereits verlässt und den Genitalboden einnässt. An oder in der Vagina selbst wird Flüssigkeit nicht gespürt, allenfalls ein Ziehen, Spannen, Schieben oder leichte Druckphänomene mit Richtung nach unten (beim Abfließen körpereigener Flüssig10

Chia (1987, 187) schreibt: »Es ist leichter, diesen Muskel mit einem Ei in der Scheide zu trainieren, denn durch die Bewegungen des Eis ist die Richtung, in die sich der Muskel bewegt, deutlicher wahrnehmbar.« Darüber hinaus kräftige das »Gewichtheben mit der Vagina«, bei dem das Ei mit einem Gewicht versehen wird, »zusätzlich das Diaphragma pelvis und das Diaphragma urogenitale« (ebd.). Diese beiden »Muskelplatten« müssten, so Chia (ebd., 188), »stark sein, da sie den Boden für die Sexualorgane und alle lebenswichtigen Organe des Körpers bilden.«

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keiten) oder oben (beim Ejakulieren in der Vagina), jedoch niemals ein Rohr, Schaft, Schlauch, Kanal, Hohlraum als mit runden Rändern ausgestatteter Aufenthalts- oder Durchgangsort für Flüssiges. Beim oben beschriebenen ›Verflüssigen‹ des Genitalbodens, für das eine Veränderung des genitalen Milieus durch Sexualsekrete von Bedeutung ist, strahlt das Empfindungsspektrum freilich auf die Vagina, vor allem ihre untere Region, aus und zieht gleichsam in Weiche und Weite in die Vagina hinein, wobei dennoch niemals die Vagina als Kanal gespürt wird, eher als schwellende, kreis- oder kegelförmig diffundierende Verweichlichung und Ausdehnung, die sich allmählich ins Leibesinnere hineinschiebt, sich dort immer mehr füllt, verdichtet, schwer wird, und, durch Spannung und Schwellung ›aufgepeitscht‹ sowie verschiedene Wandlungsphasen mit Leibesinselschwerpunkten durchlaufend, schließlich einen möglichen Weitepol im Leibesinneren findet. Anders verhält es sich mit Feststofflichem, das in die bzw. aus der Vagina gelangt. Mit dem Hinein- oder Hinausdrängen eines Festen wird die Vagina in ihren Konturen – allerdings nie scharf abgegrenzt – räumlich erfahren, d. h. wir spüren einen diffus umgrenzten Ort, der im Prozess der Bewegung dieses Feststofflichen als herausgehobene, für Fremdkörper durchlässige strukturierte Region zum Bewusstsein kommt, in der dieses Feststoffliche selbst sich als Leibesinsel entfaltet. Das Hinein- oder Hinausgeschobene wird aber, wenn es an/in dieser Binnenstruktur ruhig verharrt, gleichsam wieder ›verschluckt‹. Ein typisches Beispiel hierfür ist der Gebrauch von Tampons: Beim Hineinschieben und Herausziehen des Tampons erhält die Vagina selbst Kontur, tritt als leiblicher Raum ins Bewusstsein und der Tampon wird als etwas im Leibesinneren, als ausgedehnte Insel gespürt. Ist der Tampon jedoch einmal an seinem ausgezeichneten Platz im Leib, wird er nicht mehr wahrgenommen, d. h. die Leibesinsel diffundiert in ihre Umgebung; der Tampon ist nicht mehr fester, harter und widerständiger Fremdkörper, sondern ›eigener‹ Leib und wird erst dann wieder als Leibesinsel erlebt, wenn er etwa – wozu es meist wegen regelmäßigen Wechsels gar nicht kommt – völlig durchtränkt und schwer auffällig und durch Herausziehen beseitigt wird. Ähnliche Phänomene der Einleibung kennen wir von Wunden, die mit einem Pflaster geschützt werden: Das Spüren eines Fremdkörpers auf der Haut verliert sich recht bald. Das Pflaster wird ›einverleibt‹ und erst wieder an der verletzten ›Stelle‹ empfunden, wenn es z. B. durchnässt ist oder abgezogen wird und das Gefühl kurzfristiger Blöße an besagtem Ort zurücklässt. Die Vagina wird als eine örtlich spezifizierte Genitalregion auch in der Penetration vor allem beim Hinein- und Hinausgelangen und schließlich 182 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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in exponierter Weise bei Bewegungen des festen, widerständigen ›Fremdkörpers‹ empfunden. Das männliche Geschlechtsteil wird zur Leibesinsel des eigenen Leibes und die Vagina erhält dadurch für das eigenleibliche Empfinden schärfere räumliche Konturen, die bei Bewegungs- und Haltungsveränderungen, etwa den Stellungen im Liebesakt, unterschiedliche Facetten, verschiedene spürbare Ausdehnungsformen und fokussierte Schwerpunkte annehmen können. Bei einem Aussetzen der Bewegung, also im Verharren, kann es durchaus zu einem tendenziellen Verlust dieses Spürens kommen, wie beim Einverleiben des Tampons. Doch liegen hier entscheidende Unterschiede vor, denn erstens erfolgt die Penetration in der Regel in einer lustvollen Situation, in der sich die genitale Zone ohnehin bereits in einem besonderen Zustand befindet und deutlich spürbare Leibesinseln entfaltet hat, zweitens besteht ein erheblicher Unterschied in Volumen und Ausdehnung dieses ›Fremdkörpers‹, der in der Vagina eine Leibesinsel entfaltet. Während der Tampon in einer instrumentalisierten Geste in die Vagina geschoben, manchmal gar ›gezwängt‹ wird, geht der Penetration das beschriebene ›Verflüssigen‹ des Genitals voraus, das sich als Erlebnis der Weitung und ›Einweichung‹, u. U. sogar als leibliches Verlangen nach der Penetration manifestiert. Angesichts der Komplexität der sexuellen Empfindungen an den weiblichen Leibesinseln erscheint auch das Phänomen des leiblichen Verlangens nach der Penetration schwer durchschaubar und ist maßgeblich an die spezifische Situation der leiblichen Liebe, also der Geschlechtspartner und ihres Liebesspiels gekoppelt. Das Verlangen nach Penetration könnte charakterisiert werden als das Begehren nach Einverleibung, das sich an der genitalen Zone aufdrängt, ja sozusagen an ihr Bereitschaft, Möglichkeit, Aufnahmefähigkeit, schließlich sogar einen gewissen Drang signalisiert. Es könnte sein, dass dieser Drang sich durch den starken Eindruck des ›Verflüssigens‹ des Genitals ergibt, indem es nämlich einen so starken Impuls zur Weitung an Scheidenöffnung und Vagina initiiert, dass die Leibesinsel sich in die Weite zu verlieren droht, wenn nicht ein gegenläufiger Akzent ihr wieder eine gewisse Festigkeit und Räumlichkeit verleihen würde. So würden dann auch Phänomene plausibel, in denen die Vagina den ›Fremdkörper‹ geradezu ›aufzusaugen‹ vermag, ihn zu ›umschlingen‹, sich also aktiv einzuverleiben scheint. Die Penetration wirkte also in diesem Sinne leiblich ›Halt‹ bietend gegenüber der Weite, in welche die genitale Zone ergossen ist. Sie verleiht der Weitung den Akzent der Engung und damit einer konzentrierten Räumlichkeit, an dem sich der – oder ein neuer – Dialog von Spannung und Schwellung, in den die genitale Zone in exponierter Weise ›eingespannt‹ ist, aufbauen kann. In den Zuständen 183 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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des leiblichen Verlangens nach der Penetration wirkt das Eindringen in die Vagina häufig als Erleichterung und Befreiung von der zerfließenden Weite; die Widerständigkeit, Härte, Dichte und Fülle des männlichen Geschlechtsteils wird als angenehm gegenüber der ›verflüssigten Weite‹ des eigenen Geschlechts empfunden; der Penis wird umschlossen, gehalten, getragen, kann an- bzw. eingesaugt werden, um sich als Leibesinsel im eigenen Leib spürbar zu entfalten. An diesen Vorgängen sind die an der Vagina initiierbaren Dialoge von An- und Entspannung in umfangreicher Weise beteiligt. Diese Erklärung des weiblichen Penetrationsverlangens würde aber für sich genommen wiederum zu kurz greifen, denn es wird auch nicht schlicht begehrt, dass etwas, nämlich ein Widerstand, dem in die zerfließende Weite treibenden Leibe wieder Raum gibt. Ein bewegungsloser Widerstand in der Vagina hat die Tendenz, als Leibesinsel schnell in die Umgebung zu diffundieren und so gar nicht mehr spürbar zu sein. Was also darüber hinaus leiblich ›gesucht‹ wird, ist Widerständigkeit in Bewegung, und die hängt mit dem Dialog von Spannung und Schwellung zusammen, der, bereits in einer bestimmten Gemengelage vorhanden, hier eine andere, womöglich pointierte Wendung nehmen kann. Das rhythmische ›Sich-Einverleiben‹, ›SichEinschmelzen‹ in Bewegung, also das wechselseitige sich ›Aneinander-Spannen‹ im Sexualakt, das häufig den ganzen Leib ergreift, ›schaukelt‹ gewissermaßen den leiblichen Dialog in eine solche zum ›Zerbersten‹ gefüllte Anspannung, dass in seinem Vollzug ›Erlösung‹ von ihm gesucht wird. In diesem geschlechtlichen Dialog, der eine Variante der Leibesinselentfaltung an der genitalen Zone darstellt, mögen dann auch gewisse verdichtete Strukturen an pointierten Regionen innerhalb der Vagina zum Erleben kommen. Ein sogenannter »G-Punkt« wird sicher nicht dabei sein, da leiblich in keiner Weise ›Punkte‹ mit scharf umrissenem Umfang aufzuspüren sind, allenfalls diffuse Regungsherde, die nicht aus sich selbst heraus, aber aufgrund von Berührung einen leiblichen Ort erhalten. So wird die im Kapitel über die Klitoris umschriebene zum ›Zerbersten‹ aufgebaute Spannung und Schwellung des gesamten Genitals auch an der Vagina und in diversen Regionen des Unterleibs gespürt, kann an der Vagina in einer begleitenden Penetration eine besondere Binnenstruktur ausbilden, ›zerfließt‹ aber in die Weitung des Genitals als Einheit und verströmt auch dort, mitunter ausstrahlend auf andere Leibesinseln oder den Leib als Ganzen. In diesem Sinne greift die ›Verflüssigung‹ des Genitalbodens, insbesondere an der Scheidenöffnung, auf die Region der Vagina über, zuerst auf ihre untere, zur Scheidenöffnung gerichtete Gegend und, vermag von dort aus den Eindruck ihrer Ausdehnung vermitteln. 184 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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Die Geburt eines Kindes und das Abstoßen der Plazenta sind zwei weitere Erfahrungen, in denen sich Feststoffliches in der Vagina aufhält und bewegt. Hier gilt, was für Feststoffliches im Allgemeinen zutrifft, wenn es sich in der Vagina befindet: Es gibt der vaginalen Zone Konturen, wird aber nur dann in exponierter Weise erlebt, wenn es, dichte Widerständigkeit bietend, in Bewegung ist. Das Kind bewegt sich während der Geburt nicht selbsttätig in der Vagina, wird aber in den Austreibungswehen durch aktive Teilnahme der Gebärenden herausgeschoben und weicht beim Nachlassen des Pressdrucks auch wieder zurück. Diese Vorgänge werden wohl nur im Ausnahmefall detailliert gespürt, denn sie verschwimmen unter dem Eindruck des massiven Drängens, das im Unterleib und auch in der Vagina bzw. mit Richtungstendenz auf sie erlebt wird. Insofern das Kind eigener Leib, noch vollständig ›einverleibt‹ ist, wird es auch kaum als isolierter ›Fremdkörper‹ wahrgenommen, der sich in der Vagina aufhält und bewegt. Allerdings muss betont werden, dass im Geburtsvorgang ohnehin eine erhebliche Veränderung im Spüren des eigenen Leibes mit vielfältigen Diffusionen von Leibesinseln (Leibesinselentfaltung und -schwund) zu konstatieren ist, so dass es schwer fällt, die Regungen und Sensationen an der Vagina isoliert herauszustellen. Mit Blick auf die ›Verflüssigung‹ des Genitals, und so auch der Vagina, bei der sexuellen Erregung, sei aber zumindest vermerkt, dass ein solcher weitender Vorgang, der quasi nach Engung durch einen Widerstand verlangt, bei einer Geburt normalerweise keine Rolle spielt. Vielmehr haben die vorbereitenden Wehen als rhythmisch wiederkehrende Schmerzen am Unterleib eine extrem engende Tendenz, die auch auf die Vagina und das gesamte Genital ausstrahlend Enge ergießt. Der Wehenschmerz bewirkt im leiblichen Empfinden genau das Gegenteil von dem, was am Körper passiert. So wird die Weitung des Muttermundes, die Dehnung der Vagina und des Beckenbodens als schmerzvolle Engung mit erhöhter Spannung und Schwellung sowie einhergehender schwerer, nach unten ziehender Fülle gespürt. Die Gebärende ist unter forschreitenden Wehen dem sich an ihrem Leibe ereignenden Dialog von Spannung und Schwellung so lange passiv ausgeliefert, bis sie in der Austreibungsphase zumindest bereits teilweise dadurch ›erlöst‹ wird, dass sie nun an dem Vorgang aktiv mitwirken kann. Jetzt nimmt sie wahrscheinlich auch das Kind als Leibesinsel in der Vagina wahr, denn jetzt ist die Geburt so weit vorangeschritten, dass sie den starken, schweren, dichten, vollen Widerstand spürt, der herausdrängt. Indem sie den Widerstand konkret spürt, kann sie mit ihm umgehen, d. h. durch Betätigung der willkürlich zur Verfügung stehenden Muskeln das ›Austreiben‹ des Kindes vorantreiben. 185 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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Wie stark diese Vorgänge den Leib als Ganzen betreffen, zeigt die ungeheure Bedeutung, die dabei der Atmung zukommt. Während es in der Eröffnungsphase der Geburt möglich ist, sich durch Atemtechniken Erleichterung zu verschaffen (z. B. durch ›Veratmen‹ der Wehen), ist das Geschehen in der Austreibungsphase sehr komplex miteinander verwoben, wobei primär drei Dialogformen von Engung und Weitung bzw. Spannung und Schwellung ineinander greifen: der Dialog der Atmung, derjenige von An- und Entspannung (›Muskelaktivität‹) in der Vagina (mit Ausstrahlung in die anale Zone) und derjenige der den ganzen Vorgang stützenden antagonistischen Regungen am Uterus. Bei der Geburt kommt es zu einem ganzleiblich ergossenen Rhythmus, in dem in der Regel mit einer Ausatmung unter gleichzeitiger Weitung von Vagina und Scheidenöffnung sowie unter Ausnutzung des durch die Wehe vorgegebenen Impulses auch das Ausstoßen des Kindes erfolgt. Durch Einbettung des Genitals in es übergreifende Muskelpartien zerfließt das genitale Erleben vollständig in die »anale Zone« und in Zonen des Unterleibs. So kann es zu dem Eindruck kommen, dass der untere Unterleib, also der gesamte Beckenboden, durch die Geburt bzw. in ihr ›zerreißt‹ oder vor Spannung, Schwellung und nach unten ziehender Fülle ›aufplatzt‹, wobei etwa das gelegentliche Aufreißen des Damms bzw. der Dammhaut oder der Dammschnitt nicht zu einem örtlich deutlichen Erleben kommt. Im Austritt des Kindes erfährt der bis zum ›Zerbersten‹ aufgebaute leibliche Dialog schließlich seinen befreienden Höhepunkt. Er findet durch Abwesenheit von Fülle, Schwere und Dichte Anschluss an ein ausgreifendes ›Nichts‹. Plötzlich wird nichts mehr von alledem gespürt, was zuvor den Leib mitriss. In diesem Weitungserlebnis und der damit einhergehenden Erleichterung wird selten gespürt, dass das Kind noch mit dem eigenen Leib verbunden ist. Gegenüber dem zuvor erlebten Widerstand ist die vergleichsweise winzige, wenig voluminöse Nabelschnur in der Vagina so gut wie gar nicht zu spüren und diffundiert in ihre Umgebung, ist vollständig dem eigenen Leibe einverleibt, obschon – körperlich betrachtet – ihr anderes Ende an jenem »Du« haftet, das gerade abgestoßen wurde. Auch dabei tritt die Vagina keineswegs als Schaft, Rohr, Kanal oder ähnliches ins Spüren, allenfalls wird an der Scheidenöffnung, je nach Körperhaltung, das ›Heraushängen‹ der Nabelschnur gleichsam als Verlängerung des eigenen Leibes bemerkt. Wird die Nabelschnur jedoch berührt oder mehr noch bewegt, erhält die Vagina eine gewisse Kontur und die Nabelschnur kann dann als Leibesinsel schwach ins Bewusstsein treten. Das Abstoßen der im Vergleich zum Kind in ihrer Konsistenz weniger festen und dichten Plazenta steht nicht mehr unter dem enormen Span186 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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nungs- und Schwellungszustand, der für die Geburt selbst charakteristisch ist. Die durch eine Schmerzgeschichte gezeichnete Verfassung der Gebärenden hat sich zwar noch nicht normalisiert, die Krisis des Geburtsdramas ist aber vollzogen, und Nachwehen erreichen meist nicht mehr die Intensität wie geburtseinleitende oder -austreibende. Dennoch wird auch das Abstoßen der Plazenta deutlich gespürt, denn es geschieht an genau den Leibesinseln, die sich gerade mit enormen, noch nachwirkenden Erschütterungen entfaltet haben. Die Plazenta lässt sich nicht durch einen Impuls des Willens aus der Gebärmutter herauslösen oder, wie in der Austreibungsphase beim Kind, durch dialogische Leibestätigkeit heraustreiben, da es ihr für ein solches pressendes Austreiben an solider Widerständigkeit mangelt. Möglicherweise lässt sie sich aber, ist sie einmal in die Vagina getreten und hat ihren Weg nach außen angetreten, durch Engungs- und Weitungsimpulse in geringem Umfang unterstützend voranschieben. Allerdings muss bedacht werden, dass die Plazenta wenig konturiert in der noch völlig geweiteten Vagina gespürt wird; es ist eher und häufig so, dass die Frau vom Austritt des Mutterkuchens ›überrascht‹ wird, da mit einem Mal etwas ziemlich Voluminöses und doch Weiches, wenig Dichtes und Schweres, an der unteren Zone der Vagina und der Scheidenöffnung bemerkbar wird, das sich als nachgiebige und auch elastische Masse ›herausstülpt‹. Die Plazenta tritt als diese weiche Masse ins Spüren und insofern sie Masse ist, wird die Vagina im Verlauf der Abstoßung in vagen Konturen wahrgenommen, als eine diffus umgrenzte Region, die etwas – im Sinne einer Passage – passieren lässt, und was dort ›hindurchgeht‹, entfaltet sich dann auch schwach als Leibesinsel.

4.4 Der Unterleib Der Unterleib ist die Leibeszone des weiblichen Geschlechtsleibes, die – abgesehen von ihrer Umhüllung durch Bauchhaut und ihren Metamorphosen in der Schwangerschaft – keinen Referenten im Bereich des Sichtund Tastbaren hat und in Leibesinselbildung, -entfaltung und -schwund erheblichen Verwandlungen und individuellen Unterschieden unterliegt. Das den Unterleib betreffende Spüren hat seinen Ort im Leibesinneren. Wenn von Leibschmerzen die Rede ist, so meinen Mann und Frau gleichermaßen nicht die Haut, die den Bauch begrenzt, sondern das darunterliegende Innere; bei keiner anderen Region wird tatsächlich von Leibschmerzen gesprochen. Der Unterleib steht in einer gewissen Verfügungsgewalt durch die starken Muskelpartien, die seine nach außen ge187

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wandte Seite durchziehen. Ohne den Leib als Ganzen bewegen zu müssen, können wir dort einen Dialog von Spannung und Schwellung in Gang setzen, der die Bauchdecke einerseits vom Leibe ›wegdrückt‹, wobei der Unterleib anschwillt und sich weitet, und dieselbe andererseits ›herein‹- bzw. ›herandrückt‹, wobei der Unterleib angespannt und geengt wird. Normalerweise ist der Unterleib als solcher unaufdringlich gegeben; er kommt aber bei tiefer Atmung und in vielen geschlechterunspezifischen Kontexten als herausgehobene Insel zum Bewusstsein. Wie das Körpermodell lehrt, beherbergt er bei Mann und Frau mehrere Organe, die sich als Leibesinseln entfalten können. Beim Innewerden des Unterleibs, namentlich bei Schmerzsensationen, drängt sich Frauen zusätzlich jene Region auf, die das Körpermodell als Uterus kennzeichnet, zuweilen auch die Lage der Ovarien. Hier können sich Regungsherde und Leibesinseln entfalten, die etwa in der Gravidität auch am Körper einen sichtund tastbaren Referenten haben. Diesen Spezifika wird im Folgenden durch die Unterscheidung zwischen Ovarien, Uterus und expandierender Uterus Rechnung getragen. 4.4.1 Ovarien In der normalen Lebenserfahrung werden die Ovarien gar nicht bzw. sehr selten als herausgehobene Struktur oder gar als Leibesinseln gespürt. Wie wir vom Körpermodell wissen, treten Ovarien als Paar auf und nehmen ihren Ort auf der linken und rechten Seite des unteren Unterleibs ein. Als Paar treten sie aber beim Innewerden des Leibes wohl kaum in Erscheinung; sie können auch nicht ohne weiteres an einem relativen Ort lokalisiert werden. Es wird aber von besonders sensibilisierten oder im Spüren geübten Frauen berichtet, dass sie in der Gegend des linken oder rechten Eierstocks gelegentlich gewisse Regungen bemerken. Diese werden beschrieben als ein Ziehen oder Stechen oder als ein vorübergehender sanfter Druck, sehr selten als tatsächlicher Schmerz oder Stich. Wenn uns das Körpermodell als diesem Spüren korrespondierendes Ereignis z. B. den Eisprung nahe legt, so wäre es lächerlich, diesen Begriff für die Leibwahrnehmung in Anspruch zu nehmen. Wenn Frauen sagen, sie würden ihren Eisprung erleben und dies zeitlich im Menstruationszyklus, etwa bei begleitender Temperatur- und Sekretdiagnostik 11 , eine gewisse Plausibilität 11

Gemeint sind die durch die Basaltemperatur messbaren und durch die Konsistenz des Vaginalsekrets ertastbaren Veränderungen, die einen Eisprung anzeigen.

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hat, so spüren sie doch kein ›springendes Ei‹. Schon das Ei ist ja für Mediziner nur mittels eines Mikroskops überhaupt sichtbar; hier also zu behaupten, dass Frauen eine Zellempfindung hätten, nämlich das ›Springen‹ des Eis aus dem Eierstock in den Eileiter, verweist auf dasselbe Missverständnis, wie die Rede von den Organempfindungen. Dennoch verspüren Frauen an einer ausgewählten linken oder rechten Region im unteren Unterleib mitunter jene Regungen, also besagtes Ziehen, Stechen, Drücken, die in ein naturwissenschaftliches Interpretationsmodell passen und gewissermaßen nachträglich als Phänomene rund um den Eisprung Erklärung finden können. Diese Plausibilität lässt sich aber selbst mit medizinischen Mitteln keineswegs verifizieren, denn der Moment des Eisprungs ist noch nie ›real‹ in einem weiblichen Körper unter Berücksichtigung eines damit verbundenen Spürens ›aufgezeichnet‹ worden. In ähnlicher Weise muss leibphänomenologisch offen bleiben, um was es sich da handelt, wenn Frauen meinen, einen ›Eisprung‹ zu spüren und mit dem Finger auf jene Stelle weisen, die das Körpermodell als Ovarien ausweist. Auch wenn sie sicher keinen Eisprung im wörtlichen Sinne spüren, nehmen sie dort ›etwas‹ wahr, das sich in einer diffus ergossenen Weise, für ein auf wenige Momente reduziertes Erlebnisspektrum aus der Insel des Unterleibs herauslöst. Diese Regungen sind von eher ›spitzem‹ Charakter und drängen sich als Stechen, Ziehen, Drücken in einem Bezirk auf, der als solcher keine runden, ovalen oder auch leicht flachen Konturen hat, der also im Grunde gar nicht die Gestalt einer Leibesinsel annimmt. Vielmehr drängt sich durch die meist spitze Regung mit epikritischer Tendenz momenthaft ein leiblicher Ort flüchtig auf, der gleich darauf wieder in das ganzleibliche Gewoge verschwommener Inseln diffundiert. 4.4.2 Uterus Weitaus häufiger als die ›Ovarien‹ wird der ›Uterus‹ gespürt, und Frauen vermögen meist, auch ohne von aktuellen Regungen dort betroffen zu sein, die ungefähre Lage dieses Organs zu bestimmen, da es sich als Leibesinsel dem Erleben gelegentlich, manchmal auch regelmäßig und u. U. sehr drastisch aufdrängt. Vom Körpermodell wissen wir, dass der Uterus u. a. aus glatter Muskulatur besteht, die gitterförmig angeordnet ist. Verfügbar sind diese Muskelpartien jedoch nicht, so dass deren Aktivitätsmodi pathisch erlebt und mitunter, vor allem während einer Geburt, auch erlitten werden. Das bedeutet aber nicht, dass Frauen dem Dialog, der sich an dieser Leibesinsel ereignen kann, gänzlich ausgeliefert sind; es ist vielmehr 189 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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so, dass schon die zur willkürlichen Verfügung stehende Bauchmuskulatur Einfluss auf das Erleben dieser Leibesinsel nehmen kann. Ineins damit kann auch die Atmung maßgeblich auf das Erleben der Kontraktionsvorgänge einwirken, wie das etwa bei der gymnastischen Geburtsvorbereitung gezielt trainiert wird. Der ›muskuläre‹ Dialog des Uterus muss also nicht isoliert aufgefasst werden, sondern hat Anschluss an andere leibliche Vorgänge und ist in eine wechselseitige Bezüglichkeit zu diesen gestellt. Der Uterus kann sich in bestimmten Erfahrungen als dumpfe, verdichtete und verdickte, auch harte, gleichsam zusammengeballte oder -geschobene oder auch mit der Richtungstendenz nach unten drückende Insel zum Bewusstsein bringen und wird darüber hinaus in einem vielfältigen Spektrum leiblicher Regungen und Sensationen, vor allem in Form von Schmerzen erfahren. So erleben Frauen häufig ziehende Schmerzen kurz vor, zu Beginn und während der Menstruation sowie während des Wochenflusses; der Schmerz kann sich ebenso gut zu einem reißenden, stechenden, krampfenden, zerrenden oder auch pochenden Schmerz entfalten und eine erhebliche Ausdehnung der Leibesinsel für das Erleben bewirken bzw. sich auf den Bauchraum als Ganzen ausweiten. Hier trifft eine Charakterisierung des Schmerzes von Schmitz (1998a, 185) zu: »Schmerz ist also nicht ruhige Empfindung oder Gefühl, sondern etwas Dynamisches: ein gehemmter Drang, der gegen einen Widerstand vordringt und in der Auseinandersetzung mit ihm einen Zustand kritischer, der Entladung bedürftiger Spannung herbeiführt.«

Der Uterus kann sich während der Menstruation zu Beginn einer Schmerzphase zunächst als noch eher ruhige, aber dumpf sich zusammenballende Insel des Unterleibes ins Erleben bringen, um dann plötzlich in den von Schmitz geschilderten Spannungszustand reißender Schmerzen umzuschlagen, wobei Frauen oft von krampfartigen Anfällen sprechen, die ebenso unvermittelt verschwinden, wie sie aufgetreten sind. Häufig wird auch von Kontraktionen gesprochen, die das dynamische Element beim Schmerz verdeutlichen. Was in solchen Krampfanfällen und heftigen Konvulsionen gespürt wird, ist freilich nicht das, was die Mediziner lehren, nämlich Kontraktionen des Uterus mit gleichzeitigem Ablösen der Schleimhaut aus dessen Innenwänden. Der Uterus tritt uns nicht als Hohlraum, Behälter, Vakuum oder ›leerer Sack‹, sondern als mehr oder weniger dichte, volle, und zwar von Fülle gänzlich durchdrungene Insel ins Erleben. Gespürt werden folglich keine Innenwände, an denen sich etwas ablöst, sondern eine räumlich ausgedehnte, runde oder auch leicht ovale Insel, die erst in dem an ihr sich ereignenden Dialog von Spannung und 190

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Schwellung als herausgehobener Bezirk des Unterleibs bemerkt wird. Und schließlich werden ebenso wenig ›Teile‹ erlebt, die sich irgendwo ablösen, quasi aus der Insel heraustreten und deren Weg im Leibesinneren nach unten in irgendeiner Weise nachvollziehbar wäre. Wohl aber kann die von Schmitz genannte Entladung einer aufgebauten Spannung in der Weise erlebt werden, dass sich der Schmerz nach unten hin oder kreisförmig aus- und wegstrahlend verliert und aus der Enge Anschluss an Weite findet und dabei u. U. einen Blutstrom freisetzt, der als Nässe am Genital auffällig wird. Der Uterus wird als Leibesinsel nicht nur in Schmerz-, sondern auch in Lustzuständen erlebt. In beiden Fällen handelt es sich bei dem, was an dieser Insel gespürt wird, um Wirkungen des Dialogs von Enge und Weite bzw. Spannung und Schwellung, über den die Frau jedoch nur bedingte Verfügungsgewalt hat. Ein mit dem Schmerzzustand verwandter Spannungsaufbau an der Leibesinsel Uterus ist in der sexuellen Erregung und ihrem Verströmen in die Weite spürbar, und es ist ein später noch zu behandelndes Phänomen, dass gerade die sogenannten ›negativen‹ Spannungszustände, die von vielen Frauen während der Menstruation an der Leibesinsel Uterus erlebt werden, durch ›positive‹ Spannungszustände, wie sie in der sexuellen Erregung aufgebaut und entspannt werden, minimiert, wenn nicht gar gelöst werden können. Allerdings tritt der Uterus, wenn er Zentrum des Schmerzes ist, anders ins eigenleibliche Spüren als in den Zuständen der Lust, und zwar hinsichtlich der räumlichen Ausdehnung, die er als Leibesinsel einnimmt, und der Art, wie dieselbe sich anfühlt und welche Teilinseln eventuell als Schwerpunkte hervortreten. Betrachten wir zu diesem Zweck noch einmal, wie sich der Uterus überhaupt bemerkbar macht, wenn er aus dem Gewoge verschwommener Inseln, das unseren körperlichen Leib durchzieht, hervortritt. Da ist an erster Stelle die Empfindung einer u. U. kugelförmig ausgedehnten Fülle, die sich dumpf ›zusammenballt‹ und in die sich eine spezifische Schwere mischt. Im unaufdringlichen Zustand ist diese Leibeszone völlig ergossen in die Leibeseinheit des Unterleibs, also dort versunken, verschwunden oder verschwommen. Drängt sie sich als zusammengeballte Fülle, Dichte und Schwere auf, so muss diese Empfindung noch nicht schmerzhaft sein, sie macht aber ihre Gegenwart deutlich geltend. Möglicherweise diffundiert dieses protopathische Erleben bald wieder in die Umgebung des Unterleibs, es ist jedoch wahrscheinlich und kommt häufig vor, dass in diesen Erlebniszustand andere Regungen und Sensationen hineinragen, insbesondere verschiedene Schmerzarten, die epikritisch, etwa als Stechen, wie ein Blitz, durch die Insel fahren und so191 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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mit den Binnenraum der Insel spürbarer werden lassen. Diese epikritischen Regungen können sich aber ebenso gut auch dann aufdrängen, wenn die Insel nicht zuvor als dumpf zusammengeballte Fülle und Schwere ins Spüren getreten ist – in diesem Fall wäre die Leibesinsel des Uterus nicht gänzlich entfaltet, man müsste also streng genommen von einer momenthaften Regung in einer Region sprechen, die uns aus anderen Zusammenhängen als die Leibesinsel des Uterus begegnet ist. In der sexuellen Erregung ist die Leibesinsel Uterus in der Regel zunächst unentfaltet, d. h. sie kommt weder als dumpf zusammengeballte Schwere und Fülle noch mit anderen Regungen oder Sensationen zum Bewusstsein – sie wird nicht gespürt, u. a. weil andere Leibesregionen Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Weiter oben wurde schon auf die Komplexität des weiblichen Empfindens in der Sexualität und die Wechselbezüglichkeit einzelner Leibesinseln angespielt. Wenn es nun darum geht, auch den Uterus in diese Überlegungen einzubeziehen, so muss betont werden, dass es sich hierbei um eine Variante möglichen Erlebens handelt, die keineswegs bei jedem Liebesspiel zum Tragen kommt, die keinen Einfluss auf die vieldiskutierte Orgasmusfähigkeit der Frau hat und ebenfalls unabhängig von der Penetration ist. Das soll jedoch wiederum auch nicht heißen, dass der Uterus immer völlig unaufdringlich ist, es gibt vielmehr Erfahrungen, die eine zumindest partielle Beteiligung dieser Leibesinsel im sexuellen Erlebnisspektrum nahe legen und die gemeinhin als »Gebärmutterhalsorgasmus« bezeichnet werden. In diesem Begriff liegt schon eine räumliche Bestimmtheit, gemeint ist nicht ein »Uterusorgasmus«, an dem der ganze Uterus beteiligt wäre, sondern eine Region an seinem unteren Boden, die einen Schwerpunkt leiblichen Erlebens einnimmt und von dem, was als Vagina gespürt wird, unterschieden werden muss. Die Cervix uteri (Gebärmutterhals) ist aber keine Leibesregion, in die ohne weiteres hineingespürt werden könnte, auch wenn das in einem diffusen Sinne beim Uterus selbst gelingt; ein unteres Ende oder ein ›Ausgang‹ des ›Behälters‹ Uterus wird nicht gespürt. Wenn also der untere Boden dieser Leibesinsel ins Erleben tritt, muss es sich um besondere Erfahrungen handeln. Um diese für das sexuelle Erleben greifbar zu machen, bedarf es eines Rückgriffs auf das Phänomen der Responsivität einzelner Leibesinseln untereinander, und beim »Gebärmutterhalsorgasmus« scheint es sich um Phänomene leiblichen ›Echos‹ zu handeln. D. h. für diesen Fall, dass es, bevor überhaupt so etwas wie eine Region der Cervix gespürt wird, eine sich allmählich aufbauende Geschichte leiblichen Erlebens gegeben haben muss, in die schließlich ein neues Element hineinragt. In diesem Sinne tritt die Cervix und an ihr der »Gebärmutterhalsorgas192 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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mus« niemals unvermittelt auf, sondern ist Folge einer Kette leiblicher Ereignisse, die vermutlich ihren Weg von der Klitoris über das ›Verflüssigen‹ des Genitalbodens in die Vagina hinein nimmt und von dort mit Richtungstendenz ins Leibesinnere nach oben über die Vagina hinaus ausstrahlt bzw. dort ein ›Echo‹ findet. Diesen Prozess beschreibt Margo Naslednikov (1987, 108) wie folgt: »Wenn die vaginalen Kontraktionen stark genug sind, steigen sie bis zum Uterus hoch und verwandeln sich in eine Serie von Schwingungen, die länger währen und sanfter sind und sich von allein fortsetzen, selbst wenn, oder vielmehr wenn der übrige Körper ruht. Man hat den Eindruck, von langsamen und feinen Wellen getragen zu werden, die wie ein entferntes Echo der diesem Zyklus vorausgegangenen Erregung sind.«

Diese Erfahrung hat wenig gemein mit dem geläufigen – am männlichen Erleben orientierten – Verständnis vom Orgasmus als einer ›Spannungsentladungsexplosion‹, wenngleich man in einem solchen definitorischen Kontext fragen darf, ob diese Schilderung noch als die eines Orgasmus gelten kann. Doch selbst wenn diese Frage offen bleibt, muss bei einer Analyse der Leibesinseln des weiblichen Geschlechtsleibes bedacht werden, dass es Erfahrungen gibt, in denen der Uterus, womöglich in einem fokussierten Zentrum am Boden dieser Leibesinsel, in einem anderen Spektrum erlebt werden kann, als durch dumpfes Zusammenballen zu einer Leibesinsel oder durch Schmerzregung mit epikritischem oder protopathischem Charakter. Dass die Penetration nicht zwingend physisch bzw. mechanisch auf diese Erlebnisse einwirken muss, veranschaulicht die Tatsache, dass das männliche Geschlechtsteil den Gebärmutterhals kaum tatsächlich berührt bzw. berühren kann, wohl aber den darunter liegenden Muttermund, der als Übergang von Cervix und Vagina ebenfalls als gesonderter Bezirk gespürt werden kann. Beim »Gebärmutterhalsorgasmus« wird eine Aus- oder Abstrahlung von Erregungspotenzialen erlebt, die ihren Ausgang von den genitalen Leibesinseln nehmen und sich in abgewandelter Form auf den Uterus übertragen bzw. sich unwillkürlich an ihm fortpflanzen und ihn mit Schwingungen und Wellen durchfluten. Das ist ein sexuelles Erleben von ganz anderem Charakter, als z. B. jenes, das sich an der Leibesinsel der Klitoris manifestiert.

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4.4.3 Der zum Bauch expandierende Uterus Schließlich wird der Uterus in der Gravidität als erheblich expandierende Leibesinsel erfahren. Was am Körper als immer dicker werdender Bauch in Erscheinung tritt, wird leiblich nicht etwa als Wachstum, und schon gar nicht als ein solches des Uterus erlebt, wohl aber im sukzessive Bewirkten. Körperliches Wachstum wird generell kaum gespürt; dass Haare und Nägel wachsen, bemerkt der Mensch nur am Resultat. Bei Kleinkindern interpretiert man mitunter gewisse Schmerzen in der Bauchgegend, vom Bauchnabel ausstrahlend, als Wachstumsschmerzen. Solche Wachstumsschmerzen kennen Mädchen bei der Thelarche und Schwangere gelegentlich, aber leiblich werden wie beim Brustwachstum, in der Schwangerschaft aber noch deutlicher, Veränderungen im leiblichen Lot, in der Eigenwahrnehmung des Körpers bemerkt und ebenso bestimmte Spannungs- und Schwellungsphänomene an der Bauch und Brust umschließenden Oberfläche. Das leibliche Lot verändert sich mit dem expandierenden Uterus insofern, als, wie bei den Brüsten in der Thelarche, eine Wölbung hervortritt, die in ihrer je eigenen Lage die Schwerkraft- und Gewichtsverhältnisse verschiebt und somit eine andere Orientierung des Leibes im Raum bedingt. Die Umorientierung im leiblichen Lot drängt sich nicht etwa unvermittelt auf, sondern vollzieht sich allmählich. Wie die Schwangere das Wachstum bzw. das Gewachsen-Sein ihres Bauches häufig daran bemerkt, dass die Kleidung spannt, fällt ihr die Veränderung des leiblichen Lots meist in Bewegungsabläufen auf – ganz ähnlich wie in der Thelarche. Beim Gehen, Stehen, Sitzen, ja in jeder beliebigen Haltungsveränderung drängt sich mit fortschreitender Gravidität der Bauch auf, er muss mitgeschoben und ausbalanciert werden, kann bei hektischen Bewegungen nach unten ziehen und schmerzen etc., weshalb Schwangere gut an ihrem typischen Gang zu erkennen sind. Während in der beginnenden Schwangerschaft das Regungsspektrum noch eher im Unterleib, assoziiert mit dem Uterus als Leibesinsel, lokalisiert wird, expandiert diese mit fortschreitender Schwangerschaft zum Bauch, d. h. sie verliert ihre relative Örtlichkeit im Unterleib und schiebt sich in den gesamten Bauchraum hinein und tritt zugleich, gewissermaßen als Vorbau vor den Bauch, ja aus ihm heraus. Dabei kann man von einer extremen Form der Leibinselbildung sprechen, die sogar andere, früher in bestimmter Örtlichkeit gespürte Inseln, etwa die Magengrube, insofern in Mitleidenschaft zieht, als hier entweder eine Leibesinselverschiebung oder gar ein Leibesinselschwund stattfindet. So berichten Frauen davon, ihren 194 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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›Magen‹ an einem anderen Ort oder nicht mehr oder schmerzhaft zu spüren. Die Leibesinsel Uterus schiebt sich also derart ins Erleben, dass Frauen gar nicht mehr vom Uterus sprechen, der sich da herauswölbt, sondern vom Bauch, und zwar vom schweren, dicken, nach unten ziehenden, prallen, gespannten Bauch – weshalb ich für dieses Erlebnisspektrum auch einen eigenen Abschnitt eingeführt habe. Von besonderer Bedeutung für das Erleben der Gravidität ist der fortschreitende Verlust der Verfügbarkeit über die Bauchmuskulatur, also den Dialog von An- und Entspannung. Während anfangs der Bauch noch gut durch Impulsgebung angespannt und gelockert, also enger an den Leib herangedrückt und weiter aus ihm herausgestreckt werden kann, ist dies aufgrund der extremen Dehnung, ja Überdehnung der Bauchmuskulatur bei fortgeschrittener Gravidität immer weniger möglich, bis irgendwann, je nach Konstitution der Schwangeren, überhaupt kein Impuls mehr tragfähig ist. Das führt dazu, dass der zum Bauch expandierte Uterus nun in ähnlicher Weise präsent ist, wie das bei den Brüsten immer der Fall ist, nämlich als fleischliche Masse, die zwar mit jeder Bewegung des Leibes mitschwingt und ihre Resonanz hat, doch nicht aus sich selbst heraus bewegt werden kann. Allerdings fühlen sich Brüste eher weich und leicht an und sind in ihrem Responsorium sehr flexibel, während der zum Bauch expandierte Uterus massiv als Schwere, Fülle, Dichte mit viel mehr Solidität ins eigenleibliche Erleben tritt und in seinem Responsorium wesentlich träge und schwerfällig ist. Brüste wackeln, hüpfen und vibrieren, der schwangere Bauch dagegen schaukelt eher plump, starr, steif und klobig daher und vermag schnelle Bewegungen viel eher verschluckend aufzunehmen als die wesentlich leichteren Brüste. Der Bauch wird deshalb in der normalen Alltagserfahrung viel mehr als straff in den ganzen Leib hineingegossen gespürt als die Brüste. Bei einem derart strukturierten Binnenraum des Leibes ist es wenig verwunderlich, dass Hochschwangere bestimmte Bewegungsabläufe nur noch unter großen Mühen ausführen können. Mit den Kindsbewegungen ist schließlich ein merkwürdiges Phänomen an und in dem zum Bauch expandierten Uterus gegeben, das die diffusen Grenzen der zur kugelförmigen Masse beinahe erstarrten Leibesinsel ins Erleben treten lässt. An jeder beliebigen Stelle dieser ›Kugel‹ kann es mit Richtungstendenzen nach außen oder innen, nach oben, unten oder zu den Seiten zu unwillkürlichen, flachen oder spitzen, sanften und harten, schnellen und langsamen Bewegungs- und Druckerlebnissen kommen, die auch am Körper sicht- und tastbar sein können. Diese Sensationen drängen sich zwar unmittelbar auf, sind aber meist nicht schmerzhaft und lösen 195 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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bei den werdenden Müttern große emotionale Bewegtheit aus, da das Kind als lebendiges Wesen gespürt wird. Hier zeigt sich in der Tat eine besondere Variante der Unverfügbarkeit des Leibes, denn jetzt hängt ihm nicht nur eine schwere und träge, nach unten ziehende, solide Masse an, vielmehr können an ihren Rändern jederzeit besondere Stellen hervortreten, ohne dass diese ›fremde‹ Aktivität im eigenen Bauch durch irgendeinen Akt des Willens zu beeinflussen wäre. Mit fortschreitender Gravidität kann es ferner zu bestimmten Erlebnissen der Spannung an der Oberfläche des Bauches kommen. Hier wird nicht die Bauchhaut als eine Membran gespürt, die den Bauch umhüllt bzw. überzieht, es werden auch keineswegs Spannungen an der Oberfläche des gesamten Bauchraumes erlebt, vielmehr treten mehr oder weniger große Flächen an der Oberfläche des Bauchraums hervor, und zwar als quasi einzelne, beliebige oder in Abhängigkeit von den Bewegungen des Leibes auch enger definierte bzw. korrespondierende Einzelgebiete, die immer die Ausdehnung einer gekrümmten, runden Fläche haben. Diese runden, gespannten Flächen haben ihren Ort, und das unterscheidet sie von dem, was im Leibesinneren als Bauch gespürt wird, an bzw. auf der Oberfläche des Bauches. Solche Spannungserlebnisse ähneln durchaus Empfindungen, die man beim Tragen einer schwer gefüllten Plastiktüte haben kann, wenn man den Eindruck gewinnt, dass das Gewicht die Tüte zum Zerreißen bringen könnte. Man bemerkt dann Spannungen an verschiedenen Stellen der Tüte, in denen sich das Gewicht herausdrückt. Ein ähnliches Spannen und Ziehen an der Oberfläche ihres Bauches verspüren Hochschwangere gelegentlich bei Bewegungs- oder Haltungsveränderungen im Stehen, Sitzen oder Liegen. Diese Erfahrungen sind in der Regel nicht schmerzhaft und werden häufig als Vorwehen interpretiert. Sie können mitunter den Eindruck suggerieren, der Bauch werde bald platzen, da seine weitere Ausdehnung unvorstellbar erscheint. Meist wächst der Bauch dennoch weiter und die Spannungsgefühle schwinden vorübergehend oder ganz, wie sie überhaupt recht unterschiedlich und individuell variabel auftreten. Diese Erlebnisse von Spannungen an der Oberfläche des Bauches sind sehr verschieden von den Erfahrungen, die während der Geburt in der Tiefe, also im Leibesinneren und an der Oberfläche des Bauches auftreten. Die wohl heftigsten affektiven Zustände an der zum Bauch expandierten Leibesinsel Uterus treten beim Gebären auf. Der dicke Bauch wird dann nicht mehr als ruhige, dichte und volle, plump und träge hervorstehende Insel erfahren, an der gelegentlich Stöße und Tritte die Aufmerksamkeit auf sich ziehen; im Geburtsdrama wird der Bauch und mit ihm der gesam196 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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te Unterleib vollständig und als ganzer durchflutet und erschüttert von einem Dialog von Spannung und Schwellung, dem sich später noch ein starkes Druck- und Drangerlebnis mit der Richtungstendenz nach unten hinzugesellt. Dieser Prozess ist durch und durch dynamisch. Dabei kann sich der Bauch zunächst so anfühlen, als würde er plötzlich zu Stein erhärtet, mitsamt seiner Oberfläche, und im nächsten Moment verliert sich dieser Eindruck ebenso unvermittelt wieder. Diese Sensationen können sich auf den Leib als ganzen auswirken, manifestieren sich aber anfänglich hauptsächlich im gesamten Bauchraum, auch an seiner dem Rücken zugewandten Seite. Vom Körpermodell wissen wir, dass die uns unverfügbare Muskulatur des Uterus am Werke ist und in rhythmischen Kontraktionen die Geburt einleitet. Zwar gibt es auch sogenannte ›Sturzgeburten‹, aber in der Regel ziehen sich diese Kontraktionen stundenlang hin, können unvermittelt aus- und wieder einsetzen, bis sie sich zur Austreibung des Kindes ›hochgeschaukelt‹ haben und dabei in immer kürzeren Abständen den Leib ergreifen. Wie der Begriff der Wehen andeutet, wird dieser unverfügbar sich aufdrängende leibliche Dialog in der Regel in sich steigernden Schmerzzuständen erlebt. Die in unserer Kultur übliche Geburtsvorbereitung zielt darauf, mit rhythmischen Konvulsionen in ›Trockenübungen‹ umgehen zu lernen, wobei vor allem die richtige Atmung eingeübt wird, und zwar derart, dass der Dialog der Atmung auf denjenigen simulierter Wehen eingestellt wird, mit dem Ziel eines wechselseitigen Abfangens der Spannungsund Schwellungsimpulse. Die Erfahrung auf Entbindungsstationen und in Geburtshäusern zeigt aber, dass Gebärende heute – aus welchen Gründen auch immer – nur selten dem Wehenschmerz eigenleiblich, z. B. durch Leibestechnik, Stand halten und daher die meisten Geburten unter Einsatz mittlerer bis schwerer krampflösender, schmerzstillender oder betäubender Medikamente verlaufen. Dem nicht mehr auszuhaltenden Schmerz gesellt sich in diesen Fällen meist noch Angst hinzu, die sich in den Entspannungsphasen zwischen den Wehen als Angst und reale Furcht vor dem nächsten Schmerzanfall manifestiert und so einen Teufelskreis initiiert, der in zunehmender von Schmerz und Angst durchzogener leiblicher Engung die Geburt erschwert. In solchem Erleben von Schmerz und Angst kann sich die Leibesinsel Uterus derart entfalten, dass die ursprünglich an ihr gespürten Regungen und Sensationen auf den gesamten Leib übergreifen bis hin zu Erfahrungen, in denen der Leib in seiner absoluten Örtlichkeit gar nicht mehr wahrgenommen wird. In den beiden Phasen der Geburt wird der zum Bauch expandierte Uterus jeweils mit anderen Konnotationen gespürt. Dabei ist, wie im Ka197 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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pitel über die Vagina erwähnt, zwischen dem passiven Ausgeliefert-Sein an die Unverfügbarkeit der den ganzen Bauch durchziehenden Konvulsionen und der durch die Presswehen verfügbaren Aktivität mit unvermittelt empfundenem Richtungsdrang aus dem Leibe heraus zu unterscheiden. Während die Vorbereitungswehen den gesamten Bauchraum betreffen, verschiebt sich der spürbare Binnenraum mit fortschreitenden Wehen immer stärker zum Boden des als Bauch expandierten Uterus. In den durch den Pressdrang schließlich stark nach unten ziehenden, gerichteten Regungen erhält die Gebärende jene als Erleichterung empfundene Verfügbarkeit über den leiblichen Dialog, die nunmehr eine Austreibung des Kindes ermöglicht. Die Abstoßung der Plazenta ruft, auch wenn sie in einer nachfolgenden Presswehe erfolgt, nur noch vergleichsweise schwache Regungen an der Leibesinsel des Uterus hervor. Nach der Geburt spüren Frauen ihren Bauch als erschlaffte, weich in sich zusammengefallene Insel, die ihre Konturen vollständig verloren zu haben scheint. Immerhin hat ein Verlust von mehreren Kilogramm Eigengewicht stattgefunden und durch die extreme Dehnung, ja Überdehnung von Bauch und Becken steht auch die Bauch- und Beckenbodenmuskulatur nicht sofort wieder zur Verfügung. Sie muss neu angeeignet bzw. aufgebaut werden, etwa in den Übungen der heute standardisierten postnatalen Gymnastik. Der Verlust des vorgewölbten Kugelbauches verändert das gesamtleibliche Empfinden und das leibliche Lot. Diesmal ist der Übergang von dem einen in den anderen Zustand jedoch abrupt, der Bauch wird nicht langsam weniger, wie er in der Gravidität langsam mehr wird. So scheint der Leib anfänglich zerfasert und diffus zusammenzuhängen, das Gewoge verschwommener Inseln eher lockerer und vage zu sein als vorher. Der Leib hat seine Binnenstruktur erst wieder einzurichten; einzelne Leibesinseln verändern ihre Position, rücken an ihre früheren Orte zurück und stimmen sich in ihrem vielfältigen Gewoge aufeinander ein. Es braucht Zeit, bis der Leib erneut als konturierte Einheit zu spüren ist und in sich als Ganzheit Halt bietend zur Verfügung steht. Viele Frauen haben gleichwohl den Eindruck, auch lange nach der Geburt das ›Körpergefühl‹ aus der Zeit vor ihrer Schwangerschaft nie wieder erreicht zu haben oder auch nur erreichen zu können.

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4.5 Die Wechselbezüglichkeit der Leibesinseln Brust, Genital und Unterleib Hinsichtlich ihrer Wechselbezüglichkeit sei zunächst noch einmal betont, dass die beschriebenen Leibesinseln in der Alltagserfahrung relativ unaufdringlich sind, wie überhaupt der Leib vorwiegend als Einheit imponiert. Allerdings zeigt bereits die Unterscheidung zwischen dem Leib im Ruhezustand und dem Leib in Bewegung einige Differenzen, die für ein Mehr oder Weniger an Aufdringlichkeit und Präsenz verantwortlich sind. Die Brüste sind diejenigen Leibesinseln, die am Leib in Bewegung ihre Gegenwart – je nach individueller Ausprägung unterschiedlich stark – weitaus häufiger geltend machen als die beiden anderen großen Leibesregionen. An dem zum Bauch expandierten graviden Uterus treten ähnliche Phänomene auf: Im Ruhezustand kann der schwangere Leib – abgesehen von Kindsbewegungen – unaufdringlich sein, in Bewegung dagegen drängt sich der expandierte Bauch sofort auf. Brüste und Kugelbauch sind als mehr oder weniger feste und dichte fleischliche Vorwölbungen in der Schwangerschaft beim Leib in Bewegung eng aneinander gebunden. Aber auch hinsichtlich anderer Phänomene interagieren diese Leibesinseln. Eine solche Interaktionalität lässt sich aber nicht unabhängig von den Erfahrungskontexten und Zuständen des weiblichen Leibes evaluieren. Vielmehr müssen die Erfahrungen selbst in den Blick kommen, wie beim Spektrum der Regungen und Sensationen an den Leibesinseln exemplarisch deutlich wurde. Bei diesen Beschreibungen am Leitfaden des eigenleiblichen Spürens war es schon unvermeidlich, Erfahrungen aufzuzeigen, die mit einer Entfaltung der Leibesinseln verknüpft sind. Bei der Analyse ihrer Wechselbezüglichkeit tritt noch stärker die Spezifität einzelner Leiberfahrungen in den Vordergrund. Die in den vorangegangenen Kapiteln einzeln dargestellten Leibesinseln hängen in der konkreten Leiberfahrung oftmals eng zusammen und sind durch zahlreiche Interaktionen geprägt. Besonders deutlich wurde die vielfältige Verwobenheit von genitaler Zone und Unterleib, die häufig im Erleben nicht voneinander zu trennen sind und z. T. noch mit der analen Zone interagieren. Die Wechselbezüglichkeit der Leibesinseln kann sich sowohl auf die gemeinsame als auch auf die sukzessive Ausbildung verschieden dominanter Inseln beziehen. Eine solche Responsivität kennen wir auch außerhalb des geschlechterspezifischen Kontextes und tritt besonders dann hervor, wenn zwei Leibesinseln, die ein Paar bilden, untereinander agieren, wie z. B. die Füße beim Gehen. Wir können in jeden Fuß hineinspüren und ihn als eigenständige Leibesinsel wahrnehmen, 199 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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beim Gehen synchronisieren sich beide zum Schritt. Zu einer solchen Einheit in wechselseitiger Resonanz diffundieren Leibesinseln, die als Paar auftreten, auch dann, wenn sie je für sich in unterschiedlichen Bewegungen und Haltungen aktiv sind, z. B. beim Kartoffelschälen, wenn die eine Hand die Kartoffel genau in der Position hält, in der die andere Hand den optimalen Zugriff zum Schälen hat. Während die rechte Hand (bei Rechtshändigkeit) noch schält, vollzieht die linke bereits den Impuls, die Kartoffel so in der Hand zu bewegen, dass das Messer ›weiterarbeiten‹ kann. Hier tritt noch die Einleibung in fremde Gegenstände hinzu, die es ermöglicht, dass Hände, Messer und Kartoffel eine leibliche Einheit bilden. Die Wechselbezüglichkeit von Leibesinseln ist u. a. davon abhängig, ob die mit ihnen korrespondierenden Leibeszonen willentlich durchdrungen, also in Eigenbewegung versetzt werden bzw. durch Eigenimpulse ins Spüren kommen können, oder ob sie sich eher passiv bzw. anders aufdrängen als die willentlich in Bewegung versetzten ›Körperteile‹. Es ist eine Eigentümlichkeit des menschlichen Leibes, dass das Leibesinnere nicht so zur Verfügung steht, wie etwa die Extremitäten, obschon die Physiologie auch dort Muskelaktivität (z. B. Herzmuskel) ausmacht. Muskelaktivität im Körper ist aber nicht zwingend an Willensaktivität qua leiblicher Verfügung gekoppelt, weshalb die Physiologie willkürliche und unwillkürliche Muskelbewegungen unterscheidet. Am weiblichen Leib finden wir verschiedene Ausprägungen vor: Die Brüste stehen nicht willentlich zur Verfügung, d. h. es ist nicht möglich, sie im Ruhezustand aus sich selbst heraus zu bewegen; sie bringen sich ins Spüren, indem sie etwa mit dem Leib mitschwingen; die genitale Zone lässt sich partiell an- und entspannen, sie kann aber ebenso gut, etwa im Orgasmus, jedem willentlichen Einfluss entzogen sein; der Unterleib steht in diesem Sinne gar nicht zur Verfügung, seine Umschlossenheit durch Bauch und Rücken ermöglicht aber einen – wenn auch eingeschränkten – bewussten Zugriff auf bestimmte Weisen seines Spürens, z. B. durch Heben und Senken des Zwerchfells, das in der Gravidität weitgehend verloren geht. Das Interagieren der drei Inseln des weiblichen Geschlechtsleibes ist also keineswegs ausschließlich gebunden an ein gemeinsames, auf den Willen bezogenes Agieren. Die Leibesinseln werden vielmehr in verschiedenen Erfahrungen auch als unwillkürlich untereinander verbunden empfunden, wobei gelegentlich der Eindruck entsteht, dass sich zwischen ihnen ›Ströme‹ und ›Strömungen‹ einstellen, die sich von der einen zur anderen Region und zurück bewegen. Solche, die Leibesinseln untereinander verbindenden ›Ströme‹, die auch außerhalb geschlechtsspezifischen Er200 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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lebens eine Rolle spielen können, sind in der Regel wenig aufdringlich, können aber auch deutlich hervortreten. In Bezug auf das Interagieren der Leibesinseln des weiblichen Geschlechtsleibes ist zu fragen, in welchen Leiberfahrungen diese Zonen untereinander in besonderer Weise in Beziehung treten oder sich ineinander diffundierend entfalten bzw. schwinden. Ferner ist zu untersuchen, wie sich einzelne Inseln und solche eines interagierenden Verbundes zum gesamten Leib verhalten, was z. B. bei Erfahrungen von Bedeutung ist, die Einfluss auf das leibliche Lot haben. Diese Fragen werden hier nur summarisch bearbeitet und finden in den Einzelanalysen des dritten Hauptteils eingehendere Besprechung. Wie erwähnt, ist der Zusammenhang zwischen den Leibesinseln Genital und Unterleib – schon aufgrund ihrer relativen Nähe am körperlichen Leib – besonders eng; im Spüren drängen sich diese beiden Inseln häufig gemeinsam und in ausstrahlenden bzw. aufeinander bezogenen Regungen auf. So sprechen viele Frauen davon, während der Menstruation den Unterleib in bestimmten Spannungsphänomenen als das Woher jenes Blutstromes zu erleben, der sich am Genital als warme Nässe bemerkbar macht. In den leiblichen Wandlungsformen, die als prämenstruelles Syndrom beschrieben werden, wird der weibliche Leib ferner in Stimmungen erfahren, die zwar ganzleiblich ergossen sind, aber gleichwohl von Empfindungen am körperlichen Leib, z. B. an den Leibesinseln Brust, Unterleib und Rücken, also auch nach hinten ausstrahlend, begleitet sind. Bei der Defloration und im Falle einer Vergewaltigung, wie überhaupt in jeglicher mit Penetration verbundener sexuellen Betätigung, sind Genital und Unterleib im Erleben eng verbunden, wobei eine spezifische Erfahrung des ›zerreißenden‹ Leibes bei der Defloration und vor allem in der Vergewaltigung so weit gehen kann, dass Genital und Unterleib, die als ›zerreißende‹ zunächst herausgehoben ins Erleben treten, sich zum ganzen Leib hin entfalten. Im Verbund von ganzleiblich ergreifender, engender Angst und in dem von Unterleib und Genital in den ganzen Leib ausstrahlenden, engenden Schmerz kann es bei einer Vergewaltigung zum Verlust des Leibes in seiner absoluten Örtlichkeit kommen (Ohnmacht). In der Sexualität, ob mit oder ohne Penetration, kommt es im Unterschied zu den gerade beschriebenen Phänomenen der Engung zu einer leiblichen Weitung, wobei die auf einzelne Inseln bezogenen Regungen ebenfalls den ganzen Leib ergreifen können. Von den Brüsten werden mitunter ›Ströme‹ mit Richtungstendenz zur genitalen Zone empfunden. Die Erregungen der genitalen Zone können auf den Unterleib ausstrahlen und sich von dort weiter in den oberen Leib, also auch wieder auf die Brüste 201 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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ausdehnen und vielfältige Diffusionen eingehen. In sexueller Erregung können Brust, Genital und Unterleib in interagierenden Spannungs- und Schwellungszuständen miteinander verschmelzen und in einer ganzleiblich ergreifenden sukzessive sich steigernden Anspannung gemeinsam kulminieren. Dass es in der Sexualität noch zu vielen anderen Interaktionen, z. B. zwischen weiblichen oder männlichen Leibesinseln kommt, zeigt etwa der Kuss, der unmittelbar auf Erregungszustände an Brust und Genital einwirken kann. Für die Gravidität sind respondierende Regungen an Brüsten und Unterleib typisch, die sowohl als Spannungs- und Schwellungsphänomene als auch in Form einer Einflussnahme auf das leibliche Lot und damit auf das Leibesganze erlebt werden. Expandiert der Uterus zum Bauch, so dehnt er sich bis zur ebenfalls im leiblichen Binnenraum schon veränderten Brust nach oben und weit über die Brustwölbung nach vorne hinaus aus, so dass Bauch und Brüste mit ihren eigentümlichen Wölbungen interagieren. In fortgeschrittener Gravidität diffundiert die genitale Zone vor allem mit dem Unterleib, u. a. dadurch, dass – um es in Worten des Körpermodells auszudrücken – ein verstärkter Druck vom Uterus auf das Genital ausgeübt und dieses stärker durchblutet wird, was zu erhöhtem Lustempfinden sowie Harndrang führen kann. Bei der Geburt diffundieren die Leibesinseln Unterleib und Genital derart mit- und ineinander, dass sie kaum mehr zu unterscheiden sind, wobei aber der Unterleib bereits zum Bauch expandiert ist und somit weit über die Körpermitte hinaus eine dominante Leibesinsel entfaltet hat. Diese synthetische Einheit beeinflusst während der Wehen das Leiberleben der Gebärenden, das in extremen Schmerzzuständen auf den ganzen Leib übergreift. Bei der Geburt kommt es häufig zu Erfahrungen des ›zerreißenden‹ Leibes, nur mit anderer Richtungstendenz als bei Defloration oder Vergewaltigung. In der Austreibungsphase fokussiert sich das ›Zerreißen‹ am unteren Unterleib bzw. am Genital als einem eingeschmolzenen Leibeszentrum, für das es im eigenleiblichen Spüren keine herausgehobene Abschälung, etwa in Zonen des Genitals, gibt. Für den Prozess der Geburt sind insgesamt Phänomene ganzleiblicher Engung bezeichnend, die durch den Wehenschmerz, als sukzessive sich aufbauende Spannungs- und Schwellungsereignisse, aber auch durch Angst und Panik vor der leiblichen Autorität des Geburtsvorgangs, verursacht werden. Beim Wochenfluss kommt es zu ähnlichen, aber meist intensiver gespürten Diffusionen von Unterleib und Genital als bei der Menstruation. Bei der Laktation unmittelbar nach der Geburt und während des Wochenflusses sprechen Frauen darüber hinaus von einer besonderen Responsivi202 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Die Leibesinseln des weiblichen Geschlechtsleibes

tät der Leibesinseln Brust, Unterleib und Genital. Beim Stillen werden oft Reaktionen am Unterleib gespürt, z. B. in Form von Nachwehen. Hier werden auch ›Ströme‹ und ›Flüsse‹ erfahren, etwa in der Weise, dass ›es‹ von den Brüsten in den Unterleib ›fließt‹ oder dass die Rhythmik des Stillens sich als Rhythmik des Unterleibs mit Konvulsionen, u. U. mit vermehrtem spürbarem Ausfluss der Lochien am Genital, fortsetzt. Neben diesen Phänomenen zeigt sich bei der Laktation aber ebenso eine Ergriffenheit in Form von behaglichen, durch Lust konnotierten Weitungserlebnissen des gesamten Leibes. Es dürfte deutlich geworden sein, dass der weibliche Leib in vielfältigen Erfahrungen von jeweils anderen Regungen und Sensationen betroffen ist, die sich entweder auf einzelne Leibeszonen, also Brüste, Genital und Unterleib beziehen und von dort aus das Erleben des ganzen Leibes bestimmen und/oder im interagierenden Verbund der Leibesinseln untereinander. In beiden Fällen ist von einer Responsivität einzelner Zonen auszugehen, die aber immer auch auf den Leib als Ganzen bezogen ist. Das wird zwar besonders deutlich bei Erfahrungen, die das leibliche Lot beeinflussen, also bei Thelarche, Gravidität und Geburt, aber ebenso bei den Erfahrungen, die sich eher an einzelnen Regionen abspielen. Der Leib ist, um es noch einmal zu präzisieren, als Einheit weiterhin präsent, auch wenn herausgehobene Leibesinseln gespürt werden. Nur in extremen Ausnahmefällen, insbesondere bei Schmerzen, drängt sich eine Leibesinsel so sehr ins Erleben, dass diese Einheit nicht mehr wahrgenommen wird. In der Regel bleibt aber immer ein Gesamteindruck des eigenen Leibes als konturiertes Gefüge gegenwärtig, nur dass Fokussierungen bzw. respondierende Interaktionen deutlich werden, wobei diese nicht zur Erfahrung des Leibes hinzutreten, sondern in sie eingebettet sind. Dabei handelt es sich um Phänomene, die nicht nur in geschlechtsspezifischen Kontexten auftreten. So erfährt man beispielsweise beim Essen seinen Leib als Ganzen in einer bestimmten Sitzhaltung und vollzieht zwecks Nahrungszufuhr Aktivitäten mit den Armen und Händen. Im Kauen, Schmecken und Schlucken wird die orale Zone mit Anschluss an den Schlund als herausgehobene Insel präsent. Beißt man sich aber auf die Zunge, löst sich eine weitere Sensation heraus, die im Schmerz engend wirkt und das Spüren regional fokussiert, bis es in der durch den nachlassenden Schmerz verursachten Weitung wieder in das ganzleibliche Erleben diffundiert.

203 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

5. Ergänzende Systematik der Erfahrungsmodi

5.1 Vorbemerkungen zur Perspektive In diesem Kapitel wird eine Systematik ausgearbeitet, die zwar nicht unabhängig vom Topos der Leibesinseln ist, aber einen Perspektivenwechsel ermöglicht, um bestimmte Erfahrungsmodi zu pointieren und weitere Charakteristika weiblichen Leiberlebens herauszuschälen. Im Vordergrund steht nach wie vor das eigenleiblich Gespürte, das, wie Schmitz (1995, 117) ausführt, »stets räumlich ausgedehnt« ist, »aber in wesentlich anderer Weise als der sicht- und tastbare Körper«. Im Unterschied zum Körper, der »nach außen eine scharfe, flächige Grenze an der Haut« hat, besitzt der spürbare Leib »keine Haut und keine Flächen«. Unter der Haut und an der Grenze des Übergangs zwischen spürbarem Leib und objektiviertem Körper sind für das weibliche Leiberleben besondere Erfahrungen charakteristisch. So ließe sich z. B. schon zwischen Eigen- und Fremdleiblichem als Impuls gebende Aspekte einer Erfahrung unterscheiden. Damit ist ein Sonderfall dessen gemeint, was Waldenfels (2000, 265 ff.) unter dem Topos »Eigenleib und Fremdleib« als wechselseitige Verschränkung von eigenem und fremdem Leib, etwa in einer »Zwischenleiblichkeit« thematisiert. Wenngleich »Zwischenleiblichkeit« menschliches Existieren qua Miteinander-Interagieren grundlegend durchzieht und von Waldenfels in genau dieser Konnotation verstanden wird, ist auch eine Differenzierung zwischen Eigen- und Fremdleiblichem in der Perspektive konkreter Impulsgebung oder räumlicher Nähe bzw. körperlicher Verschränkung möglich. Bei weiblichen Leiberfahrungen zeigt sich ein differenziertes Bild der die Erfahrung auslösenden bzw. bedingenden Impulse. Hinsichtlich des Charakters genuiner Eigenleiblichkeit können auf der Grundlage medizinischen Wissens allein Thelarche, Menarche, Menstruation und Menopause angeführt werden; Koitus, Gravidität, Geburt und Laktation sind dagegen durch Einwirkung von ›außen‹ bedingt. In dieser Klassifikationsperspektive liegt allerdings ein Reduktionismus. Das eindeutig anmutende Kriterium der auslösenden Impulse qua naturwissenschaftlicher Körper204 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Ergänzende Systematik der Erfahrungsmodi

kenntnis hält hinsichtlich der Erfahrung nur bedingt Stand, denn hier sind wir mit einigen Prozessen konfrontiert, die mit einer dem Leib innewohnenden Autorität vorangetrieben oder initiiert werden, und mit solchen, die unmittelbar in Zusammenhang mit einem fremden Leib stehen bzw. auf seine Anwesenheit reagieren. Im Unterschied zur vorangegangenen Perspektive zählen zu den Erfahrungen mit eigenleiblicher Autorität Thelarche, Menarche, Menstruationszyklen, Klimakterium, Menopause, Gravidität, Geburt, Lochien und Laktation. Die Schwangerschaft wird beispielsweise keineswegs als Fortsetzung eines Zeugungsaktes erlebt, obwohl wir wissen, dass eine Befruchtung zu ihr geführt hat. Diesem großen Erfahrungsspektrum von eigenleiblicher Autorität stehen solche Erlebnisse gegenüber, die unmittelbar mit der Anwesenheit eines anderen Menschen zusammenhängen, also spürbar verwoben sind mit einer Situation, in der mindestens zwei Leiber in mehr oder weniger innige körperliche Nähe und Berührung kommen. Dazu gehören verschiedene Formen der Sexualität sowie Erfahrungen bei Geburt und Laktation. In diesen spielt der fremde Leib eine bedeutende Rolle für das, was am eigenen Leib gespürt wird, insofern er den eigenen Leib berührt, in ihn eindringt, aus ihm heraustritt oder ›etwas‹ aus ihm ›heraussaugt‹. Bei der Unterscheidung von genuin eigenleiblichen und durch einen fremden Leib mitbedingte Erfahrungen bilden Geburt und Laktation Zwischenformen, in denen sich Eigen- und Fremdleibliches eigentümlich vermischt: Schon in der Gravidität, z. B. bei Kindsbewegungen, wird ein fremder Leib im eigenen gespürt. In der Geburt wird das im wörtlichen Sinne leibeigene Kind zum fremden Leib. Die Laktation ist von eigenleiblichen Vorgängen, wie dem Milcheintritt, getragen und entfaltet sich als Nährungsprozess in der Verschränkung von Mutterbrust und Kindesmund. Das naturwissenschaftliche Körperwissen verknüpft in einem Körpermodell physiologische, chemische, biologische und andere Erklärungen mit diesen Erfahrungen. Damit ist eine Sicht auf den Körper als Objekt gegeben. Das, was jenseits der »Grenze an der Haut« gespürt wird und das, was darüber hinaus diese Grenze in zweierlei Richtungen ›passiert‹, qua Körpermodell von außen nach innen bzw. von innen nach außen, ist jedoch von anderem Charakter. Spürt eine Frau in der Menstruation das Ablösen von Schleimhaut aus dem Uterus, in der Befruchtung das Verschmelzen zweier Zellen und die Produktion von Hormonen in der Hypophyse oder in der Gravidität die Herausbildung einer Nabelschnur? Wohl nicht, auch wenn diese Vorgänge mittels moderner Technik m. E. sichtbar gemacht werden können. In diesen Erfahrungen spürt sie aber ihren Leib in eins mit der Entfaltung und dem Schwund von Leibesinseln 205 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

II Topographie des weiblichen Leibes

auch in Verbindung mit dem Ein- oder Austritt von ›Materie‹ in bestimmter ›Stofflichkeit‹ bzw. ›Widerständigkeit‹. Als spezifisches Kriterium weiblichen Leiberlebens ist also festzuhalten, dass häufig etwas, ob nun in flüssigem, festem oder – selten – gasförmigem Zustand, aus dem Leib drängt bzw. fließt oder in ihn hinein. Damit ist die Dimension von Richtungen gegeben: »aus dem eigenen Leib«/»vom eigenen Leib weg« und »in den eigenen Leib«/»zum eigenen Leib hinzukommend«. Diese beiden Tendenzen begegnen uns sowohl in der elementaren wie in der generischen Leiblichkeit, z. B. bei der Atmung, beim Essen/Trinken, Urinieren/Stuhlgang, insofern sie Erfahrungen mit leibeigenen oder leibfremden ›Stoffen‹ sind. Der Ausdruck ›Stoff‹ verweist entfernt auf den der Materie. Mit dem Gedanken an Materie wird eher eine grobe, schwere, feste, im Grunde unwandelbare und auch tote Substanz verbunden. Mit Stoffen werden dagegen Gestaltbarkeit und wechselhafte Zustände assoziiert. Stoffe können verschiedene Gestalten annehmen und liegen in diversen Aggregatszuständen vor, wie sie als flüssiger, fester, mehr oder weniger dichter oder voller Stoff beschreibbar sind, in Erscheinung treten und am Leibe spürbar werden. Nehmen wir z. B. die Verwandlungsformen des Wassers, als fließendes, dampfendes oder zu Nebelschwaden zusammengeballtes, zu Eis erstarrtes, in leichte Schneeflocken, schwere Regentropfen oder harte Hagelkörner verwandeltes, kochendes und sprudelndes Wasser. Menschen machen mit allen diesen Formen des Wassers zeitlebens unterschiedliche Erfahrungen, indem sie den Stoff Wasser an ihrem Leib und um ihn herum erleben. Anatomie und Physiologie lehren auch, dass der menschliche Körper zu einem sehr großen Bestandteil aus Wasser besteht, doch wird dieser Sachverhalt nicht gespürt. Vielmehr wird eine mehr oder weniger dichte ›Stofflichkeit‹ als eigener Leib wahrgenommen, ein »raumfüllendes Etwas« (Stein), das sich in bestimmten Erfahrungen auch als Fülle manifestiert. Beziehen wir nun diesen Stoff-Begriff auf das leibliche Spüren, so zeigt sich schon in generischer Hinsicht die Bedeutung des Erlebens von ›Stofflichkeit‹ qua Räumlichkeit des Leibes und qua Abgabe und Aufnahme von ›Stoffen‹. Für das weibliche Leiberleben sind weitere Erfahrungen mit ›Stoffen‹ in mehr oder weniger spürbarer Widerständigkeit charakteristisch, ob als Veränderung der ›Stofflichkeit‹ des Leibes oder durch Abgabe und Aufnahme von ›Stoffen‹. In dieser Perspektive lassen sich insbesondere die Erfahrungsmodi des Flüssigen, des Festen und der Fülle extrahieren. Eine Systematik der Erfahrungen mit ›materiellen‹ Referenten zeigt das breite Spektrum weiblichen Leiberlebens gerade im Hinblick auf ›Passagen‹ leibeigener oder -fremder ›Stoffe‹. Wenngleich im Folgenden 206 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Ergänzende Systematik der Erfahrungsmodi

jeweils unterschiedliche Aspekte pointiert und Überschneidungen deutlich werden, lassen sich in einer solchen Systematik nicht alle Verbindungen erfassen, da es viele wechselseitige Bezüge gibt.

5.2 Die Erfahrung des Flüssigen Erfahrungen mit dem Austritt von Flüssigkeit aus dem Körper werden im Alltag vorwiegend durch Urinieren und Schwitzen, aber auch durch das Tränen der Augen als Ausdruck von Gefühlen oder aufgrund von Reizungen gemacht. In bestimmten Verfassungen, etwa beim Schnupfen, tritt Flüssigkeit aus Nase und Augen, beim Übergeben aus dem Mund, bei Durchfall aus dem Anus aus. In einem weiter gefassten Kontext kann der Mensch an beinahe jeder Stelle seines Körpers durch spitze Einwirkung auf dessen Begrenzung an der Haut zum Bluten gebracht werden. Das Bluten kann den Charakter eines Verströmens, Spritzens, Tropfens, Fließens, Sickerns haben und führt bei einer gewissen Ansammlung zum Einnässen umliegender Regionen. Die Dimension des verströmenden, tropfenden, spritzenden und einnässenden Leibes ist geschlechterspezifisch relevant. Bei den für den weiblichen Leib charakteristischen Erfahrungen geht es um Flüssigkeiten, nämlich Blut, Schleim, Sekret, Fruchtwasser und Milch, die sich von ›innen‹ her aufdrängen und aus dem Leib fließend, tropfend, sickernd, spritzend und einnässend an die Körperoberfläche gelangen. Diese Flüssigkeiten haben nicht nur für die sinnliche Wahrnehmung unterschiedliche Konsistenzen, sondern auch für das Spüren. Verschiedene Arten von Blut (Menstruations-, Deflorations-, Wochenblut) weisen eigene Charaktere auf. Die Erfahrung austretenden Blutes ist wiederum von anderer Art als die Erfahrung austretenden Fruchtwassers, einnässender Sexualsekrete oder hervorquellender Milch. Das Spüren unterschiedlicher Konsistenzen der Flüssigkeiten lässt sich m. E. mit den Begriffen ›variable Fülle oder Dichte‹ sowie ›variable Haftungseigenschaft‹ an der vom Flüssigkeitsaustritt betroffenen Region umschreiben. Es können auch Eigenschaften wie Zähigkeit, Wässrigkeit, Klumpigkeit, Körnigkeit, Zähflüssigkeit gespürt werden. So ist das Fruchtwasser flüssiger als Milch, auch wenn beide sowohl allmählich tropfen und sickern als auch spritzen und herausschießen. Die Milch haftet aber geringfügig träger am Leib. Das Blut wäre im Bereich von Zähflüssigkeit bis Klumpigkeit anzusiedeln; es verströmt und tropft verhalten, fühlt sich dichter, voller an als Fruchtwasser und Milch. Sexualsekrete weisen verschiedene Dichte- und Füllegrade auf, werden aber kaum als tropfend und nur im Ausnahmefall als spritzend er207 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

II Topographie des weiblichen Leibes

fahren, sondern eher als zähflüssig und haftend, so dass hier bereits ein Grenzfall der Nässe-Erfahrung vorliegt. Ein Charakteristikum dieser Erfahrungen mit dem Austritt körpereigener Flüssigkeiten besteht darin, dass sie sich vom Leibe her aufdrängen und mehr oder weniger unverfügbar sind, also der willentlichen Kontrolle oder Steuerung mit graduell unterschiedlichen Nuancen entzogen sind. Blut und Fruchtwasser sind in ihren Abgängen unverfügbar, d. h. es ist nahezu unmöglich, diesen Vorgängen durch Muskelkontraktionen oder sonstige eigenleibliche Impulse Einhalt zu gebieten, sie exakt zu terminieren oder zu steuern. Die Laktation ist z. T. verfügbar. Der Milcheintritt wenige Tage nach der Geburt folgt zwar einer eigenleiblichen Autorität, und wenngleich die ›Milchproduktion‹ weiterhin unwillkürlich geschieht, ist sie durch Interaktion mit dem Kind in gewissem Ausmaß zu steuern. Die Milch verströmt in der Regel beim Stillen, sie kann aber ebenso unwillkürlich und unabhängig von der Anwesenheit des Säuglings aus dem Leibe fließen und spritzen. Sexualsekrete drängen sich zwar in der sexuellen Erregung unwillkürlich auf, können aber auch gezielt hervorgebracht werden. Allen diesen Erfahrungen ist gemeinsam, dass sie den Körper einnässen und diese Nässe zu einem wie auch immer gearteten Spüren bringen. Das Wo und Wie des Spürens der Nässe ist abhängig von Körperhaltungen und Bewegungsabläufen und kann, etwa beim Aufenthalt im Wasser, auch ohne eigens spürbaren Kontakt zur Haut bleiben. Wenn es sich nicht gerade um herausspritzende Flüssigkeit handelt, findet aber ein Kontakt zwischen Flüssigkeit und Haut statt. Die Flüssigkeit wird jedoch erst gespürt, wenn sie in einer gewissen Menge austritt bzw. ausgetreten ist, die betreffende Region einnässt und je nach Konsistenz dem Weg der Schwerkraft folgend herabfließt. Zu den Phänomenen des verströmenden, tropfenden, spritzenden und einnässenden Leibes gehört aber nicht allein die Erfahrung des Einnässens durch Flüssigkeit an einer relativ-örtlichen, am Körper durch Körperöffnungen sichtbaren Region. Meist ist der Flüssigkeitsaustritt mit diversen leiblichen Sensationen – etwa Ziehen, Spannen, Schmerzen, Schwellen, Drücken etc., Lust oder Schmerz – verknüpft bzw. wird als in Zusammenhang mit diesen stehend gespürt. Im generischen Kontext ist beispielsweise der Harndrang eine leibliche Regung, die sich unabweisbar aufdrängt, den Charakter einer leiblichen Autorität hat und zu Handlungen auffordert. Verwandte, aber doch anders geartete Phänomene sind im Rahmen des Flüssigkeitsabgangs am weiblichen Leib festzustellen, d. h., auch wenn hier eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Unverfügbarkeit vorliegt, gibt es doch Regungen, die einen unmittelbar oder mittelfristig bevorstehenden 208 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Ergänzende Systematik der Erfahrungsmodi

Flüssigkeitsabgang signalisieren oder diesen begleiten. Ein an leiblichen ›Signalen‹ orientiertes Vorausfühlen vermag die mit diesen Prozessen verbundene leibliche Autorität jedoch nicht aufzuheben. 5.2.1 Der blutende Leib Jeder Mensch hat schon einmal geblutet, vor allem in der Kindheit, wenn das Wissen um die Widerständigkeit der uns umgebenden Dinge und um die res extensa, die unser Körper ist, erlernt wird. Dieses Aneignen vollzieht sich vorwiegend durch Schmerzerfahrungen und dazu gehört auch die Erfahrung, dass wir bluten können und bluten, wenn wir mit unseren Aktivitäten und derjenigen Anderer nicht umsichtig umgehen. Obschon es – meines Wissens – keine wissenschaftlichen Erhebungen darüber gibt, wie das erste Bluten etwa einer Schnittwunde erlebt wird bzw. wie uns zum ersten Mal zu Bewusstsein kommt, dass wir bluten können und bluten, handelt es sich doch um ein Ereignis von nicht geringer Tragweite, das bei Kindern gelegentlich zu Befremden und Beunruhigung bis hin zu hysterischen Reaktionen führt. Eine blutende Wunde, die im Bereich unmittelbarer Sichtbarkeit liegt, pflegt besondere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Nach solchen Erlebnissen gefragt, erinnern sich Erwachsene häufig gut daran, wie sie als Kind mit den blutenden Wunden und Blutkrusten umgingen, wie sie beispielsweise immer wieder die Krusten ihrer Kniewunden ›abknibbelten‹, um den Vorgang des Blutens oder damit eventuell verbundenen Schmerzens bewusst zu erleben. 1 Das Bluten-Können schient den Umgang mit dem eigenen Leib, und es dürfte wohl nicht übertrieben sein zu behaupten, dass die erste ›ärztliche‹ bzw. ›therapeutische‹ Maßnahme am Körper, die der Mensch unseres Kulturkreises erlernt, diejenige des Anlegens eines Pflasters ist. Neben dem generischen Bluten haben Frauen ihre weiblichen Bluterfahrungen und werden in Menstruation, Defloration und Lochien mit ihrem blutenden Genital konfrontiert. Die Erfahrung des blutenden Leibes ist eine solche des an der genitalen Zone verströmenden, tropfenden und einnässenden Leibes. Das Einnässen wird in allen Bluterfahrungen am 1

Mit blutenden Wunden wird bei Kindern ein besonderer Umgang gepflegt. Es sind heute vor allem Frauen, die sich sogenannter »magischer« Heilmethoden bedienen: Die Mutter bepustet die Wunde, streicht mit den Händen über sie, streicht ihre Spucke auf bzw. in sie oder singt der Wunde ein Lied (z. B. »Heile, heile Gänschen«); dies sind Verhaltensweisen, die bei anderen »Erkrankungen« wie z. B. dem Schnupfen unüblich sind.

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II Topographie des weiblichen Leibes

Genital erlebt, der relative Ort jedoch, von dem das Bluten als Ausgangsregion gespürt werden kann, ist in Menstruation und Lochien der Unterleib, bei der Defloration das Genital selbst. Folglich haben wir es mit unterschiedlichen Erfahrungen zu tun. Eine Gemeinsamkeit besteht darin, dass das Genital nicht durch einen Willensimpuls oder irgendeine eigenleibliche Aktivität zu diesem spezifischen Bluten zu bringen ist, wobei das Deflorationsblut eine Grenzstellung einnimmt. Während ein Bluten aus beliebigen Stellen an der Haut von außen, etwa durch einen Schnitt, jederzeit herbeiführbar ist, lässt sich das weibliche Bluten, wie es in Menstruation und Lochien auftritt, nicht durch einen solchen Angriff auf die Körperoberfläche oder gar am Genital hervorzurufen. Es stammt schlechterdings aus dem Leibesinneren. Der Leib blutet am Genital, und das Warum oder Woher oder Wann ist nicht verfügbar und tritt nicht in den Bereich der Sichtbarkeit, es bleibt verborgen, wenngleich verschiedene Leibesinseln begleitend von Regungen bis hin zu starken Sensationen betroffen sein können. Blut strömt, fließt, sickert und tropft aus dem Genital und nässt dieses ein. Es strömt und tropft aber nicht stetig, auch nicht immer in derselben Konsistenz, das Bluten dauert unterschiedlich lang und das Blut bildet keine Krusten an der Körperoberfläche; es fließt ab und versiegt nach eigenen zeitlichen Vorgaben, es bleibt flüssig bis zähflüssig, mitunter klumpig, wird aber niemals am Ort seines Austretens dicht und hart. Es gibt eine Reihe von Unterschieden zwischen den drei weiblichen Bluterfahrungen. Der blutende Leib, wie er sich in der Defloration aufdrängt, ist ein einmaliges, unwiederholbares Ereignis, das sich sehr wohl durch einen gezielten Eingriff herbeiführen lässt, das sich unbeabsichtigt bei sportlichen Aktivitäten einstellen kann oder eben beim Geschlechtsverkehr. Die Defloration im weiteren Sinne (Reißen des Hymens) ist von der Defloration im engeren und bedeutenderen Sinne (erster Geschlechtsverkehr mit oder ohne Reißen des Hymens) zu unterscheiden. Das Deflorationsbluten stellt sich nicht zwingend beim ersten Koitus ein, es kann völlig ausbleiben oder auch ohne ›äußeren‹ Eingriff geschehen. Die mit der Defloration verbundene Bluterfahrung ist an sich trivial und gleicht auf ihre Art der Bluterfahrung von Schnittwunden oder – besser – Zahnfleischverletzungen, da keine Krustenbildung stattfindet. Es fließt nicht viel Blut, und das Bluten dauert nicht lange. Das Blut ist wie bei Schnittoder Zahnfleischwunden leichtflüssig, nicht klumpig oder zäh, es strömt weniger, sickert eher. Diese Bluterfahrung ist oberflächlich und häufig mit einer bewusst erlebten Ursache verbunden, z. B. das erste Hineindrängen von ›etwas‹ in die Vagina. Dieses kann schmerzhaft sein und wird u. U. als Verletzung wahrgenommen. Das Bluten hat seinen Ort an der ›verletzten‹ 210 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Ergänzende Systematik der Erfahrungsmodi

Stelle. Das unterscheidet diese Bluterfahrung fundamental von den Bluterfahrungen der Menstruationen und Lochien. Die Erfahrung des blutenden Leibes in der Menstruation ist komplexer. Es ist kein Anlass oder Auslöser qua Spüren oder qua ›Eingriff‹ von außen evident gegeben. Das Menstruationsbluten ist von eigenleiblicher Autorität und keine einmalige Angelegenheit. Es ist kein Ereignis, sondern ein Zustand, in den der Leib ein- und wieder austritt; es lässt sich aber von der Regelmäßigkeit nicht auf ein stets gleichbleibendes Geschehen schließen. Jede Menstruation beginnt, verläuft und endet auf ihre Weise, wenngleich sich Typen, z. B. starke oder schwache Blutungen, und einzelne Phasen innerhalb einer Menstruation unterscheiden lassen. Das Bluten wird, abgesehen von begleitenden Regungen und Sensationen, durch Einnässen des Genitals bemerkt. Das Einnässen ist von zähflüssiger Natur, es ist verströmend, tropfend, jedoch keinesfalls spritzend, dagegen mitunter von grobstofflicher, klumpiger, auch schleimiger Konsistenz, wobei auch Übergänge zwischen flüssigem, zähflüssigem und körnig-dichtem Charakter zu bemerken sind. Es kann sich zu Beginn eher zögerlich einstellen oder aber mit leichtem bis heftigem Verströmen, das an der Scheidenöffnung mit Richtungstendenz vom Unterleib kommend gespürt wird. Nach seinem Einsetzen vollzieht sich das Bluten mehr oder weniger kontinuierlich, ohne dass aber ein Blutfluss dauernd gespürt würde. Neben gelegentlichen Empfindungen des Verströmens, z. B. eines warmen Schwalls, ist es vor allem die akkumulierte Nässe, die am Genital bemerkt wird. Die Nässe wird eher oberflächlich oder dicht, zäh und voll oder auch leicht, schwer und körnig gefühlt. Es muss jedoch hinzugefügt werden, dass weibliche Hygieneartikel, insbesondere der Tampon gerade den Aspekt der spürbaren Nässe nivellieren. Gegen Ende der Blutung geht die Nässe allmählich in ›Trockenheit‹ über. Das Verströmen wird weniger, bleibt aus; die Nässe verliert sich, wobei in die nachfolgende ›Trockenheit‹ noch einzelne Nässeempfindungen hineinragen. Trockenheit wird jedoch am Genital nicht gespürt, wohl aber die Abwesenheit der Nässe bzw. die Rückkehr zum ›normalen‹ Milieu. Das Menstruationsbluten ist in keiner Weise am Ort seines Austritts schmerzhaft und vollzieht sich ohne die Erfahrung einer Verwundung oder Verletzung, weder hinsichtlich der genitalen Zone noch auch in Bezug auf den Unterleib. Als Abfluss von Flüssigkeit ist es daher mit dem ebenso schmerzfreien Abfluss des Urins vergleichbar, allerdings vollzieht sich der Abfluss an verschiedenen Regionen der genitalen Zone und lässt sich im Falle des Urins nach wenigen Jahren willentlich steuern. Wenngleich das Bluten ohne Erfahrung von Verwundung geschieht, gibt es doch 211 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

II Topographie des weiblichen Leibes

einen spürbaren Ort, der als das Woher des Blutes lokalisiert werden kann, und zwar der Uterus als jene Leibesinsel, die während der Menstruation häufig, aber nicht zwingend, durch Regungen und Sensationen entfaltet ist. Solche das Bluten begleitende Regungen müssen nicht schmerzhaft sein, werden u. U. nur unterschwellig wahrgenommen, sie können aber den Charakter krampfartiger, auch dramatischer Schmerzen annehmen, so dass das Bluten als Folge von Konvulsionen im Leibesinneren erlebt wird. In jedem Fall wird beim Menstruationsbluten nicht das Genital selbst als dasjenige wahrgenommen, was die Blutung auslöst. Ebenso wenig wird, wie bereits diskutiert, die Vagina als ein ›Durchgangsrohr‹ für dieses Blut erfahren, so dass man behaupten kann, die Menstruation sei in ihrem Wesen nach und in einer von allem individuell verschiedenen Erleben reduzierten Betrachtung eine Leiberfahrung der am Genital sich unwillkürlich ausbreitenden akkumulierten zähflüssigen Nässe. Der blutende Leib, wie er sich mit den Lochien aufdrängt, ist eine optionale Erfahrung, weil sie bei Enthaltsamkeit von Befruchtungsakten verhindert werden kann. Tritt sie jedoch ein, hat sie einen ebenso scharfen Charakter eigenleiblicher Autorität wie die Menstruation. Bei den Lochien handelt sich entweder um ein einmalig oder mehrmalig, nicht-rhythmisch, also unregelmäßig auftretendes Ereignis, das immer Folge einer Geburt ist, also – wie bei der Defloration, doch aus anderer Richtung stammend – in engem Zusammenhang mit einem bewirkenden Impuls steht. Das Bluten post partum ist mit dem Menstruationsbluten verwandt, es ist auch ein leiblicher Zustand, kein Ereignis, durch seine entschieden längere Dauer (bis zu sechs Wochen), seine Intensität und Menge jedoch anders geartet. Unabhängig von Regungen und Sensationen, die in Verbindung mit den Lochien stehen und sich an Unterleib und Brust ereignen, steht in dieser Bluterfahrung wieder die akkumulierte Nässe bzw. das Einnässen im Vordergrund. Diese Nässe, ihr Verströmen, Herausschießen, Herausschwemmen und die Kontinuität des Vorgangs drängt sich aber wesentlich stärker auf als beim Menstruationsbluten. Die blutige Nässe ist füllig, voluminös und schwer, sowohl leicht- als auch zähflüssig, ferner sehr häufig von Klumpen durchsetzt, deren Ablösen vom Leibe an der Scheidenöffnung sich dem Erleben als geringfügige Widerständigkeit aufzwingt, so dass hier die Dimensionen des Flüssigen und Festen ineinander übergehen. Die Nässe wird vereinzelt, wenn sie sich zur Klumpigkeit, also zu Blutbrocken zusammengeballt hat, als geringfügiges Gewicht empfunden, das vom Leibe abfällt, von ihm weggeschoben und -gedrückt wird. Ähnlich wie das Menstruationsbluten ist das Wochenbluten bei seinem Austritt nicht schmerzhaft. Die Wöchnerin wird gewahr, dass das Woher 212 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Ergänzende Systematik der Erfahrungsmodi

des Blutes nicht das Genital selbst ist, sondern, und zwar deutlicher als beim Menstruationsbluten, der Unterleib mit dem Uterus als Leibesinsel. Dieser spürbare Zusammenhang kommt beispielsweise in typischen Nachwehen zum Tragen, also Kontraktionen, die das Abfließen des Blutes in voluminösen Blutschwällen oder das Abstoßen von Blutklumpen zur Folge haben können. Ferner kann das Stillen Einfluss auf Kontraktionsaktivität und Blutungsintensität haben – ein leibliches Zusammenspiel zwischen Brust, Uterus und Genital, das für das Wochenbluten charakteristisch ist. In der Bluterfahrung der Lochien kommt es wie bei den Menstruationen zum Abflauen und Sich-Verlieren der Nässe, wobei zunächst ein deutlicher Rückgang von mit Körnigkeit durchsetzter Nässe einsetzt und die Bluterfahrung danach immer mehr einer starken Menstruationsblutung gleicht. Beim Deflorations-, Menstruations- und Wochenbluten kommt jeweils das Blut als Nässe erzeugende, mannigfache differenzierte und vereinzelt ins Zähe und Feste übergehende Flüssigkeit ins Spüren. Die Bluterfahrung erzeugt ein bestimmtes ›stoffliches Milieu‹ am Genital und um dasselbe herum. Es gehört zu den Phänomenen der von Schmitz charakterisierten Einleibung, dass dieses spezifische, aus körpereigener ›Substanz‹ aufgebaute Milieu weder in seinem jeweiligen Entstehen, noch auch dauernd als solches im Spüren präsent sein muss. Vielmehr ist diese Nässe etwas, das meist, aber nicht zwingend beim ersten jeweiligen Auftreten, also etwa zu Beginn der Menstruation auffällig wird, dann aber gleichsam im Gewoge verschwommener leiblicher Eindrücke völlig ›verschwimmen‹ kann. So erklärt sich das von vielen Frauen erlebte Phänomen, dass das Menstruationsblut bereits die Kleidung ›befleckt‹ hat, bevor das Einsetzen der Blutung bewusst und als Nässe leiblich gespürt wird. Das geschieht vor allem deshalb so häufig, weil die ersten Blutstropfen das spezifische Milieu der Nässe am Genital erst allmählich aufbauen, bevor es sich als ›satte‹ Nässe ausbreitend dem Erleben aufdrängt. Andererseits kennen Frauen auch das Phänomen, dass sie meinen, die Blutung hätte eingesetzt, obwohl sie noch keine Spuren zeigt. Das wiederum hängt mit den Regungen und Sensationen zusammen, die eine Blutung an verschiedenen Leibesinseln im Vorfeld hervorrufen kann. Zum Phänomen der Einleibung körpereigener Flüssigkeiten gehört, dass die Nässe, in die das Genital eingebettet ist, nicht dauernd gespürt wird. Es drängt sich vielleicht gelegentlich ein Schwall sich ergießender Flüssigkeit, ein schweres Feucht-Werden und Abfließen auf, das dann wiederum in das bereits vorhandene Milieu der Nässe eingeht. Es verhält sich mit dieser Nässe m. E. so wie mit der Kleidung: Man legt Kleider an, spürt 213 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

II Topographie des weiblichen Leibes

ihre Beschaffenheit und das Umhüllt-Sein von Stoff, doch dann diffundiert die Kleidung mit dem Leib und ist nicht weiter auffällig, wenn nicht besondere Anlässe – Rutschen, Ziehen, Kratzen und dergleichen – sie wieder spürbar werden lassen. In ähnlicher Weise vollzieht sich nicht allein die Einleibung in die Nässe, sondern auch diejenige in die zum Auffangen verwendeten Hygieneartikel. Sie werden wie Kleidung angelegt, verschwimmen dann aber im Leiberleben, was beim Tampon besonders auffällig ist, da nach dem Einführen weder sein Vorhanden-Sein in der Vagina noch das Heraushängen des ›Ziehbändchens‹ an der Scheidenöffnung oder den Schamlippen gespürt wird. An diesen Hygieneartikeln wird aber schließlich, da sie Nässe auffangen und ihr Gewicht verändern, ein Wandel in Richtung Schwere und Fülle gespürt. Kein Außenstehender kann einer Frau sagen, wann sie ihre Hygieneartikel zu wechseln hat, es sei denn er verweist auf Gefahren bei allzu langem, an physikalischer Zeit gemessenem Gebrauch. Frauen spüren, wann es soweit ist, wann der Hygieneartikel, also etwa die Binde ›voll‹ ist (beim Tampon scheint das nicht so sicher zu sein, obwohl auch ein ›ausfließendes‹ Tampon gespürt wird), wann die Nässe schwer und dicht wird, sich ›über Gebühr‹ ausbreitet, vielleicht sogar Kleidungsstücke einnässt. Das betrifft vor allem das Bluten im Zustand der Wachheit. Die Bluterfahrung in Menstruation und Lochien als mehrtägiger oder -wöchiger Zustand hält beim Schlafen natürlicherweise an. Im Schlaf geht die Einleibung in die unwillkürlich verströmende Nässe so weit, dass ein ›Überfließen‹ der Hygieneartikel oder in die Kleidung geschehen kann, ohne dass die Schlafende dadurch geweckt würde. So finden sich Frauen in ihren Bluterfahrungen beim Erwachen gelegentlich in einem ›durchnässten‹ Zustand oder auch ›eingetrockneter‹ Nässe vor. Die Nässe ist in der Kleidung, in und auf den Hygieneartikeln, an der Haut des GenitalUmfeldes, an der oberen Beinpartie etc., sie kann bereits ein- bzw. angetrocknet, also hart geworden sein und nunmehr, vor allem bei einsetzenden Bewegungen als ziehend und spannend auf der Haut oder als hart und rau in der Berührung durch Kleidungsstücke empfunden werden. Diese Empfindungen des angetrockneten Blutes auf der Haut sind aber von solchen bei Krustenbildung zu unterscheiden. Bei Wundverkrustungen findet das Eintrocknen primär an der Stelle der Wunde statt und die Kruste bedeckt gleichsam ›offenes‹ Fleisch; das Eintrocknen von Menstruations- und Wochenblut auf der das Genital umgebenden Haut führt zu Empfindungen, die auch durch andere auf die Haut gebrachte und angetrocknete Flüssigkeiten simuliert werden können oder etwa auch auftreten, wenn ausströmende Muttermilch am Körper antrocknet. Diese 214 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Ergänzende Systematik der Erfahrungsmodi

Empfindungen gehen lediglich auf die auf intakter Haut eingetrocknete Flüssigkeit zurück. Die Analyse der weiblichen Bluterfahrungen zeigt deutlich, dass das Bluten diffundierenden Charakter bezüglich des Empfindens hat und gar nicht weiter auffällig sein muss bzw. nur in bestimmten Formen ins bewusste Erleben tritt. Dass allerdings gerade das weibliche Bluten für die Prägung von Weiblichkeitsbildern eine so entscheidende Rolle gespielt hat (und noch spielt), ist dem Umstand geschuldet, dass das Blut mit einem Numinosen in Zusammenhang gebracht wird. Die menschliche Einbildungskraft hat insbesondere um die weiblichen Bluterfahrungen ein Konglomerat chaotisch-mannigfaltiger Atmosphären entfaltet. Im dritten Hauptteil wird diesem situativen und kontextuellen Horizont subjektiven Erlebens Rechnung getragen. 5.2.2 Der sekretierende Leib (Sexualsekrete) Die Rede vom sekretierenden Leib bezieht sich auf die Sexualsekrete, nicht auf allgemeine Formen des Sekretierens wie das ›Naselaufen‹, Weinen, Eitern von Wunden etc. und auch nicht in einem geschlechtsspezifischen Sinne auf vaginale Sekrete wie den Weißfluss, eine Sekretausscheidung, die unabhängig von leiblichen Regungen in Erscheinung tritt. Es geht vielmehr um die lustvolle Erfahrung des weiblichen Leibes und im Besonderen darum, in welcher Weise in ihr das Erleben von Flüssigem zum Tragen kommt. Die Art der sexuellen Tätigkeit, ob auto-, bi-, hetero- oder homosexuell, ob einzeln, als Paar oder in Gruppen ist für die Perspektive auf den sekretierenden Leib unerheblich. Wie bei der Analyse der Leibesinseln als Phänomen des verflüssigten Genitals beschrieben, stehen die sexuellen Regungen der Frau in Zusammenhang mit der Erfahrung von Flüssigem, das sich am Genital breit macht und in akkumulierter Nässe austritt. Dort wurde schon gesagt, dass im Unterschied zu den Bluterfahrungen von Menstruation und Lochien das Regungsspektrum unmittelbar in Verbindung zur Erfahrung des »Flüssig-Werdens« steht. Dass die Frau menstruiert, muss ihr nicht unmittelbar im Erleben präsent sein. Die Herkunft der Flüssigkeit ist nicht das Genital, und der Uterus regt sich nicht immer in auffälliger Weise. Anders verhält es sich bei den ›libidinösen‹ Regungen, denn hier ist das Erlebnisspektrum bereits auf den ganzen Leib oder ausgesuchte Regionen in lustvoller Weitung bezogen und fokussiert sich in einem Dialog von Spannung und Schwellung häufig an der genitalen Zone. Wenn im Verlauf 215 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

II Topographie des weiblichen Leibes

dieser Vorgänge das Genital nass wird, so ist der Zusammenhang mit den Regungen und Sensationen evident. Das Nass-Werden geschieht an der Region der pointiert gespürten Lust. Es lassen sich drei Weisen der Erfahrung mit Flüssigen unterscheiden: erstens die Erfahrung des allmählich ein- und durchnässenden, anfänglich eher wässrigen Flüssigen (Gleitflüssigkeit), zweitens, häufig in Zusammenhang mit gesteigerter, auf den Orgasmus zusteuernder Erregung und beim Orgasmus, die Erfahrung des quellenden oder schäumenden eher zähen Flüssigen (Schleim oder Sekret) und drittens, bei selten erreichten Orgasmen, die Erfahrung des »ausspritzenden« wiederum eher wässrigen Flüssigen (die »weibliche Ejakulation«). 2 Gemäß dieser Trias entfaltet sich das Spüren der eigenen Flüssigkeiten mehr oder weniger aufdringlich. Es tritt – mit Ausnahme der dritten auffälligen Ausschüttung – nicht als isolierte Erfahrung hervor, sondern ist eingebettet in die Lust-Erfahrung und wird allenfalls als spezifisches Milieu bei Berührungen gespürt, z. B. auch, wenn der Penis in die Vagina eindringt und umfangen wird von ihrer Feuchtigkeit. Das Feucht-Werden des Genitals durch Gleitflüssigkeit (1) ist relativ unaufdringlich und wird häufig erst dann bemerkt, wenn eine gewisse Ansammlung vorhanden ist, die sich ausbreitend die genitale Zone einnässt. Kommt es jedoch zum »Verflüssigen« durch Schleim und Sekret (2), wird die zähflüssige Nässe als umgreifende erlebt, die sich u. U. recht voluminös ausbreitet, im Falle der Berührung mit Kleidung diese sogleich durchfeuchtet und einnässt, bei Bewegungen oder in der Penetration gelegentlich Geräusche verursacht und über die genitale Zone hinaus ausstrahlend Nässeempfindungen vermittelt. Da es sich um eine zähe Flüssigkeit handelt, wird selten ein regelrechtes Abfließen erlebt, eher eine Art Aufschäumen und Aufquellen, das im Orgasmus noch von einem leicht pointierten Abfluss oder dem Ausstoßen einer gewissen Menge dieses Sekrets begleitet sein kann. Die »weibliche Ejakulation« (3) ist eine zugespitzte Erfahrung des Austritts körpereigener Flüssigkeit, die den Charakter des Verspritzens hat, weshalb die Bezeichnung »Ejakulation« an die männliche Samenausscheidung angelehnt ist. Kennzeichnend hierfür ist der plötzliche unverfügbare Ausstoß oder Erguss einer relativ großen Menge von Flüssigkeit. 2

Taoistische Sexualtheoretiker haben diese Trias anscheinend schon früh erkannt, wenn sie, Chia (1987, 52) zufolge, »in Zusammenhang mit dem weiblichen Orgasmus drei ›Wasser‹ oder Arten von Flüssigkeiten« sowie ihre Ausscheidung beschrieben. »Die Gleitflüssigkeit, die bei sexueller Erregung austritt, gilt als das erste Wasser. Die Sekrete, die beim gewöhnlichen Orgasmus erzeugt werden, sind das zweite. Das dritte Wasser, das der weiblichen Ejakulation, die viele Frauen nie erleben, kommt aus dem G-Punkt.«

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Ergänzende Systematik der Erfahrungsmodi

Über die »weibliche Ejakulation« herrscht in der Sexualforschung noch weitgehend Verwirrung. So lehnt der Kinsey-Report (1970, 495) diese Bezeichnung als irrtümlich ab: »Da die Prostata und die Samenblasen bei der Frau nur rudimentäre Organe sind, hat sie keine Ejakulation im eigentlichen Sinne. Die auf den Orgasmus folgenden Muskelkontraktionen der Vagina können etwa Genitalsekrete herauspressen und sie in einigen wenigen Fällen mit einer gewissen Kraft herausstoßen. Es wird dies, besonders in der ausgesprochen erotischen Literatur, als Ejakulation der Frau bezeichnet; aber der Terminus kann in diesem Zusammenhang eigentlich nicht angewandt werden. Die Ejakulation ist in der Tat das einzige Phänomen der Physiologie der sexuellen Reaktion, das bei Mann und Frau nicht in entsprechend gleicher Form eintritt oder durch weitgehend homologe Funktionen dargestellt wird. … Der Orgasmus der Frau entspricht dem männlichen in allen physiologischen Einzelheiten, mit der einzigen Ausnahme, daß er nicht von Ejakulationen begleitet ist.«

Man mag der Bezeichnung »Ejakulation« hinsichtlich weiblicher Leiberfahrung zu Recht kritisch gegenüber stehen, da sie in Analogie zu einem Phänomen am männlichen Körper gebildet wird, ohne dass die körperlichen Grundlagen dafür vergleichbar wären. Selbst wenn es so etwas wie eine »weibliche Ejakulation« gibt, so ist nirgendwo am weiblichen Körper eine Öffnung ausfindig zu machen, aus der das »weibliche Ejakulat« in der Weise herausspritzen könnte, wie das beim Mann der Fall ist. Auch ist keineswegs klar, wo im weiblichen Körper eine Flüssigkeit wie das »weibliche Ejakulat« sich vor seiner Ausspritzung befindet, so dass selbst Chia, ein überzeugter Anhänger der Theorie von der »weiblichen Ejakulation«, vor einer Erklärungsnot steht, wenn er (1987, 52) einräumt, dass bisher »noch in keiner Forschungsarbeit festgestellt werden« konnte, »wo diese Flüssigkeit im Körper erzeugt oder gespeichert wird.« Dennoch berichten Frauen von »Ejakulationen«, häufig bei tiefgreifenden sexuellen Erlebnissen, die zwar gern in Zusammenhang mit dem – leibphänomenologisch problematischen – »G-Punkt« gesehen werden, die aber auch unabhängig von der Stimulierung bestimmter Regionen der genitalen Zone auftreten. Die ausgestoßene Flüssigkeit lässt sich hinsichtlich Konsistenz und Menge von den beiden anderen Flüssigkeiten (Gleitflüssigkeit und Schleim bzw. Sekret) klar unterscheiden. Das weibliche »Ejakulat«, »das in relativ großen Mengen ausgestoßen werden kann«, gleiche »in hohem Maße der Samenflüssigkeit«, und es sei »eindeutig kein Urin« (Chia, 1987, 52). Für dieses »Ejakulat« hat sich der Begriff »Gusher« eingebürgert:

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»Wenn er [der G-Punkt, UG] stimuliert wird, kommt es meist zu einem intensiven Orgasmus, der manchmal sogar von einer Ejakulation, Gusher genannt, begleitet wird. Tatsächlich kommt es zu einer beachtlichen Absonderung einer hellen, wässrigen Flüssigkeit, die oft wie ein warmes Bächlein an den Beinen herunterrinnt. Das Sekret ähnelt sehr der Samenflüssigkeit, enthält aber natürlich keine Samenzellen.« (Keesling, zit. nach Valitutti/Verdegiglio, 2001, 156 f.)

Auch Keesling betont, dass es sich nicht um Urin handelt. Während männliches Ejakulieren als normal gilt, wird der Flüssigkeitsabsonderung als sexuelle Reaktion des weiblichen Genitals allgemein wenig Beachtung geschenkt und es gibt über das spezielle Phänomen »Gusher« keine empirischen Untersuchungen. Die historisch gewachsenen Formen des gendering scheinen jedenfalls mit dafür verantwortlich zu sein, dass eine eruptive Flüssigkeitsabsonderung aus dem weiblichen Genital Irritationen hervorruft: »Allerdings berichten viele Frauen, die eine Ejakulation erlebt hatten, daß sie erschrocken und bestürzt gewesen waren, weil sie glaubten uriniert zu haben. Aus diesem Grunde gewöhnten sie sich an, diese Reaktion zurückzuhalten. Jetzt, da sich die Ejakulationsfähigkeit der Frau herumgesprochen hat, werden diese Frauen wahrscheinlich sehr erleichtert sein und den Vorgang genießen.« (Chia, 1987, 52)

Von einer ›Salonfähigkeit‹ der »weibliche Ejakulation« kann jedoch keine Rede sein, und die meisten Frauen haben ihre Orgasmen ohne »Gusher« bzw. erliegen in der Spontaneität eines solchen Ereignisses dem Missverständnis, sie hätten uriniert: »Viele Frauen haben nur ein einziges Mal so einen Orgasmus erlebt und waren nicht mehr imstande, die Erfahrung zu wiederholen. Entweder, weil dem Partner gar nicht bewusst war, was genau er gemacht hatte und es ihm später nicht mehr gelang, den G-Punkt zu stimulieren, oder weil die Frau aufgrund ihrer unerwarteten Reaktion so erschrocken war, daß sie sich nicht mehr traute, die Stellung einzunehmen, die den Gusher hervorgerufen hatte. Oder weil sie glaubte, es handle sich dabei um eine spezielle Form der Inkontinenz während des Geschlechtsverkehrs und der Arzt ihr geraten hatte, diese Stellung nicht mehr einzunehmen. Man sollte aber wissen, daß der Gusher ein absolut natürlicher Vorgang und eine wunderbare Erfahrung für jede Frau ist.« (Keesling, zit. nach Valitutti/Verdegiglio, 2001, 157)

Abgesehen davon, dass Keesling hier einen problematischen Zusammenhang zwischen Stellungen, »G-Punkt« und passivem Penetriert-Werden setzt, wird hier die schwierige Situation mit einem Leiberleben deutlich, das beim ersten Mal überrascht und dann abgelehnt wird, weil es nicht als Phänomen weiblicher Sexualität anerkannt ist. Gerade die Tatsache, dass bei bestimmten vaginalen Stimulationen, offenbar auch in der Region des 218

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sogenannten »G-Punktes«, »das plötzliche Bedürfnis, Wasser zu lassen« (Smith, zit. nach Valitutti/Verdegiglio, 2001, 158) auftreten kann und viele Frauen den »Gusher« mit Inkontinenz verwechseln, führt neben Schreck- auch zu Schamreaktionen. Ob der »Gusher« sich im Falle einer breiteren Akzeptanz und Repräsentanz qua wissenschaftlicher Erklärbarkeit tatsächlich im sexuellen Erleben der Frau ›etablieren‹ könnte, sei dahingestellt. Abschließend sei noch auf eine andere Erfahrung des Flüssigen hingewiesen, die sich in sexueller Erregung, diesmal an den Brüsten ereignen kann und ebenfalls Ähnlichkeit mit der männlichen Ejakulation hat. Gemeint sind sexuelle Reaktionen der Brüste im Zustand der Laktation, die mit dem ›Abspritzen‹ von Milch einhergehen. Solche ›Milch-Ergüsse‹ müssen nicht an einen Orgasmus gekoppelt sein und können sich auch durch Stimulation der Brüste im Liebesspiel ergeben. Von mechanischen Reaktionen zu sprechen, wie beim Ausstreichen von Milch, ist jedoch abwegig, denn durch mechanische Streichbewegungen wird lediglich ein Heraustropfen oder ein leichtes Abfließen an der jeweils ›behandelten‹ Brust bewirkt. Was Frauen aber an ihren Brüsten als sekretierenden Leib erleben, ist ein voluminöses, pulsierendes Herausspritzen der Milch, und zwar auch dann, wenn die Brüste gar nicht berührt werden. Meist sind beide Brüste synchron daran beteiligt, was schon recht auffällig ist, wenn man mit Blick auf das Stillen in Betracht zieht, dass Brüste wechselseitig auf Saugempfindungen reagieren, allenfalls begleitet von einer abgeschwächt übertragenen Reaktion an der anderen Brust. Hier liegt tatsächlich eine Erfahrung des ›spritzenden‹ weiblichen Leibes vor, die aber schon deshalb wenig mit männlichem Ejakulieren gemein hat, weil meist aus zwei pointierten Stellen Flüssigkeit abgeführt wird und diese Erfahrung mit dem ›Verflüssigen‹ der genitalen Zone einhergeht. 5.2.3 Der gebärende Leib (Fruchtwasser) Der Abgang des Fruchtwassers ist eine Erfahrung mit Flüssigem, die keinerlei eigenleiblicher Verfügung anheim gestellt ist. Das vorangehende Platzen der Fruchtblase ist schmerzfrei, wird allenfalls als leichtes Ziehen im Unterleib empfunden, woraufhin sich ein Schwall von wenigen Litern körpereigener Flüssigkeit aus dem Genital ergießt. Dieser Flüssigkeitsabgang ist ebenfalls schmerzfrei, wenngleich er von Wehen begleitet sein kann, weil er in der Regel während des Gebärens erfolgt. Die Hochschwangere ist mit einem erheblichen Austritt unter Druck stehender, ge219 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

II Topographie des weiblichen Leibes

radezu hervorsprudelnder Flüssigkeit konfrontiert, die sie durchnässt zurücklässt. Gespürt wird auch ein Hauch dieses Druckes, der sich nach unten hin befreit. Da Fruchtwasser nachgebildet wird, wenn die Geburt noch nicht weit fortgeschritten ist, kann es nach dem ersten, eigentlichen Erguss noch weitere, meist weniger voluminöse Ergüsse geben, etwa wenn die Frau aus der Liege- in die Sitz- oder Stehposition wechselt und die Schwerkraft an der ›lecken‹ Stelle ihr Übriges tut. Zu dieser ›lecken‹ Stelle sei allerdings mit Bezug auf die Leibesinseln betont, dass die Frau ihren Leib niemals als geöffneten empfindet. Auch beim Fruchtwasserabgang wird kein offenes oder geöffnetes Genital gespürt, sondern lediglich, dass Fruchtwasser in akkumulierter Nässe abgeht und sich am Körper Wege bahnt. Diese Erfahrung der Flüssigen ist an sich trivial, auch im Rahmen dessen, was im Verlauf der Geburt noch geschieht, aber es ist eine Erfahrung, in der die Frau auf drastische Weise damit konfrontiert wird, dass ihr Leib ›ausläuft‹ und ein erhebliches Volumen von Flüssigkeit verliert, ohne dass sie dem Einhalt gebieten oder den Schwall steuern kann. Als Woher dieses Flüssigen wird in diffuser Weise der Unterleib wahrgenommen; dort wird aber keine Ansammlung von Flüssigkeit gespürt. Der schwangere Bauch fühlt sich nicht als mit Flüssigkeit gefüllter ›Ballon‹ an. Dass dort u. a. Flüssigkeit versammelt ist, wird am Leibe erst erfahren, wenn der Blasensprung das Fruchtwasser als Nässe spürbar macht und sinnlich vor Augen führt. Der Bauch fühlt sich aber anders an, je nachdem ob das Fruchtwasser vollständig vorhanden ist oder nicht. 5.2.4 Der ernährende Leib Die Laktation und die Fähigkeit zur Ernährung eines anderen Menschen durch körpereigene Flüssigkeit gehört zu den Besonderheiten weiblichen Leiberlebens, die sich nur in bestimmten Situationen einstellen und nicht ad hoc, schon gar nicht willentlich herbeigeführt werden können. Zur Erfahrung des ernährenden Leibes gehören als Vorgeschichte unabdingbar Schwangerschaft und Geburt. Hat sich die Laktation einmal eingestellt, ist es andererseits ebenso wenig möglich, ihr durch einen Willensimpuls Einhalt zu gebieten. Es lässt sich nicht verhindern, dass der schwangere Leib sich auf die Laktation einstellt und nach der Geburt zum Stillen bereit ist. Wenn zunächst allgemein vom ernährenden Leib die Rede ist, so geschieht das mit Blick darauf, dass hier Erfahrungen des Flüssigen, des Festen und der Fülle ineinander greifen, die auch für die weiteren Analysen 220 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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relevant sind. Im Vordergrund steht die Wandlungsfähigkeit weiblicher Brüste. An den schon während der Schwangerschaft größer, dicker und schwerer sowie dichter und fester gewordenen Brüsten zeigt sich unmittelbar nach der Geburt noch keine deutliche Veränderung. Erst beim Milcheintritt wenige Tage nach der Geburt fühlen sich die Brüste anders an. Es kann aber nicht behauptet werden, beim Milcheintritt oder -schuss würde ›eintretende‹ oder ›einschießende‹ Milch, also Flüssigkeit gespürt, die von irgendwoher die Brust befüllt. Die Begriffe des ›Eintretens‹ und ›Einschießens‹ veranschaulichen zwar die gewisse Plötzlichkeit, mit der das Erleben der Brüste sich wandelt, leiblich wahrgenommen wird aber keineswegs das Füllen von Milchdrüsen, sondern eine feste und dichte Fülle der gesamten Brust, eventuell von einigen hervortretenden, Fülle ausstrahlenden Teilinseln durchzogen. So machen Brüste beim Milcheintritt ihre Gegenwart durch ein allmähliches oder plötzliches dichtes und festes, auch gespanntes und angeschwollenes Gefüllt-Sein geltend (Erfahrung der Fülle). Waren die Brüste vorher noch eher weich, fühlen sie sich jetzt hart und schwer an, gelegentlich bis zum Bersten voll oder auch steinhart (Erfahrung des Festen), was mit den am Körpermodell orientierten objektiven Tatsachen (mit Flüssigkeit gefüllte Brustdrüsen und Milchkanäle) wenig gemein hat. Es wird keine Flüssigkeit gespürt, sondern Fülle, Festigkeit, Härte und dadurch treten die Brüste als Einheit ins aufmerkende Spüren, wobei sie jetzt als Leibesinseln von starker Solidität erlebt werden und ihre Beweglichkeit ein wenig verlieren. An diesen derart ins Erleben tretenden Brüsten stellt sich alsbald ein Spannungszustand ein, der in einer sich steigernden Akkumulation nach ›Erlösung‹ drängt, d. h. die dichte, solide Fülle weitet sich aus, lässt die Haut spannen etc. und daraus ergibt sich das leibliche Verlangen nach ›Entleerung‹. Spätestens zu diesem Zeitpunkt entfaltet sich das Bedürfnis nach einer wie auch immer gearteten ›Abhilfe‹, also nach der Beseitigung dieses Spannungs- und Schwellungszustandes. Normalerweise verhindert regelmäßiges Stillen, das auch verstanden werden kann als das ›Stillen‹, Beruhigen eines eigenleiblichen Verlangens, ein allzu unangenehmes, schließlich schmerzhaftes Spüren angeschwollener Brüste. Ist ein Milcheintritt erfolgt, das Stillen aber nicht möglich, kann die Wöchnerin nur durch pharmazeutisches Intervenieren von diesem sich aufzwingenden Verlangen nach ›Entleerung‹ befreit werden. Freilich kann die Milch auch mittels manueller Ausstreichung und maschineller Pumptechniken an den Brüsten herausgetrieben werden, dieser mühsame Vorgang verschafft aber bei weitem nicht die ›Erlösung‹, die das Stillen bereitet. Es handelt sich also bei der Laktation um eine Erfahrung, die sich unabhängig von der 221 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

II Topographie des weiblichen Leibes

Anwesenheit des Säuglings in einem eigenleiblichen Drang entfaltet. Was die Wöchnerin spürt, ist im engeren Sinne nicht das Verlangen zu ernähren, sondern der Drang nach ›Befreiung‹ von einem leiblichen Zustand, der unangenehm bis schmerzhaft wird, wenn er allzu lange sich selbst überlassen bleibt. Das Stillen stellt den von der Natur des Leibes vorgezeichneten Weg zu einer solchen ›Erlösung‹ dar. Der Säugling ›befreit‹ von der dichten und harten Fülle der Brüste. Es ist von Bedeutung, dass sich das beschriebene Verlangen bei der Mutter nicht sofort nach der Geburt aufdrängt. Sie spürt ihre Brüste zunächst noch nicht ›gefüllt‹, als zur Ernährung des Säuglings befähigt. Mediziner sprechen zwar von der bereits vorhandenen wässrigen Vormilch, ein Elixier für die Gesundheit des Babys, diese hat sich aber nicht voluminös in den Brüsten entfaltet. Gleichwohl hat diese Anfangsphase der Stillbeziehung Einfluss auf den späteren Milcheintritt, insofern dieser durch das Saugen seine Schubkraft erhält. Der Säugling ›entlockt‹ dem Mutterleib die Milch, die ernähren soll und die sich schließlich als dichte ›Masse‹ in den Brüsten manifestiert. Nach der allgemeinen Charakterisierung des Phänomens »ernährender Leib«, sei nun explizit auf die Erfahrung des Flüssigen eingegangen, die insbesondere jene Momente betrifft, in denen die Milch aus dem Leib austritt, und zwar in exponierter Weise dann, wenn das Kind an der Brust saugend die Milch herauszieht. Bei diesem Vorgang wird aber der Austritt von Flüssigkeit selten an sich gespürt, geschweige denn jene Öffnungen an den Brustwarzen, durch welche die Milch fließt. Allerdings sind andere Phänomene zu bemerken. So ist von Bedeutung, dass sich die jeweilige Brustwarze beim Stillen in dem feuchten Milieu des Kindermundes befindet. Das Hereinschieben der Brustwarze in den Mund bringt bereits die Empfindung von Feuchtigkeit und auch Nässe mit sich. Bevor der eigene Leib Nässe abgibt, wird er selbst durch die Feuchtigkeit des Kindermundes benetzt; zieht das Kind etwa seinen Mund zurück, bleibt die Brustwarze eingenässt, was an der Haut, z. B. an einem Luftzug oder in Kontakt mit Kleidung sofort wahrgenommen wird. Möglicherweise tropft noch Milch nach, die auf der Haut abfließend gespürt wird. Das Stillen durchläuft verschiedene Phasen und Regungsspektren. Die Brust reagiert auf die Impulse des Säuglings, dort ›etwas‹ herauszusaugen, und so mag sich kurz nach dem ›Ansaugen‹ die Empfindung aufdrängen, dass ›etwas‹ in Fluss gerät, wobei der Eindruck des Fließens und Strömens daher rührt, dass aus der Tiefe der Brust eine mitunter recht starke Richtungstendenz auf die Brustwarze hin gespürt wird. Das kann sich so anfühlen, als quelle die Brust leicht auf und fokussiere sich an der Brustwarze. Hier liegt eine besondere Form der Responsivität vor, denn der 222 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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weibliche Leib reagiert auf das rhythmische Saugen mit ebenso rhythmischem Verströmen. Ist dieses Verströmen einmal in Gang gesetzt, wird auch das feuchte Milieu, in das die Brustwarze durch den Kindesmund eingetaucht ist, wesentlich nasser, ja als von bloßer Feuchte in durchdringende Nässe umschlagend empfunden. Der Kindesmund ist jetzt nicht mehr nur feucht, sondern angefüllt mit der eigenen Milch, die u. U. sichtbar aus dem Kindesmund herausquillt, wenn das Kind beispielsweise nicht in der Lage ist, ebenso schnell zu schlucken, wie die Milch fließt. Trennt die Frau den Kindesmund von der Brustwarze, etwa um die andere Brust anzulegen, bleibt die Empfindung der Nässe auf der gerade angelegten Brust bzw. an der Brustwarze zurück. An der zweiten Brust vollzieht sich derselbe Prozess, bei beidseitigem Anlegen während einer Stillepisode ist die zweite Brust aber bereits ›eingestimmt‹ und das Ansaugen führt wesentlich schneller zum Resultat des Verströmens. Die Erfahrung, dass Flüssiges aus den Brüsten austritt, kann auch unabhängig vom Stillvorgang vorkommen. Das mag sich einerseits relativ regungsarm einstellen und lediglich durch das Einnässen der die Brust umfassenden Kleidung ins Spüren treten, andererseits mag eine besondere leibliche Regung gespürt werden, ein Ziehen, Drücken, vielleicht auch Stechen, das von einem regelrechten Herausspritzen von Milch begleitet ist und zu starkem Einnässen führt. Solcher Flüssigkeitsaustritt außerhalb des Stillens kann verschiedene Gründe haben und erfolgt u. U. rein mechanisch bereits bei leichten oder festeren Berührungen der Brust, vor allem in der Anfangszeit. Dass die Milch auch manuell bzw. maschinell ›herausgelockt‹ werden kann, ist ebenfalls eine Erfahrung des Flüssigen außerhalb des Stillvorgangs ist. Die Milch kann aber auch in anderen, nicht mechanisch erklärbaren Zusammenhängen aus den Brüsten strömen, z. B. durch Gedanken an das Stillen oder den Säugling. Häufig reagieren Brüste auf das Schreien des Kindes mit Milchaustritt. Brüste im Zustand der Laktation sind offenbar auf eine weitreichende unwillkürliche Responsivität eingestellt, die nicht nur die Beziehung zwischen Stillender und Kind betrifft, denn vom Heraustropfen, -sickern oder -träufeln bis hin zum Herausspritzen und Herausschießen der Milch wird, wie erwähnt, auch in der leiblichen Liebe berichtet, was sowohl auf den sexuellen Charakter der Brüste als auch auf die Laktation als sexuelle Erfahrung verweist.

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5.3 Die Erfahrung des Festen Mit dem Begriff »Erfahrung des Festen« werden Erfahrungsmodi einer am Leib gespürten Widerständigkeit von ›Etwas‹ bezeichnet, d. h. von etwas im weitesten Sinne ›Materiellem‹, das u. a. den Leib im Hinblick auf etwas zu ihm Hinzukommendes oder ihn Verlassendes ›passiert‹. Die leibliche Erfahrung des Festen hängt schon in generischer Perspektive eng mit der ›Materialität‹ von Körpern zusammen. Leiblichkeit hat einen materiellen Referenten, den Körper als Ding, wie er zu sehen und zu tasten ist, Widerstand bietet, Raum einnimmt und sich in Solidität manifestiert. Insofern machen wir die Erfahrung des Festen als Widerständigkeit alltäglich, z. B. in leiblicher Lotung. Wenn wir sitzen, können wir spüren, dass unser Körper ›fest‹ auf einem Untergrund ruht; wir können den Übergang zwischen dem Körper und dem anderen Ding der Außenwelt, etwa dem Stuhl, präzise ausmachen, auch wenn der Stuhl durch unsere Eigenwärme bereits aufgewärmt ist und nicht mehr als kalt empfunden wird. Wir erleben, häufig nur im Hintergrund, die Solidität des eigenen Körpers, sie tritt uns aber in Erfahrungen seiner Widerständigkeit gegenüber den Dingen ganz besonders entgegen, z. B. wenn wir uns schmerzhaft am Tischbein stoßen. Wir setzen die Materialität des Körpers, seine Festigkeit, Widerständigkeit und Schwerkraft in allen Bereichen praktischer Lebensbewältigung ein, wenn wir z. B. irgendwo ›fest‹ drücken, ziehen oder schieben, wenn wir ›fest‹ zupacken, uns festhalten etc. Die Erfahrung des Festen machen wir nicht nur im Umgang mit Dingen, sondern auch mit dem eigenen Leib. Drücken wir die Hände fest aneinander, spüren wir nicht nur in den Armen Spannung und Schwellung, sondern auch eine spezifische ›Festigkeit‹ und undurchdringliche Solidität dort, wo die Hände gegeneinander arbeitend sich wechselseitig Widerstand bieten. Wir können die Erfahrung des Festen selbst bei Bewegungslosigkeit der Glieder an bestimmten Regionen des Leibes machen, z. B. am Bauch, den wir ›fest‹ zusammenziehen, anspannen können. An der Grenze eines festen Einziehens des Bauches steht das Empfinden unüberwindbarer Widerständigkeit. Ferner kennen wir ›Festes‹, das sich im Leibe aufhaltend, in ihn hineingelangend und ihn verlassend gespürt wird. Beim Essen spüren wir das mehr oder weniger Feste, Solide der Nahrung, arbeiten uns an diesem Widerständigen ab, zerstückeln, zerkleinern und zermalmen es, und auch nach dem Schlucken kann es noch spürbar bleiben, mit Richtungstendenz nach unten, im Schlund oder in der Magengrube. Irgendwann jedoch ist dieses ursprünglich ›Feste‹ vollständig einverleibt, nicht mehr spürbar. Im »analen 224 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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Drama« (Schmitz) arbeiten wir uns in umgekehrter Richtung gleichfalls an ›Festem‹ ab. Von dieser generischen Betrachtungsweise fällt der Brückenschlag zur weiblichen Leiberfahrung nicht schwer, denn die Frau kann in fünffacher Entfaltung ›Festes‹ erleben, das sich im Leibe aufhält, als Widerstand manifestiert, in ihn hineingelangt, sich dort bewegt sowie aus ihm hinausgelangt. Da ist die Erfahrung des penetrierten Leibes (1), in der etwas ›Festes‹ in den und aus dem Leib gelangt, die Erfahrung des graviden Leibes (2), in der ein sich bewegender, Widerstand leistender ›Festkörper‹ im Leib gespürt wird, die Erfahrung des gebärenden Leibes, bei der das Kind (3) und die Plazenta (4) als ›Festes‹ aus dem Leib herauskommt und schließlich die Erfahrung des ernährenden Leibes (5), bei der die Milch als ›Festes‹ im Leibe gespürt wird. 5.3.1 Der penetrierte Leib Penetrationen sind bei allen Menschen an mehreren Körperöffnungen möglich, sofern man sie als Eindringen eines ›Fremdkörpers‹ in solche Öffnungen, z. B. Mund und Anus, versteht. Für weibliches Leiberleben ist darüber hinaus die vaginale Penetration relevant. Im Vollzug eines lustvollen heterosexuellen Penetrationsaktes sind die Körperpositionen und -bewegungen am Unterleib beider Partner auf ein kleines Spektrum reduziert und auf eine gemeinsame Lotung angewiesen, die gerade an dem gespürten ›Festen‹ bzw. dem Ort der körperlichen Verschränkung eine Ausrichtung findet. Es stellen sich respondierende Interaktionen sowie die Entfaltung und der Schwund von Leibesinseln ein. Dass bei der Frau die Erfahrung des Flüssigen (Sexualsekrete) und des ›Verflüssigens‹ ihres Genitals (Entfaltung der genitalen Zone) eine wichtige Rolle spielt, wurde bereits ebenso behandelt wie das leibliche Verlangen nach der Penetration und die in ihr gespürte Widerständigkeit als Erfahrung des Festen. Das Feste wird als Widerstand in der Vagina gespürt, entfaltet sich dort als Leibesinsel. Die Erfahrung des penetrierten Leibes ist also durch den spürbaren Aufenthalt eines ›Festen‹ im eigenen Leib sowie durch die spürbare Bewegung dieses ›Festen‹ mit den Richtungsimpulsen ›in den Leib hinein‹ und ›aus dem Leib hinaus‹ gekennzeichnet und hat darüber hinaus eine aktive und passive Komponente. Das sogenannte ›Stoßen‹, das ›Auf-‹ und ›Abbewegen‹ des bzw. am ›Festen‹ ist nicht an das Geschlecht gebunden, d. h. Mann und Frau können gleichermaßen den aktiven wie passiven Part eines Penetrationsaktes übernehmen. Für die weibliche Erfahrung ist cha225 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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rakteristisch, dass die Einverleibung des ›Festen‹ sowie ein aktives ›Stoßen‹, genauer eine rhythmische Reibung und Bewegung am ›Festen‹, sich erst am Widerstand, also am gespürten ›Festen‹ im eigenen Leib entfalten kann, da ›Weiches‹ im Empfinden schnell diffundiert, gewissermaßen kaum ›Halt‹ findet. Die erste vaginale Penetration kann u. U. eine Erfahrung des zerreißenden oder zerplatzenden Leibes hervorrufen, die aber nicht an das Reißen des Hymens gekoppelt sein muss; sie kann sich auch einstellen, wenn das Hymen bereits durchstoßen oder wenig ausgeprägt ist. Ist mit ihr das Reißen des Hymens verbunden, muss sie sich nicht auch als eine Erfahrung des zerreißenden Leibes manifestieren, wohl aber wird in der Gegend des Hymens mitunter ein Widerstand gespürt, der durch das eingedrungene ›Feste‹ überwunden wird. Diese Pointe der Deflorationserfahrung ist insbesondere darin begründet, dass die Frau ihren Leib an der Vagina nicht als Hohlraum, Schaft oder Kanal empfindet, der für potenzielles Eindringen zur Verfügung steht. Dass sich dennoch etwas ›Festes‹ dort hineinzuschieben, zu verharren und zu bewegen vermag, ist für dieses Leiberleben überaus eigentümlich. Die Erfahrung des penetrierten Leibes hat in der Vergewaltigung ihren extremsten Exponenten. Das gewaltsame, Passivität aufnötigende Eindringen des fremden widerständigen ›Festen‹ in den Leib führt nicht selten zu ausgeprägten Erfahrungen des an diesem ›Festen‹ zerreißenden und zerplatzenden Leibes. 5.3.2 Der gravide Leib Wie schon deutlich wurde, ist die Erfahrung des Festen vorwiegend an gespürte Widerstände gekoppelt, die im Gegensatz zu den Erfahrungen des Flüssigen als fest, solide, wenig formbar, wenig anpassungsbereit und daher als mehr oder weniger harte, dichte, undurchdringliche Masse ins leibliche Spüren treten. Gravidität ist ein sehr komplexes Geschehen mit vielen Spielarten eigenleiblichen Empfindens. Mit der Schwangerschaft ist eine Erfahrung der Schwere verbunden, doch auch eine der Fülle. Wenn jetzt von der Erfahrung des Festen die Rede ist, so bezieht sich diese auf Erlebnisse gegen Mitte bis Ende einer Schwangerschaft, wenn der Bauch bereits stark dem Leibe vorsteht. Dann wird der ›Kugelbauch‹ als feste, in sich stabile Masse erlebt, es handelt sich aber um eine Erfahrung des in den Leib eingegossenen Festen. Obschon ein solcher ausufernder, fester Bauch bei alltäglichen Verrichtungen Rücksichtnahme erfordert, tritt dieses ›Feste‹ nur selten gleichsam als Ganzes am bzw. im eigenen Leibe Widerstand 226 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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Bietendes hervor, weshalb für die Erfahrung des ›Kugelbauches‹ eher das Erlebnis der Fülle maßgeblich ist. Allerdings sind die Kindsbewegungen durchaus eine Erfahrung des Festen am graviden Leib. Hier löst sich aus der diffusen Erfahrung der Fülle die Erfahrung eines vereinzelten Festen heraus, das sich am und im Leib mit fester, Widerstand bietender Masse und Kontur aufdrängt. Dabei handelt es sich – wie bei der Penetration – um das Erleben eines Festen, eines Widerständigen in Bewegung, das gerade durch seine unvermittelte Bewegung ins Spüren tritt und damit sofort an einem Ort hervortritt, auf den mit dem Finger gezeigt werden kann. Diese Erfahrung des Festen kann näher umschrieben werden als eine solche, in der im eigenen Leibe ein festes und von innen her Widerstand bietendes ›Etwas‹ plötzlich dadurch bewusst wird, dass es sich aus dem Gesamteindruck des festen, soliden Bauches abschält. Dieses sich als Widerstand herauslösende ›Etwas‹ ist kein klar umrissener ›Gegenstand‹, wie z. B. der deutlich spür- und ›greifbare‹ Penis in der Penetration, und dennoch ein zum Erlebnis kommendes sich im eigenen Leib befindliches ›Festes‹. Hier muss noch einmal hervorgehoben werden, dass Schwangere in Bezug auf ihren Bauch keine wie auch immer geartete Erfahrung des Flüssigen haben. Dass der Bauch mit einer Fruchtblase und Fruchtwasser gefüllt ist, in welcher der Fötus schwimmt, wissen wir zwar, gespürt wird das ›Flüssigkeitsreservoir‹ jedoch nicht. Die vielen, heutzutage auf dem sonographischen Bildschirm sichtbar werdenden Bewegungen und Rotationen des Fötus werden auch nicht in jedem Fall gespürt, wie ja ebenfalls bis zu einem gewissen Zeitpunkt eigenleiblich nicht bemerkt wird, ob es sich um einen Fötus oder mehrere den Bauch bewohnende Föten handelt. Was geschulte Personen am schwangeren Leib in der mittleren und letzten Phasen einer Gravidität von außen ertasten können, z. B. die Lage des Kopfes, des Gesäßes, der Arme und Beine ist ohne Interpretationshilfe für die Schwangere nicht zu eruieren. Sehr wohl spüren Schwangere gegen Ende ihrer Gravidität, dass sich der Fötus sprich die feste Masse als Ganze im Bauch verlagert und sich andere Schwerkraftverhältnisse einstellen, etwa ein verstärkter Druck auf den Beckenboden, was eine Erfahrung des Festen ist. Aber Schwangere spüren nicht, dass es der Kopf ist, der den Druck nach unten erzeugt, vielmehr erleben sie Schwerpunktveränderungen dieses grob konturierten Festen. Was sich aber unmittelbar aufdrängt, sind die mit den Kindsbewegungen verbundenen Erfahrungen eines von innen her wirkenden und zur Bauchdecke nach außen, aber ebenso ins Leibesinnere und zu den Seiten gerichteten Widerstandes. Es ist etwas Festes, eine diffuse Masse, die z. B. 227 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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aus dem Leibesinneren nach außen, gegen die Bauchwand, aber dort an jede beliebige, dann herausgelöste Stelle drückt. Es ist aber nicht der Körper des Fötus, der gespürt wird, denn der Fötus ist in seinen Konturen nicht präzise und schon gar nicht als kleiner Mensch wahrnehmbar, sondern etwas herausgelöstes ›Festes‹ an ausgewiesenen Stellen und Regionen des ansonsten diffusen Festen, als welches der Bauch erlebt wird. Die Erfahrung der Kindsbewegungen wird häufig als »Fußtritte« beschrieben, wobei diese Bezeichnung bereits eine am Körpermodell des einwohnenden Fötus orientierte Interpretation ist, denn die Füße des Fötus werden nicht als Füße gespürt, sondern als kleine, feste, sich hervorwölbende oder auch ausbeulende Widerstände an der Bauchdecke, die dort auch sichtbar und ertastet werden können. Dieses Feste schält sich gleichsam aus dem Nichts heraus und entschwindet nach seiner Manifestation als spürbarer Widerstand sogleich wieder in dieses Nichts, in die diffuse Masse des festen Bauches. Es ist also im Unterschied zur Penetration nicht so, dass ein Widerstand als konstant im Leibe befindlich erlebt wird, dessen Festigkeit durch Bewegung deutlich zum Bewusstsein kommt. Die Kindsbewegungen, aufdringlich, unverfügbar, sind die wohl drastischste Form, in der ein frei bewegliches Festes im eigenen Leib gespürt wird. Subtiler sind dagegen andere Weisen, von innen her wirkendes ›Festes‹ am graviden Leib zu erleben, die sich etwa in leichteren, weniger festen und zugespitzten, also eher protopathischen im Unterschied zu epikritischen Druckerlebnissen aufdrängen. Auch die Wehen können in ihrem vielfältigen Spektrum, das in den Einzelanalysen noch deutlich wird, vom Charakter einer Erfahrung des Festen sein. Während sich das Feste und Widerständige in der Penetration und beim Gebären auf den leiblichen Raum der Vagina beschränkt und dort Leibesinseln bildet, sind die Inselbildungen sowie die epikritischen und protopathischen Tendenzen von Regungen im Rahmen der Kindsbewegungen auf ein sehr großes Leibesfeld bezogen, den gesamten Bauchraum, dessen spezifische Konturen durch die Erfahrung des von innen her wirkenden ›Festen‹ deutlich gespürt werden, und zwar genau an jenen Stellen, die vom stoßenden ›Festen‹ betroffen sind. Der an sich diffus ausufernde Bauch kommt also in den Erfahrungen des Festen an ausgewählten Regionen zum Erleben. 5.3.3 Der gebärende Leib (Säugling) Auch das Gebären ist u. a. eine Erfahrung des Festen und hat darin Ähnlichkeit mit der Penetrationserfahrung. Das Widerstand bietende Feste ist 228 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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aber nicht ein von außen in den Leib dringender ›Fremdkörper‹, der zuvor sicht- und tastbar war, sondern im strengen Sinne zunächst einmal eigener Leib, der sich im Leib bewegt, dort in gewissem Umfang auch ertastbar ist, dann aus dem Leibe heraus drängt und sich von ihm ablöst und erst mit diesem Vorgang in die Sphäre der Sicht- und Tastbarkeit gerät. Von der Erfahrung des Festen lässt sich beim Gebären vornehmlich in der Austreibungsphase sprechen. Auch in der Eröffnungsphase kann man in einem weiteren Sinne Erfahrungen des Festen annehmen, beispielsweise das typische ›Steinhart‹-Werden des gesamten Bauches in den Wehen. Doch müssen zweierlei Phänomene unterschieden werden, denn dieses Hart-Werden tritt nicht als am bzw. im eigenen Leib Widerstand bietendes, bewegliches Festes ins Spüren, sondern in den von Schmitz beschriebenen Antagonisten Spannung und Schwellung sowie Engung und Weitung. Wird dagegen der Säugling ausgetrieben, wird im Leib etwas Festes, eine solide ›Masse‹ gespürt, die sich mit einer klaren Richtungstendenz aus dem Leibe hinaus bewegt und schiebt bzw. auch geschoben werden kann, denn mit dem gespürten Widerstand ist, wie bei der Penetration ein aktives ›Stoßen‹, hier ›Herausstoßen‹ möglich. Der sich in der Austreibungsphase manifestierende Gebärdrang ist unmittelbar mit dieser Erfahrung des Festen verbunden. Gebärdrang kann somit definiert werden als das sich unvermeidlich aufdrängende ›Sich-Abarbeiten-Müssen‹ an einem widerständigen Festen, das als solide, dichte Masse in Leibeszonen tritt, die der Verfügbarkeit unterstellt sind. Das Gebären bezeichnet in diesem spezifischen Kontext einen leiblichen Zustand, in dem in einer Erfahrung des Festen eigener Leib zum fremden Leib wird. 5.3.4 Der gebärende Leib (Plazenta) Im Vollzug des Gebärens ist auch das Austreiben der Plazenta eine Erfahrung des Festen. Der »Mutterkuchen« wird zuvor nicht als herausgehobenes Festes im Bauch wahrgenommen; er hat sich weder an einem bestimmten Ort als Leibesinsel aufgedrängt, noch hat er sich, wie der Fötus, bewegt und Empfindungen eines Widerstand bietenden Festen hervorgerufen. Wir wissen, dass die Plazenta nach der Austreibung des Kindes noch im Leibe ist und herauskommen soll, doch wird von dieser Dringlichkeit nichts gespürt, jedenfalls bis zu dem Moment, in dem die Plazenta als Festes am Genital ins Erleben tritt und dort hinausdrängt. Dieser Vorgang kann nicht ignoriert werden, weil er sich als Erfahrung eines Festen aufzwingt, das freilich eine andere Solidität hat, als das Kind, aber doch so 229 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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viel widerständige voluminöse Masse besitzt, dass diese unwillkürlich bemerkt wird, und zwar an der Vagina und der Scheidenöffnung, wie in den Kapiteln über die Leibesinseln beschrieben. Das Feste, das kurz vor seinem Austritt im eigenen Leibe als Widerstand gespürt wird, schiebt oder stülpt sich aus dem Leib bzw. kann, wie bei der Penetration und dem Gebären des Kindes, qua eigenleiblicher Aktivität mitgeschoben werden, sofern es als Festes in der Vagina ›Halt‹ bietend zu spüren ist. Hier kommt also erneut etwas aus dem eigenen Leibe, ein Teil von ihm, und damit endet das Gebären: Alles Feste, das mit dem nicht mehr zum eigenen Leib gehörenden Kind zusammenhing, hat den Leib verlassen. 5.3.5 Der ernährende Leib Die Erfahrung des Festen im Zustand der ernährenden Leibes betrifft nur ein ganz spezifisches Phänomen, während die Erfahrungen des Flüssigen und der Fülle die dominanten Erlebnisspektren sind. Es könnte auch leicht die Erfahrung des Festen mit derjenigen der Fülle verwechselt werden. Beide können aber ebenso nahezu zeitgleich oder unmittelbar aufeinander folgend ins Spüren treten, weshalb es hier einer Abgrenzung bedarf. In den vorangegangenen Kapiteln wurde deutlich, dass es bei der Erfahrung des Festen auch um die Erfahrung einer widerständigen Masse im Leib geht. Schon bei den Ausführungen zum graviden Leib wurde das Erlebnis, dass der Bauch in einer Wehe ›steinhart‹ wird, als grenzwertige Erfahrung des Festen betrachtet, da hier vor allem Spannung und Engung im Vordergrund stehen. Dagegen waren die Kindsbewegung von eindeutigem Charakter hinsichtlich eines im eigenen Leib spürbaren, sich bewegenden Widerstandes. Brüste können nun in der Laktation ebenfalls den Eindruck vermitteln, als seien sie ›steinhart‹, besonders auffällig beim Milcheinschuss oder bei einem Milchstau. Das sind Erfahrungen des Festen als eines die Brüste vollständig durchdringenden Festen. Meist geht diesen eine Erfahrung der Fülle voraus, wobei sich Fülle eigentlich noch nicht fest anfühlt oder anfühlen muss, sondern eher voll. Der Umschlag zum Festen erfolgt, wenn aus der Fülle Härte, also feste Solidität geworden ist. Dabei können leibliche Regungen wie Schwellung und Weitung eine Rolle spielen, die dann zur Erfahrung des Festen führen. Das als fest Erfahrene manifestiert sich sozusagen an der Schnittstelle, wo die Schwellung ihre größte Spannung erreicht hat und im strengen Sinne keine Bewegungsrichtung mehr hat, also ihre Krisis überschritten hat, und dort, wo die Weitung an ihr maxi230 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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males Ende gelangt ist. In und an den Brüsten wird eine derartige Festigkeit erlebt, dass diese als solide Masse selbst zum ›harten‹ Widerstand am eigenen Leibe werden, während die Erfahrung der Fülle eher als in den Leib eingegossene empfunden wird. Brüste, die von einer Erfahrung des Festen betroffen sind, erscheinen auch der tastenden Hand fest und hart, jedoch noch mit einer gewissen Nachgiebigkeit auf Druckerzeugung, der eigenleiblichen Empfindung drängen sie sich dagegen als unnachgiebig auf, mit der Widerständigkeit eines undurchdringlichen Steins. Diese Erfahrung des Festen, die nach sofortiger ›Erlösung‹ verlangt, kann sehr unangenehm und schmerzhaft sein und unterscheidet sich grundlegend von der Erfahrung der Fülle. Es mag sein, dass mit der Gewöhnung erneut Schwellungs- und Weitungsimpulse an den Brüsten gespürt werden, die dann zu einer Steigerung dieses Erlebnisses und seiner Schmerzpotenziale führen. Hier spielt auch immer die Erfahrung der Fülle herein, die sich dann zur Erfahrung des Festen auswächst bzw. sich in ihr stabilisiert und einen unbeweglichen, starren Pol findet. Brüste in der Erfahrung der Fülle fühlen sich noch beweglich an, Brüste in der Erfahrung des Festen dagegen nicht mehr. Sie treten als zwei feste und unnachgiebige Leibesinseln ins Bewusstsein, wobei sich das Empfinden von Teilinseln wie der Brustwarzen völlig verlieren kann. Erlebt die Mutter an ihren Brüsten eine Erfahrung des Festen, so wird der Akt des Stillens oder eine vergleichbar erlösende Handlung vom leiblichen Verlangen zum Drang und Zwang. Die ›Erlösung‹ führt über die Herauslösung der Brustwarzen im Stillakt. Damit bildet sich an der betroffenen Brustwarze wieder eine Teilinsel und die Erfahrung des Festen verändert sich sogleich, indem sie einen Fokus für das Verströmen nimmt. Es ist bemerkenswert, dass die Stillende in diesem Moment, wie zuvor, keine Erfahrung des dem Festen weichenden Flüssigen hat. In der Erfahrung des Festen fühlen sich laktierende Brüste wie hartgefrorenes Eis an und der Säugling bringt dieses Eis durch einen relativ-örtlich spezifizierten Zugriff zum Schmelzen. Dieser Vergleich hinkt aber insofern, als für das Spüren aus dem gefrorenen Eis keine Flüssigkeit wird. Es ändert sich vielmehr die Erfahrung des Festen in diejenige des Weichen, wobei die Fülle ein Bindeglied ist. Was zuvor als starrer Widerstand erlebt wurde, gibt unter dem Saugeffekt schließlich nach. Die Stillende spürt aber nichts davon, dass und wie sich das zuvor gespürte Feste in fließende Milch verwandelt. Sie bemerkt zwar ein Verströmen, das Schwinden des Festen wird aber nicht – wie körperlich sichtbar – als Flüssigkeitsabgabe gefühlt, allenfalls die daraus resultierende Nässe, wie früher beschrieben.

231 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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5.4 Die Erfahrung der Fülle Erfahrungen der Fülle und des Vollen werden in einer Vielzahl auch außerhalb geschlechterspezifischer Kontexte gemacht und sind unabhängig davon, ob die Fülle im Flüssigen oder Festen ihren materiellen Referenten hat. Jeder kennt das Gefühl, wenn die Augen sich mit Tränen füllen und ›überfließen‹; wir haben Empfindungen der gefüllten ›Blase‹ und des gefüllten ›Darms‹ mit Druckerlebnissen, des gefüllten ›Magens‹ mit dem typischen Völlegefühl, des vollen Mundes. Prellungen und Hämatome können Erfahrungen der Fülle hervorrufen, ebenso eitrige Pickel und voluminös verkrustete Wunden. Es gibt mehr oder weniger aufdringliche Erfahrungen der Fülle und solche, die im Zuge von Gewöhnung den Charakter der Fülle entweder verlieren, oder ihn nur noch gelegentlich zum Erleben bringen, schließlich solche, die sich dem Erleben aufnötigen. Erfahrungen der Fülle hängen eng mit den Leibesinseln zusammen, ja man könnte vermuten, dass jede Empfindung einer Leibesinsel mit Fülle einhergeht, insofern Leibesinseln niemals ein- oder zweidimensional, also als bloße Flächen oder Punkte gespürt werden, sondern dreidimensional, räumlich ausgedehnt. An einer Leibesinsel wird leiblicher Raum herausgehoben gespürt, und zwar mit einem lokalisierbaren Referenten am Leibesraum im Ganzen. Das Merkwürdige an dem Phänomen einer Erfahrung der Fülle ist nun, dass sie keinen Exponenten im anderen Extrem hat. Jener leibliche Raum kommt nicht aus einer zuvor vorhandenen Leere, sondern aus einer bereits erlebten subtileren Fülle, die den Leib ohnehin durchdringt, die aber normalerweise kaum als Fülle bewusst ist. Jedenfalls wird der Leib nicht als Leerstelle im Raum gespürt, sondern stets mit einer gewissen Solidität, Schwere und Fülle. Wenn sich eine Leibesinsel entfaltet, schiebt sich in die subtile Erfahrung der Fülle des Leibes eine weitere hinein, legt sich u. U. über dieselbe, überlagert momenthaft die Wahrnehmung der Ganzheit des Leibes. Schwindet eine Leibesinsel, so zieht die Erfahrung der Fülle nicht eine der Leere nach sich. Dort, wo zuvor etwas räumlich ausgedehnt gespürt wurde, wird nicht plötzlich nichts mehr gespürt, sondern allenfalls die Abwesenheit von Fülle, das Eingetaucht-Sein der vormaligen Fülle in die Leibesfülle als Ganze. Die Erfahrung der Fülle ist also für bestimmte leibliche Phänomene charakteristisch, die mit der Wahrnehmung von Leibesinseln zusammenhängen, und in der Tat bilden sich in jeder Erfahrung der Fülle Leibesinseln heraus. Nun umgekehrt zu schließen, jede Leibesinselerfahrung sei nur eine solche der Fülle, ist missverständlich, denn an Leibesinseln ereignet sich eine Vielfalt von Regungen, etwa der Dialog von Spannung und 232 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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Schwellung, die weit über die Erfahrung der Fülle hinausgehen. Es mag sogar sein, dass der Dialog der genannten Antagonisten im Spüren dominiert, und nicht die Erfahrung der Fülle. Diese birgt andererseits besondere Pointen, die durch die Schmitzschen Begriffe von Engung und Weitung sowie Spannung und Schwellung nicht vollständig erfasst werden und insofern doch als Spezifikum des Leiberlebens hervorzuheben sind, wenngleich sich enge Bezüge zur Schmitzschen Theorie der Leibesinseln finden. Aber, um es nochmals zu betonen, die Erfahrung der Fülle kann sowohl Engung und Weitung, als auch Spannung und Schwellung begleiten, denn immer handelt es sich bei diesem Dialog um Phänomene, die sich an leiblichen Orten ereignen, also in räumlicher Fülle Bewegungstendenzen setzen. Es wäre irreführend zu behaupten, die Weitung sei eine Erfahrung der Fülle und die Engung eine der Leere; es gibt keinen antagonistischen Exponenten zur Fülle bei den leiblichen Empfindungen, d. h. auch in Engung und Spannung wird leiblicher Raum als Fülle erlebt. Als Charakteristikum weiblichen Leibererlebens stehen die Erfahrungen der Fülle in Responsivität zu einem materiellen Referenten. So füllt der Fötus den Bauch der Schwangeren und füllt die Milch die Brüste. In ähnlicher Weise aber drängen Kind und Milch aus dem Leib heraus, entziehen also dem Leib die Anwesenheit von Fülle. In diesen Erfahrungen liegt ein Spezifikum, das sie von genuin eigenleiblichen separiert, obgleich die Grenze zwischen dem Eigen- und Fremdleiblichen hier mehr denn je verschwimmt. Fötus und Milch bleiben zunächst verborgen und verursachen die Erfahrung der Fülle, bevor sie sich vom Leibe ablösen. In diesen Ereignissen des expandierenden Leibes manifestiert sich Fülle eigenleiblich und drängt dann nach ›draußen‹, bei der Geburt als fremder Leib. In der Penetration bewirkt etwas, das einem fremden Leibe zugehört, die Fülle im eigenen Leib. 5.4.1 Das gefüllte Genital Die Penetration wurde beim Thema »Erfahrung des Festen« bereits diskutiert, weist aber als Erfahrung der Fülle noch einige Besonderheiten auf. So muss die Erfahrung der Fülle in der Vagina noch nicht eine solche des Festen sein und die Erfahrung des Festen keine der Fülle, wenngleich beide verschmelzen können. Die Erfahrung der Fülle entfaltet sich in der Penetration nicht in Abhebung von einer Erfahrung der Leere. Die Vagina wird nicht als ›leer‹ empfunden, bevor der Penis in sie eindringt. Dringt er ein, kann dies sogleich von einer Erfahrung der Fülle begleitet sein, wobei 233 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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es u. a. von den anatomischen Voraussetzungen und dem individuellen Liebesakt abhängt, ob und wie sich die Erfahrung der Fülle und diejenige des Festen bzw. der Widerständigkeit entfalten. Mit Fülle ist ein Akzent des Erlebens gemeint, der sich auch einstellt, wenn Penetrationsbewegungen sanft sind oder zum Stillstand kommen. Dann tritt die Erfahrung des Festen und Widerständigen zurück, um derjenigen der Fülle Raum zu geben; diese Fülle wird aber, wie das Feste, im eigenen Leib räumlich ausgedehnt empfunden, allerdings als ›weiche‹ Ausdehnung, während das Feste sich als ›harte‹, an Grenzen stoßende Ausdehnung aufdrängt. In der Erfahrung des Festen wird ein leiblicher Innenraum eher in schärferen Konturen wahrgenommen als in der Erfahrung der Fülle, weshalb die Erfahrung der Fülle in der Penetration im Vergleich zur Erfahrung des Festen eher als ›weiche‹ Verschmelzung erlebt wird. Wird dagegen die Widerständigkeit beider Leiber in der Erfahrung des Festen erlebt, kommt es eher zu dem Eindruck eines spannungsgeladenen ›Kampfes‹ und ›Abarbeitens‹ an leiblichen Grenzen. Das spielt in der Erfahrung der Fülle keine Rolle. Beide Weisen, eine Penetration zu erleben, als Erfahrung der Fülle und des Festen, können ineinander greifen und sind immer eingespannt in Regungen und Dialogformen wie Spannung und Schwellung sowie Engung und Weitung. Insofern hier verschiedene Phänomene imponieren, ist es schwierig, die Erfahrung der Fülle in der Penetration herauszulösen und isoliert zu analysieren. Dennoch spielt diese Nuance und ihre subtile Unterscheidung von der Erfahrung des Festen eine Rolle in der Penetrationserfahrung der Frau. Frauen erleben Penetrationen in einem großen Spektrum leiblichen Spürens, das sich als Erfahrung von sanfter Fülle bis zur harten Festigkeit erstreckt. Weiter oben wurde dargestellt, wie sich Fülle, Ausdehnung und die Entfaltung des Genitals zur Leibesinsel auch ohne Penetration, also ohne materiellen Referenten einstellen kann. Hier ging es um eine besondere Spielart des Erlebens, die mit dem Eindringen eines ›Fremdkörpers‹ zusammenhängt. Fülle als Leiberfahrung ist dabei nicht nur in einem statischen Sinne zu verstehen; die Penetration beschränkt sich nicht auf den einmaligen Akt des Eindringens in die Vagina. Die im Liebesakt praktizierte Penetration ist immer ein Bewegungsprozess mit den Richtungstendenzen ›in den Leib hinein‹ und ›aus ihm hinaus‹. Die Erfahrung des gefüllten Genitals kann zwar eine ruhende sein, und dann verliert sie recht schnell ihren eigentümlichen Charakter durch Diffusion in die Umgebung, sie ist aber vorwiegend eine dynamische, an Bewegungsimpulse gekoppelte. So wird die Fülle des Genitals zwar als Verschmolzensein von Vagina und Penis zu einer Einheit erlebt, aber wiederum auch als beweg234 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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liche, d. h. das, was in der Vagina als Fülle zur Erfahrung kommt, regt sich in einem leiblichen Richtungsraum und bildet darin Schwerpunkte des Empfindens. Für das Ende einer Penetration gilt wie für ihren Beginn das leibliche Phänomen, dass der Erfahrung der Fülle keine solche der Leere korrespondiert. Es wird deutlich gespürt, in welchem Moment der Penis die Vagina verlässt; hat er sie jedoch verlassen, bleibt keine Leere zurück. Das Genital fühlt sich zwar nicht mehr gefüllt, aber auch nicht leer an. 5.4.2 Der gefüllte Bauch Neben der Penetrationserfahrung haben Frauen markante Erfahrungen der Fülle während der Gravidität. Wie die Einzelanalysen noch zeigen werden, stellt sich eine spürbare Veränderung der Bauchwölbung erst nach etlichen Wochen der Schwangerschaft ein. Die Erfahrung der Fülle kommt also in der Gravidität relativ spät zum Tragen und drängt sich auch nicht, wie in der Penetration, in einem Moment auf. Sie schiebt sich allmählich ins Empfinden und verändert sukzessive das leibliche Gebaren. Daher spüren Schwangere ihren Bauch tatsächlich erst sehr spät als gefüllten, ja das ist eigentlich erst dann der Fall, wenn bereits eine Verlagerung des leiblichen Lots stattgefunden hat und die Schwangere mehr oder weniger bewusst ihren vorstehenden Bauch ausbalanciert. Die Erfahrung des gefüllten Bauches ist, wie die des gefüllten Genitals, vom Charakter der Sanftheit und Weichheit, was angesichts der erheblichen Gewichtszunahme verwundern mag, aber im Hinblick auf die Ergossenheit der Fülle im Bauchraum und ihrem langsamen sich Hineinschieben in die leibliche Erfahrung plausibel ist. Die Fülle ist nicht etwas punktuell Addiertes, sondern sukzessive Wandlung des Leibes, und so wird die Fülle selbst auch noch nicht als die eines ›Fremdkörpers‹ im Leib erlebt, ähnlich dem ›gewöhnlichen‹ Dickwerden durch Überfettung. Anders sieht es bei den in die Fülle hineinragenden Erfahrungen des Festen aus, die durch Kindsbewegungen ausgelöst werden. Die Erfahrung des gefüllten Bauches ist auch nicht ab einem bestimmten Zeitpunkt dauernd präsent. So macht sich im ruhenden Zustand die leibliche Fülle der Schwangerschaft so gut wie gar nicht bemerkbar, wenngleich sie durch fokussiertes Spüren sofort zur Verfügung steht. Verändert die Schwangere, vor allem die Hochschwangere jedoch ihre Körperhaltung und hebt sie mit Bewegungen an, wird der gefüllte Bauch unmittelbar in seiner ausufernden ›Fleischlichkeit‹ gespürt. Er bildet dann sogleich eine sehr große Leibesinsel heraus, aber die Erfahrung der Fülle geht über die einer Leibesinsel 235 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

II Topographie des weiblichen Leibes

hinaus, da hier ein erheblicher materieller Referent im Spiel ist, dem im Leib an einem Schwerpunkt Raum gegeben wird, der sich aber auf den ganzen Leib ausstrahlend bezieht. Ohne diesen materiellen Referenten gäbe es wohl kaum eine so gravierende Erfahrung der Fülle, wie sie sich in der Gravidität manifestiert. Jede Leibesveränderung richtet sich letztlich nach dieser Fülle im Bauchraum, gerade weil sie eine weiche, sanfte und darum verwundbare ist. Der gefüllte Bauch fühlt sich nicht fest oder hart an, das ist eher eine Erfahrung, die mit der Wehentätigkeit zusammenhängt, er fühlt sich weich an, aber dennoch ist er in seiner Fülle von der Mächtigkeit und dichten Masse fleischlicher ›Materie‹ geprägt. Gegen Ende der Schwangerschaft schlägt diese Erfahrung der Fülle in eine solche der gespannten Prallheit und schließlich in eine des vage Festen um, aber dieses Feste hat eher den Charakter einer dichten als den einer festen Fülle oder vollen Festigkeit. Aus dieser dichten Fülle können sich Spannungsphänomene entwickeln, die den Eindruck des Festen vermitteln, doch ist die Fülle das Ausgangsphänomen. Hieraus ergibt sich die Erfahrung der Fülle als leiblicher Prozess, wobei verschiedene Weisen, den Bauch als gefüllt zu spüren, zu unterscheiden sind. In der Sukzession der Schwangerschaft nimmt dieser Prozess vom Unterleib seinen Ausgang. Dieser wird zuerst als leicht gewölbt und leicht gefüllt gespürt, und zwar im Ganzen als sehr weich und nachgiebig. Diese Weiche und Nachgiebigkeit in der Erfahrung der Fülle wandelt sich im weiteren Verlauf allmählich, wenn die Fülle vom Unterleib ausgehend den ganzen Bauchraum einnimmt (und sich auch auf die Brüste überträgt und ausdehnt). Aus der Erfahrung der weichen und nachgiebigen Fülle wird diejenige der dichten, vollen und schweren, schließlich unnachgiebigen Fülle mit Tendenz zur Festigkeit, Härte und Spannung. In diesen letztgenannten Grenzbereichen bleibt der gefüllte Bauch weiterhin eingegossen in den Leib als Ganzen und schwingt bei Bewegungen immer noch mit, wenngleich nicht mehr so leicht wie früher, da er nunmehr von sehr solider, dichter Masse ist. Zum Phänomen des spürbar gefüllten Bauches gehört nicht nur das mehr oder weniger bewusste Rücksicht-Nehmen auf die ›fleischliche‹ Aus- und Vorwölbung des Bauches in Haltung und Bewegung, sondern meist auch ein ›handgreiflicher‹ Umgang mit dem Bauch, insofern Schwangere die zunehmende Bauchfülle mit den Händen und Armen durch Auflegen oder Umschließen stützen. In Übereinstimmung mit dem oben beschriebenen Fehlen einer der Fülle entgegengesetzten Leiberfahrung der Leere, fühlen Frauen nach der Geburt keine Leere im Bauch, sondern sein Erschlafft- oder Eingefallen-Sein.

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Ergänzende Systematik der Erfahrungsmodi

5.4.3 Die gefüllten Brüste Wenngleich sich weibliche Brüste als gefüllte Brüste besonders in der Laktation entfalten, gibt es verwandte Phänomene auch während des Menstruationszyklus. Brüste werden in der prämenstruellen Phase häufig als fester, voller, angespannter, konturierter gespürt, mitunter deutlich voluminöser. Das sind ebenfalls Erfahrungen ›gefüllter‹ Brüste, die jedoch keinen materiellen Referenten haben, der sich später vom Leibe ablöst. Dabei tritt auch nicht das oben thematisierte leibliche Verlangen nach ›Abfluss‹ durch Verströmen der Fülle im Stillen hervor. Es besteht jedoch eine weitläufige Verwandtschaft zwischen dem Empfinden ›gefüllter‹ Brüste vor der Menstruation und während der Laktation. Die Brüste fühlen sich bei solchen Veränderungen nicht nur voll und fest, sondern diffus gefüllt an und die Hand vermag dies auch zu ertasten: Die Brüste sind nicht nur größer, sondern in sich voller und fester mit körnigen Feldern, die wahrscheinlich mit den Milchdrüsen identisch sind. Der Eindruck der ›gefüllten‹ Brüste ist vermutlich auf die in der Medizin beschriebene hormonbedingte Flüssigkeitseinlagerung zurückzuführen. 3 Brüste treten ferner als ›gefüllte‹ bereits während der Schwangerschaft ins Spüren. Der objektiven Tatsache, dass die Brüste größer werden, entspricht die subjektive Tatsache, dass sie sich voller, fester, ja gefüllt anfühlen, wobei dieser Eindruck, wie bei der Erfahrung des gefüllten Bauches, allmählich, also keineswegs pointiert entsteht. Im Rahmen der Erfahrung des Flüssigen und des Festen wurden bereits Phänomene der Laktation besprochen. Die Erfahrung der Fülle an den Brüsten steht in Korrespondenz mit den anderen Erfahrungen des ernährenden Leibes, birgt aber eine Nuance, die zuvor noch nicht zum Tragen kam. Hier ergeben sich jedoch ähnliche Überschneidungen wie bei der Erfahrung des gefüllten Bauches. So kann von diversen Allianzen zwischen der Erfahrung des Festen und der Fülle an der prall und hart gefüllten Brust, etwa kurz nach dem Milcheinschuss, ausgegangen werden, es ist aber ein besonderes Kennzeichen der Fülleerfahrung, dass sie im Grunde nicht den Charakter der starren Festigkeit hat, sondern auch ins Weiche hin diffundiert. Gefüllte Brüste können sich zwar schwer und voll anfühlen, dabei aber noch nicht fest; andererseits kann die Brust als gefüllt erlebt werden, wenn sie noch gar nicht schwer und voll ist, sondern eher 3

Daher empfehlen Gynäkologen, Untersuchungen an der Brust zur Krebsvorsorge unmittelbar nach der Menstruation, keineswegs zu einem beliebigen Zeitpunkt innerhalb des Zyklus, insbesondere nicht kurz vor der Menstruation durchzuführen.

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II Topographie des weiblichen Leibes

weich, wobei aber Fülle dadurch ins Bewusstsein tritt, dass mit ihr eine gewisse Volumosität verknüpft ist. In diesem Sinne ist Fülle ein variables Kriterium für das leibliche Spüren der laktierenden Brüste. Erst beim Milcheintritt kommt es zu prägnanten Erfahrungen der Fülle und zur ›leiblichen Formation‹ der Mutterbrust. Damit verbundene Erfahrungen der Fülle sind auch unabhängig vom aktuellen Stillen auf den eigenen Leib bezogen. Es wird nie eine Ansammlung von Flüssigkeit in den Brüsten gefühlt, sondern Fülle, und diese kann sich bei einem Milchstau oder rund um den Milcheinschuss als starre, steife und harte Festigkeit, somit als Erfahrung des Festen, manifestieren. Das Spüren laktierender Brüste bezieht sich aber hauptsächlich auf die Erfahrung der Fülle: Fülle regt sich in den Brüsten, aber keineswegs konstant. Die Laktation ist von mehr oder weniger ausgeprägten Erfahrungen der Fülle begleitet, die mit der Stillerfahrung ihre Prägnanz verlieren. Dabei spielen Interaktionen zwischen Mutter und Kind ebenso eine Rolle wie ›ökonomische‹ Faktoren von Angebot und Nachfrage. Es mag sein, dass die Fülle in den Brüsten sich besonders aufdrängt, wenn der Säugling schreit, ja manche Frauen wachen nachts unter dem Eindruck der gefüllten Brüste auf, um festzustellen, dass der Säugling gerade nach Nahrung verlangt. Ist die Stillbeziehung normalisiert, mögen sich zwar auffällige Sensationen der Fülle verlieren, doch bleiben auf die Fülle bezogene Schwankungen erhalten. So führt jedes Stillen zum spürbaren Schwinden der Fülle und baut sich Fülle danach wieder auf; ›leer‹ aber fühlen sich Brüste nur im Vergleich zur vorher vorhandenen Fülle an, es ist daher besser vom Abnehmen der Fülle zu sprechen, oder vom Weich- und Leicht-Werden der Brüste, was der subjektiven Erfahrung eher entspricht als die an physikalischen Volumina orientierte Rede von ›voll‹ und ›leer‹. Das natürliche Ende der Laktation stellt sich am Leib der Mutter ein, wenn sich die Fülle-Erfahrung an den Brüsten allmählich verliert. Doch auch das Kind kann sich entwöhnen und lässt die Mutter u. U. mit der Erfahrung gefüllter Brüste zurück. Ähnlich gelagert sind Erfahrungen der Fülle und des Festen beim Abstillen. Abschießend sei mit Blick auf die anderen Kapitel zum ernährenden Leib hervorgehoben, dass die Erfahrung der Fülle an den Brüsten von einer leiblichen Intentionalität begleitet ist. Die Fülle ergibt sich nicht nur aufdringlich und kann in ihrem Umschlag zur Festigkeit schmerzhaft werden, sondern drängt aus dem Leibe hinaus. Dieses Hinausdrängen ist anders als jenes, das wir von sonstigen Ausscheidungen kennen. Wir verfügen an den Brustwarzen nicht über eigenleiblich initiierbare Engungsund Weitungsimpulse, anatomisch gesprochen über Muskelaktivitäten, 238 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Ergänzende Systematik der Erfahrungsmodi

die ein Ausscheiden der Milch, ein Nachlassen der Fülle herbeiführen könnten. Die sich in den Brüsten manifestierende Fülle ist auf den Anderen gerichtet; was sich dort regt, bezieht sich auf ein Verströmen zum Anderen hin, wofür die Interaktionen zwischen Stillender und Säugling unabweisbarer Beleg sind.

5.5 Schmerz, Angst, Scham und Lust Die vorangegangenen Schemata und Klassifizierungen bezogen sich auf das, was sich am weiblichen Leib an charakteristischen Leibesinseln, ihrem Zusammenspiel und in verschiedenen Erfahrungsmodi aufdrängt. In den unterschiedlichen Perspektiven auf die Topographie des weiblichen Leibes wurde die Komplexität ineinander verwobener Erlebnisweisen deutlich. Weibliche Leiberfahrungen lassen sich nur schwer in isolierten Analysen einfangen, weil es viele unscharfe, fließende Übergänge gibt. Auch wenn es gelegentlich zu Überschneidungen kam, erwies sich der Wechsel der Blickrichtung als notwendig, um Pointen und Besonderheiten herauszuschälen. Mit dieser Systematisierung war ein Grad der Abstraktion verbunden, der das Subjekt in seiner konkreten Betroffenheit noch weitgehend im Hintergrund ließ. Mit der Problematisierung von Schmerz, Angst, Scham und Lust stellt dieses Kapitel nun den Übergang zum nächsten Hauptteil her, der situativen und kontextuellen Evaluation weiblicher Leiberfahrungen. In Schmerz, Angst, Scham und Lust ist der Mensch affektiv betroffen, vor die Tatsache leiblicher Autorität gestellt. Er findet sich in »betroffener Selbstgegebenheit« (Böhme) vor. Überall auf der Welt und zu allen Zeiten hat es Schmerz und Lust, Angst und Scham gegeben; es sind Regungen, die alle Menschen kennen. Doch selbst in einer allgemeinen Sicht spielen viele wechselseitig sich bedingende Faktoren eine große Rolle dabei, wie Schmerz und Lust sowie vor allem Angst und Scham in konkreten Situationen gespürt werden, wie mit ihnen umgegangen wird und bei welchen Anlässen sie sich einstellen. Hier sind z. B. das persönliche Umfeld, die Kultur und innerhalb einer Kultur bestimmte Gruppen anzuführen, die hinsichtlich der Habitus verschiedene Gefühlsformationen konstituieren. Inter- und intrakulturelle Unterschiede sind etwa hinsichtlich der Scham besonders auffällig. Ferner ist das Lebensalter zu berücksichtigen, das bei Schmerztoleranzgrenzen, aber auch bei Lustempfindungen von Bedeutung ist. Schließlich ist das Geschlecht eines Menschen mit verantwortlich dafür, wie er Schmerz, Angst, Scham und Lust erlebt. In der genannten Skala elementarer Regungen gibt es allerdings gewisse unabweisbare Grade 239 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

II Topographie des weiblichen Leibes

von Allgemeinheit. So wissen beispielsweise alle Erwachsenen, wie sie Anderen und sich selbst Schmerzen zufügen können, ja, was den Tod herbeiführt. Was Anderen sexuelle Lust verschafft, ist dagegen keineswegs so eindeutig. Wenngleich es ein Wissen über ›Lustorgane‹ und deren ›Mechanik‹ gibt, scheint die Art, wie einem Leib sexuelle Lust zu ›entlocken‹ ist, besonders eigentümlich in situative Kontexte verwoben zu sein, ähnlich wie die Regungen von Angst und Scham. Zu den genannten Phänomenen affektiver Betroffenheit hat insbesondere die Neue Phänomenologie grundlegende Untersuchungen vorgelegt. Mit Blick auf den geschlechtlichen, hier den weiblichen Leib ist zu fragen, wann und in welcher Weise Schmerz, Angst, Lust und Scham über die generische Perspektive hinaus vom weiblichen Subjekt erfahren werden. Wenngleich diese Gefühle in hohem Maße situations- und kontextbedingt sind und im folgenden Hauptteil in dieser Hinsicht erst grundlegend thematisiert werden, lassen sich einige Anhaltspunkte für jene Situationen herausschälen, in denen jeweils Schmerz, Angst, Lust und Scham erlebt werden bzw. erlebt werden können: Beim Schmerz kann grundlegend auf den weiblichen Geschlechtskörper, seine Entwicklung und sein Eingebunden-Sein in die Fortpflanzungsprozesse zurückgegangen werden. Schmerz kann von Frauen erlebt werden z. B. bei der Menarche (Unterleibsschmerzen), während des Menstruationszyklus (Kopf-, Brust-, Rücken-, Bauchschmerzen), bei der mit dem ersten Geschlechtsakt verbundenen Defloration (Schmerzen an Genital und Unterleib), in der Gravidität (Schmerzen an den Brüsten und am Unterleib bzw. Bauch), während der Geburt (Wehen), im Wochenbett (Schmerzen am Unterleib) und während der Laktation (Schmerzen an Brust und Brustwarzen). Auch die Angst kann am Leitfaden des Geschlechtskörpers evaluiert werden, insofern dieser von Schmerzen betroffen sein kann und Angst sich qua ›Leibgedächtnis‹ manifestiert. Mit Blick auf die kulturelle Situiertheit von Angst ist der Radius jedoch weiter zu fassen. Frauen können Angst erleben z. B. in der Menarche vor der Unberechenbarkeit des Leibes; während des Menstruationszyklus vor Schwangerschaft; in der an den ersten Geschlechtsakt gebundenen Defloration vor Schmerz, vor Schwangerschaft; in der Gravidität vor dem Ausgang der Schwangerschaft und somit vor der Geburt; während der Geburt vor dem Schmerz, dem Verlust der leiblichen Integrität, dem Tod (dem eigenen und dem des Kindes); zu Beginn der Laktation vor dem Stillen bzw. einer möglichen Unfähigkeit zu stillen; im Klimakterium vor der Unverfügbarkeit und Sichtbarkeit bestimmter Symptomatik sowie vor dem Verlust sozialer Anerkennung; oder 240 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Ergänzende Systematik der Erfahrungsmodi

lebenslang (mit lebensalterbedingten Unterschieden) vor sexueller Gewalt durch Männer. Bei der Lust ist Bezug zu nehmen auf die weibliche Sexualität mit ihren ganzleiblich ergreifenden Regungen und den in erster Linie betroffenen weiblichen Leibesinseln (genitale Zone, Brüste) sowie auf die Laktation. Scham ist wohl am tiefgreifendsten situations-, kultur- und kontextbedingt, insbesondere hinsichtlich der mit dem Geschlechtskörper verbundenen Ausscheidungen und Erfahrungen. Schamgefühle können sich grundsätzlich darauf beziehen, Mitglied der sozialen Gruppe ›Frauen‹ zu sein. Ferner können Frauen Scham empfinden z. B. in der Thelarche bezogen auf die sichtbar werdende Brust, bei Menarche, Menstruationen, Lochien und der Defloration bezogen auf das Blut, bei und nach der Vergewaltigung bezogen auf das dem Leib Widerfahrene, in der Gravidität bezogen auf den leiblichen Zustand (heute selten), in der Geburt bezogen auf die Entblößung des Genitals, den unkontrollierbaren Abgang des Fruchtwassers, auf die Artikulation von Schmerz, in der Laktation bezogen auf einnässenden Milchaustritt und Lustempfindungen beim Stillen, im Klimakterium bezogen z. B. auf sichtbar werdende Hitzewallungen oder das Altern schlechthin. Diese sehr weit gefasste, fragmentarische Übersicht zeigt ein großes Spektrum von Situationen, in denen Frauen Schmerz, Angst, Lust und Scham erleben bzw. erleben können. Diese Regungen können aber nicht isoliert betrachtet werden. Affektives Betroffensein hängt auch von kulturellen Kontexten, individuell und kollektiv generierten Körperpraxen sowie zahlreichen Prozessen des gendering ab. Insofern handelt es sich um Variablen, die in wichtigen Aspekten diskursiv erzeugt werden, wenngleich nicht geleugnet werden soll, dass affektives Betroffensein eine pathische, und damit vordiskursive Dimension hat und von der Topographie des Leibes vorgezeichnet ist. Dass gewisse Zustände des Ergriffenseins als variabel bzw. diskursiv erzeugt zu bezeichnen sind, verweist auf eine ethische Direktive hinsichtlich der Prägungsrelevanz von Situationen, die von Personen und Kulturen geschaffen und so auch umgeschaffen werden können. Neben grundlegenden Formen affektiver Betroffenheit, die mit Ausnahme der Lust negativ konnotiert sind und als Erfahrungen leiblicher Engung in Erscheinung treten, ist darauf zu verweisen, dass der weibliche Leib und die mit ihm verbundenen Erfahrungen neben der sexuellen Lust auch eine Quelle anderer positiver Regungen ist bzw. sein kann. Dazu gehört beispielsweise der Stolz, und zwar in Bezug auf Erfahrungen, durch die der Leib sich als geschlechtlich bestimmter, weiblicher Leib aufdrängt. 241 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

II Topographie des weiblichen Leibes

So kann Stolz von Frauen erlebt werden z. B. in der Thelarche auf das Heranreifen der Brüste zur erotisch machtvollen Gestalt, in der Menarche auf das Erlangen der Fruchtbarkeit, im Menstruationszyklus auf die Fruchtbarkeit, in der mit dem ersten Geschlechtsakt erfolgenden Defloration auf die ›heterosexuelle Initiation‹ und Reife, in der Sexualität auf die erotische Macht, Empfindungsfähigkeit und Ekstase des Leibes, in der Gravidität auf den leiblichen Zustand und das heranwachsende Kind, in der Geburt auf den Vollzug des Gebärens, nach der Geburt auf das Kind, in der Laktation auf die Fähigkeit zu stillen, im Klimakterium auf den Eintritt in die Reifezeit etc. Neben dem Stolz wären ebenso Erleichterung, Wonne und Freude etc. zu nennen, die in mancher Hinsicht auf jene Erfahrungen bezogen sind, die Stolz hervorrufen, aber noch eigens konnotiert sind, wie z. B. die umgreifende Erleichterung nach einer Geburt oder die sogenannten Mutterfreuden. Schmerz, Angst, Scham und Lust sind aber die wichtigsten und dominierenden Regungen in der weiblichen Erfahrung, weil sie sich mit leiblicher Autorität aufzwingen, was für Stolz oder Freude nicht in dieser Weise zutrifft. Unabhängig davon, ob und in welchem Maße diese Erfahrungen diskursiv konnotiert sind, schreiben sie sich in die geschlechtliche Biographie ein, weil sie an Situationen gekoppelt sind, die entweder als besonders angenehm oder unangenehm erlebt werden, und haben in dieser Weise enormen Einfluss darauf, wie sich die weibliche Person konstituiert. Die Einzelanalysen werden nun zeigen, dass alles das, was sich in den systematischen Differenzierungen bisher isoliert betrachten ließ, im konkreten Beispiel diffus ineinander greift und nur aus bestehenden Situationen heraus zu verstehen ist.

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Teil III: Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

»Wollen Sie mehr über die Weiblichkeit wissen, so befragen Sie Ihre eigenen Lebenserfahrungen, oder Sie wenden sich an die Dichter, oder Sie warten, bis die Wissenschaft Ihnen tiefere und besser zusammenhängende Auskünfte geben kann.« (Freud, GW, XV, 145)

6. Einführende Übersicht Der folgende dritte Hauptteil ist der Analyse einzelner weiblicher Leiberfahrungen im Sinne einer genetischen Phänomenologie des Leibes gewidmet und soll den zweiten Hauptteil zur Topographie durch Evaluation konkreter Situationen in der weiblichen Biographie ergänzen. Die Auswahl der Erfahrungen richtet sich nach dem Auftreten, der Bedeutung und ihrer möglichen Abfolge in den Lebensaltern. Von Beauvoir (1970, 265) stammt das berühmte Zitat: »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.« Damit ist der Gedanke der Entwicklung benannt, den Beauvoir auf die gesellschaftliche Konstruktion der Frau als die Andere bezieht, indem sie meint, dass die Frau erst zur Frau wird, weil sie von außen, von der »Gesamtheit der Zivilisation« »gestaltet« wird (ebd.). Wenngleich Beauvoir grundsätzlich beizupflichten ist, hat sie doch der Tatsache, dass auch Körper und Leib zur Frau werden und die zivilisatorischen Konstruktionsprozesse sich an den Achsen von Körper, Leib, Biographie und Diskurs einschreiben, nicht genügend Rechnung getragen. Den Gedanken der Entwicklung greife ich im Hinblick auf den Leib auf und trete gewis243

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

sen Strömungen in Leibphänomenologie und feministischer Philosophie entgegen, die vom Leib, auch vom Geschlechtsleib, als einer statischen Größe ausgehen. Hier hat Beauvoir richtig argumentiert, als sie unter dem Topos »Gelebte Erfahrung« ein Werden konstatiert, das sie m. E. von der Kindheit bis zum Alter verfolgt und für das sie auch Umbruchphasen des Körpers heranzieht. Das menschliche Leben und die individuelle Geschichte des Geschlechtsleibes verlaufen nicht in einer zufälligen Abfolge, sondern nach einer u. a. von der körperlichen Entwicklung mitbewirkten Systematik, die in meiner Auswahl von Leiberfahrungen Beachtung finden soll. Wie Pestalozzi einmal mit Blick auf die Entwicklungsmächte der Humangenese schrieb, ist der Mensch ein Werk der Natur, der Gesellschaft und seiner selbst. In diesem Sinne ist auch die Biographie als Geschlechtswesen nicht abzulösen von einer fließend ineinander übergehenden Mischung natürlicher, kontextueller und personaler Aspekte. Unter deren Berücksichtigung und als Ergebnis meiner Forschungen nehme ich den Ausgang bei der Thelarche, dem Brustwachstum, und schließe die Kernbetrachtungen mit dem Klimakterium. Die Ausklammerung des Kindesalters halte ich mit Bezug auf frühere Erörterungen zur Ausprägung des Geschlechtsleibes für gerechtfertigt, auch weil es äußerst schwierig ist, den personalen Aspekt und das eigenleibliche Spüren in Zeugnissen dieses Lebensalters festzustellen und zu dokumentieren. Gleichwohl finden im Kindesalter bereits erhebliche Prozesse des gendering statt. Das Jugendalter, mit dem ich beginne, ist dagegen der Lebensabschnitt, in dem das Kind in einen anderen Körper hineinwächst. Diesen Vorgang, den Psychologen heute als pubertal process und nicht mehr als die Pubertät bezeichnen, nehmen die Heranwachsenden bewusst wahr; sie nehmen selbstreflexiv Anteil, was hinsichtlich früherer Wachstums- und Veränderungsprozesse kaum behauptet werden kann. Aufgrund dieser Eigenart nennt Fend (2000, 222 ff.) als erste Entwicklungsaufgabe für dieses Alter: den Körper bewohnen lernen. »Jugendliche bekommen von der Natur einen ›neuen Körper‹ geschenkt und müssen lernen, mit ihm umzugehen, ihn zu ›bewohnen‹. Massive körperliche Veränderungen erfährt schon der Säugling. In den ersten Lebensmonaten und Lebensjahren wandelt sich die körperliche Gestalt ebenfalls in raschem Tempo. Im Unterschied zu dieser frühen Kindheit können Jugendliche aber ihren Körper beobachten, sie können sich gewissermaßen bewusst zuschauen und beurteilen, was sich tut und ob sie damit übereinstimmen können. Dabei verändert sich der Körper jetzt massiv geschlechtsspezifisch, so dass Körperverarbeitung jetzt vor allem bedeutet, sich mit der eigenen Geschlechtlichkeit auseinanderzusetzen und sich als Frau oder Mann zu akzeptieren.

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Einführende Übersicht

Viele Jugendliche dürften dies aber häufig so erleben, dass der Körper mit ihnen ›Dinge macht‹, die ihnen bisher unbekannt waren und dass der Körper mehr Macht über sie hat als sie über ihn.« (Fend, 2000, 225)

Für das Mädchen ist lange vor der Menarche die Thelarche (Kap. 7) die erste Erfahrung, die es mit dem Geschlechtsleib konfrontiert. Die Thelarche und die Erfahrung, Brüste zu haben, steht daher am Beginn der Einzelbetrachtungen. Die Menarche (Kap. 8) ist als punktuelles Ereignis die zweite durch Körpervorgänge definierte Leiberfahrung im Jugendalter. Danach sind Körper und Leib in eine zyklische Abfolge von Menstruationen (Kap. 9) gestellt, die auch Erfahrungen außerhalb des blutenden Leibes betrifft. Die Defloration (Kap. 10) ist ein einmaliges Erlebnis mit einem komplexen Hof leiblicher Sensationen. Die Vergewaltigung bzw. die Angst vor Vergewaltigung (Kap. 11) gehört im kulturellen Kontext dieser Arbeit unabdingbar zu den weiblichen Leiberfahrungen. Schließlich geht es um jene Erfahrungen, die in Zusammenhang mit der Schwangerschaft auftreten, also Gravidität (Kap. 12), Geburt (Kap. 13), Puerperium (Kap. 14) und Laktation (Kap. 15). Das Klimakterium (Kap. 16) bezeichnet den Eintritt in die zweite Lebensphase ohne Menstruationen. Die Sexualität (Kap. 17), die beinahe das ganze Leben durchzieht, steht am Ende der Einzelbetrachtungen. Der letzte Abschnitt zum kranken weiblichen Leib (Kap. 18) nimmt weibliches Existieren in einer übergreifenden Perspektive in den Blick. Zur Auswahl der Leiberfahrungen aus dem Kernbereich muss weiter bemerkt werden, dass es sich um ein Set von Erfahrungen handelt, das nicht in jedem Fall in allen seinen Dimensionen von Frauen erlebt wird. Früher wurde gezeigt, dass der Geschlechtsleib keineswegs ständig als solcher im Erleben präsent ist. Dennoch schiebt er sich bei bestimmten Erfahrungen und Situationen in den Vordergrund. Thelarche, Menarche, Menstruation und Menopause treten im Leben fast jeder Frau auf. Sexualität, Defloration, Gravidität, Geburt, Puerperium und Laktation werden dagegen nicht von allen, aber von sehr vielen Frauen erlebt. Eine Vergewaltigung widerfährt zwar glücklicherweise nur wenigen Frauen, kann aber als Möglichkeit atmosphärisch auf das Erleben des eigenen Leibes als Geschlechtsleib einwirken. Für die exemplarische Analyse bedurfte es mancherlei Beschränkung. Nicht explizit einbezogen werden im Rahmen der Schwangerschaft Erfahrungen wie Fehlgeburt und Abtreibung oder bei der Geburt Gebärpraktiken wie der Kaiserschnitt. Auch die Sexualität kann nur marginal thematisiert werden, zumal es immer noch Defizite hinsichtlich einer der 245 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

Deskription weiblicher Sexualerfahrung angemessenen Sprache gibt. Die Ausführungen zum kranken weiblichen Leib können ebenfalls nur allgemein bleiben, wobei vor allem auf die Pathologisierung körperlicher Umbruchphasen rekurriert wird.

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7. Thelarche

»Nach etlichen Jahren bereits geleisteter Anpassung an das uns umgebende Daseinsgeschehen, an dessen Ordnungen und Urteilsweisen, die unser kleines Hirn ohne weiteres überwältigten, springt, mit herannahender Körperreife, auf einmal eine Urwüchsigkeit in uns so vehement dawider an, als habe sich nun erst die Welt zu formen, in die das Kind herniederkam, – unbelehrt, unbelehrbar …« (AndreasSalomé, 1974, 27).

7.1 Geschlechtertypisches Wachstum Es ist allgemein bekannt und medizinisch, psychologisch sowie soziologisch hinreichend analysiert worden, dass Jugend, Adoleszenz und Pubertät für Jungen und Mädchen einschneidende Veränderungen nach sich ziehen. 1 Hier sind an erster Stelle die wachstumsbedingten Veränderungen des Körpers und das Erwachen der Sexualität zu nennen. Auf Seiten der weiblichen Entwicklung wird die Pubertät außerdem mit dem Eintreten der Monatsblutung in Verbindung gebracht. Es ist auffällig, dass viele Untersuchungen zur weiblichen Pubertät das Phänomen der Thelarche, des Wachstums der Brust, entweder nahezu gänzlich unerwähnt lassen oder aber für unbedeutend halten. Im Rahmen einer Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen spielt die Thelarche eine bedeutende Rolle, weil dem weiblichen Leib hier etwas von Natur aus geschieht und sich 1

In der Verwendung dieser Begriffe sind drei Fachdisziplinen angesprochen, die sich mit dem zweiten Lebensjahrzehnt in je eigener Weise befassen. Der Begriff der Jugend wird von Soziologen bevorzugt, um die sozialen und historischen Bedingungen einer nach Alter sortierten Gruppe zu bezeichnen. Psychologen verwenden den Terminus der Adoleszenz, häufig in dreifacher Entfaltung als Früh-, Mittel- und Spätadoleszenz, und richten ihre Forschung auf das psychische Erleben bzw. seine Wandlungen. Biologen reden von der Pubertät im Sinne der biologischen Veränderungen. Vgl. Fend, 2000, 22–23. Leibphänomenologische Untersuchungen nehmen Bezug auf diese drei Perspektiven, richten ihr besonderes Augenmerk aber auf das am Leibe Gespürte, wobei eine vierte Dimension als Mischung der drei genannten Blickrichtungen entsteht.

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

aufdrängt. Beide Geschlechter durchlaufen in der Pubertät ähnliche und verschiedene Wachstumsprozesse, ähnlich ist z. B. der Scham- und Achselhaarwuchs, das Längenwachstum und das Wachstum der Genitalien etc., unterschiedlich sind z. B. die Korrelation zwischen Alter und Wachstum, die Ausprägung der Körperproportionen, aber auch Thelarche und Menarche bzw. Bartwuchs oder Stimmbruch. Mit der Thelarche ist eine weibliche Erfahrung gegeben, die sich auf das Wachstum des Körpers, seine materiale Ausdehnung bezieht. Während das Körperwachstum von Jungen und Mädchen sich bis zur Pubertät ganzheitlich vollzieht und nur hinsichtlich der Geschwindigkeit geschlechtsspezifisch, an bestimmte Lebensalter gekoppelt, differenziert werden kann (Mädchen sind altersgleichen Jungen in der Entwicklung meist voraus, d. h. größer) 2 , geschieht dem Mädchen nun zweierlei, das dem Jungen so nicht geschieht: Dem Mädchen wachsen Brüste und die Brustwarzen richten sich auf. 3 Es handelt sich um ein regionales paarweises, wenn auch nicht unbedingt gleichmäßiges Wachstum, das vom Brustkorb aus Wölbungen ausbildet. Diese sitzen auf dem Brustkorb oder hängen je nach Volumen und Gewicht von ihm herab. Für das Einsetzen dieser körperlichen Reifung wird bei Mädchen in unseren Breiten ein Alter von neun, zehn oder elf Jahren festgestellt, also ein Lebensalter, in dem der Junge nichts Vergleichbares erlebt. Das Brustwachstum tritt im Alter zwischen 11 und 14 Jahren in eine Phase der Formung des »primären« Bruststadiums, in dem sich die Brustwarzen aufrichten, und dauert bis zum Alter von 14 bis 16 Jahren an, wenn die Brüste im »sekundären« Bruststadium ihre Erwachsenenform erhalten. In der Thelarche tritt neben das anhand von Messwerten (Gewicht, Größe) und Konfektionsgrößen klassifizierbare Wachstum des gesamten Körpers, das Phänomen wachsender, schwellender Leibesregionen, die sich allmählich ausbilden, ihre Form verändern und in anderer Weise als früher sicht- und tastbar werden. Hier manifestiert sich der Körper, hier bilden sich geschlechtsspezifische Leibesinseln aus. Das Wachstum selbst wird zwar meist nicht gespürt, es kann aber mitverfolgt, z. B. auch vermessen werden, und zieht in vielen Fällen Konsequenzen bei der Bekleidung nach sich. Über dieses Ereignis liegen so gut wie keine systematisch evaluierten Erfahrungsdokumente vor, obwohl es sich um eine Erfahrung des 2

Vgl. hierzu die Tabelle bei Oerter, Montada u. a. 1982, 255. Veränderungen an den Brüsten werden auch bei Jungen im Alter von 12 bis 13 Jahren festgestellt, diese verlieren sich aber später wieder, während sie sich bei Mädchen kontinuierlich fortsetzen.

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Thelarche

Wachstums bzw. des Resultats dieses Wachstums handelt, die bewusst wahrgenommen und, insbesondere in Kulturen mit ›Busenfetischismus‹, mit weitreichenden Gefühlskonglomeraten belegt wird. Neben dem, was sich von der Körperentwicklung unverfügbar aufdrängt und eigenleiblich gespürt wird, sind daher insbesondere Prozesse des gendering von Relevanz. Die Erfahrung des Wachsens der Brust kann unter bestimmten kulturellen Voraussetzungen schon eine Grenze zum Erwachsen-Sein bzw. Frau-Werden darstellen und u. U. tiefe Konflikte in der Entwicklung des Selbstbewusstseins auslösen. Mit der Thelarche liegt eine – oft die erste – Erfahrung des Leibes als weiblicher Geschlechtsleib vor, die das Mädchen vor eine leibliche Autorität stellt, die geschlechtlich konnotiert ist. Vor dem Hintergrund ihrer Bedeutung für die weibliche Identität ist es erstaunlich, dass diese Leiberfahrung in der Forschung kaum Beachtung findet.

7.2 Spürbare Veränderungen durch die Thelarche Das Wachstum der Brust vollzieht sich meist ohne auffällige Leibesregungen, wenngleich gelegentlich doch von Wachstumsschmerzen oder erhöhter Empfindlichkeit die Rede ist oder aber schlicht davon, dass ›etwas‹ gespürt wird. So sagt eine Frau in der von Ayalah und Weinstock herausgegebenen Sammlung von Interviews unter dem Titel »Brüste. Frauen sprechen über ihre Brüste und ihr Leben« 4 : »Als meine Brüste zu wachsen anfingen, war erst nichts zu sehen. Aber ich spürte, dass da in mir was geschah.« (Ayalah/Weinstock, 1983, 44) Sieht man einmal von Schmerzen, Empfindlichkeit und dem gerade beschriebenen vagen Spüren ab, drängt sich die Thelarche im Bewirkten im Sinne eines Sich-Abhebens und Hervortretens auf. In die Sicht- und Tastbarkeit des Körpers und die Eigenwahrnehmung des Leibes schiebt sich mit dem Brust- und Brustwarzenwachstum allmählich ein neues Element hinein, das für die leibliche Orientierung im Raum eine Rolle spielt und u. U. erhebliche Veränderungen in den Haltungen und Bewegungen nach sich zieht. Daran mitbeteiligt ist jedoch auch das Ansetzen anderer sogenannter Fettpolster an Hüften und Po, deren Wachstum meist noch vor der Thelarche einsetzt. Blickt das unbekleidete Mädchen an sich herab, bemerkt es zwei Wöl4

Es handelt sich um Material aus Interviews mit 50 Frauen verschiedener Herkunft und verschiedenen Alters mit einer Kollektion dazu gehörender Brustfotographien. Young (1990, 205 f.) weist auf dieses Buch zu Recht als »Goldmine« für die Thematik der weiblichen Brusterfahrung hin.

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bungen, die früher nicht vorhanden waren und die – je nach Ausmaß – den uneingeschränkten Blick auf den Bauch zu verstellen beginnen. Beim Betasten der Wölbungen stellt es fest, dass sie von weicher und unter einer Hülle weichen Fleisches von festerer Konsistenz sind. Bevor das Mädchen im Bereich von Sicht- und Tastbarkeit seine eigenen Brüste gleichsam von außen entdeckt, bewohnt es sie als neue Leibesregionen bereits, ob es will oder nicht, denn das Wachstum ist schon in Gang gekommen, hat sich unwillkürlich integrierend vollzogen und hat sich möglicherweise schon einmal auf die eine oder andere Weise aufgedrängt. Es kann sich etwa durch Wachstumsschmerzen bemerkbar machen oder in der Form, dass ein Mädchen, das immer gerne auf dem Bauch geschlafen hat, plötzlich feststellt, dass diese Schlaflage nicht mehr angenehm ist, weil die vom Brustkorb abgehobenen Brüste nun auf die Unterlage drücken. Die Resultate der Thelarche können beim Tragen der Kleidung auffällig werden, wenn sich der Stoff in der Brustregion stärker an die Haut anlegt als früher oder zu spannen beginnt. Schließlich wird an den Brustwarzen insbesondere dann eine Veränderung wahrgenommen, wenn dem Mädchen z. B. kalt ist und die größer gewordenen sowie aufgerichteten Brustwarzen sich zusammenziehen, hart oder steif werden, in stärkere Reibung mit der Kleidung treten und sich deutlich an ihr herausheben. Brüste und Brustwarzen bilden mit der Thelarche zwar nicht durchgängig, aber in bestimmten Situationen Teilinseln mit eigenem Erlebnisspektrum aus, z. B. mit herausgehobener Empfindlichkeit: »Meine [Brüste, UG] hab ich auch nie bemerkt, bis sie anfingen zu wachsen. Es tat weh. Ich wurde total nörgelig. Jeder Stoff, der ein bißchen scheuerte, nervte mich entsetzlich. Ich konnt es nich ab, wenn jemand aus Versehen an meine Brust stieß. Ich konnt nich mehr aufm Bauch schlafen –, es tat vor allem weh und ich war echt durcheinander. … Manchmal mußte ich sie massieren, weil sie so ungeheuer weh taten. Wenn ich mich an diese Zeit erinner, denk ich nur an diese verdammten Wachstumsschmerzen.« (Ayalah/Weinstock, 1983, 40)

Auf einer anderen Ebene, unabhängig vom Kontakt mit ›Stofflichem‹ an der Oberfläche der Brust, ist die Thelarche maßgeblich daran beteiligt, dass sich Haltungen und Bewegungen verändern. Mit den ›neuen Körperteilen‹ wandelt sich die Leibesinselstruktur und das leibliche Lot. Dass dieser Prozess sich allmählich vollzieht und kaum bemerkt wird, mag dazu führen, diesen Sachverhalt für unbedeutend zu halten. Die Wichtigkeit dieses Aspektes lässt sich aber im Experiment mit ›künstlich‹ angelegten Brüsten in ihrem Effekt leicht nachweisen: Hat man an der Brust zusätzliche Gewichte und Ausdehnungen, bedarf es einer Gleichgewichtsverlage250

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rung, d. h. man hält und bewegt sich bei allen körperlichen Verrichtungen anders als vorher. Vielen Mädchen wird diese Veränderung bei sportlicher Betätigung bewusst: »Ich war früher im Turnen gut in der Schule, aber als ich einen immer größeren Busen kriegte, war ich das nicht mehr. Wahrscheinlich war ich nur in einem Alter schon ungelenk und tolpatschig, in dem es die meisten Mädchen noch nicht sind. Ich schämte mich mit meinen Brüsten und das beschränkte meine Bewegungsfreiheit erst recht. Ich wurde ziemlich ängstlich und verkrampft, weil ich keinerlei Aufmerksamkeit auf meine Brüste ziehen wollte. Also bewegte ich mich nicht eben anmutig.« (ebd., 24)

Dass es sich bei der Thelarche nicht nur um körperliche Vorgänge handelt, die das leibliche Lot, die Körperhaltung und das Bewegungsverhalten verändern, wird an diesem Beispiel schon recht gut deutlich, denn die an sich normale körperliche Entwicklung, die offenbar vergleichsweise früh einsetzte, wird zur Quelle von Scham, Angst und Verkrampfungen. Ob das Mädchen will oder nicht, es beginnt, Brüste zu haben; sie gehören ab einem gewissen Zeitraum zum Leib und werden als solche auch nicht ›herumgetragen‹, sondern sind eingebettet in die gesamtleibliche Fülle und finden Integration, wenngleich diese sich bewusst nicht sofort einstellen muss oder auch abgelehnt werden kann, ein Vorgang, den Jean Arnold (1992, 151) in ihrem Roman »Scherenmann« beschreibt: »In der Nacht, in und zwischen ihren Träumen, sind ihre Brüste um drei Millimeter gewachsen, und drei neue Schamhaare haben sich gebildet, aber Octavia weiß das nicht. Würde man es ihr sagen, würde sie sich weigern, es zu glauben. Sie lehnt ihren Körper ab. Er ist eine fremde Regierung, die sie nicht anerkennt. Während sie sich unter dem Moskitonetz hin und her wirft, träumt sie von Cortez und seinen Freunden. Sie ist einer von ihnen. Sie galoppiert an seiner Seite, ein Schwert klirrt gegen ihren Oberschenkel, und auf ihrer Faust hockt (verkappt, bösartig) ein Falke.«

Brüste (und Schamhaare) entwickeln sich allmählich, ohne dass die Protagonistin davon ein wie auch immer geartetes Erleben hätte. Die Autorin spricht konjunktivisch von Octavias ›Innenleben‹, das bereits vom gendering geprägt ist. In ihren Träumen ist Octavia »einer von ihnen«, nämlich ein Junge. In der imaginierten Jungenexistenz haben Brüste keinen Platz, und insofern würde Octavia ihre Brüste ablehnen, wenn man ihr den objektiven Beweis ihres Entstehens lieferte. Das Zitat thematisiert aber unausgesprochen auch die Frage des Lebensalters, denn Schamhaare und Brüste, überhaupt Wachstum bzw. Gewachsen-Sein, sind Charakteristika des Erwachsenendaseins, und womöglich möchte Octavia nicht nur keine Frau, sondern grundsätzlich nicht erwachsen werden. Der Körper wird als 251

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»fremde Regierung« abgelehnt, woraus typische Identitätskonflikte der Heranwachsenden resultieren, die ihren ›neuen‹ Körper erst bewohnen lernen müssen. Dass die heranwachsenden Brüste den Mädchen regelrecht fremd vorkommen können, wird gelegentlich in Autobiographien thematisiert. Anja Meulenbelt (1979, 27) beschreibt, wie sie plötzlich »nicht mehr das zweitkleinste Mädchen in der Klasse, sondern fast die Größte« war. Das Wachstum des Körpers wird im Resultat am Spüren der Kleidung oder beim Vergleichen bemerkt: Meulenbelt ist den Anderen über den Kopf gewachsen, und ihre Brüste sind ›neu‹, es sind »kleine fremde Brüste« (ebd.). Es haben Prozesse begonnen, die am Körper deutlich sichtbar werden. Die lang gewachsenen Haare können freilich geschnitten, die Form, Größe und Fleischlichkeit der Brüste muss jedoch hingenommen werden – zunächst, denn dass Frauen nicht mehr bereit sind, das vom eigenen Leib Gegebene zu akzeptieren, zeigen die zahlreichen Brustoperationen. Die Thelarche ist ein Prozess, mit dem sich das Mädchen in mehr oder weniger ausgeprägter Form auseinander zu setzen hat. Ob es sich nun anders als vorher hält und bewegt, ob es andere Kleidungsstücke trägt, um den neuen Körperteilen Raum und eine bestimmte Formung zu geben, ob es zum Büstenhalter greift, weil sich die ›neuen Gewichte‹ freischwebend und hängend bei bestimmten Bewegungsabläufen als hinderlich erweisen – das Mädchen ist im Brustwachstum mit einem leiblichen Geschehen konfrontiert, dem es ausgesetzt ist, an das es sich gewöhnen muss und mit dem es sich zu arrangieren gilt. Unverfügbar drängen die neuen Körperteile hervor, heben sich ab, wachsen mehr oder weniger, werden mehr oder weniger groß, sind mehr oder weniger oder gar nicht hinderlich etc. Hinzu kommt, dass mit oder vor der Thelarche auch das Ansetzen von Fettpolstern an anderen Körperregionen seinen Lauf nimmt. Diese Prozesse haben ebenso, wenn auch nicht so drastisch wie die Thelarche, ihren Einfluss auf das leibliche Lot, auf den Leib als Nullpunkt der Orientierung und damit auf Haltung, Bewegung und Selbstwahrnehmung. Es ist erstaunlich, dass die Thelarche in der wissenschaftlichen Forschung nicht mehr Beachtung gefunden hat, wo sie doch noch vor der Menarche deutliche Merkmale des weiblichen Körpers ausprägt und die Heranwachsende mit Weiblichkeit konfrontiert. Auch in der feministischen Literatur zum Frauenkörper scheint die Thelarche nicht weiter erwähnenswert; in Pubertätsstudien wird beinahe ausschließlich von der Menstruation als einschneidendem Erlebnis gesprochen. Die Geschlechterdifferenz wird primär auf die Genitalien bezogen und die Brust z. B. als erogene Zone selten thematisiert; allenfalls wird auf ihre Funktionalität 252 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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beim Stillen hingewiesen. Damit wird ein medizinischer Diskurs repetiert, für den das Brustwachstum im Vergleich zur Menstruations- und damit Befruchtungsfähigkeit eine marginale Rolle spielt. Immerhin erwähnt Beauvoir (1970, 315) das Brustwachstum als Faktor körperlicher Veränderung in der Jugend: »Gewiß verwandelt die Pubertät den Körper des jungen Mädchens. Er wird schwächlicher als zuvor. Die weiblichen Organe sind verwundbar, bei der Betätigung empfindlich. Ungewohnt und hinderlich, werden die Brüste zu einer Last. Bei heftigen Körperbewegungen machen sie ihre Gegenwart geltend, zittern, schmerzen sie. Von nun an wird die Frau in ihrer Muskelkraft, ihrer Ausdauer, ihrer Beweglichkeit dem Mann unterlegen sein.«

Beauvoir beschreibt, wie wachsende Brüste sich aufdrängen, »ihre Gegenwart« geltend machen und im Bewegungsbereich zu gesamtleiblichen Veränderungen sowie regionalen Empfindungen von Zittern und Schmerzen führen. Ihre Aussage von der Schwächlichkeit und Unterlegenheit muss jedoch mit Blick auf die Ergebnisse moderner Entwicklungspsychologie kritisch gesehen werden: Während Körperkraft und Motorik vom 11. bis zum 13. Lebensjahr bei Jungen und Mädchen eng beieinander liegen, haben Mädchen zwischen dem 12. und dem 13. Lebensjahr »sogar eine geringfügig größere durchschnittliche Armstoßkraft als die Jungen« (Fend, 2000, 104). Danach vergrößern sich die Unterschiede jedoch in die andere Richtung und das hat wohl auch Beauvoir gemeint, wenn sie von der körperlichen Unterlegenheit spricht, wobei aus heutiger Sicht primär die Muskelkraft, nicht unbedingt Ausdauer und Beweglichkeit gemeint sein können. 5 Es ist von einiger Relevanz, dass man Mädchen zwar mittlerweile auf die Menarche vorbereitet, die Thelarche jedoch für so unbedeutend hält, dass man meint, sie bedürfe keines aufklärerischen oder Verarbeitung anbietenden Gespräches. Dabei ist die Thelarche in ein breites Spektrum möglicher Entfaltungsformen hinsichtlich etwa zeitlicher und körperlicher Vorgaben gestellt, die jede Menge Raum für Unsicherheiten, Spekulationen und Überraschungen bieten. Das Brustwachstum kann sehr früh einsetzen oder aber sehr spät, es kann mehr oder weniger voluminöse Formen hervortreiben, es kann schmerzen. Die Verschiedenheiten sagen zwar nichts über die Funktionalität der Brüste aus, ihre Fähigkeit zur Laktation, oder über das Maß an sexueller Lust, das an ihnen erlebt werden kann, 6 die 5

Vgl. hierzu u. a. Fend, 2000. Entgegen der Beteuerungen von Hebammen und Medizinern hält sich bis heute hartnäckig das Vorurteil, mit kleinen Brüsten wären Frauen nicht in der Lage zu stillen. Männer gehen oft

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individuellen Unterschiede von Brustwachstum und Brüsten können aber unter dem Druck eines rigiden Diskurses um den weiblichen Busen Anlass für tiefgreifende Irritationen sein.

7.3 Die Thelarche als Anlass für Irritationen Die durch die Thelarche veranlassten Irritationen sind so vielfältig, dass man beim Lesen der von Ayalah und Weinstock durchgeführten Interviews meinen könnte, es gäbe kaum ein Mädchen, das durch Wachstum und Wirkung seiner Brüste in seinem Körpergefühl und seiner leiblichen Integrität nicht aufgestört würde. Unwissenheit über die Thelarche kann sowohl bei früh-, als auch bei spätentwickelten Mädchen zu Verunsicherungen führen. Das häufig asymmetrisch verlaufende Brustwachstum kann für nicht vorbereitete Mädchen sogar den Eindruck einer Krankheit erwecken: »Meine Brust fing langsam an zu knospen, erst links, ich ging mit Mutter zur Ärztin. … Mir war klar, ich bin sehr krank. Anders konnte [ich die, UG] Änderung des Körpers nicht denken. … Mein Körper fing an zu zeigen, dass ich Frau wurde.« (Eva-Maria 7 , 1985, 122)

Die letzte Formulierung verdeutlicht den pathischen Aspekt der Thelarche, das Unverfügbare der Natur, die das Mädchen in einen Prozess des Zur-Frau-Werdens stellt. Das Geschehen am Körper wird häufig zunächst gar nicht bemerkt oder sogar verdrängt. Erst allmählich tritt es ins Bewusstsein und wird mit zunehmender Sichtbarkeit u. U. als durchaus unangenehm erlebt, zumal die Thelarche sich mitunter bereits im neunten oder zehnten Lebensjahr, manchmal sogar noch früher manifestiert, wie das folgende Beispiel zeigt: »Ich kam sehr früh in die Pubertät; etwa mit acht Jahren fing ich an, mich zu entwickeln. Es war ganz schrecklich, weil ich überhaupt nicht wußte, was los war. Ich hatte Angst vor den Schmerzen, dachte, daß mit mir etwas nicht stimmt und ich nun sterben müßte. Ich schämte mich sogar, meiner Mutter davon zu erzählen, und es war eine große Erleichterung für mich, als mir eine Freundin anvertraute, daß ihre Brüste auch weh täten. Ich erinner mich, daß es ab einem bestimmten Zeitpunkt eine Art Wettlauf gab, bei wem sich was entwickelte und bei wem nicht. … Mit einem voll ausgereiften Frauenkörper stand ich da, noch bevor ich wußte, wie man damit umgeht. Ich davon aus, dass Frauen mit großen Brüsten mehr erotisches Empfinden besäßen und leidenschaftlicher seien. 7 Die Herausgeberin Eva-Maria Knapp hat das Buch unter ihrem Vornamen publiziert.

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gewann dieses Rennen und bekam den ›Busenpreis‹, aber ich fühlte mich wie ein Monster. … Mit elf Jahren war ich körperlich komplett entwickelt und fähig, Kinder zu gebären. … Ich entwickelte eine Stellung mit angewinkelten Unterarmen, die ich noch heute manchmal einnehme, wenn ich mich unsicher fühle – die Arme über der Brust verschränkt, wie ein Schützen und Verstecken der Brüste. Ich trug immer ausgebeulte Sweatshirts und mehrere Kleider übereinander, um meinen Busen so gut wie möglich zu verbergen. Ich fand es schrecklich, wenn andere Mädchen oder überhaupt irgendein Mensch mich anschaute. Durch die Brüste war ich dermaßen verunsichert, dass ich dachte, ich würde niemals damit klar kommen – als wenn ich anders wäre als die andern, total anders. Ich tat alles mögliche, um zu verhindern, daß jemand auf meine Brüste aufmerksam wurde und wenn es doch passierte, ignorierte ich es.« (Ayalah/Weinstock, 1983, 119)

Die ersten Sätze dieses Beispiels könnten aus einer Beschreibung über die Menarche bei Unaufgeklärtheit stammen, doch es ist die Thelarche, in die das Mädchen geraten ist. Es war verunsichert, weil es nicht wusste, was sich so früh am Körper ereignete, es hatte Angst zu sterben, es schämte sich, Brüste zu haben, wollte sich niemandem anvertrauen und entwickelte als Reaktion darauf schließlich eine Reihe von Verhaltensweisen. Hier ist zunächst, und zwar ebenso typisch für Mädchen, die sich später entwickeln, eine bestimmte Körperhaltung zu nennen, die den Busen verstecken soll (angewinkelte Unterarme, Verschränken der Arme vor den Brüsten), und ferner die Veränderung der Garderobe (ausgebeulte Sweatshirts, mehrere Kleider übereinander). Insgesamt wird deutlich, wie stark die körperliche Veränderung das Mädchen mitverwandelte und zu Maßnahmen im Umgang mit dem eigenen Leib führte und wie groß die Diskrepanz zwischen dem Körper und dem ihn bewohnenden Subjekt wurde. So erhält das Mädchen im Wettbewerb mit Gleichaltrigen eine ›Auszeichnung‹ für ihre Körperformen, doch es fühlt sich »wie ein Monster«, weil es mit diesem ›neuen‹ Körper noch nicht zu leben weiß. Man könnte bei diesem und vielen ähnlich gearteten Fällen wohl behaupten, dass die Thelarche eine Krise der leiblichen Integrität auslösen kann – eine Krise allerdings, die sowohl von der Natur des Leibes als auch von der Codierung der Brüste durch die Gesellschaft hervorgerufen wird. Das wird auch an folgendem Beispiel deutlich, das erneut Unaufgeklärtheit und Unvorbereitetheit thematisiert: »Als ich anfing, mich zu entwickeln, war ich noch nicht drauf vorbereitet, Brüste zu kriegen. Sie kamen zu früh. Ich war in der 5. Klasse und sie saßen wie zwei Berliner Pfannkuchen auf meiner Brust. (Lacht) Am Anfang war ich sehr beunruhigt, weil es außen ganz hart war und weh tat.« (ebd., 58)

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Die Reaktionen aus der Umwelt waren ambivalent, vor allem bei gleichaltrigen Jungen, die ihre Brüste als bedrohlich empfanden: »Ich war deswegen geradezu ängstlich verschämt.« (ebd.) Hier tauchen wieder Beunruhigung, Schmerz und Scham auf, die den Prozess des Brustwachstums häufig begleiten. Eine andere Frau schreibt, es wäre »grausam« gewesen, »ein Kind zu sein und den Körper einer Frau zu haben.« (ebd., 24) Dieses Zitat verdeutlicht das mit der Thelarche verbundene mögliche Konfliktpotenzial, das junge Mädchen in unserer Kultur zu bewältigen haben. Brüste zu haben konfrontiert sie mit zweierlei, erwachsen und zur Frau zu werden, und dies bedeutet nicht selten ein Identitätsproblem: »Nur meine wachsenden Brüste machten mir unerbittlich klar, daß ich erwachsen wurde; alles andere an mir blieb ziemlich unterentwickelt. Ich war als Kind unterernährt. Aber die Tatsache, daß meine Brüste da waren, egal wie klein auch immer, machten mir klar, daß ich nicht länger ein kleines 8-jähriges Mädchen war, das sich weiter in den U-Bahnschächten rumtreiben kann. Ich entwickelte mich zur Frau und das schockierte mich ungeheuer.« (ebd., 16)

Mit den wachsenden Brüsten und der Auseinandersetzung mit ihnen kommt es zu Verhaltens- und Einstellungsänderungen, wie diese Frau (ebd.) weiter ausführt: »Es gab eine Zeit, da hab ich meine Brüste ignoriert. Dann kam eine Phase, in der ich mich intellektuell hinterfragte und versuchte zu begreifen, was Brüste verkörpern – da hab ich dann gelernt, sie zu mögen. Sie haben mir die Tatsache klargemacht, daß ich eine Frau bin – aber das fand ich eben nicht immer so toll. Meine Brüste und ich – wir hatten harte Zeiten durchzustehen …«

Die mit der Thelarche verbundenen Identitätsprobleme verursachen in erschreckend häufiger Weise auch Veränderungen in der körperlichen Haltung, die leiblich, also im ganzleiblichen Empfinden einen Niederschlag und Einfluss auf die leibliche Integrität haben. Eine Frau erinnert sich beispielsweise: »Irgendwann war er [der Busen, UG] da. Ich war zehn, und es war furchtbar. Vor meinen Eltern war mir das total unangenehm, daß man das sehen konnte. Ich bin immer ganz krumm gegangen. Aber die haben mich auch nie drauf angesprochen. Erst als ich meine Regel bekam, mußte ich meiner Mutter ja was sagen. In der Klasse war ich damit auch die erste und ständig dieses Munkel, Munkel und die Angst, hoffentlich sehen die nichts …« (Karin in: Brigitte 12, 1992, 113)

Das Brustwachstum ist auch hier eine problematische Erfahrung, weil etwas sichtbar wird, dem Karin in ihrem Selbstausdruck nicht gewachsen ist und das sie nicht in ihre Person zu integrieren vermag. Sie geht »ganz 256

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krumm«, um ihre Brüste vor Eltern und Mitschülern zu verbergen. Sie sollen nicht sehen, was am Körper als weiblich sichtbar geworden ist. Der Busen wird verleugnet, möglichst lange verborgen gehalten. Eine Anteilnahme am Geschehen der Thelarche vonseiten der Bezugspersonen hätte die Erfahrung, mit zehn Jahren einen Busen zu haben, womöglich nicht ganz so »furchtbar« werden lassen. Es gehört jedoch zu der spezifischen Form des gendering in unserer Kultur, Mädchen unwissend und unbegleitet in die Thelarche geraten zu lassen. Verunsicherungen, die häufig von Scham begleitet sind, betreffen nicht nur früh-, sondern auch spätentwickelte Mädchen sowie junge Frauen, bei denen es zwar zu einem Aufrichten der Brustwarzen mit regionaler Sensibilisierung, nicht aber zu einer Entwicklung des Volumens der Brüste kommt. Die Prozesse der Thelarche können für erhebliche Irritationen sorgen, wenn sie sich außerhalb der durch Vergleichsbeobachtung oder mediale Vermittlung vorgegebenen Normen bewegen: »Und dann wartete ich einfach. Ich glaubte, irgendwas würde schon passieren, weil bei all den anderen ja auch was ›passierte‹ und alle rundherum einen ›Busen‹ kriegten. Aber bei mir tat sich überhaupt nichts. Ich wußte nichts darüber, wie ein Körper sich entwickelt. Ich wußte auch nicht, was ich zu erwarten hatte. D. h. ich überlegte, ›Hm, na, mal sehen, was passieren wird. (Sieht auf ihre Brust runter) Wann was passieren wird? (Pause) Wann wird das passieren?‹ Das ging so von zwölf bis vierzehn, und dann habe ich schließlich zu mir gesagt: ›Weißt du was, ich glaube, da wird überhaupt nie was passieren! Ohh!‹« (Ayalah/Weinstock, 1983, 34)

Dieses Mädchen geriet in Konflikte, nicht nur weil die Thelarche sich nicht in einem durchschnittlichen Verlauf präsentierte, sondern auch, weil es unwissend hinsichtlich des gesamten Prozesses war, also »wie sich ein Körper entwickelt«, was es »zu erwarten hatte«. Besonders problematisch werden solche Situationen, wenn es im sozialen Umfeld zu Ausgrenzungen kommt: »Die Entwicklung meiner Brüste hat mich sehr sehr unsicher gemacht. In einer Zeit, in der sich alle entwickelten, bekam ich den Spitznamen ›Knöpfchen‹ von meinen Freundinnen. … Ich hatte eine Phase, in der ich ständig meine Schultern hochzog und krumm ging.« (ebd., 153)

Es ist bemerkenswert, wie häufig Frauen in Erinnerung an die Thelarche vom Versuch, die Brüste zu verstecken, berichten, ein Versuch, der, wenn er über die Veränderung der Kleidung hinausgeht, langfristige Auswirkungen auf das leibliche Befinden haben kann. So wirkt ein durch Körperhaltung eingeengter Brustkorb auf die Atmung ein, die dann als »Schlüsselbeinatmung« zu kürzeren, wenig voluminösen Atemzügen führt und ein 257

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weitendes Erleben bei der Einatmung behindert. Solche im Zuge der Thelarche habitualisierten Haltungs- und Atmungsformen bilden, z. B. bei hochgezogenen Schultern, mit der Zeit starre Leibesinseln aus, die später nur mit gezielter Körperarbeit zu lockern sind. Bevor an weiteren Beispielen demonstriert werden soll, wie sich das ›Verstecken‹ der Brüste auf Körperhaltung und Atmung auswirkt, sei kurz auf die Atmung eingegangen, die uns auch in den weiteren Kapiteln immer wieder beschäftigen wird. André van Lysbeth, Experte für Yoga und Pranayama (Atemtechniken), unterscheidet mit der Yogalehre drei Arten von Atmung: »Bauchatmung« (Zwerchfell-, Untere Atmung), »Brustkorbatmung« (Rippen-, Mittlere Atmung) und »Schlüsselbeinatmung« (Lungenspitzen-, Obere Atmung). Die Bauchatmung bewertet er in einem Hierarchiemodell als die beste: »Das Zwerchfell senkt sich im Augenblick der Einatmung, der Bauch wölbt sich nach außen. Die Lungenbasis füllt sich mit Luft, das rhythmische Absinken des Zwerchfells erzeugt eine sanfte und konstante Massage des Bauchinhaltes, wodurch das Funktionieren der Organe gefördert wird.« (Lysbeth, 1982, 34)

Neben den positiven Wirkungen der Bauchatmung auf Blutzirkulation und innere Organe weist Lysbeth (ebd., 44) auf die »entspannende Wirkung der Bauchatmung« hin. Im Solarplexus »sitzt auch die Angst, was die beruhigende Wirkung der Bauchatmung erklären mag«. Bei der Brustkorbatmung, der Atmung der »Athleten« »wird der Brustkasten mit den Rippen gedehnt, wie dies bei einem Blasebalg geschieht«: »Sie füllt die Lunge in ihrem mittleren Bereich, wobei eine kleinere Luftmenge zugeführt wird als bei der Bauchatmung. Der dazu erforderliche Kraftaufwand ist jedoch größer«. (ebd.)

Bei der Schlüsselbeinatmung werde »durch das Anheben der Schlüsselbeinpartie Luft eingezogen«, wodurch besonders »die obere Lungenpartie« mit Luft versorgt werde. Diese Atmung bezeichnet Lysbeth als eine »wenig günstige Atmungsart« (ebd.), der besonders Frauen leicht verfielen. Die Lungenspitzenatmung bei Frauen ist ihm ein eigenes Kapitel wert. So führt Lysbeth (ebd., 46) an, dass Frauen sich diese »am wenigsten wirkungsvolle Atmungsart« »sehr oft zur Gewohnheit« machen. Beobachte man die Einatmung von 10 Frauen, sei bei acht keine andere Bewegung festzustellen als »ein deutliches Anheben der Schlüsselbeine«: Bei Frauen würde sich beim Einatmen »vor allem die Brosche oder die Halskette« heben, und es sei dies »auch die Atmung der Nervösen, Deprimierten und Ängstlichen« (ebd.). Lysbeth weist allerdings Erklärungsversuche zurück, 258

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die primär das Bekleidungsverhalten (Korsett, Büstenhalter etc.) für diese bevorzugte Atmungsart verantwortlich machen, und bezieht sich auf Beobachtungen an Säuglingen: »Wenn man Säuglinge beiderlei Geschlechts beobachtet, stellt man fest, daß die weiblichen in der Regel wohl ebenso mit dem Bauch atmen wie die männlichen, trotzdem aber deutliche Perioden einer ausgesprochenen oberen Atmung aufweisen.« (ebd.)

Er führt diesen Sachverhalt auf die biologische Funktion der Mutterschaft zurück. Während der letzten Monate einer Schwangerschaft kann die Frau nicht mehr mit dem Zwerchfell atmen, »weil dieses sich infolge der Gegenwart des Embryos und der Placenta nicht mehr absenken läßt«. Die Schwangere nähme dann Zuflucht zu »einer dafür geeigneten Atmungsweise, der Schlüsselbeinatmung«, ja sie sei dazu gezwungen, weil eine andere Form der Atmung »nicht möglich« sei. »Das Kleinkind von weiblichem Geschlecht übt instinktiv von der Wiege an diese Atmungsart. Sobald ein Kleidungsstück den Unterleib nur leicht einengt, stellt sich ein Abwehrmechanismus ein, und die Frau beginnt mit der oberen Atmung, während unter denselben Umständen der Mann anders reagiert. Er lockert die Kleidung oder zwingt das Zwerchfell in eine flache Lage. Der Mann kämpft gegen das Hindernis, während die Frau es umgeht.« (ebd., 47)

Es fragt sich nur, warum Frauen sich die Lungenspitzenatmung »sehr oft zur Gewohnheit« (ebd., 46) machen, wenn sie qua ›Naturprogramm‹ nur für die Endphase der Schwangerschaft vorgesehen ist. Lysbeths Mahnung an die Frauen, sich eine Atmungsart, die »von geringerem Wert als die Bauchatmung« und »nur für bestimmte Umstände vorgesehen ist«, nicht zur Gewohnheit zu machen und »diesen Mechanismus außerhalb der Schwangerschaft nicht einsetzen zu lassen«, verweist nun über biologische Geschlechterunterschiede hinaus auf die Biographie des Geschlechtsleibes, die z. B. im Rahmen der Thelarche einen wichtigen Exponenten in der Reaktion auf die emotional in hohem Maße besetzten weiblichen Brüste hat. Dass viele Mädchen ihre Brüste verstecken wollen und ihren Körper in entsprechende Positionen, insbesondere mit typisch hochgezogenen Schultern bringen, fördert und habitualisiert die beschriebene Schlüsselbeinatmung. Diese Prozesse beschreibt eine Frau wie folgt: »Weil ich immer versuchte, meine Brüste zu verstecken, wurden meine Schultern rund. Ich stand nie richtig gerade – niemals! Außerdem habe ich immer meine Schultern hochgezogen. Meine BH-Träger gruben sich in meine Schultern, und wenn ich meine Schultern hochzog, schnitten die Träger noch mehr ein. Dadurch

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bekam ich Kopfschmerzen. Ich hatte Kerben auf meinen Schultern, schlimmer noch, richtige Striemen. Die Kerben … sind nie wieder ganz weggegangen.« (Ayalah/Weinstock, 1983, 25)

Dieses Mädchen mit zweifellos recht voluminöser Brust bekam später eine Rückgratverkümmerung, eine Hüftverschiebung und musste jahrelang ein Stützkorsett tragen. Doch auch bei Mädchen, die in und nach der Thelarche eher ›flachbrüstig‹ bleiben, können sich Veränderungen in der Körperhaltung einstellen, die auf das gesamte Befinden ausstrahlen. Im folgenden Beispiel antwortet eine Frau auf die Frage »Wie alt warst du, als sich deine Brüste entwickelten?«: »Das haben sie nie getan! Mir war es irgendwie angenehm, daß ich nicht diesen verletzlichen Anhang rumzutragen hatte. Ich war sportlich sehr aktiv und allein schon der Gedanke, daß da Gewicht an mir hängen würde, das sich mitbewegte, wenn ich lief oder sprang, war mir unangenehm. Ich hatte gehört, daß es den Frauen sogar weh tut, wenn sie laufen.« (ebd., 34)

Mit diesen und anderen Überlegungen wird der ›fehlende‹ bzw. sehr klein geratene Busen anfänglich überspielt, doch dann spricht die Person weiter: »In den meisten Situationen, an die ich mich im Zusammenhang mit meinem Busen erinner, hatte ich das Gefühl, mir dreht sich das Herz im Leib um, als ob mich eine eiskalte Hand angegriffen hätte. Pffft! … rein in die Hilflosigkeit, in absolute Hilflosigkeit. Hilflosigkeit hat immer eine große Rolle in meinem Leben gespielt. Sie kann dich so überwältigen, daß du nicht mal mehr sprechen kannst.« (ebd.)

Die Frau spielt auf zahlreiche Situationen an, in denen sie wegen ihrer kaum sichtbaren Brüste ausgelacht, gehänselt, verspottet, als anormal eingestuft und als Paria behandelt wurde. Daher die Hilflosigkeit gegenüber ihrem Körper, der Unverfügbarkeit der Thelarche und den Reaktionen der Umwelt. Schließlich schlagen sich diese Erfahrungen in ihrer Körperhaltung nieder: »Interessant ist, wie sich meine Erfahrung mit meinem Busen auf meine Haltung ausgewirkt hat. Meine Brust hat sich einfach geschlossen – wirklich geschlossen. Zuerst ist mir das nicht aufgefallen. Es ist, als ob dich tief drinnen etwas unwiderstehlich hineinziehen würde, dich einfach hinunterzieht, weg von der Welt, um dich zu schützen und zu verstecken. … Du verschließt dich selbst, wenn das passiert. Es ist verheerend, was es deinem Körper antut. Ich bin noch lange nach der Pubertät vornübergebeugt herumgelaufen. So habe ich die Welt gesehen. Ich habe das jahrelang mit mir rumgeschleppt.« (ebd.)

Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass nicht die wie auch immer vorhandene, vielleicht allzu stark ausufernde Brustmasse die Ursache für Haltungspro260

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bleme wurde, sondern gerade im Gegenteil die kaum vorhandene Brust. Dass die Ausmaße der Brust für die Heranwachsenden zum Maßstab sozialen Prestiges werden können, zeigt auch folgende Beschreibung eines ›flachbrüstigen‹ Mädchens: »Wegen meines ›Flachseins‹ wurde ich richtig geächtet. Auf dem Nachhauseweg von der Schule haben die Mädchen alle möglichen gemeinen Sachen hinter mir hergeschrien. Als ob ich ein Paria gewesen wäre. Es schien, als wollten sie mir sagen: ›Ich habe diese Erfahrung! Mein Körper macht diese Entwicklung mit, und du …! Du bist noch nicht mal dazu in der Lage‹. Ich weiß noch, daß Brüste als eine Art Hierarchie benutzt wurden, die deinen Platz unter den Gleichaltrigen festlegten, die dir Macht und Einfluß in dieser Gruppe gaben. Solche Bedeutung hatten Brustgrößen, und deshalb bin ich auch überzeugt, daß die Größe der Brust ganz sicher was damit zu tun hat, wie deine Mitmenschen mit dir umgehen und umgekehrt. In der Gruppe waren Brüste ein Zeichen dafür, ob man eine Frau war und ob man erwachsen war. Brüste zu haben, war wie ein Zeugnis, ein Ausweis – und alle suchten in Zeitschriften nach ihren idealen Proportionen. Auf der Basis war ich morphologisch eine Fremde. Ich hatte versagt. Ich war keine Frau. Ich war keine Frau!!!« (ebd., 35)

Paria zu sein, aufgrund eines körperlichen Wachstumsprozesses, der durch nichts zu beeinflussen ist, war für diese Frau eine einschneidende Erfahrung. Der Vorwurf der Anomalität wirkte verheerend: Sie fühlte sich ausgestoßen, weil sie »nicht mal dazu in der Lage« war, Brüste zu bekommen, sie fühlte sich als ›Versager‹ für etwas, das sie selbst nicht leisten konnte, dem sie vielmehr ausgeliefert war, und, da die Brüste in unserer Kultur stark mit dem Bild der Weiblichkeit verwoben sind: Sie fühlte sich schließlich nicht als Frau. Umgekehrt kann die pubertäre Entwicklung des Körpers auch unter negativen Konnotationen stehen und eine möglichst lang hinausgezögerte Unentwickeltheit erstrebenswertes ›Ziel‹ sein, wie Fiona Shaw (1998, 114) beschreibt: »Pubertät war etwas, das in meiner Klasse verunglimpft wurde. Nicht gerade von jedem, aber von denen, die den Ton angaben. Es war natürlich kein Zufall, daß das diejenigen Mädchen waren, bei denen sich Brust und Schamhaare am spätesten entwickelten und die als letzte ihre Tage bekamen. Ich fühlte mich verachtet, weil ich mit zwölf meine erste Periode und mit vierzehn eine voll entwickelte Brust hatte. In den Schwimmstunden stolzierten die Mädchen, die noch keine Schamhaare hatten, in ihrer Blöße umher, während die anderen versuchten, den dunklen Flecken in ihrer Leistengegend zu verbergen, der durch die nassen Badeanzüge schien. Eine Zeitlang zupfte ich mir mein Schamhaar mit der Pinzette aus. Die Vergeblichkeit des Unterfangens brachte mich schließlich dazu, damit aufzuhören, nicht etwa die Tatsache, daß ich Gefallen an meinem Haar gefunden hätte.«

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Die Thelarche muss aber zweifellos nicht immer mit negativen oder ambivalenten Gefühlen durchlaufen werden oder gar zu Haltungsschäden und flacher Atmung führen. In der umfangreichen Interviewsammlung von Ayalah und Weinstock zu Brusterfahrungen finden sich jedoch nur sehr wenige positive Berichte, die sich etwa darauf bezögen, dass die Brüste als sexuell stimulier- und erigierbar, als Quelle der eigenen Lust erlebt würden. Meist schildern Frauen im Kontext der Thelarche Zustände der Unsicherheit, Angst, Verwirrung und Scham. Dass die Thelarche auch genossen werden kann, ist folgendem Beispiel zu entnehmen, in dem auch das eigene Tasterlebnis eine Rolle spielt: »Als ich dreizehn war, entwickelten sich meine Brüste, und ich habe das wirklich sehr genossen. Ich merkte, daß sie sehr empfindlich waren und ich streichelte sie oft. … Ich erblühte richtig!« (Ayalah/Weinstock, 1983, 134)

Die Thelarche wird – vor allem in der Literatur – recht oft als ›Knospen‹ und ›Erblühen‹ der Brust beschrieben, in einer Pflanzensymbolik also, die uns auch im Rahmen anderer weiblicher Leiberfahrungen begegnet, etwa in der Rede von der Leibesfrucht bei Schwangeren. In der Tat geschieht etwas mit der Blüte einer Pflanze Vergleichbares: Eine ausgewählte Körperregion entfaltet ein besonderes Wachstum, das sich vom gesamtkörperlichen Wachstum abhebt. Die weibliche Brust zu spüren ist etwas, was dem Mädchen in diesem spezifischen Lebensalter auffällig wird, was als sonderbar und vor allem neu empfunden wird. So verspürt z. B. Anne Frank (1999, 161) manchmal »abends im Bett das heftige Bedürfnis, meine Brüste zu betasten und zu hören, wie ruhig und sicher mein Herz schlägt« und zwar so, als wolle sie es nicht beim Sehen und Spüren ihrer neuen Körperformen bewenden lassen, als wolle sie sich diese durch Tasten aneignen. Die Beispiele verdeutlichen, dass sich mit dem Brustwachstum das leibliche Empfinden mehr oder weniger stark verändert. Das Mädchen ist mit einem neuen Sich-Spüren konfrontiert, mit dem es vertraut werden und dem es gegebenenfalls mit entsprechender Kleidung begegnen muss. Die Thelarche liegt zeitlich weit vor der Menarche, wenngleich sich der Abstand zwischen Thelarche und Menarche in den westlichen Kulturen zunehmend verringert. Dennoch ist es heute noch so, dass Mädchen sich bereits an die Ergossenheit ihrer Brüste in das gesamtleibliche Spüren gewöhnt haben, wenn die Monatsblutung eintritt und sich die Brüste noch in anderen Varianten des Spürens aufdrängen können.

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7.4 Reaktionen auf die Wirkung der Brüste Der Zusammenhang zwischen der Persönlichkeit der erwachsenen Frau und ihrer Thelarche-Erfahrung verweist auf eine Bedeutung, die offenbar diejenige der Menarche übersteigt, aber noch nicht hinreichend erforscht wurde. Menarche und Menstruationen sind Leiberfahrungen, die tendenziell verborgen, ja verheimlicht werden können, da sie an einem Ort geschehen, der in unserer Zivilisation ohnehin dem öffentlichen Blick entzogen ist. Das in Erscheinung Treten der weiblichen Brust ist dagegen mehr oder weniger öffentlich, für andere Menschen sichtbar. Auch wenn die Kleiderkultur es heute gestattet, sich mit weit fallenden Stoffen zu umhüllen und die Körperkonturen für den Blick der Anderen zumindest vage und undeutlich werden zu lassen, sind Umfang und Ausdehnung der Brüste doch meist zu erahnen. Weibliche Brüste werden aber durch Kleidungskulte auch eigens akzentuiert und zur Schau getragen. Die zitierten Beispiele der Mädchen, die sich krumm hielten und unnatürlich gingen, um ihre Brüste zu verbergen, sind jedoch keine Einzelfälle; viele Frauen zeigen heute Haltungsanomalien und habitualisierte Atmungsdefizite, die auf Phänomene in der Thelarche und die diskursive Kodierung des weiblichen Busens zurückzuführen sind. So haben junge Mädchen häufig präzise Wunschvorstellungen: »Ich wollte immer, daß meine Brüste möglichst weit oben sitzen. D. h. sie haben sich auf meine Haltung und die Art, wie ich gehe, ausgewirkt. Ich wollte nie, daß sie hängen – das habe ich eigentlich ziemlich früh gelernt, daß ein Hängebusen nicht so hübsch ist, wie einer der weit oben sitzt. Außerdem habe ich mir immer dunklere Brustwarzen gewünscht … Mein Traum war immer, 1,55 m groß werden, blond und schmal, aber ich wurde einfach 1,70 m groß, brünett und fett … Als meine Brüste sich entwickelten und so groß wurden, hat sich das auch auf meinen Charakter ausgewirkt: Ich war nicht ›pflegeleicht‹ oder umgänglich.« (Ayalah/ Weinstock, 1983, 10 ff.)

Dieses Beispiel zeigt, dass sich bereits früh Idealbilder über den eigenen Körper, insbesondere den Busen einstellen, die maßgeblich von den Bruststereotypen der Zeit definiert sind. 8 Das ›Nacheifern‹ einer bestimmten Brustform führt zu bewussten Haltungs- und Bewegungsveränderungen, um den Busen in einer bestimmten Weise zu präsentieren. Die Erfahrung der Unverfügbarkeit körperlichen Wachstums, dass der Körper, jene 8

Es scheint hier geboten, von Stereotypen zu sprechen, da sich typ- und milieuspezifisch sehr unterschiedliche Vorstellungen über den ›schönen Busen‹ herausgebildet haben (Model vs. Matrone).

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»fremde Regierung«, sich entwickelt wie er will und nicht nach jenen Wunschvorstellungen, betrifft die Persönlichkeit und das Selbstbild des Menschen. Die Erfahrung des Wachstums bzw. des Habens von Brüsten stellt das Mädchen vor eine leibliche Autorität. Es kann seine Brüste vielleicht eine Zeit lang vor der Außenwelt ›geheim halten‹, doch nicht vor sich selbst. Daher gehört zur Thelarche der Prozess, sich zu den eigenen Brüsten zu verhalten, in sie hineinzuwachsen, sie als Teil des Leibes zu akzeptieren (oder abzulehnen), ein Prozess, der weitgehend von den Vorstellungen abhängt, die von der weiblichen Brust vorherrschen. Es ist für die Thelarche also nicht nur die Auseinandersetzung mit dem Blick der Anderen relevant, sondern ebenso, wie Frauen zu sich selbst und zu diesem Blick auf sie stehen. Was in der Thelarche an den Brüsten und in Bezug auf dieselben erlebt wird, sind gendered experiences. Es sind Kulturen denkbar und es existieren Kulturen, vor allem solche, die auf eine Oberbekleidung von Mann und Frau verzichten, in denen die Thelarche nicht die Bedeutung hat, wie in dem vom ›Brustfetischismus‹ geprägten Gender-Diskurs westlicher, vor allem nordamerikanischer Kulturen. In diesem Sinne durchlaufen die Mädchen unseres Kulturkreises eine ganz bestimmte leibliche Biographie, in der die Brüste bereits früh mit sexuellen Normen imprägniert werden. Unverfügbar ist für die Heranwachsende nicht nur ihre körperliche Entwicklung, sondern auch ihre Bedeutung im persönlichen und kulturellen Kontext, wie das folgende Beispiel (ebd., 23) veranschaulicht: »Brüste zu bekommen, und daß andere Leute es bemerkten, war etwas, was ich nicht beeinflussen konnte, obwohl es nicht meine Schuld war. Aber genau das wars, was meine Eltern mir eintrichterten, ich hätte eine bestimmte Verantwortung zu tragen, weil andere Leute meine Brüste bemerken würden. Es war schon schlimm genug, sie zu haben, warum sollte ich jetzt auch noch verantwortlich dafür sein? Außerdem war es das erste Mal, daß mir etwas passierte, was nicht vorhersehbar war. Ich hatte das Gefühl, als ob mein Körper mir eins ausgewischt und etwas Unerwartetes getan hätte. Ich war als Kind nie richtig krank gewesen und nun plötzlich das! Es war nicht zu kontrollieren und es machte mir Angst, weil es so unheimlich war.«

Dieses Mädchen wird nicht nur mit dem unerwarteten Brustwachstum konfrontiert, das ihm Angst macht, beinahe wie eine Krankheit, sondern auch damit, dass Brüste eine bestimmte Bedeutung für Mitmenschen haben und damit eine Verantwortung verbunden ist. Weibliche Brüste zu haben, und zwar ganz bestimmt geformte weibliche Brüste zu haben, bedeutet mehr als nur der Verlauf und das Ende einer körperlichen Entwicklung, es bedeutet etwas für Andere, es löst Reaktionen aus. Wenn das Mäd264

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chen dies nicht, wie im obigen Beispiel durch elterliches »Eintrichtern«, also beispielsweise durch Ermahnungen erfährt, sorgt der Alltag dafür. Diese Erfahrungen können negativ, positiv und ebenso gut ambivalent sein. Hierzu zunächst ein Beispiel (ebd. 69) mit besonders drastischen Reaktionen auf die Thelarche, das nur unter dem Eindruck des allgegenwärtigen gendering zu begreifen ist: »Ich weiß noch, daß es fast über Nacht geschah, plötzlich hatte ich diese kleinen Brüste und haßte sie! Ich schlug fest drauf, damit sie weggingen! Das hat mir zwar weh getan, aber das war mir egal. Ich war empört über meinen Körper. Seine Veränderung bedeutete soviel für mich – er nahm mir meine Freiheit … ich kann das nicht besser ausdrücken. Es hatte fast was Mystisches für mich, wie sich mein Körper veränderte und wie die andern das beurteilten. Ich mußte ein Mädchen werden und zwar genau die Art von Mädchen, die ich nicht sein wollte. Ich durfte nicht mehr Fußball spielen, überhaupt nicht mehr mit Jungs spielen, weil sich das alles nicht mehr gehörte für ein Mädchen, das Brüste hatte. … Die Jungs, mit denen ich spielte, machten plötzlich Bemerkungen über meine Brüste und ich war stocksauer auf sie. Jeder behandelt einen aus unerfindlichen Gründen plötzlich anders. Man weiß zwar nicht genau warum, aber man ist anders. Brüste zu bekommen hieß für mich, mein Status bei den Jungs veränderte sich und das konnte ich nicht ausstehen.«

Hier ist die erste Reaktion nicht Angst und Unsicherheit, sondern Empörung über »die fremde Regierung«, die auto-aggressiv gegen den Körper gewendet wird. Es wird jene Bedeutungsmatrix der Geschlechterverhältnisse angesprochen, die das Mädchen durch die körperlichen Veränderungen am eigenen Leibe erlebt. »Mystisch« ist hier nicht nur die Thelarche selbst, sondern ihre Beurteilung und die mit ihr verbundene Rollenzuweisung, besonders durch Vertreter des männlichen Geschlechts. Mit der Thelarche war für dieses Mädchen ein Zwang verbunden, nicht generell der »Zwang« zur Frau zu werden, sondern »die Art von Mädchen, die ich nicht sein wollte«, die, weil sie Brüste hatten, einen anderen Status als Jungen und bei den Jungen bekamen. Die Aufmerksamkeit, die Brüste in unserer Kultur auf sich ziehen, kann ambivalent, vielschichtig erfahren werden, wie dieses Beispiel (ebd., 114) zeigt: »Als meine Brüste anfingen zu wachsen, hab ich sie nie angefaßt, weil sie mir Angst einjagten. Sie wuchsen sehr schnell und ich erregte schon in jungen Jahren viel Aufmerksamkeit damit. Das war ganz nett, aber es hatte auch Nachteile. … Es wurde so viel drauf gezeigt und drüber gewitzelt und gekichert, daß ich mich sehr unwohl fühlte und auch verunsichert war wegen meines Busens.«

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Dieses Mädchen entwickelt in der Thelarche Angst vor dem eigenen Körper; es fasst die Brüste nicht an, weil sie ihm offenbar unheimlich sind. Die Reaktionen aus der Umwelt werden keineswegs so negativ erlebt wie im vorangegangenen Beispiel, denn das Erregen von Aufmerksamkeit aufgrund des herangewachsenen Busens wird vage, aber bereits einschränkend als »ganz nett« beschrieben. Doch die Nachteile dieses Interesses scheinen zu überwiegen, denn das häufige Zeigen auf den Busen, das Witzeln und Kichern führen schließlich dazu, dass das Mädchen sich »sehr unwohl« fühlte und verunsichert war, wohl auch weil es hier um etwas ging, das ihr selbst Angst einjagte. Das folgende Beispiel (ebd., 47) zeigt eine mehrdeutige, aber überwiegend positive Verarbeitung von Reaktionsweisen aus der Umwelt auf den herangewachsenen Busen: »Ich war ein Spätzünder, so daß ich auf die Entwicklung meines Busens ziemlich gespannt war. Ich konnte es kaum abwarten! … Ich hatte nie ein besonders ausgeprägtes Sozialleben in der Schule und das hatte teilweise mit meinem mangelnden Sex-Appeal zu tun – also mit meinen Brüsten. Aber nach dem ersten Jahr auf dem College fingen sie plötzlich wie irre an zu wachsen. Sie gingen wirklich auf wie Hefekuchen. … Eines Tages am Strand hab ich das erst so richtig mitgekriegt. … bis dahin hatte sich nie jemand für mich interessiert, weil ich so ein mageres Ding war. … Also ich zog mein T-Shirt aus und auf einmal hörten alle auf zu reden. Totale Stille. War das peinlich! Ich wußte genau, wo jeder hinstarrte und was die dachten: ›Wow! Wo hat sie die her?‹ Nachdem ich mich von diesem ersten Schreck erholt hatte, dachte ich: ›Großartig!‹ (Lacht) Ich fand es toll! Und da fing ich wohl an, meine Brüste als ein Symbol sexueller Macht zu betrachten.«

Zunächst fällt an diesem Beispiel wieder die Unverfügbarkeit der Thelarche auf: Sie vollzieht sich nach ihren Gesetzen, und insofern kann sie in allzu jungem Alter ebenso Irritationen hervorrufen, wie bei einer Verzögerung im Vergleich zu Gleichaltrigen, so dass sie häufig mit Erleichterung begrüßt wird, wenn sie dann ›endlich‹ eintritt. Im obigen Fall wurde die Thelarche mit Spannung, ja Ungeduld erwartet. Der Zusammenhang zwischen dem Sozialleben in der Schule und dem Stadium der weiblichen Brustentwicklung verweist auf Bourdieus These vom Körper als Kapital in zwischenmenschlichen Beziehungen. Aus den Reaktionen der Peergroup lernt diese Frau schließlich, ihre Brüste als Symbol sexueller Macht zu betrachten, was – nach dem ersten Schreck – einen Zuwachs an Selbstbewusstsein bedeutet. Zuvor aber gibt es auch in diesem Fall Gefühle von Scham (»War das peinlich!«), weil die Brüste Aufsehen erregten, sowie Ir266

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ritation und Verunsicherung, die dann aber positiv in das Erkennen von weiblicher Macht kanalisiert werden. Das Erregen von Aufmerksamkeit in der Männerwelt aufgrund der individuellen Entfaltung des weiblichen Busens kann aber auch sehr ungünstige Auswirkungen haben: »Ständig kriegte ich blöde Bemerkungen zu hören. Das hat mich so fertig gemacht, daß ich total krumm ging. – Noch heute latsche ich manchmal so. Ich konnte nie gerade gehen, weil ich nicht wollte, daß meine Brüste so vorstehen.« (ebd., 45)

Häufig berichten Frauen gerade während der Thelarche von erheblichen Problemen im Umgang mit dem Blick der Anderen auf die ›neuen Körperteile‹ : »Ich konnte es nicht ertragen, wenn die Leute mich ansahen – wirklich überhaupt nicht! Ich haßte es, wenn Leute mich auf der Straße ansahen, weil ich dachte, sie tun es ja nur wegen meines Busens. Wenn ich eine Straße entlang lief, gafften alle Männer und jeder Blick war wie ein unsittlicher Antrag. Ich schämte mich immer irgendwie, als ob ich für ihre Blicke verantwortlich gewesen wäre. … Wenn jemand mit mir sprach oder mich ansah, habe ich es immer geschafft, mir irgendwas vor die Brust zu halten. … Erst viel später wurde mir klar, warum ich das tat, daß ich nur versuchte, meine Brüste zu verstecken. Ich war mindestens schon neunzehn, als mir das bewußt wurde.« (ebd., 24 f.)

Auch hier steht wieder die Scham im Vordergrund. Das Mädchen fühlt die Blicke der Anderen als »unsittliche« Anträge und übernimmt schließlich sogar die Verantwortung dafür. Wichtige Reaktion darauf ist einmal mehr der Versuch, die Brüste zu verbergen. Es ist schon bezeichnend, dass es immer wieder die Anderen und deren reale oder vermeintlichen Verhaltenweisen sind, die beim heranwachsenden Mädchen bestimmte Umgangsformen mit dem eigenen Körper herbeiführen und leibliche Dispositionen schaffen. An einem wichtigen Knotenpunkt der leiblichen Biographie der Frau schreibt sich auf ganz massive Weise das Geschlechtermodell ein und prägt die Situation sowie den Bezug des weiblichen Subjekts zu seinem Leib. Dass diese Umgangsformen mit dem eigenen Busen stark vom persönlichen Umfeld abhängen, zeigt das folgende Beispiel (ebd., 12): »Ich wuchs zu einer Zeit auf, in der Riesenbusen ›out‹ waren. In der Generation meines Vaters und seiner Freunde hielt man einen großen Busen noch für etwas Attraktives und Wünschenswertes, für eine Art Statussymbol. Aber zu meiner Zeit hatten sich die Dinge geändert, und ein großer Busen war etwas, das man besser versteckte. Als ich dahinter kam, daß niemand einen Riesenbusen toll fand, habe ich mir

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elastische Binden rumgewickelt, damit mein Busen nicht so auffällt. Einmal bin ich deshalb fast in Ohnmacht gefallen, weil ich keine Luft mehr kriegte! Meine einzige Möglichkeit, auf eine Umwelt zu reagieren, in der ich mich wegen meiner Körperformen hätte schämen müssen, war, meinen Busen zu lieben. Also fing ich an, ihn zu zeigen. Das war zu einer Zeit, als das sonst kein Mensch tat, aber ich trug immer tief ausgeschnittene Sachen und meine Brüste sahen oben frech raus.«

Zuerst entwickelt diese Frau die Tendenz, der Bruststereotype ihrer Zeit durch Brustwickel entsprechen zu wollen; bedeutsam ist die Schilderung einer durch Kurzatmigkeit bzw. Atmungsunvermögen hervorgerufenen Ohnmacht, ein Extrem, das in abgeschwächter Form viele Frauen betrifft, die mit Verbergungspraktiken ihre Haltung so verändern, dass ihre Atmung behindert wird. Dann schlägt der erste Versuch zu verstecken sogar leicht trotzig ins Gegenteil um. In beiden Fällen handelt es sich um eine Reaktion auf die Weiblichkeitsbilder des persönlichen Umfeldes mit einer Imprägnierung der weiblichen Brust. Das nächste Beispiel (ebd., 16) stammt von einer Frau aus Harlem: »Ich erinnere mich an meine widerstreitenden Gefühle – einerseits wollte ich, daß meine Brüste größer wurden, um sexy zu sein … auf der anderen Seite fürchtete ich mich davor. Ich weiß noch genau, wie ich mir die ersten Schamhaare abgerubbelt hab! Heute weiß ich, daß ich gegen die Pubertät gekämpft habe, weil ich wußte, was das für ein Mädchen in Harlem bedeutet: Schwanger werden. … Ich war froh, daß meine Brüste so klein waren und versuchte eher, sie noch unsichtbarer zu machen, damit ich als potentielle Fickmaus ja nicht in Frage käme.«

Große Brüste sind in diesem Umfeld Symbol für sexuelle Attraktivität, die zwar einerseits qua Zuwachs von Selbstbewusstsein angestrebt, andererseits im Hinblick auf die damit verbundenen Konsequenzen abgelehnt werden, wobei diese Frau eine Schwangerschaft offenbar nicht als freie Entscheidung betrachtet. Die kleinen Brüste, die »noch unsichtbarer« gemacht werden, bedeuten in diesem Kontext eine andere Biographie, nämlich diejenige, nicht gleich mit Eintritt in die Pubertät schwanger zu werden. Andere Frauen, in anderen sozialen Umgebungen, legen dagegen alles darauf an, größere Brüste zu erlangen und der Unverfügbarkeit des körperlichen Wachstums aktiv entgegen zu wirken: »Yvonne erzählte mir von Übungen, die ich machen könnte, damit meine Brüste größer werden – ich verbrachte furchtbar viel Zeit damit, diese Übungen zu machen und es passierte nichts. Dann meinte sie, ich soll die Jungs daran rumspielen lassen – auch das hab ich gemacht und es passierte immer noch nichts. Ich hab

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wirklich alles versucht, um sie zum Wachsen zu bewegen … sie wollten einfach nicht.« (ebd., 16)

Dieselbe Frau schreibt weiter (ebd., 18): »Meine weiße Pflegemutter kaufte mir einen BH, die kleinste Größe, die man kriegen konnte. Ich mußte Seidenpapier reinstopfen – katastrophal! Aber ich dachte, wenn ich einen BH trage, würden meine Brüste vielleicht reinwachsen. Ich war so stolz darauf, daß ich ihn sogar beim Schlafen getragen hab. Nachdem ich zwei Wochen geduldig gewartet hatte und immer noch nichts passiert war, schmiß ich den BH weg.«

Das geschilderte vergebliche Bemühen, in der Thelarche einer kulturell vorgegebenen Bruststereotype entsprechen zu wollen, zeigt ebenfalls, wie sehr der weibliche Körper sich in den Fängen eines Gender-Diskurses befindet, der auf die Umgangsformen mit dem eigenen Leib einwirkt. Der Büstenhalter als weibliches Kleidungsstück hat in diesem Zusammenhang eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Nur voluminöse, weit ausladende Brüste bedürfen tatsächlich eines Büstenhalters, um – vor allem bei sportlicher Betätigung – unangenehme bis schmerzhafte Regungen des reißenden Schaukelns zu vermeiden. Fakt ist aber, dass wesentlich mehr Frauen Büstenhalter tragen, als notwendig wäre, ja der Büstenhalter ist ein Symbol der Weiblichkeit, das bereits während der Thelarche eine wichtige Rolle spielt. So erinnert sich eine Frau (ebd., 10): »Ich brauchte eigentlich noch keinen, aber irgendwie war ich überzeugt, ich bräuchte eben doch einen – ich hatte gerade soviel, daß ich dachte, ich hätte einen Anspruch auf diesen geheiligten Schatz. … In der Pubertät haben wir immer geraten, wer wohl einen trug und wer nicht. Es war genauso spannend wie: wer hatte schon Brüste und wer nicht.«

Der Büstenhalter als Modeaccessoire und sexuelles Symbol ist in Alltag und Pornographie von großer Bedeutung, und auch die angeführten Beispiele dürften gezeigt haben, dass er über seine stützende Funktion hinaus eine Quelle weiblichen Stolzes und besonderen Empfindens sein kann. Er fasst die Brüste ein und führt so auch zu einem deutlicheren Spüren der Leibesinseln. Gerade erotisch konnotierte Dessous sind hinsichtlich der Selbsterfahrung nicht nur im Sinne einer narzisstischen Zur-Schau-Stellung zu deuten, sondern auch in Bezug darauf, dass sie durch Reibungskontakte sexuell stimulieren können.

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7.5 Zur Objektivierung weiblicher Brüste Das ausführlich zitierende Eingehen auf Thelarche-Erfahrungen war durch die Tatsache bedingt, dass dieser Aspekt weiblichen Erlebens bislang wenig beachtet wurde. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse und der Bedeutung, die den Brüsten als Objekt männlicher Begierde sowie im Rahmen der ästhetischen Chirurgie und der Krebserkrankungen zukommt, ist es mehr als erstaunlich, dass die Thelarche sogar in der breit gefächerten Frauenforschung kaum thematisiert wird. Nachdem ›emanzipierte‹ Frauen, Künstlerinnen und feministische Theoretikerinnen den weiblichen Körper enttabuisiert haben, nachdem kaum noch ein Mädchen unwissend ihre Menarche erlebt, das Menstruationsblut in der Kunst vielfältigen Ausdruck gefunden hat, Vagina-Monologe 9 sowie der Einsatz des Spekulums in Frauengesundheitsbewegung und pornographischer Performanz normal geworden sind und die Diskurswirkung des phallozentrischen Weltbildes entlarvt ist, scheint die weibliche Brust als Erfahrungspotenzial ein letztes Residuum, wenn nicht gar ein Tabu für Frauen selbst zu sein. Young (1990, 205) bemerkt dazu: »One wants to explain why it is that feminists have not written about breasts, even when there is a great deal of writing about sexuality, mothering, the body, and medical interaction with women’s bodies. Why this silence about breasts, expecially when if you tell women you are writing about women’s breasted experience, they begin to pour out stories of their feelings about their breasts? Women are interested in talking about their breasted bodies and interested in listening to one another. But we almost never do it in conversation, let alone in writing.«

Eine mögliche Antwort auf Youngs berechtigte Fragen könnte darin liegen, dass die subjektive Tatsache, als Frau eine Brust zu haben und Brüste zu empfinden, auch ein Jahrhundert nach dem Erstarken des weiblichen Selbstbewusstseins durch die Errungenschaften der Frauenbewegungen immer noch in die Definitions- und Objektivationsmacht männlichen Begehrens gestellt ist. In Sexualität und Laktation, also in ausgewählten Situationen, wird zwar ein besonderes Erlebnispotenzial der Brüste allgemein zugestanden, ihr großer Einfluss auf die Identitätsbildung der Frau und als stetig anwesender Ausdruck der Weiblichkeit und Selbsterfahrung wird dagegen wenig berücksichtigt. So fehlt es an Routinen des 9

Gemeint sind etwa die »Vagina Monologues«, ein Einfrauentheaterstück von Eve Ensler, die den »Vagina-Tag« als Gegenpart zum Valentinstag initiierten (vgl. FAZ, 11. 4. 2001), aber auch verwandte künstlerische Experimente, in denen ehemalige Tabuzonen des weiblichen Körpers ihrer Schamgrenzen beraubt werden.

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Sprechens, eines an subjektiven Erfahrungen orientierten und geschienten Sprechen-Könnens über Brüste und ihre Bedeutung. Die Absenz der weiblichen Brust in Frauenliteratur, feministischer Forschung und mündlicher Gesprächskultur ist auf zahlreiche Entfremdungs- und Enteignungsprozesse, die Wirkungen christlich-abendländischer Weltbilder sowie medizin- und sexualwissenschaftlicher Autorität zurückzuführen, worauf in dieser Arbeit noch mehrfach zurückzukommen sein wird. Im Folgenden soll nun in abstrakten Betrachtungen geklärt werden, wie der weibliche Busen in unserem Kulturkreis kodiert wird und was letztlich dazu führt, dass Thelarche-Erfahrungen von so starker Auswirkung auf die Identität, das Selbstbild und das gesamtleibliche Befinden sind. Das Mädchen, das in der Thelarche lernt, seine Brüste zu bewohnen, findet sich in einem kulturellen Kontext vor, der die Brüste bereits als Wert und Ware objektiviert hat, und zwar als Wert für die – in erster Linie männlichen – Anderen. In der Spiegelung dieser Wertung des Anderen im Selbstwert manifestiert sich die Macht des Geschlechterdiskurses. So schreibt Young (1990, 189): »In this patriarchal culture, focused to the extreme on breasts, a woman, especially in those adolescent years but also through the rest of her life, often feels herself judged and evaluated according to the size and contours of her breasts, and indeed she often is. For her and for others, her breasts are the daily visible and tangible signifier of her womanliness, and her experience is as variable as the size and shape of breasts themselves. A woman’s chest, much more than a man’s, is in question in this society, up for judgement, and whatever the verdict, she has not escaped the condition of being problematic.«

Dass und welche Wirkung weibliche Brüste haben, dass sie überhaupt diesen Stellenwert haben, ist ein über mehrere Generationen hinweg verlaufender Konditionierungsprozess. In diesen Kontext wird der Mensch beiderlei Geschlechts genauso hineingeboren wie in die spezifische Natur seines Leibes. Es handelt sich dabei vorwiegend um heterosexuell geprägte Bilder von Weiblichkeit, die den Frauenkörper in idealtypische Formen und Normen gießt. Körperbilder sind äußerst wirksame Instrumente der Herrschaft, und die oben zitierten Beispiele belegen, dass Menschen beim Übergang vom Kindes- zum Jugendlichendasein häufig die weibliche Brustform und -größe als Werttestat auffassen. Körperbilder haben aber auch leibliche Referenten, insofern sie auf Erfahrungen basieren, die Menschen mit ihrem Leib gemacht haben. Die weibliche Brust ist ein ›Körperteil‹, das alle Menschen von ihrem Lebensbeginn her kennen, auch wenn sie Flaschenkinder waren. Das Geborgen-Sein an der weiblichen Brust, ob 271

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

nun stillender, tragender oder wiegender Art, ist eine Leiberfahrung wohl jedes Menschen, deren intensive Gefühls-Geschichte mit wachsendem Lebensalter verblasst. Die Objektivierung der weiblichen Brust in einem spezifisch gearteten Körperbild der Erwachsenenwelt, z. B. in der Warenpräsentation mit dem ›erotisierten‹ Frauenoberkörper in der Werbung, bewirkt eine Distanz zu jenem leiblichen Geschehen, ja es könnte sich sogar um eine Abwehr dieser Bezüge handeln. Die weibliche Brust ist dann nicht mehr der Assoziationsrahmen für eine angenehme, vielleicht lustvolle Leiberfahrung, sondern für ›nackte‹ Materialität, die objektiven, nicht subjektiven Maßstäben folgt. Und doch lockt diese Objektivierung, weckt Interesse und die Konsumlust von Mann und Frau, weil sie auf primordiale Gefühlssequenzen zielt, übertrieben ausgedrückt auf die Ur-Szene zwischen Mutter und Kind mit dem formalisierten Impetus: ›Das Gute, das von der Mutter kam, Nahrung und Liebe, ist mit dem Erwerb des Produktes auch zu haben.‹ Die strahlende junge Frau mit wohlproportioniertem Busen, die ihren Körper zusammen mit dem Produkt anpreist, ist Animierdame für materialisierte Zufriedenheit (ausgenommen sind Bereiche, wo die Ausstrahlung männlicher Seriosität, also Appellation an die rationalen ›Instinkte‹ wichtiger ist, wie etwa im Sektor Finanzgeschäfte). Dass dies alles etwas zu kosten hat, ist nur konsequent, denn auch für die Nahrung und Liebe der Mutter musste so manches Opfer gebracht werden. Einige Werbepräsentationen mit dem fokussierten und erotisierten weiblichen Busen spielen noch dazu mit Scham- und Schuldgefühlen hinsichtlich jener Ur-Szene, um die Investitionsbereitschaft zu steigern. Die weibliche Brust besetzt zwar nur einen Ausschnitt aus der Welt der Geschlechtervermarktung, aber einen sehr wirksamen, denn die angedeutete oder völlig nackte weibliche Brust ist in unserer Kultur, vor allem in den Massenmedien, rund um die Uhr visuell verfügbar. Die verallgemeinerte weibliche Brust hat keine öffentlich geschützte Privatsphäre. In die Thelarche geratende Heranwachsende sehen und spüren an sich selbst, dass sie jene körperliche Form annehmen, die sich tendenziell dem annähert, was die Mutter und andere weibliche Erwachsene schon lange verkörpern und was sie häufiger um sich herum sehen als eine unbekleidete Männerbrust oder andere Bereiche des männlichen Körpers. An jedem beliebigen Zeitungskiosk findet das Mädchen Abbildungen und Präsentationen der unbekleideten weiblichen Brust vor, die Zeugnis für massives gendering ablegen. Die derart zur Schau gestellten Brüste sind immer die Brüste der Anderen, nie die eigenen, hier wird ein vermeintlicher Spiegel vorgehalten, hier werden Typisierungen gesetzt, die für heranwachsende 272 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Thelarche

Mädchen Konfliktpotenziale beherbergen, wie ja auch biologische Vorgaben und Schönheitsstereotypen vor allem bei Mädchen drastisch auseinanderfallen. Die damit verbundene Rückkopplung beschreibt Germaine Greer (1971, 42): »Der Grad der Aufmerksamkeit, den Brüste erregen, und die Verwirrung über die tatsächlichen Wünsche der Brustfetischisten machen Frauen in übertriebenem Maße brustbewußt. Die Brust ist nie richtig; sie ist immer zu klein, zu groß, falsch geformt, zu schlaff. Die jeweiligen Vorschriften der Bruststereotype kann man gar nicht erreichen, denn sie sind nur Vorspiegelungen falscher Tatsachen, aber sie müssen auf die eine oder andere Weise gefälscht werden. Die Wirklichkeit ist entweder plump oder dürr.«

Die öffentlich gemachte Brust als Reiz- und Lustobjekt für Andere kann, wenn das Mädchen bereits von seinem Leib entfremdet wurde, die eigene Brust quasi ablösen, macht sie zu etwas für Andere und nicht für mich oder von mir, zu etwas, das immer von mir entfernt ist. Sie ist bereits objektiviert und diskursiv besetzt, sie ist verhandelbare Ware bevor und während sich das Mädchen seine Brust emotional aneignet. Viele Mädchen und Frauen haben im Zuge ihrer Entfremdung durch Prozesse des gendering heute Probleme mit ihren Brüsten. Eine der ersten Erfahrungen in Zusammenhang mit der Thelarche besteht darin, dass wir, wie Young (1990, 190) schreibt, »experience our objectification as a function of the look of the other, the male gaze that judges and dominates from afar«. Während möglicherweise das Mädchen selbst eine größere Erwartungshaltung in Bezug auf die Menarche als etwas plötzlich Eintretendes hegt, für das Vorbereitungen zu treffen sind, wird es, wenn es – wie es so schön heißt – in die ›Entwicklung‹ kommt, mit anderen Augen, den Augen der Anderen, angesehen und vor allem nach dem Brustwachstum taxiert. »When a girl blossoms into adolescence and sallies forth, chest out boldly to the world, she experiences herself as being looked at in a different way than before. People, especially boys, notice her breasts or her lack of them; they may stare at her chest and remark on her.« (ebd.)

Die Art, auf diese Erfahrung zu reagieren, ist, wie Young (ebd., 190 f.) weiter ausführt, »surely as variable as the size and character of the breasts themselves« und abhängig von der kulturellen Besetzung der Brust durch vorherrschende Bruststereotypen. Bei Asiatinnen etwa ist die Brustentwicklung tendenziell weniger aufsehenerregend als bei Europäerinnen und Amerikanerinnen; dort stehen weibliche Brüste weniger im Vordergrund erotischer Phantasien als bei uns. Folglich dürften östliche Mädchen in der Thelarche weniger Probleme mit ihrem Selbstbild haben als west273

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liche, doch darüber gibt es bislang keine Untersuchungen, wie überhaupt Brustwachstum und Brustfetischismus bei Anthropologen wenig Aufmerksamkeit gefunden haben. Einigen Völkern ist die für westliche Industrienationen typische Fetischisierung der weiblichen Brust völlig unbekannt. Eine ganze Generation ethnologischer Untersuchungen über ›primitive‹ Völker aus dem 20. Jahrhundert zeigt, wie wenig die – hauptsächlich männlichen und westlichen – Wissenschaftler mit dieser Tatsache umgehen konnten und fasziniert von der natürlichen Darbietung nackter Brüste ganze Fotobände füllten, um u. a. völkerspezifische Busenformen zu ›katalogisieren‹. Die westlichen Kulturen haben die weibliche Brust in einem Prozess sexueller Kolonisierung zum Objekt gemacht, d. h. vom Subjekt und seinen Erfahrungen und Befindlichkeiten gelöst. Mit Objekten kann man von außen umgehen, sie können manipuliert, konstruiert, aufgebaut oder zerstört werden. Brüste als Objekte sind passiv, aus sich selbst heraus unbeweglich, sie werden von außen und mechanisch in Bewegung versetzt, sie sind modellierbar, an sich selbst aber unveränderlich. Sie sind das, was einem mit einer gewissen Rechtsgrundlage gehört; ob Besitz oder Eigentum, sie sind zähl-, mess- und bewertbar, haben im Pornographiegeschäft einen Markt- oder auch Versicherungswert, kurzum in den Worten von Young (1990, 191): »The essential porperties of the object are thus all quantities: extension, location, velocity, weight.« Mit den fetischisierten Brüsten wird umgegangen wie mit Dingen, »they must be solid, easy to handle« (ebd.), sie korrelieren mit eigens für sie vorgesehenen Konfektionsgrößen und werden durch den Blick auf sie stets gemessen am perfekten ›ersten‹ Ding oder ›Ideal-Objekt‹, das freilich in den westlichen Kulturen zu verschiedenen Zeiten und in den gesellschaftlichen Schichten unterschiedlich sein kann. Greer, eine der wenigen Feministinnen, die über Brüste schreibt, berichtet über den Bleistifttest, den der Playboy für die Definition des ›Hängebusens‹ erfand: Bleibt ein Stift, der unter die Brust einer stehenden Frau gelegt wird, stecken, so handelt es sich um einen ›Hängebusen‹, also eine ›schlechte‹ Brustvariante, die tunlichst zu vermeiden ist: »Eine schöne Brust hängt per Definition nicht. Eine schöne Brust ist auch nicht klein. Brüste aber sind keine Ballons. Eine große Brust, die nicht hängt, setzt sich über die Schwerkraft hinweg. In der Brust gibt es keinen Muskel, der trainiert werden kann, um sie zu straffen. Der Brustmuskel, der bei Bodybuilderinnen überentwickelt ist, gehört nicht zur eigentlichen Brust. Die Brust liegt darüber und schnellt hoch, wenn der Muskel angespannt wird, aber der Muskel unterstützt sie nicht. Eine Frau hat also dann schöne Brüste, wenn sie ziemlich groß sind, aber nicht

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hängen. Soviel zu verlangen ist bereits zuviel verlangt, aber ein schöner Busen soll außerdem noch aus Brüsten von exakt derselben Größe bestehen. Der menschliche Körper ist aber nur scheinbar symmetrisch. Genau wie Augen und Ohren nur selten genau die gleiche Größe und eine symmetrische Form haben, sind auch Brüste normalerweise ungleich. Bei etwa 50 Prozent aller Frauen ist die linke Brust größer als die rechte, bei etwa 45 Prozent ist die rechte größer als die linke, und nur 5 Prozent haben exakt gleich große Brüste. Selbst Brüste, die gleich groß sind, sitzen nicht notwendigerweise im selben Winkel auf dem Brustkorb.« (Greer, 2000, 62 f.)

Greer (ebd., 63) spricht von einer »überwältigenden Vielfalt der Brustformen«, die ähnlich individuelle Ausprägungen aufweisen wie das Gesicht. Der Objektstatus, den weibliche Brüste in der westlichen Zivilisation haben, drängt der Brust jedoch Einheits- oder Standardformen auf, die natürlicherweise so gut wie nie, oder nur in Ausnahmefällen, vorhanden sind. Da scheinen selbst raffinierteste Büstenhalter nur bedingt Abhilfe zu verschaffen, zumal der Busen, so die Forderung, im unbekleideten und gerade auch liegenden Zustand, der die Schwerkraftverhältnisse erheblich verändert und jede Brust zur Seite wegrutschen lässt, seine ideale Form behalten soll. Während Feministinnen der 1970er Jahre noch demonstrativ auf den BH verzichteten und ihnen nachgesagt wurde, gemeinsame Verbrennungen ihrer Büstenhalter zu zelebrieren, um sich dem Diktat einer vom Brustfetischismus durchdrungenen männlichen Gesellschaft zu entziehen, ist heute der ›Silikonbusen‹ Mode geworden. Bei der Objektivierung der Frau ist die Brust im heutigen Diskurs ein wesentlicher, wenn nicht der wichtigste Aspekt. In einer Kultur, deren Auffassung von Sexualität primär über die männliche und genitale Lust gesteuert wird, kommt es zur phallischen Besetzung der Brust. So schreibt Young (1990, 190): »Breasts are the symbol of feminine sexuality, so the ›best‹ breasts are like the phallus: high, hard, and pointy.« Daraus folgen ›Vorschriften‹ über die perfekte Gestalt und Proportion des Busens: »round, sitting high on the chest, large but not bulbous, with the look of firmness«, doch: »The norm is contradictory, of course. If breasts are large, their weight will tend to pull them down; if they are large and round, they will tend to be floppy rather than firm. In its image of the solid object this norm suppresses the fleshy materiality of breasts, this least muscular, softest body part.« (ebd., 191)

Die Medien konstruieren und präsentieren dagegen einen Busen, der jeder Natürlichkeit widerstreitet, und Frauen lassen es sich nicht nur gefallen, sondern streben diesem aberwitzigen Konstrukt nach. Sie kaufen die Magazine, die den Körper der Frau und insbesondere ihren Busen als Objekt fast beliebiger Einflussnahme hinstellen und tauschen öffentlich oder ge275

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heim ihre Tricks oder – unterstützt von Mode- und Kosmetikgiganten – kostspieligen Methoden aus, wie ein solcher Busen zu simulieren ist. Aber auch die wenigen Frauen, deren Brüste dem Idealtyp entsprechen, können nur für eine gewisse Zeit ›untätig‹ bleiben, denn die weibliche Brust bleibt nicht zeitlebens dieselbe, idealerweise adoleszent und d. h. straff und fest. Das Altern, Schwangerschaft, Laktation, dies alles verändert weibliche Brüste ebenso, wie der Körper als Ganzer Wandlungs- und Alterungsprozessen unterliegt. Hier zeigt sich deutlich, wie sehr das, was viele Frauen angeblich mit Freude und Lust tun, nämlich eine Perfektionierung ihres Körpers zu betreiben, zur lebenslangen Knechtschaft wird. Diese ist heute im Zeitalter quasi unbegrenzter Möglichkeiten auch hinsichtlich plastochirurgischer Eingriffe um ein Vielfaches dramatischer als früher, was die gesellschaftliche Normalisierung körperlicher Eingriffe wie Fettabsaugen, Facelifting oder Busenoperationen, z. B. in Live-Übertragungen aus dem OP-Saal, zeigt. Auf dem Bekleidungssektor kann man immer noch vom Diktat der Konfektionsgrößen für Oberbekleidung und Büstenhalter ausgehen und die im Durchschnitt angebotene Frauenbekleidung ist nach wie vor unpraktisch und oft gesundheitsschädlich. 10 Vor allem in der Manipulation der Brüste zeigt sich, wie sehr Frauen heute ihre eigene Brust selbst mit dem objektivierten männlichen Blick betrachten, wie sehr das Spiegelbild gegenüber der Selbsterfahrung zur dominierenden Größe geworden ist. So verzichten manche Frauen wie selbstverständlich auf die sexuellen Empfindungs- und Stimulierungsmöglichkeiten an den Brustwarzen, wenn es bei einer Brustoperation ›notwendig‹ ist, die Brustwarze um der ästhetischen Ausgewogenheit willen zu ›verpflanzen‹, behandeln diese also wie ein Stück beliebige Haut. Greer (1971, 42) bezeichnete Anfang der 1970er Jahre den heute bei Schönheitschirurgen angeforderten Busen noch als »Mühlstein am Hals«, und zwar nicht nur in körperlicher Hinsicht, als nach unten ziehendes Gewicht, sondern auch als Medium sexueller Attraktivität: »Ein voller Busen ist in Wirklichkeit ein Mühlstein am Hals der Frau: er macht sie bei Männern beliebt, die aus ihr ein Mammchen machen wollen, aber sie darf nie10

Das betrifft vor allem das Schuhwerk. Der gelegentlich herablassende Blick auf die chinesische Sitte des Füßebindens relativiert sich ein wenig bei einer Analyse westlicher Schuhkultur. Eine chinesische Frau, deren Füße beim Heranwachsen verstümmelt wurden, konnte zwar weniger weit gehen als eine westliche Frau, aber westliches Schuhwerk (z. B. der Stöckelschuh) behindert die freie Beweglichkeit des Gehens dennoch in einem so erheblichen Maße, dass dadurch nicht nur die Füße, sondern die gesamte körperliche Haltung deformiert werden. – Es ist u. a. eine Errungenschaft der Frauenbewegung, dass hier eine Trendwende eingeleitet wurde.

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mals annehmen, daß die Glotzaugen der Männer sie selber sehen. Ihre Brüste werden nur so lange bewundert, wie sie keine Zeichen ihrer Funktion verraten: sind sie einmal dunkel, langgezogen oder dahingewelkt, werden sie Gegenstand der Ablehnung. Sie sind nicht mehr Teil eines Menschen, sondern Köder, die sich um ihren Hals schlingen, zum Kneten und Knieren wie Zauberkitt, oder zum Mampfen und Schlecken wie Eislutscher.«

Für die mit Silikon gefüllten Brüste der Frauen von heute scheint folgender Rat von Greer (ebd., 42 f.) aus dem Jahr 1971 nicht mehr aktuell zu sein: »Der einzige Weg der Frauen, sich vor solch plumper Fummelei zu schützen, ist, auf keinen Fall mehr Unterwäsche zu tragen, die die Wahnvorstellung von aufgeblasenen Titten verewigt, auf daß Männer sich mit der Vielfalt der wirklichen Sache befreunden müssen.«

Es zeichnet sich im Gegensatz dazu ab, dass jene »Wahnvorstellung« in den letzten zwei Jahrzehnten von vielen Frauen verinnerlicht wurde und anstelle der ausstaffierten und gepolsterten Unterwäsche und des wieder in Mode gekommenen Korsetts bzw. stark körperformender Kleidung nun die Operation eingesetzt wird, um dem künstlich hergestellten Idealbusen jede individuelle Prägung zu entziehen. Frauen haben immer schon aktiv an der Projektion ihrer Geschlechtsmerkmale und an der Markierung ihrer Geschlechtskörper, etwa durch Schminke, mitgearbeitet. Heute, nach der wirtschaftlichen Gleichstellung von Frau und Mann in vielen Kulturen, hat sich lediglich das Ausmaß geändert, in dem sie diese Mitarbeit fortführen. Frauen sind als freie Konsumentinnen im großen Stil zu Täterinnen im Sinne der Herstellung ihrer selbst geworden. Obschon sie als zahlungskräftige Kundinnen prinzipiell auf bestimmte Formen des gendering Einfluss nehmen könnten, scheint sich die Spirale der Geschlechterkonstruktion insofern weiter zu drehen, als Frauen nun so weit sind, aus freiem Willen und mit Zeit-, Kapital- und Schmerzinvestition, und zwar nicht nur in Bezug auf die Optik ihrer Brüste, das zu wollen, was ›man‹, und d. h. ein ursprünglich patriarchalisches Weltbild, für sie inszeniert. Es ist hier nicht der Ort, Fragen wie die nach dem Scheitern des Feminismus zu erörtern 11 , doch sei darauf hingewiesen, dass insbesondere das 11

Nur kurz sei vermerkt, dass der Feminismus in meinen Augen in gewisser Hinsicht ›gescheitert‹ ist, weil er es nicht vermochte, die Frau tatsächlich zu befreien. Das gilt sowohl weltweit bei grundlegenden Menschenrechten wie auch – freilich in einem anderen Umfang – in der ›frauenemanzipierten‹ westlichen Zivilisation (vgl. hierzu insbesondere Kap. 17 zur Sexualität, Kap. 18 zum kranken weiblichen Leib und den Schluss dieser Arbeit). Vor dem Horizont der Geschichte, die Frauen durchlebt und an der sie mitgewirkt haben, ist dieser Anspruch wohl

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Problem des Silikonbusens sehr vielschichtig ist. Hier geht es nicht nur darum, dass Männer Frauenkörper nach ihren Frauenbildern schaffen bzw. umschaffen und nicht nur um den Machbarkeitswahn, durch plastische Chirurgie den Körper beliebig zu modellieren. Hier geht es auch nicht nur darum, dass Frauen ihren Männern das real oder vermeintlich Gewünschte, nämlich den vollen und unveränderlichen Busen, heute präsentieren können und wollen. Vielmehr geht es überdies um tiefere Probleme, die damit zu tun haben, wie sich Frauen in ihrem Leib fühlen, der Generationen, ja Jahrhunderte lang hauptsächlich von Männern, aber ebenso von ihnen selbst objektiviert wurde. Offensichtlich wollen Frauen, die eine Operation an den Brüsten vornehmen lassen, nicht nur ›besser‹ aussehen, sondern ihren Leib anders spüren als es die Natur vorgibt. Viele Frauen wünschen einen fülligeren Busen, weil sie sich mehr ›als Frau‹ fühlen, weil sie ihren Busen deutlicher spüren wollen. Er soll sich viel mehr aufdrängen, als er das von Natur aus tut, auch wenn er bereits vergleichsweise voluminös ist. Andererseits wollen viele Frauen mit üppigem Busen gerade einen kleineren haben. Der medizinische Sinn der ersten Brustoperationen lag darin, Frauen mit übervollem Busen zu ›erleichtern‹, also Haltungsschäden vorzubeugen oder zu beseitigen. Diese Frauen waren Patientinnen, weil sie ein ernstes Problem hatten. Heute sind Frauen bei Schönheitschirurgen Kundinnen 12 , weil sie ein ›imaginiertes‹, aber gleichwohl reales Problem mit ihren Brüsten haben. Dass Frauen mit den – z. T. schon von Freunden oder gönnerhaften Medienkonzernen bezahlten – Operationen an gesunden Brüsten zu Patientinnen werden, wird in der Propaganda meist unterschlagen. Greer (2000, 44) zitiert folgenden Leserbrief einer Frau: »Mit 16 hatte ich eine peinlich flache Brust. Da versprach ich mir selbst, daß ich mich operieren lassen würde, wenn ich mit 21 immer noch keine vernünftige Brust hätte. Das tat ich dann auch und bereue es nicht. Es ist verblüffend – zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich jetzt so weiblich, daß ich eine Handtasche trage!« auch zu hoch gegriffen und sind die Resultate letztlich doch überwältigend. Erst etwa ein Jahrhundert lang können Frauen im Westen frei wählen, sich im gleichen Umfang wie Männer bilden und Kapital besitzen, nachdem diese Rechte jahrtausendelang sehr stark eingeschränkt waren. Was die Frauenbewegung erreicht hat, ist so einschneidend und bedeutend, dass der Feminismus nach wie vor notwendig ist, um an der Befreiung der Frau weiter zu wirken bzw. einem Rückfall in frühere Zustände Vorschub zu leisten. 12 Frauen und Männer, die sich einer Schönheitsoperation unterziehen oder sich dafür interessieren, müssen heute als Kunden bezeichnet werden (wenngleich sie häufig später Patienten werden). Diese Änderung im Sprachgebrauch wurde eingeführt, um für Schönheitschirurgie kommerziell werben zu können.

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Mit 16 Jahren, im zweiten Stadium der Thelarche, hatte die Betroffene bereits über die Beschaffenheit ihrer Brüste ein kritisches Urteil gefällt. Die Tatsache, eine flache Brust zu haben, war ihr peinlich. Wir wissen nicht, wie flach ihre Brust wirklich war, wir wissen aber, dass eine Brust vorhanden war, sie war eben nur nicht »vernünftig«, sondern von Natur aus so, wie sie war. Diesen Umstand wollte die Betroffene aber nicht akzeptieren. Auch wenn sie womöglich darüber aufgeklärt war, dass eine flache Brust alle ›Funktionen‹ im sexuellen Bereich und in der Fortpflanzung erfüllen kann und ihre Erlebnisfähigkeit in keiner Weise gestört ist, spielte das keine weitere Rolle, denn hier ging es um anderes. In dem Versprechen des Mädchens sich selbst gegenüber, eine Operation durchführen zu lassen, wenn die Natur auch fünf Jahre später noch nicht zur »Vernunft« gekommen sei, liegt die Erfüllung eines Wunsches nach ausgeprägter, sichtund spürbarer Weiblichkeit. Die »vernünftige«, und d. h. nicht-flache Brust ist ein Statussymbol, das im Diskurs um die Weiblichkeit erzeugt wird. Jahrzehntelang pressten Frauen ihre Brüste unter Miedern flach und sahen sich mit der Tatsache konfrontiert, dass gerade eine üppige Brust als »nicht-vernünftig« galt und allenfalls von Frauen der unteren Klassen oder Stillenden zur Schau getragen werden durfte. Die Betroffene in unserem Beispiel ist einer Kettenreaktion ausgesetzt, die dazu führte, dass sie sich erst nach der Operation weiblich fühlte und mit dem weiblichen Accessoire Handtasche überzeugend als Frau in der Öffentlichkeit auftreten konnte. Die Wirkmacht des gendering manifestierte sich im freien Willen zur schmerzhaften Erfahrung eines operativen Eingriffs. Dieser freie Wille entschied über eine kostspielige Operation mit Narkose, einen Eingriff in das Leibesinnere, zwei oder mehr Schnitte in zwei gesunde Brüste, zwei oder mehr bewusst zugefügte Wunden, das Einlegen von Fremdkörpern, das Vernähen, die Wund- und Nahtschmerzen, das Berührungsverbot für die ersten Wochen nach der Operation, die postoperative Verringerung der Lebensqualität etc., also über ein Kaleidoskop von Erfahrungen mit realen und möglichen Beeinträchtigungen und vermutlich, nach einem Jahrzehnt, über ein unangenehmes Nachspiel. 13 Bei allem Aufwand und aller Qual war die Operation im Sinne der Kundin erfolgreich. Wir wissen freilich nicht, wie es ihr mit ihren Brustprothesen fortan erging, ob sie die Umrisse ihrer Brust noch wahrnehmen konnte14 , was sie 13

Viele Implantate haben heute eine meist auf ein Jahrzehnt begrenzte Haltbarkeitsdauer, müssen überwacht und schließlich ausgewechselt werden. Das sind aber nur die geringeren Probleme. Zahlreiche postoperative Komplikationen zeugen von nachhaltigen ernsthaften Gesundheitsschäden. 14 Man hört gelegentlich davon, dass bei Implantaten das Gefühl für die Brust verloren geht

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beim erotischen Spiel an den Brüsten fühlte, wie sie sich auf das veränderte leibliche Lot einstellte und welche Erfahrungen sie möglicherweise beim Stillen mit den Implantaten machte. Es ist für solche Berichte typisch, dass in ihnen nur vom ›Erfolg‹ für ein bestimmtes weibliches Selbstverständnis die Rede ist. Fragen wir nun, wann der Busen von Natur aus jener Form ähnelt, wie es die dominierende Bruststereotype unserer Zeit propagiert, so kann man Young prinzipiell recht geben, dass es sich um den typischerweise adoleszenten, also festen, straffen Busen handelt, aber ein solcher Busen ist in der Regel nicht prall. Der charakteristische Silikonbusen gleicht vielmehr dem Busen im Zustand der Laktation. Die laktierende Brust hat genau diese Form: Sie ist prall gefüllt, im Liegen heben sich die Brusthügel deutlich vom Körper ab, rutschen wegen der drängenden, dichten Fülle nur geringfügig zur Seite ab, sie sind schwer, fest und straff, hängen also nicht weich herab etc. Blicken wir dann noch auf die Tatsache, dass viele Frauen über Jahre hinweg hormonelle Empfängnisverhütung betreiben, die dem Körper den Zustand der Schwangerschaft vorgaukelt, so ließen sich Spekulationen über – vielleicht unterschätzte – Motive für Brustoperationen anstellen. Da hierzu aber noch keine Umfragen, Erfahrungsberichte, Motivationsklärungen stattgefunden haben und viele Frauen auch nicht bereit sind, einen erfolgten Eingriff zuzugeben, kann an dieser Stelle das Problem nicht weiter verfolgt werden. Es bedürfte ferner eingehender sexualpsychologischer Studien, um herauszufinden, ob, in welcher Häufigkeit und warum viele westliche Männer tatsächlich jenen von den Medien präsentierten Busen begehren, der die Form laktierender, vor Milch strotzender Brüste hat. Wenn man bedenkt, dass die in die Thelarche kommenden Mädchen bereits etwa ein Jahrzehnt unter dem Einfluss des mit der Objektivierung weiblicher Brüste in Verbindung stehenden gendering leben, erscheinen die weiter oben zitierten Thelarche-Beispiele kaum noch erklärungsbedürftig. Es gehört offenbar auch zu dieser Art gendering, dass der gesellschaftliche Aufklärungsdiskurs junge Mädchen zwar nicht mehr unwissend in die Menarche und den Menstruationszyklus geraten, aber weitgehend unwissend über die Thelarche und die Bedeutung der weiblichen Brust für das eigene Erleben lässt. Die weibliche Brust wird vorrangig als erotisches Symbol objektiviert und u. U. noch als Nahrungsspenderin funktionali-

und ihre Ausdehnung nicht mehr spürbar ist, so dass z. B. Models nicht merken, wenn ihre Kleidung von der Brust rutscht.

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siert, in beiden Fällen als die Brust für den oder die Anderen. Die Heranwachsende wird meist mit der Janusköpfigkeit dieses ›Körperteils‹ konfrontiert, bevor sie die Brust als die eigene versteht und sich in Erfahrungsgeschichten aneignet. Wenn Greer (1971, 43) in diesem Zusammenhang immerhin einräumt, dass die »gegenwärtige Betonung des Nippels« »ihren Vorteil für die Frauen« hat, so spielt sie auf das erotische Empfindungspotenzial der Brustwarzen an. Weibliche Brüste sind im Grunde Sexualorgane, weil sie auf besondere Weise reaktionsfähig sind. Brustwarzen richten sich nicht nur bei Kälte, sondern vor allem in der sexuellen Erregung auf, werden steif, vergrößern sich um das Doppelte, erröten, ja erigieren im phallischen Sinne. Zwar gibt es ein Tabu hinsichtlich der Abbildung erigierter Brustwarzen in nicht-pornographischen Kontexten, aber die Brustwarze selbst wird dennoch in den Medien in großem Umfang unbekleidet gezeigt. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn es ein Äquivalent hinsichtlich des männlichen Körpers gäbe. Das ist aber nicht der Fall: Es gibt kein Körperteil des Mannes, das sexuell empfindungsfähig ist und öffentlich in der Weise wie weibliche Brüste gezeigt und objektiviert würde. Es mag sein, dass Frauen keinen Wert auf solche Objektivierung männlicher Sexualorgane legen, und sie sind in ihrer Partnerwahl sicher nicht durch die Größe und Form von Penis oder Hoden bestimmt, wie das ja umgekehrt auch bei Männern in Bezug auf die weibliche Brust nicht unbedingt der Fall ist. Aber es wäre immerhin denkbar, dass Männer, würden beispielsweise ihre Hoden als mit weiblichen Brüsten annährend vergleichbare ›sekundäre‹ Geschlechtsmerkmale – übrigens auch besonders kälte- und berührungsempfindlich, vom Körper qua Schwerkraft herabfallend, bei Bewegungen wabernd usw. – objektiviert, taxiert, vermessen, qua Schönheitsnorm bewertet, in besondere Kleidungsstücke gesteckt und in den Medien zu Werbezwecken verwendet, in ähnliche Situationen geraten wie die Mädchen bei der Thelarche. Vielleicht würde man diese Phase dann ›Testarche‹ (von Testes, Hoden) nennen, wenngleich es kein Hodenwachstum in dem Sinne wie das Brustwachstum bei Frauen gibt, und vielleicht würden Männer dann auch Kunden von Schönheitsoperationen werden, in denen die Größe und Asymmetrie ihrer Hoden ›korrigiert‹ würde. Solche womöglich maßlos erscheinenden Spekulationen sollen hier keineswegs Programm sein, sondern noch einmal den asymmetrischen Geschlechterdiskurs verdeutlichen, mit dem das heranwachsende Mädchen durch die Objektivierung weiblicher Brüste konfrontiert ist und der in der Thelarche und allgemein in der Erfahrung, Brüste zu haben, eine so entscheidende Rolle spielt. Unbenommen sind in anderer Weise natürlich auch Jungen und Männer den für sie vorgesehenen idealen 281 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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Körperbildern und dem Schönheits-Kult ausgesetzt, was bei ihnen ebenfalls zu Entfremdungsprozessen führen kann. Was im erotisierten Busen-Diskurs meist im Hintergrund bleibt und den spekulativen Vergleich zwischen Hoden und Brüsten vollends kippt, ist freilich die Tatsache, dass weibliche Brüste neben ihrer Fähigkeit, sich zu sexuellen Leibesinseln auszuprägen, nach der Geburt eines Kindes zur Nährung von Säuglingen bereitstehen und ein ausgeprägtes Eigenleben mit Flüssigkeitsabgabe führen. In der Laktation zeigt sich die extremste Form der Metamorphosen, in die weibliche Brüste geraten können. Es hat möglicherweise mit der Doppelfunktion der Brüste in Mutterschaft und Sexualität zu tun, dass und in welcher Weise die Fetischisierung der weiblichen Brust im Diskurs westlicher Industrienationen den oben beschriebenen Verlauf genommen hat. Zur kulturellen Markierung des weiblichen Busens und zur Selbsterfahrung von Frauen gehört die aufrechterhaltene Trennung zwischen Mutterschaft und Sexualität und zwischen Hetero- und Bi- bzw. Homosexualität. Ausgangspunkt für das vielfältige Erleben der eigenen Brust ist die Thelarche, die hinsichtlich der Geschlechtsidentität für die weibliche Biographie, jedenfalls in unserem Kulturkreis, von ebenso großer, wenn nicht größerer Bedeutung wie die Menarche und die Menstruationen ist. Die Rehabilitierung und Präzisierung der aus Medizin und Entwicklungspsychologie stammenden Bezeichnung für das Brustwachstum, Thelarche, scheint für die Geschlechterforschung insofern geboten, als der allmähliche Zuwachs von ›Körperteilen‹ und die Entfaltung der Leibesinseln Brüste, vom leibphänomenologischen Standpunkt aus schon interessant genug, mehr bedeutet als das gesamtleibliche Sich-Einfügen der Brüste in Haltung, Bewegung und Selbstwahrnehmung. Mit der Thelarche werden zugleich Geschlechterdiskurse inkorporiert. Freilich erleben Mädchen und Frauen ihre Brüste nicht ausschließlich negativ als Objekte des männlichen Begehrens. In ihrer Codierung bedeuten sie auch – vielfältig nutzbare – erotische Macht und sind Quelle des Stolzes und weiblichen Selbstbewusstseins. Mit der Thelarche beginnt für das Mädchen ein Prozess des Bewohnens seiner Brüste und das Entdecken des gesamten an diesen Leibesinseln auftretenden Erlebnisspektrums, auch im Zusammenspiel von Brüsten und genitaler Zone in der sexuellen Erregung. Der Geschlechterdiskurs greift aber massiv in diese Erfahrungen ein und die Berichte von Frauen zeigen allzu deutlich, dass die Thelarche äußerst ambivalent erlebt wird, wobei das Feld sexueller Belästigung am Busen noch gar nicht thematisiert wurde. Die Rede vom »Frau-Werden« oder »Frau-Sein«, die häufig in Bezug 282 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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auf Menarche oder Defloration auftaucht, mit der Konnotation, das Mädchen sei nun mit einem einzigen Ereignis zur Frau geworden, kann vor dem Hintergrund dieser leibphänomenologischen Deskriptionen nicht aufrechterhalten werden. Zu Recht verwendet die Entwicklungspsychologie den Begriff pubertal process. Die Menarche zeigt die Fruchtbarkeit an, die im Diskurs um die geschlechtliche Rollenzuweisungen stets eine wichtige Rolle spielt. Die Thelarche aber, die zeitlich viel früher einsetzt, zeigt für die Frau selbst und für Andere in noch deutlicherem Ausmaß das FrauWerden bzw. Frau-Sein an. In der Thelarche wächst dem Mädchen – um das Spezifikum dieser Leiberfahrung noch einmal zu akzentuieren – etwas heran, das, wenn auch in veränderlichen Zuständen, zeitlebens bleibt, das in Präsenz wie in Absenz für das weibliche Subjekt selbst und für die Mitmenschen sichtbar ist und dauerhaft das regionale leibliche Spüren, die Beweglichkeit und Haltung des Leibes in einem Zusammenspiel von Leib und Diskurs verändert. Alle anderen, nachfolgend beschriebenen Leiberfahrungen beziehen sich auf vorübergehende Zustände und Situationen, in die der weibliche Leib gelangt bzw. gelangen kann. Die Erfahrung, Brüste zu haben, ist dagegen per se ab einem bestimmten Lebensalter eine die weibliche Existenz begleitende Faktizität. Das Mädchen wird also nicht erst in der Menarche, sondern schon in der Thelarche zur Frau. Und ebenso wie es lernen muss, mit seinen Brüsten zu leben, sie zu bewohnen, sich dem an ihnen Gespürten und den von ihnen ausgehenden Reaktionen zu stellen, in ähnlicher, aber doch anderer Weise wird das Mädchen in der Menarche vor den Leib gestellt, als die Natur, die wir selbst sind, und wächst ihm in der Menarche etwas zu, mit dem es zwar nicht dauerhaft, aber in zyklischem Auftreten zu leben hat.

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»An diesem Abend schoß zum ersten Mal Blut aus Maries Schoß. Die fast schwarzen Gerinnsel waren elastisch, als Marie sie zwischen Zeigefinger und Daumen preßte. Der Geschmack erinnerte sie an Mangos.« (Parker Rhodes, 1995, 41)

8.1 Das erste genitale Bluten Während die Thelarche den Charakter allmählicher Reifung hat, ist die Menarche ein datierbares Ereignis, das aber im Vergleich zur Thelarche m. E. unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Dies sei sogleich betont, um diese beiden Erfahrungen zueinander in Beziehung zu setzen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Überzeugungen halte ich die Menarche in Prozessen des gendering im Jugendalter heutzutage für weniger erlebnisrelevant als die Thelarche. Dennoch bezeichnet die Menarche einen Endpunkt in der Entwicklung, da eine Vielzahl komplizierter körperlicher Veränderungen in der ersten Blutung gipfelt, und einen Wendepunkt, da das Ereignis die Heranwachsende in elementarer Betroffenheit mit dem weiblichen Leibesschicksal konfrontiert. In der Menarche ist das Genital von einer Ausscheidung betroffen, die das Mädchen noch nicht selbst erlebt hat. Was es vor der Menarche an der Schamregion spürt, mag sich auf Lustempfindungen an regionalen Regungsherden beziehen; im Alltag ist die genitale Zone aber vor allem durch die Urinausscheidung relevant. Beim ersten genitalen Bluten handelt es sich ebenfalls um eine Ausscheidung, die in der Gegend der Scham ihren Ort hat. Sie ist freilich von anderem Charakter, und dass das Blut nicht dort ›herauskommt‹, wo der Urin ›heraustreibt‹, sondern eher diffus um die Scheidenöffnung herum ›heraussickert‹, wird dem Mädchen schnell klar. Während von der Urinausscheidung als einer antrainierten willensgeleiteten Handlung behauptet werden kann, dass »ich etwas tue«, wenn ich »auf die Toilette gehe«, muss bei der Menarche gesagt werden, dass »sich etwas tut«. Was sich hier tut, kann ich nicht mit dem Willen, einem zielgerichteten Impuls qua Muskelkontraktion »aus der Welt schaffen«. 284 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Menarche

Die häufig dramatischen Reaktionen auf unbeabsichtigtes Bettnässen (durch Urin) geben vielleicht Aufschluss über die Bestürzung, die junge Mädchen angesichts dieser Unkontrollierbarkeit der Menstruationsausscheidung befällt. Und zwar zusätzlich zu den Konnotationen, die das Blut, besonders weibliches Menstruationsblut, durch tradierte chaotischmannigfaltige Atmosphären umgibt. Das sich bei der Menarche erstmals aufdrängende Phänomen ist die mehr oder weniger zähflüssige Nässe, die sich an der vaginalen Öffnung und über sie hinaus bemerkbar macht. Gespürt wird im wachen Zustand eine körperwarme Flüssigkeit, welche die hintere Scham einnässt. Setzt die Menarche während des Schlafes ein, wird beim Aufwachen die Nässe wahrgenommen, die das Genital und seine Umgebung ›befallen‹ hat. Primäres Erleben ist also das Einnässen, das eigenleiblich verursachte NassWerden und Nass-Sein an der genitalen Zone. Dieses unterscheidet sich von allen bisher von dem Mädchen erlebten Weisen des Nass-Seins an dieser Region, durch Wasser, beim Waschen oder auch Schwitzen, und durch Urin. Die Nässe, die den Leib in der Menarche ›befällt‹, fließt nicht so schnell ab, wie Wasser oder Urin, sondern ist träge, mehr oder weniger dicht, mitunter von gallertartiger Konsistenz. Diese Beschaffenheit der Nässe führt dazu, dass sie auf einer Oberfläche wie der Haut haftet, kleben bleibt und dort, im Kontakt mit Luft, eintrocknet. Die Nässe fällt beim konstanten Ausfluss vom Leibe ab, d. h. sie unterliegt der Schwerkraft, perlt sich ein und bildet Ströme, die je nach Körperposition als herabfließende auf der Haut, etwa an den Beinen, gespürt wird. Dass das Einsetzen des Fließens und die Flüssigkeit selbst nicht unmittelbar gespürt werden, zeigt die Tatsache, dass viele Mädchen die Menarche selten zuerst in einem eigenleiblichen Spüren an der genitalen Zone bemerken, sondern indem sie entweder Blut in ihrer Unterhose entdecken oder aber, wenn schon einiges Sekret ausgetreten ist, die sich ausbreitende Nässe im Kontakt mit der Unterwäsche wahrnehmen. Noch warme Flüssigkeit wird bei ihrem Austritt an der Körperoberfläche bzw. an der den Körper umhüllenden Kleidung registriert. Herkunft und Anlass sind unsichtbar. Das Ereignis tritt unwillkürlich auf, ergießt sich in ein mehrere Tage dauerndes, mehr oder weniger kontinuierliches Verströmen und verebbt schließlich. Es ist Ausdruck einer leiblichen Eigenmächtigkeit und Selbstständigkeit. Als das Woher der Nässe wird mehr oder weniger aufdringlich der Unterleib wahrgenommen, meist als dumpf, aber auch abrupt und stechend oder ziehend erlebtes, krampfartiges Anspannen seiner unteren Region. Die erste Blutung kann aber auch völlig regungsfrei verlaufen und sich ausschließlich durch das blutende Genital manifestieren. 285 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

Erst der Blick identifiziert die an die Körperoberfläche tretende Flüssigkeit als Blut. Es ist nicht das Blut einer gerade zugefügten oder zufällig aufgetretenen, womöglich einmaligen Verletzung oder einer schweren Krankheit, eine Vorstellung, die unaufgeklärte Mädchen bei der Menarche in Angst und Schrecken versetzt,1 sondern natürliches Blut eines unsichtbaren Prozesses. Die erste und jede folgende Menstruation hat den Charakter leiblicher Autorität mit der Folge einer Nötigung, die sich aus der weder willentlich kontrollierbaren noch kalendarisch exakt terminierbaren Ausscheidung ergibt. In einem lange dauernden Prozess hat das Kleinkind gelernt, seine Ausscheidungen der willentlichen Kontrolle zu unterwerfen. Man sagt vom Kind, es sei »trocken«, wenn es der Windeln nicht mehr bedarf, wenn es gelernt hat, sich bewusst zu entleeren und dieses Können in der letzten Lernphase auch über Schlafphasen zu erstrecken. Nach einem Lebensjahrzehnt hat es sich so weit leiblich geschient und automatisiert, dass es keiner großen Aufmerksamkeit mehr bedarf. Harn- und Stuhldrang gelten als normales, natürliches Spüren am eigenen Leibe, und dass alle Menschen diesem leiblichen Schicksal unterworfen sind, erfahren Heranwachsende im Umgang mit jenen Räumen, die für ihre Ausscheidungen geschaffen wurden, jene bei den Völkern so unterschiedlich eingerichteten und materiell ausgestatteten ›stillen Örtchen‹. Man hat einen Raum für das, was es da zu entleeren gibt. Man geht dorthin, um die Ausscheidung zu vollziehen, und der übliche Entleerungsprozess ist mit dem Verlassen des Raumes abgeschlossen. Anders bei der Menstruation, und dies erfährt die Heranwachsende zum ersten Mal in der Menarche. Es mag vor der ersten Menstruation ein – dem Harn- oder Stuhldrang vergleichbares – diffuses Drängen im Leibe geben, vielleicht Stiche, Schmerz, Ziehen im Unterleib oder auch ein ebenso diffuser Zustand der Gesamtverfassung, Phänomene ganzleiblich ergreifender Stimmungen, die von der Forschung noch nicht vollständig abgeklärt sind. Es mag auch sein, dass sich nichts dergleichen ereignet und das Mädchen, ob nun darauf vorbereitet oder nicht, plötzlich mit dem sich ergießenden Blut konfrontiert ist und erfährt bzw. erfahren muss, dass diese Ausscheidung nicht wie die anderen körperlichen Entleerungen dem Willen unterworfen ist, und dass es dafür auch keinen speziellen Raum gibt, in dem sie geschehen könnte – jedenfalls nicht die privaten 1

Shuttle/Redgrove (1980, 49) weisen auf den Fall eines jungen Mädchens hin, das sich bei der Menarche umbrachte, weil es nicht aufgeklärt war und glaubte, es litte an einer Geschlechtskrankheit.

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oder öffentlich zur Verfügung stehenden ›stillen Örtchen‹, die bei dieser Form der Absonderung einige Tage ›besetzt‹ wären. Standardisierte internationale Damen-Toiletten weisen zwar charakteristische, auf die Menstruation geeichte Ausstattungsgegenstände auf, Hygienebeutel und Mülleimer, doch damit ist dem Menstruieren noch kein genuiner Raum für die Dauer der Entleerung zugewiesen. Freilich weiß man von Menstruationshütten, die manche Völker für ihre menstruierenden Frauen eingerichtet haben und die – abseits ihres Ausdrucks für Geschlechtertrennung im Alltag – als spezielle Stätten für weibliche Ausscheidungen betrachtet werden können. In diesen entledigen sich die Frauen, wie berichtet wird, über der Erde hockend ihres Blutes und nehmen erst nach dieser weiblichen Entleerung – wie bei uns für Harn- und Stuhlgang selbstverständlich – wieder am familiären und öffentlichen Leben teil, bleiben also dort für mehrere Tage. Solche Riten und Umgangsformen mit der Monatsblutung sind heute so gut wie ausgestorben. Die in die Menarche kommenden Mädchen erfahren in den meisten Kulturen, dass ihre weibliche Ausscheidung am Körper ab- bzw. aufzufangen ist und dass, vor allem im Zeitalter der technischen Zivilisation, diese Ausscheidung weder einen Rückzug aus dem familiären und öffentlichen Leben zur Folge haben, noch überhaupt als solche in Erscheinung treten, also sicht- oder gar riechbar werden soll. Diese kulturellen Imperative sind von großer Bedeutung für die Erfahrung der Menarche und der Menstruationen im allgemeinen. Mit dem ersten genitalen Bluten wird das Mädchen wieder mit einer Betroffenheit konfrontiert, die während der frühkindlichen Reinlichkeitserziehung eine große Rolle spielte, z. B. mit der Verlegenheit, sich zu beschmutzen, mit Scham darüber und Furcht davor sowie mit Demütigungen, wenn ›es‹ passiert ist, die aber mit dem Trocken-Sein als abgearbeitet galt. In der Menarche drängt sich zum ersten Mal der eigene Leib nicht mehr nur als durch Urin nässender, sondern als blutender Leib auf, und zwar diesmal als nicht nur anfänglich, sondern dauerhaft unverfügbarer. Die im Rahmen der Thelarche bereits thematisierte ›fremde Regierung‹, als welche der Körper in der Pubertät erlebt wird, dehnt mit der Menarche gewissermaßen ihren Machtbereich aus. Die Thelarche und ihr Resultat sind in Präsenz oder Absenz sicht- und tastbar. Die Menarche zwingt jedoch – neben möglichem Erleiden von Schmerzen, Krämpfen etc. – unmittelbar zu konkretem Verhalten, zum geschickten Umgang mit dieser Ausscheidung, und es beginnt eine Phase weiblicher Hygienepraxis mit dem Blut als materiellem Referenten. Zu jeder Tages- und Nachtzeit, bei jeder Gelegenheit, unabhängig von 287 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

jedem willentlichen Tun, ist der weibliche Leib in diese Erfahrung gestellt, die sich aufzwingt und Spuren hinterlässt. Das Menstruationssekret fließt – in unbekleidetem Zustand – die Beine hinab, verströmt oder tropft nach unten, mal stärker, mal schwächer, mal als Blutschwall von warmer Flüssigkeit spürbar, mal unbemerkt sickernd, mal als Nässe an der Haut rund um das Genital erfahrbar, in jedem Fall sichtbar werdend, an den Beinen, in der Wäsche, im Badewasser oder Schwimmbad. Das Phänomen des unwillkürlich auftretenden blutenden Genitals und der damit verbundenen Sichtbarkeit nötigt zum Auffangen und Verbergen. Junge Amerikanerinnen z. B. erleben die Menstruation als »hygienische Krise« (Schlehe, 1987, 38). Ihre größte Sorge ist, dieses Problem nicht angemessen bewältigen zu können, und hier kann die Scham eine Rolle spielen, woraus die Hygieneindustrie einen lukrativen Gewinn zieht, indem sie atmosphärisch damit spielt. 2 Diese Scham ist in unserem Kulturkreis wesentlich Scheu vor einem öffentlichen Entdecken oder auch Zur-Schau-Stellen des Menstruationsblutes, das in geschichtlich gewachsenen Atmosphären mit Beschmutzung, Unreinheit, Schwäche, Sünde, Geruch, Ekel, Minderwertigkeit und Irritation belegt ist.

8.2 Die Menarche als rite de passage Wie sehr Atmosphären die Leiberfahrung der Menarche beeinflussen können, zeigt ein Beispiel aus der Literatur, das die Geschichte einer schwarzen Frau aus dem 19. Jahrhundert erzählt, die in New Orleans einen legendären Ruf als Voodoo-Priesterin hatte3 : »An diesem Abend schoß zum ersten Mal Blut aus Maries Schoß. Die fast schwarzen Gerinnsel waren elastisch, als Marie sie zwischen Zeigefinger und Daumen preßte. Der Geschmack erinnerte sie an Mangos. 2

Die auf Menstruationsartikel bezogene Hygieneindustrie ist ein Wirtschaftszweig mit ungeheurem Umsatz. Neben den für die eigentliche Hygiene vorgesehenen Artikeln (Binden, Tampons etc.) gibt es zahlreiche begleitende Produkte, wie Genitalparfüms und -deodorants, die ›Sicherheit‹ im Umgang mit dem angeblichen Geruch des Menstruationssekrets vermitteln sollen. Typischerweise wird bei der Werbung für Menstruationsartikel das Blut nie erwähnt oder sichtbar gemacht. Selbst bei Vergleichstests zur Saugfähigkeit wird anstelle von roter Flüssigkeit blaue benutzt und diese wird wie Wasser auf die Utensilie geschüttet, was die Realitätsfremdheit dieses nachgestellten Aktes unterstreicht. Diese Art der Werbung spiegelt die Atmosphären, die rund um die Menstruation immer noch kultiviert werden. Vgl. Waschek, 1995. 3 Die Autorin, Jewell Parker Rhodes, ist Professorin für Englische Literatur an der Arizona State University und hat zwei Jahrzehnte lang die Geschichten und Legenden dieser VoodooPriesterin verfolgt. Die Nacherzählung ihres Lebens ist in vielen Aspekten literarische Fiktion.

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Grandmère brachte ihr viereckige Leinentücher. Woher wußte sie es? Sie entkleidete Marie. ›Das ist ein Zeichen. Ein gutes Zeichen‹, sagte Grandmère, während sie Maries Körper mit Öl einrieb. Grandmères Berührungen fühlten sich wie zarte Seide an. ›Jetzt bist du zum Heiraten bereit.‹ Die Feuchtigkeit zwischen ihren Schenkeln ließ Marie an den Mann denken. … ›Manche sagen, die Blutströme sind schmutzig. Eingeweide, die weinen. Manche sagen, das Blut wird die Milch gerinnen lassen. Teufel verstecken sich in dem Blut. Manche sagen, daß ein Mann‹ – sie drückte Marie den Lappen zwischen die Schenkel – ›von einem einzigen Schluck sterben könnte.‹ Marie hatte entsetzliche Angst. Sie konnte spüren, wie das Blut in ihrem Körper nach unten und aus ihrem Körper heraus strömte. Es war ihr natürlich vorgekommen, doch jetzt wollte sie, daß es aufhörte. ›Eine Frau zu sein, ist ein Fluch, Kind.‹ Mühsam öffnete Marie die Augen. ›Blutsbande – nicht das Blut selbst – verursachen den Schmerz.‹ Marie konnte ihre Worte nicht hören. Sie starrte in ihre Augen. Grandmère weinte.« (Parker Rhodes, 1995, 41)

Marie hat nun eine schreckliche Vision mit Schlangen, einem zersplitternden Spiegel, der »wie strahlende, funkelnde Sterne in ihr Menstruationsblut« prasselt und von Jesus, der vom Kreuz fällt, woraufhin sich eine Blutlache zu ihren Füßen bildet (ebd., 41 f.). Dann fährt Grandmère mit der Belehrung fort (»Aber Blut ist auch Leben. Eine Verbindung zu allen Toten.«) und stellt das Blut als die Verbindung zwischen Mann und Frau dar: »Kein Mann würde dich heiraten, ohne zu wissen, daß du Samen für Kinder tragen kannst. … die Sicherheit einer Frau ist das Blut ihres Schoßes. Sie quält sich für ein Kind. Ein Kind, das inmitten von Blut gemacht und geboren wird. Blut für einen rechtmäßigen Ehemann.« (ebd., 43)

Später heißt es dann noch einmal von Marie (ebd., 45): »Ihr Unterleib schmerzte. Es war, als ob es dem Blut aus ihrem Schoß Spaß machte, ihrem Magen Krämpfe zu bereiten und zwischen ihren Beinen herauszuströmen. Wie viele Tage? Wieviel Blut konnte sie verlieren? Sie wollte keinen Ehemann.«

Das Eintreten der Menarche wird zunächst als solches dargestellt: Blut schießt aus Maries Schoß; nicht die Körperöffnung, durch die das Blut tatsächlich den Körper verlässt, wird mit dem Herausschießen assoziiert, sondern der Unterleib, der Schoß als Leibesinsel. Dieser Prozess wird unmittelbar wahrgenommen, als Herausschießen umschrieben; später wird häufiger vom Strömen gesprochen. Neugierde treibt Marie dazu, diese Flüssigkeit zu berühren, ihre Konsistenz festzustellen. Dann geht das unbefangene Interesse an dem Sekret so weit, dass sie es in den Mund nimmt, um zu erfahren, wie es schmeckt. Mit dem Auftritt der Großmutter, die 289

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das Mädchen aufzieht, werden chaotisch-mannigfaltige Atmosphären um dieses Ereignis geschaffen. Die Neugierde weicht einer entsetzlichen Angst, mit der Marie nun das Verströmen ihres Blutes wahrnimmt. Jetzt will sie das, was sie vorher für natürlich gehalten und für gegeben angenommen hat, ›abstellen‹. Marie gerät in einen apathischen Zustand, kann nur mühsam die Augen öffnen, die Worte der Großmutter nicht hören, sie ist in einem Zustand der Ortlosigkeit, des »absoluten Ortes« (Schmitz). Hierin erlebt sie den »reinen« Leib, was die nachfolgende Vision vorbereitet, in der das Mädchen von einer imaginären Welt umfangen wird, die Räumlichkeit und Zeitlichkeit zerfließen lässt. Sie kommt wieder zu sich, als die Großmutter ihre initiierende Belehrung fortsetzt und ihre Hand in einen festen Griff nimmt. Die Vision hat sie in große Angst versetzt, sie kann kaum atmen. In der letzten Ausführung zum Unterleibsschmerz scheint das Blut sich bereits verselbständigt zu haben, d. h. die durch die Großmutter aufgebauten Atmosphären haben sich schon verinnerlicht. Das Blut führt ein Eigenleben in ihrem Leib, gehört vielleicht gar nicht mehr zu ihr selbst, wenn es Marie so vorkommt, als ob es ihm Spaß mache, Krämpfe zu bereiten. Sie ist nicht mehr ›Herr‹ ihres Leibes, sondern wird von einem Numinosen heimgesucht, was auch in den letzten Fragen deutlich wird: »Wie viele Tage? Wieviel Blut konnte sie verlieren?« Hinsichtlich der Aufklärung und Vorbereitung auf die Menarche ist an dieser Schilderung bemerkenswert, aber für die dargestellte Zeit keineswegs untypisch, dass die junge Frau nicht in unserem Sinne medizinisch aufgeklärt wird. Die Bezugsperson Grandmère weiß auch um die Menarche ihrer Enkelin, ohne dass es ihr mitgeteilt wird. Einem ähnlichen Phänomen begegnen wir gelegentlich bei dem ›Ausscheidungswissen‹, das Mütter sogenannter ›Naturvölker‹ hinsichtlich der Urin- und Stuhlabfuhr ihrer Säuglinge haben: Sie wissen, wann ihre am Leib getragenen windellosen Kinder ›austreten‹ müssen und »halten sie ab«, wie es der Volksmund sagt, d. h. sorgen für eine ›saubere‹, abgeschiedene Abfuhr. Hier weiß Grandmère darum, dass ihr Zögling die erste Blutung hat und nimmt neben der verbal-emotionalen Begleitung mit Waschungen und Ölungen Handlungen am Leib der Menstruierenden vor, schafft einen Körperkontakt mit der genitalen Region, an der sich das Geschehen abspielt. In der kultisch-rituellen Inszenierung der Menarche erlebt die Protagonistin eine Initiation mit prägendem Charakter, hinsichtlich des eigenen Leibes, des Geschlechtslebens und der Geschlechterverhältnisse. Grandmère gibt die Erfahrungen eines Umfeldes wieder, in dem die Menstruation zwar als

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Fluch, aber auch als ›Schatz‹ der Frau angesehen wird. Sie ist selbst stark ergriffen von der Menarche ihrer Enkelin. Diese literarische Aufarbeitung verfährt anschaulich mit einer enormen Gefühlsintensität, in der die Menarche aufgenommen und verarbeitet wird. In vielen Kulturen finden sich Stammesrituale für die Menarche, die der Einführung und Belehrung im Hinblick auf die von der betreffenden Volksgruppe verfolgte Geschlechtsrollenverteilung dienen, wobei meist der Wert der Menarche für die Fruchtbarkeit der Frau im Vordergrund steht. Bekannt sind aber auch die Psychodramen der Schamanen, die eine Frau zum Zeitpunkt der Menarche zur Schamanin machen können, wenn sich Visionen oder Außergewöhnliches ereignen. Man könnte nun meinen, dass die Menarche in medizinisch aufgeklärten Kulturen, die eine rituelle Begleitung für allenfalls amüsant oder kurios halten, weniger Bedeutung hat bzw. unwichtig für das heranwachsende Mädchen ist. Dies scheint sich aber keineswegs zu bestätigen. Verschiedene Untersuchungen aus unserem Kulturkreis kommen zu dem Ergebnis, »daß die Menarche ein intensiv erlebtes, hoch signifikantes und potentiell traumatisches Erlebnis« ist (Mahr, 1985, 76), und »daß die modernen Mädchen aus der ›Ritualisierung der Menarche‹ großen Nutzen ziehen würden« (Shuttle/ Redgrove 1980, 79). Mit Rekurs auf die ›Ritualisierung der Menarche‹ darf aber nicht vergessen werden, dass es auch in unserer Kultur Initiationserlebnisse bei der Menarche gegeben hat bzw. gibt und man von ungeschriebenen, aber dennoch gesellschaftlich institutionalisierten Ritualen für bestimmte Zeiträume sprechen kann. Gemeint sind freilich keine Stammesfeste, sondern gewachsene Umgangsformen mit der Menarche, indem man beispielsweise früher die Mädchen in keiner Weise über das bevorstehende Ereignis aufklärte und sie damit in eine äußerst schwierige Lage brachte, die von Angst, Schrecken und Scham gezeichnet war. In solchen affektiv aufgeladenen Situationen suchten die Mädchen Hilfe und Information und mussten sich häufig mit Hinweisen zum praktischen Umgang, unzureichenden Erklärungen und diffusen Warnungen vor dem Kontakt zu einem Mann abfinden. Die Tabuisierung oder gar Verteufelung des Themas hat ebenfalls einen initiierenden Charakter und beeinflusst die Menarcheerfahrung mit Blick auf Prozesse des gendering massiv. Doch werden auch in Märchen Sinnbilder für leibliche Ereignisse, so auch für die Menarche, tradiert und liefern Deutungsmuster, im westlichen Kulturkreis beispielsweise in einem gar nicht so negativen Sinne durch die Mär vom Dornröschen. Obwohl der Vater nach Kenntnis des Fluchs alle Spindeln (das engl. Wort »distaff« hat, wie Bettelheim bemerkt, 291 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

mit der Zeit den gesamten Bereich des Weiblichen repräsentiert) aus dem Umkreis der Prinzessin entfernt, lässt sich die Blutung (die Menarche) nicht verhindern. Dornröschen verfällt in einen tiefen Schlaf und Bettelheim (1977, 214) schreibt dazu: »Dornröschen betont, daß auch die lange, ruhige Konzentration auf das eigene Ich notwendig ist. Während der Monate vor der ersten Menstruation und oft noch einige Zeit unmittelbar anschließend sind die jungen Mädchen passiv, machen einen verschlafenen Eindruck und ziehen sich in sich selbst zurück … Überwältigt von ihrem Erleben der plötzlichen Blutung sinkt die Prinzessin in einen langen Schlaf, in dem sie vor … vorzeitigen sexuellen Begegnungen sicher ist, geschützt von einer undurchdringlichen Dornenhecke.«

Das Märchen vom Dornröschen ist von hoher symbolischer Bedeutung, etwa hinsichtlich der dreizehnten ›bösen‹ Fee, die den weiblichen Zyklus von dreizehn Menstrualperioden gegenüber den zwölf Monaten des väterlichen Sonnenjahrs repräsentiert. »Dies zu vergessen«, so Shuttle und Redgrove (1980, 134), »d. h. die dreizehnte Fee zu vergessen, bringt den Fluch mit sich.« Bettelheim (1977, 214) sieht in diesem Märchen den biblischen Fluch der Menstruation relativiert: »Die Geschichte von Dornröschen prägt jedem Kind ein, daß ein traumatisches Ereignis – wie die erste Blutung … zu Beginn der Pubertät und später beim Geschlechtsverkehr – tatsächlich die glücklichsten Folgen hat. Die Geschichte schärft ihm ein, daß man aber keine Angst davor zu haben braucht. Der ›Fluch‹ ist ein versteckter Segen.«

Angesichts der Bedeutung des Menarcheerlebnisses ist es erstaunlich, im historischen Rückblick zu erfahren, dass Mütter oder andere weibliche Bezugspersonen, die die Menarche am eigenen Leibe erfahren haben, die Mädchen selbst im 20. Jahrhundert nicht oder ungenügend auf das Geschehen vorbereitet und damit die Tradition des biblischen »Fluches« und Tabus weitergeführt haben. 4 Viele Frauen früherer Generationen waren bei der Menarche dem Erschrecken und der Angst uninformiert ausgeliefert und dadurch im jungen Alter bereits geprägt. Sie können selbst in hohem Alter noch berichten, was sie in der Menarche durchlitten haben, müssen aber, auf die eigenen Töchter angesprochen, zugeben, diese nicht vor dem gleichen Schicksal bewahrt zu haben. Sie sind in gewisser Weise der eigenen wie auch der Menarche der Töchter gegenüber ohnmächtig geblieben. Während das Erschrecken eine typische Reaktion bei fast allen unauf4

Vgl. hierzu die Untersuchungen zum Erleben der Menarche bei Mahr, 1985, 72–77.

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geklärten Mädchen ist, sehr oft in Verbindung mit der Angst, krank zu sein, beschreibt Farideh Akashe-Böhme (2000, 72) eine ganz andere Problemsituation diskursiv hervorgebrachter Einstellungen zum Phänomen des blutenden Leibes: »Am nächsten Tag wachte ich auf, die weiße Shorts war rot und fühlte sich warm an. Ich erschrak und weinte, weil ich nicht wußte, was mir geschehen war. Mein erster Gedanke war: jetzt habe ich meine Jungfräulichkeit verloren; bin ich nicht beim Volleyball ein paar Mal hingefallen? Diese Überlegung steigerte meine Angst. Hatte ich doch immer wieder gehört, man hätte die Leiche eines Mädchens gefunden, das keine Jungfrau mehr gewesen sei. Oder irgendwelche Brüder und Väter hätten ihre Schwester oder Tochter umgebracht, weil sie keine Jungfrauen mehr waren. Ich sah mich schon als Tote, stellte mir meinen Vater vor, wie er mich tötete, um die Ehre der, wie er es nannte, tausendjährigen Familie zu retten.«

Hier gibt es offensichtlich bei den Heranwachsenden ein Wissen um die Möglichkeit, am Genital zu bluten, aber dies wird ausschließlich mit der Defloration in Verbindung gebracht und nicht mit dem Menstruationsvorgang, der in der Menarche den Charakter eines ›ersten Males‹ hat. Akashe-Böhme (ebd., 73) kommentiert dieses Ereignis: »… um mit der Menstruation leben zu können und sie nicht bloß zu erleiden, ist ein gewisses Wissen notwendig. Noch erstaunlicher als die Tatsache, daß ich nicht von älteren Frauen darauf vorbereitet wurde, ist, daß wir darüber auch unter uns Mädchen jener Generation nicht sprachen.«

Akashe-Böhme spricht vom pathischen Aspekt der Menarche und der wiederkehrenden Menstruationen. Das Wissen um diese Vorgänge des weiblichen Leibes ist, wie sie betont, für die Integration dieses Unverfügbaren in das eigene Leben von großer Bedeutung. Unaufgeklärtheit beschränkt die Chance, sich mit dem Leib in der Weise auseinander zu setzen, dass es gelingt, die Menstruation in die Persönlichkeit so zu integrieren, dass sie diese bereichert und in ihrem Ausdruck nicht einschränkt. Hierzu gehört auch das Wissen um die hygienische Praktikabilität und in einem weiteren Sinne um die Fruchtbarkeit. In den Wachstums- und Veränderungsprozessen am weiblichen Leib gilt das Menarchesekret neben den bereits ›herangereiften‹ Brüsten als weiterer sichtbarer Beweis der Geschlechtsreife. Die damit verbundenen Regungen stehen in der Spannbreite von Stolz und Erleichterung einerseits, in einem Zugewinn von Macht (»Ich kann jetzt Kinder kriegen«/»Ich bin jetzt eine richtige Frau«) sowie Angst und Sorge andererseits, im Erleben einer Ohnmacht (»Ich bin jetzt dem Kinderkriegen ausgeliefert«). Analog dazu wird die alternde Frau vor die Unmöglichkeit der Fortpflanzung ge293

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stellt und kann komplementären Regungen ausgesetzt sein. Helene Deutsch war eine der ersten Psychologinnen, die Analogien der gefühlsbedingten Dispositionen bei Menarche und Klimakterium erkannte.5 Die Menarche ist eine Leiberfahrung des Übergangs, einer punktuellen Grenzüberschreitung, die für das Mädchen eine besondere Bedeutung hat, weshalb aufgeklärte Mädchen mit einer gewissen Erwartungshaltung auf das Ereignis zusteuern. So liest etwa Anne Frank (1999, 62) in einem Buch von einem Mädchen, das seine Periode bekommen hat, und schreibt daraufhin: »Danach sehne ich mich so sehr, dann bin ich wenigstens erwachsen.« Einige Zeit später kündigt sich die Menarche bereits mit sichtbaren Zeichen an, vermutlich Vorblutungen; dem Tagebuch vertraut sie (ebd., 70) die »wichtige Neuigkeit« an, »daß ich wahrscheinlich bald meine Periode bekomme.«: »Das merke ich an dem klebrigen Zeug in meiner Hose, und Mutter hat es mir vorausgesagt. Ich kann es kaum erwarten. Es scheint mir so wichtig! Nur schade, daß ich nun keine Damenbinden tragen kann, die bekommt man nicht mehr. Und die Stäbchen von Mama können nur Frauen tragen, die schon mal ein Kind gehabt haben.« (ebd., 70 f.)

Das Wissen provoziert eine Erwartungshaltung; Anne möchte »erwachsen« werden, sehnt das Ereignis herbei, das diesen Übergang markiert. Dass man sich in eine solche Erwartungshaltung geradezu hineinsteigern kann, beschreibt Erica Jong (1990, 442): »Meine erste Regel konnte ich kaum erwarten; ich sehnte mich nach ihr, ja betete um sie. Immer wieder schlug ich im Lexikon die Stichworte wie ›Periode‹ und ›Menstruation‹ nach und vertiefte mich in die entsprechenden Erläuterungen. Immer wieder sprach ich das folgende kleine Gebet: Laß mich bitte heute unwohl werden. Oder ich sagte (wenn ich fürchtete, daß jemand mich hören könnte): L.m.b.h.u.w., l.m.b.h.u.w., l.m.b.h.u.w. Dieses pflegte ich, auf der Toilette sitzend, vor mich hin zu summen, während ich immer wieder an mir herumwischte, in der Hoffnung, zumindest einen winzigen Blutfleck zu entdecken.«

Während andere Mädchen ihrer Klasse bereits ihre Menstruationen hatten, ließ die Menarche bei ihr auf sich warten, ein Ausdruck der ›Natürlichkeit‹ und Unverfügbarkeit dieses Prozesses, was für spätentwickelte Mädchen oder für solche, die sich dafür halten, durchaus zum Problem werden kann. Im Vergleich heißt es mit Neid: »Was für große Busen und BHs der Größe C und krauses Gespinst zwischen den Beinen! Welch erregende Diskussionen über ›Kotex‹ und ›Camelia‹ und ›Tampax‹ 5

Vgl. Deutsch, 1995, Bd. 1, 133–166 u. Bd. 2, 310–339.

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(letzteres betraf allerdings nur die Allerkühnsten unter uns). Mit dreizehn hatte ich lediglich einen ›Trainings-BH‹ (Training wofür?), den ich nicht ausfüllte, und einige wenige krause rotbraune Schamhaare …« (ebd.)

Bezeichnenderweise spricht Jong von den »erregenden Diskussionen« der Klassenkameradinnen, von einem Gefühl der Zusammengehörigkeit dieser menstruierenden Mädchen und einer damit verbundenen geschlechtsspezifischen Gesprächskultur. Sie selbst fühlt sich ausgeschlossen, doch ein halbes Jahr später tritt auf einer Schiffsreise, bei der sie sich mit drei Schwestern eine Kabine teilt, die Menarche ein: »… zweieinhalb Tage nach der Abreise von Le Havre wurde ich plötzlich zur Frau. Was nun? Lalah und Chloe … sollen nichts davon mitkriegen – da meine Mutter findet, sie seien noch zu jung –, und so begeben Randy und ich uns wiederholt wie zwei Verschwörer in den Drugstore und schleichen dann in der Kabine umher, auf der Suche nach einem geeigneten Versteck für unseren Einkauf. Ich bin natürlich so entzückt von meinem neuen Spielzeug, so euphorisiert von meinem neuerworbenen ehrenvollen Status – der Zugehörigkeit zu der Welt der Erwachsenen –, daß ich meine Binde mindestens zwölfmal am Tag wechsle und die Dinger fast schneller aufbrauche, als wir sie beschaffen können.« (ebd., 443)

Obwohl Jong vorbereitet war und sogar um die Menarche gebetet hatte, rührt sie das Ereignis sehr auf, als es »endlich« und seiner Natur nach plötzlich eintritt. Die anfängliche Ratlosigkeit ist wohl auf die Umstände der Schiffsreise zurück zu führen. Dennoch ist die Protagonistin »euphorisiert« von dem »ehrenvollen« Status, der ihr mit der Menarche zu Teil geworden ist, der ihr vom Leibe ›beschert‹ wurde. Mitwisserschaft und Verschwörertum unter den »wissenden« Frauen gehört ebenso dazu wie Geheimniskrämerei gegenüber »unreiferen« Personen wie den kleineren Schwestern. Die Hygieneartikel werden angeeignet, aber auch als Spielzeug bezeichnet, was den merkwürdigen Übergangszustand vom Kindzum Frau-Sein anzeigt. Mit diesem neuen Spielzeug wird denn auch reichlich übertrieben umgegangen: Der Erwerb wird eingeübt und der Bindenwechsel immer wieder ausprobiert, im leiblichen Umgang geschient. Dieses Initiationserlebnis der Menarche wird nun im negativen Sinne ›gekrönt‹ – vielleicht sogar traumatisch besetzt – von einer etwas kuriosen Situation, als der Schiffssteward das mit Binden verstopfte und überlaufende Klosett entdeckt: »Bis jetzt hatte mich die Tatsache, daß ich menstruierte, nicht weiter bedrückt, im Gegenteil. Erst als der Steward … mich wütend anbrüllte, wurde ich zu einer potentiellen Radikalen.

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›Was sie aben gesteckt in der Commode?‹ schrie er … Und dann mußte ich ihm zusehen, wie er die sich bereits auflösenden Binden Klumpen für Klumpen herauszog. Wußte er wirklich nicht, worum es sich handelte? Oder wollte er mich demütigen? War es wirklich nur ein Sprachproblem? … Oder benutzte er meine Menarche dazu, seine eigene Frustration abzureagieren? Ich stand mit rotem Gesicht da und murmelte immer wieder ›Drugstore, Drugstore‹ …« (ebd., 443 f.)

Es ist, als erwachte die Protagonistin aus einem süßen Traum und stünde plötzlich vor einer unangenehmen, unliebsamen Realität: Das lang ersehnte Menstruieren wird zum Alptraum, als es von einem Fremden entdeckt wird, als sie wegen »ihrer Spielzeuge«, die Schaden angerichtet haben, angeschrien wird. Ob sie will oder nicht, sie muss der Beseitigung des Schadens zusehen, der aus ihrem unangemessenen Umgang mit den Dingen der ›Frauenwelt‹ resultierte, muss sich demütigen lassen, muss gewahr werden, dass die Geheimniskrämerei vor den kleinen Schwestern sinnlos geworden war. Die Schwestern kichern, weil sie, wenn auch nicht im Einzelnen, wussten, »daß da etwas ›Unanständiges‹ vor sich ging«, »daß da etwas nicht stimmte, warum würde ich wohl sonst zehnmal am Tag auf die Toilette rennen, und warum würde dieser gräßliche Mann sonst so mit mir herumschreien?« (ebd., 444) Im Rückblick sieht sich die Romanheldin noch »als mollige Dreizehnjährige mit meiner Tüte voll blutiger Binden unter dem Arm auf dem schwankenden, schlingernden Deck der ›Ile der France‹, die mich – ein blutendes Kind – nach Manhattan zurücktrug« (ebd., 444 f.). Diese groteske Situation ist Ausdruck einer hygienischen Misere, in der Damen-Toiletten oder überhaupt menschliche Ausscheidungsstätten das weibliche Bluten nicht oder nicht in gebührendem Maße berücksichtigen, was allerlei unter Frauen wohlbekannte ›Peinlichkeiten‹ hervorrufen kann. 6 Das rationale Nachbuchstabieren kann die Tatsache nicht kaschieren, dass dieses Menarcheerlebnis durch unzureichendes Vor-Wissen und Ersehnen zu einer Krise geriet, die in erheblichem Maße diskursiv gesteuert war.

6

Nicht nur in Einrichtungen des öffentlichen Lebens ist gelegentlich zu beobachten, dass die Damen-Toiletten zwar über abschließbare Kabinen verfügen, ein Mülleimer aber im Toilettenbereich fehlt, auch in Privathaushalten von Junggesellen, Homosexuellen und Frauen nach der Menopause wird der weiblichen Ausscheidung im Badezimmer nur selten Rechnung getragen.

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Menarche

8.3 Der hygienische Imperativ Das Bekannt-Werden der Menarche mag bei einem bestimmten Personenkreis, vielleicht in der Familie, aber vornehmlich in Cliquen von Gleichaltrigen, nicht weiter problematisch sein, sondern kann im Gegenteil in der Peergroup zu »erregenden« geschlechtsspezifischen Gesprächskulturen führen. Der Kreis der ›Eingeweihten‹ ist aber meist rigide eingegrenzt, wie Jongs Beispiel bezüglich der Geschwisterrangfolge zeigt, und auch das »Weitererzählen« erfolgt nach strengen Gesetzen, deren Verletzung geahndet wird. Für die weitere familiäre, schulische oder anonyme Öffentlichkeit herrschen in Bezug auf den Eintritt der Menarche und das SichtbarWerden des Menarche- und Menstruationsblutes strenge, durch Scham instituierte Regeln. Das weibliche Blut ist in unserer Kultur durch eine lange Tradition von Projektionen auf den ›sein Schicksal erleidenden‹ weiblichen Leib als problematisch konstruiert und von chaotisch-mannigfaltigen Atmosphären umgeben. Das ungeschriebene, aber beispielsweise durch die Werbung heute völlig emotionalisierte Gesetz lautet: Du sollst Dein Menstruationsblut verbergen! Es darf auf gar keinen Fall sichtbar werden, schon gar nicht auf der Wäsche und am liebsten nicht einmal durch die Existenz und Anwesenheit von Hygieneartikeln und deren Entsorgungseinrichtungen. Diese Forderung ist keine Kleinigkeit, denn wir haben es bei der Menarche mit einer Erfahrung zu tun, die für die Heranwachsende völlig neu ist. Sie weiß weder, wie viel Blut fließen wird, noch wie lange das bei ihr persönlich andauern wird (wobei Wissensvorgaben eine Eingrenzung ermöglichen), sie weiß nicht, wie sie, wenn die Blutung eintritt, mit den ihr dann, wenn sie es merkt, zur Verfügung stehenden Hygieneartikeln umzugehen hat, muss erst erfahren, wie das Blut z. B. von Binden eingesaugt wird, wie lange es dauert, bis sie zu wechseln sind und wie es sich überhaupt beim Sitzen, Stehen, Laufen, Schlafen und Sport-Treiben anfühlt, eine Binde in der Unterhose zu haben. Die Heranwachsende, die zur Benutzung von Tampons angeleitet wird, was im übrigen weder ratsam ist noch allzu häufig praktiziert wird, steht vor der Aufgabe, sich ›etwas‹ in ihre Scheide zu führen, diese meist zuvor unberührte Region des Körpers zu erforschen, etwas hineinzustecken, in Nordamerika vorzugsweise mit Applikatoren, um nicht in Berührung mit dem Blut und dem Leibesinneren zu kommen. Diese Heranwachsende muss mit einem ganz anderen Regungsspektrum – womöglich mit Schmerz in der Hygienepraxis, z. B. beim Einführen des Tampons – umgehen lernen, als das Mädchen, das ›in Binden geht‹ und bei Toilettengängen sichtbar vor Augen hat, wie es um die Blutung, ihr 297 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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Fortschreiten und Einnässen bestellt ist. Die Verwenderin des Tampons muss das, was sie in ihren Körper hineinsteckte und als heraushängenden Faden vielleicht in ihrer Unterhose ›spürte‹ oder zumindest deutlich spüren wollte, weil ihr das die Sicherheit gab, dass dieses ›Etwas‹ nicht in ihrem Inneren verschwunden ist (eine typische Angst bei Ersterfahrungen mit Tampons), wieder entfernen. Sie muss dieses ›Etwas‹, das im Leibe steckend seine Form und Größe verändert, wieder herausziehen. Dies alles bedarf – bei Binden- und Tamponverwenderinnen freilich in unterschiedlicher Weise – einer neu einzuübenden Körperpraxis, die anfänglich sehr viel Aufmerksamkeit auf den Körper und das leibliche Spüren erfordert. Die Toilette und das Badezimmer sind in dieser Zeit wichtige Orte des Rückzugs aus der Öffentlichkeit und der Aneignung von Erfahrung mit dem neuen Geschehen. Die Jugendliche ist in der Menarche einem veränderten Waschverhalten ausgesetzt. Sie weiß, dass sie blutet und wenn sie sich wäscht, berührt sie dieses Blut und das blutende Genital. Es kann Spuren auf Trockentüchern hinterlassen und gerade die Waschvorgänge stellen die Heranwachsende vor Situationen, in denen sie ihren Körper anders erlebt, ihrem Körper anders Rechnung tragen muss, als das bisher der Fall war. Dabei handelt es sich um umfassende Praxen der Körperpflege, die der Selbsterfahrung, Einübung und natürlich auch der Zeit bedürfen. Das ist, wie erwähnt, keine Kleinigkeit, sondern bedeutet massive Betroffenheit von der Unverfügbarkeit des weiblichen Leibes in einer Reinlichkeitskultur, in der das Menstruationsblut nicht sichtbar werden darf. Noch dazu weiß das Mädchen in der Menarche nicht im voraus einzuschätzen, wie sich das Versiegen der ersten Blutung gibt, ob es noch langsam nachblutet oder einfach aufhört, d. h. wie diese Situation am Ende der Blutung zu bewältigen ist, wann es wieder ›frei‹ von Blut ist. Es handelt sich schon in hygienischer Hinsicht um einen komplexen Bereich der Körperpflege, die, obwohl in Medien, Lehrbüchern und Gebrauchsleitfäden – wenn überhaupt – normiert dargestellt, durch persönliche Erfahrung eingeübt werden muss. Der weibliche Körper benötigt wohl in jeder Kultur eine spezifische Hygienepraxis, die z. B. bei uns mit den nach Geschlechtern getrennten öffentlichen Toiletten beginnt, sich über unterschiedliche Bauformen des Urinals fortsetzt, bis hin zu den Hygienebeuteln, in denen die Entsorgung von Binden oder Tampons in einen bereitgestellten Mülleimer erfolgen soll. Auch mit den von der familiären oder öffentlichen Gemeinschaft vorbereiteten – oder auch nicht vorbereiteten – Entsorgungsmethoden hat sich die Frau in der Menarche auseinander zu setzen. Dass ein mangelhaftes Wissen über den Umgang mit weiblichen Hygieneartikeln zu drastischen Folgen führen kann, hat das Beispiel 298 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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von Jong gezeigt, die in ihrer Hygienewut und in ihrer Lust an dem »Spielzeug« Binde die sensible Schiffstoilette verstopfte, und das ist beileibe kein Einzelfall, insbesondere bei anspruchsloseren Toiletteneinrichtungen. Selbst Tampons, die wegen ihrer Größe und einfacheren Handhabbarkeit meist in der Toilette entsorgt werden, was im übrigen als einer der großen Vorzüge dieser Hygienepraxis gilt, können ähnliche Probleme hervorrufen. Das in die Menarche gekommene Mädchen, meist in einem Alter zwischen 11 und 13 Jahren, manchmal noch jünger (neun bis zehn Jahre) 7 , also eigentlich noch Kind oder junge Jugendliche, steht unter dem Diktum der vorgegebenen Reinlichkeitskultur und hat sich einzuüben, zu verheimlichen, zu beobachten, zu erwerben und zu entsorgen, nämlich die Hygieneartikel, hat sich um diesen ganzen Komplex mit einem Mal in ihrem Alltag zu kümmern. Ein vorheriges Ausprobieren kann diese Erfahrung nicht vorwegnehmen, sie muss gemacht, bewältigt werden, zu einer individuellen Zeit, an einem individuellen Ort. Diesen großen Anforderungen ist das Mädchen in der Menarche anheim gestellt, und zwar meist alleine, durch Vorwissen und Aufklärung zwar geprägt, aber in der real eintretenden Situation auf sich selbst gestellt, wenn nicht die Hilfe einer anderen Frau angerufen wird, was allerdings manchem Mädchen schon ›peinlich‹ genug ist. Es gibt für Mädchen in der Menarche in unserer Kultur keine Schonfrist, keine allgemeine Ritualisierung, die ihnen diese Leibes- und Lebensbewältigung erleichtern könnte, und auch keine Anerkennung mit Ausnahme der indirekten, die darin besteht, dass sie es schaffen, es niemanden bemerken zu lassen, also das hygienische Problem zu meistern. Das gelingt freilich nicht durch eine einzige Menstruation. Viele Menstruationen sind nötig, um an der Selbsterfahrung des Menstruierens und ihrer Körperpraxis zu reifen, um sich in hygienischer Hinsicht einigermaßen ›sicher‹ zu fühlen. Dennoch ist diese ›Sicherheit‹ nie absolut, weil sich das hygienische Problem nicht ›absolut‹ lösen lässt, wenn man nicht zu den drastischen Methoden der Abschaffung der Menstruation greifen will. Das Blut ist nun einmal jene Flüssigkeit, die ungehemmt den Körper verlässt und die auch bei peinlicher Hygiene doch gelegentlich ihre typischen Spuren hinterlässt: Tropfen auf dem Boden, in der Wäsche, vor allem der Bettwäsche, auf Handtüchern etc. Die Hygienepraxis betrifft nicht nur den Leib, sondern auch die mit ihm in Berührung kommenden Gegenstände, und so lernt das Mädchen, vielleicht nicht sogleich, weil 7

In den westlichen Industrieländern setzt die Menarche wahrscheinlich aufgrund von Umwelteinflüssen immer früher ein, so dass Mädchen heute zuweilen schon in der Grundschulzeit davon betroffen sind.

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zunächst meist die Mutter diejenige ist, die sich darum kümmert, aber doch nach einiger Zeit, wie mit den Blutspuren umzugehen ist. Unsere Gesellschaft lobt das kleine Kind, wenn es seine Ausscheidungen zu beherrschen gelernt hat. Wird das menstruierende Mädchen jemals dafür gelobt, dass es die hygienische Seite der Menstruation auf ihre Weise meistert? Wird es nicht vielmehr durch aufrechterhaltene diskursive Besetzungen und geschlechtsspezifische Vorgaben immer weiter in die ›hygienische Krise‹ getrieben? Wird es nicht u. a. durch die Werbung angehalten, eine – nie zu erreichende – ›absolute‹ Reinheit durch Produktkonsum zu erstreben und zu erkaufen? Wird überhaupt anerkannt, welche Lebensbewältigung darin besteht, die Menstruation so geschickt zu verbergen, dass niemand etwas von ihr erfährt? – Und dabei sind wir noch nicht bei dem Spektrum leiblicher Sensationen am Unterleib, eventuell Schmerzen und Krämpfe, die das Mädchen ebenfalls zu meistern hat. Oder stehen diese Schmerzen, diese Krämpfe in Zusammenhang mit dem ›Lebensproblem‹, das unsere Kultur aus der Menstruation macht? Diese Fragen werden später noch erörtert. Von Ritualen des Verheimlichens, selbst im eigenen Familienkreis, berichtet Greer (1971, 62). Sie beschreibt vorgreifende Maßnahmen, um beim Eintreten der Menarche ›gerüstet‹ zu sein, um unter keinen Umständen in die ›hygienische Falle‹ zu geraten: »Die erste Menstruation ist bedeutender als jeder Geburtstag, aber in den meisten Familien wird sie ignoriert und darf auf keinen Fall öffentlich bekannt werden. Sechs Monate lang schleppte ich, als ich auf meine erste Menstruation wartete, eine Papiertüte mit Binden und Sicherheitsnadeln in meinem Schulranzen mit. Als sie schließlich kam, litt ich Todesqualen, irgend jemand könnte sie erraten oder gar riechen. Meine Binden waren aus hartem Stoff, und ich kroch immer in die Waschküche und bückte mich über einen Eimer mit Drecklappen, in der Hoffnung, daß mein Bruder mich bei meinen ekelerregenden Plackereien nicht erwischte. Es überrascht nicht, daß wohlerzogene und empfindliche kleine Mädchen Schwierigkeiten haben, sich mit der Menstruation abzufinden, wenn unsere Gesellschaft nicht mehr tut, als ihnen die Geschichte zu erklären und sie dann ihrem Schicksal zu überlassen.«

Auch hier fällt auf, dass es nicht die Menarche selbst ist, also das leibliche Geschehen, das Greer »Todesqualen« bereitet, sondern die hygienischen Begleitumstände, die sie in überaus erniedrigende Situationen zwingen. Nicht das Menstruieren wird als »ekelerregende Plackerei« beschrieben, sondern die Schwierigkeit der Geheimhaltung seiner sichtbaren Referenten. Dabei spricht Greer mit keiner Silbe vom Blut, von jener körpereigenen Flüssigkeit, um die es bei dieser »Plackerei« geht. 300

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Greer (1971, 62) hält ihren eigenen Erlebnissen die Initiationsriten der Eingeborenen am Pennefather-Fluß in Queensland entgegen, wo das zum ersten Mal menstruierende Mädchen bis zur Taille in warmen Sand eingegraben wird, »damit die ersten Kontraktionen schmerzloser verliefen«. Die Mutter fütterte und pflegte die Tochter »an einem heiligen Ort, um sie dann im Triumphzug zum Lager zu geleiten, wo ihr Eintritt in die Gesellschaft der heiratsfähigen Jungfrauen gefeiert wurde – in diesem Fall ist anzunehmen, dass die Menstruation viel weniger traumatisch ablief«. Greer hebt dreierlei hervor: den rituellen Umgang mit dem Ziel der Entspannung und Schmerzlinderung, die pflegenden und einfühlsamen Umgangsformen zwischen Mutter und Tochter (Frauen-Rituale) und die öffentliche Einführung des zur Frau gewordenen Mädchens in die Gemeinschaft mit Zuweisung zu einer anderen Statusgruppe (heiratsfähige Jungfrauen), ein Vorgang, der triumphal gefeiert wird. Von einem solchen das leibliche Geschehen in die Gemeinschaft einbettenden Verhalten kann in unserer Kultur keine Rede sein. »Statt diese Zäsur als besonderes Ereignis zu feiern«, schreibt Bettina Schmidt (2000, 37), »sind die Aktivitäten darauf gerichtet, potentielle Hygieneprobleme zu lösen«. Die Menarche wird auf ein mehr oder weniger ausgeprägtes ›hygienisches Problem‹ reduziert, das die Mädchen in ihrem Betroffensein vereinsamen lässt. Den häufig erlebten Schmerzen werden Medikamente entgegengesetzt, deren Erhalt von einer Anfrage im Familienkreis mit Bekanntwerden des Umstands oder gar von einem Besuch beim Arzt, einer fremden, meist männlichen Person, abhängig ist. Hierin können rituelle Formen gesehen werden, denn es gibt ein einheitliches gesellschaftliches Verhaltensmuster gegenüber Mädchen, die in die Menarche kommen, aber eben kein wie auch immer geartetes rituelles Pflegewesen oder eine öffentliche Feier. Die Menarche ist individualisiert und in eine individuelle soziale Umgebung gestellt, wenngleich die ungeschriebenen Regeln des Anstands sehr präzise definieren, was vom weiblichen Leibgeschehen öffentlich werden darf und was nicht. Nancy Friday (1979, 114) berichtet von ihrer Menarche als 11jährige, von Unterleibsschmerzen, die ihr eine Quelle des Unbehagens waren. Sie befürchtete eine Krankheit, Blinddarmentzündung, ist aber beim Sichtbarwerden der Schmerzensursache wieder beruhigt: »Als ich die kleinen braunen Flecken in meinem Höschen entdeckte, stieß ich einen Seufzer der Erleichterung aus. Das war es also. … Meine Freundinnen und ich wußten alles über die blau-weißen Schachteln mit Binden in den Badezimmern unserer Mütter. Wir wußten, daß das unsere Zukunft war. … Viele Male hatte ich eine Binde in mein Höschen gestopft und war damit herumspaziert in freundlicher

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Erwartung dessen, was eines Tages eintreten würde. Wir waren Mädchen, die alles und nichts wußten.«

Obschon diese Mädchen mental darauf vorbereitet waren und ihre Witze machen konnten, wussten sie nicht eigentlich – wussten nichts von dem, was bei der Menarche gespürt wird, wie es sich anfühlt, wenn der Leib sich mit einem Mal als unverfügbar blutender aufdrängt, wenn er konkret von einem kontinuierlichen oder auch stockenden Sekretfluss betroffen ist und vielleicht zusätzlich durch das Unbehagen eines Unterleibsschmerzes, eines Rumorens, eines Krampfens etc. irritiert wird. Obwohl diese Mädchen »alles« wussten, bedurfte es gerade bei den charakteristischen Handgriffen der Hygienepraxis doch der unmittelbaren praktischen Unterweisung, weshalb Friday (ebd., 115 f.) weiter schreibt: »Der Beginn der Menstruation bedeutete für mich zweierlei: Erleichterung darüber, daß es keine Blinddarmentzündung war, und tiefe Verlegenheit darüber, daß ich mich von meiner Mutter einweisen lassen mußte. Ich erzählte ihr nichts von den Bauchschmerzen … Als sie mich am nächsten Tag zu einer Freundin fuhr, fragte sie mich mit veränderter Stimme: ›Na, wie fühlt man sich, wenn man eine Frau ist?‹ Ich haßte die Freundlichkeit, die in diesen gezwungenen Worten lag. Ich lehnte mich weit aus dem Wagenfenster … und murmelte etwas, das im Wind unterging. … Die Menstruation störte mich nicht weiter. Ich hatte sie erwartet, wenn auch vielleicht nicht so früh. … Ihre Frage, wie man sich als Frau fühlt, beschäftigt mich noch immer. Aber ich habe nie verstanden, weshalb die Menstruation mit soviel Geheimnistuerei umgeben ist.«

Zur Menarche gehört, dass diese erste Blutung nicht die letzte ist, dass sich ein Rhythmus wiederkehrender Blutungen einstellt. Die Erfahrung des blutenden Leibes ist neu, gewöhnungsbedürftig, nicht exakt terminierbar, was insbesondere die der Menarche folgenden Monatsblutungen betrifft, die sich häufig erst schleppend in einen nachvollziehbaren Rhythmus einpendeln und noch keineswegs den Charakter leiblicher Routine haben. Das Sich-Einleben in das Menstruieren betrifft die leiblichen Regungen wie Rumoren im Unterleib, Krämpfe, Stiche, Schmerzen, ihre Begegnung durch Wärme, Entspannungstechniken, Medikamente etc. und die praktischen Belange, die Handgriffe mit den Hygieneartikeln, die Wasch- und Wäscherituale etc., die durch konkrete Ausübung erst eingeschliffen werden. Die Menarche ist ein bedeutendes Körperereignis, aber das Mädchen erfährt auch in den darauf folgenden Monaten seinen Leib als überaus gewöhnungs- und erkundungsbedürftig. Das Wissen um die Menses, die Vorkehrungen, die dafür getroffen werden, das Warten auf oder das vorzeitige Überrascht-Werden durch sie, dies alles erfordert Auseinanderset302

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zung, und es wundert nicht, dass Mädchen sich durch ihre ersten Menstruationszyklen verändern.

8.4 Die Bedeutungsmatrix der Menarche Heranwachsende erleben häufig eine Diskrepanz zwischen den leiblichen Veränderungen und ihren jeweiligen Bedeutungen. Mit den sich herauswölbenden Brüsten erfährt das Mädchen, dass sie von den Mitmenschen nicht mehr als Kind, sondern als Frau betrachtet wird; mit dem sich in der Menarche aufdrängenden Blut wird es mit der Tatsache der Geschlechtsreife und möglicher Schwangerschaft konfrontiert. In beiden Fällen kommt es durch körperliche Ereignisse und Veränderungen sowie deren kulturelle Situiertheit zu einem Verständnis seiner selbst als Frau; es wird als Frau betrachtet, zeigt die sichtbare körperliche Reifung und bringt die – für Andere – unsichtbaren Blutungen hervor, vermag sich selbst aber häufig nicht als Frau zu leben, zumindest nicht als eine solche, die ihm der gesellschaftliche Spiegel vorhält. In diesen Prozessen der Identitätsbildung, wo sich Gender an den Achsen von Körper, Leib, Biographie und Diskurs einschreibt, spielt die Peergroup eine entscheidende Rolle, und zwar in einem positiven Sinne in Bezug auf Gemeinschaftsgefühle und das Erlebnis der Teilhabe an einem gemeinsamen Schicksal, das Männer ausschließt. Emily Martin schreibt: »Das wichtigste positive Gefühl, das Frauen in bezug auf die Menstruation haben, ist, daß sie dadurch als Frau definiert werden. Ein Teil der Bedeutung der ersten Menstruation ist sehr oft der Übergang vom Mädchensein zum Frausein.« (Martin, 1989, 128) »Diese gemeinsame Identität kann zur Grundlage gemeinsamen Handelns werden. … Frauen, bei denen die Blutungen erst relativ spät einsetzen, fühlen ganz deutlich, welchen Unterschied es macht, ob sie zu einer Gruppe von Menstruierenden gehören oder nicht. … Teil eines Gefühls der Gemeinsamkeit zwischen Frauen ist das Gefühl, sich von allen Männern zu unterscheiden.« (ebd., 129)

In dieser Gemeinsamkeit entsteht häufig eine geschlechtertypische Gesprächskultur, 8 die sich von gängigen – meist patriarchalischen – Vorstellungen über den »Fluch« der Menstruation zu distanzieren vermag. So fährt Martin (ebd., 130) fort: »Wenn Frauen über das Angeekeltsein oder die Unbequemlichkeit in Verbindung mit der Menstruation sprechen, so tun sie das mit einem oft unausgesprochenen 8

Über die »geheime« Sprache der Frauen zur Beschreibung der Menstruation vgl. Ernster, 1975, 3–13.

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Wissen um eine andere Seite dieses Vorgangs: Es ist ein Teil dessen, was eine Frau als Frau definiert, es ist etwas, was alle Frauen miteinander teilen – und sei es nur das Sprechen über die Probleme beim Umgang mit der schmutzigen Unordnung.«

Beschreibungen der Menarche als Zeichen des Frauseins können aber ebensowohl negative Aspekte der »Zumutung« oder des Markiert-Seins enthalten. Manches Mädchen mag sich auf empfindliche Weise durch die Menarche gestört fühlen und meinen, dass sie ihr anzusehen sei, dass sie durch sie stigmatisiert sei, eine Suggestion, die durch historisch gewachsene Körperbilder über Jahrhunderte hinweg aufrechterhalten wurde. Das unvermeidliche Leiberleben, das Geschehen-lassen-müssen eines jahrzehntelang dauernden Wiederholungsprozesses am Leib, lässt ihr zukünftiges Leben zum Leiden werden: »Die erste Menstruation: ›Wie lange geht denn das so?‹ ›Bis achtundvierzig.‹ Ich rechne. Vierunddreißig Jahre meines Lebens werden versaut sein. Der Biolehrer, das Hornvieh, das Ekel, bemerkt es: ich sah schlecht aus. Frau sein hieß eine Wunde haben, die aufgeht und heilt, aufgeht und heilt …« (Eva-Maria, 1985, 122)

Hier wird die enorme sozio-kulturell mitbedingte Komplexität deutlich, innerhalb derer die Menarche erfahren wird. Unwissenden Frauen drängt sie sich ohne Vorwarnung oder als längst Verdrängtes 9 auf, und evoziert ein Erfahrungsspektrum, das vor allem im Bereich der Angst vor Krankheit bis hin zur Angst vor dem Tod verortet ist: »Als ich das erste Mal einen Anflug von einer Blutung bekam, dachte ich, daß ich jetzt sterben müßte« (ebd., 84). Wissenden, spätentwickelten Frauen drängt sie sich meist zuerst als Abwesenheit auf, und wird dann mit Erleichterung begrüßt: »Ich war schon fast sechzehn, als die Menstruation richtig anfing. Was war ich froh! Ich hatte schon wieder angefangen zu glauben, daß ich krank wäre, weil alle Mädchen in meiner Klasse ihre Regel schon hatten und ich noch nicht« (ebd.).

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Deutsch (1995, Bd. 1, 135) vertritt die Auffassung, dass »die vollkommene ›Überraschung‹ durch die erste Menstruation« »nur das Ergebnis einer Verdrängung von seiten des Mädchens oder einer ungewöhnlichen Vernachlässigung von seiten der Umgebung sein« kann. Die letztgenannte Ursache führt Deutsch (ebd., 135 ff.) zwar auf die Tabuisierung der Menstruation durch die Mutter zurück, die selbst heute noch auftritt (vgl. Hite, 1997, 9–28), aber »sogar unter den ungünstigsten Bedingungen kommt es außerordentlich selten vor, daß das mangelnde Wissen des Mädchens auf andere Motive als auf eigene Ablehnung zurückzuführen ist. Die Erfahrung scheint zu zeigen, daß gerade bei den ›Überraschten‹ früher einmal die wildesten und erotischsten Vorstellungen über die zu erwartenden Körpervorgänge vorhanden waren. Aus Angst und Schuldgefühl wurden die irrationalen Vorstellungen, und mit ihnen jedoch auch die rationalen, verdrängt und vergessen« (Deutsch, 1995, Bd. 1, 135).

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In den zitierten Fällen zeigt sich die Unverfügbarkeit des Geschehens in eins mit der gesellschaftlichen Wissensvermittelung und einer daraus resultierenden Schienung subjektiver Betroffenheit. Das physiologische Wissen um die Vorgänge verhindert meist nicht eine Ergriffenheit von der Menarche. Ihre diffus vorbestimmte Zukünftigkeit, ihre unvorhersehbare Plötzlichkeit, ihr Sich-Aufdrängen aus dem Leibesinneren macht einen erheblichen Eindruck auf die Heranwachsende, so dass Frauen selbst in hohem Alter noch eine klare Erinnerung daran haben. Gleich wie die psychologische Vorbereitung und atmosphärische Begleitung der Menarche geschieht, ob in positiver Einstellung – manche Familien feiern heutzutage die Menarche der Tochter –, in negativer – jüdische Mädchen werden aus diesem Anlass traditionell geohrfeigt – oder in einem kultischen Rahmen, bedeutsam ist in jedem Fall eine individuelle Betroffenheit vom eigenleiblichen Geschehen und dem jeweiligen Arrangement von Bedingungen. Das folgende literarische Beispiel aus einer jüdischen Familie unterstreicht auch den Aspekt der praktischen Initiation und der Weitergabe genuin weiblichen Wissens: »Sandrine [die Stiefmutter, UG] war an dem Tag dagewesen, als Sara ihre erste Periode bekam. Da war Sara dreizehneinhalb. Seit Wochen hatte sie nur geweint. Geweint über ein junges Waldhuhn mit gebrochenem Bein, geweint, sobald ihr Vater sagte: ›Pssst! Ich schreibe!‹ Geweint, sobald man sie bat, eine Arbeit im Haushalt zu übernehmen. Schließlich war Sandrine so verzweifelt, daß sie Sara einen Eimer Wasser über den Kopf goß. Davon wurde Sara sofort nüchtern. Sie umschlang Sandrine mit beiden Armen und sagte: ›Ich liebe dich, Sandrine. Ganz ehrlich!‹ Später fand sie Blut in ihrem weißen Schlüpfer, einen schwärzlich-roten Flecken, der aussah, als werde er nie wieder rausgehen. Sie schloß sich im einzigen Badezimmer ein und fragte sich, ob sie krank oder ob dies ›es‹ sei. Sandrine begann an die verschlossene Tür zu hämmern. ›Eine Sekunde!‹ schrie Sara. ›Laß mich rein!‹ schrie Sandrine zurück. Widerwillig drehte Sara den Schlüssel um. Und blickte hilflos von ihrem Toilettensitz auf. ›Ist das es?‹ fragte sie Sandrine. ›O mein Gott, mein Baby!‹ rief Sandrine. Dann schlug sie Sara auf die Wange und nahm sie sofort danach in den Arm. ›Warum hast du mich geschlagen?‹ ›Weil es Glück bringt‹, sagte Sandrine. ›Ein altes Ritual.‹ ›Warum soll das Glück bringen?‹ fragte Sara.

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›Verdammt, ich kann mich nicht erinnern‹, antwortete Sandrine. ›Aber ich mußte es einfach tun. Meine Mutter hat das bei mir auch gemacht.‹ ›Ich finde, das ist ein dummer Grund‹, sagte Sara. ›Mag sein, daß du das jetzt findest. Aber wenn du dann eine Tochter hast, wirst du sicher anders denken.‹ ›Siehst du in mir deine Tochter?‹ fragte Sara. ›Warum stellst du so törichte Fragen?‹ gab Sandrine zurück, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Dann suchte sie unter dem Waschbecken nach einer Schachtel Binden, ging hinaus, um Sara einen frischen Schlüpfer zu holen, und zeigte ihr, wie man die Binde im Schritt des Schlüpfers befestigte. Dann warf sie den blutverschmierten Schlüpfer ins Waschbecken und ließ kaltes Wasser über den Zwickel laufen. ›Immer nur kaltes Wasser‹, warnte Sandrine, ›sonst setzt sich das Blut fest.‹ Zu Saras Verwunderung rieb sie den blutigen Schlüpfer mit beiden Händen unter dem kalten Wasser. ›Nichts Schlimmes, ein bißchen Blut‹, sagte sie gelassen. ›Der Saft des Lebens.‹ ›Was geht hier vor?‹ rief Saras Vater von seinem Schreibtisch herüber. ›Gar nichts!‹ rief Sandrine zurück. ›Kümmer dich um deine eigenen verdammten Angelegenheiten!‹ Aber Sara war überzeugt, daß sie es ihm später erzählt hatte, denn er war an jenem Tag und am Tag darauf besonders liebevoll zu ihr.« (Jong, 1997, 360 ff.)

Zunächst fällt die Beschreibung eines Zustandes erhöhter Sensibilität, Erregbarkeit und Weinerlichkeit bei dem kurz vor der Menarche stehenden Mädchen auf, der erst in einer Art Schockreaktion in Ernüchterung umschlägt. Als das Blut im Schlüpfer entdeckt wird, kommt es zu jener häufigen Reaktion des Zurückziehens und Einschließens in das Badezimmer, den Raum des Waschens, Ausscheidens, Frisierens, oft der einzige Raum, in dem eine Frau wirklich ungestört sein kann bzw. in Ruhe gelassen wird. Die Stiefmutter Sandrine geht dem ›Problem‹ von Sara nach, verschafft sich Einlass, Mitwisserschaft. Neben der spontanen Übernahme der jüdischen Sitte, das in die Menarche geratene Mädchen zu ohrfeigen, eine Handlung, der vonseiten des Mädchens Unverständnis entgegengebracht wird, zeigt dieses Beispiel wieder die affektive Bewegtheit auch der älteren, erfahrenen Frau durch die Offenbarung der Menarche der Jüngeren. Es folgt eine praktische Unterweisung in die Handgriffe der hygienischen Versorgung und den rechten Umgang mit blutbefleckter Wäsche, eine Wissensvermittlung ›rein‹ unter Frauen, bei der in diesem Beispiel der Mann brüsk ausgeschlossen wird. Ein anderes literarisches Beispiel verdeutlicht, wie wichtig gerade die Unterweisung in die hygienische Versorgungspraxis ist, und dass sie übli306

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Menarche

cherweise nicht von einer beliebigen Person erfragt wird, sondern von einer weiblichen Person des Vertrauens, auch auf die Gefahr hin, sich durch vorübergehende Selbstbehelfung lächerlich zu machen: »Als im Oktober die Dunkelheit dichter wurde, bekam sie zum ersten Mal ihre Tage. Es tat weh, und sie blutete stark, Hanna ängstigte sich sehr. Aber sie wagte nicht zu Lovisa [die Dienstherrin, UG] zu gehen. Sie nahm ihr verschlissenstes Leinenhemd, riß es in Streifen und kniff die Beine zusammen, um den blutigen Lappen an seinem Platz zu halten. Lovisa sah sie mißtrauisch an und schrie: ›Du läufst wie eine x-beinige Kuh, heb die Füße.‹ Erst am Samstag, als sie heim zur Mutter kam, konnte sie weinen. Ein paar Tränen nur, denn die Mutter sagte wie immer, daß Heulen gar nichts nützt. Dann gab es Abhilfe durch richtige gehäkelte Binden und ein Band, das man über den Hüften befestigen konnte. Zwei kostbare Sicherheitsnadeln wurden aus Mutters Nähkasten geholt. Es war ein regelrechtes Vermögen. Jetzt sagte Maja-Lisa: ›Mußt wissen, daß es gefährlich ist. Laß nie einen Mann näher zu dir als auf zwei Ellen Abstand.‹« (Frederiksson, 1999, 42)

Erst in der Gegenwart der Mutter vermag Hanna zu weinen, also der affektiven Betroffenheit durch das leibliche Geschehen (Schmerz, Hilflosigkeit, Spott) Ausdruck zu verleihen bzw. auch, ihr zu entkommen, und erst von ihr erhält sie nach einer Zeit unsicheren Selbstbehelfs die ›weibliche‹ Ausrüstung. Mit der Kompetenzvermittlung erfolgt dann auch die andere, die Wissensvermittlung, die ›Aufklärung‹ über die Bedeutung der Menarche für Geschlechtsreife und potenzielle Mutterschaft, wenngleich diese nur aus Andeutungen besteht, wie so häufig in jener Zeit, die der Roman schildert. Gerade die Reaktionen der ›eingeweihten‹ älteren Frauen schaffen in den verschiedenen kulturellen und historischen Kontexten das Flair des Numinosen um die Menarche. Negative Konnotationen erhält die Menarche häufig erst durch ihre spezifische Bedeutung für die ›Gefahr‹ einer vorzeitigen, ungewollten bzw. gesellschaftlich nicht akzeptierten Mutterschaft, wie auch das folgende Beispiel der Autorin (ebd., 229 f.) zeigt: »Mitten im Krieg, als das Essen am knappsten war, bekam ich einen Busen und meine Tage. Mutter sagte, jetzt fängt das Elend erst richtig an, jetzt konnte die Schande jederzeit über mich kommen. Ich erinner mich noch genau, denn sie wurde weiß wie die Wand und hatte entsetzte Augen, als sie mir zeigte, wie man eine Binde befestigt. ›Du mußt mir versprechen, daß du vorsichtig bist‹, sagte sie. ›Und auf dich aufpaßt.‹ Ich wollte sie fragen, auf was ich aufpassen sollte, aber da schnaubte sie nur, wurde rot und schwieg. Wie so oft, wenn es schwierig wurde, ging ich zu Lisa. Aber dieses Mal half sie

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mir nicht. Sie machte auch ein komisches Gesicht und fing an zu stottern, als sie sagte, sie müsse mit Ragnar sprechen. Da begriff ich, daß das Schreckliche nicht das widerliche Blut war, das aus mir herausfloß. Es war etwas Schlimmeres. Am Tag danach sagte Ragnar kurz und verlegen, daß ich mit Männern aufpassen müsse. Das war alles, was ich zu wissen bekam. Den Rest reimte ich mir selbst zusammen.«

Dass sich Mütter, die mit der Menarche ihrer Töchter konfrontiert werden, zuweilen wider besseren Wissens unbeholfen verhalten, liegt wohl an der diskursiven Besetzung des Themas mit Scham und Schuld sowie gewissen Konstellationen im Mutter-Tochter-Verhältnis, die sich psychologisch u. U. auf ein – durch Geschlechter-Realitäten hervorgerufenes – tief verwurzeltes Konkurrenzempfinden stützen. Anders bliebe unerklärlich, warum Generationen von Frauen, die wegen Unaufgeklärtheit selbst unter dem Entsetzen über die Menarche gelitten haben, nicht in der Lage gewesen sind, ihren Töchtern dieses Erleben zu ersparen und eine angemessene Aufklärung und persönliche Begleitung herbeizuführen. In diesem Beispiel wird durch die Menarche der Tochter bei der Mutter affektive Betroffenheit hervorgerufen. Auf die Nachfrage der Tochter zur Ermahnung, vorsichtig zu sein, schlägt das starre Entsetzen der Mutter in WutSchnauben, Erröten und Schweigen um. Auch die konsultierte Schwägerin zeigt sich verunsichert und verweist auf den Bruder, von dem das Mädchen immerhin erfährt, worauf sich die Vorsicht im Prinzip zu richten habe. Das folgende Beispiel zeigt neben der charakteristischen Verlegenheitsreaktion eine andere Umgangsform mit der Aufgabe ›mütterlicher‹ Wissensvermittlung: »Mit 11 Jahren traf mich meine Menstruation völlig unvorbereitet. Ich war überzeugt davon, diesmal von einer furchtbaren Krankheit befallen zu sein. Als ich meiner Mutter davon erzählte, war sie ungewöhnlich verlegen und sagte, ich müßte mich daran gewöhnen, was ich da schildere, käme nun jeden Monat, meine Kinderärztin, die auch gerufen wurde, würde mir alles Nötige erklären. Sie nahm die Sache viel leichter, sagte Gratulation, jetzt bist du erwachsen, und rezeptierte ein Mittel gegen die starken Krämpfe, die nun jeden Monat auftraten.« (Strobl, 1993, 36)

Die Mutter überträgt beim Menarche-Ereignis der Tochter fachliche Kompetenz auf die Kinderärztin, was die Unsicherheit der Mutter spiegelt. Bettina Schmidt (2000, 38) deutet die »Einbeziehung des eigenen Gynäkologen bzw. der Gynäkologin in die Versorgung des pubertierenden Mädchens« als »eine Entlastung von Verantwortung«:

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»Die Pubertät und die damit einhergehende Fähigkeit, Kinder zu bekommen, kann von Eltern als belastendes Ereignis erlebt werden. Die reproduktiven Fähigkeiten der Töchter werden einerseits gewünscht, denn die Mädchen sollen später traditionellerweise Kinder bekommen. Sie werden andererseits gefürchtet, da von nun an die Gefahr einer unerwünschten Schwangerschaft besteht. Die Abgabe von Verantwortung durch die Delegation an den Frauenarzt oder die Frauenärztin kann darum zu Entlastung und außerdem zur Vermeidung möglicherweise peinlich empfundener Gespräche und Fragen über tabuisierte Themen führen.«

In unserem Beispiel ist es eine Kinderärztin, der die Entlastungsfunktion zugewiesen wird. Diese legt eine umsichtige Gelassenheit an den Tag, gratuliert sogar, d. h. gibt der Menarche einen positiven Aspekt als etwas, das zu feiern sei, weil es Erwachsen-Sein bedeutet. Sie ›hilft‹ bei den leiblichen Sensationen (Krämpfe) durch Verschreibung von Schmerzpräparaten. Der erste Besuch in der gynäkologischen Praxis oder, wie hier, auf den Besuch der Kinderarztpraxis übertragen, wird in der Literatur hinsichtlich seiner Bedeutung als Initiationsritus diskutiert. Schindele (1996) weist auf die mangelhafte Würdigung der Menarche und ihre Reduktion auf die hygienische Seite hin. Demgegenüber wirke der Besuch beim Frauenarzt oder bei der Frauenärztin als das Ereignis, das den Eintritt in das Frauen-Dasein mit allen Aspekten demonstriere und dokumentiere (vgl. Schmidt, 2000, 37). Der von der Mutter initiierte Besuch bei der Kinderärztin mit dem Motiv der Aufklärung und psychosozialen Begleitung der Tochter ist wohl auch in dem gerade zitierten Fall eine Art Initiationsritus, der den Eintritt in das Erwachsenen- und Frauendasein anders markiert als die Verlegenheitsreaktion der eigenen Mutter. In diesem Beispiel traf das Mädchen die Menarche »völlig unvorbereitet«. Das folgende zeigt dagegen, dass auch bestens vorbereitete Heranwachsende mit rational angeeigneten Kenntnissen nicht recht umzugehen wissen, wenn sich das Beschriebene am eigenen Leibe zeigt, und dass auch eine positive familiäre Umgangsform nicht unbedingt eine mit der Menarche verbundene Schamreaktion verhindert: »Bei mir passierte es zu Beginn des Schuljahres, als ich gerade elf Jahre alt war. Eigentlich war ich darauf vorbereitet und wusste, dass es passieren würde, denn meine Mutter hatte mir eine dicke Enzyklopädie über den menschlichen Körper geschenkt, in der ein Kapitel ganz der Sexualität und Fortpflanzung gewidmet war. Daraus erfuhr ich, wie ein Mann in mich eindringen und wie ich ein Kind zur Welt bringen würde. Eines Morgens wachte ich also auf und stellte fest, dass mein Slip mit einer dunklen, rötlichen Flüssigkeit beschmutzt war. Zuerst dachte ich an Durchfall und rief meine Mutter, doch die stotterte bloß: ›Ah … hast … du hast sie also gekriegt …!‹ Ein komisches Gefühl. Und als mir mein Vater am Abend

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lächelnd rosa Rosen überreichte, verging ich fast vor Verlegenheit, aber niemand sagte etwas, niemand sprach mit mir, weder meine Eltern noch meine Schwester. Die Welt draußen hingegen schien an meinem Gesicht abzulesen, was mit meinem ›Kartoffelchen‹ passiert war. Alle Erwachsenen, die ich kannte, sagten mir, dass ich jetzt eine Frau geworden sei, und ich wusste, dass sie Recht hatten. Gleichzeitig fühlte ich mich immer noch wie ein kleines Mädchen, ich wollte nicht erwachsen werden und erlebte diese Zeit wie ein Trauma. Ich schämte mich so, dass ich sogar eine Freundin, die viel mutiger war als ich und noch keine Monatsblutung hatte, bitten musste, Binden für mich zu kaufen.« (Valitutti/Verdegiglio, 2001, 43 f.)

Da die Wissensvermittlung durch eine »dicke Enzyklopädie« erfolgte, war die Familie offenbar darauf bedacht, eine detaillierte, am naturwissenschaftlichen Körpermodell orientierte Kenntnis der körperlichen Vorgänge zu ermöglichen und erweist sich damit als zeitgemäß eingestellt. In der konkreten Situation der Menarche ihrer Tochter gerät die Mutter jedoch ins Stottern und ist offenbar nicht in der Lage, gelassen zu reagieren; es scheint fast so, als hätte sie sich durch die Enzyklopädie ihrer Aufgabe als Wissensvermittlerin entziehen wollen und wäre nun erstaunt, dass die Tochter bei der Menarche überhaupt zu ihr kommt, müsste sie doch eigentlich alles ›wissen‹. Es geht der Tochter aber offenbar nicht um Wissen, sondern um Anteilnahme. Der Kommentar »ein komisches Gefühl« könnte dahingehend gedeutet werden, dass die Tochter diese Diskrepanz zwischen dem medizinischem Wissen und der affektiven Betroffenheit der Mutter erlebt, dabei gleichzeitig selbst von der Menarche erschüttert ist und sich hilflos und allein gelassen fühlt, weil in dieser Angelegenheit kein innerfamiliäres Gespräch stattfindet. Auch die Geste des Vaters mit den Blumen wirkt eher aufgesetzt, gekünstelt und stürzt das Mädchen in Verlegenheit. Es ist erstaunlich, oder auch nur konsequent, dass dieses bestens aufgeklärte Mädchen von der Menarche-Situation als einem Trauma spricht, das sie so in Scham versetzte, dass sie nicht in der Lage war, ihre Binden selbst zu kaufen. Ein solches Trauma lässt sich m. E. daraus erklären, dass eine medizinische Aufklärung zwar sehr wichtig ist, aber ohne anteilnehmende, verständnisvolle Begleitung, ohne das ›Frauengeflüster‹, also Erfahrungsaustausch und praktische Unterweisung die Heranwachsende in ihrem Betroffensein doch einsam zurücklässt. Es ist hier nicht der Ort, über angemessene Umgangsformen von Eltern, Erziehungspersonen oder anderen Familienmitgliedern mit der Menarche zu diskutieren. Eine Vielzahl von Faktoren hat sicher dazu beigetragen, dass das Verhältnis zur und die Erfahrung der Menarche heute im Vergleich zu früheren Zeiten erleichtert wurde. Die Verfügbarkeit des Fortpflanzungswissens in der Öffentlichkeit, Aufklärungskampagnen in 310 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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Schulen und Mädchenzeitschriften, eine u. a. durch die Frauenbewegung initiierte Verbesserung des Mutter-Tochter-Verhältnisses, ein gelassenerer Umgang mit weiblichen Hygieneprodukten als ›normale‹ Waren im Kaufhaus usw., dies alles hat der Menarche einiges von ihrer ›Peinlichkeit‹ genommen, und es mag auch Fälle einer geglückten Begleitung der Menarche durch Familie und Freundeskreis geben. Allerdings scheinen diese Fälle immer noch eher selten zu sein oder aber wieder seltener zu werden. Außerdem wird weder in der Familie noch in der Gesellschaft in gebührender Weise anerkannt, welche Entwicklungsaufgabe das in die Menarche kommende Mädchen zu bewältigen hat, in leiblicher und körperlich-hygienischer Hinsicht, auch mit Blick auf die Tatsache, dass sich das Menarchealter in unserer Kultur immer weiter nach vorne verlagert, die Mädchen also noch sehr jung sind, wenn sie mit diesem leiblichen Geschehen konfrontiert werden. Dass die Fälle einer anteilnehmenden Menarchebegleitung durch die Familie eher rückläufig sind und Verantwortungskontexte zunehmend auf Fachleute übertragen werden, ist wohl auf die fortschreitende Medikalisierung der Pubertät, eine ebenso fortschreitende Entwicklung der Mädchengynäkologie 10 als Spezialdisziplin zwischen Pädiatrie und Gynäkologie sowie die insbesondere durch die Pharmaindustrie vorangetriebene Einrichtung spezieller mädchengynäkologischer Sprechstunden zurückzuführen. Wie Schmidt (2000, 36) in ihrem Artikel »Mädchen als neue Klientel. Die Medikalisierung der Pubertät durch die Mädchengynäkologie« ausführt, werden mädchengynäkologische Sprechstunden aus verschiedenen Gründen nicht nur von Medizinern befürwortet, sondern auch von betroffenen Mädchen und deren Eltern gewünscht. Schmidt verweist hier auf eine Untersuchung von Schüssler und Bode (1992), die aufzeige, dass »Mütter teilweise bereits ihre kleinen Mädchen von ihrem Frauenarzt oder ihrer Frauenärztin gynäkologisch untersuchen« lassen, um »pathologische Entwicklungen ausschließen zu können« oder aber, um sich die Ge-

10

Schmidt (2000, 32, Anm. 2) weist darauf hin, dass der Begriff »Mädchengynäkologie« in der medizinischen Fachsprache nicht verwendet wird. Es ist vielmehr von der Kindergynäkologie die Rede, obwohl »der Begriff Mädchengynäkologie als Abgrenzung zur Frauengynäkologie sehr viel plausibler erscheint« und sich im angloamerikanischen Sprachraum bereits der Begriff »adolescent gynecology« durchgesetzt hat. Ich übernehme den Begriff »Mädchengynäkologie« aus den von Schmidt angeführten Gründen der Begriffsklarheit und um deutlich zu machen, dass es sich um ein zwar lange vorbereitetes, aber doch in dieser Form neues Phänomen der Medikalisierung des Mädchenkörpers handelt, das den jahrzehntelangen Umgang mit der gynäkologischen Praxis vorbereiten und schienen soll.

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sundheit und Normalität ihrer Töchter bestätigen zu lassen. Schmidt (2000, 38) schreibt weiter: »Auch die körperlichen Veränderungen in der Pubertät werden von Eltern aufmerksam beobachtet. Viele Mütter halten es offenbar für notwendig, ihre Töchter beim Eintritt in die Pubertät oder spätestens nach Eintreten der Menarche in der gynäkologischen Praxis zum Check-up vorzustellen. Auch diese Mütter wünschen, dass die Regelgerechtigkeit pubertärer Entwicklungsprozesse, z. B. der Menstruation überprüft wird ….«

Schmidt (ebd.) kommt zu dem Fazit: »Die Gynäkologie ist anscheinend nicht länger nur die Instanz, die Krankheit therapiert, sondern eine Art TÜV, der Gesundheit, Normgerechtigkeit, Funktionsfähigkeit und Erwachsenwerden bescheinigt. Offenbar kann heutzutage nur ein medizinischer Profi feststellen, ob ›alles ok‹ ist. Dass damit die Selbstwahrnehmung und Selbstbestimmung der Mädchen beschränkt und die Abhängigkeit vom medizinischen System erhöht wird, wird hierbei häufig zu wenig beachtet.«

Dieses Fazit ist ernst zu nehmen, weil in diesem Kontext eine Entfremdung vom Körper und seinem leiblichen Geschehen noch wahrscheinlicher wird, als das durch den gesellschaftlich geprägten Umgang mit der Menarche ohnehin bereits der Fall ist. Die individuelle Selbsterfahrung tritt gegenüber einem normierten, pathologisierten und regulierten Körpermodell vom pubertierenden Mädchen zurück – nicht selten mit der Folge einer Verunsicherung und/oder Behandlung bei Abweichung von ›geeichten‹ Werten, die unter anderen Umständen womöglich als individueller Ausdruck gelten könnte. Wenn Mütter ihre Töchter nur noch dazu auffordern, das mädchengynäkologische Angebot zu nutzen und die Menstruation einem medizinischen Kontext anheim stellen sowie ihre eigenen Erfahrungen gar nicht mehr ins Spiel bringen, beschränken sie die Mündigkeit der Töchter, in die Erfahrungen am eigenen Leibe selbst hineinzuwachsen, was vor allem bei der Menarche und den ersten Menstruationen ein wichtiger Prozess ist. Diese Mütter leben den Mädchen im Sinne des Lernens am Modell vor, dass nur der Profi, der ein Mann mit viel Wissen ohne Praxis sein kann, nicht sie, die Mutter oder eine andere weibliche Person aus dem privaten Umfeld, als erfahrene Frau und auch nicht das Mädchen selbst die körperlichen Belange einschätzen kann. Schindele (1996, 113) vermutet sogar, dass der Besuch beim Frauenarzt bei dem Mädchen als »Einführung in eine Kultur« aufgefasst werden kann, »in der ihre Weiblichkeit von Männern definiert und geprüft wird«. Wenn es erst einmal üblich geworden ist, Mädchen nach ihrer Menarche zum Checkup beim Arzt vorzustellen, die Jungen nach ihrer ersten Ejakulation jedoch 312 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Menarche

ihrer erwachenden Sexualität selbst zu überlassen, so ist das ein Schritt zur Medikalisierung und Stigmatisierung natürlicher weiblicher Prozesse als Krankheit, der nur allzu gerne kommerziell ausgebeutet wird. Schmidt (2000, 55 f.) resümiert folglich: »Die gründliche Betrachtung mädchengynäkologischer Fachliteratur legt teilweise den Verdacht nahe, dass die Etablierung der Mädchengynäkologie weniger medizinischen Erwägungen geschuldet ist, sondern vielmehr ein Versuch der Rekrutierung einer zusätzlichen ›behandlungsbedürftigen‹ Zielgruppe ist. Trotz der von Seiten der Medizin dargestellten Notwendigkeit von mädchengynäkologischen Versorgungsstrukturen ist oft nur schwer nachzuvollziehen, ob ein tatsächlicher Bedarf an solchen Leistungen besteht. Es stellt sich die Frage, ob die Häufigkeit … und die Relevanz mädchengynäkologischer Störungen wirklich gravierend genug ist, dass sie die Konstituierung einer eigenen Fachdisziplin rechtfertigen. Nachdem bereits die Bereiche Schwangerschaft und Geburt sowie die Wechseljahre als anscheinend krankhafte Zustände in die medizinische Disziplin übernommen wurden, wird mit der Mädchengynäkologie nun ein neues Feld für die medizinische Forschung und Anwendung besetzt. Die Bestrebungen der weiträumigen Implementierung mädchengynäkologischer Einrichtungen ist scheinbar insbesondere darauf ausgerichtet, Reife-Variationen zu pathologisieren und somit einen neuen Markt an Maßnahmen der Prävention und Kuration zu erschließen sowie außerdem darauf angelegt, medizinfremde Leistungen in das Angebot aufzunehmen.«

Zu solchen medizinfremden Leistungen gehört beispielsweise die Übernahme psychosozialer Aufgaben zur allgemeinen Lebensbewältigung durch Gynäkologen, wobei »alle Aspekte von Sexualität, Schwangerschaft und Verhütung als gynäkologische Themenbereiche klassifiziert« werden (ebd.). Eine gynäkologische Unterstützung in diesen und anderen Bereichen scheint schon deshalb fragwürdig, weil es in Deutschland ein hochspezialisiertes Netz sozialer Einrichtungen zur Unterstützung der Lebensbewältigungsaufgaben von Mädchen in der Pubertät gibt – von politischen Fragestellungen zur Rationalisierung im Gesundheitswesen ganz zu schweigen. Schmidt (ebd., 57) hält eine Ausweitung des medizinischen Leistungsspektrums auch aus sozialpsychologischer und gesellschaftspolitischer Perspektive für wenig erstrebenswert, »da damit die verringerte Selbstwahrnehmung für die eigenen körperlichen Prozesse, die Entwicklung eines Selbstbildes als ›krank‹ sowie die vermehrte Abhängigkeit von einem normierenden und regulierenden Medizinsystem einhergehen können«.

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9. Menstruationen und Menstruationszyklen

9.1 Zum Diskurs um die Menses Die Menstruation wäre eine eigene Abhandlung wert – zu komplex und vielfältig gestaltet sich der phänomenologische Blick auf dieses Ereignis, das schon als solches nicht isoliert zu betrachten ist, weil es einer leiblichen Rhythmik folgt, und das auch nicht aus seinem kulturellen Kontext zu lösen ist, denn seit Beginn der westlichen Geschichtsschreibung ist die Menstruation von einem Bedeutungsgefüge umgeben, das aufgrund der Konstruktion patriarchalischer Bilder vom Frauenkörper vornehmlich durch negative Assoziationen geprägt war und ist. Die Markierung des blutenden weiblichen Leibes durch die Vorstellung einer Krankheit mit weitreichendem Symptom- und Wirkungspool durchzieht wie ein roter Faden die Geschichte, lebt heute noch im Volksglauben weiter, etwa durch Warnungen an die Menstruierende, nicht mit bestimmten Lebensmitteln in Kontakt zu kommen, und erlebt in der High-Tech-Medizin eine Renaissance, wenn die Menstruation als unnötig bezeichnet und ihre Abschaffung per Depoteinlage nahegelegt wird. Die Erforschung der Menstruation ist seit den 1970er Jahren ein zentrales Anliegen der Frauengesundheitsforschung, mit dem Ziel einer breiten öffentlichen Aufklärung. Feministische Theoretikerinnen haben sich u. a. den Menstruationstabus zugewandt und eine positive Neu- bzw. Uminterpretation propagiert. Die Medizinhistorikerin Esther FischerHomberger (1979, 1983, 1984) hat die Varianten der kulturellen Kodierung der Menstruation aufgezeigt. Judith Schlehe (1987) hat eine kurze europäische Ideengeschichte der Menstruation geschrieben und die Menstruation auch im ethnologischen Vergleich analysiert. Im Jahre 1991 erschien eine »Sozialgeschichte der Menstruation und Hygiene 1860 – 1985« von Sabine Hering und Gudrun Maierhof. Weitere Werke könnten angeführt werden. Diese neuen Perspektiven dienten der Evaluierung eines Konglomerats konstituierender Elemente mit der zentralen These, dass von einer natürlichen oder authentischen Menstruationserfahrung in keiner Weise gesprochen werden kann. Erhebliche Unter314 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Menstruationen und Menstruationszyklen

schiede wurden nicht nur interkulturell, sondern schon intrakulturell festgestellt (Martin 1989). Eine Untersuchung zum Gesamtdiskurs in Gegenwart und jüngerer Vergangenheit hat Sabine Zinn-Thomas (1997) vorgelegt, wobei sie den Spezial- und Interdiskurs als wissenschaftlichen Diskurs (Medizin, Psychologie, Sozial- und Kulturwissenschaften), als populärwissenschaftlichen Diskurs (vom schulmedizinisch bis zum feministisch orientierten Ansatz) und als Alltagsdiskurs (qualitative Interviews) entfaltet. 1 Sie (1997, 237) begreift »die Menstruation als Projektionsfläche im instrumentalisierten Diskurs«. Ausgehend von Leitmotiven des wissenschaftlichen Diskurses würde die Darstellung der Menstruation im schulmedizinischen und feministischen Ansatz dazu benutzt, ein bestimmtes Frauenbild zu propagieren und durch ideologische Zielsetzungen zu untermauern. Der Alltagsdiskurs äußere sich so vielfältig, dass »keine vorherrschenden Meinungen und Sichtweisen erkennbar sind«, wenngleich die Mehrzahl der befragten Frauen die Menstruation »als etwas Alltägliches und zu ihrem Leben gehörendes« empfinden, »worüber es wenig zu erzählen gibt« (ebd., 238). ZinnThomas verweist auf ein interindividuell stark divergierendes Erleben der Menstruation, auch hinsichtlich des Umgangs mit der Monatshygiene; es könnten »keine eindeutigen Deutungs- und Bewertungszusammenhänge sowie Typen des Redens über die Menstruation abgeleitet werden, die auf die Aussagen aller Frauen gleichermaßen zutreffen würden« (ebd.). Diese Analyse hinterlässt ein gewisses Unbehagen, weil die Menstruation als ein Diskursphänomen erscheint, das sich an einem mannigfachen alltäglichen Erleben bricht, für das die spezifischen Diskursformationen anscheinend irrelevant sind. Das spürbare Geschehen und leibliche Erleben dieses körperlichen Vorgangs und seiner diskursiven Besetzung bleiben dabei aber unberücksichtigt. Auf die Analyse der Diskurse von ZinnThomas gerichtet, könnte z. B. gefragt werden: Welche Diskurswirkung steckt dahinter, wenn ich das Tampon benutze und Binden »eklig« finde (Int. 11, ebd., 155)? Wenn ich Tampons »hygienischer und sauberer« finde (Int. 32, ebd., 154) oder ich sie bevorzuge, damit man »es« nicht riechen kann und »weil es auf keinen Fall gesehen werden kann« (Int. 5, ebd., 158)? Wenn mich der Geruch meines Menstrualblutes anwidert? Wenn ich mich während der Menstruation häufiger wasche, parfümiere, anders 1

Zinn-Thomas (1997, 5 ff.) geht davon aus, dass der gesellschaftliche Diskurs zur Menstruation von natur- und geisteswissenschaftlichen Spezialdiskursen geprägt ist. Im Interdiskurs treffen populärwissenschaftliche Selektionen dieser Spezialdiskurse und der Alltagsdiskurs aufeinander.

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

anziehe oder anderes unternehme? Wenn ich mit Leibschmerzen, Verdauungsproblemen, Schläfrigkeit, Stressanfälligkeit etc. konfrontiert werde? Wenn Sex tabu ist? So wichtig die Diskursanalyse ist, sie bezieht sich auf ein Konstrukt von ›der Menstruation‹, dessen Tragweite aber viel tiefer geht, als ZinnThomas zugestehen will. So finden sich zum »Alltagsdiskurs« ausführliche Redebeispiele von Frauen: Sie sprechen über ihr Erleben in eindringlichen Bildern, berichten von ihrer Scham, ihren Schrecken und Freuden, von ihren Gefühlen, von der Art, wie sie mit den Menstruationen leben. Wir erfahren, wie sich Einstellungen und Umgangsformen mit den Generationen, mit einem offeneren Aufklärungsverständnis usw. ändern, welche Bilder auf das Erleben einwirken, welche zurückgewiesen werden. Demgegenüber erscheint das nüchterne Fazit, es gebe keine Typen des Redens über die Menstruation, erstaunlich. Natürlich zeigen sich Divergenzen, aber es zeigen sich auch Gemeinsamkeiten, die durchaus in Typen differenziert werden könnten. Frauen reden über ihre Menstruationen nicht in derselben Weise wie Männer und Frauen über ihnen gemeinsame Ausscheidungsvorgänge. Obwohl viele Phänomene und Prozesse des Spürens beschrieben werden, kommen diese für Zinn-Thomas als gemeinsames Erlebnispotenzial, im Sinne auch der diskursiven Wirkungen auf den Leib nicht weiter in Betracht. Dass der Kontext »leiblich gelebt wird« (Butler), spielt somit kaum eine Rolle. Leibliches Erleben scheint sich in ›Diskursblasen‹ zu verflüchtigen, obwohl die Interviews von einem charakteristischen Spüren, auch im Spiegel der Diskurse, handeln. Dieses Material scheint, auch wenn es sich teilweise um suggestive, von den Diskursen mitbestimmte Fragen handelt, einer viel breiteren Auswertung zugänglich zu sein. 2 Vor dem Hintergrund solcher Erfahrungsbeschreibungen und der Bedeutung der Menarche gibt es zum Menstruieren doch sehr viel ›zu erzählen‹.

2

Der Interviewleitfaden (Zinn-Thomas, 1997, 243–245) wird bezüglich seiner diskursiven Vorprägung an einigen Stellen deutlich, z. B. in Block 5 (Umgang mit der Menstruation), wo gefragt wird »Wie fühlen Sie sich während der Tage?« und »Wie fühlen Sie sich vor der Periode?«. Wäre die Autorin nicht vom Diskurs um das PMS geprägt, hätte sie u. U. auch danach gefragt, wie sich die Frauen nach ihrer Periode fühlen, was auch im Sinne einer Kontrollfrage aufschlussreiche Antworten ergeben hätte; ein weiteres Beispiel sind die Fragen nach Menstruationsbeschwerden und Einschränkungen der Leistungsfähigkeit, die ebenfalls ein Pendant vermissen lassen – so hätte hier beispielsweise nach einem lustvollen Menstruationserleben oder nach Potenzierung der Leistungsfähigkeit gefragt werden können.

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Menstruationen und Menstruationszyklen

9.2 Der menstruierende Leib: ein Erfahrungskonglomerat Dass es hinsichtlich des Menstruierens viel und anderes zu erzählen gibt, als der wissenschaftliche schulmedizinische Diskurs vorgibt, haben im Zuge der zweiten Welle der Frauenbewegungen nicht nur die feministischen Diskurse gezeigt, sondern auch die Versuche einer radikalen Enttabuisierung des Menstruationsblutes in der Kunst. Gegenentwürfe zu überkommenen Besetzungen des weiblichen Blutes stammten in den 1970er Jahren hauptsächlich aus dem Bereich der Bildenden Kunst. Besonderes Aufsehen erregte 1971 die von Judy Chicago gezeigte Lithographie »Red Flag«. In der Zeitschrift »Courage« (1979, 91), deren erstes Sonderheft der Menstruation gewidmet ist, heißt es darüber: »›Red Flag‹ ist auf den ersten Blick schockierend – eine rote Fahne, die puritanische Gemüter in Aufregung versetzen will. Das Bild zeigt in Rosa-, Grau- und Schwarztönen das leicht verschwommene nackte Bein einer Frau; das andere Bein wird von einer Hand verdeckt, die ein rotes Tampon an seinem Faden herauszieht.«

Dieses Werk zeigt nicht nur – was damals schon skandalös genug war und auch heute noch ist – das Menstruationsblut, sondern auch den typischen Handgriff, das Ritual einer bestimmten Form der Monatshygiene: das Herausziehen des Tampons. Bemerkenswert ist die Herstellung des Bezugs zum Körper, wogegen andere Menstruationsbilder der 1970er Jahre eher damit schockieren wollten, dass sie blutgetränkte Binden oder Tampons losgelöst vom Frauenkörper zeigten. Die Sichtbarkeit der Handlung bei Chicago verweist unmittelbar auf die mit der Menstruation verbundene Leiberfahrung und damit einhergehende Umgangsformen, also auf die Begegnung mit dem eigenen Blut und die Art, es zu ›handhaben‹, es in einem körperlichen Sinne an sich zu nehmen, z. B. in Form eines gesättigten Tampons oder einer durchtränkten Binde abzustreifen – eine Handlung, die bei der Menarche initiativ gelernt, angeeignet wird und in diskursiv erzeugte Wissenskontexte gestellt ist. Ein weiteres Werk von Chicago mit dem Titel »Menstruation Bathroom« 3 (1972) zeigt ein gut ausgeleuchtetes, aufgeräumtes Badezimmer, in dem neben der Toilette auf einer Art Tisch ein mit blutigen Binden überfüllter offener Mülleimer steht; neben diesem liegt noch ein blutiger Tampon mit sichtbar dunklem Faden, der darauf verweist, dass das Blut über den Tampon und den eigentlich ›hygienischen‹, ›blutfreien‹ Faden hinaus strömen kann. Chicago (in: Broude/Garrard, 1994, 57) beschreibt ihr »Menstruation Bathroom« 3

Z. B. abgebildet in Broude/Garrard, 1994, 57.

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

als »very, very white and clean and deodorized – deodorized except for the blood, the only thing that cannot be covered up. However we feel about our own menstruation is how we feel about seeing its image in front of us.« Das Werk »Untitled [Train]« 4 (1993) von Kiki Smith stellt das Menstruieren ebenfalls als Prozess dar: Eine unbekleidete weiße Frauenskulptur steht mit leicht gebeugten Knien an einer schwarzen Wand und schaut mit einer Seitendrehung nach hinten. Aus ihrem Genital hängen fünf rote Perlenschnüre, die sich in ungleichmäßigem Verlauf und unterschiedlicher Länge mehrere Meter weit in den Raum ›ergießen‹. Diese Frauenskulptur hat eine weit ausladende ›Blutspur‹ in Form von mehreren Ketten mit unterschiedlich großen roten Perlen und in verschiedener Anordnung auf ihrem Weg zur Wand hinter sich gelassen. Hier wird der Aspekt des kontinuierlich blutenden Leibes hervorgehoben: Wenn ich dem Blutfluss nicht mit Handlungen begegne, die ihn auffangen, ziehe ich ihn hinter mir her, hinterlässt er Spuren. Das Blut markiert den Weg; die sich nach hinten umdrehende Frau erkennt ihren Weg an den zurückgelassenen ›Blutschnüren‹ auf dem Boden. Indem die Künstlerin Perlenschnüre als Symbol des weiblichen Ausflusses verwendet, bringt sie ungewohnte Konnotationen der Besetzung des Menstrualblutes ins Spiel. Glänzende Perlen erinnern an Schmuck, der verschönert, wenn er sichtbar getragen wird. Der Versuch der Enttabuierung des menstruierenden Leibes in der feministischen Kunst ist aus heutiger Sicht episodenhaft geblieben und konnte sich über die 1970er Jahre hinaus nicht im Mainstream der Kunst verankern. Spätere Thematisierungen der weiblichen Bluterfahrung in der Kunst, wie das gerade beschriebene Werk von Smith, sind marginal geblieben. So ist auch die Darstellung des menstruellen Blutens in dem vierseitigen, schwarz-weißen Comic von Julie Doucet mit dem Titel »Schwere Mensis« (1992, 73–76) eine Ausnahme und kursiert unter dem avantgardistischen Label »Bad Girl Art«. Dargestellt werden mehrere typische Szenen des Menstruierens: Das erste Bild zeigt eine Frau, nur mit einem Hemd bekleidet, wie sie mit breit gespreizten Beinen, sich die Haare raufend auf ihrem Bett steht; aus ihrem Genital tropft sichtbar Blut und dieses hat bereits die Bettwäsche deutlich eingefärbt (Sprechblase: »O nein Scheiße!«); das zweite Bild zeigt den Gang ins Bad: Die Frau hält ihre rechte Hand unter ihr Geschlechtsteil, um das Herabtropfen des Blutes zu verhindern, aber dennoch hinterlässt es auf dem Boden Spuren (Sprechblase: »Fuck …«); die nächsten drei Bilder sind der Situation gewidmet, dass es im Haus keine weiblichen Hygieneartikel gibt: Die Hand weiter am Geni4

Z. B. abgebildet in Borzello, 2000, 203.

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Menstruationen und Menstruationszyklen

tal, werden Schränke und Regale durchsucht, bis zur großlettrig dargestellten Erkenntnis »TAMPAX ALLE!« und einem auf den Kopf beschränkten Bild einer verzweifelten Frau; das fünfte bis siebte Bild zeigt, wie sich diese Erkenntnis zur Dramatik auswächst: Die Frau muss sich auf der Toilette aufstützen, rauft sich die Haare, »Mir Aaaa … wird so … komisch?«, in jeder Sequenz tropft weiterhin Blut aus dem entblößten Genital; im Bad bildet sich ein Blutsee, der Boden ist bedeckt mit Blutflecken; die Protagonistin ist verzweifelt, das achte Bild visualisiert in großen Buchstaben »BAAAAAAA«, während die Frau in einer gezeichneten Verdoppelung ihres Körpers mit den Händen ringt. Diese Dramatik eskaliert, als die Frau, weiter aus der Scheide tropfend, auf die Straße geht und sich den Weg zu einer Apotheke bahnt. Auf einer ganzseitigen Zeichnung erscheint sie überdimensional groß durch die Straßen einer Großstadt gehend, wobei sich ihr Menstruationsblut bereits in großen Strömen auf die Straße ergossen hat und sie durch ihr eigenes Blut ›watet‹, während zwei Tauben auf einem Dach folgender Dialog unterschoben ist: »Mmh! Riecht nach Fisch« – »Schnöff!« Nach weiteren Sequenzen mit tropfendem Genital hält die Protagonistin endlich ihre Packung »Tampax« in den Händen, wird aber auf offener Straße von zwei Polizisten und einem Feuerwehrmann verhaftet, wobei der Zusammenhang mit dieser staatlichen Maßnahme sich sowohl auf das Menstruieren bezieht, als auch auf die – allerdings nicht eindeutig dargestellte – Tatsache, dass sie sich die Packung »Tampax« widerrechtlich, also ohne Bezahlung, angeeignet hat. Dieser kurze, aber in seiner Dramatik ungemein anschauliche Comic karikiert das menstruelle Bluten als hygienische Krise und spielt mit genau den Ängsten, die der Diskurs um die Menses in unserer Zeit schürt: Angst vor der Sicht- und Riechbarkeit des weiblichen Blutes, die öffentliches Aufsehen, Ärgernis erregt. In die Belletristik finden Menstruationen selten Eingang. Auch in den 1970er Jahren, als Künstlerinnen das weibliche Blut sichtbar machten, taten sich Schriftstellerinnen schwer, es zu versprachlichen, obgleich die Menarche gelegentlich thematisiert wird. In Erica Jongs Roman »Angst vorm Fliegen« findet sich allerdings eine Stelle, die dem oben skizzierten Comic ähnlich ist: Die Ich-Erzählerin bemerkt in einem Hotel ihre Menstruation und ist damit konfrontiert, dass Hygieneartikel nicht unmittelbar zur Verfügung stehen: »Als ich um die Mittagsstunde erwachte, quoll Blut zwischen meinen Beinen hervor. Benommen und noch nicht recht bei mir, wußte ich doch, daß ich die Schenkel fest zusammenpressen mußte, da sonst das Blut zu strömen beginnen und die Matratze verunreinigen würde. Ich wollte aufstehen und nach einer Binde suchen, doch es erwies sich als schwierig, sich aus diesem durchgelegenen Bett heraus-

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

zuwühlen, ohne die Schenkel auch nur ein wenig zu öffnen. Ich stellte mich mit einem Ruck auf die Beine, und die schwärzlichroten Rinnsale begannen sich an der Innenseite meiner Schenkel ihren Weg nach unten zu suchen. Ein dunkler Blutfleck glitzerte auf dem Boden. Ich lief zu meinem Koffer und hinterließ eine Spur von glitzernden Flecken. Im Unterleib verspürte ich jenes vertraute dumpfe Ziehen.« (Jong, 1990, 439)

Als Weisen leiblichen Spürens werden das Hervorquellen des Blutes, sein Herabströmen an den Innenseiten der Schenkel, ein dumpfes Ziehen im Unterleib beschrieben. Ein Akt körperlichen Beherrschen-Wollens (Zusammenpressen der Schenkel) soll den Blutfluss eindämmen. Das sichtbar werdende Blut wird mit Kraftausdrücken ›verflucht‹ : ›»Verdammte Scheiße!‹ schrie ich. Der Fußboden sah inzwischen aus wie nach einem schweren Verkehrsunfall. Wie sollte ich denn all dieses Blut je aufwischen?« (ebd.)

Die Romanheldin bastelt sich zunächst eine Binde aus T-Shirt und Sicherheitsnadel: »Wie würde ich wohl aus Paris rauskommen – mit einer Windel am Leibe? Es würde mir nichts anderes übrigbleiben, als x-beinig zu gehen. Die Leute würden denken, ich müßte dringend pinkeln.« (ebd., 440)

Hier und später zeigt sich deutlich, wie unbeholfen sie sich fühlt: Die Heldin muss humpeln und sich merkwürdig halten, um ihre Hilfskonstruktion zwischen den Beinen zu halten, sie muss die Knie aneinander pressen, x-beinig gehen etc.; dies alles ist auffällig und sie befürchtet den Blick der Anderen auf sie als eine ›Unnormale‹. Schließlich ›bastelt‹ sie sich auf der Hotel-Toilette eine Art Binde aus Toilettenpapier. Die einsetzende Menstruation signalisiert der Protagonistin, dass keine Schwangerschaft vorliegt: »Da hatte ich mich nun gefragt, ob ich, als Strafe für mein Davonlaufen mit Adrian, neun Monate lang die Ungewißheit würde ertragen müssen, welche Hautfarbe das Baby haben würde, und statt dessen trage ich nun selbst eine Windel. Warum kann mein Leid nicht zumindest würdig sein?« (ebd.)

Die Unwürdigkeit der Situation, beim Menstruieren ohne Hygieneartikel zu sein, wird auch an einer anderen Stelle aufgegriffen: »Die Absurditäten, denen unser Körper uns ausliefert! Außer, vor Schmerz gekrümmt, mit einem Anfall von Diarrhoe in einer stinkenden öffentlichen Bedürfnisanstalt zu hocken, weiß ich nichts Entwürdigenderes, als bei Eintritt der Periode

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kein Tampax zur Hand zu haben. Merkwürdig daran ist, daß ich die Menstruation als solche nicht immer in dieser Weise betrachtet habe.« (ebd., 441 f.) 5

Es folgt ein Rückblick auf ihre Menarche und weitere Umstände in Zusammenhang mit der Menstruation, wie beispielsweise, dass sie aussetzte, als sie sich beinahe zu Tode hungerte (ebd., 445). Das Entwürdigende, Peinliche der geschilderten Situation ist die Sichtbarkeit des Blutes. Das, was beim Menstruieren vom Leibe abfließt, soll nicht sichtbar und überhaupt nicht bemerkbar sein, für Andere und auch für uns selbst nicht. Das sind die bereits umschriebenen kulturellen Imperative. So schreibt Greer (1971, 62) zu Recht: »Der Erfolg des Tampons ist zum Teil der Tatsache zuzuschreiben, daß er verborgen ist.« Zu einem anderen Teil wohl der Tatsache, dass er, weil er nicht viel Platz beansprucht, in der Hand- oder Kleidungstasche leicht zu verbergen ist und, zu einem weiteren, nicht unerheblichen Teil wohl der Tatsache, dass er die Teilnahme an lebensweltlichen Praktiken, wie dem Schwimmen, jederzeit ermöglicht. 6 Der Tampon gewährleistet die Ausklammerung der Sichtbarkeit des Blutes, so dass Frauen auch während des Menstruierens alles tun können, was Männer sowieso immer tun können. Viele Frauen entsorgen ihre Tampons direkt aus der Vagina in die Toilette, konfrontieren sich kaum mehr visuell mit ihrem Blut. Binden werden dagegen gesondert, womöglich, wie in öffentlichen Toiletten vorgesehen, in einem Hygienebeutel verpackt, in einen beigestellten Mülleimer gelegt. Die Wahl der Monatshygieneartikel erfolgt nach vielschichtigen Erwägungen und ist durch die Einstellungen zur Menstruation bzw. zum Körper und durch die Erfahrungen mit einzelnen Artikeln geprägt, wobei das Spüren des Nass-Seins eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Einerseits werden Binden abgelehnt und Tampons bevorzugt: 5

Es ist bei Jong und auch in dem beschriebenen Comic bezeichnend, dass der Tampon nicht als solcher versprachlicht wird, sondern mit einem Firmennamen, ein Vorgang, der auf eine spezifische Diskurswirkung hinweist, die auf Substitution beruht und zum Komplex der Tabuisierung der Menstruation gehört. Die Verwendung des Begriffs »Tampax«, oder im deutschen Sprachraum »o.b.«, stellt Bezüge zur suggestiven Macht der Werbung, hier des Bedeutungskonglomerats »Sauberkeit«, »Sicherheit«, »Unsichtbarkeit« etc. her. Ähnliche Phänomene haben sich im deutschen Sprachraum etwa auch bei Fertigwindeln eingebürgert, von denen häufig nur noch im Begriff »Pampers« die Rede ist, womit ein Bezug zur Werbe-Atmosphäre des trockenen, sauberen, nicht riechenden Babys hergestellt wird. 6 Hierbei ist bezeichnend, dass Jahrzehnte lang Werbung für Tampons gemacht wurde, um gerade diesen Aspekt der lebensweltlichen Unauffälligkeit der Menstruation heraus zu streichen. Fragt man aber Frauen konkret, ob sie diese Möglichkeiten, die der Tampon bietet, überhaupt nutzen, so stellt sich häufig heraus, dass dies nur ausnahmsweise, etwa im Urlaub oder zu einer besonderen Gelegenheit, der Fall ist.

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»… zum Anfang habe ich Binden genommen, aber das ist so unangenehm. Da fühlst Du Dich so naß.« (Int. 17, Zinn-Thomas, 1997, 148) »Binden haben eben den Nachteil, daß sie so dick und unförmig sind. Ich mag mich damit nicht so gerne bewegen, und dann habe ich das Gefühl, es läuft und läuft und läuft, und ich habe da nicht so die Kontrolle drüber.« (Int. 28, ebd., 151) »Ich finde es einfach praktisch, ein bißchen negativ ausgedrückt, man stöpselt sich zu und dann ist es gegessen. … Wenn ich mal eine Binde benutzt habe, fühle ich mich immer gleich so, als ob ich so ein Klotz zwischen den Beinen gehabt habe. Und das ist ein absoluter Fremdkörper, und ich gehe dann so breitbeinig.« (Int. 27, ebd. 148)

Frauen berichten aber auch, es sei ihnen unangenehm, »etwas in meinen Körper hineinzustecken« (Int. 32, ebd., 154), oder die Vorstellung eines »Pfropfen[s] in der Scheide« (Int. 10, ebd.) hat sie davon abgehalten, Tampons zu probieren. Meist wird der Gebrauch von Tampons jedoch aufgrund der ›besseren‹ Hygiene und der Tatsache, dass die Blutung nicht spürbar nach außen tritt, favorisiert. Wenngleich dabei häufig »dieses trockenere Gefühl« (Int. 11, ebd., 155) betont wird, verweisen Verwenderinnen von Binden nicht selten doch auf den angenehmen Aspekt, dass der Vorgang, auch das Fließen und Strömen, besser wahrgenommen wird. So sagt eine Frau, die den Gebrauch des Tampons so beschrieb, dass sie »nichts mehr merkt«, sie fände es »auch manchmal ganz schön, wenn ich alles so mitkriege« (Int. 3, ebd., 149). Das Spüren eines ›freien Flusses‹ scheint einigen Frauen wichtig zu sein: »Der Vorteil von Binden ist der freie Fluß. Ich bin mir mehr bewußt, daß ich blute.« (Int. 36, ebd., 150) »Einen Vorteil sehe ich darin, daß es nicht im Körper drinnen ist, sondern draußen. Daß es rausfließen kann das Blut.« (Int. 14, ebd., 151)

Eine Frau berichtet, sie hätte beim Gebrauch von Binden einen gewissen Einfluss auf das Bluten, »daß ich das fast ein bißchen im Griff habe und das regulieren kann« (Int. 4, ebd., 149). Eine andere Frau beschreibt in Bezug auf Tampons »das Gefühl, die trocknen meine Scheide aus«, »als würde ich es irgendwie verschließen«: »Irgendwie hatte ich das Gefühl, ich habe das nicht mehr unter Kontrolle, was da an Mengen von Blut kommt. So irgendwie ein ganz komisches Gefühl … Binden haben, finde ich, den Vorteil, daß man irgendwie ein stärkeres Körpergefühl hat. Das finde ich irgendwie angenehmer. Ich habe das Gefühl es kann irgendwie ausbluten.« (Int. 1, ebd., 155 f.)

Insgesamt bezeugen Erfahrungsberichte vom Umgang mit den Hygieneartikeln, dass Frauen sich aus ihrem persönlichen Erfahrungsfundus für bestimmte Produkte entscheiden und diese je nach Gelegenheit (z. B. 322

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Schwimmen) variieren. Maßgeblich ist neben dem, was sie am eigenen Leibe als angenehm oder unangenehm empfinden, vordringlich die hygienische Seite. Dieser Aspekt wird nicht selten mit starken Bildern ausgedrückt, wobei der Gebrauch der Binde häufig mit negativen Assoziationen verbunden wird. So finden sich in dem Material von Zinn-Thomas Ausdrücke wie »[du] schmierst doch wieder alles voll« (155), »Riesenschweinerei« (155), »eine eklige Binde« (155), »man saut sich leichter ein« (150). Obwohl der Geruch des Menstruationsblutes im Interviewleitfaden nicht thematisiert wird, nennen viele Frauen ihn als Grund für die Verwendung von Tampons, wobei sie aber häufig Unsicherheit darüber artikulieren, ob das Blut tatsächlich riecht. Sie greifen zu einer bestimmten Monatshygiene, »weil man immer irgendwo die Angst hat. Ich weiß ja nicht, ob andere es riechen, ich weiß es nicht.« (Int. 11, ebd., 155) Frauen haben aber selbst oft den Eindruck, »daß ich an meinen Tagen anders rieche«, aber »nicht nur das Blut riecht, sondern ich selbst auch. Also so ganz normale Dinge. Daß ich also auch mehr schwitze. Ja, ich habe das Gefühl, ich habe einen veränderten Geruch.« (Int. 5, ebd., 155) In Zusammenhang mit der Vorstellung, Einbildung oder Wahrnehmung, dass menstruierende Frauen anders – und zwar schlechter – riechen oder überhaupt riechen, stehen besondere und häufigere Waschrituale in den Tagen des Menstruierens, vor allem bei Frauen, die Binden bevorzugen, und bei älteren Frauen. Die Äußerungen zur Wahl der Monatshygieneartikel sind je nach Alter der Befragten von vielen diffusen Vorstellungen, sei es durch althergebrachte Bilder oder die Wirkung von Werbekampagnen, durchsetzt. Auch wenn Präferenzen z. B. für Binden aufgrund des leiblichen Spürens artikuliert werden, geschieht dies häufig beinahe entschuldigend mit Rekurs auf die subjektive Erfahrung. ZinnThomas (1997, 175) stellt heraus, dass vor allem junge Frauen »andere Ansprüche an die Monatshygiene formulieren als ältere Frauen«. 7 Es könnten weitere Beispiele dafür angeführt werden, dass die Menstruation heute als problematisch hinsichtlich ihrer Folgen für die Körperhygiene empfunden wird, woraus die Hygieneindustrie durch eine Vielzahl von Artikeln, auch zwecks Eindämmung des ›Geruchs‹, Gewinn zieht. Die hygienische Seite ist aber nur ein Aspekt des Monatsblutens, 7

»Junge Frauen (Gruppe I und II) bevorzugen vor allem aus praktischen und hygienischen Überlegungen heraus Tampons (14). Als Gründe werden angeführt: Tampons sind unsichtbar, praktischer zu verstauen, vermitteln ein trockeneres Gefühl, tragen weniger zur Geruchsbildung bei, sind besser zu tragen, verschmieren kein Blut. Aber auch ökologische Gründen spielen eine Rolle (Tampons produzieren weniger Müll und enthalten kein Plastik).« (Zinn-Thomas, 1997, 175)

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der aus einem rigiden Diskurs resultiert, der das weibliche Blut zur Unsichtbarkeit verpflichtet und in einer langen Tradition weibliches Wissen über Sauberkeit generiert. Zur Einführung in die Menstruationen gehört nicht allein die Aneignung des Umgangs mit Hygieneartikeln und der Waschrituale am Körper, sondern auch die Aneignung von Reinigungspraktiken bezüglich ›befleckter‹ Materialien, wie z. B. Unter- und Bettwäsche. Ein umsichtiges Verhalten wird von der Gesellschaft erwartet und schient bereits in jungen Jahren praktische Verhaltensweisen: In die Handtasche gehört zu vage bestimmbaren Zeiten die Binde oder der Tampon, bei längerem Verreisen sind sie unverzichtbares Accessoire; beim aktuellen Menstruieren muss der Wechsel von Binde oder Tampon durch das Aufsuchen entsprechender Räume eingeplant, gegebenenfalls vorausgeplant werden. Viele Frauen empfinden nach wie vor Ekel vor ihrem Menstruationsblut, was sich in ausgefeilten Verbergungspraktiken ebenso äußert wie in der weitgehenden Tabuisierung des Sexualverkehrs während der Menstruation oder beispielsweise in den heftigen Reaktionen auf Greers provozierendes Statement (1971, 62 f.): »Wenn du glaubst, du seist emanzipiert, so stell dir mal vor, dein Menstrualblut zu kosten – wird dir schlecht, hast du noch ’nen langen Weg vor dir, Baby.« Es ging Greer im Gegensatz zu Behauptungen ihrer Kritiker nicht darum, ein neues Ritual zu konstruieren, sondern, wie sie (2000, 52) Jahre später ausführt, darum zu zeigen, »daß wir, solange Frauen ihre eigene Menstruationsflüssigkeit als schmierigen Dreck betrachten, noch weit davon entfernt sind, auf unsere Weiblichkeit stolz zu sein – eine notwendige Voraussetzung für eine Emanzipation«. Greer scheint aber in ihrem Buch »Der weibliche Eunuch«, aus dem das erste Zitat stammt, doch eher von den neueren Konnotationen des Menstruationsdiskurses beeindruckt gewesen zu sein, wenn sie in bewusster Abgrenzung zu früheren negativen Bildern von der Menstruation zunächst sagt, sie »macht uns nicht zu Tollwütigen oder kompletten Invaliden«, aber dann ergänzt: »wir würden halt nur ganz gern auf sie verzichten.« (Greer, 1971, 65) Das klingt nicht so, als sei sie stolz auf die menstruelle Äußerung ihres Körpers, wie sie das in der späteren Publikation für die emanzipierte Frau einfordert. Vor 30 Jahren konstatierte Greer auch, es sei eine Tatsache, »daß keine Frau menstruieren würde, wenn sie nicht müßte«, ohne in Anschlag zu bringen, dass zumindest einige Frauen einen Teil ihrer positiven Geschlechtsidentität aus dem Menstruieren ziehen oder die Menstruationen trotz ihrer negativen Begleitumstände als etwas im weitesten Sinne Schönes empfinden, wie beispielsweise Anne Frank (1999, 160 f.), die vom »süßen Geheimnis« spricht, auf das sie sich freut: 324 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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»Immer, wenn ich meine Periode habe (das war erst dreimal), habe ich das Gefühl, daß ich trotz der Schmerzen, des Unangenehmen und Ekligen ein süßes Geheimnis in mir trage. Deshalb, auch wenn es mir nur Schwierigkeiten macht, freue ich mich in gewisser Hinsicht immer wieder auf diese Zeit, in der ich es wieder fühle.«

Dies schreibt eine Heranwachsende im zweiten Weltkrieg, wo die Monatshygiene noch lange nicht so ausgefeilt war wie heute, und bekanntlich lebte Frank unter äußerst schwierigen Bedingungen im Untergrund. Dennoch schildert sie eine frohe Erwartungshaltung gegenüber jenen besonderen Zeiten des Sich-Fühlens. Als diese – wohl aufgrund der widrigen Lebensumstände – ausbleiben, fühlt Frank (1999, 266) sich »im Stich gelassen« und artikuliert Zufriedenheit, als es wieder soweit ist: »Seit mehr als zwei Monaten hatte ich meine Periode nicht mehr, seit Sonntag ist es endlich wieder soweit. Trotz der Unannehmlichkeiten und der Umstände bin ich doch froh, daß es mich nicht länger im Stich gelassen hat.«

Die Reflexionen von Greer suggerieren dagegen, dass Frauen per se gerne, wie sie selbst, auf ihre Menstruationen verzichten würden, wenn sie es könnten. Sie (1971, 63) hält die Natur des weiblichen Körpers keineswegs für die »Krone der Schöpfung«: »Warum sollten Frauen sich nicht gegen eine Unannehmlichkeit wehren, die vor, während und hinterher Spannungen erzeugt; die Unlust, Geruch und Flecken mit sich bringt; die sich über ein Fünftel bis ein Siebtel ihres Lebens als erwachsene Frau bis zur Menopause ausdehnt; die sie dreizehnmal im Jahr fruchtbar macht, während sie nur zweimal im Leben gebären möchten; die mit dem Aufhören der Menstruation viele Jahre endokriner Unregelmäßigkeiten und die schrittweise Verkümmerung ihrer Sexualorgane bedeuten kann?«

Ihre Antwort spricht von wenig »emanzipiertem Stolz«, wenn sie die Menstruation in einem mehr oder weniger versteckten Sinn mit ›Krankheit‹ assoziiert: Es gebe »auch keinen Grund für die Annahme, daß die Menstruation irreversibel sein muss oder sein sollte« (ebd.). Damit scheint Greer nicht weit von der neueren Schulmedizin entfernt, die eine ›Abschaffung‹ des Menstruierens nahe legt, wenn kein Kinderwunsch besteht. Ihre Ausführungen tragen zwar nicht mehr, wie bei Beauvoir, die Konturen eines Diskurses, der das Menstruieren gar als Persönlichkeitsstörung dramatisiert, aber sie würde, das weibliche »Wir« verwendend, gerne darauf verzichten. Auf das Menstruieren würde man in der Tat gerne verzichten, wenn man eine Darstellung à la Beauvoir (1970, 315 f.) liest: »Das mangelnde Gleichgewicht in den hormonalen Sekretionen erzeugt eine nervöse und vaso-motorische Unausgeglichenheit. Die Menstruationskrise ist schmerz-

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haft: Kopfweh, Unwohlsein, Leibschmerzen machen die normale Tätigkeit schmerzvoll oder gar unmöglich. Zu diesen körperlichen Übeln kommen oft noch psychische Störungen. Häufig macht die Frau nervös, überreizt alle Monate einen Zustand durch, in dem sie nur halb sie selbst ist. Die Kontrolle des autonomen und des zentralen Nervensystems ist nicht mehr gewährleistet. Kreislaufstörungen, gewisse Selbstvergiftungen machen aus dem Körper gewissermaßen eine Mattscheibe, die sich zwischen die Frau und die Welt einschiebt, einen ätzenden Nebel, der sie bedrückt, erstickt und isoliert. Durch diesen schmerzhaften und passiven Körper hindurch wird das ganze Universum zu einer überschweren Last. In ihrer Bedrängnis wird sie sich selbst entfremdet, weil sie der übrigen Welt fremd wird. Gedankenketten lösen sich, Einzelmomente werden nicht mehr aneinandergefügt, das Nächstliegende wird nur abstrakt wiedererkannt. Und wenn Vernunft und logisches Denken wie in weltschmerzlichen Wahnvorstellungen erhalten bleiben, werden sie in den Dienst offensichtlicher Leidenschaftlichkeit gestellt, die inmitten organischer Verwirrung aufbricht.«

Ein solches, vielleicht sogar noch der vor-freudschen Hysterielehre verpflichtetes Denken ist heute überholt, wenngleich es in einigen Ausprägungen gynäkologischer ›Erkenntnisse‹, die das prämenstruelle Syndrom (PMS) als organische Störung anerkennen, wiederzukehren scheint. Abgesehen von diesen neueren Erklärungsvarianten zu Menstruationsbeschwerden ist vom medizinischen, insbesondere endokrinologischen Standpunkt alles erforscht, was zum sachlichen Verständnis der Menstruation beiträgt. Das Menstruieren ist demnach eine hormonelle Reaktion, die nicht isoliert gedacht wird, sondern in Kontrast zu einem anderen Ereignis des Zyklus, dem Eisprung, dem ›Höhepunkt‹ der Fruchtbarkeit. Das Wissen um den Eisprung hat den Menstruationsdiskurs in entscheidender Weise gewandelt, was nicht zuletzt zur Erfindung der Pille führte, die das Ende der natürlichen Menstruation bei Millionen von Frauen einleitete. Den Phasen des Zyklus werden im medizinischen Kontext Hierarchien unterlegt. Menstruation wird »als ein Zeichen von Produktionsausfall beschrieben« (Martin, 1989, 117): Der Eisprung ist »ungenutzt« geblieben, und in der Menstruation werden die Abfallprodukte möglich gewesener Fruchtbarkeit »entsorgt«. Der Eisprung wird nicht nur als Antipode zur Menstruation gesehen, sondern höher bewertet, weil es dabei um Reproduktion geht, und nicht um den ›Abfall‹ eines Produktionsversuches. Das ist insofern historisch bedeutsam, als der weibliche Zyklus, der erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wissenschaftlich entdeckt wurde, aus einer einseitig negativen Konnotation, wie die Bilder von der Menstruation belegen, immerhin hinaustritt und sein ›unsichtbares‹ Begleitphänomen eine außerordentliche Aufwertung erfährt. Mit der Entdeckung der Funktion 326 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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der Eierstöcke hat sich die Vorstellung über die Prozesse im Frauenkörper im Sinne einer Polarisierung allmählich gewandelt. War die Menstruation bis dahin kulturgeschichtlich negativ als »menstruelle Seuche«, als »Fluch« besetzt, bis hin zu den absurden Vorstellungen vom Menstruationsgift »Menotoxin« 8 zu Beginn des 20. Jahrhunderts, so erhielt sie nun einen positiven Gegenpol, der eine eigene kulturelle Besetzung zur Folge hatte und die Menstruation zwar in einen anderen, aber erneut negativen Kontext stellte. So schreiben Shuttle und Redgrove (1980, 28) zu Recht: »Selten … erfährt die Menstruation eine ähnliche Wertschätzung wie der Eisprung. Sie wird meist als der negative Pol, der Eisprung dagegen als der positive Pol betrachtet. Die Menstruation wird gewöhnlich als bloßer Ausscheidungsvorgang angesehen, als ein einfaches Abstreifen der Gebärmutterschleimhaut, weil das ›enttäuschte Ei‹ nicht befruchtet worden ist, oder aber als eine Art Nasenbluten der Gebärmutter; insgesamt ein Vorgang aus Blut und Schleim und sonst nichts. … Es ist eine kulturelle Entscheidung, den ›Wert des Eisprungs‹ und Kindergebärens über den der Menstruation zu stellen bzw. sie herabzuwürdigen, was sich in der Umgangssprache in Schimpfworten verdeutlicht.«

Einer solchen Wertschätzung mit der Darstellung des Eisprungs als Ziel, Zweck und Höhepunkt des Menstruationszyklus entspricht auch die neuerdings von Ärzten propagierte ›Abschaffung‹ oder ›Minimierung‹ der Menstruationen aufgrund der Auffassung, sie seien unnötig, solange eine Frau keine Kinder haben möchte. Hiermit erhält die immer noch – ob nun unterschwellig oder offen – vorhandene Vorstellung von der »menstruellen Seuche« wissenschaftlich untermauerte Nahrung. Diese Methode stellt in Aussicht, nun endlich vom »Fluch« des blutenden Leibes entbunden zu werden. In der Tat deuten wissenschaftliche Untersuchungen zur Menstruation, insbesondere zum PMS an, dass mehr als die Hälfte, wenn nicht sogar bis zu 90 % aller Frauen unter der Menstruation leiden, ohne im medizinischen Sinne krank zu sein. Seit den 1980er Jahren nimmt aller-

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Der Wiener Mediziner Schick ›entdeckte‹ das Menstruationsgift »Menotoxin« und legte ›wissenschaftliche Beweise‹ für dessen Existenz vor, z. B. forderte er menstruierende Frauen auf, Blumen oder Hefeteig zu berühren und stellte dann das Verwelken der Blumen und das NichtAufgehen des Teiges fest. Mit diesen Untersuchungen wollte Schick die im Volkglauben verankerten Vorstellungen von der ›toxischen‹ Atmosphäre der Menstruierenden untermauern. Erst 1958 erbringt Burger den Nachweis, dass es ein solches Menstruationsgift nicht gibt. Allerdings hat sich die Vorstellung vom giftigen weiblichen Blut auch dadurch nicht völlig ausräumen lassen, wie sich unschwer noch in unserer Zeit nachweisen lässt. Vgl. hierzu Hering/ Maierhof, 1991, 75 f.

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dings die Tendenz zu, den Symptomen des PMS doch den Status einer »genuinen Krankheit« oder einer organischen, vor allem hormonellen Fehlfunktion zu geben, die per Medikation zu heilen ist. Wenngleich auch psychologische Erklärungsmuster herangezogen werden, liegt der Schwerpunkt dieser Forschungen auf den »physiologischen Störungen«, weshalb Martin (1989, 143) zu dem Fazit kommt, eine deutliche Mehrheit aller Frauen sei nach diesen Untersuchungen »belastet mit einem physiologisch anormalen hormonalen Produktionszyklus«. Hier wären wir dann, in einem bekannten Wiederholungsmuster menschlicher Geschichte, erneut dort angelangt, die Frau in ihrer natürlichen Leiblichkeit als Kranke zu definieren, die durch eine allmächtige Medizin therapierbar ist. Menstruationsbeschwerden und -störungen werden in der Medizin und z. T. in der Psychologie intensiv diskutiert und scheinen in hohem Maße rätselhaft zu sein, insofern sie sich nicht in ein einheitliches Erklärungsmuster fügen und sowohl auf pharmakologische Therapie (vor allem mit synthetischen Hormonen) als auch auf psychosomatische Behandlungsmethoden (Entspannung, Hypnose, Sex) prinzipiell gut ansprechen. Martin weist nach, wie stark sich die Metaphern der Medizin über die Menstruation gesellschaftlich ausgewirkt haben und wie sehr sie die gesellschaftliche Integration der Frau in Arbeits- und Produktionsprozesse beeinflussen bzw. beeinträchtigen. Allerdings gäbe es, so Martin (1989, 153), einen Mangel an »anspruchsvollen soziologischen Untersuchungen« z. B. über den Zusammenhang von PMS und Arbeitsorganisation, was sie darauf zurückführt, »daß diejenigen, die über diese Frauen reden und mit ihnen zu tun haben, nicht sehen, wie die Frauen allein schon wegen ihrer geschlechtsspezifischen geistigen und körperlichen Voraussetzungen Probleme mit der Arbeitsorganisation in der industrialisierten Gesellschaft haben. Eher werden Frauen als schlechtfunktionierend und ihr Hormonhaushalt als unausgeglichen bezeichnet, als daß begriffen wird, wie notwendig eine Veränderung der Arbeits- und Gesellschaftsorganisation ist, die das Erforderlichsein einer konstanten Disziplin und ständigen maximalen Leistungsfähigkeit verringert.«

Sie fordert damit auf, die Hypothese zu verfolgen, ob nicht etwa die aus dem Patriarchat entwickelte Gesellschaft und ihre modernen Lebensbedingungen ›krank‹ seien und der Rhythmik weiblichen Lebens widerstreiten. Würde man den psychologischen Ursachen von Menstruationsstörungen und PMS nachgehen, also keine bloße Symptombeschreibung und -behandlung betreiben, könnte das PMS möglicherweise als »Zivilisationskrankheit« entlarvt werden, also als eine Reaktion darauf, dass weib328

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lichen Lebensrhythmen nicht angemessen begegnet wird. Hier wäre ferner zu fragen, ob PMS und Menstruationsstörungen nicht außerdem noch als Spiegel sozio-kulturell hervorgebrachter Bilder von der Weiblichkeit bzw. vom weiblichen Körper zu betrachten sind. Shuttle und Redgrove (1980, 43) stellen hier die wichtige Frage: »Beeinflußt die Haltung der Gesellschaft gegenüber der Menstruation eigentlich die Art und Weise, wie sich die Frau selbst empfindet?« Sie sprechen in Anlehnung an akustische Phänomene von einem Effekt und einer Spirale der »Übersteuerung« sowie einem Kreislauf, in dem mit einer »genealogischen Beharrlichkeit« (ebd., 44) das Problem der Menstruationsbeschwerden aufrechterhalten wird. Das erste Moment sei, dass die Frau sich subjektiv entsetzlich fühle, dass sie vor und während der Menstruation Symptome habe, die von Bauchschmerzen, Depression, Lethargie bis hin zu hysterischen Anfällen reichen und etwa auch »menstruell« bedingte Psychosen, Nymphomanie, Unfallanfälligkeit, Kleptomanie, Gewaltverbrechen, Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwäche etc. nach sich ziehen. Eine Untersuchung von Moos (1969) führt in einer »Typology of menstrual cycle symptoms« rund fünfzig Symptome an. Die Medizin begnügt sich mit der Feststellung dieser Symptome und ihrem Zusammenhang mit hormonellen Prozessen, »obwohl sie nicht erklären kann, warum das natürliche System sich so fehlverhalten sollte« (Shuttle/Redgrove, 1980, 50). Wenngleich auch von »psychogenen« Faktoren gesprochen werde, sei dieser Themenkomplex weitgehend unerforscht und werde »von allen großen Schulen der modernen Psychologie ausgeklammert«. Diese Ignoranz bezeichnen die Autoren als »charakteristischerweise männlich«. »Wenn eine Ursache der enormen seelischen und körperlichen Spannungen, denen die Frauen allmonatlich unterliegen, das letzte Moment im Kreislauf ist, d. h. das kollektive gesellschaftliche Tabu darüber, dann wird es dieses Kollektiv bevorzugen, nichts darüber zu wissen. Ebenso soll auch die Frau nichts darüber wissen, um zu verhindern, daß sie aus ihrer Situation ausbricht und selbstbestimmend wird. Ihr Befinden während des Zyklus kann so extreme Veränderungen wie einen unbewußten ›Persönlichkeitswechsel‹ einschließen. Was dieser Persönlichkeitswechsel jedoch bedeutet, oder warum er auftritt, wurde bis jetzt noch nicht untersucht.« (ebd.)

Das zweite Moment geht der Frage nach der Verbreitung von menstruellen Beschwerden und ihren Auswirkungen auf die soziale Umwelt nach. Katharina Dalton (1964) führt z. B. in ihrer Studie »The Premenstrual Syndrome« in drastischer Weise aus, wie sich das Paramenstruum auf das gesellschaftliche Leben auswirkt. Ihre statistischen Belege zeichnen die 329

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Menstruation und ihre Begleiterscheinungen als umfassende Plage. 9 So ist u. a. vom volkswirtschaftlichen Schaden die Rede, der dem Staat durch die Menstruation zugefügt werde. Die ›stigmatisierte‹ Frau leidet in diesen Modellen nicht nur an sich selbst, sondern zieht auch ihre Umgebung in Mitleidenschaft. Diese Auffassung hat eine lange Tradition und führt nach Shuttle und Redgrove (1980, 60) zum nächsten Moment, den »gesellschaftlichen Vergeltungsmaßnahmen« in Form von Tabus im Umgang mit Menstruierenden und Anweisungen für den Umgang der Menstruierenden mit sich selbst, wozu auch sexuelle Tabus gehören. Hier schließt sich der von den Autoren gezeichnete »Teufelskreis«, in dem die Frau sich in jedem Falle aufgrund ihrer Menstruation »unwohl« fühlt. Ein Ausweg bestünde, so die Autoren (1980, 44), darin, »das Problem ohne die althergebrachten Vorurteile zu betrachten«, und es gelingt ihnen in der Tat, eine andere, positive Sichtweise der Menstruation zu entwerfen, wenngleich sie der Gefahr, neue Mythen über die Frau und ihren Blut-Zyklus ins Leben zu rufen oder alte wiederzubeleben, nicht gänzlich standgehalten haben. Das mag bei einem so anders gearteten Erklärungsmodell, das die Menstruation letztlich als sexuelle Erfahrung deutet, über die es völlig neu zu reden gilt, wohlwollend erklärbar sein, stellt dieser Ansatz doch immerhin eine der wenigen konsequent durchgeführten alternativen Betrachtungsweisen dar. Obgleich die Tatsache von vielfältig verbreiteten Menstruationsbeschwerden nicht geleugnet und plausibel erklärt werden kann, fragen die Autoren einmal grundlegend danach, was Frauen in oder an ihrer Menstruation positiv erleben, bzw. ob die Veränderungen vor und während ihrer Periode nicht auch Potenziale freisetzen. Ihre These von einer positiven Kehrseite des Beschwerde-Pools bleibt aufgrund mangelnder Befragungen jedoch vorerst Spekulation: »Da bis jetzt niemand die ›Inspiration‹ als positive Kehrseite der im menstruellen Zyklus auftretenden Erkrankungen erforscht hat, können wir, so scheint es, unsere These, wonach die Menstruation analog zu den Geburtsschmerzen ein Moment der erotischen Erfahrung ist, nicht belegen. Doch wenden wir uns stärker den positiven als den negativen Vorgängen im weiblichen Rhythmus zu, dann entdecken wir allerdings etwas sehr Bemerkenswertes, was viele Frauen aus ihrer eigenen Erfahrung 9

»84 % aller von Frauen verübten Gewaltverbrechen geschahen im Prämenstruum; die meisten Vergewaltigungen passieren während der Menstruation der Opfer; im Prämenstruum und während der Menstruation steigt die Zahl der Selbstmorde … 5 Milliarden Dollar gehen in den USA jährlich durch menstruationsbedingtes Fernbleiben vom Arbeitsplatz verloren; 45 % von 276 Psychiatriepatientinnen wurden während ihres Paramentruums eingeliefert, von 185 wegen Depression aufgenommenen Patientinnen waren 47 % im Paramenstruum …« (Dalton, zit. nach Shuttle/Redgrove, 1980, 80 f.).

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werden bestätigen können: Es ist das weitverbreitete Phänomen eines Ansteigens des sexuellen Verlangens im Paramenstruum, die zyklische Potenz der Frau.« (ebd., 87)

Für die These von der Menstruation als sexueller Erfahrung stehen einige Forscher bereits Pate, u. a. der Psychosomatiker Georg Groddeck (1990) oder die Psychologin Paula Weideger (1975). Auch frühere Wissenschaftler, die vom Eisprung noch nichts wussten, haben das ansteigende sexuelle Verlangen der Frau kurz vor oder während der Menstruation anerkannt. Für den Sexualforscher Havelock Ellis und für Krafft-Ebing, Adler, Campbell u. a. stand die zyklische Triebstruktur der Frau mit einem Höhepunkt um die Menstruation herum außer Frage. Ellis sah in der Menstruation eine wichtige Zeit der erotischen Erfahrung, vor allem der schöpferischerotischen Erfahrungen und der erotischen Träume. Er wusste um die Menstruationsbeschwerden, vor allem bei jungen Mädchen, und hoffte, ihnen durch eine bessere Sexualerziehung abzuhelfen: »Die Zeit wird kommen, wo wir sogar die kalendarische Aufteilung des Jahres neu bestimmen werden. Der Mann wird weiterhin seine Wochen haben und die Frau die gleiche Anzahl an jährlichen Sabbat-Tagen erhalten, aber in Gruppen von vier aufeinanderfolgenden Tagen im Monat. Wenn die Frauen erst einmal anfangen, ihre wahren physiologischen Rechte durchzusetzen, dann werden sie hiermit beginnen, und sie werden stolz sein auf das, was ihnen Männer in einem Zeitalter der Ignoranz als Schande ausgelegt haben.« (Ellis, zit. nach Shuttle/Redgrove, 1980, 89)

Hier spricht Ellis ein Phänomen an, das mit der Zyklizität der Menstruation zusammenhängt, die dem in unserer Kultur maßgeblichen Kalender widerstreitet.10 In den zwölf Monaten unseres Kalenderjahrs haben fruchtbare Frauen in der Regel 13 Menstruationen, die Zeit für diese weibliche Leiberfahrung hat also eine andere Rhythmik als die offizielle KalenderZeit, weshalb Frauen subjektiv in zwei Zeitkreisen leben. Sie führen darüber häufig Buch, d. h. vermerken in Kalendern – meist verschlüsselt – ihre »Tage«, um ihre Lebensgestaltung anzupassen oder in der gynäkologischen

10

Zur Geschichte der Kalenderkultur ist zu bemerken, dass mutmaßliche Menstruationskalender zu den ältesten überlieferten Kalendern gehören (vgl. Schlehe, 1987, 10) und dass im christlichen Europa neben dem offiziellen julianischen Kalender häufig auch der dem Menstruationsrhythmus vergleichbare Mondkalender lebensweltliche Bedeutung hatte, vor allem bei Bauern. So führt das »Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens« ein Konglomerat von Vorschriften an, die sich auf das Leben von Mensch und Tier, die Besorgung von Haus und Hof, Garten und Feld, den Wald, die medizinische Versorgung, Einnahmen und Verdienst u. v. a. m. in Abhängigkeit vom Zu- und Abnehmen des Mondes beziehen. Für das magische Ritual- und Orakelwesen war und ist der Mondzyklus ebenso von Bedeutung wie für die Vorhersage und Bezeichnung von Wetterphänomenen. Vgl. Bächtold-Stäubli, 1987, Sp. 477–534.

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

Sprechstunde Auskunft zu geben. 11 Sie können nicht sagen »ich menstruiere immer etwa am Anfang der Monats«, weil sich der Zyklus stets nach hinten oder nach vorne verschiebt, im Vergleich zum offiziellen Kalender also immer in Bewegung ist. Dass der Menstruationszyklus den Mondphasen vergleichbar ist, hat früher anscheinend zu verschiedenen darauf abgestimmten Ritualen und Festen geführt. In der technischen Zivilisation dient der Mondzyklus kaum noch als Anhaltspunkt für die weibliche Leibes-Rhythmik, schon weil der Mond als Beleuchtungsquelle in der Nacht keine Bedeutung mehr hat. Die Hypothese, dass Frauen zu früheren Zeiten ihre Menstruationen gemeinsam, d. h. zum gleichen Zeitpunkt hatten, weshalb die Ausrichtung des Ritualwesens eine kollektive sein konnte, mag umstritten sein. Neuere Untersuchungen belegen aber, dass eine zeitliche Anpassung der Zyklen unter Frauen in Lebensverbänden, z. B. Wohngemeinschaften, mit positiver sozialer Grundstimmung wahrscheinlich ist. Bahnbrechend hierfür waren zu Beginn der 1970er Jahre Beobachtungen von Martha McClintock und anschließende Untersuchungen über die Wirkung von Lichtverhältnissen und sogenannter Pheromone. 12 Nimmt man nun mit Ellis u. a. an, Menstruieren bedeute eine intensive Phase erotischen Erlebens, ist es nur verständlich, dass Frauen in diesen Tagen ›Sabbat‹ wünschen würden, d. h. die Entbindung von Arbeitspflichten und die Freistellung zur Entspannung, zur Auslebung sexueller »Bedürfnisse«. Die Wochenenden würden freilich eine angemessene Erholungszeit nicht bieten können und manche Überspanntheit ließe sich so auf die mangelnde Regenerationsfähigkeit der Frau im herkömmlichen Wochenkalender zurückführen. Wenn man dann noch soziale Umstände hinzunimmt und bedenkt, dass Frauen in ihren Alltags- und Arbeitsbedingungen, vor allem als Mütter in einer patriarchalischen Familie, häufig nicht einmal das den Männern ›geheiligte‹ Wochenende hatten (und haben), mag die Vielfalt von ›Krankheiten‹ rund um die Menstruation, in denen sich möglicherweise ein Rest leiblicher Selbstbehauptung zeigt, vielleicht gar nicht mehr verwundern. Was für Ellis u. a. eine Tatsache weiblichen Leiberlebens war, dass rund um die Menstruation das sexuelle Verlangen signifikant ansteigt 13 – viele Forscher haben darin Parallelen zur Brunst der Tiere gesehen – hat sich 11

Gynäkologen erwarten, dass Frauen den ersten Tag ihrer letzten Menstruation benennen können. 12 Vgl. McClintock, 1971, 244–245. 13 Ellis geht darüber hinaus davon aus, dass auch in der Zyklusmitte Veränderungen im sexuellen Verlangen zu bemerken sind, benennt also zwei Wogen sexueller Höhepunkte in der zyklischen Triebstruktur.

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Menstruationen und Menstruationszyklen

heute radikal gewandelt. Die Entdeckung des Zusammenhangs zwischen Eisprung und Empfängnis, die um 1920 als gesichert galt, hat die ›sexuelle Woge‹ der Menstruation aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt, »so als habe die Erkenntnis, daß die Befruchtung gewöhnlich um die Zyklusmitte stattfindet, auch das sexuelle Verlangen verschoben« (Shuttle/Redgrove, 1980, 89). Heute nimmt man an, die Frau müsse qua Naturwesen so beschaffen sein, dass sie zwangsläufig Gattungsbedürfnissen nachkommt und den Höhepunkt sexuellen Verlangens ausschließlich dann erlebt, wenn sie fruchtbar ist. Untersuchungen, die diesbezüglich zu einem tendenziell verifizierenden Ergebnis kamen, wurden aus verschiedenen Gründen methodisch kritisiert, so dass Fluhmann zu dem Schluss kommt: »Von Havelock Ellis bis zu Kinsey ist den meisten Forschern der Nachweis eines Zusammenhangs zwischen der intensivierten sexuellen Empfänglichkeit und der Zeit des Eisprungs nicht gelungen. … Im Gegenteil scheint das sexuelle Interesse unmittelbar vor oder unmittelbar nach der Menstruation am größten zu sein.« 14 (Fluhmann, zit. nach Shuttle/Redgrove, 1980, 89 f.)

Dennoch gehört das wissenschaftliche Theorem über den Eisprung heute zum kollektiven Gedächtnis unserer Kultur und bedeutet ein wichtiges Instrument natürlicher Empfängnisverhütung. Es scheint sich auch bereits in weiblichen Leiberfahrungen zu inkorporieren bzw. weibliche Leiberfahrungen erscheinen durch es rückwirkend interpretierbar, denn heute reden Frauen schon von »ihrem« Eisprung und können »ihn« empfinden oder doch zumindest lernen, »ihn« zu spüren, wozu instrumentelle und manuelle Hilfsmittel (z. B. die sympto-thermale Methode) Anwendung finden. In den Internet-Foren zu Themen der Fertilität ist festzustellen, dass viele Frauen mit diesen Methoden eine Zeugung ›herstellen‹ oder zumindest begünstigen wollen, und daher ihren Eisprung und ihre Fruchtbarkeitsphase im Sinne von Terminen versprachlichen. Auch Frauen, die nach jahrelanger Einnahme hormoneller Kontrazeptiva auf einen natürlichen Menstruationszyklus warten, bedienen sich häufig dieser Methoden, um wieder zu einem Wahrnehmen menstrueller Vorgänge zu finden. Die einzige mir bekannte Erwähnung einer Eisprungerfahrung in der Belletristik findet sich bei Jong (1990, 77): »Alles, was in meinem Körper an Veränderungen vor sich geht, beschäftigt mich. Nichts bleibt unbemerkt. Zum Beispiel weiß ich offenbar genau, wann bei mir der Eisprung eintritt. In der zweiten Woche des Zyklus verspüre ich ein leises Ping und dann eine Art von kribbelndem Schmerz im Unterleib. Einige Tage später entdecke 14

Vgl. dazu auch weiter Shuttle/Redgrove, 1980, 88 ff.

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

ich öfter einen winzigen Blutfleck in der kleinen Gummimulde meines Pessars. Ein leuchtend roter Punkt, die einzig sichtbare Spur des Eies, aus dem ein Baby hätte werden können. Dann wallt Trauer in mir auf, Trauer, die sich fast nicht beschreiben läßt. Trauer und Erleichterung. Ist es wirklich besser, nicht geboren zu sein?«

Jong beschreibt eine Ich-Protagonistin, die sich mit den Veränderungen ihres Körpers eingehend befasst und um den Eintritt des Eisprungs weiß. Vor einem Jahrhundert hätten Frauen schwerlich solche Dinge beschreiben können, weil es den Diskurs um den Eisprung nicht gab. Sie mögen dennoch jene Empfindungen bis hin zum deutlichen Mittelschmerz15 gehabt haben, aber Jong ist in der Lage, ihnen ein medizinisches Konstrukt zuzuweisen, den Eisprung, eine Metapher der Medizin für das Abstoßen eines mit normalem Auge nicht sichtbaren Materieteilchens – jene Blase, die in den Visualisierungen der modernen Reproduktionstechnik von enormer Bedeutung ist. Vom leibphänomenologischen Standpunkt ist zu bezweifeln, ob dieses Ei als isoliertes, mikroskopisch kleines Teilchen jemals zu spüren ist. Was Jong beschreibt, ist auch gar nicht irgendein Ei, das sich aus den Ovarien, wie in der medizinischen Darstellung, gelöst hat und seinen Weg durch die »Eileiter-Schnüre« nimmt. Sie bemerkt ein »leises Ping«, und diese Rede ist akustisch gefärbt: »es« ist nicht stumm, es macht sich leise bemerkbar, wie ein verhaltener Paukenschlag, aber doch eben ein Ton, ein leises Vibrieren. Dieses Bild wird untermalt durch die Ausführungen vom »kribbelnden Schmerz im Unterleib«, also einer leiblichen Regung vorübergehender Engung, die sich aufdrängt, aber doch nicht unangenehm ist, wie ein stechender Schmerz, also eher diffundierenden, zerstreuenden, sich in die Weite ergießenden Charakter hat. Was Jong weiter beschreibt, steht in engem Zusammenhang mit der Metapher des Eisprungs in positiver Abhebung von der Metapher der Menstruation. Jongs Protagonistin findet häufig wenige Tage nach diesem leiblichen Spüren in ihrem Pessar einen »leuchtend roter Punkt« vor, den sie als das abgestoßene Ei bzw. dessen materiellen Referenten identifiziert. Dann erst, d. h. im Identifizieren dieses Punktes mit dem medizinischen Konstrukt des abgegangenen Eis, überfällt sie jene Trauer um das Ungeborene und zugleich Erleichterung darüber, nicht schwanger geworden zu sein, wobei die Trauer zu überwiegen scheint. Auch diese Erfahrung wäre für eine Frau vor einem Jahrhundert undenkbar gewesen, da sie nicht hätte wissen können, dass diese Blutspur, die Frauen wohl immer schon gelegentlich als Zeichen irgendeines körperlichen Vorgangs gesehen haben, 15

Gemeint ist eine mögliche, vom Eisprung hervorgerufene kurzzeitig schmerzhafte Bauchfellreizung.

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Menstruationen und Menstruationszyklen

ein nicht befruchtetes Ei ist, d. h. sie hätten niemals Wallungen der Trauer um ein nicht geborenes Kind empfunden beim Anblick eines roten Punktes in der Wäsche, der mit Sicherheit auch niemals »leuchtend« gewesen wäre – hätten sie es gewusst, wären sie vielleicht sogar froh gewesen, nicht schon wieder schwanger zu sein, weil es noch keine zuverlässigen Verhütungsmittel gab. Was immer Frauen ›da‹ spüren, wenn sie meinen, einen Eisprung zu erleben, es handelt sich um die rückwirkende, aus dem medizinischen Diskurs stammende Versprachlichung, wobei aufgrund fehlender Beschreibungen ähnlicher leiblicher Regungen in historischer Dimension unklar bleiben muss, ob es solche Empfindungen bereits vor der Entdeckung des Eisprungs gegeben hat oder ob sie ein Resultat des medizinischen Diskurses sind. Jedenfalls haben diese Empfindungen mit dem »Eisprung« einen »wissenschaftlichen« Referenten, der den Akzent weiblicher Sexualität verschoben hat. Menstruationen sind auch selbst zu Zeichen für nicht eingetretene Konzeption geworden. Eine Menstruation wird bei befürchteter Schwangerschaft gelegentlich ängstlich erwartet und dann mit Freude und Erleichterung aufgenommen oder sie ist mit Enttäuschung und Sorge über mögliche Unfruchtbarkeit verbunden, wenn ein Kinderwunsch besteht. Die Aufspaltung des Menstruationszyklus in fruchtbare und unfruchtbare Tage und deren Einbettung in eine wertende Hierarchie hat das Bild von der Menstruation als Abfallprodukt weiblicher Reproduktionsaktivität initiiert. Die Entwicklung moderner Hygieneartikel wie des Tampons oder der Depoteinlage für ›fortpflanzungsunwillige‹ Frauen drängen die Menstruation auch immer mehr aus dem Bereich der Sichtbaren heraus. Schon die Antibabypille, die den Eisprung verhindert, hat massiv den weiblichen Leib kolonisiert und sowohl das Erleben von Menstruationsals auch von Eisprungphasen völlig verändert. Erfahrungsberichte von Frauen mit den anfänglich noch hochdosierten Hormongaben handeln von Depressionen, mangelndem sexuellen Verlangen, von Unpässlichkeiten und vielen anderen unangenehmen leiblichen Zuständen, heben aber andererseits hervor, dass typische Menstruationsbeschwerden unter dieser Medikation gelindert werden. Ebnet also die Pille, die als Garant für die sexuelle Befreiung der Frau gefeiert wurde (und wird), die sexuellen Wogen und Schwankungen des weiblichen Zyklusses ein? Diese Frage kann nur individuell beantwortet werden, denn immerhin enthemmt die Gewissheit, mit großer Sicherheit nicht schwanger zu werden, das sexuelle Verlangen der Frau und hat die Pille ihren unbestrittenen positiven Effekt – vor allem in einer Gesellschaft, in der die Familiengründung nur für 335 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

bestimmte Altersgruppen und Lebenssituationen angedacht ist und ›unzeitgemäße‹ Schwangerschaft den sozialen Abstieg nach sich ziehen kann. In diesem Sinne hat auch die von der Medizin in Umlauf gebrachte Verharmlosung der Menstruation als ›Reproduktionsabfall‹ ihren positiven Effekt und hat gegenüber früheren Stigmatisierungen, insbesondere vom Christentum, zu einer neutraleren Haltung geführt. Doch damit wurde die Menstruation schließlich auch ›entzaubert‹ bzw. auf ein Abfallprodukt, einen Ausscheidungsvorgang reduziert und von den sexuellen Konnotationen früherer Darstellungen ›gereinigt‹. Es ist aber bemerkenswert, dass mit dieser Entzauberung der Menstruation keineswegs das jahrhundertealte sexuelle Tabu gebrochen wurde, ja möglicherweise erhält es durch die neueren Konnotationen sogar neue Nahrung. Die Frage, was eine Frau in diesen Prozessen und Traditionen des gendering überhaupt als Menstruation am eigenen Leib spürt, ist nur sehr bedingt phänomenologisch zu erfassen. Daher distanziere ich mich von der Vorstellung der Zyklizität weiblicher Sexualität, wie sie Shuttle und Redgrove in dem Modell annehmen, die Menstruation sei eine andere sexuelle Erfahrung als die Phase des Eisprungs, eine eher »von innen« zeugende als »von außen« empfangende. Was hier die phänomenale ›Natur‹ der Frau bzw. weibliche Sexualität ist – und nicht althergebrachter Mythos von der ›anderen‹ Seite – ist nicht einfach zu entscheiden. Frauen wachsen in ihren Leib unter Einfluss einer kulturellen Situation hinein, die körperliches Wissen weitergibt, Leiberfahrungen auslegt und das Erleben beeinflusst. Es muss also um die Frage gehen, was Frauen zu einer bestimmten Zeit an bestimmten Orten kultureller Prägung als Menstruation erleben, und da scheint heute die These von der Menstruation als lästige Begleiterscheinung weiblichen Seins, als ›Reproduktionsabfall‹ auch durchschnittliche Erfahrung zu sein, der dank hochentwickelter und je nach Anspruch kostspieliger Hygienemaßnahmen recht einfach zu begegnen ist. Nachdem die ersten Jahre nach der Menarche eine Gewöhnung an die blutige Ausscheidung mit sich gebracht und den praktischen Umgang mit ihr routiniert haben, könnte also an der Menstruation nichts weiter ungewöhnlich sein – so ist es aber vom subjektiven Standpunkt aus häufig nicht. Es gibt bedrückende Untersuchungen darüber, dass Frauen vor und während der Menstruation an z. T. sehr stark ausgeprägten leiblichen Spannungszuständen leiden, auch in Form von ganzleiblich ergreifenden Stimmungen, wobei sich der Regungsspielraum von leichten Verstimmungen, Müdigkeit, und einem Alles-schwer-nehmen über eine gewisse Labilität, Gereiztheit, Ängstlichkeit bis hin zu ausgesprochenem Gedrücktsein und schwerer Depression bewegt. Mit dem Verströmen des Blutes aus der 336 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Menstruationen und Menstruationszyklen

Enge des Leibes, weichen diese Stimmungen meist den konkret am Unterleib gespürten Spannungen. Die Menstruation hat gerade nicht den gleichen Stellenwert wie andere regelmäßige Ausscheidungen, z. B. Stuhl und Urin, sie bringt sich als weibliche Leiberfahrung allmonatlich in Erinnerung, wenn nicht Schwangerschaft davon ›befreit‹. Hier ist noch einmal der Unterschied zwischen generischen und weiblichen Ausscheidungen von Belang. Während wir am Lebensbeginn unseren Ausscheidungen gegenüber völlig passiv sind, erleben wir als Erwachsene nur noch kultivierte Versatzstücke ihres ursprünglichen Sich-Gebens. Das Kleinkind lernt in der Reinlichkeitserziehung das Erspüren des Harn- und Stuhldrangs und den Umgang mit den Intensitätsgraden dieses leiblichen Drängens. Bezüglich der Menstruation wird aber dem Mädchen schon bei oder im Vorfeld der Menarche gesagt, dass es sich um unverfügbares Ausscheiden handelt, das sich der willentlichen Kontrolle entzieht und das es ›nur‹ geschickt aufzufangen gilt. Von einem möglicherweise spürbaren Menstrualdrang, der u. U. dem Harn- und Stuhldrang analog gedacht werden könnte, weiß und erfährt es nichts, und insofern wird die Menstruation als etwas durch und durch Pathisches konstruiert, dem die Frau sich ausgeliefert fühlt. So sprechen Frauen auch selten von ihrem »Menstruieren« als einem Vorgang, an dem sie aktiv beteiligt sind. Viel häufiger ist vom »Haben« der »Tage«, »Periode« etc. die Rede, also einem erlittenen Geschehen, wobei sich diese Rede natürlich auch auf die Dauer der Blutung bezieht. Frauen nehmen aber durchaus leibliche Signifikanten wahr, die ein bevorstehendes Menstruieren anzeigen. Die wenigsten Frauen würden aber, so Zinn-Thomas (1997, 180), diese Symptome »dem Prämenstruellen Syndrom (PMS) zuordnen«. Vielmehr werden Regungen beschrieben, die zwar nicht so harmlos sind, dass sie kaum ins Spüren treten, aber auch nicht so dramatisch, dass man ihnen den Status einer Krankheit beimessen würde. So heißt es z. B. bei ZinnThomas (ebd.): »Ja, so ein paar Tage davor kriege ich das dann schon mit. Ja, da ist im Unterleib dann so ein leichtes Bröckeln und Grummeln. Manchmal denke ich dann, so, jetzt sind die Hormone wieder oben angekommen und sagen dir das.«

Abgesehen von dem für unsere Zeit typischen Gebrauch des endokrinologischen Vokabulars zur Erklärung des Gespürten, spricht diese Frau deutlich von Regungen, die ihr die Menses ankündigen, und viele Frauen kennen solche leiblichen Phänomene. Sie haben mitunter leichte Leib- oder Rückenschmerzen, ein bestimmtes »Gefühl« im Bauch, »ein bißchen dieses Spannungs- oder Völlegefühl. Manchmal Verdauungsprobleme.« (Int. 337

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

28, ebd., 179), »manchmal ein bißchen Bauchschmerzen« (Int. 27, ebd., 179), »ab und zu ein Ziehen im Bauch« (Int. 3, ebd., 180) etc., schließlich erfahren sie die Nässe, wenn der Blutfluss in Gang gesetzt ist. Erlebnisberichte aus Selbsterfahrungsgruppen, Beobachtungen am Körper sowie ein Hineinspüren in den Leib zeigen, dass ein gewisses Maß an Kultivierung der menstruellen Prozesse möglich ist. Anscheinend kann diese Verfügbarkeit recht weit gehen, wenn Frauen bei Anwendung entsprechender Praxen der Leibbemeisterung nachgesagt wird, sie seien in der Lage, ihre Menstruation exakt vorherzuspüren, den Blutfluss qua Kompression zu steuern und beispielsweise zu verkürzen, wozu u. U. auch ein bewusstes Aussetzen gehören kann. 16 Über einen spürbaren Menstrualdrang, über jenes alltägliche Wissen um die leiblichen Regungen einer herannahenden Menstruation, und über eine mögliche Kultivierung des Blutflusses gibt es jedoch keine Forschungen. Die Beschreibungen junger Mädchen aus den ersten Jahren des Menstruierens handeln häufig von Schmerzen, die sich meist ›mit den Jahren‹ legen, wenn sie sich nicht im Prämenstruellen Syndrom verfestigen, wofür die Schulmedizin die Erklärung gibt, der Hormonhaushalt müsse sich erst noch einrichten. Ähnliche Äußerungen finden sich hinsichtlich der nächtlichen, unfreiwilligen Pollutionen männlicher Jugendlicher. Die sexuellen Interpretationsmuster, die den Pollutionen unterlegt werden, suggerieren den Jugendlichen, sie könnten die Sache ›selbst in die Hand nehmen‹ sprich durch sexuelle Betätigung, während die weiblichen Jugendlichen lernen, sich mit ihren Schmerzen zu arrangieren, sie jedenfalls keineswegs selbst ›in die Hand zu nehmen‹, es sei denn durch ein Schmerzmittel. Dabei vermag gerade die lustvolle Spannung einer sexuellen Betätigung prämenstruelle und menstruelle Beschwerden vom Schmerz über Übelkeit bis hin zu krampfartigen Verspannungen zu lindern. Das Menstruieren wird aber, im Gegensatz zum Ejakulieren, nicht als sexuelle Aktivität angesehen, auch wenn es Interpretationen im Bereich der Fruchtbarkeit erhält. Diese geschlechtsspezifischen Diskursformationen, die den männlichen Vertretern im Jugendalter andere Umgangsformen mit ihrem Leib einschreiben als den weiblichen, sind von hoher Brisanz für das Selbstverständnis der Jugendlichen als Geschlechtswesen. Der Schmerz, als Drang des »Weg!«, mag eine die ersten Menstruationen begleitende leibliche Regung sein und kann es später immer bleiben. Neben Schmerzmitteln findet sich in unserer Kultur aber kaum ein alternatives Modell zum Umgang mit diesem Drang, außer dem Abtöten oder 16

Vgl. hierzu Rodewald, 1983, deren Methodologie weitgehend auf Psychokinese beruht.

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Menstruationen und Menstruationszyklen

Verdrängen – wenn man nicht in esoterisches Fahrwasser geraten will. Zwar haben Feminismus und Frauengesundheitsbewegung dazu beigetragen, dass zumindest die Menarche heute in manchen Familien gefeiert wird, für alle weiteren Menstruationen gibt es jedoch keine wie auch immer geartete, auf eine Gruppe bezogene Kultivierung oder Ritualisierung. Die dem kollektiven Gedächtnis eingeschriebene Vorstellung über die Menstruation als ›Reproduktionsabfall‹ lässt wohl auch kaum eine positive Einstellung zu. Selbst die Fruchtbarkeit, auf die der weibliche Menstruationszyklus angelegt ist, liefert heute, im Zeitalter von Überbevölkerung und Massenverhütungsmitteln, keinen Grund mehr für stolze Gefühle. Im Gegenteil: Wenn die ›Gefahr‹ einer unbeabsichtigten Befruchtung bestand, wird die Menstruation sicher häufig mit Erleichterung aufgenommen. Doch was sollte an einem ›Ausscheidungsvorgang‹ zu feiern sein? Das Wie der individuellen Begegnung mit den Menstruationen bleibt eine Frage des persönlichen Arrangements und auch des privaten Luxus, weshalb Feministinnen immer wieder die hohen Kosten von Binden und Tampons bzw. die Erhebung der Mehrwertsteuer auf Monatshygieneartikel anprangern. Sich mit den Menstruationen zu arrangieren, bedeutet für eine Mehrzahl von Frauen, sich mit Schmerzen zu arrangieren, mit diesem Wühlen und Drängen, diesem Ziehen und Krampfen des Unterleibes, und dabei mehr oder weniger passive Teilnehmerin, stumme Beobachterin, Leidende zu sein. An Schmerzen kann man sich tendenziell gewöhnen, und es scheint, dass die Entwicklungsaufgabe des Mädchens qua Diskurs genau darin zu bestehen hat. Die Vorstellung, einem Mädchen oder einer Frau bei schmerzhaftem Menstruieren sexuelle Betätigung anzuraten, wäre in unserer Kultur wohl gewöhnungsbedürftig, würde aber möglicherweise die tradierte Ausschließlichkeit von Menstruation und praktizierter Sexualität allmählich aufbrechen. Im Zuge der Gewöhnung an den allmonatlichen Zustand des »Unwohl-Seins« scheint sich ein diffuser Symptompool leiblicher Regungen zu entwickeln, dem mal mehr, mal weniger mit Schmerzmitteln, der Pille oder gar Psychopharmaka begegnet wird. So sehen sich Frauen einer leiblichen Phänomenalität gegenüber, die sich einerseits klar als ›Blut in der Hose‹ zeigt, die aber andererseits in komplexe Weisen leiblichen Spürens gestellt ist. Nach einem Jahrzehnt des Menstruierens ohne Schwangerschaft, wie in unserer Kultur üblich, da Familiengründungen immer später stattfinden, mag man glauben, dass sich eine gewisse Eindeutigkeit der leiblichen Rhythmik einspielen würde, und möglicherweise zeigt sich in dem angeblich so weit verbreiteten PMS eine solche Eindeutigkeit, aber Fakt ist, dass nicht jede Menstruation in gleicher Weise erlebt wird, dass 339 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

es im individuellen Zyklus Unterschiede geben kann. Mal wird in der prämenstruellen Phase über Schmerzen, Unwohlsein, Schläfrigkeit geklagt, die sich mitunter stark in den Vordergrund drängen, mal wird die Menstruation nur als Nässe in der Hose bemerkt, oder aber beim Blick in die Hose überrascht registriert, ein anderes Mal gibt es vielleicht leibliche Regungen, die darauf schließen lassen könnten, es müsse bald soweit sein, aber ›es‹ zeigt sich nicht, kommt dann später als erwartet, dann aber vielleicht ›geballt‹ oder aber kaum merklich. Viele Frauen erleben auch Veränderungen ihrer lebensweltlichen Belange im Spiegel ihres Menstruierens, besonders auffällig bei Klimawechseln, emotionalen Schwankungen, persönlichen Krisen, Krankheiten oder Mangelzuständen. Der Menstruationszyklus ist eben doch nicht so eindeutig rhythmisch wie der Mondzyklus, sondern scheint sich auch diesem ›Kalender‹ nicht recht einfügen zu wollen. Ebenso wenig ist ein exakt definierter Termin zu ermitteln, dem zufolge sich nach einer Geburt die Menses wieder einstellt. Zwar gibt es normative Vorgaben (sechs Wochen Lochien plus ein Monat zur Entfaltung des Zyklus), und Frauen menstruieren eindeutig nach einer Rhythmik, aber diese unterliegt individuellen Schwankungen. So tritt der medizinisch normierte 28- bis 29-Tage-Zyklus bei kaum einer Frau jemals in dieser exakten Rhythmik auf, und es scheint schon fast als Krankheit diagnostiziert zu werden, dass man nach der Menstruation nicht die Uhr stellen kann. Die Menstruation drängt sich mit sichtbaren und unsichtbaren Zeichen auf, sie meldet sich u. U. durch leibliche Regungen an, sie ist durch Spüren zu erahnen, wenngleich das meist nicht so weit geht, dass schon der erste Blutstropfen bemerkt wird. Das Spektrum verschiedener Regungen und gerade die Vagheit des ›ersten Tropfens‹ veranlasst viele Frauen zur Auseinandersetzung mit den Gezeiten ihres Leibes. Der Menstruationskalender ermöglicht eine grobe Orientierung, die Schwankungen der Aufwachtemperatur und der Konsistenz des Genitalsekrets liefern wichtige Indikatoren für die Zuweisung einzelner Phasen im Zyklus. Das Menstruieren muss nicht im Sinne eines vollständigen Ausgeliefert-Seins erfahren werden, es kann bewusst angeeignet, in gewissem Umfang kultiviert werden. Allerdings gibt es hierfür keine tradierten Überlieferungen und scheint es insgesamt wenig Interesse an einem solchen, am eigenen Leibe orientierten Umgang mit dem Menstruieren zu geben; vielmehr legen Millionen von Frauen ihr menstruelles Schicksal in die Hände von Medizinern und interpretieren ihre originären Menstruationen selbstverachtend.

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Menstruationen und Menstruationszyklen

9.3 Das Menstruationssubstitut Der Kultivierung menstrueller Prozesse durch leibliches Spüren, Beobachtungen, Untersuchungen am Körper etc. steht die Möglichkeit der modernen Gynäkologie gegenüber, durch Einnahme synthetischer Hormone die Menstruationen mit ihren diffusen Begleiterscheinungen ›auszuschalten‹. Das durch Hormongaben herbeigeführte Substitut, eine termingerecht auftretende Hormonabbruchblutung, ist keine originäre Menstruation mehr: Das Blut ist von anderer Beschaffenheit, geringerer Menge und anderem Geruch; die Dauer der Blutung ist meist kürzer; begleitende oder prämenstruelle Regungen an den Leibesinseln der Brüste und des Unterleibs fallen weniger dramatisch aus, können völlig fernbleiben; Veränderungen im vaginalen Feuchtigkeitsmilieu fallen kaum mehr ins Gewicht und auch andere zyklusbedingte Regungen im individuellen Leiberleben, z. B. die Erfahrung des ›Eisprungs‹, werden nivelliert. Mit dem hormonellen Eingriff gewinnt die Frau weitreichende, von außen herangeführte Autorität über ihr genitales Bluten, das kaum mehr als »menstruelles« Geschehen mit individuellen Komponenten wie beispielsweise zeitlichen Schwankungen und Verschiebungen zu bezeichnen ist. Der Zeitzyklus der Hormonabbruchblutung basiert auf einem konstruierten »Pillen-Kalender« (in der Regel 21 Tage Medikation plus sieben Tage ohne Medikation, in denen die Abbruchblutung erfolgt, dann wieder 21 Tage Medikation etc.) und ist damit wesentlich rigider als der julianische Kalender, der noch auf kosmische Gegebenheiten eingestellt ist. Die Abbruchblutung erfolgt durch Entzug der Medikation; die Pille verleiht somit dem Körper die Funktionalität eines Automaten und gerade dieser Aspekt wird von vielen Frauen geschätzt, weil er das Menstruieren bzw. das, was davon übrig bleibt, aus der vagen Unverfügbarkeit in terminierbare Voraussehbarkeit verwandelt und weibliches Existieren, um nicht zu sagen Funktionieren, im technisierten, mehr oder weniger patriarchalisch geprägten Lebens- und Arbeitsalltag erleichtert. Die Hauptwirkungen der Pille, neben der Empfängnisverhütung die gleichbleibende Rhythmisierung eines Blut-Zyklus und die Nivellierung leiblicher Regungen wie z. B. Linderung von Menstruationsbeschwerden, sind aber von einer Reihe z. T. erheblicher Nach- und Nebenwirkungen begleitet, die nicht nur den Körper, sondern auch veränderte Stimmungen, also Einflüsse auf die leibliche Integrität betreffen können. Neben den naturwissenschaftlich messbaren Nebenwirkungen, z. B. auf das Herz-Kreislauf-System, das zentrale Nervensystem, die Atmungsorgane, den Magen-Darm-Trakt, die Knochen, die Haut etc. werden so341 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

genannte psychische Auswirkungen der Kontrazeptiva häufig in einem eher diffusen Sinne angeführt. 17 Dabei wird meist übersehen, dass bereits die Pilleneinnahme selbst – unabhängig von körperlichen und psychischen Nebenwirkungen – ›psychische‹ Auswirkungen bedingt. Hier handelt es sich um Entscheidungs-, Überantwortungs- und Disziplinierungsprozesse, die eine Frau in eminenter Weise vor ihr Leibesschicksal, die Fruchtbarkeit, stellt. Bevor überhaupt mit einer hormonellen Kontrazeption begonnen werden kann, muss medizinisches Fachpersonal konsultiert werden, muss eine gynäkologische Untersuchung erfolgen, muss es eine Entscheidung gegen die Empfängnisbereitschaft geben, muss die Pille erworben werden. Ihre Einnahme erfordert regelmäßige gynäkologische Überwachung und eventuell auch verschiedene mehr oder weniger unangenehme und verhütungssichere Testphasen, bis das richtige Präparat gefunden ist, das z. B. ohne Schmier- oder Zwischenblutungen wirkt. Zu den Disziplinierungsmaßnahmen gehört die Pünktlichkeit der Einnahme und die Rücksichtnahme auf Prozesse wie Erbrechen und Durchfall sowie andere Medikationen, z. B. Antibiotika, die den Verhütungsschutz beeinträchtigen können und daher zusätzliche Maßnahmen aufnötigen; für operative Eingriffe ist ein Absetzen der Pille meist unabdingbar. Die Konfrontation mit der eigenen Fruchtbarkeit in medizinischen Kontexten kulminiert in dem Griff zur Pille, zur mitgeführten oder zu Hause bereitliegenden Tablettenpackung, und in der Handlung, sich eine – wohlweislich sehr klein gestaltete – Tablette einzuverleiben, eine Handlung, die üblicherweise nur bei Krankheit oder Schmerz vollzogen wird. Die Pilleneinnahme geschieht häufig im Verborgenen, wobei manchmal auf die Zufuhr von Wasser verzichtet wird, um das Geschehen so unauffällig wie möglich zu gestalten. 18 Es wird eine Tablette eingenommen, um die weibliche Fruchtbarkeit – eine ›Krankheit‹ ? – in absehbaren Zeiträumen per se zu verhindern; die Spontaneität eines Kinderwunsches wird dadurch praktisch ausgeschlossen, wenngleich es bei Vergessen oder unregelmäßiger Einnahme zu Schwangerschaften kommen kann – nicht ohne Risiken. Diese Aspekte der Pilleneinnahme zeigen, wie sehr die hormonelle Verhütung in den Alltag eingreift, und zwar unabhängig vom Ausüben sexueller Praktiken, weshalb von einem Konglomerat allgemeiner ›psychischer‹ Auswirkungen auszugehen ist, das ich aber zunächst einmal neutral ver17

Vgl. Guillebaud, 1992, 99–190; The Boston Women’s Health Book Collective, 1981, 395– 427. 18 Hier zeigt sich eine besondere Ambivalenz, die fragen lässt, vor wem die Pilleneinnahme eigentlich verborgen werden soll, vor Anderen oder vor sich selbst?

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Menstruationen und Menstruationszyklen

standen wissen möchte, da der hormonellen Kontrazeption auch Befreiungspotenziale für das weibliche Existieren zugeschrieben werden können. Wir wissen aus dem medizinischen Modell der Endokrinologie, dass die Verhütungsfunktion der Pille durch die Vorspiegelung ›falscher Tatsachen‹ herbeigeführt wird: Dem Körper wird vorgetäuscht, er sei im Zustand der Schwangerschaft, weshalb er den Eisprung nicht mehr auslöst – aber funktioniert diese Täuschung wirklich, d. h. fühlen sich Frauen schwanger und welche Konsequenzen hat dies? Bei der Diskussion verschiedener Verhütungspraktiken heißt es dazu etwa bei Prima (2002, 114 f.): »Nun, könntet ihr denken, das ist doch alles Schnee von gestern, heute gibt es ja die Pille, und Frauen können tun und lassen, was sie wollen, sind so frei wie die Männer, und so weiter und so fort. Die Pille, die Pille, die Pille! Ich kann es nicht mehr hören, dieses Gerede, diese Lobeshymnen. Sie macht euch dick, das macht die Pille. Sie macht euch hungrig. Sie spannt eure Brüste, verursacht morgens Übelkeit, verurteilt euch zu dem, was ihr vermeiden wollte, nämlich zum Dauerzustand der Frühschwangerschaft; gedopt und immer kurz davor, zu kotzen oder in Tränen auszubrechen. Und – die Krone der Ironie – ihr habt, trotz aller sexuellen Freiheiten, viel weniger Lust zum Vögeln, weil die Pille eure Lust dämpft.«

Prima spricht einerseits körperliche Wirkungen (Gewichtszunahme, Hunger, Spannen in den Brüsten, Übelkeit) an, andererseits sogenannte psychische Wirkungen (emotionale Instabilität: erhöhte Bereitschaft zum Weinen, sexuelle Anästhesie). Der Zustand der Frühschwangerschaft wird aber, wenn er auf natürliche Weise hervorgerufen wird, nicht unbedingt in der von ihr angesprochenen Weise empfunden; er kann völlig unbemerkt bleiben, so dass diese Parallelisierung in ihrer Pauschalisierung sicher nicht zutrifft bzw. von Erwartungshaltungen abhängt. Ähnlich verhält es sich mit der angedeuteten, einem verbreiteten Mythos verpflichteten Vermutung, dass ›natürlich‹ Schwangere weniger sexuell aktiv seien als NichtSchwangere – häufig wird gerade das Gegenteil festgestellt. Mangelnde sexuelle Lust unter Einnahme der Pille hängt u. U. gar nicht mit der medikamentösen Vorspiegelung einer Schwangerschaft zusammen, möglicherweise aber mit den Veränderungen, die der Körper durch Zuführung synthetischer Hormone durchläuft und die z. B. auch Zwischenblutungen auslösen. Auch wenn die Medikation selbst ohne Begleiterscheinungen verläuft, können sich psychische Nebenwirkungen auf viel subtilere Weise und auf ganz anderen Ebenen äußern. Psychische Auswirkungen im engeren Sinne, die ebenso gemischt mit dem bereits Geschilderten auftreten können, entziehen sich einem eindeu343

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tigen Klassifikationsschema, was nicht weiter verwundert, da es sich um subjektive Tatsachen handelt, die von komplexen Parametern abhängen. Zu den häufigsten psychischen Begleiterscheinungen zählen depressive Verstimmungen und die Beeinträchtigung der Libido, also das mangelnde sexuelle Interesse. Mit den Positionen von Ellis oder Shuttle und Redgrove wären diese Begleiterscheinungen einfach zu erklären: Mit der Unterdrückung der natürlichen Menstruation als sexuell intensive Phase des weiblichen Zyklusses würde das sexuelle Empfinden verkümmern. Diese Erklärung würde sogar dann Stand halten, wenn man die Phase des Eisprungs – der Brunst der Tiere entsprechend – als diejenige höchster sexueller Aktivität betrachtet, denn auch der Eisprung wird ja durch Kontrazeptiva unterdrückt. Depressive Verstimmungen könnten dann eine Folge des Verlustes des sexuellen Interesses sein. Ein solches Erklärungsmodell kippt aber in dem Moment, wo ich den Befreiungsschlag der Pille und deren Einfluss auf die weibliche Sexualität außer acht lasse, denn es steht außer Frage, dass mit der Pille als bis heute sicherste Verhütungsmethode die Angst vor Schwangerschaft weitgehend abgelegt werden kann. Das gewusste medizinische Faktum ›temporäre Unfruchtbarkeit‹ entfesselt zwar noch kein sexuelles Verlangen, wohl aber hat das Mehr an Selbstbestimmung und die damit einhergehende Veränderung des Selbstbildes zu jener Wandlung im sexuellen Selbstverständnis der Frau beigetragen. Als weiterer Aspekt gegen ein zu eingleisiges Interpretationsmodell in Bezug auf die psychischen Veränderungen unter Einnahme hormoneller Kontrazeptiva ist die Tatsache ins Feld zu führen, dass Frauen mit stark ausgeprägtem PMS häufig positiv auf diese Medikation reagieren, also eher nicht mehr unter depressiven Verstimmungen o. ä. leiden. Mit diesem Abwägen verschiedener Erklärungsmodelle sollen die häufig subjektiv festgestellten Veränderungen von Stimmungen, Gefühlen und leiblichen Regungen unter dem Einfluss der Pille jedoch nicht geleugnet, sondern in einen weiteren Zusammenhang gestellt werden. So manche psychische Veränderung beruht u. U. gar nicht auf deren hormoneller Wirkung, sondern auf mannigfachen situativen Bedingungen (z. B. Dauer der Einnahme, Kinderwunschkontroversen mit dem Partner, Disziplinierung durch Medikation, Erinnerung an die Sexualität in dem außersexuellen Kontext der Einnahme etc.) oder aber auf der Tatsache, dass ein Medikament eingenommen wird, das die Fruchtbarkeit, jene Potenz des weiblichen Leibes, unterdrückt. Das Fehlen umfangreicher Erhebungen und relevanter Forschungsliteratur zu diesen Veränderungen ist symptomatisch für den durchweg positiv konnotierten Diskurs um die Pille. Die leiblichen Auswirkungen bei Einnahme von Kontrazeptiva kön344 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Menstruationen und Menstruationszyklen

nen allgemein als eine Veränderung, wenn nicht gar ein ›Verlust‹ leiblichen Spürens und leiblicher Regungen bezeichnet werden, ein ›Verlust‹, der individuell verschieden erlebt und durchaus als solcher bewusst angestrebt wird. In unsere technisierte, leistungsorientierte Zeitrhythmik passt eine termingerechte Substitutionsblutung von geringer Menge, gleichbleibender Länge und undramatischen Begleiterscheinungen viel besser als eine relativ ungewiss eintretende, hin und wieder schwankende, von klimatischen, emotionalen und gesundheitlichen Aspekten beeinflusste natürliche Menstruation mit individueller Rhythmik. Dass es heute Präparate gibt, welche die Menstruation auf eine Rhythmik von vier bis fünf Mal jährlich reduzieren, wird denn auch von einem Teil der weiblichen Bevölkerung begrüßt, weil hierin eine Erleichterung für die weibliche Existenz in unserer Lebenswelt gesehen wird. In einer alternativen Position zu dieser Medikalisierung sollte aber bedacht werden, dass eine andere Diskursausrichtung zur Menstruation sowie eine veränderte Sozialisation von Mädchen im Menarchealter dazu beitragen könnten, die Menstruation von ihrem neuerlichen Stigma als lästiger, störender Reproduktionsabfall zu befreien. Beauvoir (1970, 677) hat solche Aspekte schon im Blick gehabt: »Ich habe schon gesagt, wie viel leichter ihr [der jungen Frau, UG] ihre Pubertät fiele, wenn sie diese wie der Junge in Richtung auf eine freie Zukunft als Erwachsene überschritte. Die Menstruation schreckt sie nur deshalb so sehr, weil sie einen brutalen Rückfall in ihre Weiblichkeit darstellt. Sie würde auch viel ruhiger ihre junge Erotik durchleben, wenn sie nicht Verwirrung und Abscheu vor ihrem gesamten Schicksal empfände. Eine zusammenhängende geschlechtliche Aufklärung würde ihr wesentlich helfen, diese Krise zu überwinden. … Die Psychoanalyse hat die Eltern etwas aufgeklärt. Und doch sind die heutigen Bedingungen, unter denen sich die sexuelle Gestaltung und Einführung der Frau vollzieht, derart jämmerlich, daß kein einziger der Einwände Geltung haben kann, die gegen die Idee einer gründlichen Wandlung gemacht werden. Es geht nicht darum, in ihr die Zufälligkeiten und das Elend der menschlichen Seinsbedingungen aus der Welt zu schaffen, wohl aber darum, ihr die Mittel zu ihrer Überschreitung an die Hand zu geben.«

Die heute mögliche »Überschreitung« mittels hormoneller Präparate ist freilich eine Variante, unter deren Anwendung nicht nur mit erfreulichen Wirkungen zu rechnen ist. So ist noch auf die meist heruntergespielten Schwierigkeiten hinzuweisen, die Frauen nach dem Absetzen der Pille damit haben können, ihren natürlichen Menstruationszyklus zurückzugewinnen. Wie nachhaltig der Einfluss von Kontrazeptiva ist, zeigt sich schon daran, dass selbst zur Pille positiv eingestellte Gynäkologen davon ausgehen, dass sich der normale Zyklus frühestens nach sechs Wochen, 345

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

spätestens aber erst nach sechs Monaten wieder einstellt. Eine solche Übergangsfrist kann viele Folgen für das Erleben, die leibliche Integrität und die Kontinuität einer sexuellen Beziehung mit verändertem Verhütungsschutz haben. Ist gar ein Kinderwunsch im Spiel, wurde früher angeraten, bis zu drei Monate zu warten, d. h. anders zu verhüten, bevor man eine Empfängnis ›gestattet‹. Zwar wird heute eine solche Frist nicht mehr erwartet, Gynäkologen sehen es aber gerne, wenn Frauen »eine andere Verhütungsmethode« verwenden, »bis sie mindestens eine natürliche Menstruationsblutung gehabt haben« (Guillebaud, 1992, 92).

9.4 Menstruation und sexuelle Praxis Die Tabuisierung der Sexualität während des Menstruierens hat eine lange Geschichte und wurde vor allem von der christlichen Kirche mit entsprechenden Vorschriften belegt. Noch heute ist die Menstruation das wichtigste Argument des Vatikans gegen ein weibliches Priester- und Papsttum. Vergleichbare Tabus sind in vielen Kulturen auszumachen. Menstruieren und Menstruationsblut waren und sind nach wie vor, wenn auch heute anders konnotiert, von chaotisch-mannigfaltigen Atmosphären umgeben, die sich auf ein Konglomerat von Schmutz, Geruch, Ekel und Verderben beziehen. Auch die heute übliche, dem medizinischen Körpermodell verpflichtete Vorstellung von der Menstruation als ›Reproduktionsabfall‹ bedient frühere, allerdings stärker emotional geprägte Bilder von der ›menstruellen Seuche‹. In diesem Interpretationskontext ist es wenig verwunderlich, dass Frauen ihrem Menstruationsblut gegenüber eine ambivalente, häufig negative und nur selten neutrale oder positive Einstellung entwickeln und demgemäss nicht nur Anstrengungen unternehmen, das Blut möglichst nicht sichtbar werden zu lassen, vor sich selbst und vor Anderen, sondern auch Situationen zu vermeiden, in denen es frei fließt. Eine solche Situation ist der Geschlechtsverkehr oder die sexuelle Betätigung bei unbekleidetem und hygienisch unversorgtem weiblichen Genital während der Menstruation. Manche Frauen treten ihrer Lust während des Menstruierens mittlerweile emanzipiert gegenüber. Sie lassen sie zu und fordern sexuelle Betätigung mit ihren Partnern ein. Dennoch handelt es sich in unserer von übertriebener Hygiene geprägten Welt um eine durchaus ›problematische‹ Situation. Gestatte ich meinem Blut während der sexuellen Praxis frei zu fließen, bezieht sich diese ›Erlaubnis‹ auch zwangsläufig darauf, dass das Blut mich selbst, meine Partner sowie die unmittelbare Umgebung einnäs346 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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sen und dunkelrot einfärben, dass es Spuren, Flecken hinterlassen und deutlich sichtbar werden ›darf‹. Hier geht in der Regel eine Verständigung zwischen den Sexualpartnern voran, die nicht immer konfliktfrei ist, denn manche Männer lehnen den Koitus oder überhaupt sexuelle Praxis während der Menstruation ab. Auch die praktischen Konsequenzen bezüglich des zu wählenden Ortes für die sexuelle Aktivität sind nicht unerheblich. Frauen haben zwar Erfahrung mit der Intensität des Blutflusses, dem Reinigen blutbefleckter Untergründe etc. und wissen die Umgebung entsprechend zu gestalten. Es dürfte aber klar sein, dass Vorgänge wie Absprachen und praktische Vorbereitungen vor allem bei jungen Beziehungen einer sexuellen Situation ihre Spontaneität nehmen und kontraproduktiv wirken kann, was die Problematik zuspitzt. Bezeichnenderweise erhalten junge Mädchen bei der Menarche dazu meist keine Erläuterungen, da Menstruationen nicht mit Sexualität in Zusammenhang gestellt werden. Die Fruchtbarkeit, die mit der Menarche auf das Mädchen zukommt, bedeutet ohnehin schon, dass die Sexualität mit Maßnahmen umgeben wird, die sich insbesondere auf die Empfängnisverhütung und den Schutz vor AIDS beziehen. Es gehört zu den Tabuisierungsstrategien unserer Kultur, dass solche Situationen in der Darstellung der Sexualität in den Medien geflissentlich ausgeklammert werden, wenngleich gerade im Zeitalter von AIDS eine Trendwende eingeleitet wurde. Diese betrifft aber nicht die Sexualität einer menstruierenden Frau. In Liebesfilmen oder -romanen sprechen die heterosexuellen Partner vor der erotischen Annäherung selten über Verhütung, gelegentlich über den Schutz vor AIDS und am allerwenigsten über das möglicherweise aktuelle Menstruieren der Frau. Außerhalb des Kontextes der Defloration und/oder der Pornographie – und auch hier sehr selten – gibt es kaum Darstellungen, die ein Paar im Liebesspiel während des Menstruierens der Frau zeigt. Die Sexualität – mit Ausnahme der Defloration – hat unblutig zu sein, frei von weiblichen Ausscheidungen, sofern sie blutig sind. Solche Tabus gibt es für die männlichen Ausscheidungen nicht: Vor allem in der Pornographie ist es selbstverständlich, dass dargestellt wird, wie das männliche Ejakulat nicht nur den Körper der Frau ›benetzt‹, sondern auch die Umgebung ›befleckt‹. In der autobiographischen Belletristik findet sich eine Thematisierung von Sexualität und Menstruation bei Diana di Prima. Beschrieben wird eine Gruppensex-Situation: »Es war eine merkwürdige, kaum zu beschreibende Orgie. Allen [Allen Ginsberg, UG] legte los, indem er uns alle ausführlich umarmte, jeden von uns einzeln und

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alle gleichzeitig, eine Wolke aus Fleisch, die von Körper zu Körper glitt – warm und freundschaftlich und ganz unsexy; wie in einer Badewanne zu viert. Daß ich meine Periode hatte, machte alles nicht besser, und ich war mir des kleinen, weißen Fadens, der aus meiner Möse hing, nur allzu bewußt. Eine Zeitlang spielte ich mit all den Schwänzen um mich herum und hatte vor, mich so bald wie möglich zurückzuziehen und schlafen zu gehen.« (Prima, 2002, 193)

Die normalerweise ihre Sexualität frei auslebende Autorin wirkt während ihres Menstruierens eher zurückhaltend, wohl auch weil sie diese »Orgie« zunächst noch wenig attraktiv findet. Der Tamponfaden ist ihr »allzu bewusst« und scheint ihren sexuellen ›Appetit‹ einzudämmen. Doch dann ändert sich die Situation: »Aber Jack [Jack Kerouac, UG] war nicht schwul, und im Bett mit drei Tunten und einer Frau wollte er mich, und daran ließ er keinen Zweifel. Um mich dazu zu bringen, das Tampax zu entfernen, fing er an, an meinen Brüsten zu nuckeln und meinen Nacken zu liebkosen. Inzwischen psalmodierte Allen in aller Ausführlichkeit über die Freuden des Sex während der Menstruation: die vermehrte Flüssigkeit, andere Hormone, die das Vergnügen steigerten, auch Tiere würden, wenn sie heiß sind, leicht bluten, und so weiter und so fort. Unter dem Applaus der ganzen Truppe zog ich schließlich den blutigen Talisman heraus und feuerte ihn quer durchs Zimmer.« (ebd., 193 f.)

Abgesehen von den in diesen Zitaten enthaltenen anderen Tabu-Brüchen sind es in dieser Darstellung zwei Männer, die Beatschriftsteller Ginsberg und Kerouac, die bei der Autorin den Widerstand gegenüber der sexuellen Betätigung letztlich brechen, durch intellektuelle Reflexionen, die in der Parallelisierung der animalischen Brunst mit der menstruierenden Frau zweifelhaft sein mögen, und durch das Wecken ihrer sexuellen Lust. Der Tabu-Bruch hinsichtlich des Menstruierens geht bei Prima (ebd., 194) aber noch weiter: »Jack wollte indessen beweisen, daß ihn so ein bißchen Blut nicht störte, und begann mich zu lecken. Er war wild und anschmiegsam und besitzergreifend, und ein großer Mann; ich fing Feuer, lag mit weit gespreizten Beinen und geschlossenen Augen da …«

Die Ausführungen gehen in aller Breite weiter, ohne aber nochmals das Blut, das Bluten oder auch das »Beflecken« sprich »Einbluten« der Körper und ihrer Umgebung zu thematisieren. Es handelt sich um eine Schilderung sexueller Betätigung während des Menstruierens, die anscheinend von allen Beteiligten relativ konfliktfrei und mit Genuss gemeistert wird – was freilich im Rahmen der beschriebenen Beatgeneration, die um Emanzipation sexueller Freiheiten bemüht war, nicht verwunderlich ist. 348

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Unter den Diskursbedingungen von heute scheint in Fragen der sexuellen Praxis während der Menstruation dagegen das Hygieneproblem von einiger Relevanz zu sein. Wie gezeigt, wird die Menstruation häufig als »hygienische Krise« (Schlehe, 1987, 38) erlebt und diese Situation wird keineswegs entschärft, sondern potenziert, wenn es um den Intimverkehr während der Menstruation geht. Die Hersteller von Monatshygieneartikeln, die nicht unwesentlich zum Schüren dieser hygienischen Problemlage beitragen, sind längst nicht mehr nur darauf aus, praktische Artikel zu produzieren, möglichst für jeden individuellen Bedarf und für mehr oder weniger finanzkräftige Käuferinnen. Sie bedienen die chaotisch-mannigfaltigen Atmosphären rund um das weibliche Blut auch nicht mehr nur durch parfümierte Binden, Intimspray oder schwarze Binden. 19 Sie bedienen heute auch auf recht ambivalente Weise wieder alte Menstruationstabus in Verbindung mit der Sexualität, indem sie die Menstruation einerseits als Hindernis für den Intimverkehr darstellen, andererseits Produkte anbieten, die das »hygienische Problem« zu lösen versprechen. In diesem Sinne wird beispielsweise für Soft-Tampons auf einer Internetseite folgendermaßen geworben 20 : »Wer von uns Frauen würde nicht zustimmen – die Menstruation kann so lästig sein!« Damit wird summarisch auf die »Lästigkeit« »der Menstruation« verwiesen, wobei der Singular bereits die Abstraktionsbasis setzt, die das Menstruieren in einen statisch aufgeladenen Zusammenhang bringt. Der Plural »wer von uns Frauen« verweist auf einen breiten Identifikationsnexus und in der Tat kennt wohl jede Frau den angesprochenen Sachverhalt und kann werbewirksam zustimmen. So heißt es dann, dies weiter ausführend: »Nicht nur, dass viele von uns Beschwerden haben und das an sich schon schlimm genug ist. Nein, ausgerechnet in dieser Zeit stehen dann plötzlich noch Aktionen an, auf die wir nicht verzichten möchten, bei denen wir jedoch die Menstruation überhaupt nicht gebrauchen können.«

Neben möglichen Beschwerden werden »Aktionen« angesprochen, die dann »plötzlich« anstehen, auf die »wir nicht verzichten möchten«, die aber anzustehen scheinen, ohne dass wir sie – soll ich sagen: wollen? Bei denen wir jedenfalls »die Menstruation überhaupt nicht gebrauchen können«. Auch wenn das eine umgangssprachliche Redewendung ist, steckt doch mehr dahinter, wenn wir die Menstruation als etwas thematisieren, was wir nicht gebrauchen können, was, und hier sind wir wieder beim 19 20

Zum Thema Werbung und Tabu am Beispiel Binden und Tampons s. Waschek, 1995. Gemeint ist die Internetseite www.soft-tampons.de, eingesehen am 20. 2. 2003.

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›Reproduktionsabfall‹, überflüssiger Müll ist. Unter ihrem Gebrauchswert betrachtet stört also die Menstruation bzw. das sichtbar werdende Menstruationsblut, wenn es um die im Text der Werbeanzeige angeführten Aktionen »Sauna«, »Urlaub« und »der Trip ins Grüne« geht. Betrachten wir diese »Aktionen« genauer, so fällt eine Steigerung ins völlig Allgemeine auf. 21 Hier werden Probleme suggeriert, die entweder nicht vorhanden sind oder mit wenig Phantasie gemeistert werden können. Die Suggestion wird fortgeführt: »Manche Frau verzichtet in der Zeit sogar auf den Intimverkehr. Vielleicht einfach nur, weil sie keine Lust hat, das Bett danach immer neu beziehen zu müssen. So, und gerade das muss nun nicht mehr sein.«

Bezeichnenderweise wird zunächst das alte christliche Tabu aufgegriffen, welches Sexualverkehr während der Menstruation sanktioniert(e), weil die menstruierende Frau als unrein, schmutzig, riechend, sündig galt. Gerade diese ›Unreinheit‹ wird nun in den ›hygienischen Kontext‹ transportiert, um dort mit Problemlösungen aufzuwarten. Der ›Schmutz‹, die ›Unreinheit‹ kann durch das Soft-Tampon, ein kleines saugfähiges Tampon ohne Schnur oder Ziehbändchen, das bis vor den Gebärmutterhals geschoben wird und das Blut nicht mehr in die Scheide fließen lässt, quasi ›beseitigt‹ werden. Das ›alte‹ Problem, dass mit einem Tampon in der Vagina keine Penetration stattfinden kann bzw. sollte 22 , scheint damit ebenso gelöst wie das Problem mit der ›beschmutzten‹ Bettwäsche und, auf einer anderen Ebene und in dieser Werbung unthematisiert, das Problem der vorgängigen Verbalisierung des Menstruierens. Wenn dieser Tampon hält, was er verspricht, wäre er eine Errungenschaft, die eine Verheimlichung des Menstruierens sogar vor dem Sexualpartner ermöglicht – sicherlich eine Revolution für die weibliche Prostitution. Wenn es in der Werbung weiter heißt, dass die »original Soft-Tampons« »für den sicheren Intimverkehr während der Menstruation entwickelt« wurden, so ist sehr fraglich, was damit gemeint ist. In der Tat 21

In der Sauna können wir die Menstruation »nicht gebrauchen«, weil das Blut im unbekleideten Zustand und ohne Tampon am Körper, u. U. auf einem Handtuch und im Wasser sichtbar wird – dies verletzt den öffentlichen Anstand ebenso wie ein sichtbar am Genital heraushängendes Tamponbändchen. Beim Urlaub mag man an FKK-Baden oder Schwimmen denken, wobei die Tamponkultur aber beides ermöglicht; das sind schon ausgewählte Situationen, die wenig überzeugend dafür sind, dass die Menstruation dort so störend werden könnte, dass man auf den Urlaub, diese »Aktion«, die meist die Dauer einer Menstruationsperiode übersteigt, verzichten würde. In gleicher Weise unplausibel scheint der »Trip ins Grüne«. 22 Unzureichend informierte Tamponbenutzerinnen haben das durchaus schon probiert.

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versäumen die Hersteller auch nicht, die Anzeige mit einer Textpassage aus der Jugendzeitschrift BRAVO zu verknüpfen, in der eindringlich darauf hingewiesen wird, dass dieser Tampon kein Verhütungsprodukt ist. »Sicher« ist im Sinne der »hygienischen Sicherheit« zu verstehen, die davor bewahrt, sichtbare Spuren des Menstruierens zu hinterlassen. »Unsicher« wäre demnach ein Intimverkehr, der das Blut frei fließen ließe – eine äußerst fragwürdige Konstruktion. 23 Hier wird deutlich, wie sehr das Menstruationsblut heute immer noch oder schon wieder von Konnotationen der Unreinheit, des Schmutzes, des Ekels etc. bestimmt ist. Die kommerzielle Ausbeutung dieser negativen Besetzung erreicht mit diesem Tampon eine neue Dimension. Liest man die Gebrauchsanleitung, so sieht man sich mit einem Ritual konfrontiert, das komplizierter und – bei unsachgemäßer Durchführung – gefährlicher erscheint als jedes Wechseln und Waschen der Bettwäsche oder andere Lösungen des ›hygienischen Problems‹.24 Abschießend wird die diskursive Besetzung der Menstruation als ›Körperschmutz‹ erneut aufgegriffen und werbewirksam die Perspektive eines Mannes eingespeist: »Meine Freundin mag Sex während der Regel – ich kann aber kein Blut sehen. Nicht jeder segelt gern durchs Rote Meer. Wenn Ihre Süße sie ganz doll lieb hat, greift sie vielleicht zu den neuen Soft-Tampons, die Sauereien im Bett verhindern.« 23

Gesundheitlich sicherer ist die Variante des freien Fließens, denn abgesehen von dem komplizierten Einführungs- und Rückholritual sind diese Tampons ein idealer Nährboden für Infektionen, weshalb die Hersteller darauf hinweisen, sie nach einem Koitus ohne Kondom sofort zu entfernen. 24 Der Tampon wird nicht einfach eingeführt, bis er kaum noch spürbar ist; es bedarf u. U. »zum leichteren Einführen« eines auf ihn aufzutragenden Gleitmittels oder eines Wasserrituals, bei dem der Tampon mit »sauberem Wasser« angefeuchtet und danach auspresst wird, »um die maximale Flüssigkeitsaufnahmefähigkeit« zu erhalten (eine Praxis, die nur bei hoher Wasserqualität zu empfehlen ist, worauf die Hersteller mit keiner Silbe eingehen). Die weitere Prozedur verlangt Geschicklichkeit, Wissen um anatomische Gegebenheiten, eine gewisse Körperhaltung (»ein Bein hochgestellt« oder »Beine gespreizt«) und ein tiefes Eindringen in die Vagina mit zwei Fingern. Der Tampon ist »so tief« einzuschieben, bis seine flache Seite »vor dem Gebärmutterhals liegt«. Besonders kompliziert erscheint das Entfernen des Tampons ohne den typischen Rückholfaden, der beim Intimverkehr »störend wäre«. Schwierigkeiten werden sogar eingeräumt, mit der Empfehlung, in »Hockposition« Bewegungsimpulse (»leichter Druck im Unterleib«) zu erzeugen oder aber, wenn es »nicht gelingen« sollte, »den Tampon zu entfernen«, den Gynäkologen aufzusuchen. Das sind nun wirklich glänzende Aussichten für einen »sicheren« Intimverkehr während der Menstruation! Wenn es dann noch der Ermahnung bedarf: »Vergessen Sie nicht, zum Ende der Menstruation den letzten Soft-Tampon zu entfernen!«, so wird schon fast angeraten, über das Wechseln der Tampons terminlich Buch zu führen, weil von der Blutung nichts mehr ›nach außen‹ dringt oder sich ›von innen‹ her bemerkbar macht.

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

Wieder geht es um das ambivalente Spiel mit Tabus. Dass frei fließendes Menstruationsblut »Sauereien« beim Intimverkehr verursacht, wird als objektive Tatsache hingestellt, die zuvor durch die subjektive Tatsache, dass der Freund kein Blut sehen kann, suggestiv vorbereitet wird. Die Frau verursacht diese »Sauerei«, die der Freund nicht sehen kann – die Anwendung von Soft-Tampons gilt als Liebesbeweis.

9.5 Abschließende Deutungen Das immer wieder thematisierte ›hygienische Problem‹ betrifft einen ganz bestimmten, von medizinischen und Blutdiskursen definierten Kontext, der Frauen zu differenzierten Umgangsformen mit ihrem Körper geführt hat. Diese zielen auf Verdrängung, Entfremdung, Vertuschung. Frauen wollen ihr Menstruationsblut möglichst nicht sehen, nicht riechen, nicht anfassen, und sie wollen nicht, dass es in der Öffentlichkeit sichtbar, riechbar und im weiteren Sinne anfassbar ist, und sie wollen nicht, dass ihnen die Menstruation sonst in irgendeiner Weise anzumerken sind, durch Veränderung ihres Aussehens (z. B. Blässe im Gesicht), den Ausdruck von Beschwerden (z. B. ein im Schmerz verkrampftes Gesicht, ein im Krampf sich windender Leib) oder monatliches ›Krankmelden‹. Allerdings ist bei solchen Verallgemeinerungen Vorsicht geboten und können diese allenfalls als Trends, häufig nur für bestimmte Gruppen der Gesellschaft geltend gemacht werden. So hebt nicht zuletzt Zinn-Thomas interindividuelle Unterschiede hervor und Martin macht deutlich, dass das Menstruationserleben von starken intrakulturellen Unterschieden z. B. in den sozialen Klassen gekennzeichnet ist. So übernähmen Mittelschichtfrauen »bereitwillig die medizinischen Auffassungen über Menstruation, obwohl dies zu Schwierigkeiten im Umgang mit den tatsächlichen Problemen des Menstruierens führt« (Martin, 1989, 136), also letztlich auch zur Konstruktion und Annahme des ›hygienischen Problems‹. Arbeiterfrauen übernähmen dagegen die medizinische Auffassung nicht: »So gut wie keine der Frauen, ob schwarz oder weiß, äußerte sich spontan im Sinne des Modells vom Produktionsausfall, fast alle stellten die Menstruation eher phänomenologisch dar oder bezeichneten sie als Ausdruck von lebensgeschichtlichen Veränderungen.« (ebd.)

Obwohl viele Frauen auch von Aufklärungskampagnen, etwa in der Schule, berichteten, stünde in den Interviews stets das im Vordergrund, was an der Menstruation gesehen und gefühlt würde bzw. was sie für das Leben 352

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Menstruationen und Menstruationszyklen

der Frauen bedeute (ebd., 137). Die auffälligen Unterschiede zwischen Arbeiter- und Mittelschichtfrauen erklärt Martin aber nicht nur mit dem vielleicht naheliegenden Argument, dass Arbeiterschichtfrauen »weniger häufig auf das wissenschaftliche Vokabular stoßen, sich weniger mit dem Inhalt des gedruckten Materials vertraut machen, das in Schulen zur Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse benützt wird, daß diese Frauen weniger fähig sind zu der kulturellen Leistung, in Interviews etwas zu erläutern«; sie hält eine andere Erklärung für ebenso wahrscheinlich: »Diesen Frauen ist es besser als den Frauen aus der Mittelschicht gelungen, einen Aspekt der in unserer Kultur so überaus einflußreichen wissenschaftlichen Darstellung von Frauenkörpern zurückzuweisen, weil dieses wissenschaftliche Konzept für sie keine Bedeutung hat oder weil es als ein ganz direkter Angriff empfunden wird, zumal es in … negativen Begriffen formuliert ist. Das Ironische daran ist: Frauen aus der Mittelschicht, die sehr viel eher von einer Beteiligung im produktiven System profitieren könnten, haben eine Auffassung von ihrem reproduktiven System geschluckt, die Menstruation als Produktionsausfall definiert … und die konkreten Erfahrungen von Frauen nicht berücksichtigt. Arbeiterfrauen haben die Anwendung von Produktionsmodellen auf ihren Körper zurückgewiesen, vielleicht, weil sie in unserer Gesellschaft von Erwerbstätigkeit in der Produktion weniger zu erwarten haben.« (ebd., 138)

In dieses Erklärungsmodell passt auch, dass Arbeiterfrauen ihr Menstruieren anscheinend weniger problematisch auffassen und einen natürlicheren Umgang mit der hygienischen Seite pflegen als Mittelschichtfrauen. So würden, nach Martin, die Initiationsgespräche weniger mit einer entfremdeten Sprache überfrachtet, enthielten detaillierte Informationen zum eigenen Erleben und seien stärker auf praktische Ratschläge ausgerichtet. Es würden auch Ansichten über die Menstruation kursieren, die »ganz direkt dem wissenschaftlichen Deutungsmuster widersprechen« (ebd., 139). Im Ganzen zeichne sich ab, dass Frauen aus der Mittelschicht »sehr viel mehr als Frauen aus der Arbeiterschicht von den allgemeinen kulturellen Deutungsmustern ›mystifiziert‹« (ebd.) zu sein scheinen und größere Akzeptanz gegenüber dem teleologischen Modell der Medizin zeigen. Dennoch bedeutet diese Interpretation wohl nicht, dass Arbeiterfrauen weniger oder gar nicht unter ihrem Menstruieren leiden, vielmehr scheint es geboten, das Menstruationserleben klassenunspezifisch, aber für die technische Zivilisation typisch als eine Erfahrung des Leidens, ja Erleidens in einem allgemeinen Sinne zu deuten, und zwar trotz aller hygienischen und pharmakologischen Fortschritte. Eine besondere Pointe hat dieses ›Leiden‹ in dem, was im Jahre 1931 erstmals von Robert T. Frank als »premenstrual tension« beschrieben wur353

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

de und was heute von vielen Medizinern als PMS im Sinne einer »genuinen Krankheit« (Lever, 1981, 1) definiert wird. Der Zyklizität des Menstruierens wird damit eine Leidens-Phase zugeschrieben, die nicht mit den Menstruationen selbst und deren spezifischen ›Leidensformen‹ wie Krämpfen, Leibschmerzen etc. zusammenfällt, sondern die sich im Vorfeld konstituiert. Die »Checkliste der Symptome« des PMS (z. B. bei Martin, 1989, 142) führt eine große Zahl von Merkmalen vormenstrueller Spannungszustände an. Dazu zählen physische Veränderungen, Konzentrationsdefizite, Verhaltensänderungen und Stimmungsschwankungen mit z. T. recht drastischen Auswirkungen, die allesamt einen negativen Effekt mit sich bringen – so die Mediziner, die sogleich um Therapiemöglichkeiten wissen. Wie Martin (ebd., 141) darlegt, wird zur Erklärung »weit überwiegend ein physiologisch-medizinisches Deutungsmuster herangezogen«, während psychologische oder gesellschaftliche Ursachen unterbelichtet bleiben. Martin untersucht, inwiefern solche Krankheits- bzw. Leidensbilder zu Unterdrückungsstrategien in der Arbeits- und Bildungswelt benutzt werden. Sie interpretiert die leiblichen Phänomene im Spiegel gesellschaftlicher Disziplinierungsmaßnahmen und frauenfeindlicher Lebensumstände, vor allem hinsichtlich der dem männlichen Körper angepassten Zeitrhythmen. Demgemäss zielt eine Behandlung des PMS durch Hormone auf die Symptome und entspricht einem Modell, nach dem Frauen immer gleichbleibend, schwankungs- und regungslos zu funktionieren haben. Die von Frauen beschriebene auf die prämenstruelle Phase bezogene Unzufriedenheit, schlechte Laune oder auch Wut wird auf physiologische Ursachen wie den Hormonspiegel bezogen. Gegenmodelle finden sich tendenziell in Gemeinschaften, die ihre Frauen etwa in Menstruationshütten absondern oder ihnen in dieser Zeit andere Tätigkeiten zuweisen – solche Alternativen werden von der feministischen Kritik zu Recht ambivalent diskutiert und für Geschlechterhierarchien verantwortlich gemacht. Wie ist nun mit diesen Interpretationsmodellen umzugehen? Martin (ebd., 158) schlägt vor: »Der Weg aus dieser Schlinge führt, so meine ich, über die Auswertung der Erfahrungsberichte von Frauen, die besagen, daß Frauen während bestimmter Tage anders empfinden und leben als sonst, auf eine Art, die es ihnen erschwert, die in unserer Gesellschaft geforderte Arbeitsdisziplin einzuhalten. Vielleicht verstünden wir diese Berichte dann nicht als Warnungen vor Fehlerquellen im Körper der Frauen, die einer Therapie bedürfen, sondern als Einsichten in Mängel der Gesellschaft, die ins Blickfeld gezogen und angegangen werden müssen.«

Die in den PMS-Symptom-Listen aufgeführten Phänomene könnten sich u. U. lediglich kontextuell als ungünstig erweisen, also im Umfeld unseres 354

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Menstruationen und Menstruationszyklen

gesellschaftlichen und ökonomischen Systems und einer spezifischen Arbeitsweise, während sie sich in anderen Perspektiven womöglich gerade als günstig erweisen würden. Angenommen, es gäbe ein Symptom wie das Nachlassen der Konzentrationsfähigkeit in der prämenstruellen Phase, könnte da nicht gefragt werden, ob dieses Nachlassen »begleitet wird von größeren Fähigkeiten in anderen Bereichen des Denkens und Handelns« (ebd.)? Oder: »Bringt der Verlust an Konzentrationsfähigkeit eine größere Möglichkeit freier Assoziationen mit sich? Bewirkt das Nachlassen der Muskelkontrolle vielleicht eine Steigerung der Entspannungsfähigkeit? Ist die Kehrseite einer reduzierten allgemeinen Effizienz eine gesteigerte Aufmerksamkeit bei einer geringeren Zahl von Aufgaben?«

Es ist bezeichnend, dass diese Aspekte gar nicht erst systematisch erforscht werden, wohingegen es eine breite Forschung zur Behandlung der Merkmale prämenstrueller Spannung im Sinne von Funktionsdefiziten gibt. Dagegen betrachtet Martin mögliche »Kehrseiten«. Es gebe verstreute Hinweise auf andere Perspektiven der Interpretation des Menstruierens als Selbsterfahrung, bis hin zur Feststellung vermehrter Fähigkeiten im Zustand prämenstrueller Spannung. Bei allem Beiwerk von Unangenehmen, das ebenfalls fast immer mit zur Sprache kommt, ist aus ihren Zitaten extrahierend festzuhalten, dass es in der prämenstruellen – gelegentlich auch in der menstruellen – Phase Tendenzen zu einer größeren Gefühlsintensität gibt, die durchaus, auch wenn sie sich beispielsweise in Melancholie oder im Weinen äußert, als angenehm empfunden oder genossen wird, sowie Tendenzen zu einer Steigerung der Sinneswahrnehmungen und des leiblichen Empfindens, zu einer Potenzierung der kreativen Fähigkeiten und des schöpferischen Ausdrucks, zu Zurückgezogenheit, Selbstreflexivität und intensiverem Träumen. In einem normalen Arbeits- und Familienleben mögen diese Fähigkeiten und leiblichen Zustände ›unbrauchbar‹ sein und nur im Ausnahmefall genutzt oder ausgelebt werden können. Doch immerhin zeigen sich hier Perspektiven eines ›anderen‹ Erlebens, die dem Menstruieren auch unabhängig vom Kontext der Fruchtbarkeit differenzierte Weisen zyklischer leiblicher Präsenz in einem – sagen wir einmal neutral – nicht-negativem Sinn abgewinnen. Es greift allerdings zu kurz, wenn man das Nicht-Ausleben-Können dieser mit dem Menstruieren zusammenhängenden leiblichen Zustände dahin gehend interpretieren würde, dass es zu diffuser Wut oder Rebellion, Depressionen oder schlechter Laune in der prämenstruellen Phase führt, wie Martin dies ansatzweise unternimmt und damit gewissermaßen, wenn auch anders gewendet, die schulmedizinische Definition einer prämens355 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

truellen Veränderung untermauert. Für Martin sind letztlich die gesellschaftliche Geschlechtsrollenzuweisung und der von ihr als ›männlich‹ interpretierte Arbeitsrhythmus unserer Kultur dafür verantwortlich, dass Frauen wütend oder zornig werden. Es bleibt aber zu fragen, warum Frauen Wut und Zorn vornehmlich in der prämenstruellen oder menstruellen Phase empfinden und z. T. recht vehement zum Ausdruck bringen sollten. Welche Rolle spielt dabei der kurz vor der Menstruation stehende oder aktuell menstruierende Leib? Shuttle und Redgrove vertreten die psychoanalytische Ansicht, dass Frauen sich im Kontext ihres Menstruierens ihrer Situation als ›Unterdrückte‹ und ›Opfer‹ einer sie nicht wertschätzenden Umgebung bewusster werden, u. a. weil das Menstruieren mit Weiblichkeit konfrontiert und ein alle fruchtbaren Frauen einendes Erleben sei. Diese Position stellt zwar eine Alternative gegenüber den physiologischen Erklärungsmodellen dar, bedarf aber weiterer Explikation, insbesondere wenn sie sich auf verschüttete Spuren der weiblichen Unterdrückungsgeschichte bezieht. Die Ursachen der ›menstruellen‹ Gefühle scheinen insgesamt noch nicht hinreichend geklärt. Alle angeblichen Symptome des PMS, seien sie nun negativ oder positiv gedeutet, sind weder ausschließlich biologischen noch ausschließlich gesellschaftlichen Ursprungs, sondern zunächst einmal Erfahrungsquotienten einer leiblichen Zyklizität unter bestimmten Diskursbedingungen, mit der sich Frauen konfrontiert sehen und mit der es einen individuellen Umgang zu pflegen gilt. Zugestanden werden muss aber, dass dem weiblichen ›Bio-Rhythmus‹ mit seinen individuellen Regungen in unserer Kultur kaum Rechnung getragen wird. Diese Situation verlangt eine große Anpassungsleistung an einen leibfremden, weil an nicht-weiblichen Zeitschemata orientierten ›Körper-Rhythmus‹. Martin (1989, 168) weist in diesem Zusammenhang auf eine Untersuchung von Rossi und Rossi (1974) hin, die belege, dass »der Wochenrhythmus die Stimmungen von Männern mehr bestimmt als die der Frauen«. Dass es für gewisse Eigenarten des weiblichen LeibesRhythmus unumgänglich ist, andere Zeitregeln aufzustellen, zeigen z. B. das lang erkämpfte Mutterschutzgesetz oder das Recht auf Stillpausen während der Arbeitszeit. Die Inanspruchnahme solcher Rechte stößt aber meist nicht auf eine allgemeine Akzeptanz, sondern verschlechtert, wie auch das Mutterwerden selbst, die beruflichen Chancen. Eine generelle Berücksichtigung menstrueller Perioden, auch in der Arbeitswelt, hätte nun in der Tat weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen und würde das gegenwärtig gelebte Zeitmodell grundsätzlich in Frage stellen. So lange aber alternative Formen der Arbeits- und Lebensgestaltung nicht durchgesetzt werden, müssen Frauen sich die vorherrschenden Lebensmuster 356 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Menstruationen und Menstruationszyklen

und Verhaltensweisen aneignen, um nicht nur den Anspruch auf Gleichbehandlung, sondern auch auf Gleichwertigkeit erheben zu können. 25 Denn solange das Menstruieren und die damit verbundenen Regungen als weibliche Schwäche oder Krankheit, z. B. durch Konstruktion eines PMS, gedeutet werden, sehen sich Frauen dazu angehalten, ihre leiblichen Rhythmen weitgehend zu verdrängen und gar nicht mehr in der Bereich der Sicht- und Spürbarkeit gelangen zu lassen. Die Pille hilft, den terminlichen Unwägbarkeiten des Zyklus entgegen zu wirken sowie Beschwerden und Blutung gering zu halten; Schmerz- und Beruhigungsmittel bis hin zu Psychopharmaka helfen, leibliche Spannungen und veränderte Stimmungen im Griff zu halten. Man könnte meinen, dass das »hygienische Problem« beim Entwicklungsstand der modernen Monatshygieneindustrie die geringsten Schwierigkeiten bereitet, aber schon die Tatsache, dass es ein solches ›Problem‹ gibt, was viele Frauen immer wieder als vordringlich thematisieren, zeigt, wie schwer diese Anpassungsleistung letztlich fällt. Fassen wir diese Ergebnisse zusammen, so scheint die Erfahrung des Menstruierens sich zwar in interindividuell und intrakulturell divergierende Erlebnisweisen zu differenzieren, doch weist dieses Spektrum eher Konnotationslinien von »alltäglich/natürlich/nichts besonderes« über »hygienisch-problematisch/beschwerdereich-unangenehm« bis hin zu »pathologisch/traumatisch« auf, als dass es sich im Sinne einer Linie »alltäglich/ natürlich/nichts besonderes« über »hygienisch (heute) völlig unproblematisch/beschwerdefrei-angenehm« bis hin zu »ekstatisch/phantastisch« darstellen würde. Menstruationen haben, auch wenn man sie als ›Reproduktionsabfall‹ nimmt, nicht den gleichen Stellenwert wie andere Ausscheidungsvorgänge. Es ist diejenige Ausscheidung, die mit aufwendigen hygienischen und Verheimlichungs-Ritualen, mit leiblichen Regungen und Stimmungsveränderungen verknüpft ist, zudem von Millionen Frauen durch Hormon-Zufuhr in einem künstlich generierten Zustand gehalten wird. Wie immer man zu diesen Kolonisierungsstrategien stehen mag, sie zeigen ein hohes Maß der Entfremdung von dem, was sich am Geschlechtsleib aufdrängt und sich in einer leiblichen Geschichte konstituiert. Mit dieser Entfremdung, die weibliches Existieren in der technischen Zivilisation erheblich erleichtert, geht jedoch eine Entmündigung einher, deren Folgen zwar noch nicht abzuschätzen sind, die sich aber jetzt schon 25

Die paradoxe Situation von Frauen in männerdominierten Berufswelten hat MacKinnon (1996, 140–173) am Beispiel von Akademikerinnen dargelegt, die nur dann gleiche Karrierechance haben, wenn sie wie ihre kinderlosen männlichen Mitbewerber leben. Vgl. dazu auch Nagl-Docekal, 2001, 201 f.

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

darin zeigen, dass Frauen die Gestaltung ihres Leibesschicksals zunehmend den gynäkologischen Experten und einer disziplinierenden Hygienekultur überlassen. Freilich liegt darin ein Stück hart erkämpfter weiblicher Freiheit in Bezug auf den Lebensentwurf, die Geschlechtergleichheit und die Konsumfreudigkeit. Es muss offen bleiben und ist eine Frage der personalen Identität, welcher Preis für diese Freiheit gezahlt und wie sie vor dem Hintergrund bewertet werden muss, dass sie Abhängigkeiten schafft, z. B. von einem medizinischen System, das zu regelmäßiger Inanspruchnahme, zur Investition von Zeit, Geld und u. U. Schmerz zwingt, oder von einem hochspezialisierten Warensystem von Hygieneartikeln. Es konnte hier nur angedeutet werden, dass gerade mit dem detaillierten Wissen über den Frauenkörper und nach einer rigiden Verteufelung der Menstruation durch religiöse Systeme immerhin auch andere, alternative Formen eines – im Vergleich zu früheren Zeiten – freieren Umgangs mit dem Menstruieren denkbar sind. Dahingehende Bemühungen der Frauengesundheitsbewegung in den 1970er Jahren sind aus heutiger Sicht episodenhaft geblieben und wurden, unter Aufnahme und Umwandlung früherer Diskurselaborate rund um die Menstruation, durch eine neue Medikalisierungs- und Hygienisierungswelle beinahe vollständig verdrängt. Dass damit erhebliche Implikationen für die Konstruktion und Erfahrung von Geschlechter-Realitäten verbunden sind, dürfte offensichtlich sein.

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10. Defloration

»Der untere Teil scheint nur Haut zu sein, aber dort ist doch die Scheide. Sie ist ganz von Hautfalten bedeckt und fast nicht zu entdecken. So entsetzlich klein ist das Loch darunter, daß ich mir fast nicht vorstellen kann, wie dort ein Mann hinein soll, geschweige denn ein ganzes Kind heraus. In dieses Loch kannst du noch nicht mal so leicht mit deinem Zeigefinger! Das ist alles, und das spielt doch so eine große Rolle.« (Frank, 1999, 227)

10.1 Defloration im engeren und weiteren Sinne Dass es sich bei der Defloration um mehr handelt als die nüchterne Erklärung des Dudens (1996), »die Zerstörung des Jungfernhäutchens beim ersten Geschlechtsverkehr, Entjungferung«, hat seine Ursachen in einem Vorgang, der wie die Menarche in der leiblichen Biographie der Frau die Bedeutung einer rite de passage hat und in einer langen Geschichte diskursiver Besetzungen weiblicher Körperteile und des Koitus steht. Esther Fischer-Homberger (1984, 71–91) hat die wechselvolle Geschichte jener ›Membran‹, des Jungfernhäutchens, in einem Konglomerat verschiedener medizinhistorischer Definitionen und Codierungen beschrieben. Es ist für unseren Zusammenhang jedoch unerheblich, ob es vom objektiven Standpunkt aus bei jeder Frau so etwas gibt wie das Hymen, jene unter Säugetieren einmalige körperliche Einrichtung, und wie dieses Körperding letztlich beschaffen ist. Der Mythos vom als Verschluss gedachten geschlossenen Häutchens ist längst entlarvt, weiß man doch, dass das Menstrualblut aus dem Leibe gelangt und folglich immer eine Öffnung vorhanden sein muss, die Durchfluss garantiert. Über die Maße und Formen des Hymens haben die Fachgelehrten seit jeher mit nicht unerheblichen Folgen für die Frauen (Jungferntest) gestritten; darauf kann ebenso wenig eingegangen werden wie auf die vielfältigen Umgangsformen mit dem Konstrukt der Jungfernschaft. In leibphänomenologischer Perspektive zählen subjektive Tatsachen, und diese lassen sich wohl einhellig damit umschreiben, dass dieses Körperding an sich, d. h. ohne Zuhilfenahme ertastender Hände und 359 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

außerhalb einer wie auch immer gearteten Deflorationserfahrung, nicht selbst im Sinne einer Haut- oder Organwahrnehmung im Inneren der Vagina gespürt wird. Es darf also bezweifelt werden, ob es jene Membran ist, ob es jene individuell verschieden ausgeprägten Hautfetzen und -verdickungen sind, die in der Deflorationserfahrung im Sinne eines Körperdings gespürt wird bzw. werden. Beim Herantasten wird häufig ein örtlich diffus begrenzter Widerstand gespürt, eine Verdickung oder Verdichtung von Haut bzw. Fleisch, gegen die ein Finger, ein Gegenstand oder eben das männliche Geschlechtsteil beim Eindringen stößt, also eine Schwelle, die den weiteren Weg in die Vagina mehr oder weniger hemmt, sich aber schließlich als durchlässig, durchstoßbar, aufreißbar, letztlich nachgiebig erweist, wofür mehr oder weniger Kraft bzw. Druck vonnöten ist. Gespürt wird diese Schwelle als Teilinsel der genitalen Zone im Grunde nur bei dem Versuch, sie zu überwinden. Im Durchdringen wird ein diffus lokalisierbarer Widerstand wahrgenommen. Das Überwinden dieser Schwelle ist eventuell begleitet von einem kurzen, stechenden oder auch schabenden Schmerz in der Vagina, der sich in den unteren oder auch ganzen Unterleib ausstrahlend ergießen kann, z. T. auch als ein Brennen gespürt wird, gleichsam hinter dem Scheideneingang in Richtung zur Körpermitte, der aber u. U. auch ganzleiblich in einer Engung kulminiert. Das Hymen wird aber im Moment seiner Durchdringung bzw. seines Zerreißens nicht als solches gespürt. Wohl mag sich bei der Defloration im Zuge der vorangegangenen Entfaltung der genitalen Zone als Leibesinsel in der Gegend des Hymens eine Teilinsel ins Spüren bringen, die von Engung durchzogen ist und damit den der sexuellen Erregung eigentümlichen Impuls der Weitung durchkreuzt. Hierin könnte der Grund dafür liegen, dass Deflorationserfahrungen nicht unbedingt zu den schönsten sexuellen Erlebnissen von Frauen gehören oder sogar traumatischen Charakter annehmen können. Alle anderen mit der Defloration verbundenen leiblichen Regungen können für jeden Geschlechtsakt typisch sein. Die Deflorationserfahrung bezeichnet im Grunde einen einmaligen Teilaspekt der sexuellen Erfahrung selbst. Während die Menstruationen eigenleibliche Vorgänge sind, die der Leib selbst hervorbringt, wird die Defloration mehr oder weniger bewusst von der Frau selbst, von Anderen oder durch eine Situation wechselseitigen Einverständnisses angestrebt und geschieht durch einen äußeren Anlass, einen am Körper vollzogenen Akt. Der ›Verlust‹ bzw. die Veränderung des Hymens – gelegentlich bleiben Reste von Hautverdickungen und -falten zeitlebens bestehen – ist nicht Folge eines leiblichen Impulses, sondern 360 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Defloration

in der Regel eines von außen vollzogenen ersten Eindringens in die Vagina. Mit diesem ersten Eingriff in das Leibesinnere ist meist das In-Erscheinung-Treten von Blut verbunden, es wird aber ebenfalls von Deflorationen ohne Blutfluss berichtet. Das Blut der Entjungferten ist, wenn es denn in Erscheinung tritt, von spezifischer Beschaffenheit, ähnelt in seiner Farbe und Konsistenz sowie seiner Ausflussdauer dem Blut von Schnittwunden, und in der Tat entspringt es einem ›Angriff‹ bzw. ›Eingriff‹, einer Art ›Einschnitt‹ von außen. Das Deflorationsbluten mag den Eindruck einer Verwundung, einer Verletzung verstärken, ein Eindruck, der meist auch bei den die Defloration begleitenden Schmerzen entsteht. Unwissende Frauen können beim Anblick des Deflorationsblutes in ähnlicher Weise von Schreck und Angst ergriffen werden wie unaufgeklärte Heranwachsende beim Auftreten der Menarche. Das Blut ist für die wissende Frau von erheblicher Symbolkraft für die Regung etwa von Stolz (»Ich bin nun eine vollwertige Frau«) oder Wehmut (»Mein Mädchendasein ist nunmehr für immer abgeschlossen«). Es ist freudig erwarteter oder erdrückender Beweis von Wandlung, von etwas, das unumkehrbar ist. Es kann aber auch Regungen der Scham auslösen, wenn das unwiderrufliche Leibereignis unerwünschte Öffentlichkeit erlangt und Spuren hinterlässt, an der genitalen Zone, auf dem Geschlechtsteil des deflorierenden Mannes oder in der Umgebung. Das Sichtbar-Werden des Deflorationsblutes galt früher als Besiegelung des Eheversprechens, und noch heute wird in manchen Kulturen ein öffentliches oder familiäres Zur-Schau-Stellen des befleckten Lakens nach der Hochzeitsnacht praktiziert. Wenn hier von »der Defloration« die Rede ist, so ist in leibphänomenologischer Perspektive aber zweierlei zu unterscheiden: in einem weiteren Sinne ein Vorgang am Körper mit oder ohne leibliche Regungen sowie in einem engeren Sinne die Leiberfahrung des ersten Geschlechtsverkehrs, also die erste Penetration durch das männliche Glied. Beide Erfahrungen treten häufig, aber nicht zwingend gemeinsam auf. Das ›Zerreißen‹ des Hymens kann außerhalb des Koitus geschehen, z. B. beim Sport oder durch Einführung eines Gegenstandes, etwa auch eines Tampons, in die Vagina, oder aber durch die Weitung und Dehnung der genitalen Zone in der nicht-koitalen sexuellen Praxis. Das Zerreißen kann von leiblichen Regungen begleitet sein, wozu ein leichtes Ziehen, ein kurzer engender, vielleicht stechender Schmerz, ein schneidendes Brennen, ein Hitzegefühl und dergleichen gehören; es kann aber ebenso gut überhaupt nicht spürbar sein, was letztlich u. a. damit zusammenhängt, dass nicht alle Frauen über ein ausgeprägtes Hymen im anatomischen Sinne verfügen. Der erste Geschlechtsverkehr, ob es nun zum Zerreißen bzw. Verdrängen des Hymens 361 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

kommt oder nicht, ist dagegen eine Erfahrung anderer Art, die von einer Vielzahl leiblicher Sensationen im Horizont von Lust und Schmerz begleitet ist. Um diese Erfahrung der ersten Penetration geht es in diesem Kapitel, wobei das oben angeführte Zitat aus dem Tagebuch von Anne Frank schon einen Eindruck davon vermittelt, wie sich ein Mädchen bereits im Vorgriff auf eine solche Erfahrung mit der Beschaffenheit des Körpers auseinandersetzt. Frank ist ein ›aufgeklärtes‹ Mädchen; sie weiß, worum es beim Geschlechtsverkehr und beim Gebären geht und artikuliert jenes Staunen der Wissenden, wie denn so etwas am eigenen Leib, an jener exponierten Stelle, die sich mit der Hand ertasten lässt, überhaupt möglich sein soll. Solches Wissen ist im Hinblick auf die Geschichte der Sexualaufklärung bei Frauen schon als Privileg anzusehen, da in früheren Zeiten – und in bestimmten Kulturkreisen gelegentlich noch heute – junge Frauen meist unwissend der Deflorationserfahrung ausgeliefert wurden und werden, und zwar sowohl im Hinblick auf die weibliche Anatomie und die Praxis des Geschlechtsverkehrs, als auch in Bezug darauf, dass es dabei blutig zugehen kann. Farideh Akashe-Böhme (2000, 108 f.) beschreibt zum Beispiel ihre eigene Defloration im damaligen Persien durch den von der Familie aufgezwungenen Ehemann: »Plötzlich saß ich mit Nader allein in einem Zimmer, seine Mutter hatte auf der Matratze zwei weiße Tücher ausgebreitet, gute Nacht gesagt und die Tür zugemacht. Ich saß da, schämte mich und konnte kein Wort herausbringen. Mit einem mir fremden Mann, der jetzt mein Mann war, mit dem ich noch nicht einmal ›Händchen gehalten‹ hatte, wie es Verliebte machen, mit diesem Mann saß ich nun in einem Raum in einer eindeutigen Situation. Ich war nicht aufgeklärt, wußte zwar, daß es in der Hochzeitsnacht um die Jungfräulichkeit geht und daß die weißen Tücher mit Blut befleckt werden sollten, aber wie das geschehen sollte, wußte ich nicht. Es war peinlich, und ich hatte Angst. Angst vor dem Unbekannten. Nader stand unter Druck, seine Männlichkeit zu beweisen. Also Blut mußte fließen. Ich mußte erfahren, daß die Hochzeitsnacht, die eigentlich eine Nacht der Liebe sein soll, eine Nacht voller Angst und Schmerz ist. Am nächsten Tag kam gleich morgens seine Mutter, klopfte an die Tür und war dann beruhigt, die blutbeschmierten Tücher mitzunehmen. Meine Schwester Talaat kam dann im Laufe des Tages und nahm den Beweis meiner Unschuld in Empfang, um ihn in einer großen Runde, die eigens dazu eingeladen war, zu zeigen.«

Akashe-Böhme (ebd., 109) reflektiert, dass sie selbst »der Schock, den die Hochzeitsnacht für junge Mädchen bedeutet, vielleicht noch härter als meine Altersgenossinnen« traf, da sie ohne Wissen, ohne Geschichten und Erzählungen in diese Situation kam. In solchen traumatischen Ge362

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Defloration

schehnissen sieht sie zu Recht eine Wurzel »für schwere Störungen im Sexuellen«. Besonders deutlich tritt an diesem Beispiel hervor, dass in der Deflorationserfahrung der eigene Leib einem Anderen zum Vollzug einer Handlung an ihm überantwortet wird. Die Autorin weiß nicht, wie der Akt in körperlicher, also rein praktischer Hinsicht geschehen soll. Abgesehen davon, dass sie es mit einem völlig fremden Mann zu tun hat, mit dem sie keine erotische Vorgeschichte verbindet, kann sie das zu Vollziehende, das Unvermeidliche nicht einmal selbst vorfühlend begleiten. Da sie nicht weiß, worum es geht, kann sie nicht aktiv in das Geschehen eingreifen, es mitgestalten oder teilnehmend erwarten. Sie hat ihren Leib dem Mann zur Verfügung zu stellen, damit dieser an ihm etwas vornimmt, das im Ergebnis, das weiß die Braut immerhin, zum Vergießen von Blut führen soll. Man kann sich gut vorstellen, dass allein dieses minimale Wissen um eine Bluterfahrung mit entsprechenden Ängsten behaftet gewesen sein muss, Ängste, die auf eine wie auch immer geartete Verletzung des eigenen Körpers gerichtet sind. Sie wird ihr im Rahmen eines kulturellen Kontextes zu einem von ihr selbst nicht gewählten Zeitpunkt mit einem von ihr selbst nicht gewählten Partner aufgezwungen. Das Deflorationserlebnis ist von außerordentlicher Bedeutung, weil es das ›erste Mal‹ ist und diese Besonderheit hat, dass es – meist – eine Bluterfahrung mit sich bringt. Es ist nicht der eigene Leib, der aus einer ihm innewohnenden Zyklizität heraus zu bluten beginnt, es ist das punktuelle, einmalige und unwiederbringliche Ereignis eines körperlichen Eingriffs, das Blutspuren hinterlässt. Und dieses sichtbar gewordene Blut wird – im Unterschied zu menstruellem Blut – nicht nur als wichtiger Bestandteil dieser Erfahrung interpretiert, ja es hat zu fließen, es zeigt den ›Erfolg‹ der Entjungferung an und bleibt im zitierten Beispiel nicht privat, im Verborgenen eines Hygienekultes, der Spuren tilgt. Es ist die Schwiegermutter, die jene für die Hochzeitsnacht vorbereiteten Tücher an sich nimmt, nicht, um sie zu waschen oder verschwinden zu lassen, sondern um die nun mit Blut aus dem Leibesinneren der Braut benetzten Tücher über die Hände der Braut-Schwester rituell einer eigens dafür ausgewählten Öffentlichkeit zur Schau zu stellen. Die Unschuld der Braut, jenes für manche Kulturen und Zeiten so kostbare Gut, und das In-Besitz-Nehmen ihres Leibes ist damit bewiesen, durch Blut besiegelt. Dieses Beispiel ist deshalb so erschütternd, weil es gänzlich durchdrungen ist von einer schmerz- und angstbesetzten Leiberfahrung der Enge. Die Einführung in die genitale Sexualität vollzieht sich mit Schmerz und Gewalt. Es ist ein Angriff auf die leibliche Integrität und Autonomie der Frau, ja es kommt einer Vergewaltigung unter legalisierten, familiären Bedingungen gleich, wobei 363 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

nicht nur der Mann, der »seine Männlichkeit zu beweisen« hatte, Verantwortung für das traumatische Erlebnis seiner Braut trägt, sondern auch die Frauen aus ihrem Umfeld, die, soweit sie älter und sicher selbst von ähnlichen Deflorationserlebnissen betroffen waren, versäumten, der Braut wenigstens eine vorgreifende Aneignungsmöglichkeit zu eröffnen. Dass die Deflorationserfahrung auch unter günstigeren Bedingungen, also mit erotischer Vorgeschichte und positiver sexueller Grundstimmung, von negativen Konnotationen und leiblichen Zuständen begleitet sein kann, zeigt eine szenische Umsetzung der Regisseurin Agnès Merlet in dem Spielfilm »Artemesia – Schule der Sinnlichkeit« (Frankreich, Deutschland, Italien 1997), der das Leben der italienischen Malerin Artemesia Gentileschi (1593–1652/53) frei nacherzählt. Artemesia wird von ihrem Lehrer Agostino Tassi, mit dem sie eine leidenschaftliche Liebe verbindet, entjungfert. Sie weiß nichts über die Vorgänge bei einer Defloration, Tassi weiß nicht, dass sie noch Jungfrau ist – eine Wissenskonstellation, die Konfliktpotenzial birgt. Die Malerin knüpft große Erwartungen an den ersten Geschlechtsakt, ist neugierig erregt, sucht die innige Vereinigung und befindet sich in einer auf öffnende Weite angelegten erotischen Situation. Beim Eindringen des Mannes zuckt sie vor Schreck und Schmerz zusammen, stößt praktisch im selben Moment den Liebhaber abrupt, rabiat von sich und ohrfeigt ihn. In ihrem Gesicht spiegelt sich Entsetzen, das anhält, als sie am Genital Nässe spürt, die sie mit den Fingern vorsichtig ertastet. Sie zittert noch am ganzen Leib, als sie das frische Blut an ihrer Hand erblickt. Mit einem kurzen, an den Liebhaber gerichteten, fast stammelnden »Wie?« bringt sie ihr Erstaunen und ihre Verwunderung über dieses Blut, über die ihr zugefügte ›Verletzung‹ zum Ausdruck. Sehr deutlich arbeitet die Schauspielerin die leiblichen Prozesse heraus: Den in erotischer Spannung sich weitenden Leib trifft ›der Schlag‹; plötzlich wird er in eine spitze Enge getrieben, verkrampft sich, ist von Schmerz verzerrt. Als unmittelbare Reaktion folgt der Impuls »Weg!«, wird der ›Eindringling‹ abgewehrt. Artemesia wehrt sich außerdem durch eine Ohrfeige, vergilt die ihr angetane Gewalt mit Gegengewalt und gewinnt erst allmählich ihre Fassung wieder, was filmisch dadurch umgesetzt wird, dass sich ihre verkrampfte, versteinerte Körperhaltung wie in Zeitlupe entspannt. Sie kehrt von einer Art Entkörperung, die der Schock auslöste, zurück in die leibliche Gegenwart bzw. Anwesenheit. Die Lähmung des Leibes lässt nach und sie erhebt sich langsam vom Bett, um in den Armen des Geliebten Trost zu finden. Als Artemesia in der nächsten Filmeinstellung das Atelier verlässt, zeugt ihre ganze Physiognomie noch von dem Erlebnis. Wenngleich sie erhobenen Hauptes in ihr Elternhaus zurück364 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Defloration

kehrt und sich dort nichts anmerken lassen will (und darf ), sinkt sie alsbald blass, erschöpft und aufgewühlt auf ihr Bett. Die Filmfigur Artemesia durchlebt eine Deflorationserfahrung klassischen Typs, die sie verändert zurücklässt. Im Unterschied zum vorigen Beispiel wollte sie aber den ersten Geschlechtsverkehr: Sie war neugierig auf die körperliche Vereinigung mit ihrem Geliebten, versprach sich eine Steigerung der Leidenschaft, eine innigere Verbundenheit, wenngleich es eine ihr noch unbekannte Form körperlicher Nähe war. Doch was sie erlebte waren Schmerz, Erschrecken, ja Entsetzen, die jede weitende Lust tilgte und sie in die Enge trieb und schließlich ihrem eigenen Leibe entriss. Sie blutet, fühlt sich tief in und an ihrem Leib verletzt, ist fassungslos, weil sie mit dieser Erfahrung in keiner Weise gerechnet hat und wohl auch, weil sie unwissend hinsichtlich des damit verbundenen Blutens war. Man mag nun meinen, dass solche Leiberfahrungen in unserer aufgeklärten Kultur – wenn man nicht gerade in die Abgründe der Kinderprostitution und der Ware ›Jungfernschaft‹ blickt – heute der Vergangenheit angehören und durch ein entsprechendes Vorauswissen, eine Verständigung und einen angemessenen Umgang der Partner miteinander vermieden werden können. Doch wie ist es um dieses Vorauswissen bestellt? Ist es überhaupt möglich, einer Leiberfahrung wie der Defloration durch vorausgreifende Vorstellung beizukommen? Dass das nicht der Fall sein kann, liegt schon in der Natur der Verschiedenheit von Erlebnis und Denken bzw. Vorstellen, aber die Schienung eines Erlebnisses durch Wissen ist dennoch von großer Bedeutung – im positiven wie negativen Sinn. Dies zeigte sich bereits in den vorangegangenen Kapiteln: Das Wissen um die Thelarche ändert wenig an der Tatsache, dass sie unverfügbar ist und dass bzw. wie sie individuell erlebt und wie mit ihr umgegangen wird; das Wissen um die Menarche nimmt den Mädchen zwar die in früheren Zeiten übliche Erfahrung des Schreckens und das Gefühl, krank zu sein, erspart ihnen aber keineswegs eine damit verbundene Erfahrung, die das leibliche Spüren und den Umgang mit dem Leib verändert; schließlich wissen die Frauen von heute, dass der erste Geschlechtsverkehr häufig blutig verläuft, dass es dabei zum unwiederbringlichen ›Verlust‹ eines Körperteils, des Hymens kommt, dass es eine Schwellenerfahrung ist etc., wie dieses Konglomerat von Vorstellungen sich aber in der konkreten Erfahrung auswirkt, also wie sich diese Erfahrung anfühlt, ist nicht vorwegzunehmen und zu wissen, wenngleich es heute manchen Frauen durch einen bewussten Umgang mit der Defloration gelingen mag, einige ihrer traumatischen Elemente auszuschalten. Grundsätzlich sehen wir uns aber auch heute der Tatsache gegenüber, dass Deflorationserfahrungen nach 365 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

wie vor nicht zu den angenehmen sexuellen Erfahrungen der Frau gehören bzw. dass eine schöne Deflorationserfahrung eine kostbare Ausnahme ist. Ein diesem Thema gewidmetes Buch mit dem Titel »deFloration – entBlütung« enthält eine Sammlung autobiographischer Erinnerungen. Die Herausgeberin Eva-Maria (1985, 15) stellt lakonisch fest: »Welche Rosenfeste sind in den 15 autobiographischen Erinnerungstexten dieses Buches zu bedauern, zu beklagen, zu feiern? Eines steht fest: die ›sexuelle Revolution‹ hat allenfalls in den Köpfen stattgefunden, die Revolutionierung der Seelen und der Körper steht wohl weitgehend noch bevor; denn alles theoretische Vorwissen, alle Statistik, alle aufklärungsbewußte Publizistik zum Thema der sexuellen Initiation der Frau seit 1945 verblaßt bei der Lektüre der hier vorgelegten Literatur.«

Diese Erinnerungen lesen sich als Texte fundamentaler Betroffenheit, erschütternder Leiberfahrungen und kritisch-selbstkritischer Analysen gesellschaftlicher Zustände. Als »sozio-psycho-kulturelle Befunde« würde sich zwar abzeichnen, dass alte Tabus von der Jungfräulichkeit, »der mehrtausendjährige heillose Zwangsbund zwischen Hymen und Herrschaft« bei jüngeren Jahrgängen außer Kraft getreten sei, dass das Hymen seinen Fetischcharakter verloren habe, dass nicht unbedingt Blut fließen müsse, dass es auch eine Frau sein könne, »welche die ›Handlung‹ vollzieht«. Aber: »der Druck einer körper-, frauen- = lebensfeindlichen Schuld- und Schamgesellschaft ist noch immer allgegenwärtig« (ebd.). Nichts verstehe sich bei der Defloration von selbst; vielmehr »geht die reale Erfahrung der Entjungferung noch immer einher mit großer Angst (›vorher‹)« sowie mit körperlichem Schmerz und »Enttäuschung (›während‹ und ›danach‹)« (ebd., 16). Selten fänden sich »Passagen beglückenden Erinnerns« (ebd.). Die Erfahrungsbeschreibungen sind von erstaunlicher Variationsbreite und mitunter durchzogen von »vielfarbig schillernder sprachschöpferischer Gestaltung« (ebd., 15), so dass der Eindruck entsteht, Frauen wollten sich erst eine eigene Sprache erschaffen, um ihren Erlebnissen die rechte Form zu geben.

10.2 Basale Erfahrungen in der Deflorationssituation Im Kontext der Deflorationssituation werden häufig bestimmte Typen von Erfahrungen beschrieben. Da ist zunächst, wie im Zitat von Frank thematisiert, eine diffuse Angst vor dem ›Eingriff‹, der sich vor allem aus der Vorstellung speist, dass das männliche Geschlechtsteil, in Härte und Fülle entfaltet, beim Geschlechtsakt an einer exponierten Region in den eigenen Leib hineinzukommen hat. Natalja (ebd., 150) schreibt: 366

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Defloration

»Sein Glied ist hart in ihrer Hand. Es macht ihr Angst, als sie es in seiner vollen Länge und Größe sieht. Das soll also in sie hineinpassen? Wo ja schon ein Tampon ihr Schmerzen bereitet?«

Zu diesem Aspekt gehört die Erfahrung der Enge, die sich in dem Moment des Eindringens aufdrängen kann, und zwar auch dann, wenn die genitale Zone grundsätzlich, wie bei Natalja (ebd.), in sexueller Erregung weitend entfaltet ist: »Sie liegt auf dem Rücken, unbeweglich, als er sich auf sie legt. Ein ungewohnt fremdes, schönes, neues Gefühl, seinen Penis an ihrer Klitoris zu spüren. Sie ist sehr feucht. Er stößt an den Eingang der Scheide, versucht einzudringen, aber sie ist furchtbar eng. Sie merkt schließlich, daß es nicht von alleine geht und faßt mit der Hand nach seinem Penis, um ihn sich langsam einzuführen. Es muß doch gehen! Oder ist sie vielleicht irgendwie abartig? Daß man da so nachhelfen muss, hat sie jedenfalls nicht gedacht.«

Die erste Penetration wird als etwas beschrieben, das nicht wie selbstverständlich geschieht, sich nicht aus der sexuellen Praxis wie von selbst ergibt; es wird Widerstand, Enge gespürt, die überwunden werden muss; um das An- und Eindrängen des Gliedes überhaupt zu vollziehen, muss sogar nachgeholfen werden. Darin liegt freilich eine Gewaltsamkeit, die in diesem Beispiel aktiv von der Frau mitvollzogen wird: Sie führt mit der Hand den Penis, damit er seinen Weg in ihren Leib findet. Was sie dann fühlt, ist Schmerz: »Er dringt in sie ein und sie spürt vor allem Schmerzen. Und es ist alles andere als angenehm. Sie versucht sich mit ihm mitzubewegen, aber es tut so weh.« (ebd.) In der variierenden Intensität des Schmerzes bei der ersten Penetration kommt es häufig zu einer Art Entkörperung, wobei das erlebende Ich in dem durch den Schmerz hervorgerufenen Impuls des »Weg!« gewissermaßen ›daneben‹ steht: »Der kleine Schwips vom Wein ist verflogen, sie ist total nüchtern auf einmal. Nein, sie ist nicht so richtig dabei. Es kommt ihr vor, als erlebe eine andere das ganze, als stände sie neben sich und schaue zu. … Er bewegt sich in ihr, ist aber vorsichtig dabei. Und sie läßt ihn machen, wird fast steif und versteinert dabei, aus Angst vielleicht irgendetwas falsch zu machen, wenn sie sich zuviel bewegt.« (ebd.)

Das Nüchtern-Werden ist ein Indiz für die Änderung der Erlebnisqualität, für die sich anbahnende Entkörperung. Aus der Ejakulation des Partners bezieht diese Frau schließlich Befriedigung: »Schön, ihn so zu sehen … Es ist seine Befriedigung, die ihr ganzes Glücksgefühl ausmacht, seine Lust, seine Erregung, sein Orgasmus.« (ebd., 150 f.) Doch die Befriedigung an

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der Lust des Anderen steht in Kontrast zu dem, was sie selbst, die neben sich steht, als all dies passiert, empfindet: »Sie dagegen fühlt sich nicht so besonders. Kein Rausch, kein ekstatisches Glücksgefühl. … Schmerzhaft war das ganze und irgendwie unheimlich. Enttäuschend dazu. Sie kann es nicht näher beschreiben, aber sie fühlt sich auf irgendeine Art in Besitz genommen durch sein Eindringen in ihren Körper. Wohl auch, weil sie sehr passiv dabei ist.« (ebd., 151)

Diese Frau fühlt sich »in Besitz genommen«, auch verletzt; der Rausch vom Alkohol und von der sexuellen Erregung ist vollständig verflogen. Sie ist zwar enttäuscht, aber interpretiert diese Erfahrung doch als wichtigen Beitrag zu ihrer Entfaltung als Frau: »Sie ist keine Jungfrau mehr. Ob man es ihr anmerken wird? Es ist also passiert und auch nicht wieder rückgängig zu machen. Es gibt ihr ein neues Selbstvertrauen, eine Bestätigung ihres Frauseins. Sie wird begehrt. … Ihr ist feierlich zumute. Etwas Denkwürdiges in ihrem Leben ist passiert. Nie werde ich diese Nacht, diesen Abend vergessen. Und sie denkt gern daran zurück. An ihre Gefühle, ihre Erlebnisweise, die so wahnsinnig intensiv, unvoreingenommen, unbedacht war. Sie hatte noch keine Abwehrmechanismen, die verhinderten, daß jemand so nah an sie herankommt und sie so verletzen kann wie er damals.« (ebd.)

Aus diesen Worten spricht Erleichterung darüber, dass es ›vollbracht‹ ist, dass sie auf eine erste Penetrationserfahrung nun zurückblicken kann, unabhängig von der Tatsache, dass sie sich verletzt fühlte, dass es schmerzhaft war, enttäuschend, keine Ekstase, aber sie ist jetzt nicht mehr ›unschuldig‹, hat erfahren, was eine Penetration ist, was es heißt, von einem Mann begehrt zu werden und seinen Orgasmus in sich bzw. an ihr zu erleben. Später lesen wir, dass die Beziehung drei Jahre lang andauerte: »Das Miteinanderschlafen wurde schöner, mit der Zeit, aber reden konnten beide noch nicht miteinander, darüber.« (ebd.) Dass die Penetrationen mit der Zeit »schöner« wurde, bezeugt das von vielen Frauen durchlebte Sich-Einfinden und -Einleben in die Leiberfahrung des Penetriert-Werdens. Bei den häufig durchlebten Grundmustern der Deflorationserfahrung muss berücksichtigt werden, dass sexuelle Erfahrungen in unserer Kultur in abgeschirmte, meist Innenräume ›verbannt‹ werden, was vor allem für junge Menschen, die noch unter der Obhut ihrer Eltern stehen, zu Rahmenbedingungen bei ihren ersten sexuellen Erfahrungen führt, die alles andere als angenehm, geschützt und störungsfrei sind. So bietet z. B. das Auto, das an einen abgelegenen Ort gebracht wird, häufig einen Zufluchtsort für intime Zweisamkeit und für Deflorationserfahrungen bei368

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derlei Geschlechts. Der Grad der Bequemlichkeit eines solchen Innenraumes und seine Eignung für erotische Atmosphären beim ersten Geschlechtsverkehr bedarf wohl kaum einer Erörterung. Cornelia schildert in ihrem autobiographischen Text die Selbstverständlichkeit, mit der sexuelle Erfahrungen unter Heranwachsenden im Auto stattfinden: »Bis zu diesem Tag war unsere Liebe eine Auto-Liebe gewesen, unsere Sexualität eine Auto-Sexualität. So natürlich schien es mir, daß ›es‹ sich auch im Auto ereignen würde, hatte dabei jedoch nicht bedacht, daß ›es‹ viel raumaufwendiger sein würde als Küsse, Umarmungen, gegenseitiges Streicheln. Diese vielen Unterbrechungen! Langes Gewurstele, bis man die Hose ausgezogen hat. Der Sitz muß heruntergedreht werden. Nun hängt der Kopf über der Lehne; können wir nicht unsere Kleider darunter legen? – Zuviel Ablenkung zwischen mir und Dir, zuviel Erwartung, Angst und Unsicherheit in uns, als daß ›es‹ sich hätte bruchlos und natürlich ergeben können. Während Du versuchst, Deine langen Beine irgendwo in der Enge des Wagens unterzubringen, kriecht Kälte über meinen Körper, eine verdammte Kälte, die nicht wieder weichen will.« (ebd., 88 f.)

Hier geht es neben der atmosphärischen Konstellation ebenso um praktische Belange, denn eine Penetration ist auf bestimmte Körperpositionen angewiesen, auf Spiel- und Freiräume beider Leiber, die sich aufeinander einschwingen, sich miteinander bewegen. Dass die Erfüllung dieser Bedingungen im Auto alles andere als leicht ist, schildert Cornelia recht eindringlich: »Ich weiß, ich muß das Becken mehr aufrichten (woher weiß ich das?). Doch wo kann ich mich abstützen? Meine Füße treten ins Leere. Die Autotür ist eisig. Keine feuchte Wärme hilft Dir, das Ziel zu finden. Deine freie Hand gleitet zu Deinem Schwanz, um ihn zu führen. Nein, laß mich! Komm, laß mich ihn zu streicheln. Das ist doch kein Versagen … Wie fremd dieses Glied, wenn es etwas sucht. Es hat doch sonst nie gesucht. Entschuldige bitte, aber ich kann Dich nicht fühlen, ich kann Dir nicht helfen. Versuch Du es wieder, Du kennst Dich besser als ich. Aua – nein, nicht dort. Du drückst mir das Bein ab. Kälte streicht über Brust und Bauch, verdammte Kälte. … Noch ein Stoß. Warum geht ›es‹ nicht? Was machst Du da, so allein, ohne mich? Ja, da ist es richtig. Au, das drückt, es tut weh, es dauert so lange, viel zu lange. Nein, nicht zögern, nicht zurückweichen, nicht noch mal von vorn anfangen, es geht schon, los … Schmerz, Erstaunen … Beweg dich, ich möchte fühlen, was dabei passiert. Halt, nicht mehr, still. Es brennt. Mein Bauch brennt. Ich spüre Dich nicht, nur Feuer. Du bist nur Feuer. Wo ist das außerordentlich beglückende Gefühl?« (ebd., 89)

Trotz der ungemütlichen Situation weiß Cornelia offenbar, woher weiß sie wiederum nicht, aber es ergibt sich aus ihrem leiblichen Spüren, in welcher Körperposition sie sich zu halten hat – anfänglich, bis auch sie der Entkör369

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perung anheim fällt und die Penetration als sexuelle Entfremdung erlebt, in die der Schmerz, das Brennen und die Enttäuschung hereinragen. Dann erfolgt das Sich-Wieder-Finden im Leib und eine Reflexionsphase: »Der akute Schmerz läßt nach. … Die Kälte bringt mich zum Zittern. Es ist wohl besser, wenn ich mich jetzt anziehe. Enttäuschung für einen Moment. – Blut? Die Tampons haben schon Vorarbeit geleistet. Wie das brennt! Unsicherheit beim Anziehen. … Verlegenheit. ›Es‹ ist passiert. Was sagt man sich danach? – Stolz. Ich habe dir das geschenkt, was ich nur einmal im Leben verschenken konnte. … Du, Liebster, Erster, wirst immer der Erste bleiben, unvergeßlich, unwiederbringlich; weißt Du, was das bedeutet? Das nächste Mal wird es besser gehen, wir werden noch so viele schöne Stunden miteinander verleben. Dieses Brennen, dieser gedämpfte Schmerz, dieses ungewohnte Gefühl, das mich daran erinnert: ›es‹ ist passiert. … Merkwürdig allein und unsicher fühle ich mich.« (ebd., 89 f.)

Die Rückkehr in leibliche Anwesenheit ist durch den nachlassenden Schmerz charakterisiert. Der in der Kälte des Wageninneren erneut gespürte Leib erzittert, brennt aber nach wie vor – eine eigentümliche, kontrastierende Bildlichkeit von äußerer Kälte und innerem Brennen. Einsamkeit und Unsicherheit verbleiben als Gefühlsqualitäten im Verbund mit der Fremdheit, die auch nach weiteren Begegnungen nicht abnimmt: »Mein Leben hatte sich nicht verändert. Ich ging immer noch zur Schule und hatte dieselben Freunde. Nur hatte ich inzwischen mein eigenes Zimmer, und in diesem Zimmer, fern der Aufsicht meiner Mutter, stand ein Bett. In diesem ersten Bett, das uns ungestört zur Verfügung stand, lernte ich, daß man bestimmte Geschenke nur einmal macht. Du hattest einen Schlüssel, mit dem Du jederzeit hereinkommen konntest, und ich verzehrte brav meinen Pillenvorrat, damit Dein Eintritt ungestört verliefe. Es gab kein Zurück mehr. Ich war Frau und Du wußtest, daß ich Frau war. Über Verhütungsmittel sprachen wir nie. Die waren stillschweigend vorausgesetzt, meine Angelegenheit. Die waren auch nicht der Grund für meine Sorgen. Mein Mut sank, als ich merkte, daß wir nicht mehr gleich waren, daß dieses Fremdsein nicht aufhörte, im Gegenteil immer stärker wurde.« (ebd., 90)

Diese Fremdheit in der sexuellen Begegnung bezeichnet ein typisches Element nach einer ›unglücklichen‹ Deflorationserfahrung und im Kontext eines Sexualdiskurses, der die sexuelle Praxis nach der Entjungferung auf den Genitalverkehr beschränkt und, für das Erleben dieser Frau, wie den weiteren Ausführungen zu entnehmen ist, auch isoliert. Da ist die Rede von den »einsamen Orgasmen« (ebd.) des Mannes, von »stummen Gesten«, von der »Antwortlosigkeit meines Körpers« (ebd., 91):

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»Und immer wieder kroch, sobald Du Dich über mich erhobst, dieselbe Kälte über meinen Körper wie beim ersten Mal. … Endlos die Entfernung zu Dir während Du in mir wühlst.« (ebd.)

Dem Sexualpartner wird weiterhin der Verkehr gestattet, ohne dass die Frau den Mut aufbringt, ihre eigenen Wünsche zu artikulieren. Die Entfremdung bleibt ein bestimmendes Moment in dieser Partnerschaft, die schließlich zerbricht und ihre Spuren auch noch bei nachfolgenden Partnern hinterlässt: »Alle Männer, die nach Dir kamen, mußten mit dem, was Du aus mir gemacht hattest, was ich aus mir hatte machen lassen, kämpfen – und ich kämpfte gegen Dich in jedem von ihnen. Angst, Orgasmussuche, der Mythos vom vaginalen Orgasmus, Verweigerung, Öffnung. Der Weg war lang, doch ich habe den Schlüssel zurückerobert.« (ebd.)

Hier zeichnet sich ab, wie die Deflorationserfahrung und die ihr folgenden Penetrationserfahrungen zunächst wie ein Trauma anhaften und sich erst allmählich eine Aneignung der eigenen lustvollen Sexualerfahrung, ein sexuelles Selbstbewusstsein und eine sexuelle Selbstbestimmung entfalten – ein Prozess, den offenbar viele Frauen durchleben. Auch Inge beschreibt die Tücken des Autos als Ort für die Defloration mit eindringlichen Stimmungsbildern (ebd., 22), und auch in ihrem Fall handelt es sich um eine geplante, abgesprochene Defloration, die mit typischen Metaphern des sexuellen Diskurses vorgeprägt und von Sehnsucht und Notwendigkeit, Unsicherheit und Angst durchzogen ist: »Die heilige, zwiespältig ersehnte, nicht mehr hinausschiebbare, mit rosaroten Blütenträumen vorbedachte Handlung hat zu geschehen. Unsicherheit und Angst. Ob nicht doch lieber nicht? Da werden alle Zweifel über Bord geworfen. Was sein muß, muß sein. Die Einführung ins Erwachsenensein ist lang genug erwartet worden. Er-wartet.« (ebd. )

Die diese Deflorationserfahrung umgebende Atmosphäre ist bereits im Vorfeld trotz der bewussten Entscheidung von Unsicherheit, Angst und Zweifeln geprägt. Auch als die ersten Versuche fehlschlagen (»Ein Schwanz will in dich rein und findet den Weg nicht«), heißt es: »Weitermachen.« Was Inge beschreibt, ist ausgesprochen ambivalent, denn sie fühlt sich in einer Situation, der sie innerlich nicht zustimmt, obwohl sie gewollt ist: »Tief unten im Magen fühlst du Ekel.« (ebd.) Inges zwiespältige Haltung, die sie bewusst zu steuern versucht, lässt sich nicht verdrängen und manifestiert sich in der Regung des Ekels. Der Ekel wird unabweislich gespürt. Er drängt sich an einer für diese Erfahrung typischen Leibesinsel auf, in der Gegend des Magens. Schmitz (1995, 127) schreibt über den Ekel, er 371

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sei eine »Zersetzung der Leiblichkeit in Extreme«, wobei erstens »protopathische Tendenz von der epikritischen ausgestoßen wird – mit sinnfälliger Darbietung im Erbrechen« und zweitens durch »Zurückschaudern in die Enge des Leibes vor der aufdringlichen Gegenwart eines Objekts, das mit diffus-protopathischer Physiognomie den Angeekelten bedrängt, Engung und Weitung abgespalten wird«. 1 Gerade diese Tendenz des Zurückschauderns versucht Inge aber zurückzuweisen, indem sie »sorgsam die eingelernten Worte« repetiert, »die behaupten, du liebtest ihn«. Aber: »Du weißt, daß du lügst, jetzt in diesem Augenblick«. Dieser Augenblick, der ihr den Ekel aufdrängt, spricht die Wahrheit, und doch vermag Inge es nicht, dem Zurückschaudern ihres Leibes zu folgen und beispielsweise die Situation zu beenden. Für Inge gibt es kein Zurück. Sie scheint wie gelähmt und lässt die Defloration über sich ergehen, was zu dramatischen Erfahrungen führt: »Da ist etwas in dir drin, und du willst’s nicht haben. Weil’s dich nicht versteht. Weil’s nicht weiß, was du willst, weil’s nicht weiß, was du fühlst. Da stochert etwas in dir rum, das hat kein Recht dazu. Da wühlt ein Messer in dir, dem hast du den Eintritt nicht gestattet. Da verschafft sich etwas Zutritt, das nicht rein gehört. Da kommt kein Blut. Nein. Da kommt auch kein Schleim. Da kommt gar nichts. Da kommt nur Schmerz. Da kommt Wut. Was nicht kommt, ist der Mut, die Wut zu schreien, zu beißen, sie zu ballen und wegzuschleudern. Da kommen nicht mal Tränen – die erst später, viel später, Jahre später erst, wenn du Pech hast. Was kommt, ist das Gefühl, mißbraucht zu sein. Verletzt zu sein. Die Integrität verloren zu haben. Beschmutzt zu sein. Da kommt Ekel. Ekel vor dir selbst, vor der Situation, auf die du dich (und nicht mal blind) eingelassen hast. Und über den, der das ausgenutzt hat. Über die, die die Situation so gestalteten, daß dir nichts blieb als ein Auto. Da kommt Angst. Angst, etwas verloren zu haben, das unwiederbringlich war. Für einen, der’s nicht wert ist.« (Eva-Maria, 1985, 23)

Wüsste man nicht, dass dies die Beschreibung einer ›vereinbarten‹ Defloration ist, könnte man an eine Vergewaltigung denken. In der Tat erlebt Inge ihre Defloration als tiefe Verletzung ihres Leibes, als Verlust der Integrität. Aber die Verletzung ist nicht von der Art einer äußerlichen Wunde, sie schürft im Inneren. Da ist etwas in ihr, das sie dort nicht spüren will. Sie scheint beinahe entkörpert zu sein, wenn sie sagt, etwas stochere, wühle in ihr herum, ein scharfer, schneidender Gegenstand. Die das »Etwas« umgebende Leibesregion ist trocken, weder von Blut noch Sekret benetzt. »Da kommt gar nichts«, d. h. keine weitende Tendenz, da ist nur Enge, und diese leibliche Enge ist der Schmerz, der in stumme, mutlose, ohnmächti1

Vgl. hierzu auch § 62 Der Ekel bei Schmitz, 1998b, 240–245.

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ge Wut hinüberführt. Der Leib scheint gelähmt, er schaudert nicht mehr, wie noch im Ekel, zurück; er macht sich nicht mehr in der Magengrube bemerkbar, er ist in seiner Ganzheit ergriffen. Es gibt – noch – keine Tränen, die aus dieser leiblichen Enge, erlösend in die Weite greifen würden. Es gibt nur dieses Gefühl der Verletzung, des Missbrauchs, des Verlustes der leiblichen Integrität, und mit diesem dann auch wieder – wohl mit etwas Abstand – erneut der Ekel, diesmal auch der Ekel vor sich selbst, vor dem, was Inge sich selbst angetan hat, indem sie es zuließ, ohne bereit zu sein, ohne den Mut zum artikulierten »Nein« oder »Nein, jetzt nicht!« gehabt zu haben. Schließlich ist noch von Angst die Rede, eine paradoxe Angst, Angst vor einem Verlust, der bereits geschehen ist. In der Reflexion heißt es dann weiter: »Da legt sich eine messerfeine Linie um deine Mundwinkel. Da hat sich dein Haar verklebt und der Muskel im Bauch schmerzhaft zusammengezogen. So ist das. So. Da bohrt sich etwas in dich hinein, das heißt Schwanz. Und etwas, das heißt: Haß. Und etwas, das heißt: Kälte. Was du ersehntest war, jetzt weißt du es, etwas anderes.« (ebd., 23)

Inge beschreibt den von vielen Frauen in der Defloration erfahrenen Bruch zwischen dem – vom leiblichen ebenso wie vom diskursiven Horizont her – Ersehntem und der tatsächlichen Erfahrung, den Beauvoir (1970, 351– 381) schon treffend zu explizieren wusste. Es wird auch eine leibliche Regung im Bauch erinnert, der sich »schmerzhaft zusammengezogen« hat, der in der ganzleiblich ergreifenden Enge noch als besondere Region engenden Erlebens hervorgetreten ist. Dann ist von Hass die Rede, Hass auf den wohl nicht sehr einfühlsamen Deflorierer, vor dem bohrenden Objekt seines Tuns, aber auch von Kälte, die Kälte der Umgebung des Automobils, Inges eigene Kälte, die engende Kälte einer Schmerzerfahrung, eines Verlustes der leiblichen Integrität: »Das war alles? Das war viel. Das war sogar viel zu viel. Das nimmt dir den Atem, den Widerstand. Das schneidet dein NEIN kurz und klein, kippt deinen Stolz auf die Müllhalde. Das wirft dich um. Mehr noch – das schmeißt dich weg. Das bricht deiner Lust alle Knochen, das bricht, paß nur auf, das bricht ihr den Hals. Das ist nicht wieder abzuwaschen, und stellst du dich noch so viele Stunden unter die heiße Dusche …« (Eva-Maria, 1985, 23)

Hier wird das Ausmaß deutlich, mit dem die Deflorationserfahrung diese Frau verändert, ja aus der Bahn geworfen hat. Nicht nur, dass ihre sexuelle Lust gebrochen ist, für sie fühlt es sich an, als hätte es ihr »den Hals« gebrochen, also quasi das Leben genommen, so wie ihr auch der Atem genommen wurde und mit ihm der Widerstand, das Nein-sagen, der Stolz 373

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des Selbstbewusstseins und der Selbstbestimmung. Sie fühlt sich wie »Müll«, es ist ihr etwas ›Entrückendes‹ passiert, etwas ›Abspaltendes‹, eine Entkörperung. Dieses Schicksal ist zum entstellenden Stigma geworden, das sich körperlich nicht »abwaschen« lässt, das ihr tief in ihren Leib geschrieben ist. Weiter heißt es: »Der Ekel wächst, der Ekel vor dir selbst. Nicht nur, als hättest du etwas verloren. Ganz sicher und klar steht die Gewißheit hinter deiner Stirn – du bist verloren. Unauffindbar verloren. Du und dein Stolz und dein Haar und dein Blick und dein Körper und, ja, auch sie, deine Seele, an die du nie so recht glaubtest. Verloren. Verdammt. … Verworfen bist du. Verworfen. Schuldig, Schuldig, wühlt es sich durch die Windungen deines Hirns. Durch die Windungen der dünnen Häutchen im Bauch wühlt sich der Schmerz fast erleichternd, ablenkend von dem, was da denkt.« (ebd., 24)

Der Ekel bezieht sich nicht mehr nur auf ein äußeres Objekt, sondern auf sie selbst, wie sie sich jetzt vorfindet, in dieser Erfahrung, in der sie ortlos geworden ist, »unauffindbar verloren«, mit Körper und anwesendem Ich, der »Seele«. Gegenüber der Unfassbarkeit dieses Erlebens wirkt der sich in Erinnerung bringende wühlende Schmerz »fast erleichternd«, weil er einen Ort hat, im Bauch. Der Schmerz bringt sie zurück in den Leib, sie ist wieder anwesend, ihres Leibes gegenwärtig, und mit dem gespürten Schmerz im Bauch kommt eine aufbegehrende Regung zur ›Befreiung‹ – die Rebellion, die Wut, die sich »endlich« durchbrechen will: »Und endlich, endlich willst du beißen, willst du schlagen, willst du schreien. Du hebst den Kopf mit einem Ruck, krallst die Fingernägel in kühle Schulterhaut, dein Aufschrei wächst schon in der Kehle, endlich, endlich, aber du machst einen Fehler, unverzeihlich, aber du machst ihn: du schaust IHN an. … Er – schläft. Und du, du wagst es nicht, ihn zu wecken, ihn von dir zu stoßen, wagst es nicht, wagst es nicht. Läßt ihn schlafen. Verachtest ihn. Verachtest dich. …« (ebd.)

Die aufkeimende Wut, dieses ›handgreifliche‹ sich Befreien-Wollen von der Ohnmacht wird durch einen ›verhängnisvollen‹ Fehler im Keim erstickt. Inge ist beim Anblick ihres Deflorierers erneut so gelähmt, dass sie es nicht wagt, sich seiner Nähe zu entziehen, auch nur körperlich Abstand zu gewinnen – und sie verachtet sich selbst für diese Unfähigkeit. In Reflexion auf ihre Defloration wird Inge nicht müde, diese als ›Zerstörungs‹- und ›Durchbohrungserlebnis‹ zu versprachlichen. Sie spricht davon, von »einem Traum entbunden« (ebd., 27) worden zu sein, der »irritierende Traum« (ebd., 25) von Erfüllung, den sie mit der geschlechtlichen Vereinigung verbunden hatte und den sie allgemein mit dem Leben verbindet. Sie fühlt sich so, als habe sie sich eines »Wunsches entklei374

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det«, »die Haut der Utopie abgestreift, aber nicht schmerzlos, dafür trostlos« (ebd., 27): »Nackt und ausgeraubt. Halb bewußtlos traut das Denken, das Fühlen nicht den Sinnen. Mit welcher Gewalt zermalmt ist sie, die samtige, taubeglückte Blüte des Traums. Nichts bleibt von ihr als ein zerknickter Stengel, als zerquetschte Blütenkleckse, als entlebte Wurzeln. Wo die Traumblüte wuchs, klafft eine Wunde. Herausgerissen ist sie, mitten aus dem Leben gerissen, sorglos, rücksichtslos, gegriffen und zerquetscht in grober Hand, die Seelenfetzen hängen noch daran, tränensalzig, farblos, kraftlos. Schmerzverkrümmt liegen sie, die Wünsche, verkrüppelt starren sie, die Hoffnungen, verendend jammern sie, die Träume. Entleibt ist sie, die Ganzheit, längst, ehe sie sich zur Blüte entfalten konnte. Zu früh, viel zu früh. Zu grob. Und irreparabel. Warum? Warum aus allen Träumen gerissen und gegen den Felsblock Realität geschmettert? Was da zerbricht. Was da vernarben muß, was da verhornt, was da zerreißt und nie wieder heilt, nie wieder ganz wird, rund und lebendig.«

Die von Inge gewählte Metaphorik unterstreicht das Erleben der Entkörperung, der Entleibung, das sie hart mit der Realität konfrontierte, und zwar nicht nur mit der individuellen Realität eines nicht gerade einfühlsamen Partners und einer ›lusthemmenden‹ Umgebung, sondern auch mit der kollektiven Realität unserer Sexualkultur, die solche Erlebnisse provoziert, weil sie die jugendliche Sexualität ablehnt und in verbotene Zonen, also in räumlich auf besondere Weise gespannte Atmosphären drängt, weil sie die Heranwachsenden mit realitätsfremden Vorstellungen von der Liebe und der auf Penetration zielenden Sexualität infiltriert und weil sie keine wie auch immer gearteten implantierenden Situationen für den ersten Geschlechtsverkehr schafft. So war Inge beispielsweise von ihren Eltern vor einer ›verfrühten‹ Defloration gewarnt worden, ohne dass ihr verständlich geworden wäre, worum es sich bei diesem ›verfrüht‹ handeln könnte. Andererseits gab es den Druck, es endlich geschehen zu lassen, endlich Frau zu werden, die Jungfernschaft hinter sich zu lassen. Und, das lesen wir später, nach dem Deflorationserlebnis kommt es keineswegs zur Trennung von ihrem Freund; sie versuchen es wieder, unter besseren Bedingungen: »… sie haben ein Bett zur Verfügung, einen Raum, in dem keine Störung zu erwarten ist, in dem es warm ist, sie haben Zeit, sie haben Verhütungsmittel, sie schicken sich an, Liebe zu machen. Noch immer nähren sie die Hoffnung, daß es ihnen gelingen wird, eines Tages, dieses feine Gespinst aus Harmonie und Begehren gemeinsam in ihren Händen zu halten. Zu diesem Zweck bemüht sie sich, wenigstens seinen Erwartungen gerecht zu werden.« (ebd., 28)

Die hier analysierte Deflorationserfahrung mag besonders dramatisch gewesen sein, andere Beispiele aus den 15 Erinnerungstexten des Buches »de375

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Floration – entBlütung« sprechen aber eine ähnliche Sprache. Immer wieder ist die Rede von der Angst vor der Defloration, vor dem Unbekannten des Eindringens in den eigenen Leib, Angst davor, es zu früh oder zu spät zu tun, Angst vor Verteidigung oder Preisgabe der Jungfernschaft, vor allem aber Angst vor dem mit der Penetration verbundenen körperlichen ›Eingriff‹, vor dem »Messer im Bauch« (ebd., 37). Es finden sich ›Durchbohrungs-‹ und ›Zerstörungsängste‹, Gewaltängste, die meist so intensiv sind, dass sie zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit, zu einem Versinken ins Diffuse und/oder aber in die Abspaltung des anwesenden Ich führen. Das beschreibt Andrea: »Ich war wie in einem Niemandsland, einem Übergangsstadium, und das meiste, das Eigentliche, passierte mir unbewußt. … Er legte sich auf mich, und ich wußte, das mußte so sein. Er drückte und schob seinen Schwanz in meine Öffnung; zum wievielten Mal registrierte ich meine Angst? Und Angst wovor? Aber ich registrierte mit dem gleichen klaren Verstand – den Kopf hielt ich immer noch über Wasser –, daß er sich Mühe gab, mich nicht zu verletzen, daß es ihm Vergnügen bereitete, daß er mich anlächelte.« (ebd., 38)

Hier wird die Defloration wieder eindeutig in angstbesetzter Passivität erlitten, von einer Frau, die bei klarem Verstand ist und nicht nur die eigene Angst, sondern auch den Geschlechtsakt, schließlich den Orgasmus des Mannes wie aus einer leibfernen Perspektive registriert. Eine erotische Erfahrung der Frau suchen wir vergebens. In den Deflorationsbeschreibungen hält sich ebenso hartnäckig die Rede von einem spezifischen Schmerz im Unterleib. Andrea schreibt weiter (ebd., 39): »Dann ertönte ein langanhaltender schabender Schmerz in mir, der – durchaus erträglich – das einzige wirkliche Lust- und Glücksgefühl in mir hervorrief, das ich in jenem Moment zu empfinden bereit war. Es war vollbracht – diese Sensation erfüllte meinen ganzen Körper, und ich hätte wer weiß was darum gegeben, hätte sich das ganze Ereignis auf diesen disharmonisierenden schrägen Schmerzenston in mir beschränken können.«

Das klingt beinahe wie ein Patient, der ohne Narkose eine notwendige Operation an sich vollbringen lässt, wobei der Schmerz ihm sagt, dass er das Schlimmste überstanden hat. Doch was nach dem Schmerz für Andrea noch bleibt, ist das Abwarten auf die Vollendung der »Masturbation des Mannes in der Scheide der Frau«, wenn »die Seelen in großer Distanz voneinander gerückt sind«, es bleibt eine »Traurigkeit« und eine Anklage »in jugendlicher Unternehmungslust einen wichtigen Augenblick meines Lebens so bedenkenlos verschenkt, dem Drang des Angepaßtseins, der NeuGier geopfert zu haben« (ebd.), ferner der Versuch, am nächsten Morgen 376

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das Erlebte zu bewältigen: »Seelisch noch immer narkotisiert, blieb mir nur die Gewißheit, daß mir anatomisch gesehen für weitere sexuelle Ausflüge nichts mehr im Wege stand.« (ebd.) In diesem und vielen anderen Beispielen ist die Rede davon, dass es eine allein oder gemeinsam mit den Partnern gefällte Entscheidung für die Defloration gab. Bei Andrea war der Entschluss, wie wir von ihr erfahren, eine Entscheidung für ihren Vater und eine »Einweihung in das von meiner Rumpelstilzchen-Mutter sadistisch gehegte Geheimnis, eine Überwindung ihrer schrillen kreischenden Drohungen und Unheilsbotschaften« (ebd., 40). Sie versucht ihren Deflorationsakt aber auch nüchtern zu betrachten, als anatomische Anbahnung einer vollwertigen Sexualität, der die »Einweihung in die Wonnen des Orgasmus« erst folgte. Bei ihr kam es aber später zu einer vorübergehenden »plötzliche[n] und hartnäckige[n] Orgasmusunfähigkeit«, die sie in den Kontext ihrer Defloration stellt. Sexuelle Anästhesie kann sich auch unmittelbar im Anschluss an die Deflorationserfahrung einstellen. So erfahren wir in einem Roman von Marie Cardinal (1980, 24) von einer jungen Frau, die von mehreren Versuchen des Geschlechtsverkehrs berichtet, bis es schließlich gelingt und das Sexualleben der Partner verändert: »Als wir hierher zurückgekommen sind, hatten wir alles gemacht, bloß nicht miteinander geschlafen. … Und dann, im Oktober, bei ihm zu Hause, in seinem Zimmer, als alle Freunde im Haus waren und noch seine Eltern, hat er sich ausgezogen, hat sich auf mich gestürzt, er hat heftig geatmet, er hat mir wehgetan. Diesmal habe ich genau gespürt, daß er weiter gegangen ist. Ausgerechnet in diesem Moment hat jemand die Tür zu seinem Zimmer aufgemacht. Er ist wie der Teufel aus dem Bett gesprungen, ist in seine Hose gefahren, und weg war er. Ich habe gedacht: Jetzt bin ich keine Jungfrau mehr. Das Schlimmste ist, daß wir es nie wieder gemacht haben. Wir hatten keine Lust mehr, weder er noch ich. Mit einem Schlage war ich nicht mehr verliebt in ihn, verstehst du. Jetzt bin ich schwanger.«

Viele Frauen beschreiben Veränderungen ihrer sexuellen Empfindungen durch die Defloration. Gerade im Ausklingen einer Deflorationserfahrung werden Zustände von Enttäuschung und Ernüchterung geschildert, auch wenn es eine angenehme erotische Vorgeschichte gegeben hat, z. B. in einem Roman von Frederiksson (1999, 251): »Dann gingen wir zurück zum Boot und küßten weiter, und jetzt fühlte ich, daß die Luft zwischen uns stach, als wäre sie elektrisch aufgeladen, und daß das Blut in den Adern rauschte. Dann weiß ich noch, daß es weh tat, und dann war es vorbei. Es war irgendwie enttäuschend. Nicht überwältigend.«

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Auch Sylvia Plath verarbeitet eine Deflorationserfahrung in ihrem Buch »Die Glasglocke«. Die Icherzählerin plant ihre Defloration absichtlich mit einem erfahrenen Mann, der vorher und nachher keine Rolle in ihrem Leben spielen würde, »eine Art unpersönlicher Amtsperson, wie in den Geschichten über Stammesriten« (Plath, 1990, 218). Ihre »Jungfräulichkeit«, die sie fünf Jahre lang verteidigt hatte, hing ihr »wie ein Mühlstein um den Hals« (ebd.): »jetzt war ich es satt« (ebd., 219). Wie viele junge Frauen wartete sie »auf die wunderbare Veränderung« und wird von einer unbarmherzigen Realität überrollt: »Aber alles, was ich spürte, war ein scharfer, erschreckend starker Schmerz.« (ebd.) Als der Liebhaber Irwin den Ort des Geschehens verlässt, ist sie verunsichert, will ihn fragen, ob sie tatsächlich ihre Jungfräulichkeit verloren habe. Dann spürt sie »eine warme Flüssigkeit« »zwischen ihren Beinen« hervorsickern (ebd.). Sie berührt diese Flüssigkeit und blickt auf schwarz verfärbte Fingerspitzen. Sie wird nervös, bittet um ein Handtuch, womit auch einmal die hygienische Seite des blutenden Leibes, das Versorgen und Reinigen des Genitals, thematisiert ist. Sie verkündet Irwin, dass sie blutet, setzt sich »mit einem Ruck« auf und wird zunächst durch seine Worte, dass dies oft passiere, beruhigt. Schließlich wird ihr klar, dass das Blut die erfolgreiche Entjungferung anzeigt: »Ich konnte unmöglich noch Jungfrau sein. Ich lächelte ins Dunkel. Ich hatte teil an einer großen Tradition.« (ebd., 220) Sie versorgt »ihre Wunde« weiter, aber ihre Defloration endet recht dramatisch im Krankenhaus, weil sie – was äußerst selten vorkommt – Unmengen von Blut verliert und medizinisch behandelt werden muss. Den ›Zerstörungs‹- und ›Durchbohrungsängsten‹ vor der Defloration entsprechen häufig Erfahrungen der Verletzung des Leibes, wie sie hier auch in der Rede von der »Wunde«, die versorgt werden muss, deutlich wurde. Tiefgreifender als die Erfahrung von der tatsächlichen Wunde am Genital, ist die Erfahrung der Verletzung durch In-Besitznahme des eigenen Leibes durch eine ›fremde Macht‹. Das spricht auch Eva Beate in ihrem autobiographischen Bericht an (Eva-Maria, 1985, 116): »… diese erste Liebeswoche war eher Arbeit als Lust und es tat weh, bevor die Grenzen sich auftaten und ich es gestatten konnte, daß diese fremde Macht mein Land betrat und in meine Räume drang. Die Verletzung hatte stattgefunden. Ich war nicht mehr der alleinige Bewohner meines Körpers. Jemand, ein Mann, hatte teilgenommen an mir, war eingedrungen in mich. Ich würde nie wieder so sein wie vorher. Unwiederbringlich dahin. Ich hatte mich eingelassen, indem ich ihn in mich hineinließ. … Ich war verletzt worden von ihm, buchstäblich. Er war der erste, der in meinen Körper ging, sich in mich vertiefte, sich in mich vergrub, dem ich mich öffnete, dem ich mich entzog.«

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Das Gefühl, verletzt worden zu sein, ist aber auch von dem Stolz begleitet, »daß ich nun eine Frau war«: »Man konnte es schließlich sehen und beweisen: Es war Blut geflossen.« (ebd.) Deutlich wird in dieser Beschreibung, dass die Defloration ein Prozess sein kann, der allmählich Freiräume schafft bis hin zur Grenzüberschreitung der ›Preisgabe‹ des eigenen Leibes. Wie in vielen anderen Beispielen ist die Defloration bzw. der Prozess, der zur Defloration führt, keine leichte Aufgabe und wird hier gar als »Arbeit« thematisiert. Verena Stefan spricht in ihren autobiographischen Erinnerungen »Häutungen« von drei Deflorationsversuchen. Beim ersten Mal gab es den Vorsatz, aus dem aber kein richtiger Versuch wurde: »liebe konnte die angst davor nicht beseitigen. die gefühle … reichten nicht aus, um das problem sexualität zu entschärfen« (Stefan, 1979, 11). Auch der Anblick des männlichen Geschlechtsteils schürt Angst und weckt Ekel: »Der penis wucherte fremd aus dem männlichen körper heraus, mit nichts vergleichbar. ich befürchtete nicht in erster linie, schwanger zu werden, sondern war von dieser schlenkernden wucherung abgestossen.« (ebd.)

Der zweite Versuch entstand aus einer kühlen Kalkulation, »es war längst nicht mehr eine frage von liebe. auch glaubte ich nicht, daß ich dadurch erwachsener werden würde, aber man würde mich als vollwertig behandeln« (ebd., 12). Jetzt war es eine Frage der rechten Wahl eines möglichst erfahrenen Partners, mit Einfühlsamkeit und Geduld. Doch auch diesmal gerät die Defloration zu eine Art fehlgeschlagener ›Operation ohne Narkose‹ : »… weit entfernt in meinem unter leib stiess der penis an etwas straff gespanntes, das nicht nachgab. Ich bekam keine luft, konnte mich nicht bewegen. ich hasste, nach luft schnappen zu müssen. er versuchte, zärtlich die haare auf meinem kopf zu streicheln, fragte mehrmals, ob es mir spass machen würde. ich nickte, wusste, daß er bestätigung wollte. ›du hättest dich besser bewegen können‹, meinte er abschliessend. ich zuckte zusammen. wie denn, ich hatte mir die bewegungen doch ausdenken müssen. ausserdem war das ganz umsonst gewesen. ich war nicht defloriert.« (ebd., 12 f.)

Stefan beschreibt, wie sie den Widerstand spürt, den das Hymen dem Penis entgegensetzt. Da war etwas »straff Gespanntes«, das sich nicht durchdringen ließ, sich aber aus der Ferne des Unterleibs aufdrängt. Diese Distanz steht wohl für die körperliche Entfernung vom im ›Kopf‹ gespürten Ich zum Unterleib, denn Stefan ist keineswegs »hier« anwesend, am Ort des Deflorationsgeschehens, sondern »dort« in der von Rationalisierungsprozessen ›verkopften‹ Angst. Die Empfindung des Widerstandes in der Vagina verschlägt ihr den Atem, lähmt ihre Glieder, was sie sehr bewusst, 379

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gleichsam entkörpert, wahrnimmt und – natürlich – »hasst«. Sie lügt: Sie beantwortet nicht seine Frage nach ihrem Spaß, sondern wählt bewusst den Weg, ihn zu bestätigen. Schließlich »zuckt« sie bei seinem Vorwurf zusammen, doch sie stimmt ihm indirekt auch zu, wenn sie davon spricht, dass sie unter dem Zwang stand, sich diese ihr fremden, ungewohnten Bewegungen auszudenken. Sie war eben nicht »hier«, in leiblicher Anwesenheit wechselseitig aufeinander abgestimmter Leibesbewegungen, sondern »dort«, wo der Körper mechanisch bewegt wird, wo Bewegungen ausgedacht werden müssen, weil sie nicht spontan aus der gemeinsamen leiblichen Anwesenheit entstehen. Der dritte Versuch ›gelingt‹ dann mit einem anderen Partner; jetzt spielt Verliebtheit wieder eine Rolle. Der Versuch dauert drei Nächte: »danach blutete ich nicht mehr, und der schmerz ließ nach« (ebd., 13). In der ersten Nacht spürt sie »Feuchtigkeit und kühle zwischen den beinen« und fragt sich »ist das nass von ihm oder von mir?«; der Blick auf das Laken gibt ihr Gewissheit: »ich sehe dunkle flecken. es scheint geschehen zu sein.« (ebd., 14) Doch der Schmerz hält in der folgenden Nacht noch an und sie fragt verunsichert: »dauert es immer so lange?« (ebd.) Selbst in der dritten Nacht erlebt Stefan keinen Orgasmus, nur Schmerz: »Es war die dritte nacht, in der wir miteinander schliefen. wieder hatte ich schmerzen gehabt, auf dem laken lag noch blut. … Ich würde üben und üben, irgendwie würde ich es schon schaffen.« (ebd., 18)

Dieses Beispiel macht erneut deutlich, wie schwierig die mit der Defloration verbundenen Anfänge der genitalen Sexualität, wie schmerzhaft die der Defloration folgenden Penetrationen noch sein können, dass auch das Bluten nicht auf den ersten Geschlechtsakt beschränkt sein muss und es einer Reihe von Erfahrungen, ja der Übung bedarf, sich von engenden Regungen, von Angst und Schmerz zu befreien. Manche Frauen sprechen sogar von mehreren Deflorationen, als würden mit jedem neuen Partner ähnliche Prozesse durchlaufen wie bei der ersten Penetration. In der Tat fühlen sich die Penetrationen verschiedener Partner unterschiedlich an, doch wird die erste Penetration doch meist als ein Sonderfall bewertet. Dennoch ist es hier ähnlich wie bei der Menarche: Die Menarche und der erste Geschlechtsverkehr sind etwas Besonderes, aber auch die nachfolgenden Menstruationen und die der Defloration folgenden Penetrationen sind noch äußerst gewöhnungsbedürftig, haben noch den Charakter des Frischen oder gar Numinosen, und es bedarf einer mehr oder weniger langen ›Anlaufzeit‹, bis man davon sprechen kann, dass Menstruationen und Penetrationen zu leiblichen Routinen, auch im praktischen Sinne, ge380

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Defloration

worden sind, einmal abgesehen davon, dass auch das Empfinden von Lust in der Entfaltung der vaginalen Leibesinsel durch die Penetration eine variationsreiche Erfahrungssequenz bedeutet. Das Erleben von Menstruationen und Penetrationen kann also erst mit der Zeit durchdrungen, angeeignet werden und schließlich – das betrifft vor allem die Penetration – in einen größeren Genuss für die Frau münden. So ist den Beschreibungen aus Belletristik und Autobiographien fast ausnahmslos zu entnehmen, dass die geschlechtliche Begegnung von Mann und Frau in der ersten Penetrationserfahrung für die Frau alles andere als sexuell erfüllt ist, auch wenn es sich insgesamt um eine ›schöne‹ Deflorationserfahrung mit erotischer Vorgeschichte und positiver emotionaler Grundstimmung handelt. Die meisten Frauen erleben in der Defloration keinen sexuellen Höhepunkt und sind häufig durch Angst derart paralysiert, dass sie nur selten eine sexuelle Reaktion im Sinne des Verflüssigens des Genitals oder gar des Penetrationsdranges erleben. Das ist in leibphänomenologischer Perspektive nicht verwunderlich, denn ein von Angst besessener Leib findet sich in Enge und Anspannung mit dem Impuls zur Flucht wieder, einem Zustand, der ein weitendes Erleben wie das einer sexuellen Reaktion mit der Tendenz zu bleiben und inniger leiblich verbunden zu sein, erschwert. Es wundert ferner nicht, dass im Zustand der Angst ein Schmerz wie der typische Deflorationsschmerz bei unberührtem Hymen intensiv gespürt wird, und dass Angst und Schmerz zu wechselseitigem Verstärkern werden – ein Phänomen, das im Rahmen des Gebärens wiederkehren wird. Beim ersten Geschlechtsverkehr und bei der ersten Geburt weiß die Frau nicht, was sie da eigentlich spüren wird, was da auf sie zukommt, wenn ›es‹ (das männliche Geschlechtsteil) in ihren Leib hineintritt oder wenn ›es‹ (das Kind) aus ihrem Leibe heraustritt. Die diffuse Angst vor der Defloration und vor der Geburt bekommt unter anderem noch dadurch Nahrung, dass das Objekt des Eintritts oder des Austritts in der konkreten Situation sichtbar ist, einen materiellen Referenten hat: das männliche Geschlechtsteil und der vorgewölbte schwangere Leib. In beiden Fällen behindert Angst sehr oft die Fähigkeit zur Entspannung, wobei die Defloration im Vergleich zur Geburt aber eine wesentlich weniger dramatische Leiberfahrung ist. Doch ist hier der kulturelle Diskurs auch ein anderer: Im kollektiven Gedächtnis unserer Kultur ist die Geburt als schmerzhafter Prozess besetzt, wohingegen die Defloration – und mit ihr die koitale Sexualität – gerade nicht realistisch eingeschätzt, sondern aufgrund überzogener romantischer Vorstellungen als schönes ›erfüllendes‹ Erlebnis überschätzt wird, was zu all den postkoitalen Erfahrungen der Enttäuschung, Ernüchterung und sexuellen Frustration beiträgt. Eine nüchternere Einstellung zur Deflora381 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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tion, wie sie u. a. durch die von manchen Frauen mittlerweile praktizierte Strategie, einen emotional nicht bedeutsamen Partner, jene »Amtsperson« von Plath, für die Defloration ›einzusetzen‹, zum Ausdruck kommt, kann großen Einfluss auf die mit ihr oft verbundenen Traumatisierungen haben. Davon abgesehen dürfte auch eine veränderte gesellschaftliche Einstellung zur jugendlichen Sexualität die Dramatik so mancher Deflorationserfahrung entschärfen. Aber die Defloration muss nicht zwingend in einem Fiasko, in Enttäuschung, Ernüchterung und Frustration enden, sie kann durchaus von einem selbstbewussten sexuellen Erleben begleitet sein. Selbst wenn es dafür insgesamt wenig Anhaltspunkte und Erfahrungsbeschreibungen gibt, sei hier eine Textstelle bei Prima (2002, 32 f.), jener bereits früher zitierten Beatautorin, in ihrer Autobiographie wiedergegeben: »Dann war er über mir, bockte und spannte wie ein Tier, ein Faun. Aber es ging nicht, meine enge Möse konnte diesen riesigen Schwanz nicht aufnehmen. Sein Drängen, seine Anstrengungen stießen mich ab, ich begann mich zu wehren. Er vergrub sein Gesicht in meinem Haar. ›Bleib ruhig‹, sagte er in mein Ohr, ›bleib ruhig und hör dem Regen zu.‹ Ich wurde schlaff, trieb in einem weichen, grauen Nebel. Der Raum löste sich auf – waren die Kerzen erloschen? Ich sah nichts. Seine langen schönen Hände unter meinem Hintern zogen mich näher an ihn heran. Ich umfaßte ihn mit den Schenkeln, die Knöchel schlossen sich über seinem Rücken. Ich wußte, ich ertrank, ich konnte das Meerwasser schmecken. Ich konnte mich selbst schreien hören, als er die Membran durchstieß, die meine Jungfräulichkeit gewahrt hatte, aber ich wußte nicht, daß es meine Stimme war. Der graue Nebel explodierte zu Licht und Farben, die mich umgaben. Ich hörte mich selbst stöhnen, hörte Ivan keuchen. Immer wieder und wieder flüsterte er meinen Namen, und dann war da nichts mehr als eine Lust, die ich mir nie hatte vorstellen können und die Woge um Woge durch meinen Körper brandete. Danach war Blut auf seinem Schwanz, und als ich mich wieder bewegen konnte, leckte ich es ab, schluckte meine Kindheit hinunter, war in der Welt, im Leben angekommen.«

Auch hier handelt es sich zunächst um einen typischen Aspekt des Deflorationserlebnisses: Es gibt da den »riesigen Schwanz«, der vielen Mädchen wegen seiner Größe und der Vorstellung, »ihn« im Körper zu haben, Angst macht, und die »enge Möse«, die nicht ausreichend Raum und Durchlässigkeit für den Akt des Eindringens zu bieten scheint. Die Rollenverteilung ist klassisch: Der Mann drängt aktiv zur Penetration, die Frau lässt diesen Vorgang passiv an sich herankommen. Als die Penetration zunächst nicht gelingt, schaudert das Mädchen zurück; im Registrieren des männlichen Drängens empfindet es wohl Ekel (es widert sie an) und wehrt sich, baut 382

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also Fluchttendenzen auf. Dieser Widerstand korrespondiert zu dem am ›Ort‹ des Geschehens Gespürten. Es gilt zweierlei zu überwinden, den körperlichen Widerstand des Hymens und der noch nicht geweiteten Vagina, der nur ›mit Gewalt‹ zu durchbrechen ist, und den leiblichen Widerstand, der sich im Angesicht dieser ›Zwangshandlung‹ erhebt. Nun haben wir es in diesem Beispiel mit einem Partner zu tun, der seine Penetration zwar durchsetzt, seiner Partnerin aber Zeit lässt und zu Ablenkung und Entspannung rät. Daraufhin wird sie zunächst »schlaff«, treibt in einem »Nebel« dahin, sammelt sich erneut in ihrer Lust. Der Raum scheint sich ihr aufzulösen, die Wahrnehmung der Umgebung verflüchtigt sich. Sie sieht nichts mehr, weil sie vom leiblichen Geschehen völlig absorbiert wird, an dem sie sich jetzt aktiv beteiligt: Sie umfasst seinen Körper, lässt ihre Schenkel ihn umschließen. Sie ist bereit, sich dieser ›Zwangshandlung‹ zu ergeben, gibt Widerstände auf und weiß zugleich, dass sie damit »ertrinken« wird und schmeckt schon das »Meerwasser«, das ihr ›Ende‹ ist bzw. zu ihrem ›Ende‹ führt. Dass sie eine Art Entkörperung erfährt, dass der Leib für ihr Empfinden seine Räumlichkeit verliert, wird an dem Phänomen des Schreies beim ›Zerreißen‹ des Hymens deutlich, der als fremder Schrei wahrgenommen wird. Sie schreit den Schmerz nicht im Vollbesitz ihrer leiblichen Anwesenheit heraus, sie hört den Schrei vielmehr wie von weiter Ferne, in Distanz zum eigenen Leib. Ihre Wahrnehmung hat sich diffundiert, in jenen Nebel der anfänglichen Entspannung, der nun zu »Licht und Farben« explodiert. Nach dem ›Zwangsakt‹ des Durchstoßens kehrt diese Frau aber nicht erschüttert zurück in ihren Leib, sondern geht in die sexuelle Ekstase ein. Sie hört sich selbst »stöhnen«, den Partner »keuchen«, bis auch diese Eindrücke schwinden und sie von den Wogen und Brandungen der sexuellen Lust vollständig ergriffen wird. Schließlich flaut dieses Erleben ab; sie erwacht erneut zu konkreter Präsenz und sieht ihr Deflorationsblut auf dem Geschlechtsteil des Mannes. Sie leckt es ab, was ungeheuerlich erscheinen mag, aber es handelt sich, wie wir erfahren, um einen bewussten Aneignungsakt. Die Deflorierte »schluckt« mit ihrem Deflorationsblut ihre Kindheit hinunter – ein symbolischer Akt dafür, dass sie »in der Welt, im Leben angekommen« und nun ›Frau‹ ist; er besiegelt die erfolgreiche Defloration, jene rite de passage, ein Durchgang, bei dem Todes-, Schmerz- und Lusterfahrung eng beieinander liegen. Die erste Philosophin, die über die »erste Erfahrung« schrieb und der gesellschaftlichen Realität Rechnung trug, war wohl Beauvoir. Der von ihr beschriebene Erlebnishorizont der Gewaltsamkeit mag sich mit der Sexualaufklärung, namentlich mit der breiten Verfügbarkeit des Wissens um 383 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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die klitoridale Besetzung der weiblichen Lust verändert haben, u. a. auch, weil Frauen mehr Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung hinsichtlich ihrer Defloration an den Tag legen, aber Beauvoir (1970, 361) schreibt, und darin ist ihr grundsätzlich zuzustimmen, dass die erste Penetration »immer ein Akt der Gewalt« bleibe, »selbst wenn der Mann rücksichtsvoll und höflich ist«: »Weil sie Liebkosungen auf ihre Lippen, ihre Brüste begehrt, weil sie vielleicht zwischen ihren Schenkeln einen ihr bekannten oder geahnten Genuß begehrt, fügt nun ein männliches Glied dem jungen Mädchen einen Riß bei und dringt in Gegenden ein, in die es nicht gerufen worden war. Die schmerzvolle Überraschung einer Jungfrau ist oft beschrieben worden, die in den Armen eines Gatten oder Liebhabers berauscht endlich die Erfüllung ihrer wollüstigen Träume zu erfahren glaubte und nun in ihrem verborgenen Geschlechtsteil einen unerwarteten Schmerz empfindet. Der Traum verfliegt, die Erregung vergeht, und die Liebe nimmt die Gestalt eines chirurgischen Eingriffs an.« (ebd., 362)

Wenn Beauvoir schreibt, dass die Liebe, gemeint ist die genitale Sexualität, »die Gestalt eines chirurgischen Eingriffs« annimmt, so wird dies durch die weiter oben angeführten Beispiele bestätigt. Eine Frau aus den autobiographischen Erinnerungen »deFloration – entBlütung« schreibt sogar explizit so über ihre Defloration: »Der Vorgang glich ja auch mehr einer Operation. Öffnung ins moderne Leben. Eine dreißigjährige Frau mußte wissen, wie das geht. Pille eingeschlossen, und es war recht sorgfältig geplant gewesen.« Vorher hatte es geheißen: »Es war wirklich kein Spaß gewesen, Schmerz war das einzige, was ich davon hatte …« (Eva-Maria, 1985, 44)

In diesem Akt gestattet die Frau dem Mann das Eintreten in ihren Leib. Sie weiß nicht, wie sich das im konkreten Fall anfühlt, und hier haben wir es, wie bei der Menarche, mit einem Ereignis zu tun, dessen Erlebnisqualität nicht beim ersten Mal ausgeschöpft werden kann. Wir hatten Beispiele, in denen noch bei fortgesetzten Penetrationen Blut floss und Schmerzen auftraten, wir hatten Aussagen, die von Einübung und Arbeit sprachen, vom Sich-Einfinden in einen zunächst fremden Erfahrungsmodus, und immer wieder wurden Angst, Unsicherheit, Schmerz, Ekel und Unlust, Überwindung, ›Es-hinter-sich-bringen‹ thematisiert. Vor dem Hintergrund dieser Analysen im Verbund mit dem herrschenden Sexualdiskurs vom per se lustvoll konzipierten Genitalverkehr entsteht auch jener Druck, dem sich junge Frauen ausgesetzt fühlen, nämlich vaginale Lust zu empfinden und eine gute Liebhaberin zu sein. Man kann zudem feststellen, dass bei beiden Geschlechtern das Wissen um die sexuelle Reaktion der Frau durchaus 384

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nicht – vielleicht nicht mehr, vergleicht man es mit der jungen Generation in den 1970er und 1980er Jahren – in dem Umfang präsent ist, wie es sein könnte oder mittels Erfahrung selbst gespürt werden kann. Das bedeutet letztlich, auch bei regelmäßig praktiziertem Sexualverkehr, sexuelle Enthaltsamkeit der Frau, nicht selten ganz bewusst vollzogen, und ein Verlust an sexueller Präsenz und Artikulation zugunsten eines mehr oder weniger perfekt inszenierten und von verzerrenden Darstellungen der Medien imprägnierten Rollenverhaltens. Es kann an dieser Stelle nicht erörtert werden, warum dieses kulturell geschiente Rollenverhalten so ›gut‹ funktioniert, warum also Frauen so bereitwillig auf ihre Lust verzichten, nicht um sie kämpfen, sie nicht einfordern, und warum Männer so bereitwillig über das weibliche Erleben hinwegfühlen und sich vom Schauspiel täuschen lassen. Die Defloration als allzu häufig negative Grenz- und Schwellenerfahrung hat nicht wenig Einfluss auf die Art und Weise, wie Frauen zu ihrer Sexualität finden bzw. sie kultivieren und wie sie sich letztlich zu ihrem Leib, seinen Regungen und Sensationen, seinen sexuellen Entfaltungsspielräumen stellen. Diesbezügliche Rückschlüsse und Verallgemeinerungen bedürfen jedoch weitergehender empirischer Untersuchungen.

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11. Vergewaltigung

»Nachdem er den Telefonhörer auf die Gabel geknallt hatte, knallte er mir seinen Schwanz rein. Es floß nicht mehr Blut als bei einer Periode.« (Acker, 1989, 18)

Das Thema Vergewaltigung gehört in den Kontext dieser Arbeit, nicht nur, weil alljährlich weltweit Millionen von Frauen innerhalb und außerhalb von Ehe, Familie und staatlichen Einrichtungen real vergewaltigt werden, sondern auch, weil es sich um eine äußerst komplexe gesellschaftliche Realität handelt, mit der die weiblichen Mitglieder unserer Gesellschaft aufwachsen und zu leben haben, auch wenn sie das Glück haben, selbst nicht unmittelbar von ihren drastischsten Formen betroffen zu sein. Natürlich gibt es auch, aber wesentlich seltener, Vergewaltigungen von Männern, die ebenso verheerende Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen haben. Aber das Problem Vergewaltigung berührt in besonderer Weise den Frauenkörper und die Erfahrung, einen weiblichen Leib zu haben. Marie Cardinal (1982, 195 f.) drückt diesen Aspekt folgendermaßen aus: »Anders als je zuvor begann ich darüber nachzudenken, was es bedeutete, eine Frau zu sein. Ich dachte über unsere Körper nach, über meinen, den meiner Mutter, den der anderen Frauen. Alle waren sie gleich, sie hatten alle ein Loch. Ich gehörte zu dieser gigantischen Horde gelöcherter Wesen, die den Eindringlingen ausgeliefert sind. Nichts schützt mein Loch: kein Augenlid, kein Nasenflügel, kein Mund, kein Pförtner, kein Labyrinth, kein Schließmuskel. Es verbirgt sich in einer Höhle aus weichem Fleisch, das meinem Willen nicht gehorcht und sich selbst auf natürliche Weise nicht verteidigen kann. Es gibt nicht einmal ein Wort, das es beschützt. Die Wörter, die in unserer Sprache diesen bestimmten Körperteil einer Frau bezeichnen, sind häßlich und vulgär, schmutzig, gemein, grotesk und technisch. Noch nie hatte ich über den Schutz nachgedacht, den das Hymen bot, über die Leere, die sich auftat, wenn diese hauchdünne Membran blutend den verletzenden Stößen der Männer nachgab und von da an allen freien Zugang gewährte … dem Finger, dem Taschenmesser … Konnte daraus eine Urangst entstehen, so alt wie die Menschheit, die uns unbewußt zugefügt worden war, die wir vergessen hatten? Eine Angst, die nur Frauen haben können, die nur Frauen verstehen können, die sie instinktiv weitergeben, die ihr Geheimnis bleibt? Eine Angst vor dem gewaltsamen Eindringen eines Mannes, die aber tatsächlich wesentlich weiterging und tiefer lag.

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Vergewaltigung

Eine Angst, die von Frauen erfunden war, die Frauen an andere Frauen weitergaben. Angst vor unserer Verletzbarkeit, unserer totalen Unfähigkeit, uns restlos zu verschließen. Welche Frau kann es verhindern, daß ihr Kind aus ihr herausgleitet und sie dabei zerreißt! Welche Frau kann es verhindern, daß ein Mann, der es wirklich will, in sie eindringt und dort den fremden Samen ablegt! Keine.«

Cardinals drastische Ausführungen beziehen sich auf jenen körperlichen Referenten, der fremdes Eindringen in den weiblichen Leib ermöglicht, jenes ›Loch‹, das wir doch nicht selbst spüren, ohne die tastende Hand zu bemühen, jene Öffnung, die sich erst als Einlass in den Leib präsentiert, wenn sie betreten wird. Es ist diese anatomische Gegebenheit, die Vergewaltigung an Frauen zu einem Thema macht, das Männer nicht in der gleichen Weise betroffen macht. So muss in aller Deutlichkeit hervorgehoben werden, dass Frauen an jenen Stellen, an jenem anderen ›Löchern‹, die für Vergewaltigungen an Männern in Frage kommen, ebenfalls vergewaltigt werden können. Darin, dass Frauen darüber hinaus zusätzlich und bevorzugt an einem anderen Ort vergewaltigt werden, liegt ein wichtiger geschlechtsspezifischer und kulturell besetzter Unterschied. Cardinal spricht die Schutzlosigkeit dieser Region an: Wenngleich das Hymen einen ›relativen Schutz‹ biete, den sie meiner Meinung nach etwas überinterpretiert, da dieser ›Widerstand‹ in der Gewalthandlung schnell überwunden ist, sei die Vagina nach der Defloration jedem möglichen Eindringling ungeschützt ausgeliefert. Obwohl Cardinal zuzustimmen ist, dass es sich hier um eine körperliche Region handelt, die zur Selbstverteidigung nicht fähig ist, die »meinem Willen nicht gehorcht«, haben die Analysen zur genitalen Zone gezeigt, dass an dieser ›Öffnung‹, dem Scheideneingang, der bereits selbst an einer geschützten Stelle zwischen den Beinen angesiedelt ist, doch die Möglichkeit gegeben ist, Willensimpulse zur Engung und Weitung zu setzen. Zwar kann dabei nicht von einem Schließmuskel die Rede sein, aber in der Gegend der Scheidenöffnung befindet sich ein ausgeprägtes Konglomerat von Muskeln, das dem Willen zur Verfügung steht und durch Kontraktionsübungen im Verbund mit Bauch- und Beckenbodenmuskulatur kultiviert werden kann. Ich will nicht behaupten, dass ein solches Training eine gewaltsame Penetration vereiteln kann, aber es vermag doch gewisse Barrieren zu schaffen oder auch, umgekehrt, weitenden Einlass und Aufnahme gewähren bis hin zu jenem ›Ansaugen‹, von dem einige Techniken weiblicher Leibbemeisterung sprechen. Dass Frauen aber uneingeschränkt jedem möglichen Eingriff in die Vagina ausgeliefert seien, ist leibphänomenologisch nicht haltbar. Die Tatsache, dass Cardinal und mit ihr vermutlich viele Frauen – und 387 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

Männer – von einer grundlegenden genitalen Passivität ausgehen, zeigt freilich die ungeheure Wirkung der Diskurse um die Deutung der weiblichen Geschlechtsteile. So bleibt dieses Konglomerat von Muskeln, das Frauen im Genitalbereich zur Verfügung steht und das sie unwillkürlich immer beim Harn- und Stuhlgang mitkontrahieren, meist unkultiviert, weil ein kollektives Wissen darüber kaum vorhanden ist, obschon jede Frau paradoxerweise diese Verfügungsgewalt spüren könnte. Selbstverteidigung gegenüber Vergewaltigungen wird auch nicht am regionalen Ort des Geschehens geübt, sondern als Kampftechnik des Körpers selbst, was zu Recht der wichtigere Aspekt ist, damit es überhaupt nicht erst zu einer Penetration kommt, die auf bestimmte Körperpositionen angewiesen ist. Dass ein durch Muskelaktivität erschwerter Eintritt in die Vagina in einer konkreten Vergewaltigungssituation andere Formen von Gewalt bis hin zur Tötung zur Folge haben kann, ist freilich ein anderes Problem – es gibt Beispiele für ›glimpfliche‹ Vergewaltigungen nach Aufgabe des körperlichen Widerstandes und für schwerste Körperverletzung und Mord bei heftiger Abwehr. Wichtig ist hier allein, dass Frauen an jener für Vergewaltigungen exponierten Leibesregion nicht völlig machtlos sind, dass sie – wenn auch begrenzte – Verfügungsgewalt an der genitalen Zone und somit über jene ›Öffnung‹ haben, die sich vielen Frauen aufgrund von Geschlechterdiskursen lediglich als passiv darbietet.

11.1 Angst als weibliche Grundbefindlichkeit Cardinal spricht über jene tief eingewurzelte Angst der Frauen vor Vergewaltigung, vor der sexuellen Gewalt der Männer und thematisiert diese sogar als eine mit dem weiblichen Geschlecht und Körper verknüpfte UrAngst, die tiefer schürft und sich nicht nur als Angst vor dem ungewollten Eindringen des Mannes manifestiert. Es ist bemerkenswert, wie sehr die Autorin den körperlichen Referenten dieser Angst hervorhebt, die Verletzlichkeit und ›Unverschließbarkeit‹ des Körpers, die sich gleichermaßen beim Eindringen des Mannes wie auch beim Austritt des Kindes zeige. Zum Gebären sei angemerkt, dass es natürlich stimmt, wenn Cardinal sagt, wir könnten das Hinausgleiten des Kindes nicht verhindern, dennoch sind wir auch in diesem Prozess, wenn er nicht medikamentös manipuliert wird, nicht passiv, sondern pressen im Gegenteil in der Austreibungsphase in einer gewaltigen Anstrengung aktiv das Kind aus dem Leib. Diese leibphänomenologischen Korrekturen sollen aber nicht darüber hinweg täuschen, dass Cardinal wichtige Aspekte einer typischen Angst anspricht, 388

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Vergewaltigung

die Frauen vor körperlicher und insbesondere sexueller Gewalt haben, mit der sie aufwachsen und für deren Auftreten die Rolle anderer Frauen als Vermittlerinnen und das kulturell situierte Konglomerat chaotisch-mannigfaltiger Atmosphären um den Frauenkörper von Bedeutung sind. So schreibt Stefan (1979, 40 f.): »Auf vergewaltigung steht lebenslänglich – für mich: ich muss ein leben lang damit rechnen. zufällig befinde ich mich in einem teil der erde, wo ich nicht so brutal vergewaltigt werde, wie meine schwestern in viet nam. doch ich werde vergewaltigt und: auch nicht-brutalität wird von männern definiert. es heisst für viet nam: this is my rifle (GI holds up M-16) this is my gun (puts hand at crotch) one is for killing the other for fun. es heisst hier: frauen lieben es, gewaltsam befriedigt zu werden und: ›ich trinke täglich meinen jägermeister, damit mir die kleinen, spitzen schreie besser gelingen.‹ es werden mir hier keine ratten in die vagina gesetzt, wie meinen schwestern in chile. ich weiss nur darum. morgen kann es anders sein.«

Bevor ich mich mit der Vergewaltigung selbst befasse, möchte ich auf die weibliche Angst vor ihr und auf verschiedene Grade dieser Angst eingehen. Beim Thema Defloration zeigte sich bereits, dass Frauen in Referenz zu den anatomischen Gegebenheiten und den sexuellen Penetrationspraktiken u. U. von Durchbohrungs- und Zerstörungsängsten affektiv betroffen werden, und zwar insbesondere in eindeutigen Situationen, die eine Defloration oder nach der Defloration eine Penetration nahe legen. Auch bei ›vereinbarten‹ Deflorationen war den Erfahrungsberichten zu entnehmen, dass Frauen sich in irgendeiner Weise ›vergewaltigt‹ fühlten. Durchbohrungs- und Zerstörungsängste treten auch in der konkreten Situation einer Vergewaltigung auf und manifestieren sich im Grunde in jedem noch so flüchtigen Aspekt der Vergewaltigungsangst, die als diskursiv erzeugte Angst in einer langen Lügengeschichte entstanden ist und in der inkorporierten Vorstellung von Schwäche und Wehrlosigkeit, also in einem eingebildeten, aber dennoch tief verwurzelten Minderwertigkeitsgefühl der Frau gegenüber dem Mann besteht. Die Angst vor sexueller Gewalt entspringt neben den allgemeinen Gründen (Gefahr für Leben und Unver389

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sehrtheit) auch der Herstellung von Geschlechtsrollen und -identitäten auf dem Boden einer geschlechtsspezifischen Erziehung, z. B. einer Leibeserziehung, in der Frauen andere Orientierungshilfen hinsichtlich motorischer Fähigkeiten, Körperkraft, Aggressionsverhalten etc. erhalten als Männer. 1 Eine wichtige Funktion von Vergewaltigung ist, wie Mörth (1994, 48) ausführt, »die effektive soziale Kontrolle über Frauen; ein Disziplinierungs-, Zähmungs-, Züchtigungs- und Bestrafungsmittel, indem alleine schon die Möglichkeit einer Vergewaltigung alle Frauen in Angst versetzt«. Dabei handelt es sich um den sogenannten Vergewaltigungseffekt, der sich als extrem angstauslösend erweist und sich nicht nur situativ als affektive Betroffenheit zeigt, sondern auch als Lebenszustand, der sich – dies sei sogleich ergänzt – leiblich niederschlägt und zu einer Angst-Psychose führen kann. Von hier aus ist es nicht weit, die Angst vor einem männlichen Sexual-Aggressor mit einem ›terroristischen Zustand‹, einem angstbesetzten »Gemüts- und Bewußtseinszustand« zu vergleichen, der zu bestimmten Lebensformen führt, wie Kathleen Barry (1983, 55) sagt, oder als ›tägliche Kriegsangst‹, als ›alltäglichen Ausnahmezustand‹ zu bezeichnen, wie Verena Fiegl (1990). 2 Es handelt sich um Ängste, die Frauen, und zwar nur Frauen, vor Männern haben: »Der Terror der Angst schleicht sich in das Leben der Frauen ein, oft durch etwas ›Gewußtes‹, aber nie Geäußertes.« (Mörth, 1994, 49) Wie diese Angst bei Mädchen und Frauen und wie die sexuelle Gewaltbereitschaft von Jungen und Männern kulturell vermittelt wird, ist von einer Vielzahl ineinander greifender Aspekte abhängig, die nicht im Einzelnen thematisiert werden können. Die Vergewaltigung ist eine Leiberfahrung, die auf engste Weise mit dem kulturellen Kontext verknüpft ist, ja von ihm hervorgerufen wird. Es gibt bzw. gab Volksgemeinschaften, die keine Vergewaltigung (und z. B. auch keine Prostitution) kannten oder kennen, weil sie eine völlig andere Auffassung von Sexualität leben. Für unsere und die meisten Kulturen gilt jedoch, dass die Angst vor sexueller Gewalt schon früh durch kulturelle Praktiken und Vorsichtsmaßregeln für Mädchen initiiert wird. Die Statistiken über Vergewaltigungen und die 1

Scheu (1991, 90 f.) weist auf verschiedene Phasen dieser Entwicklung hin und betont, dass die »extreme Vernachlässigung gerade von körperlichen Kraftübungen« für Mädchen und Frauen folgenschwere Konsequenzen haben: »körperliche Unterlegenheit und damit auch oft Unvermögen, sich gegen die trainierte Körperkraft bzw. Gewalt von Jungen oder Männern zu wehren« sowie die Tatsache, dass »die erwachsenen Frauen Männergewalt so schwach und resigniert hinnehmen, daß sie sich sogar schlagen lassen«. 2 Vgl. hierzu die Ausführungen von Mörth, 1994, 48 f.

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große Dunkelziffer unangezeigter Delikte sind erschreckend, ebenso die häufige Darstellung sexueller Gewalt gegen Frauen in den Medien. Dass sie vergewaltigt werden können, lernen Frauen sowohl durch kulturelle Konditionierung als auch durch persönliche Erfahrungen, vor allem in der Zeit ihrer geschlechtlichen Reifung. Das kollektive Bild über Vergewaltigungen enthält allerdings tradierte Klischeevorstellungen (z. B. von der ›provozierten‹ Vergewaltigung), irrige Annahmen von einem typischen Täterprofil (z. B. der unbekannte Fremde) sowie Verhaltenskodizes für potenzielle Opfer (z. B. bezüglich des Über-sich-ergehen-lassens der Tat, um ›wenigstens‹ sein Leben zu retten), die sich nicht immer als hilfreich für die angemessene Einschätzung einer Vergewaltigungssituation erweisen. 3 Die Angst vor Gewalt aufgrund der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht ist so etwas wie ein kultureller Überbau, der sich leiblich zwischen den Geschlechtern manifestiert und zum subjektiven Erleben wird. So kann eine neutral gestimmte Frau beim abendlichen Betreten einer Gaststätte, die hauptsächlich von trinkenden Männern besucht wird, wie aus heiterem Himmel von einer lähmenden Angst vor sexueller Gewalt ›befallen‹ werden, wenn sie die Blicke dieser Männer auf sich ruhen und ihren Körper abtasten fühlt. Es sind viele vergleichbare Situationen denkbar, die für Frauen mit Angst vor einem körperlichen Angriff besetzt sind. Diese spezifische Angst führt bei vielen Frauen zu lebenspraktischen Konsequenzen, die Anja Meulenbelt (1979, 210) so beschreibt: »Wir gehen abends nicht mehr allein auf die Straße, oder wenn wir es doch tun, sehen wir starr geradeaus, große Schritte. Hände zu Fäusten geballt und unsere Pobacken eingekniffen. Nicht schlendern, nicht nach Schaufenstern sehen, um Gruppen von Männern einen Bogen machen, Angst bekommen, wenn du Schritte hinter dir hörst, einen Umweg machen, um nicht durch eine dunkle Straße gehen zu müssen, aufpassen, daß du nie jemandem direkt ins Gesicht siehst, denn Augenkontakt, aus Versehen, das ist schon eine Einladung. Gewöhnliche tägliche Angst. Wir wußten es nicht einmal mehr, so einfach. Es geht nicht darum, ob es dir einmal passiert – es geht darum, daß wir in einer Gesellschaft leben, in der es passieren kann, wir sind vogelfrei.«

Diese alltägliche Angst ist bei vielen Frauen so stark verinnerlicht, so sehr Teil ihres Lebens geworden, dass die sie hervorrufenden Phänomene leiblicher Anspannung sich nachhaltig in den Körper einschreiben und so auch außerhalb ›gefahrvoller Situationen‹ auf die leibliche Integrität einwirken. Wer sich auf einsamer Straße nicht sicher fühlt, ist von einer ob3

Vgl. hierzu die Erörterungen zu sprachlichen Missverständnissen bei Michaelis-Arntzen, 1994, 17–19.

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jektlosen Angst mit dem Impuls »Weg!« befallen, die das Selbstbewusstsein beeinflussen, wenn nicht beeinträchtigen kann. Gerade im Gehen des Menschen, in seiner elementaren leiblichen Mobilität, ergreift er den Raum, seine Umgebung. Ein von Angst befallener Gehender, hier die von Angst befallene gehende Frau, ist in leibliche Enge getrieben, ist ihrer Umgebung gegenüber nicht weitend eingestellt, sondern auf ›Flucht‹ eingerichtet, auf das Besser-nicht-hier-anwesend-sein. Unter Schärfung der sinnlichen Wahrnehmung wird auf mögliche Gefahr und deren Vermeidung ›gelauert‹. Der Raum selbst wird zum diffusen Objekt der Angst. Er verliert für die Betroffene an Weite. Menschen, die Angst haben, gehen anders als angstfreie Menschen. Meulenbelt schildert einige Ausdrucksformen dieses äußerst angespannten leiblichen Zustandes. Hinzugefügt werden können noch Zittern und Frösteln, Atemnot, Herzrasen, mangelnde körperliche Koordinationsfähigkeit, z. B. Stolpern, erhöhte Schreckhaftigkeit, neben starren Schritten auch das Vorbeischleichen an vornehmlich als ›schützend‹ erlebten Häuserwänden, Weiteangst sowie Erschöpfungszustände und Nachtragsangst nach Erreichen eines ›sicheren‹ Aufenthaltsortes. Man hat Frauen in der Vergangenheit – und tut es in anderen Erdregionen heute noch – in private Innenräume verbannt, ihnen eine Teilhabe am öffentlichen Leben versagt und dadurch auch den Frauenkörper, die Integrität des weiblichen Leibes sowie seine Orientierung im Raum geformt. Wenn im China früherer Jahrhunderte einer Adeligen oder Bürgerin die Füße eingebunden wurden, so hat man ihren Bewegungsradius drastisch beschränkt, sie in die Enge eines nur sehr begrenzt eigenleiblich verfügbaren Umfeldes getrieben. Der gesittete, vom Anstand vorgeschriebene Damensitz auf dem Pferd war für europäische Adelige zum Zurücklegen geringer Entfernungen im Spazierritt geeignet, aber keineswegs dazu, den Raum im stürmischen Ritt zu erobern, sich mit freier Beweglichkeit und Geschwindigkeit in die Weite des Raumes zu ergießen. Einschnürende Bekleidung, wie sie historisch immer wieder für Frauen vorgesehen war, behindert die Bauchatmung, das in die Weite des Leibes Hineinatmen und bringt eine Tendenz zu ganzleiblicher Engung mit sich; sie begünstigt die Schlüsselbeinatmung und initiiert eine Körperhaltung, die auf Anspannung (z. B. Hochziehen der Schultern) ausgerichtet ist und sich beim Begehen des öffentlichen Raums als nachteilig erweisen kann. Bei Gefahr bedeutet schon eine ungeeignete Fußbekleidung die Hemmung oder Unmöglichkeit einer schnellen Fortbewegung; der Impuls »Weg!« trifft schon auf schwer überschreitbare materielle Grenzen, so dass sich die leibliche Engung automatisch erhöht. Für die weibliche Bevölkerung ist über Jahr392 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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hunderte hinweg eine kulturgeschichtliche Prägung erfolgt, die ihre leibliche Präsenz im Raum an Erfahrungen der Enge gebunden hat. In unserer Kultur ist es mit der Freiheit von Frauen nicht weit her, wenn die Geschlechter-Realitäten immer noch Anlass dazu geben, den öffentlichen Raum mit Gefühlen der Angst vor männlichen Aggressoren zu betreten. Susan Griffin (1975, zit. nach Rich, 1979, 7) behauptet, dass »Vergewaltigung eine Form von Massen-Terror ist«, weil ihre Opfer in der weiblichen Bevölkerung wahllos ausgesucht werden: Es handelt sich bei der Vergewaltigung um ein Delikt, das vor allem von Männern an Frauen ausgeübt wird, also von einer nach der Geschlechtszugehörigkeit definierten Bevölkerungsgruppe an einer anderen, und zwar in einer nicht reziproken Weise. Wie sehr steigert sich die Angst, wenn eine Frau auf einem nächtlichen Gang durch verlassene Straßen in ihrer aufmerksamen Wahrnehmung einen Mann oder gar eine Gruppe von Männern zu erkennen glaubt, der bzw. die ihr entgegenkommt; wie sehr verändert sich ihr Denken, ihr Empfinden, ihr Gang, ihre Körperhaltung, wie sehr fiebert sie der Begegnung, der Kreuzung ihrer Wege entgegen, um sich dann erleichtert zu entspannen, wenn ›nichts‹ passiert, wenn die Begegnung glimpflich verlaufen ist; wie sehr ist sie erleichtert, wenn sie an Kleidung, Gang oder schwingender Handtasche einer dunklen Gestalt sogleich erkennt, dass es sich um eine Frau handelt, wie entspannt kann sie sich dieser Begegnung gegenüber verhalten, wie sicher fühlt sie sich mit einem Mal. Die Angst vor einer Vergewaltigung ist eine Angst, in der sich die Frau ihres Geschlechts im Unterschied zum männlichen bewusst ist. Sie formt die Körper von Frauen, ihre Bewegungen und Haltungen in bestimmten Situation und hat einen eklatanten Einfluss auf ihre leibliche Integrität. Diese Angst vereint in ihren extremen Formen als Angst-Psychose die einzelne Frau mit allen Frauen und ist in einem diffusen Sinne auf das andere, das gesamte männliche Geschlecht und jeden seiner Vertreter gerichtet. Die Angst der Frauen vor Gewalt aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit drängt sie nach wie vor aus bestimmten öffentlichen Situationen hinaus bzw. veranlasst sie, wenn sie sich ihnen doch aussetzt, zu Schutzhandlungen wie Selbstbewaffnung, wozu Körpertechniken (Selbstverteidigung, Kampfkunst) und Waffen (z. B. Tränengas) gehören, zu Schutzbegleitung, meist von Männern, oder aber, heute sehr verbreitet, zum Ausgang in Frauengruppen bzw. zu geschlechtsspezifischer Freizeitgestaltung. Gerade bei der trainierbaren Selbstverteidigung zeigt sich, wie sehr die typische weibliche Angst vor männlicher Gewalt sich bereits in frühem Alter habitualisiert und körperliche Blockaden errichtet. Da ist die einge393 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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fleischte Auffassung von der physischen Unterlegenheit der Frau, die dazu führt, dass Frauen eher zur Flucht oder zum Erdulden als zur körperlichen Auseinandersetzung neigen; Frauen sind Expertinnen im Fliehen und in Fluchtgebärden, weil sie ängstlich sind. Ist erst einmal klar geworden, dass es gar nicht so sehr um Muskelkraft, sondern, wie z. B. bei asiatischen Kampftechniken, um Geschicklichkeit bzw. Technik geht, muss die Barriere des Anstands überwunden, muss dem Körper durch langes Training eingeschrieben werden, dass es bei einem tätlichen Angriff ein Recht auf Selbstverteidigung, ein Recht zum Zuschlagen gibt. Gilt es gar, das Leibestraining durch akustische Artikulation, etwa in der Art eines Kampfschreis, zu bereichern, sehen sich Frauen häufig einer ohnmächtigen Unfähigkeit ausgeliefert, ihre Stimme gezielt und lauthals zu erheben. Meulenbelt (1979, 210 f.) beschreibt ihre Erfahrungen mit dem Karateunterricht so: »Japanische Kampfschreie ausstoßen, aber es kommt nur ein gesittetes Piepsen heraus und dann Gekicher. Wir haben nicht gelernt zu brüllen, es sei denn, daß wir toll vor Wut sind und vergessen, daß Mädchen sich anständig benehmen müssen. Miteinander üben. Harm [der Karatelehrer, UG] stellt sich vor mich. Schlag mich mal, sagt er, ich wehre dich schon ab. Ich kann es nicht. Ich habe endlos die Schläge geübt, aber jetzt, wo jemand vor mir steht, geht es nicht. Mach doch, sagt er. Es kann doch nichts passieren, du könntest mich nicht berühren, auch wenn du es wolltest. Ich schlage ein zweifelhaftes Loch in die Luft, irgendwo neben seinem Ohr. Er packt mich am Handgelenk, kickt mit seinem Fuß gegen meinen Knöchel und ich liege. Es hat nichts, nichts mit Muskelkraft zu tun. Alles mit Konditionierung. Und als ich später darüber nachdenke, was mich zurückhält, Harm zu schlagen, wo doch absolut nichts passieren kann, und statt dessen nervös zu kichern anfange, begreife ich es. Der Mann auf der Weteringschans. Die eingefleischte Angst, tief versteckt, daß ein Mann das Recht dazu hat, dich kurz und klein zu schlagen, wenn du ihn schlägst, du bist vogelfrei, wenn du dich nicht an die Regeln hältst. Eine psychische Barriere, viel stärker als eine körperliche, unsere Kraft zu gebrauchen. Die wir doch haben, wenn wir Müllsäcke tragen und Einkäufe und Kinder in den dritten Stock hinter uns herschleppen.«

Ähnliche Äußerungen stammen von einer Frau, die vergewaltigt wurde und danach Unterricht in Selbstverteidigung nahm: »Ich hab nie gerauft. Ich hatte überhaupt kein Körpergefühl. Das hab ich heute. Ich bin heute gut trainiert und ich weiß, was ich in welcher Situation zu tun hab. Und vor allem: es ist mir wirklich egal, ob ich jemanden verletze. Weil heute schau ich auf mich. Aber damals? Also es war so, wie ich Wen-do gelernt hab zum Beispiel – da hat die Trainerin gesagt: ›Laßt die Handtasche fallen‹, und ich konnte die Hand-

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tasche nicht fallen lassen! Weil es ist bei mir so einprogrammiert: Nichts darf kaputt werden, alles ist wichtiger als ich selber, nicht? Wie ich das gelernt hab, ich tu zum Beispiel Bogen-Schießen, ich hab wahnsinnig lang gebraucht, bis ich den Pfeil loslassen konnte. Ich konnte den Pfeil nicht loslassen! Ich bin gestanden, richtig in der Position, ich wollte schießen, ich hab nicht loslassen können. Die totale Aggressionshemmung!« (Mörth, 1994, 98 f.)

An diesem Beispiel sei noch ein vielleicht unwichtig erscheinender Aspekt betont, der von einer geschlechtsspezifischen Erziehung herrührt, nämlich das Tragen der Handtasche, das im Selbstverteidigungsfall u. U. zum Verhängnis werden, zumindest aber, ähnlich wie lauffeindliches Schuhwerk und einschnürende Kleidung, zu einer Verzögerung der Kampfbereitschaft führen kann. Die Handtasche ist ein weibliches ›Kleidungsstück‹, das als wichtiges Accessoire gilt und beim öffentlichen Ausgang dem Körper relativ frei anhängt. Nach wie vor besteht ein großer Unterschied zwischen Männer- und Frauenbekleidung darin, dass die Oberbekleidung für Frauen keine oder weniger Innentaschen hat, also dem Körper anliegende, von außen geschützte Aufbewahrungsmöglichkeiten beispielsweise auch für Geldbörsen und Ausweise bietet. Diese Tatsache ›zwingt‹ Frauen, wenn sie sich nicht anders behelfen, dazu, ihre persönlichen, den Gang ins Freie begleitenden Gegenstände in der abgesonderten Handtasche aufzuheben und diese beim Gehen mit Handgriffen immer wieder aufs Neue zu justieren. Eine Frau, die auf ihre Handtasche zu achten hat, kann sich des Raumes nicht in der Weise bemächtigen, wie ein Mann, dessen persönliche Utensilien in Kleidungsinnentaschen keiner weiteren Beachtung bedürfen. Sie ist abgelenkt, ein Teil ihrer Aufmerksamkeit gilt der ›eingeleibten‹ Handtasche, wenn auch unbewusst und bereits durch jahrelangen Gebrauch automatisiert. Bei einem tätlichen Angriff behindert diese dem Körper anhängende Tasche, so dass die Wen-do-Trainerin im zitierten Beispiel als eine der ersten Maßnahmen im Verteidigungsfall zu üben aufgibt, die Handtasche loszulassen, um beide Arme und Hände und damit den Körper als störungsfreie Einheit zur Verfügung zu haben, es sei denn, eine in dem Beispiel nicht thematisierte Variante, man gebraucht die Handtasche als Waffe und schlägt damit zu. Zur geschlechtsspezifischen Erziehung mit Aspekten einer Einschränkung körperlicher Bewegungsfreiheit von Frauen gehört, wenn auch auf subtile Weise, der Gebrauch einer Handtasche. Der Rucksack, der mittlerweile – wenn auch nicht in jeder Schicht oder Stellung oder zu jedem Anlass – zumindest tendenziell gesellschaftsfähig geworden ist, bietet hier die Möglichkeit zu einem Vermeidungsverhalten. Dass jedoch ein solches Verhalten überhaupt praktiziert wird, hängt mit der Tatsache zusammen, dass Frauen Angst vor der sexu395 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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ellen Aggressivität von Männern haben. Und diese hat sich umfangreich inkorporiert: So bezieht sich ein Vermeidungsverhalten auch auf die ›instinktive Abwehr‹ der männlichen zugreifenden Hände von den eigenen intimen Körperzonen, statt die Hände zum Zuschlagen auf empfindliche Körperteile zu benutzen, oder auf die ›instinktive Reaktion‹, die Beine zusammenzukneifen, statt die enorme Schlagkraft der Beine und Knie einzusetzen. Ein solches Vermeidungsverhalten bedeutet für jede effektive Selbstverteidigung ein Dilemma. Viele Frauen üben sich heute in Selbstverteidigung und stellen sich ihren Ängsten; eine Umkonditionierung ist recht langwierig und kann nicht allein durch antrainierte Kampftechniken bewältigt werden. In der Tat berichten auch im Kampfsport gut ausgebildete Frauen gelegentlich davon, in einer Vergewaltigungssituation diese Methoden nicht angewandt zu haben, weil sie durch ihre Angst wie gelähmt zu einer effektiven Reaktion waren. 4 Diese ›eingefleischte‹ Angst vor männlicher Gewalt ist etwas, mit dem Frauen zu leben gelernt haben, das ihnen ins ›Fleisch eingebrannt‹ ist, ohne es zu wollen, oftmals ohne es zu wissen und ohne sich auf nur rationalem Wege dagegen wehren zu können. Es bedarf einer umfassenden leiblichen Praxis, einer Befreiung von einem Trauma, das sich durch die namenlose Geschichte offener oder subtiler Gewalt gegen Frauen immer wieder neu manifestiert. Es genügt beileibe nicht, sich etwa in Mutproben durch einen dunklen Wald zu zwingen, um sich mit der Angst auseinander zu setzen, oder sich in einem kämpferischen Sport zu perfektionieren. Sinnvolle Selbstverteidigung für Frauen ist wesentlich Arbeit an der Angst und an der selbstbewussten Aneignung des Raums. Hierfür kann gute körperliche Kondition und das Beherrschen von Flucht-, Angriffs- und Verteidigungstechniken sinnvoll sein – und hat bereits Vergewaltigungsversuche vereitelt. Aber, dies sei provozierend dahingestellt, eine Frau, die gelernt hat und aus eigener Erfahrung weiß, sich im positiven Sinne im Raum leiblich anwesend zu spüren, bedarf nicht einmal einer großartigen körperlichen Kondition oder antrainierten Abwehrtechnik, um einem Vergewaltigungsversuch im ›Nahkampf‹ oder in ›psychologischer Kriegsführung‹ geschickt zu begegnen, selbst wenn Waffen im Spiel sein sollten. Wenn es eine Möglichkeit zum Entkommen gibt, weiß sie, was zu tun ist, weil sie nicht durch inkorporierte Angst bereits gelähmt ist. 4

Michaelis-Arntzen (1994, 23) berichtet von einer 15jährigen, »daß mehrere Judo-Kurse, die sie absolviert hatte, ihr in einem PKW gegen einen Mann, der zudem einen Arm in Gips trug, nicht geholfen hätten; vielmehr sei sie gegen ihren Willen relativ schnell zu diversen sexuellen Handlungen gebracht worden«.

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Die gewöhnliche Reaktion auf die Angst vor Vergewaltigung artikuliert sich meist durch Vermeidungsstrategien. Sie drückt sich in der Wahl der Kleidung, vor allem der Schuhe, in der Wahl des Verkehrsmittels, der Uhrzeit eines Ausgangs usw. aus. Die Einrichtung von Frauenparkplätzen ist eine Reaktion auf die Angst der Frauen und die reale Gefahr von Vergewaltigung, trägt aber paradoxerweise zugleich dazu bei, sie zu schüren. Was zeichnet Frauenparkplätze aus? Gute Ausleuchtung und schnelle Fluchtmöglichkeit. Warum sind diese Parkplätze fast immer besetzt? Weil Frauen diese Möglichkeiten schätzen, obwohl sie dadurch stigmatisiert werden, als die Wesen, die darauf angewiesen sind, geschützt zu werden, weil es eine männliche Gefahr gibt. Hiermit ist der atmosphärische Charakter angesprochen: Viele Frauen sind von Vergewaltigungsangst in chaotisch-mannigfaltigen Atmosphären betroffen, auch wenn sie selbst nie real vergewaltigt werden. Dies alles ist nur ein Ausschnitt der allgemeinen Thematik Vergewaltigung. Es ist ein verbreiteter und durch die Darstellung in den Medien untermauerter Irrtum, dass Vergewaltigungen normalerweise von einem Unbekannten auf offener, aber abgelegener Straße, im Wald, einer publikumsfernen Landschaft oder im Auto ausgeführt werden, weshalb Frauen nur ja keine abgelegenen Orte aufsuchen oder sich in Welt und Natur frei bewegen sollen. Das Szenario einer überfallartigen Vergewaltigung betrifft aber nur einen geringen Prozentsatz in der Kriminalstatistik und ist deshalb besonders brisant, weil Vergewaltigungen im öffentlichen Raum gelegentlich mit einem Mord enden, so beispielsweise viele der pädophil motivierten Tötungsdelikte. Letztere wiederum werden in den Medien besonders emotionalisiert, so dass Atmosphären entstehen, die viele Eltern dazu motivieren, ihre Töchter doch lieber zur Schule oder zu Verabredungen zu fahren, als sie allein gehen zu lassen und der potenziellen Gefahr männlicher Gewalt auszusetzen. Dass dabei die Bewegungs- und Orientierungsfreiheit im Raum geschlechtsspezifisch eingeschränkt wird und bei den Heranwachsenden entsprechende Selbstbilder suggeriert, bedarf wohl keiner Erörterung. Allerdings gibt es auch Eltern, die, gerade umgekehrt, ihre Töchter zu Selbstverteidigungskursen schicken, um ihr Selbstbewusstsein in körperlicher Auseinandersetzung zu stärken. Ermahnungen und Vermeidungsverhalten durch die Eltern werden durch die inzwischen häufiger bekannt werdenden Sexualdelikte an männlichen Heranwachsenden zunehmend auch bei Jungen üblich, wenngleich keineswegs im gleichen Umfang wie bei Mädchen. Dabei ist aber, um noch einmal auf den Irrtum im kollektiven Gedächtnis zurück zu kommen, die Anzahl der überfallartigen Vergewaltigungen gering gegenüber den Delikten, die durch den 397 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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im wörtlichen Sinn »bösen Onkel«, also einen Verwandten oder Bekannten, und zwar in vertrauten Innenräumen begangen werden, wozu auch der Kindesmissbrauch gehört, der eine besonders schwere Traumatisierung zur Folge hat. Vergewaltigung von Frauen ist in der Vergangenheit nicht immer – wie heute in unserer Kultur üblich – als Straftat anerkannt und juristisch geahndet worden. Es gab Zeiten gesellschaftlicher Billigung, ja gesetzlicher Regelung von Vergewaltigung, wie sie etwa im Falle der Feudalherren mit dem Recht auf die erste Nacht mit den Bräuten von Abhängigen, dem ius primae noctis, zum Ausdruck kommt. Dieses bizarre Recht, das seit dem 13. Jahrhundert belegt ist, entlarvt der Historiker Alain Boureau (2000) allerdings als eine juristisch-literarische Fiktion, als einen Mythos, dessen Entstehungs- und Diskussionsgeschichte er nachzeichnet. Es kann hier nicht auf die damit verbundenen Streitfragen eingegangen werden. Für den Aspekt der Billigung von Vergewaltigung durch die Gesellschaft bzw. einen Rechtsstaat genügt der Hinweis auf die Tatsache, dass erst am Ende des 20. Jahrhunderts, 1997, in Deutschland die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt, also zu einer kriminellen Handlung erklärt wurde. 5 Und obwohl bereits die Haager Konvention von 1907 die Vergewaltigung im Krieg als unentschuldbares Verbrechen anprangert, wurde diese Form der Gewalt erst mit dem Balkan-Krieg im großen Stil gerichtlich geahndet. Mörth (1994, 28 ff.) zeichnet die lange und grausame Geschichte der Vergewaltigung im privaten und öffentlichen Leben oder als Waffe im Krieg eingehend nach. Vergewaltigung ist als »ein historisch gewachsenes, soziokulturelles Problem« zu verstehen, »das innerhalb der gesellschaftlichen Struktur in der Polarisierung des Geschlechterverhältnisses sowie des Machtmissbrauches wurzelt und auf personeller Ebene erfahrbar und sichtbar wird: als Menschenrechtsverletzung« (ebd., 22).

11.2 Viktimologie der Vergewaltigung Unter Vergewaltigung ist ein Geschlechtsverkehr zu verstehen, der durch Gewalt, Drohung oder das Ausnutzen einer hilflosen Lage des Opfers er5

Im deutschen Strafgesetzbuch werden seit 1997 die bislang getrennten Vorschriften zu den Tatbeständen der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung zu einem Tatbestand zusammengefasst, wonach die Vergewaltigung als besonders schwerer Fall sexueller Nötigung erfasst ist. Erst nach dieser Neuregelung ist die Vergewaltigung von Frauen innerhalb der Ehe zum strafbaren Tatbestand geworden.

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Vergewaltigung

zwungen wird (Brockhaus, 2001). In der Perspektive der Betroffenheit kann mit Brownmiller (1990, 285) eine Vergewaltigung als »ein sexuelles, gewaltsames Eindringen in den Körper« bezeichnet werden, als »Einbruch in den privaten, persönlichen Innenraum, ohne daß die Frau ihr Einverständnis dazu gegeben hätte – kurz, ein gegen das Innere gerichteter schwerer körperlicher Angriff auf einem von mehreren Zugangswegen und mittels einer von mehreren Methoden«. Die Ablaufformen des Deliktes sind äußerst vielfältig und betreffen insgesamt – wie erwähnt – relativ selten überfallartige Vorkommnisse, mit Ausnahme jener Massenvergewaltigungen in Kriegsgebieten, die inzwischen als Kriegsverbrechen und ›unerlaubte Spielart‹ der Kriegsführung anerkannt sind. So beziehen sich in über 2000 Zeugenaussagen, die vom Bochumer Institut für Gerichtspsychologie untersucht wurden, nur 10 % auf Überfälle. In den Kriminalstatistiken machen solche Fälle bis maximal ein Drittel der Gesamtzahl aus. Wesentlich häufiger sind Vergewaltigungen bei flüchtigen Bekanntschaften oder in Beziehungen, die von geschlechtsspezifischen Abhängigkeiten geprägt sind. Diesem statistischen Material stehen gesellschaftliche Vorurteile gegenüber, die sich nach Mörth (1994, 142–144) auf fünf typische Merkmale stützen und deren Verbreitung als Vergewaltigungsmythen nicht nur zu einer mangelnden Aufklärung im Vorfeld, sondern auch zu jener großen Dunkelziffer von Fällen beitragen, die nicht zur Anzeige gebracht werden: 1. Frauen provozieren sexuelle Gewalt, 2. Keine Frau kann gegen ihren Willen vergewaltigt werden, 3. Frauen wünschen sich insgeheim, vergewaltigt zu werden, 4. Vergewaltigung ist ein Triebverbrechen und 5. Der Täter ist ein Fremder. Sehr häufig beziehen sich Zeugenaussagen, so die Kriminalpsychologin Michaelis-Arntzen (1994, 1), »auf solche Fälle, bei denen zunächst verschiedene Umstände den Gewaltcharakter des Geschehens zweifelhaft erscheinen ließen«, was für die Glaubwürdigkeit von Zeuginnen vor Gericht von besonderer Brisanz ist und meist eine Begutachtung zur Folge hat, die einen aussagepsychologisch-wissenschaftlichen Beleg dafür, dass die Angaben zum Gewaltcharakter glaubwürdig sind, beizubringen oder abzuweisen hat. Die überwiegenden Fälle erlauben aber, laut MichaelisArntzen (ebd., 3), eine »sehr deutliche Herausarbeitung des Gepräges vor allem der glaubwürdigen Vergewaltigungsaussage«. Als besondere, aber doch nicht ungewöhnliche Ablaufformen der Interaktion bei unfreiwilligem Geschlechtsverkehr nennt Michaelis-Arntzen (ebd., 5–19) »provozierte« Vergewaltigung, Teileinwilligung des Opfers in intime Beziehungen, bedingte, korrigierte oder verleugnete Einwilligung, mangelnde Widerstandsentfaltung infolge Überrumpelung, Teileinwilligung gegen399 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

über Personengruppen oder die »angehängte« Vergewaltigung, Vergewaltigung nach früherem freiwilligen Sexualkontakt mit dem Beschuldigten, nach Auflösung einer Lebensgemeinschaft und wiederholte Vergewaltigung. Zwischen einem Vergewaltiger und seinem Opfer kommt es in vielen Fällen zu einem zunächst freiwilligen Kontakt, etwa in Form eines Gespräches oder auch eines Flirts, der im Verlauf der Begegnung eine unerwartete und unvorhergesehene Wende in Richtung sexueller Gewalt nimmt. Die mit einer Vergewaltigung einhergehenden leiblichen Regungen und Reaktionen können in einer Viktimologie der Vergewaltigung differenziert betrachtet werden. Die Berichte über Vergewaltigungen haben »oft ein unverwechselbares Gepräge« (ebd., 20), das einigen Klischeevorstellungen stark widerspricht und mittlerweile auch in Gerichtsverfahren und Gutachten zur Glaubwürdigkeit von Opferschilderungen Berücksichtigung findet. Das sei mit Michaelis-Arntzen (ebd., 20–42) an einigen Punkten dargelegt: 1. Widerstand im Verhältnis zur Bedrohung: Der geleistete Widerstand in Form von körperlichen Abwehrmaßnahmen kann bei massiver Bedrohung relativ gering sein. »Die nur verbale Tötungsdrohung, ohne daß Waffen gezeigt oder erwähnt werden, wird als besonders wirksam bei großer Abgelegenheit des Ortes empfunden. Schon die Entferntheit und die für die Zeugin unbekannte Lage desselben, vor allem bei Nacht, wirkt auf junge Mädchen derart einschüchternd, daß es nur bei den resoluteren unter ihnen unter solchen Umständen noch zu tatkräftiger Gegenwehr kommt.« (21)

Seien mehrere Männer beteiligt, komme es »von vornherein zu einer Blockierung aller Widerstandsversuche« (21); auch in abgeschlossenen Räumen, deren Verlassen aussichtslos erscheint, komme es »trotz ernsthafter und glaubhafter Ablehnung« der sexuellen Handlung »nur zu reduziertem Widerstand«. Massive tätliche Abwehrversuche wie Kratzen und Beißen seien in Situationen massiver Bedrohung höchst selten. Viel häufiger führten »Erwartungsängste zu völlig passivem Verhalten, zu einem ›Über-sichErgehen-Lassen‹« (22). Dagegen fänden sich in bedrohungsfreien Situationen viel stärkere Abwehrentfaltungen, auch und vor allem in verbaler Hinsicht. Der jeweils geleistete körperliche oder verbale Widerstand korreliert hinsichtlich Passivität, Aktivität und Intensität zu Art und Situationen der Bedrohung und zur Konstitution des Opfers. 2. Widerstand im Verhältnis zu Konstitution und Naturell des Opfers: Das Bedrohungserlebnis ist eine subjektive Tatsache, die im Verhältnis zur 400

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Vergewaltigung

Persönlichkeit des Opfers betrachtet werden muss. »Wenn physisch zarte Mädchen nur wenig Abwehr leisten, so braucht das nicht zu Zweifeln am Ernst der von ihnen behaupteten Ablehnung des Geschlechtsverkehrs zu führen.« (23) Daneben spielt die psychische Disposition eine bedeutende Rolle: »Nicht selten handelt es sich um gehemmte, antriebsschwache und wenig expansive Mädchen und junge Frauen, die weniger aufgrund physischer als dieser psychischen Eigenarten zu keiner wirksamen Gegenwehr kommen.« (23)

Dennoch kann die Aussage, dass der Geschlechtsverkehr abgelehnt worden sei, zutreffen und belegt werden. 3. Schreie als Abwehrmaßnahme: Im Unterschied zu gängigen Klischeevorstellungen schreien Vergewaltigungsopfer vergleichsweise selten (etwa 30 %), sogar in Situationen, wo Hilfe potenziell erreichbar wäre. Als Grund für ein solches Verhalten wird affektives Betroffensein angeführt, einerseits Angst, auch ausgelöst durch Drohungen des Täters, und andererseits Scham. Maßgebend könnten auch Warnungen aus dem Vergewaltigungsdiskurs sein, die vom Schreien abraten, um beim Täter keine Panikreaktion herbeizuführen. 4. Anhaltender Widerstand des Opfers: Typisch für Vergewaltigungsszenen sind durchaus Einschränkungen des Widerstands und seiner Dauer. »Es ist weder so, daß sämtliche nur denkbaren Arten physischen Abwehrverhaltens (Treten, Schlagen, Boxen, Kratzen, An-den-Haaren-Ziehen, Beißen, Schreien, Schutz der erogenen Körperzonen) in einem einzelnen Fall neben verbalen Appellen zur Abwendung der unerwünschten Sexualaggression zur Anwendung kommen, noch daß in jeder Phase des Geschehens Widerstand geleistet wird.« (25)

Typisch ist vielmehr ein Erlahmen der Gegenwehr im Form eines Umschlages bzw. einer Wende hin zu körperlicher Ermüdung, Resignation und sogar Gleichgültigkeit bzw. Apathie, wenn es nicht gelungen sei, den Aggressor abzuhalten. 5. Nach-Tat-Verhalten des Opfers: Im unmittelbaren Anschluss an die Tat ist das Erlebnis überwiegend geprägt von »Erregung und eindeutigen Reaktionen auf eine erhebliche Beeinträchtigung« (26). Es komme zu Flucht, Affektentladungen (Weinen), Mitteilungsdrang, länger anhaltender Beunruhigung, Verstörtheit, häufig zu monate-, wenn nicht jahrelangen Angstreaktionen (nächtliche Angstträume, Furcht vor abendlichem Ausgehen, Abneigung dagegen, in einem Raum allein zu schlafen), zu Störungen des erotisch-sexuellen Erlebens, Scham, Suizidgedanken oder -ver401

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suchen. Eine Reihe von Opfern mache aber erst nach kurzem oder auch längerem zeitlichen Abstand zum Ereignis Mitteilung, wofür meist Scham oder auch Angst, eventuell von Drohungen des Täters herrührend, verantwortlich seien, »aber auch die größere Nüchternheit und Selbständigkeit der heutigen Generation junger Frauen«, die »offenbar auch mit einem solchen Erleben allein und ohne äußerlich erkennbare Auswirkungen fertig werden« (27). 6. Scheinbar unterstützende (billigende/unentschiedene) Verhaltensweisen der Opfer: Im Unterschied zu Klischeevorstellungen führt Michaelis-Arntzen mehrere Aspekte an, die als nicht mehr untypisches Verhalten eines Vergewaltigungsopfers gelten: Freiwilliges Aufsuchen des Tatorts, Duldung oral-genitaler Handlungen, gemeinsame Heimkehr oder Nächtigung mit dem Beschuldigten, Aufschieben des Coitus als Abwehrversuch, differenzierte Einstellung von Opfern, Widerstand trotz allgemeiner Freizügigkeit. 6 7. Folgen der Vergewaltigung bei den Opfern: Neben physischen Verletzungen (z. B. Wunden, Blutergüsse, Würgemale, Verletzungen an Vagina und Brüsten) zählt zu den akuten Folgen einer Vergewaltigung das psychische Trauma, in Form von starker, furchtbarer, entsetzlicher Angst, Todesangst, Schlafstörungen, Angstträumen, Furcht vor dem Alleinsein inner- und außerhalb von Innenräumen, Suizidgedanken und -versuchen. Weitere Folgen könnten Schwangerschaft und Infektionen mit einer Geschlechtskrankheit sein sowie körperliche Beschwerden über »Tage (Halsund Unterleibsschmerzen), Monate (Magenbeschwerden) und Jahre (›vegetative Dystonie‹, anhaltende nervöse Spannungszustände und andere Äquivalente der Depression)« (38). Mörth (1994, 115 f.) führt noch »Gefühle der Häßlichkeit oder des Selbstekels«, »Waschzwänge sowie Anorexia Bulimia und Anorexia Nervosa« an sowie ferner »Allergien, Hautveränderungen, Gewichtsschwankungen bis zu hormonellen Störungen (z. B. Ausbleiben oder schmerzhafte Verstärkung der Menstruation)«, »Konzentrationsstörungen und Kopfschmerzen«. Die Folgen einer Vergewaltigung könnten »ein verändertes Körpergefühl bzw. Körperbewußtsein bewirken« (ebd.). Viele Opfer geben an, »daß sich nach dem Sexualdelikt ein gestörtes oder ein verändertes Verhältnis zum männlichen Geschlecht eingestellt habe« (Michaelis-Arntzen, 1994, 38), und es zu Schwierigkeiten bei der Rückkehr zu einem normalen Sexualleben gekommen sei, z. T. über Jahre 6

Die Autorin (1994, 32) verweist auf sehr differenziert zu betrachtende Fälle und Situationen, die in früheren Justizverfahren häufig dazu geführt haben, dass die Glaubwürdigkeit der Zeugin angezweifelt wurde.

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hinweg. Hier können Symptome wie mittelgradige Schmerzen beim Koitus, Desinteresse an sexueller Betätigung, Anorgasmie, Verkrampfungen beim Verkehr etc. angeführt werden. Ferner sei die posttraumatische Belastungsreaktion »mit häufigem Wiederbeleben des traumatischen Ereignisses, Vermeidungsverhalten, verstärkter Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen« (ebd.) genannt sowie nach Flothmann/Dilling (1987) und Kröhn (1984) lang anhaltendes Misstrauen in allen mitmenschlichen Kontakten. Die Art, Intensität und Dauer der Schädigung und »eventuell auch eine endgültige Deformierung der psycho-sexuellen und psychosozialen Entwicklung« des Opfers hänge nach Müller-Küppers (1978) von einer Reihe von Faktoren ab, »zu denen die Persönlichkeit des Opfers, das Verhältnis des Täters zum Opfer und nicht zuletzt das Alter des Opfers zählen« (zit. nach Michaelis-Arntzen, 1994, 39). Es gilt insgesamt als wahrscheinlich, dass sich als vorübergehende Symptome Angst, Schlafstörungen, Pavor nocturnus (nächtliches Aufschrecken aus dem Schlaf ), Leistungsminderung, psychosomatische Störungen und als dauerhafte Schädigungen Sexualängste einstellen. Zu den Folgen einer Vergewaltigung, die zur Mitteilung und Anzeige gebracht wird, müssen auch Veränderungen im sozialen Umfeld, die polizeiliche Vernehmungspraxis sowie die gerichtliche Auseinandersetzung gezählt werden. Michaelis-Arntzen (ebd.) macht deutlich: »Man muß befürchten, daß Schäden, die das Vergewaltigungserlebnis gesetzt hat, durch belastende Vernehmungen fixiert und eventuell vertieft werden – was bei behutsamer Vernehmung nach unserer Erfahrung nicht der Fall zu sein braucht.« 7

Wie demütigend, verletzend und retraumatisierend polizeiliche Vernehmungen und Gerichtsverfahren sein können, ist vor allem in den Frauenbewegungen und in der feministischen Literatur exploriert worden und trägt zu den mannigfachen Bedenken der Opfer bei, eine Vergewaltigung zur Anzeige zu bringen. Doch auch die vom sozialen Umfeld ausgehenden Reaktionen sind nicht unerheblich, da eine vergewaltigte Frau als stigmatisiert gilt und häufig von Ausgrenzungen bis hin zu schwerwiegenden Trennungen betroffen ist. So berichten zwei der von Mörth untersuchten sechs Frauen, dass Lebensgemeinschaften unter dem Eindruck der Vergewaltigung auseinanderbrachen: Ein junges Mädchen wurde von ihrem 7

Michaelis-Arntzen (1994, 41) verweist u. a. auf die Praxis, die Vergewaltigungsszene nachzustellen: »Vertieft wird die Traumatisierung durch das vorhergehende Erlebnis offenbar, wenn man vom Beschuldigten und der Zeugin selbst bei der Polizei oder im Gerichtssaal, am Tatort, eventuell auch in einem PKW, Szenen nachstellen läßt, die an die fragliche Situation erinnern und sie so wiederbeleben.«

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Freund verlassen, weil sie keine Jungfrau mehr war; die andere Frau fühlte sich fortwährend in ihren Handlungen auf ihre vergangene Vergewaltigung reduziert, was zur Trennung führte. Andererseits kann ein aufgeschlossenes, vorwurfsfreies oder -armes und einfühlsames soziales Umfeld aber auch viel zur Erholung und Heilung des Opfers beitragen und gelegentlich sogar eine Therapie überflüssig machen.

11.3 Das gestörte Körpergefühl / Verlust der leiblichen Integrität Die Viktimologie der Vergewaltigung verdeutlicht das weite Feld der mit diesem Delikt verbundenen Betroffenheit. Eine Vergewaltigung bedeutet in vielen Fällen einen biographischen Einschnitt mit schwerwiegenden Folgen. Der massive Eingriff in die Bewegungsfähigkeit und den Selbstausdruck des Leibes, die erzwungene Entblößung und der brutale Angriff auf das Genital verursachen Schreck und Schock, Angst und Ekel, Schmerz und Scham, also leibliche Regungen, die u. a. durch vorübergehende Lähmung oder ›Entkörperung‹, nicht im Sinne der Ohnmacht, sondern des ›Weg-getreten-Seins‹, des ›Neben-sich-Stehens‹ in fundamentaler Weise den gesamten Leib ergreifen. Das Durchleben von Angst scheint für das Vergewaltigungserlebnis grundlegend zu sein und wird von allen Opfern beschrieben. Angst kommt, wie Mörth (1994, 13) richtig bemerkt, von »Enge (lateinisch: angustiae) – der Enge des Brustkorbs, wenn der Atem stockt und die Luft angehalten wird«. Sie gibt ihrem Buch »Vergewaltigung und das Leben danach« den Titel »Schrei nach innen«, der auf das Erleben der Angst und Ohnmacht verweist: »Was als Schrei – Hilferuf, Angstschrei, Wutschrei, Kampfschrei – angelegt war, verkümmert bestenfalls zu Flehen und Wimmern, meist zu einem Würgen, Abwürgen.« (ebd., 13 f.)

Migael Scherer, Opfer einer überfallartigen Vergewaltigung durch einen Fremden in einem Waschsalon, berichtet in ihrem Buch »Wehrlos« (2000) von dem plötzlichen körperlichen Angriff, der sie aus ihrer Beschäftigung aufschrecken lässt und in die – wie Schmitz (1995, 49) sagen würde – primitive Gegenwart reißt, die für jedes elementar-leibliche Betroffensein des Menschen, das ihn »in die Enge treibt und dem Plötzlichen ausliefert«, charakteristisch ist. Das Subjekt »sinkt dann in sein Hier und Jetzt ein, die miteinander und mit ihm verschmelzen, und die Wirklichkeit packt den Betroffenen unmittelbar, ohne ihm seine Distanzierungsfähigkeit zu lassen; alle Eindeutigkeit schrumpft auf die Spitze des Plötzlichen zusammen, 404

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dem er ausgesetzt ist« (ebd.). Das Vergewaltigungsopfer beschreibt diesen Zustand unmittelbar nach dem Angriff folgendermaßen: »Instinktiv riß ich meine Hände hoch, um seine Hände wegzuschieben. Ich dachte und sagte: ›Großer Gott, das glaube ich nicht.‹ Ich spürte einen kühlen, scharfen Gegenstand links an meinem Hals und dachte: Mein Gott, ein Messer. Alles in mir schrie auf und trieb mich zur Flucht. Ich riß an dem Arm des Mannes, ich mühte mich ab und wandte mich herum, doch dabei gab ich keinen Laut von mir.« (Scherer, 2000, 89 f.)

Neben der erfolglosen Abwehrreaktion (Hände des Täters wegschieben, an seinem Arm reißen, statt selbst zum Angriff auf empfindliche, durch seinen Angriff ungeschützte Stellen überzugehen) spricht Scherer das Phänomen des stummen Schreiens in der Angst an, das im Leib verbleibt, das nicht in die Weite des Raumes hinein artikuliert wird, das sich als gehemmt zeigt, in der Enge des Leibes eingeschlossen. In Schreck und Angst stockt der Atem, versagt die Stimme. So finden wir in Scherers Beschreibung immer wieder Anspielungen auf Atmung und Stimme. Als sie vom Täter unter Todesdrohung aufgefordert wird, nicht zu schreien, keucht sie ein »Okay« (ebd., 90), als sie aufgefordert wird, eine Tür zu öffnen, erwidert sie: »Ich kann nicht« und fragt sich zugleich: »Wie konnte ich überhaupt sprechen?« (ebd.); als sie dem Täter Geld anbietet, heißt es: »Ich spürte, daß ich beinahe wimmerte, und wußte, meine Worte hatten überhaupt keinen Sinn« (ebd., 91). In Reflexionen während des Geschehens steigen Erinnerungsfetzen über Gewaltsituationen in ihr auf: »Zwei Dinge kamen mir in den Sinn: Bleib ruhig! Und: Benutze deinen Verstand. Ich zwang mich, ruhiger zu atmen« (ebd.). Weitere Erwähnungen von Atmung und Stimme, summarisch auf die Beschreibung verschiedener Interaktionen bezogen, lauten: »Ich stieß langsam die Luft aus.« (91); »Meine Stimme klang keuchend; ich mißtraute meiner eigenen Stimme, aber immerhin hatte sich meine Atmung beruhigt.« (92); »Ich nahm wahr, daß meine Stimme mir seltsam vorkam, und das gab mir Mut.«; »ich atmete tief und schwer ein« (93); »In meiner Stimme lag keinerlei Spannung mehr.« (94); »Ich konnte mich nicht dazu zwingen, etwas zu sagen«; »In meinem Kopf schrie es: O nein, ich bin an einen dieser Kerle geraten, o nein! Ich würgte und keuchte … Jeder Atemzug klang keuchend und beinahe wie bei einem Tier. So ist es also, wenn man vor Angst und Schrecken stirbt, begriff ich.«; »Ich wurde immer schwächer; mein Atem ging immer keuchender, und jeder Atemzug wurde zu einer größeren Qual.«; »Ich will nicht sterben! schrie alles in mir.«; »Dann fiel mir etwas ein: Atme aus, um zu entspannen und Kräfte zu sparen … ich atmete aus und erschlaffte.« (95); nach der Vergewaltigung: »Gierig und voller Dankbarkeit schnappte ich nach Luft.«; »Meine Stimme zitterte.« (96)

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In dieser Beschreibung einer brutalen Vergewaltigung mit Versuch einer Erdrosselung fällt auf, dass Scherer nur selten von gespürtem Schmerz redet, obwohl ihr Schnittwunden, vor allem tiefere an der Hand, und Prellungen zugefügt wurden. Die Schilderung bezieht sich zwar einmal auf einen »stechenden Schmerz« (90), dem das Empfinden einer »klebrigen Flüssigkeit in meiner linken Hand«, also Blut, folgt, und sie erwähnt auch, dass das Messer ihr in den Hals sticht, »ein Stück unter meinem linken Ohr« (93) sowie, dass die Schnittwunden »ein unangenehmes Pochen« verursachen (94). Bezogen auf das Spektrum leiblicher Regungen aber dominiert das Erleben von Angst mit dem erwähnten stummen Schreien, dem Stocken des Atems und dem Versagen der Stimme. Mörth (1994, 14) berichtet von den Atemschwierigkeiten vergewaltigter Frauen noch im Erinnerungs- und Verarbeitungsprozess: »Sie wollten schreien – aber die Luft konnte nicht hochsteigen und den Weg ins Freie finden.« Weiter heißt es: »Diese Angst führt zu einer symbolischen, aber auch ›verkörperten‹ Spaltung: so wie der Brustkorb die ausgleichende Gegenbewegung nicht vollführen kann und in der einseitigen Polarität der Ohnmacht (gegenüber dem Gegenpol allmächtiger Gewalt) erstarrt, erstarrt auch das Bewusstsein in der Opferrolle, wenn nicht Wut ausgleicht. Aber dürfen Frauen wütend sein? … Mir ist in der therapeutischen Arbeit wiederholt aufgefallen, daß Frauen, die schwer sexuell traumatisiert wurden, bei Atemübungen spontan im ›falschen‹ Rhythmus atmen. Sie verschließen sich, wo sie sich öffnen sollten. Sie machen sich klein. Sie stellen sich tot.«

Diese Ausführungen, die sich z. T. in naturwissenschaftlichen und psychologischen Bildern bewegen, können mit der Schmitzschen (1998a, 175) Analyse der Angst als »gehemmter Fluchtdrang« erläutert werden. Angst erweise sich »als gehindertes ›Weg!‹ : als ein Impuls, zu entkommen, der gleichsam abprallt«. Frauen fühlen sich in der Vergewaltigung häufig völlig ausgeliefert und ohnmächtig, was eine »psychische Blockade oder eine Schocklähmung« auslöse (Mörth, 1994, 88). Auf die Interviewfrage: »Hast du in der Situation sonst etwas gespürt außer Ohnmacht?« antwortet eine Frau: »Einfach dieses: Weg! Ich will da raus!« (ebd., 89) Das Phänomen der Angst als gehemmter Fluchtdrang äußert sich nach Schmitz bei der lähmenden ebenso wie bei der panischen Angst. Beide Formen sind typisch für Vergewaltigungsszenen. Das »Weg!« des Geängstigten ist auch bei der panischen Angst gehemmt: »Die Mauer«, die sich dem »Weg!« entgegenstellt, »scheint keine Tür zu haben; das Hindernis scheint für wache Besinnung unüberwindlich zu sein.« (Schmitz, 1998a, 176) Daher entscheide sich »der Geängstigte dazu, diesem Hindernis panisch, d. h. durch 406

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Ausstreichen der Umgebung und Blindwerden für sie, zu entgehen«, was dazu führe, dass »zwischen dem Ausbruch der Panik und dem Zusichkommen nach der Rettung für den Geängstigten ein Loch des Erlebens« klaffe (ebd., 177). Der Geängstigte habe sich »von allem zwischendurch Geschehenen zurückgezogen«. Das trifft für das Erleben der Vergewaltigung insofern zu, als sich häufig Amnesien hinsichtlich des Ablaufes einstellen, die bei gerichtlicher Auseinandersetzung sehr hinderlich sein können. »Das Abschalten der Besinnung in der Panik ist das Anerkennen der Ausweglosigkeit«, heißt es bei Schmitz (ebd.). Dieser Zustand könne als »traumhafter Zustand mit stichartig auftauchenden Gedanken beschrieben« (ebd.) werden. In Erinnerungsversuchen an Vergewaltigungen werden oft apathische Zustände und Entkörperungserlebnisse beschrieben: »Das ist so … wie wenn’st ohnmächtig wirst. Ich kann mich nur erinnern, daß ich so mit erstickender Stimme gesagt hab, er soll mir nichts tun oder so (leise, weinerlich). Dabei – ich könnt’ aber nicht irgendwie … es war so ein Gefühl … wie wenn’st auf einmal ganz klein wirst. … Irgendwann ist es mir gelungen, mich so total in irgend einen Punkt in mir zurückzuziehen, daß ich einfach nicht mehr da war.« (Mörth, 1994, 90) »Und ich hab mich gewehrt, hab gesagt: ›Laßt mich los.‹ … Und auf einmal war ich abgeschaltet. … Ich hab mich nicht mehr gefühlt, ich hab mich nicht mehr gespürt. Und das einzige, was ich gefühlt hab war Schuldgefühl und Schamgefühl. … Also es war irrsinnig demütigend und das vorherrschende Gefühl war Scham. Und sonst hab ich nicht mehr mitgekriegt. Ich kann mich nicht, also auch heute nicht … an dieses Drumherum erinnern. Ich mein, ich weiß, daß der seinen Penis in mich hineingesteckt hat. Aber das weiß ich nur vom Kopf her, erinnern kann ich mich an das alles eigentlich nicht. Das weiß ich vom Kopf, das war mir immer klar, aber ich war abgeschalten, total abgeschalten, so als wenn mich einer ausgeschaltet hätte. Ich hab auch keinen Mucks von mir gegeben.« (ebd., 90 f.)

Manche Frau kann sich in dem Zustand der ›Entkörperung‹ durch affektive Betroffenheit von Angst an unwichtige Details der Umgebung erinnern. So berichtet jene Frau, die ihrem Gefühl den Ausdruck: Weg! gegeben hatte, dass sie die Wand angeschaut und dort das Fehlen des Putzes bemerkt habe: »Ich weiß nicht … ich hab einfach … die Wahrnehmung selektiert, gell? Ich kann mich genau erinnern, an der Wand, die da war, da war der Putz runter … ja? Das hat ausgeschaut wie eine Birne. Und ich war so fixiert auf diesen Putzfleck, der da weg war. Ich mein‹, ich weiß es nicht, das war einfach so … komisch irgendwie, nicht?« (ebd., 89)

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Diese Frau ist über ihre Schwierigkeiten mit einer chronologischen Erinnerung an die Vergewaltigungssituation selbst sehr verwundert: »Du merkst dir solche Sachen [z. B. die Straße, wo es passierte, UG] nicht, obwohl die eigentlich wichtig wären. Das merkst eben nicht, aber du merkst dir so Kleinigkeiten. Also ich hab genau gewußt, wo der Putz runtergefallen ist oder so, gell?« (ebd., 90)

Scherer, die im Waschsalon überfallen wurde, berichtet ebenfalls von Phänomenen der ›Abspaltung‹ und der ›Entkörperung‹. Bereits zu Beginn der Überwältigung durch den Täter heißt es: »Das war der Augenblick, als mein Verstand aussetzte und die Zeit sich verlangsamte.« (Scherer, 2000, 90) Das Empfinden, die Zeit verlangsame sich, ist ein typisches Zeichen für eine Schockreaktion, die auch beispielsweise bei Autounfällen beschrieben wird und die mit einer veränderten Wahrnehmung der Umgebung einhergeht. Häufig heißt es dann, alles bewege sich wie in Zeitlupe oder wie in einem Traum. Der »Verstand«, der im Falle Scherers »aussetzte«, kehrt aber zurück, als sie (ebd., 91) gewahr wird: »Das hier geschieht wirklich.« Sie richtet verschiedene Reflexionen auf die Abwendung der Gefahr und im weiteren Verlauf des Angriffs darauf, wie sie am Leben bleiben kann. Sie beweist Geistesgegenwärtigkeit, wenn sie sich durch Entspannung der Atmung zu beruhigen versucht, verschiedene Strategien durchspielt und mit dem Täter in einen Dialog tritt, was viele Frauen in Vergewaltigungsszenen als eine Art verbale Selbstverteidigung versuchen, wenn ein Kampf aussichtslos erscheint. Auch Scherer nimmt in Gedankenfetzen, aber doch präzise, Dinge der Umgebung, jetzt des Hinterzimmers im Waschsalon wahr: »An der Wand standen aufgestapelt etliche weiße Metallstühle. Da sind die Stühle ja, dachte ich sinnloserweise. Zu meiner Linken gab es drei kleine Fenster.« (ebd., 92) Doch wird diese Wahrnehmung auch wieder von ›Entrückungen‹ unterbrochen: »Mein Herz flog einen Moment hinaus in die Freiheit durch die Gitter vor den Fenstern – doch dann kehrte es zurück.« (ebd.) Im weiteren Verlauf heißt es dann noch einmal: »Durch die beiden Fenster konnte ich die Welt sehen, die mir Sicherheit geboten hätte. Wie sehr wünschte ich mir, dort zu sein!« (ebd., 93) Beim Erdrosselungsversuch tritt sie schließlich aus ihrem Körper ›heraus‹ : »Ich spürte, wie ich über meinem Kopf schwebte, wie ich schwebte, um aus dem Fenster zu kommen und von hier zu verschwinden.« (ebd., 95) Doch der starke Impuls, nicht sterben zu wollen, reißt sie wieder zurück, und in ihren Gedanken ermahnt sie sich erneut zur Ruhe. Es verwundert in diesen Erlebniskontexten von extremer Angst und 408 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Vergewaltigung

Todesangst mit dem Phänomen der ›Entkörperung‹ oder ›Abspaltung‹ nicht, dass die eigentliche Penetration, also der Geschlechtsakt, der neben der Körperverletzung den strafrechtlichen Tatbestand ausmacht und nach dem im polizeilichen Verhör gefragt wird, gar nicht konkret, also im Sinne eines Spürens an Leibesinseln, empfunden wird. Scherer etwa beschreibt die Penetration (mittels Fingern) lediglich mit den Worten: »Der Mann drückte sich näher an mich heran. Vorsichtig schob er zwei oder drei Finger seiner rechten Hand in mich hinein.« (ebd., 94), sie fühlte sich aber »ganz ausgeliefert und verwundbar. Ich dachte, das ist das Ende.« (ebd., 95) Eine andere Frau berichtet: »Ich hab auch das Gefühl gehabt, das was der da unten bei mir gemacht hat, das war so weit weg, das hat mit mir überhaupt nichts zu tun gehabt. … Daher weiß ich auch nicht genau, was der da gemacht hat.« (ebd., 90)

Auch das ist ein klassisches Phänomen des von Schmitz analysierten Abschaltens der Besinnung im Prozess des Anerkennens der Ausweglosigkeit und verweist auf das elementare Betroffensein, das sich keineswegs regional, z. B. mit Sensationen an bestimmten Leibesinseln, äußert, sondern den Leib als solchen ergreift, dessen Räumlichkeit bei der ›Entkörperung‹ gar nicht mehr wahrgenommen wird. So ist ebenfalls charakteristisch, dass erst nach dem Ende der akuten Bedrohungssituation jene Erleichterung eintritt, die den Leib nach überstandener Gefahr erzittern lässt; bei Scherer (2000, 96) heißt es: »Vor Erleichterung und Schrecken zitterte ich am ganzen Körper.« Zugefügte Verletzungen und schmerzende Wunden werden erst jetzt deutlich in ihrer Regionalität wahrnehmbar; Scherer (ebd., 97) schreibt: »Ich hielt meine blutende linke Hand in die Höhe, und ich spürte die schmerzende Wunde an meinem Hals.« Häufig kommt es in der ersten Phase nach dem Wiedererlangen körperlicher Sicherheit zu hemmungslosem Weinen, gelegentlich zum Schreien, aber auch zu regelrechten Zusammenbrüchen oder Ohnmachten. Die Vergewaltigung hinterlässt unter allen Varianten physischer Gewalt den mitunter stärksten Eindruck von affektiver Betroffenheit und fundamentaler Verwundung des Leibes. Darüber hinaus fühlt sich das Opfer in seiner Menschenwürde und in seiner Würde als Geschlechtswesen zutiefst getroffen. Der Täter macht sich den fremden Leib zu willen, um in einer Atmosphäre der Lust und Macht zu schwelgen. Das Vergewaltigungserlebnis kann – zumal bei Minderjährigen – zum Stigma werden, zu Traumata führen, ist meist weit über den Tatzeitpunkt hinaus wirksam, schreibt sich in die leibliche Integrität nachhaltig ein und wird als Identitätskrise wahrgenommen. Mörth (1994, 195 f.) versucht in Anlehnung an 409 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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Gela Brüggebors-Weigelt (1986, 127–139) den damit verbundenen Prozess als einen »Zerfall der Beziehung zwischen Körper und Selbst« wie folgt wiederzugeben: »Die Unmittelbarkeit des In-der-Welt-Seins durch den gelebten Körper wurde durch die Verhinderung freien Handelns in der Vergewaltigungssituation zerstört. Der gelebte Körper wird sich dieser seiner Unfähigkeit bewußt und rebelliert. Körper und Selbst beginnen im Gegensatz zueinander zu stehen, denn der Körper wird als Teil des Selbst erfahren, der nunmehr die Quelle von Behinderung ist. Der Subjekt-Körper wird zum Objekt-Körper. Es beginnt ein Kampf: Der Körper rebelliert in Form von Krankheit (physischer und psychosomatischer Art), wodurch das Selbst erniedrigt wird. Umgekehrt erniedrigt das Selbst seinen Körper mit Gefühlen der Scham und des Ekels ihm gegenüber. Die Realität des Selbst (Intersubjektivität) ist nicht mehr erfahrbar. Erst die Integration des Erlebnisses kann die Wiedervereinigung von Selbst und Körper bewirken. Dies geschieht in der Phase der erfolgreichen Verarbeitung.«

Hier wird ein ›normales‹ Spaltungsgeschehen beschrieben. Die im Zusammenhang mit der Vergewaltigung auftretenden Ereignisse tangieren freilich noch ganz andere, ›dramatischere‹ Bereiche. Deutlich wird aber die Störung der leiblichen Integrität: Der Subjekt-Körper, also der Leib, wird zum Objekt-Körper, zum bloßen Ding; was der Vergewaltiger tut, die Verachtung des fremden Leibes zugunsten des seiner Macht unterworfenen Körpers, wird verinnerlichend eingeschrieben. Der Leib scheint entfremdet, nicht mehr der eigene zu sein, wie z. B. Scherer (2000, 48) noch einen Monat nach der Tat einem Freund sagt: »Ich spüre meinen Körper überhaupt nicht.« und dann notiert: »Das Gefühl, daß mein Körper etwas beinahe Gefährliches war, das nicht zu mir gehörte, erklärte so viel: Ich fühlte mich wie durchsichtig, ich sehnte mich nach körperlicher Nähe, ich hatte überhaupt kein Zeitgefühl mehr. Ich hatte mich von meinem Körper entfernt.«

Mit der Veränderung des Körpergefühls verschiebt sich auch das Gefühl für die Zeit: »Bisher schien Zeit etwas für mich zu sein, das ich in genau abgemessene Aufgaben aufteilen konnte. Nun kommt mir die Zeit wie ein riesiges Meer vor, in dem ich ziellos umhertreibe.« (ebd., 42)

Das ziellose Umhertreiben verweist auf einen leiblichen Zustand, der gleichsam zerfasert, diffundiert, sich in Weite ungehemmt ausstrahlt, ohne in die Konkretheit leiblicher Anwesenheit im Raum zu gelangen. In diesen Zustand des Verlustes der leiblichen Integrität und eines stabilen Körper410

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gefühls ragen Momente traumatischen Rückbesinnens herein. Scherer (ebd., 59) schreibt, »das Gesicht dieses Kerls« würde »in den ersten Momenten nach dem Aufwachen immer« auf sie warten. Neben das Aufschrecken aus dem Schlaf und das morgendliche Wiedererinnern mit Weinkrämpfen treten bisweilen auch unvermittelte, plötzliche Zustände von Atemnot und Labilität, z. B. beim Geschlechtsverkehr: »… gelegentlich verliere ich mich in solchen Erinnerungsfetzen«; »Ganz oft bin ich den Tränen nahe. An manchen Tagen habe ich nur zwei Empfindungen: heftige Angst (abrupt und kalt) und ein warmes Verlangen (sanft und durchdringend).« (ebd.)

Es kommt mitunter zu dramatischen Einbrüchen in das Alltagsleben, bei Scherer (ebd., 48) etwa einen Monat nach der Tat so: »Gestern abend habe ich wirklich den Verstand verloren. Es begann um halb acht, als ich plötzlich begriff, daß ich zu lange allein gewesen war.« Sie muss gegen Panik ankämpfen, als sie das Haus ihrer Freunde erreicht: »Auf der Treppe, die zu ihrem Haus führt, begann ich zu keuchen und zu schluchzen.« (ebd.) Sie bricht, als sie in die Wohnung ihrer Freunde kommt, weinend zusammen: »Ich war so tief in dunkle Gedanken versunken, daß ich kaum atmen konnte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis ich mich aus ihren Armen wand und aufhörte zu weinen.« (ebd., 49)

Die nachhaltige Störung des Körpergefühls äußert sich auch in Zuständen großer körperlicher Erschöpfung, die jede noch so geringfügige Aktivität zur übergroßen Anstrengung werden lässt. Häufig findet keine ausreichende Regeneration im Schlaf statt, da mit der Irritation der leiblichen Integrität meist Schlafstörungen, überwältigende, verwirrende Traumerlebnisse und Depressionen verbunden sind. So erstaunt es auch nicht, dass im Prozess der Heilung vom Trauma einer Vergewaltigung das Zurückerobern eines ausgewogenen Schlafes als besonders erholsam empfunden wird. Etwa sechs Wochen nach der Tat schreibt Scherer (ebd., 59), die eine Verarbeitung aktiv in die Hand nimmt und gute Unterstützung durch Partner und Freundeskreis erfährt: »Nun habe ich vier Nächte hintereinander lange und tief geschlafen. Was für eine Wohltat ist es, wenn man vollkommen ausgeruht erwacht … Die ganze Welt scheint im Gleichklang mit mir zu sein.«

In den Momenten eines Zurückgewinnens der leiblichen Integrität scheint eine Art ›Wiedergeburt‹ erlebt zu werden, die mit dem stabilen Körpergefühl und dem Spüren der leiblichen Anwesenheit im Raum auch die Umgebung wieder deutlicher zur Wahrnehmung bringt: »Als wir vier über 411

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Sucia Island spazierten, war alles neu und anregend. Frische Blätter, rosazarte Blüten, helles Gras und eine warme, dampfende Erde.« (ebd., 59 f.) Nach einer Woche Erholung im Segel-Urlaub erkennt Scherer (ebd., 62) »echte Fortschritte«: »Zum einen fühle ich mich richtig ausgeruht; ich bin wieder mit meinem Körper verbunden und kann auf die Gefühle und Sorgen meiner Mitmenschen eingehen. Ich habe auch beinahe die Empfindung verloren, ziellos herumzutreiben. Eine Woche lang habe ich es geschafft, Entscheidungen zu treffen, ich habe mich um andere gekümmert und habe an Deck gearbeitet. Als wir wieder am Kai in Ballard liegen, bin ich fähig, meine Ziellosigkeit in Raum und Zeit zu beherrschen.«

Doch von vorübergehenden Fortschritten lässt sich Scherer (ebd.) auch wiederum nicht täuschen: »… ich bin nicht töricht genug, um zu glauben, daß dieses Gefühl, all diese Dinge zu beherrschen, anhalten wird. Schließlich hat es über einen Monat und zwei wunderschöne Urlaube gedauert, bis ich zu diesem Punkt gekommen bin. Und ich weiß noch, wie schwach ich mich am Samstag fühlte, als wir endgültig nach Seattle zurückgekehrt waren und sich meine Angst wieder einstellte. Ich bin ich, sagte mir die Angst, und ich bin so stark wie zuvor.«

So dauert der Prozess der Heilung häufig monate-, wenn nicht jahrelang und ist durchkreuzt von Rückschlägen, vermeintlichen Erfolgen und vielen Kämpfen, oft begleitet durch eine Retraumatisierung in öffentlichen Vergewaltigungsprozessen, z. B. in der Konfrontation mit dem Täter, wenn er denn gefasst wird. Bei Scherer (ebd., 63) treten auch Retraumatisierungen in der Zyklizität des Wochentags ihrer Vergewaltigung auf: »Warum müssen die Dienstage immer so schwierig sein? Ich möchte das unbedingt ändern. Ich versuche zu vergessen, daß ich an einem Dienstag vergewaltigt wurde. … ich war fest entschlossen, diesen Tag anders zu begehen. Alles geriet durcheinander. … wie fremd mir das alltägliche Leben vorkam. Meine Stimmung sank …«

Auch noch Wochen später wird Scherer immer wieder von Angst überwältigt: »Heute lähmt mich meine Angst nahezu. Mein Atem geht flach, mein Herz ist wie eingeschnürt. Phantasien überwältigen mich, in denen eine Falle vorkommt: Ich bin das Raubtier, und der blonde, unschuldig aussehende Vergewaltiger das unwissende Opfer. In diesen Phantasien, die Träumen ähneln, kann ich niemanden davon überzeugen, daß ich Hilfe brauche, denn der Mann sieht so harmlos aus. Ich erhalte nur dann Hilfe, wenn der Mann sich wieder in den Täter verwandelt und ich angegriffen werde; manchmal mit den Händen, manchmal mit seinem Messer, mit dem er eher zusticht, als in mein Fleisch schneidet.« (ebd., 66)

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Vergewaltigung

Es kommt zu Wiedererinnerungen in Wach- oder Schlafträumen, die in die wiedererlangte leibliche Integrität erneut eingreifen, Atemnöte und Angstzustände hervorrufen. Der Angriff des Mannes bedeutet einen tiefen Eingriff in das Leben, wie Scherer (ebd., 257 f.) neun Monate nach der Tat in einem Brief an den Richter ihres Prozesses deutlich macht: »Am 9. Februar wurde ich von Steven Slater mißbraucht, beraubt und gewürgt. Ich werde niemals vergessen, wie ich in einem hellen, freundlichen Waschsalon in Ballard in die Falle geriet, wo er geduldig saß und auf den passenden Moment wartete. Blut, Vergewaltigung und das Gefühl, vollkommen wehrlos zu sein – das sind schreckliche Erinnerungen, aber all das ist für mich zweitrangig gegenüber einer anderen Sache: daß Slater mich beinahe umgebracht hat. Die ungeheure Angst, die ich in diesen Augenblicken spürte, überwältigt mich immer noch. Diese Art Brutalität widersetzt sich jedem Verständnis. Ich bin mir völlig sicher, daß Slaters Brutalität noch schlimmer werden wird; eines Tages wird aus Vergewaltigung Mord – so wie es bei mir schon beinahe der Fall gewesen wäre. Kein anderes Ereignis in meinem Leben hat mich so tief getroffen wie diese zwanzig Minuten. Die ersten Verletzungen resultieren unmittelbar aus dem Angriff: schmerzhafte Schnittwunden; ein Herz wurde mir in den Nacken graviert; Quetschungen von seinen Händen sowie ein Gefühl der Verwirrung und Betäubung. Erst Anfang März war ich fähig, wieder für ein paar Stunden allein zu sein, und es dauerte noch länger, bis ich wieder schlafen konnte. Die Erinnerungen und Alpträume überfallen mich immer noch, und viele psychische Wunden werden bleiben.«

In der Psychodynamik der Verarbeitung bedeutet es wohl einen wichtigen Schritt, wenn sich die Depression als ein Zustand leiblicher Enge in Aggression gegenüber dem Täter wandelt, also gleichsam vom Leibe abfallen und sich in die Weite eines Nicht-Ich, oder eines personalen ›Du‹ in der erneuten Begegnung mit dem Täter ergießen kann. In dem Prozess der sich entfaltenden Wut scheint die Angst zu weichen, was ebenfalls diesem Schema vom Heraustreten aus der Enge entspricht. Die Traumatisierung durch ein Vergewaltigungserlebnis wirkt sich nachhaltig auch auf die Integrität als Geschlechtswesen aus, etwa in mannigfachen Problemen einer Wiederaufnahme und Normalisierung sexueller Beziehungen. Die gesellschaftliche Geschlechtsrollenzuweisung spielt eine nicht unerhebliche Rolle für den Umgang mit der Vergewaltigungserfahrung. Die Tatsache, dass die Frau in besonderer Weise von ihr getroffen wird, ist einerseits in den anatomischen Gegebenheiten begründet, hat aber andererseits ihre Wurzeln in kulturell geprägten geschlechtsspezifischen Selbst- und Rollenbildern. Auch in Kulturen, die in der Geschlechterfrage als fortschrittlich gelten, ist das Bild von der Frau und ihrer sozia413

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

len Rolle, insbesondere in Bezug auf den Mann, immer noch stark an ihre Körperlichkeit gebunden, was z. B. in den Kulten um Kosmetik und Jugendlichkeit deutlich wird. Ist die Frau auf diese elementare Weise mit ihrem Körper identifiziert, muss ein gewaltsamer Angriff auf den Körper und besonders den Intimbereich sie selbst um so mehr und tiefer verletzen. Es hat schon eine innere Logik, dass in einer Kultur, in der es der Frau immer noch schwer gemacht wird, sich in anerkannten und hochpositionierten Berufen selbst zu verwirklichen und es ihr leicht gemacht wird, sich als romantische Schwärmerin, käufliches Lustobjekt oder Nur-Familienmutter zu definieren, viele Vergewaltigungen nicht zur Anzeige gebracht werden. Daran hat ein verbessertes Verständnis der Viktimologie von und des Umgangs mit Vergewaltigungsopfern bislang noch wenig geändert. Die Frau erlebt in der Vergewaltigung nicht nur einen Angriff auf den Leib, sondern auf ihre gesamte Persönlichkeit. 8 Scham, Angst, Schuldgefühle und die häufig erlebte Stigmatisierung des Leibes durch eine Vergewaltigung führen dazu, dass das Betroffen-Sein von dieser tiefgreifenden und meist lebensverändernden Leiberfahrung außerhalb des polizeilichgerichtlichen Verfahrens, des therapeutischen Rahmens, der Abgeschlossenheit von Schutz- sowie Frauenhäusern oder der Intimität privater Gespräche selten öffentlich artikuliert wird. Wenngleich das kollektive Gedächtnis die Betroffenheit der Opfer zu kennen glaubt und in Mediendarstellungen zu verarbeiten weiß, haben Frauen das Thema sexuelle Gewalt und deren Auswirkungen erst mit der zweiten Welle der Frauenbewegungen in eine breitere Öffentlichkeit gebracht und zugleich in größerem Stil Institutionen wie den Frauennotruf oder Solidargemeinschaften wie Selbsthilfegruppen ins Leben gerufen. 9 Dass es sich bei der Vergewaltigung um ein gesellschaftliches Problem handelt, das im Kontext der Konstruktion von Geschlechterrollen entsteht, bleibt in der Fokussierung auf Einzelschicksale von Opfern und Tätern sowie einer auf Einzelfälle ausgerichteten Medienverarbeitung häufig außer Acht. Besorgnis erregend 8

Früher konnte schon eine gynäkologische Untersuchung als ›Schändung‹ mit Regungen leiblicher Enge wie Angst, Schmerz oder Schreck erlebt werden. Im 19. Jahrhundert erklärte Josephine Butler die Spekulum-Untersuchung als Erniedrigung und empörte sich mit den Worten: »I had much rather die than endure it.« (Oakley, 1984, 19 f.) Die Empörung über diese »instrumental rape« galt der Tatsache, dass die Untersuchungen von Männern durchgeführt wurden. Die Geschichte gynäkologischer Untersuchungen zeigt, dass selbst eine einfache medizinische Konsultation von ergreifenden Regungen der Angst, des Schreckens und heute unvorstellbarer Scham begleitet war und oftmals einer Entweihung des Intimbereichs gleichkam. 9 Siehe Teubner u. a., 1983.

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Vergewaltigung

sind die nach wie vor große Dunkelziffer von nicht-angezeigten und unausgesprochenen Vergewaltigungsdelikten oder von Fällen sexueller Belästigung, der privat oder professionell organisierte Kindesmissbrauch, die Zunahme pornographischer Darstellungen mit Gewalthandlungen gegen Frauen, die Globalisierung des Mädchen- und Frauenhandels bis hin zur Bestellbarkeit von Frauenkörpern als Katalogware sowie die vielen subtilen Formen von Darstellungen spezifischer Unterdrückungssituationen von Frauen durch Männer. In Fragen der gesellschaftlichen Prävention, die Gewalt gegen Frauen nicht nur als Frauen-, sondern auch als kollektives Problem behandelt, scheint sich wenig Bewegung abzuzeichnen. Selbstverteidigung für Frauen, Frauenparkplätze und andere Schutzmaßnahmen sind zwar sinnvoll, tragen aber wenig zum Problem der Gewaltbereitschaft von Männern gegenüber Frauen bei, die letztlich aus geschlechtsspezifischen Situationen und dem Selbstverständnis der sozialen Geschlechterrollen resultieren. Mörth (1994, 185) macht deutlich: »Die entscheidendste Maßnahme gegen geschlechtsspezifische Gewaltauswüchse liegt in der konsequenten Gleichstellung von Mann und Frau auf allen gesellschaftlichen Ebenen: Egalität in sozioökonomischen, rechtlichen und politischen Bereichen, objektive Chancengleichheit im Berufs- und Privatleben inklusive Quotenregelung, Reproduktionsaufgaben einschließlich der Kindererziehung! Denn sexuelle Gewalt ist vor allem Ausdruck ungleicher Machtverhältnisse bzw. Positionen, die – gepaart mit Empathielosigkeit und Erotisierung von Macht – … zu Machtmißbrauch, sprich sexueller Gewalt führen kann. Solange das nicht erkannt und versucht wird, wird sich gar nichts ändern! Die Reflexion auf dieser Ebene ist dürftig und findet selten statt. Informations- und Aufklärungsarbeit müßte ihr eine Basis schaffen.«

In der Literatur hat das Thema Vergewaltigung seit jeher einen Platz. Geschändete Frauen werden in der Bibel, in der Mythologie und in anderen Werken erwähnt, häufig jedoch ohne auf die mit einem sexuellen Gewaltangriff verbundenen Leiberfahrungen und deren Folgen für das Opfer einzugehen. Auch in der bildenden Kunst ist das Thema, z. T. in Anlehnung an biblische Szenen, zur Darstellung gekommen. Im 20. Jahrhundert hat sich z. B. Käthe Kollwitz in einer Radierung mit dem Titel »Vergewaltigt« (1907) der Problematik angenommen. Abgebildet ist eine in einem Krautgarten niedergestreckte, zurückgelassene Frau, die erst allmählich ganz in den Blick des Betrachters kommt. Die im Verhältnis zum restlichen Körper deutlich sichtbaren, weit gespreizten, wie leblos erscheinenden Beine verweisen auf den Missbrauch, wobei der niedergedrückte Kohl des verwüsteten Gartens die Atmosphäre der Zerstörung in einem gehegten, geschützten Bezirk verstärkt. Im dunkel gehaltenen Hintergrund, hinter 415

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

Zaunplanken und Pflanzen verborgen, wird schließlich ein vor Schreck versteinertes Kindergesicht deutlich. In den 1970er Jahren prangerten vor allem feministische Künstlerinnen die sexuelle Gewalt gegen Frauen an, z. B. in der Performance »Three weeks in May« von Suzanne Lacy und Leslie Labowitz. Eine dezidierte Aufarbeitung und Beschreibung von Vergewaltigungserlebnissen aus der Sicht der Betroffenen ist in der Literatur selten, wie ja generell das leibliche Erleben der Frau erst mit der Frauenbewegung im 20. Jahrhundert zum öffentlichen Thema werden konnte. Im Falle der Vergewaltigung liegt nun offenbar eine noch größere Hemmschwelle zur Selbstthematisierung vor als bei anderen Leiberfahrungen. Was die ›Eckdaten‹ einer Vergewaltigung angeht, so gibt es zwar zahlreiche Erwähnungen von Situationen, doch das spezifische leibliche Erleben tritt vor dem Hintergrund des körperlichen Geschehens bzw. der nach außen hin sichtbaren Vorgänge meist zurück. So geht auch Marilyn Frenchs Bericht einer Vergewaltigung vom Typ ›Überfall durch fremden Mann auf offener Straße bei Dunkelheit‹ primär auf die äußeren Details ein. Aber sie thematisiert auch Leibliches, z. B. den Schreck, das zu Tode erschrocken Sein, als der Mann sich dem Opfer entgegenstellt. Der Schreck ist nach Schmitz (1998b, 174) im Unterschied zu Angst und Schmerz, mit den Weisen des gehinderten Impulses »Weg!«, »wirkliches Wegsein, wie die Redewendungen anzeigen: starr, entgeistert, weg sein vor Schreck«. Das »Abreißen des Fadens im Schreck« kann nach Schmitz (ebd.) so weit gehen, dass »Angst und Schmerz trotz der ihnen mit jenem gemeinsamen anfänglichen Überspannung verschwinden«. Das verdeutlicht French, denn sie beschreibt zunächst nicht Angst oder Schmerz, sondern eine Art verrationalisierte Einschätzung der Situation, wie aus einer, weiter oben als Abspaltung beschriebenen, leibfernen Perspektive: »In ihrem Kopf arbeitete es fieberhaft«. Als es zum Vergewaltigungsakt kommt, heißt es: »Sie lag da, mit weit aufgerissenen Augen, unfähig, zu atmen.« (French, 1988, 499) Sie ist immer noch erstarrt vor Schreck, gelähmt, stumm und in Atemnot. Später fühlt sie sich »geschlagen«: »Sie spürte, daß es tödlich sein konnte, wenn sie sich bewegte, bevor er in der richtigen Gemütsverfassung war. Sie mußte auf den richtigen Augenblick warten.« (ebd., 500) Wie aus einer fernen Perspektive wird die Situation im Hinblick auf eine Fluchtmöglichkeit durchmessen, aber es kommt auch zu einer starken Einleibung zwischen Täter und Opfer, denn die Frau kann den rechten Augenblick, der ihr Leben retten würde, erspüren. Als sie freikommt und zitternd ihr Apartment aufschließt, wird sie von unbändiger Angst ergriffen, obwohl sie sich in Sicherheit weiß. Die Angst mit dem gehinderten Impuls »Weg!« 416 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Vergewaltigung

wird erst frei, als sie dem Schreck entkommen ist, vom gelähmten »Wegsein« wieder zurück kommt, um dem erneuten Drang zum »Weg!« zu erliegen: »Sie war zu verängstigt, um Licht zu machen. Sie war zu verängstigt, um aus dem Fenster zu sehen – als ob er die Macht hätte, sie noch von der Straße aus zu zerstören. Sie wußte nicht, was sie machen sollte. Sie lief ans Telefon und rief ihre Mutter in Boston an. Aber als sie dann den Mund aufmachte, kamen nur noch Schreie heraus. … Sie schrie und weinte immer noch, sie konnte nicht aufhören. … Sie weinte immer noch, das Schluchzen kam aus tiefster Tiefe.« (ebd., 501)

Die geschilderte Erfahrung könnte mit dem von Schmitz (1998a, 174) als »objektlose Nachtragsangst nach gefährlichen, mit Aufgebot aller Kräfte bestandenen Abenteuern« bezeichneten Phänomen beschrieben werden, das er (ebd., 175) wie folgt versteht: »Nach dem Ende der Gefahr tritt zum Ausgleich der vorangegangenen Überforderung eine lähmende Erschöpfung der Spannkraft und Beweglichkeit ein; der während der akuten Drohung herrschende Impuls ›Weg!‹ wirkt aber, wenn auch ganz unbestimmt, weiter, und so entsteht die für Angst charakteristische Situation: der gehinderte Fluchtdrang.«

Im Fall der Vergewaltigten wirkt die Angst in der – objektiv betrachtet – sicheren Umgebung fort und drückt sich u. a. in der Unschlüssigkeit aus, was zu tun sei. Schließlich entkommt das gehinderte »Weg!« aber im Schreien und Weinen und findet aus leiblicher Enge Anschluss an die Weite. Dieser Zustand dauert in dieser Darstellung an. Als alle Formalitäten mit der Polizei erledigt sind und die Protagonistin zum Krankenhaus gebracht wird, kommt sie sich vor, »als hätte sie nun alle Taue gekappt und ließ sich in einem furchtbaren Ozean treiben« (French, 1988, 501), einer namenlosen entsetzlichen Weite. Die Nachtragsangst mit in die Weite befreiendem Schreien und Weinen klingt nicht ab: »Sie weinte immer noch. Sie hatte nicht aufgehört zu weinen. Aber sie fing wieder an zu denken. … Und die ganze Zeit weinte sie und fühlte sich wie vernichtet. … Mit ihrem Verstand sagte sie sich, während ihre Kehle weiterschluchzte, immer wieder: Ich bin, ich bin, ich bin, ich bin Christine Truax … – wie eine Beschwörung, wie hypnotisiert – … Ihr Schock klang ein wenig ab. Sie weinte immer noch, ohne es unterdrücken zu können, aber die plötzlichen, qualvollen Aufschreie wurden seltener.« (ebd., 502)

In der Erinnerung an ein Detail fährt sie wieder hoch, »mit entsetzten Augen«, als kehrte der Schreck der Vergewaltigung wie kurz belichtet wieder. Sie spricht mit »tonloser Stimme und immer wieder aufschluchzend«. 417

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

In den nächsten Tagen kommt es zu heftigem, körperlichen Anklammern an die angereiste Mutter, vor allem auf offener Straße, also außerhalb eines Schutz bietenden Innenraumes. Dieses Anklammern an einen Anderen in der Angst ist nach Schmitz (1998a, 182) »ein Weg, den der Impuls ›Weg!‹ zum Mitmenschen einschlägt«. Wer sich angstvoll anklammert, »will sich vom eigenen Selbst entlasten, indem er es auf das fremde Selbst überträgt und seine Eigenständigkeit diesem gegenüber preisgibt« (ebd., 183 f.). Dem »Weg!« werde zwar einerseits zum Durchbruch verholfen, denn: »Wer in einen anderen Menschen eingeht, kommt von sich selbst los.« Andererseits zeige sich dabei die für die Angst typische Hemmung des Impulses »Weg!«: »Wer sich festklammert, befestigt sich eher in seiner Lage, als daß er ihr entkäme.« Daher würde die angststillende Wirkung in dem Moment verschwinden, »wenn der entlastende Mitmensch in die eigene Situation, als etwas dieser Zugehöriges, hineingenommen wird« (ebd.). French (1988, 515 f.) beschreibt auch jene Demütigungen der Opfer, die bei Gerichtsverhandlungen zu überstehen sind. Anschließend bricht die Studentin zusammen: »Sie rollte sich zu einer Kugel zusammen und verkroch sich in die Couchecke und sprach nicht. Sie konnte niemand anders als ihre Mutter in ihrer Nähe ertragen. Sie schlief bei ihrer Mutter im Bett, hatte aber trotzdem Schlafstörungen. Sie wachte ständig auf und bildete sich ein, seltsame Geräusche zu hören. … Wenn jemand kam – Leute, die sie früher geliebt hatte … – saß sie abwesend da, sprach kaum mit dem Gast, fuhr ihre Mutter an oder zog sich in ihr Zimmer zurück und machte die Tür hinter sich zu. … Gesundheitlich fehlte ihr nichts. Chris begleitete Val überallhin, da sie weder allein weggehen noch allein zu Hause bleiben wollte.«

Es scheint, als wolle sich die Vergewaltigte in sich selbst, in ihren Leib verkriechen, in die eigene, immer noch verspürte leibliche Enge, aus der kein Wort in die Weite des Raumes hinausdringt. Was als Leiberfahrung jenseits der Erfahrungen im sozialen Umfeld nachhaltig beharrt, ist ein diffuser Angstzustand mit dem Zwang, sich anzuklammern, dem Bedürfnis nach körperlichem Kontakt, nach Schutz, Vertrautheit, danach, den immer noch empfundenden gehinderten Impuls »Weg!« auf das fremde Selbst zu übertragen und seine Eigenständigkeit diesem gegenüber preiszugeben. Durch das Anklammern entwickelt sich in Frenchs Beispiel eine Abhängigkeit, die einen dramatischen Fortgang nimmt. 10 10

Bei dem Versuch der Mutter, sich und ihre Tochter aus dieser Abhängigkeit zu lösen, kommt es zur unwiderruflichen Trennung. Die Tochter bleibt zeitlebens von ihrem Vergewaltigungserlebnis gezeichnet.

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Vergewaltigung

In der Vergewaltigung spielen häufig Todeserfahrungen eine Rolle. Ein literarisches Beispiel einer Vergewaltigung, die zugleich Defloration und Befruchtung ist, liefert Frederiksson. Es handelt sich um einen Täter vom Typ »böser Onkel«, also einen dem Opfer Bekannten, der überfallartig agiert, während das Opfer, eine Magd, schläft: »Nun schlief sie also auf dem Heuboden wie ein müdes Tier und wachte erst auf, als er ihr den Rock herunterriß. Sie versuchte zu schreien, aber er drückte ihr den Hals zu, und sie wußte, daß sie jetzt sterben würde. Mit dieser Erkenntnis schwieg sie still. Er war schwer wie ein Stier, als er sich auf sie wälzte, und als er in sie eindrang und sie zerriß, konnte sie mitten in diesem ungemeinen Schmerz Gott noch bitten, er möge sie bei sich aufnehmen. Dann starb sie und war erstaunt, als sie nach vielleicht einer Stunde zu sich kam, blutig und zerfetzt. Sie konnte sich bewegen, zuerst die Hände, dann die Arme und schließlich die Beine. Endlich konnte sie einen Beschluß fassen oder zumindest einen Gedanken formen: Heim zur Mutter. Sie ging langsam durch den Wald, ließ eine blutige Spur hinter sich. Den letzten Kilometer kroch sie auf allen vieren, aber als sie vor der Hüttentür schrie, war ihre Stimme kräftig genug, die Mutter zu wecken.« (Frederiksson, 1999, 43)

Als die junge Frau erwacht, erfasst sie sogleich die Bedrängnis und Gewalttätigkeit der Situation und versucht zu schreien, also in die Weite zu entkommen. Als das nicht möglich ist, ›ergibt‹ sie sich quasi in die ›Weite‹ des Todes. Obschon sie einen »ungemeinen Schmerz« spürt, ist sie ihm scheinbar entkommen und bereits ›entkörpert‹, als sie das stumme Gebet zu Gott richtet. Sie entgleitet vollends ihrem Leib und ›stirbt‹. Als sie in die Enge ihres Leibes zurückkehrt, bleibt sie solange stumm, bis sie, in die Nähe des elterlichen Hauses gelangt, sich durch einen Schrei wieder in die Weite hin befreit. Der Blutfluss des Mädchens, das vom Sohn ihres Dienstherrn vergewaltigt wurde, ist kaum zu stillen. Es versinkt in Schlaf bzw. Bewusstlosigkeit, als es von der Mutter ins Haus getragen wird, entkommt also wieder der leiblichen Enge in die Weite. Während der Behandlung durch die Dorfhebamme wachte es auf »und fing leise an zu wimmern« (ebd., 44). Wie stark das Trauma der Vergewaltigung in diesem Fall war, zeigt sich, als Hanna, das Opfer, viele Jahre später – sie hat inzwischen geheiratet und neben dem in der Vergewaltigung gezeugten Kind noch andere Kinder geboren – vom Tod ihres Peinigers erfährt und für kurze Zeit völlig die Kontrolle über sich verliert und sich in der Erinnerung nochmals in gewisser Weise entkörpert, wenngleich sie keine Todeserfahrung durchlebt:

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

»Hanna wurde weiß wie ein Leichentuch und stocksteif dazu. ›Ist das wahr, oder redet Ihr nur so daher?‹ flüsterte sie. ›Es ist wohl wahr. Der Landjäger ist in Lyckan gewesen und hat es den Alten [den Eltern des Täters, UG] gesagt. Es ist schwer für die beiden.‹ Jetzt wurde Hanna über und über rot und fing an zu zittern. Und plötzlich schrie sie: ›Denen gönn ich’s, diesem verdammten Pack!‹ Broman sah seiner Frau erstaunt an, wie alle Schande von ihr abfiel und zugleich auch Vernunft und Würde. Sie stürzte zur Tür hinaus und rannte auf dem Hof im Kreis herum. Wie eine Verrückte schrie und lachte sie abwechselnd. Sie stieß Flüche aus, Wörter, die er bei ihr nie für möglich gehalten hätte. … Erschrocken ging John ihr nach, als sie hinunter zum See rannte und ihr ›Ich bin frei, Ragnar [Name des in der Vergewaltigung gezeugten Sohnes, UG]!‹ rief. ›Wir sind von den Schrecken erlöst. Weil jetzt dein Vater in der Hölle schmort.‹ Dann rannte sie wieder aufs Haus zu und warf sich hitzig auf die Erde. Die Röcke flogen ihr über den Kopf, ihre Scham war entblößt, aber entweder merkte sie es nicht oder es war ihr egal. Als sie sich den Rock vom Kopf zog, war es, um mit geballten Fäusten in den Himmel zu schreien: ›Ich vergeb es dir nie, wenn du ihm vergibst, du verfluchter Gott. Hörst du mich, hörst du!‹ Dann war sie plötzlich still, raffte ihre Kleidung zusammen, legte sich auf die Seite, rollte sich wie ein Embryo zusammen und begann zu weinen. … Dann ging sie zum Spiegel im Saal, blieb zum ersten Mal davor stehen und sah ihr Abbild lange an. ›Ich sehe doch aus wie ein ganz gewöhnlicher Mensch‹, sagte sie schließlich. Dann schämte sie sich schon wieder. … ›Ich hab mich wie eine Blöde benommen‹, sagte sie, und ihre Stimme zitterte. ›Ist doch gut, daß du’s los bist.‹« (ebd., 90 ff.)

Die letzten Worte hat ihr Mann gesprochen, der das Geschehen beobachtet hatte. Bei den Reaktionen auf die Nachricht vom Tod des Vergewaltigers fällt zuerst ein Moment der Lähmung oder des Schrecks auf: Der Leib versteift sich, das Blut weicht aus den Wangen. Als Hanna die Nachricht als gesichert empfindet, kehrt das Blut zurück und zugleich beginnt sie zu zittern, als ob die Erinnerung an das Vergewaltigungserlebnis sie erneut zum Erschaudern brächte, wobei die Gewalt der Erinnerung nun in eine dramatische Weite mit ungehemmtem, ziellosem Bewegungsdrang, mit einem Wechselspiel von weitendem Schreien und in Verzweiflung gellendem Lachen sowie einem unkontrollierten Verbalisieren hinein entkommt. Nach Ausleben des Bewegungsdranges folgt ein hitziges auf den Boden Werfen und die Entblößung der Scham: Sie tut nun selbst das, was der Vergewaltiger gegen ihren Willen mit ihr machte, ist dabei scheinbar besinnungslos und förmlich entkörpert, bis sie plötzlich ruhig wird und sich nach dieser Serie leiblichen Entkommens in die Weite wieder in der Enge einer konkreten Anwesenheit vorfindet und sich gleichsam in die Enge des eigenen Leibes, wie im vorherigen Beispiel, zurückzieht, sich in 420

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Vergewaltigung

ihr zusammenkauert. Schließlich zeigt das Weinen an, dass die dramatische Explosion und der mit ihr verbundene extreme Spannungszustand überstanden ist. Es hat den Anschein als hätte sich diese Frau erst durch den Tod ihres Peinigers vom Trauma ihrer Vergewaltigung ›befreit‹, als hätte der Tod auch das empfundene körperliche Stigma beseitigt. Es wurde vorher einmal erwähnt, dass sie sich nicht im Spiegel zu betrachten vermochte, dass sie es ablehnte, ihr Äußeres zur Kenntnis zu nehmen. Erst nach ihrem ›Gefühlsausbruch‹, mit dem sie das Trauma abschüttelt, ist sie in der Lage, sich im Spiegel anzusehen und festzustellen, dass sie wie »ein gewöhnlicher Mensch«, also wie ein Mensch ohne Stigma, aussieht. Wenig später erfahren wir noch, dass am Abend jenes Tages Hanna ihren Mann zum ersten Mal »suchte«, d. h. von sich aus Intimkontakt zu ihm aufnahm, was für die These spricht, dass Hanna, nachdem sie vom Tod ihres Vergewaltigers erfahren hatte, sich in einer Art Katharsis vom jahrelangen Druck ihres Vergewaltigungserlebnisses befreit hat. Wie die Biographien von Vergewaltigungsopfern und die angeführte literarische Aufarbeitung zeigen, muss bei der Vergewaltigung von verschiedenen, im wesentlichen zwei Ebenen ausgegangen werden, in denen sich Leiberfahrungen manifestieren: das Vergewaltigungserlebnis selbst und das Leiberleben im Anschluss. Während zunächst primär das Erleben von Schreck, Angst, Scham, Ekel und Schmerz dominant ist, kommt es kurz nach der Tat zunächst meist zu einem überwältigenden Weinen und auch Schreien sowie zur Nachtragsangst. Möglicherweise gelingt aber der Anschluss an die Weite im Weinen oder Schreien nicht; dann bleibt das Vergewaltigungserlebnis stumm in der Enge des eigenen Leibes eingeschlossen und kann sogar eine Unfähigkeit zu sprechen nach sich ziehen. Langfristig hinterlässt ein Vergewaltigungserlebnis häufig eine nachhaltige Störung des Körpergefühls bzw. der leiblichen Integrität und eine Anfälligkeit für Retraumatisierungen. Vergewaltigungen gehören zu den gängigen Foltermethoden. Auch die Opfer einer reinen Schmerzfolter haben mit Spätfolgen sowie Schreckund Angstzuständen zu kämpfen und sind durch die Angriffe auf ihre leibliche Integrität möglicherweise für ihr ganzes Leben gezeichnet. Die Traumata von Folteropfern sind dadurch geprägt, dass die Folter über einen längeren Zeitraum durchgeführt wurde, also andere Dimensionen annimmt als bei dem möglicherweise einmaligen Erlebnis einer Vergewaltigung. Hier unterscheidet sich die Folter in einem bestimmten Umfeld des Freiheitsentzugs von einem Vergewaltigungserlebnis, das auf freier Straße oder in vertrauten Umgebungen von Innenräumen in den normalen Lebens- und Bewegungskontext einer Frau eingreift. Mit Blick auf die 421 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

Charakteristika der Vergewaltigung als einer weiblichen Leiberfahrung, ist also die Situation und auch die leibliche Konstitution der Frau selbst von Bedeutung, die eine Vergewaltigung von üblicher Folter unterscheidet und Vergewaltigung als Foltermethode wiederum zu einem besonderen Instrument der Vernichtung werden lässt. Ziel der Bemächtigung sind die sexuellen ›Körperteile‹ der Frau, bei gefolterten, vergewaltigten und sexuell belästigten Frauen neben dem Genital auch die Brüste, in besonderer Weise aber die ›Körperöffnung‹ zur Vagina. Dieser Körperein- bzw. ausgang ist mit keinem anderen vergleichbar, schon weil er durch kulturelle Körperbilder und daran anknüpfende Selbstbilder auf umfangreiche Weise imprägniert und in hohem Maße durch geschlechtsspezifische Werte besetzt ist. Er hat eine eigene Geschichte, die der Menstruation, Defloration, Geburt etc., und er ist auch physiologisch spezifisch, da hier ein tiefes Eindringen in das Leibesinnere möglich ist, wie beim Anus. Die Erfahrungen an der genitalen Zone können über den Bereich der Leibesinseln Genital und Unterleib hinaus in Erlebniszustände des reinen Leibes übergehen, wie es bei der Vergewaltigung häufig der Fall ist. In Schreck, Schock, Angst und Schmerz sowie Ekel und Scham ist der Leib eigentlich gar nicht mehr in seinem strukturierten Gefüge spürbar, sondern scheint sich für das Erleben aufzulösen. Dies ist wohl der Grund dafür, warum viele Frauen von der völligen »Vernichtung« sprechen, die eine Vergewaltigung bedeutet. Erlebt wird das AusgeliefertSein des ganzen Leibes, die Auflösung seiner Räumlichkeit, das Nichtmehr-Spüren-Können seiner Integrität. Gewiss, positiv gewendet, kann dieses ›Ausgeliefert-Sein‹ in der leiblichen Liebe zu einem überströmend glücklichen Erlebnis werden, das ebenfalls zur Entkörperung führen kann, doch in der Vergewaltigung ist es Entkörperung in einen Abgrund. 11 Wenn in diesem Kapitel typische Aspekte der Vergewaltigungsszene, der Angst von Frauen und Mädchen vor sexueller Gewalt und ihrer gesellschaftlichen Hintergründe dargestellt wurden, so konnte doch das große Problemfeld des Kindesmissbrauchs nicht berücksichtigt werden. Es dürfte bei den erörterten Fällen aber deutlich geworden sein, welche dramatischen Folgen schon Vergewaltigungen an erwachsenen Frauen haben. Sexuelle Gewalt an Kindern birgt noch viele weitere Dimensionen. Nicht 11

Dass es hier auch Übergänge geben kann, zeigt das autobiographische Beispiel vom Typ »Vergewaltigung durch einen Bekannten«, das Prima beschreibt (2002, 78 ff.). Die Autorin lässt eine Vergewaltigung durch den Vater ihrer Freundin in einem Prozess von Widerstand, Mitleid, Aufgabe der Opferrolle, rationaler Normalisierung etc. zu und erlebt schließlich sogar selbst einen Orgasmus.

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Vergewaltigung

nur die Körper, denen diese Form von Gewalt widerfährt, sind noch nicht ausgewachsen, auch das leibliche Selbst mit der Möglichkeit zu »personaler Emanzipation« (Schmitz) ist noch nicht entfaltet. Nimmt man hinzu, dass Kindesmissbrauch in der Regel im privaten Umfeld der Heranwachsenden erfolgt, so handelt es sich um einen besonders schweren Angriff auf die leibliche Integrität und ein ›gesundes‹, von Vertrauen in die Um- und Mitwelt durchzogenes In-der-Welt-Sein. Dem kann man nur durch eine eigene Abhandlung gerecht werden.

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12. Gravidität

»Versteht der Mann, dieses so schwache Geschlecht, zu tragen? Nur die Frau kennt und erlebt gelegentlich das inkorporierte Tragen, bei dem zwei Lebensalter sich zusammenfügen.« (Serres, 1998, 435)

12.1 Kinder- und Schwangerschaftswunsch Wenngleich es abwegig erscheinen mag, in biologischer Hinsicht von einem dem weiblichen Körper inhärenten Kinder- und Schwangerschaftswunsch zu sprechen, wissen wir doch heute von dem Faktum, dass der weibliche Körper während drei und mehr Jahrzehnten regelmäßig eine Reihe komplizierter Vorgänge durchläuft, die für mehrtägige Zeiträume seine Fruchtbarkeit ermöglichen. Er rüstet sich, ob man ihm nun einen Wunsch unterstellt oder nicht, allmonatlich für eine Empfängnis, und zwar unabhängig von der sexuellen Betätigung der Frau und unabhängig davon, ob sie in einer Partnerschaft lebt oder wie die Zukunft eines Kindes aussehen mag. Dieser gesamte Komplex funktioniert autonom, ohne Beteiligung des Willens und setzt allenfalls unter extremen Lebensumständen aus, etwa bei Gefängnishaft, anhaltendem Hunger sowie schwerer Drogen- und Medikamentenabhängigkeit bzw. psychischer Erkrankung. Bei der wiederkehrenden Empfängnisbereitschaft handelt es sich um Unverfügbares, das grundlegend Natur ist. Das Problem eines unerfüllten Kinderwunsches soll mit dieser Exploration ebenso wenig heruntergespielt werden wie die Tatsache, dass weibliche Zyklen zwar nach einer ›biologischen Uhr‹ funktionieren, aber durch situative Bedingungen, die im weiblichen Subjekt und seinen Interaktionen mit der Um- und Mitwelt begründet sind, Veränderungen erfahren. Faktum bleibt dennoch, dass wesentlich mehr Frauen von der Autorität ihrer Fruchtbarkeit heimgesucht werden als von der Autorität eines unerfüllten Kinderwunsches. Da in der technischen Zivilisation die Menstruationen immer früher biographisch relevant werden, durch die Herabsenkung des Menarchealters einerseits und die Sexualpraxis von Jugendlichen 424 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Gravidität

andererseits, stehen wir vor dem Problem, dass Mädchen sich schon in jungem Alter mit ihrer Fruchtbarkeit zu befassen haben und als Minderjährige leicht in die Fänge von Kolonisierungsprozessen durch das medizinische System geraten. Schon vor dem Hintergrund der Relationen zwischen unerwünschter Schwangerschaft und unerfülltem Kinderwunsch ist die verbreitete Hochstilisierung des Problems ›unerfüllter Kinderwunsch‹ wohl eher auf Forschungsinteressen der Reproduktionsmedizin als auf die Auseinandersetzung mit der Autorität der Fruchtbarkeit als Phänomen weiblicher Betroffenheit vom eigenen Leib zurückzuführen. Wenngleich der unerfüllte Kinderwunsch für dieses Kapitel eine Rolle spielt, muss er doch Randthema bleiben, um der gesellschaftlichen Realität Rechnung zu tragen, dass die meisten Frauen sich ihrer Fruchtbarkeit zu entziehen trachten. Zu Beginn einer Schwangerschaft steht die Konzeption. Dieses Fremdwort bezeichnet im Deutschen dreierlei: erstens einen geistigen, künstlerischen Einfall oder den Entwurf eines Werkes, zweitens eine klar umrissene Grundvorstellung, ein Leitprogramm oder einen gedanklichen Entwurf und drittens die Empfängnis, also die Befruchtung der Eizelle durch eine Samenzelle (Duden, 1974). Es ist einerseits etwas Unfertiges gemeint, also mehr die Idee eines Fertigen, das mit bestimmten Vorstellungen verknüpft ist, andererseits die Strategie zur Durchführung dieses Fertigen; erst die dritte Bedeutung ist die medizinische, die einen nicht sicht- oder tastbaren, wenngleich mittels bestimmter Methoden ermittelbaren körperlichen Sachverhalt zur Sprache bringt. Wenn im Folgenden vom Kinderund Schwangerschaftswunsch die Rede ist, so handelt es sich dabei um ein Thema, das in besonderer Weise zwischen Faktizität und Entwurf und damit zwischen diesen drei Bedeutungen des Wortes Konzeption angesiedelt ist. So könnte man vom spontanen oder situationsbedingten Kinderwunsch, von der Bejahung oder Verneinung des Kinderwunsches in der Lebensplanung und von der realen Befruchtung sprechen. Der Wunsch nach Kindern ist uralt und hat in religiösen Gebeten um den ›Kindersegen‹ kulturübergreifend vielfachen Ausdruck gefunden. Ebenso bekannt ist die Verneinung des Kinderwunsches, wie sie im Zölibat vor einer religiösen Gemeinschaft implizit ausgesprochen wird, wenn feierlich gelobt wird, der ›geschlechtlichen Versuchung‹ zu entsagen. Schließlich ist nicht erst seit der Abtreibungsdebatte in den 1970er Jahren bekannt, dass ein vorhandener Kinderwunsch seine Grenzen hat, und dass seine Bejahung oder Verneinung auch eine Frage von Lebensbedingungen und des Rechts auf Selbstbestimmung ist. Die Bevölkerungsregulation ist auch nicht erst heute zu einer Frage gesellschaftlicher Regeln, Gesetze und 425 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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Konventionen geworden. Nahezu jede Menschengemeinschaft hat Strategien der Familienplanung entwickelt, durch Sterilisation, Abtreibung, Kindstötung, Askese und dergleichen. Aber auch die Wünsche nach Nachkommenschaft haben verschiedene Kulturphasen durchlaufen und wurden bzw. werden nicht selten neben lebenspraktischen Motiven (Generationenvertrag) von religiösen oder metaphysischen Vorstellungen durchdrungen, die in den Kontexten Fruchtbarkeit, Erfüllung der Lebensaufgabe und Unsterblichkeit stehen und damit dem Wunsch nach Verneinung des Todes und Aufrechterhaltung des Lebens Ausdruck verleihen (vgl. Deutsch, 1995, Bd. 2, 23). Seit den 1960er Jahren, namentlich seit der Verfügbarkeit der Pille und anderer Kontrazeptiva, und seit Abtreibungen risikoärmer geworden sind, haben wir es mit einer geschichtlichen Veränderung zu tun, deren ungeheure Bedeutung für das gesellschaftliche Zusammenleben nicht groß genug eingeschätzt werden kann und die insbesondere auf das Leben und die soziale Stellung der Frauen eingewirkt hat. Der Diskurs um die Empfängnis ist seither stark an die erste und zweite Bedeutung des Wortes Konzeption gebunden. Die Befruchtung ist in vielen Teilen der Welt heute nicht mehr eine Frage schicksalhaften Ausgeliefert-Seins an die Fortpflanzungsfunktion mit z. T. dramatischen Auswirkungen auf die Lebensqualität und -dauer von Frauen, sondern eine Frage der individuellen, in manchen Staaten wie z. B. China gar der staatlich angeordneten Lebensplanung. Das Leitmodell heißt Familienplanung oder Konzeption unter geregelten Bedingungen mit verschiedenen Modellen, die sich nicht ohne weiteres auf die Alternativen »ich will Kinder« bzw. »ich will keine Kinder« reduzieren lassen. Es zeigen sich Perspektiven, die sowohl allgemeiner Natur sind, sich auf ein situationsunabhängiges, mehr rationales Muster beziehen, als auch eher spontaner Art, mit situations- oder personengebundener Ausrichtung, sowie Mischformen. Ob man Kinder wünscht oder nicht, kann z. B. Teil des individuellen oder gemeinsamen Lebensentwurfes sein (»ich will/wir wollen prinzipiell Kinder/keine Kinder haben«), oder des individuellen oder gemeinsamen biographisch ausgerichteten Lebensentwurfes (»ich will/wir wollen prinzipiell Kinder haben, aber nur in bestimmten Lebensphasen, z. B. wenn ich meine Ausbildung beendet habe«), oder des individuellen situativ offenen Lebensentwurfes (»ich will zwar keine Kinder haben, aber wenn der richtige Mann/die richtige Frau kommt, halte ich mir die Entscheidung offen«), oder der individuellen reflektierten oder spontanen Planung bei fehlender Gemeinsamkeit im Kinderkonzept (»ich will ein Kind und lasse die Pille weg, ohne es ihm zu sagen«/»ich will, dass sie von mir ein Kind bekommt und lasse das Kon426 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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dom abrutschen«) oder der gemeinsamen spontanen Planung (»unsere Beziehung ist so intensiv geworden, dass wir uns gegen alle Planung jetzt doch für ein Kind entscheiden«). Die meisten Haltungen zur Kinderfrage weisen ein durch und durch rationales Element auf, sind also Teil und Ausdruck eines Lebenskonzeptes, das aber gelegentlich durch spontane, irrationale Prozesse irritiert werden kann. Unter den gesellschaftlichen Bedingungen unserer Kultur, in der Schwangerschaften von Minderjährigen ebenso wie allzu häufige Schwangerschaften zum sozialen Abstieg führen können, ist der Kinderwunsch hinsichtlich seiner Verwirklichung in bestimmten Lebensphasen und in Bezug auf die Anzahl der Kinder diskursiv vorgeprägt. Minderjährigen Mädchen wird die Verhinderung von Schwangerschaft besonders nahegelegt und auch erleichtert, etwa in Deutschland durch kostenfreie Abgabe der Pille. Der Wunsch nach Sterilisation wird dagegen Frauen in der gesellschaftlich akzeptierten Phase der Fruchtbarkeit durchaus verweigert, während er bei älteren Frauen ohne weiteres gewährt wird. Es hat sich ferner gezeigt, dass Personen mit Präferenz für die Variante »ich will keine Kinder haben« in der Wahl der Verhütungsstrategie nicht unbedingt und vor allem nicht in jungen Jahren zu einer Methode greifen, die irreversibel ist (z. B. Sterilisation), sich also, wenn auch oft uneingestanden, doch für eine Gesinnungswandlung offen halten. Über das Thema Kinderwunsch wird also heute nüchtern gesprochen. Man glaubt, Empfängnis sei eine Frage der Kontrolle, des Lebensentwurfs und der bewussten Entscheidung – und sicher ist die moderne Verhütungskultur in erster Linie darauf gerichtet, Befruchtung zu verhindern, was in vielen Fällen über Jahre bis Jahrzehnte oder auch für immer gelingt. Dennoch gibt es selbst bei hochwirksamen Verhütungsverfahren ›Unfälle‹, nicht beabsichtigte Befruchtungen, und ist das Phänomen Empfängnis weitaus weniger kontrollierbar, als gemeinhin angenommen wird, wenngleich es heute in einem Umfang kontrolliert wird, wie das Frauen früherer Zeiten wohl kaum zu träumen wagten. Die relative Unverfügbarkeit der Befruchtung und das ›Restrisiko‹ bei jeder Verhütungsmethode, zeigt sich nicht nur in der durch die Debatte um die künstliche Befruchtung hochstilisierten Symptomatik der Unfruchtbarkeit und in der – mit schweren psychischen Folgen verbundenen – mangelnden Effizienz von medizintechnologischen Fertilitäts-Therapien, sondern auch bei jeder einfachen, normalen und natürlichen Empfängnis. Wir können Befruchtung nicht machen oder leisten wie irgendeine andere Tätigkeit, schon gar nicht terminieren, selbst wenn wir den Geschlechtsverkehr in den fruchtbaren Tagen der Frau intensivieren. Ebenso wenig wie es früher ohne bzw. mit we427 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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nig wirksamen Verhütungsmitteln möglich war, durch einen Willensentschluss das ›Kinderkriegen‹ zu verhindern, lässt sich heute ein Kind durch einen Willensentschluss hervorbringen. Man kann nicht sagen »jetzt, heute empfange/zeuge ich ein Kind«, und das betrifft alle in heterosexuellen Beziehungen lebenden Erwachsenen eines – freilich geschlechtsspezifisch variierenden – bestimmten Lebensalters. Wohl aber kann man in vielen Kulturen heutzutage mit gutem Erfolg sagen »ich will keine Kinder empfangen/zeugen« und trotzdem Geschlechtsverkehr praktizieren. D. h. in existentialistischen Begriffen, dass heute ein nicht-reziprokes Verhältnis zwischen Faktizität und Entwurf besteht: Nicht-Befruchtung/Nicht-Zeugung kann Teil des persönlichen Entwurfs, der Entscheidung, der Freiheit sein; Befruchtung selbst aber ist Faktizität, die durch Entwurf offen gehalten und zugelassen werden kann, sich aber dennoch nicht unbedingt einstellt. Empfängnis ist also ein Geschehen, mit dem man unter gewissen Voraussetzungen rechnen kann bzw. zu rechnen hat; sie vollzieht sich zwar normalerweise mit unserer Mitwirkung, aber sie ist ein körperliches Ereignis, das sich nicht vorhersehen, programmieren oder terminieren lässt. Sicher hört man von Fällen, wo die Realisation eines Kinderwunsches sogleich gelingt, aber der Körper kann nicht als Mittel zum Zweck benutzt werden; hier waltet unserem Willen Entzogenes. Dieses Unverfügbare muss auch nicht gekoppelt sein an bestimmte Gefühlsqualitäten, schon gar nicht im Erleben der Frau, was die Entnahme von Ovarzellen für eine extrauterine Befruchtung nur zu deutlich vor Augen führt und immer schon bei Befruchtungen im Zuge von Vergewaltigungen bekannt war. Obwohl Frauen zu anderen Zeiten und derzeit noch in anderen Kulturen weitaus häufiger empfingen/empfangen, bleibt mit der Befruchtung heute immer noch ein Stück Faktizität erhalten, das selbst die Fertilitätsmedizin nicht auszuräumen vermag. Befruchtung ist, wenn sie nicht natürlicherweise erfolgt, nur in sehr begrenztem Umfang ›herstellbar‹. Sie stellt sich nur in bestimmten Situationen ein, und in diesen geschieht sie uns. Diese Situationen sind stets mit dem Kontakt zu anderen Menschen, im Regelfall mit Geschlechtsverkehr verbunden; in äußerlicher Hinsicht betrifft dies auch die Interaktionen im Rahmen einer Fertilitätsbehandlung, im Formulieren des Bedürfnisses nach Erfüllung des leiblichen Kinderwunsches und im Befolgen medizinisch verordneter Strategien. Die Befruchtung kann also aus dem – wenn auch heute weiter zu fassenden – Kontext zwischenmenschlicher Beziehungen nicht herausgelöst werden, vielleicht noch nicht, denn die medizinische Forschung arbeitet mit Hochdruck an der Möglichkeit der Ausklammerung nicht nur der leiblichen Anwesen428 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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heit des Mannes (das ist ja weitgehend erreicht), sondern auch der Frau an der Reproduktion der Gattung. Die Situation in Bezug auf die Erfüllung eines Befruchtungswunsches hat sich mit dem Fortschreiten der medizinischen Technologien erheblich verändert. Während Befruchtung früher ausschließlich durch intimen Kontakt mit einem Mann erreichbar war, können Frauen heute ohne diesen zum Kinde kommen. Die Einspritzung von Spermien eines unbekannten oder – mittlerweile ist auch das in einigen Ländern möglich – bekannten Spenders wird z. B. von lesbischen Paaren aufgegriffen. Dagegen sind solche Fälle eher selten, wo eine Frau, die nicht in einer Partnerschaft lebt, sich selbst den Wunsch nach einem Kind mit dieser Methode verwirklicht. Das ist bei dem vorherrschenden Bild der alleinerziehenden Mutter, ihrer stigmatisierten und real untergeordneten sozialen Stellung nicht weiter verwunderlich. Mit Blick auf den Zeugungswunsch des Mannes hat die moderne Medizin ebenfalls eine Wandlung herbeigeführt, denn durch das Verfahren der Leihmutterschaft, das in Deutschland gesetzlich verboten ist, kann der Mann ohne intimen Kontakt zur Frau den Wunsch nach einem Kind verwirklichen. Diese veränderten Zustände, die juristisch zu völlig neuen Formen leiblicher, biologischer und sozialer Elternschaft geführt haben und in naher Zukunft aufgrund der Anonymisierungspraktiken wohl auch die Inzestfrage neu aufzugreifen haben, zeigen einerseits Asymmetrien zwischen den Geschlechtern, wie sie seit jeher bekannt sind: Während der Mann ohne Wissen Vater werden kann, ist es der Frau unmöglich, ohne Wissen und erhebliche leibliche Veränderungen Mutter zu werden. Andererseits kann heute mit Wissen, aber ohne Sexualverkehr ein Mann Vater werden und eine Frau mit Wissen und ohne Sexualverkehr Mutter eines Kindes sein, dessen biologische Herkunft nicht von ihr herrührt. Weitere Varianten der Kombination zwischen leiblicher, biologischer und sozialer Elternschaft sind denkbar. Schließlich sei noch erwähnt, dass aus der Fortpflanzungsfähigkeit – unabhängig vom eigenen Kinderwunsch – heute im wahrsten Sinne des Wortes Kapital geschlagen werden kann, allerdings mit ungleichen Investitionen bei den Geschlechtern. Während Männer ihre Reproduktionsflüssigkeit ohne große Umstände, mit geringem Aufwand, gleichwohl unter ›Lustbeteiligung‹, in bare Münze umsetzen können (Studenten erhalten in den USA etwa 20 Dollar pro Samenspende), bedeutet der Verkauf der Fortpflanzungsfunktion für die Frau zwar mehr Kapital (für eine mit Hormongaben gesteigerte Ovarproduktion und operative Entnahme von Eizellen erhalten amerikanische Frauen etwa 2000 Dollar), aber auch größere Risiken und Investitionen ohne jede ›Lustbeteiligung‹. Eine Leihmutter 429 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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mag zwar das größte Kapital aus der Reproduktionsfähigkeit ihres Körpers schlagen (hier ist die Rede von 20.000 Dollar und mehr für eine ausgetragene Schwangerschaft), aber es stellt sich die Frage, inwiefern die zeitliche, leibliche und menschliche Investition finanziell überhaupt verrechnet werden kann, von Problemen der Leihmütter nach der Geburt (Trennungsschmerz, medikamentöse Unterbindung der Laktation etc.) ganz zu schweigen. Abgesehen von Adoption und Pflegeelternschaft, die den Kinderwunsch von Schwangerschaft und Geburt ablösen und damit die Investitionen von Mann und Frau angleichen, bedeutet der Kinderwunsch für Mann und Frau sehr Verschiedenes. Der leibliche Kinderwunsch ist für die Frau ausschließlich durch einen beträchtlichen körperlichen Einsatz und eine zumindest kurzfristige Veränderung ihres Lebens realisierbar, während der Mann im Extremfall, also wenn er nicht mit dem Kind leben will, allenfalls in finanzieller Hinsicht betroffen ist. Darüber hinaus ist die Verwirklichung des leiblichen Kinderwunsches für die Frau auf eine von ihr selbst nicht festgelegte, also von Natur aus gegebene Zeitspanne ihres Lebensalters begrenzt. Die Phase der Fruchtbarkeitszyklen wird zusätzlich diskursiv gesteuert und verengt, indem der Kinderwunsch einer Minderjährigen verachtet und derjenige einer 40jährigen mitunter verspottet, nicht zuletzt durch die Medizin sogar pathologisiert wird, indem sie Schwangerschaften nach dem 35. Lebensjahr zu Risikoschwangerschaften erklärt. Der gesellschaftlich akzeptierte Kinderwunsch bezieht sich auf genau die Lebensphase der Frau, die mit dem Wunsch nach beruflicher Verwirklichung kollidiert, weshalb Mutterschaft in den meisten Fällen zu Brüchen in der Berufsbiographie führt, die derzeit kaum durch Gleichstellungsmaßnahmen aufgefangen werden und immer noch eine Benachteiligung nach sich ziehen. Der Kinderwunsch des Mannes dagegen unterliegt in biologischer und diskursiver Hinsicht keinen vergleichbaren Beschränkungen. Wenngleich minderjährige Väter zuweilen Einbußen in der gesellschaftlichen Achtung erfahren, ist z. B. die Gründung einer Zweitfamilie mit einer jüngeren Frau eine akzeptierte Lebensform. Bis ins hohe Alter hinein ist der Mann in der Lage, sich den Wunsch nach einem leiblichen Kind zu erfüllen. Diese biologische Tatsache verschiebt die Planungs- und Motivationsmodelle des Kinderwunsches bei Mann und Frau erheblich. Ferner wird dem weiblichen Kinderwunsch aufgrund der Dauer von Schwangerschaft und Rekonvaleszenz hinsichtlich der möglichen Anzahl von Kindern Einhalt geboten. Ein Mann kann weitaus mehr Kinder zeugen als eine Frau jemals auszutragen vermag. Die angeführten zwischenmenschlichen und geschlechtsspezifischen 430 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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Probleme und Strategien in Bezug auf einen Kinderwunsch zeigen die durch die medizinischen Technologien veränderten Situationen, die nicht unwesentlich das verfälschte, weil dem Phänomen nicht angemessene Bild von der Befruchtung/Zeugung als Akt der freien Willensentscheidung prägen. Daher sei noch einmal betont, dass die Hervorbringung eines Kindes trotz aller Fortschritte in der Reproduktionsmedizin heute immer noch mehr eine Frage der Faktizität als eine Frage des Entwurfes ist, wenngleich sich das Verhältnis zwischen diesen beiden Polen in den letzten Jahrzehnten verschoben hat. Und damit ist wesentlich mitgemeint, dass die Faktizität der Fortpflanzungsfähigkeit etwas ist, dem man sich durch Entwurf erst einmal zu entziehen hat, will man denn auf diesen Aspekt des NaturSeins verzichten und nicht dauernd von ihm eingeholt werden. Dieses Sich-Entziehen erfolgt aber nicht allein durch einen willentlichen Akt wie bei anderen Entscheidungen in der Lebensplanung, sondern durch Eingriff in leibliche Vorgänge. Jede Form der Verhütung führt uns unweigerlich vor Augen, dass wir der Faktizität der Fortpflanzungsfähigkeit ausgesetzt sind. Umgekehrt erzeugt der Entschluss zur Aufkündigung einer Verhütungsmethode zwar Fortpflanzungsfähigkeit, er muss aber nicht sogleich eine Befruchtung zur Folge haben, d. h. er schafft lediglich einen Zustand, in dem Fortpflanzung sich ereignen kann. Schon in medizinischer Hinsicht ist eine Empfängnis nur an wenigen Tagen des Monats überhaupt möglich; der spontane Eisprung scheint eher eine Ausnahme zu sein. Kehren wir aber von dem Exkurs über die vielen Formen, in denen Befruchtung und Zeugung heute diskutiert und ermöglicht werden können, zurück zum Kinderwunsch. Die Faktenlage rund um die neuere, von den Medizintechnologien gestützte Entwicklung zeigt heute Umgangsformen mit dem Kinderwunsch, in deren Folge sich vor allem in den Industrieländern ein Trend zu freiwilliger Kinderlosigkeit abzeichnet. Es kann, wie Jessica Groß (1999, 15) ausführt, »beim Wunsch nach Kindern kaum von einem instinktgesicherten, quasi automatischen Verhalten gesprochen werden«. Auch die Tatsache, dass Frauen seit Menschengedenken Kinder bekommen haben, sagt noch nichts über einen Willen zum Kind aus. In historischer Perspektive ist vielmehr deutlich geworden, dass »der Mutterinstinkt ein Mythos ist« (Badinter, 1991, 297), dass mütterliche »Fürsorge für das Kind eine Erfindung der Moderne« (Shorter 1977, 196) ist und dass z. B. die mittelalterliche Gesellschaft »kein Verhältnis zur Kindheit« (Ariès 1978, 209) hatte. »Mutterliebe und Zuneigung zu Kindern, wie wir sie heute kennen und erwarten und die mangels direkter Beweise als ein Hinweis auf den Wunsch nach Kindern gelten können«, sind »erst mit 431 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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dem Beginn der bürgerlichen Gesellschaft als soziale Norm entstanden« (Groß, 1999, 53). Auch in anthropologischer Perspektive könnten »nur wenig gesicherte Befunde zur Frage nach der biologischen Verankerung des weiblichen Kinderwunsches und zum Mutterschaftsverhalten von Frauen vorgebracht werden« (ebd., 81). Der Kinderwunsch sei »kein angeborenes Geschlechtsmerkmal« (ebd., 83), er entstünde »erst durch die kulturelle Errungenschaft der Geburtenkontrolle und des Bewußtseins um den Zusammenhang zwischen Sexualität und Fortpflanzung«, könne also nicht als »biologisch verankert betrachtet werden« (ebd., 82). Die Psychoanalyse stellt jenen Diskurs dar, in dem seit Freud der weibliche Kinderwunsch breit diskutiert und auf psychogene Prozesse (Kind = Penisersatz), vor allem in der Kindheit, zurückgeführt wird. Ob nun der Kinderwunsch als notwendiger Teil der weiblichen Entwicklung genannt wird, als Ersatzfunktion, Kompensation oder Neurose, und ob eine solche Perspektive von Geschlechterideologien verzerrt oder durch innovative Unterwanderung gezeichnet ist, die verschiedenen Ansätze zeigen eine Mannigfaltigkeit möglicher Kinderwunschmotive. Bedeutsame Elemente der Genese des weiblichen Kinderwunsches sind die Geschlechter-Realitäten einer Kultur, z. B. durch pronatalistische Politik und Stigmatisierung der Kinderlosigkeit, sowie eine daran orientierte geschlechtsspezifische Sozialisation, so dass eine Vielzahl verschiedener, u. a. persönlicher und sozialer Faktoren für die Entstehung eines Kinderwunsches charakteristisch ist. Mit Groß (ebd., 243) lässt sich sagen, dass sich im Kinderwunsch »ein dialektisches Verhältnis« manifestiert, »zwischen äußerlichen Freiräumen und Zwängen sowie den inneren Voraussetzungen, diese externen Bedingungen selbstbestimmt zu nutzen«. Ein individuell unterschiedliches »Wertsystem« »im Geflecht von Selbst, Objektbeziehungen und gesellschaftlicher Realität« entscheide heute über den Umgang mit der eigenen Fertilität. In ihrer Studie zu psychosomatischen Aspekten des Kinderwunsches am Leitfaden der Frage nach der Existenz einer »Sterilitätspersönlichkeit« evaluiert Groß zur Kinderwunschmotivation ein Set von 17 Motiven, das die Verwobenheit, Vielschichtigkeit und Ambivalenz des Kinderwunsches verdeutlicht. Es ist bemerkenswert, dass 16 Motive aus dem Bereich der Lebensplanung bzw. -gestaltung stammen und damit auf soziale und individuell auf den Lebensentwurf ausgerichtete Komponenten verweisen, aber nur ein Motiv aus dem Körper selbst und seiner Erfahrung als Leib abgeleitet wird. Von der »Mutterschaft als Lebensinhalt«, dem Kinderwunsch als »Wunsch nach Zuneigung« und »nach Lebensbereicherung« oder als »Ausdruck von Konformität« über den Kinderwunsch als »Wie432 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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dergutmachung«, als »Ergebnis sozialen Drucks«, als Wunsch nach »einer vollständigen Familie« bis hin zum Wunsch nach einem Kind, »um gebraucht zu werden«, um »jung zu bleiben«, um im Kind weiterzuleben oder »um sich von den Eltern zu emanzipieren« – beinahe alle diese Motive deuten an, dass das Kind im Wunsch instrumentalisiert ist, dass es weniger um das Kind geht, als um seine Funktion für das eigene Leben. An kaum einer Stelle ist der Untersuchung zu entnehmen, dass ein Kinderwunsch als Wunsch, mit Kindern zusammen zu leben, Thema ist. Selbst bei dem Motiv »Wunsch nach einer vollständigen Familie« steht der Symbolcharakter des Kindes für die »gut funktionierende Ehe« (ebd., 145) im Vordergrund, bei dem Wunsch, »die Partnerschaft zu bereichern«, die gemeinsamen Lebensziele und beim »Weiterleben im Kind« das Kind als symbolträchtiges Band zwischen »dem Leben der Mutter und der Unsterblichkeit« (ebd., 147). Bei dem Kinderwunsch, »um die geschlechtliche Potenz zu beweisen«, erscheint Schwangerschaft als »Demonstration der Fertilität« und der »sexuellen Kompetenz« (ebd.). Einzig in dem letzten Motiv rückt die Erfahrung des Leibes ins Blickfeld, wobei aber auch hier eine funktionalistische Deutung vorgeschlagen wird. Bei Motiv 17, »Wunsch nach sinnlicher Erfahrung«, referiert Groß (ebd., 150) z. B. Autoren, die den Wunsch, »die biologische Funktion zu nutzen«, oder die »Freude an der Physiologie der weiblichen Organe« anführen, aber sie macht mit Flapan (1969) und Bydlowski (1983) auch geltend, dass der Wunsch, »ein Kind zu haben«, unterschieden werden müsse von dem »Wunsch schwanger zu sein« und hebt die Sexualität, von Mittag und Jagenow (1983, 1984) als »Fruchtbarkeitslust« charakterisiert, als Antriebskraft eines Kinderwunsches hervor. Der Kinderwunsch als Körperphänomen ist ein noch relativ unerforschtes Gebiet. Dem Wunsch nach »Erfahrung von Schwangerschaft, Geburt und Stillen« korrespondiere das »Gefühl der Leere im Bauch, die erst in der Schwangerschaft gefüllt werden könne« (Groß, 1999, 150). Was aber ein solches »Gefühl der Leere im Bauch« ist, bleibt offen. Eine Untersuchung wie die von Groß zeigt nicht nur die soziale und persönliche Situiertheit des Kinderwunsches und die Perspektive interdisziplinärer Forschung auf ein Phänomen wie den Kinderwunsch, sondern auch die im Ganzen leibferne Auseinandersetzung mit seinen körperlichen (Koitus) und leiblichen (sexuelle Erfahrung) Voraussetzungen. Die Sexualität als konkrete Praxis zur Verwirklichung des Kinderwunsches und die Erfahrung gelebter Partnerschaft scheint in den Diskursen um den Kinderwunsch zugunsten der Perspektive eines bestimmten Lebensentwurfes unterbelichtet zu sein. Man kann zwar auf der Grundlage der Großschen Analyse ein Netz von Bedingungen der Möglichkeit eines Kinderwunsches 433 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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ausmachen und in leiblicher Hinsicht durchaus den Wunsch nach Schwangerschaft vom Wunsch nach dem Kind und vom Wunsch nach einem Zusammenleben mit dem Kind unterscheiden, ein spontaner, situativer Kinderwunsch, der sich deutlich im Erleben entfaltet, in den Leib einschreibt und eventuell vom Leibe her spürbar ist, bleibt aber ausgeklammert. Das wundert nicht weiter, denn eine Arbeit wie die von Groß untersucht die »Motivation des Kinderwunsches bei Sterilitätspatientinnen«, und Groß beklagt fehlende Vergleichsuntersuchungen mit Frauen, die ein Kind gewünscht und bekommen haben. Beim Kinderwunsch handelt es sich also um ein Thema, das zur Zeit vorwiegend im Kontext der Entwicklung neuer ›Heilverfahren‹ für Fertilitätspatienten diskutiert wird. Eine Phänomenologie weiblicher Leiberfahrungen hat sich nun vor allem auf einen spontanen und situativen Kinderwunsch zu beziehen, der sich aus den Forderungen des Leibes ergeben kann und seinen theoretischen Überbau aus einer bestimmten Erfahrung in dem Konglomerat sozio-kulturell geprägter und lebensplanerisch evaluierter Gegebenheiten speist. Unser Wissen um die Überbevölkerung, um die Risiken von Schwangerschaft und Geburt, die dramatische Veränderung unserer Lebenssituation beim Eintritt eines Kindes in unser Leben, die Kinderfeindlichkeit moderner Zivilisationen etc., dies alles sind sehr gute Begründungen, uns nicht nur vom ›Kinderkriegen‹, sondern auch vom Kinderwunsch strikt fernzuhalten – und wir haben heute hochwirksame Methoden, die Befruchtung von vorneherein auszuschalten, so dass ein spontaner Kinderwunsch widersinnig erscheint. Und doch gibt es ihn. Dieser Wunsch kann viele Jahre verdeckt bleiben, bis er sich entfaltet und dann plötzlich, wie aus heiterem Himmel aufdrängt, wie in folgendem Beispiel: »Der Gedanke an ein Kind – ein eigenes – entwickelte sich sehr langsam. Bis dahin waren Kinder in meiner Umgebung nicht vorhanden, oder ich übersah sie einfach. Sie waren mir zu laut und lästig. Frauen mit Kindern taten mir leid, was hatten sie noch von ihrem Leben? … In dieser Zeit bekamen wir einen Brief von Heinz’ Bruder und dessen Frau: Wir erwarten ein Kind! Diese Nachricht schlug bei mir wie eine Bombe ein. Ich war berührt und habe mich gefreut. Ich habe mich selbst sehr gewundert, denn bis dahin waren mir solche Nachrichten völlig gleichgültig gewesen.« (ebd., 183)

Häufig wird berichtet, dass Schwangerschaften und Geburten aus dem näheren Kreis der Mitmenschen einen eigenen Kinderwunsch aktivieren. Der Kinderwunsch kann aber ebenso unbewusst wie ungespürt oder rational abgelehnt bleiben und erst beim Eintreten einer Schwangerschaft reflexiv zum Bewusstsein kommen: 434

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»Früher hatte ich nie an ein Kind gedacht. Das Leben schien mir für ein Kind zu brutal und ich war zu sehr mit meiner eigenen Lebensbewältigung beschäftigt. Erst als ich ungewollt schwanger wurde, merkte ich, daß ich mir doch in meinem Innersten ganz stark ein Kind gewünscht hatte.« (Boston Women’s Health Book Collective, 1981, 652)

Mit der erwähnten Spontaneität, in der sich ein Kinderwunsch aufdrängen kann, ist bereits eine Komponente eingeführt, die Abstand nimmt von der gängigen Auffassung, Befruchtung sei ausschließlich eine Frage rationaler Konzeption. Ein Impuls zur Schwangerschaft kann als autonome Leiblichkeit verstanden werden, die sich etwa auch als konkretes Sehnen aufdrängen kann, als ein Bereit-Sein-für-ein-Kind mit der unvermittelten Erkenntnis »Jetzt ist es soweit, jetzt möchte ich ein Kind«, als Erwartungshaltung einer möglichen Ankunft, also eher als eine die Frau oder das Paar umgebende Atmosphäre. In den Medien und in der Literatur ist von einem solchen spontan sich aufdrängenden Kinderwunsch selten die Rede; viel eher werden solche Fälle thematisiert, in denen er nicht bzw. nicht zum angestrebten Zeitpunkt erfüllt wird, also bereits in ein Stadium der Reflexivität übergegangen ist und damit womöglich zum Fall für die Reproduktionsmedizin wird. Was wir allerdings spüren bzw. aus dem ›Inneren‹ vernehmen, wenn wir ein Kind ersehnen und befruchtet werden wollen, ist nicht leicht zu klären und führt in einen Bereich, der einerseits zwischen Spüren, Gewahrwerden, Sich-Aufdrängen, Betroffen-Sein, Körperzwängen, leiblicher Autorität etc. angesiedelt ist, und andererseits von einem kulturellen Überbau gesteuert ist, wobei das Sehnen nach einem Kind, der gespürte Kinderwunsch in seiner leiblichen Autonomie in Konflikte zum Lebensentwurf geraten, oder aber, wenn er sich nicht erfüllt, besonders deutlich hervortreten kann. Dass sich ein Kinderwunsch plötzlich aufdrängen kann, hat offenbar auch jene Frauen irritiert, die bestimmte Formen des kulturellen Überbaus – Kinderwunsch als Mittel der Propaganda zur Unterdrückung der Frau und/oder zu ihrer Mystifizierung als ›Gebärmaschine‹ – durchschaut haben. Unter den von der Frauenbewegung geprägten Frauen gebe es einige, die, wie Sichtermann (1987, 21) beschreibt, »in der unerwünschten Ruhe der verstummenden Revolte in sich etwas hören mußten, was sie in Verlegenheit stürzte. Sie vernahmen den Wunsch nach einem Kind. Sie mißtrauten diesem Wunsch und fühlten sich durch seine Suggestionen verhöhnt. Zugleich hatten sie eben den Wunsch wie man eine Vorliebe oder eine Ahnung hat, und sie konnten nicht verhindern, daß er ihre Phantasie besetzte. Was sie ablehnten war nicht das Kind, das wünschten sie ja, es war der Wunsch. Der Wunsch aber hatte sie.«

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Sichtermann (ebd.) weist darauf hin, dass der Kinderwunsch, »so wie er heute gefühlt oder gerade nicht gefühlt wird«, als soziales Phänomen jung und »in seiner Entstehungs- und Wirkungsweise noch unerforscht« ist. Es sind die erwähnten Veränderungen durch die Verhütungsmittel, die ihn als eminent freien Wunsch, also mit Option auf eine Alternative, erst entstehen ließen. Damit wurde »Freuds Traum von der Loslösung der zeugenden Sexualität aus ihrer Legierung mit der Fortpflanzung« »objektiv erfüllbar« (ebd., 22). Während früher Kinder zufällig oder geplant mit oder ohne Motiv kamen und die Motive häufig nicht unbedingt individueller, sondern eher religiöser, sozialökonomischer oder rollenspezifischer Natur waren und u. U. den Charakter eines nachträglichen Begründungszusammenhanges hatten, ist der Kinderwunsch mittlerweile eine subjektive und individuelle Angelegenheit mit vorauseilendem Begründungszusammenhang. Er »wird als Wunsch zugleich Plan, und in dieser Gestalt ist er neu« (ebd., 23). Die Säkularisierung, Privatisierung und Emanzipierung des Kinderwunsches birgt freilich neuen Konfliktstoff, denn da, wo früher die Natur waltete, herrscht jetzt relativ große Freiheit, die in dem sozialen Gefüge moderner Gesellschaften auch zum Problem werden kann. Kurzum: »Natur und Motiv haben die Plätze getauscht: das Motiv, der Wunsch, entscheidet über die Möglichkeit einer Zeugung, die Natur wird erst hinterher zugelassen, um, wenn es ihr beliebt, aus der Möglichkeit einer Zeugung die Wirklichkeit einer Empfängnis zu machen.« (ebd., 24)

Sichtermann bemerkt, dass Begründungen für oder gegen einen Kinderwunsch häufig von wenig überzeugenden und rational zugänglichen Argumenten getragen sind, ja dass geradezu nach hinreichenden Gründen gesucht werden muss. Dabei bleibe meist ein unzulänglich geklärter, aber starker »Rest«, eine unausgesprochene Komponente offen, so dass es scheint, »als sei der säkularisierte Kinderwunsch sich seiner selbst noch gar nicht recht bewußt geworden, als scheute er sich, gewisse authentische Antriebskräfte einzugestehen« (ebd., 26). Was bislang wenig Beachtung gefunden habe und unterschätzt werde, sei eine »von den äußeren Lebensbedingungen relativ unabhängige Einflußquelle« für den Kinderwunsch: »den Körper der Wünschenden, seine Bereitschaft zur Zeugung und Geburt von Nachkommenschaft« (ebd.). Da der Körper selbst als Antriebsfeder für den Kinderwunsch selten thematisiert wird, sei ein Beispiel für eine Annäherung an diese Problematik in der Erzählliteratur zitiert: »Denn Klara konnte nicht mit einem Mann ins Bett gehen, ohne schwanger zu werden, das heißt, eigentlich konnte sie nicht mit einem Mann ins Bett gehen, ohne sich in ihn zu verlieben, und wenn sie verliebt war, wünschte sie sich ein Kind, und wenn

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sie sich ein Kind wünschte, wurde sie schwanger, Verhütung hin oder her. Ruhe hatte sie nur, wenn sie stillte, und da sie alle ihre Kinder ungefähr ein Jahr gestillt hatte, war es eben zu diesen regelmäßigen Abständen gekommen.« (Moser, 1995, 59) »Zwischendurch gab es auch Zeiten, in denen sie klar denken konnte, Zeiten, in denen sie ihre Kinder verfluchte und sich selbst, die sie eine gute Mutter sein wollte und nicht konnte. Und dann kam wieder der Moment, wo sich die Straßen mit lächelnden, schwangeren Frauen zu füllen schienen, die Klara neidisch beobachtete, sie fing wieder an, diese Unausgefülltheit, diese Leere zu empfinden, sie erwischte sich dabei, wie sie Umstandskleider anprobierte, Stricknadeln und weiche Wolle kaufte und die Hände über ihrem Bauch faltete, bevor es überhaupt etwas zu schützen gab. War sie erst einmal soweit, konnte es nicht mehr lange dauern, bis sie wieder schwanger wurde. Es war eine rein körperliche Sehnsucht, die nichts mit vernünftigen Überlegungen zu tun hatte, und der sie nicht beikommen konnte. Sie liebte dieses Gefühl von gespannter Haut und schweren Brüsten, sie liebte die Überempfindlichkeit und sogar die morgendliche Übelkeit. Sie liebte ihren unförmigen Bauch und wie er sich bewegte, wenn das Kind strampelte, und noch Wochen nach der Geburt meinte sie jeweils, die Tritte zu spüren. Dabei wußte sie sehr gut, daß jemand wie sie keine Kinder haben sollte, oder zumindest nicht so viele.« (ebd., 60) »Aber das andere war einfach stärker. Sie kam nicht dagegen an. Manchmal hätte sie sich mit bloßen Händen die Eingeweide aus dem Bauch reißen mögen, damit sie endlich Ruhe hätte. Natürlich war all das vergessen, sobald sie wieder schwanger war. Wahrscheinlich war sie einfach süchtig nach den Endorphinen, die ihr Körper dann produzierte – ein Opfer der Hormone, wie gesagt.« (ebd., 61)

Die authentische Antriebskraft bei der Entstehung eines Kinderwunsches kann also, wie dieses literarische Beispiel einhellig zum Ausdruck bringt, der Körper selbst sein, sprich Körperbedürfnisse, die wesentlich unkalkulierbar, spontan, unreflektiert sind und unabhängig von der Lebensplanung ihr Eigenleben führen. Der Kinderwunsch drängt sich Klara ›aus der Luft‹ auf, sowie im und mit dem sexuellen Verlangen nach einem Mann. Besonders auffällig ist hier, dass der Kinderwunsch eigentlich kein Wunsch bezogen auf ein ›fertiges‹ Kindes ist, sondern auf das Erleben der Schwangerschaft. Das Nicht-Schwanger-Sein wird als Unausgefülltheit, als Leere beschrieben; erst die Erfahrung der »Erfülltheit«, der körperlichen Veränderung, sogar der Übelkeit, stillt das Verlangen nach dem den Leib füllenden Kind, das als Unruhe erzeugende, nicht steuerbare Sehnsucht ›der Eingeweide‹ zur Sprache kommt. Das sexuelle Begehren scheint ein wichtiges Element in der leiblichen Generierung des Kinderwunsches zu sein. Für die heutige Zeit konstatiert Sichtermann (1987, 27) sogar: 437

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

»Anstelle des Glaubens oder des Sich-Fügens in eine als ewig und unveränderbar aufgefaßte Naturbestimmung bildet jetzt das sexuelle Begehren oder aber die Sexualscheu und -verdrängung das nicht-rationale Element im Kinderwunsch.«

Der Kinderwunsch als »leibliches Bedürfnis« mit seiner eigenen Dynamik, seinen Gezeiten und Ambivalenzen, ist nach Sichtermann (ebd., 27 f.) sexueller Natur, freilich in einer eigenen, auf generative Sexualität ausgerichteten Spielart, »die mit den Formen von Sexualität, die wir als hetero- oder homosexuellen Koitus kennen, nicht identisch ist«. Sichtermann spricht es hier nicht explizit aus, doch könnte man, auch mit Blick auf die zitierte Schilderung von Klaras Schwangerschaftssehnsucht, extrahieren und präzisieren, dass der Kinderwunsch eigentlich gar nicht unmittelbar auf das Kind als das »fertige Produkt« der Gravidität zielt, sondern auf eine Befriedigung autonomer Leiblichkeit, die auch nicht zwingend in der Schwangerschaft, der Geburt und der Laktation liegt. Allerdings weist Sichtermann (ebd., 29) auf differenzierte Bezüge innerhalb der sexuellen Motivzusammenhänge hin, »in denen sich die generative Sexualität mit der zeugenden mischt« und die letztlich – u. a. durch sozio-kulturelle Genese von Bildern und Wunschvorstellungen im geschlechterspezifischen Rollenverständnis – für Konfliktstoff sorgen. Mit Rekurs auf die sexuellen Antriebskräfte dürfte aber klar geworden sein, dass der Kinderwunsch sich nicht allein mit rationalen Argumenten von Individuen begründen und rechtfertigen lässt; hier haben wir es auch mit dem Leib als die Natur, die wir selbst sind, zu tun, also durchaus mit Impulsen, die dem Lebensentwurf widerstreiten. So kann durchdachte und gewollte Kinderlosigkeit von einer plötzlich eintretenden Sehnsucht nach dem Kind durchkreuzt werden. Bei Jong (1990, 62 f.) erfahren wir z. B. zunächst von ihrem Reflexionsprozess zur Kinderlosigkeit als Lebenskonzept: »Wie entschließen sich Frauen zu einem Kind, fragte ich mich. Es ist ein so furchterregender, verantwortungsvoller Entschluß. Und irgendwie auch ein so anmaßender Entschluß. Die Verantwortung für ein neues Leben zu übernehmen, wenn man doch gar nicht wissen kann, wie dieses Leben verlaufen wird. Ich nahm an, daß die meisten Frauen schwanger wurden, ohne weiter darüber nachzudenken, denn wenn sie je erwägen würden, was es bedeutet, kämen ihnen sicherlich die schwersten Bedenken. Ich hatte nie den blinden Glauben daran, daß das Schicksal mir gewogen sei, den andere Frauen offenbar haben. Ich wollte für mein Schicksal immer selbst verantwortlich sein. Schwangerschaft erschien mir wie ein schwerwiegender Verzicht auf Selbstbestimmung. In dir wächst etwas heran, was schließlich von deinem Leben Besitz ergreifen wird. Ich hatte wie zwanghaft so lange Zeit ein Pessar benutzt, daß eine Zufallsschwangerschaft sich für mich ausschloß. Und während der zwei Jahre, in denen ich die Pille nahm, habe ich keinen einzigen Tag übersprun-

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gen. … Ich war tatsächlich unter meinen Freundinnen die einzige, die nie abgetrieben hatte. Was stimmte bei mir nicht? War ich ›unnatürlich‹ ? Mir fehlte bloß der übliche unwiderstehliche weibliche Trieb, den Bauch voll zu kriegen. Das einzige, woran ich dachte, war ich selbst – ich mit meiner Ruhelosigkeit, mit meinen süchtigen Wünschen nach dem Spontanfick und dem Fremden in der Eisenbahn, und dann an ein Baby gebunden! Wie konnte ich einem Baby das wünschen?«

Neben diesen rationalen Überlegungen kennt Jong (ebd., 186 f.) aber eine in situativer Zweisamkeit entstehende leibliche Sehnsucht nach einem Kind: »Ich spürte Adrians Samen schleimig zwischen den Beinen; er tropfte in das gechlorte Wasser des Schwimmbeckens. … Doch zugleich frage ich mich, ob ich vielleicht schwanger werden würde, weil ich so rasch nach dem Bumsen schwimmen gegangen war. Vielleicht würde das Wasser das Sperma in mich treiben, bis hinter mein Pessar? Hatte ich plötzlich Todesangst davor, schwanger zu werden, so wollte ich im nächsten Augenblick nichts lieber als schwanger werden. Ich stellte mir das wunderschöne Kind vor, das wir gemeinsam zustande gebracht hatten. Es hatte mich gründlich erwischt.«

Die Ambivalenz zwischen der »Todesangst« vor einer Schwangerschaft und dem sehnsüchtigen Wunsch nach ihr, dem »nichts lieber« Wollen »als schwanger sein« – Jong (1998, 77) spricht an anderer Stelle sogar vom »Trieb« der Frauen, Kinder zu bekommen – macht deutlich, dass ein Kinderwunsch sich in Paarbeziehungen oder konkreten Situationen leiblicher Liebe unvermittelt aufdrängen kann, selbst wenn alle Lebensumstände, einschließlich derjenigen der Partnerschaft, dagegen sprechen und jede Überlegung dieses Sehnen zum Schweigen bringt. So ist davon auszugehen, dass es neben dem willentlichen Entschluss für oder gegen Kinder auch so etwas wie einen situativen Kinderwunsch, also ein autonomes leibliches Begehren, z. B. im Kontext der Anwesenheit eines bestimmten Mannes geben kann. Die Empfängnisbereitschaft für das gemeinsame Kind der Liebe interpretiert Jong durch ihr Verliebtsein. Dass sich ein solches Aufbegehren einstellte, muss im Rahmen ihres Lebensentwurfs schon als massiver Eingriff durch leibliche Impulsivität verstanden werden. Das situative Aufbegehren eines Kinderwunsches zeigt die Labilität des Willensentschlusses gegenüber leiblichen Regungen, die wohl der Grund dafür ist, dass manche Frau, die sich einem rigorosen Lebensentwurf ohne Kinder verschrieben hatte, ihren Entschluss revidiert. Der eigentümliche Wunsch nach Mutterschaft muss sich freilich nicht unbedingt in Situationen leiblicher Liebe, in der Attraktion von einem Mann oder in der Partnerschaft aufdrängen. Er stellt sich bei lesbischen 439 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

Frauen ein und offenbar auch, ohne dass eine Beziehung oder situative Zweisamkeit diesem Sehnen Anlass geben oder Verwirklichung verleihen könnte. So beschreibt Prima (2002, 191 f.), wie sie nach einem geeigneten Vater Ausschau hält, um dem Impuls ihres Körpers, seine Fruchtbarkeit zu erfüllen, nachzugeben: »Ungefähr zu dieser Zeit beschloß ich, daß ich ein Kind haben wollte. Es war keine Entscheidung des Kopfes, mehr ein unbestimmter Impuls meines Körpers, der fruchtbar sein, zur Erfüllung kommen wollte – irgend etwas in meinen Zellen wisperte, … daß es andere Lebensumstände zu entdecken galt. Ich unternahm aber nichts in dieser Richtung, benutzte beim Vögeln auch weiter das Diaphragma, nur hatte mein Kopf nichts mehr damit zu tun. Ich fing an, jeden als möglichen Vater zu sehen, und so betrachtet, machten viele eine ziemlich schlechte Figur.«

Prima unterscheidet deutlich zwischen einer »Entscheidung des Kopfes« und dem unbestimmten »Impuls meines Körpers« nach Erfüllung seiner Fruchtbarkeit. Ein solcher Impuls ist zwar schwer zu deuten, verweist aber auf Leibliches als einem Sich-Aufdrängenden und bedarf näherer Explikation. Prima (ebd., 198) berichtet später vom Wiedersehen mit einem alten Bekannten und ihren Gedanken, »daß er vielleicht der Vater war, nach dem ich Ausschau gehalten hatte« und wird von diesem Mann schwanger. Die leibphänomenologische Analyse des Kinder- und Schwangerschaftswunsches konnte nur rudimentär erfolgen. Es handelt sich um ein komplexes Thema, das von vielen rationalen Faktoren und diskursiven Bedingungen mit beeinflusst wird, und worüber es insgesamt kaum Forschungen und nur wenige Beschreibungen bezüglich eines leiblichen Spürens gibt. Heute wird der mit dem Schwangerschaftswunsch gekoppelte Kinderwunsch vorwiegend in der Fertilitätsmedizin und -psychologe thematisiert. Wenngleich aus einem anderen Kontext stammend, wird deutlich, dass der Kinderwunsch, gleich welcher Motivation oder Natur er ist, und ob er sich nun leiblich aufdrängt oder nicht, oder gar zur Obsession wird, für Frauen von großer Bedeutung ist und bei Unerfülltheit schwerwiegende Folgen für das weibliche Selbstverständnis haben kann – freilich vor dem Hintergrund eines von langer Hand wirkenden Geschlechterrollendiskurses, der die Mutterschaft als Erfüllung weiblichen Seins versteht und Kinderlosigkeit nach wie vor stigmatisiert. Nicht zuletzt weisen die Prozeduren, die Frauen bei einer Fertilitätsbehandlung über sich ergehen lassen, auf die Dramatik des Sehnens nach Schwangerschaft und eigenem Kind hin.

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12.2 Befruchtung Über das Schlüsselereignis Befruchtung, das – wie die Medizin lehrt – sogleich erhebliche Konsequenzen im ›Hormoncocktail‹ des Frauenkörpers nach sich zieht, liegen nur sehr wenige Berichte in Bezug auf ein leibliches Spüren vor. Das mag im Sinne der These von der Unmöglichkeit von Organempfindungen, in diesem Falle wären es gar Zellempfindungen, nicht weiter verwundern. Dennoch gibt es Frauen, insbesondere solche, die ein Kind wünschen oder vehement ablehnen, die fühlen, ja durch Evidenz wissen, dass sie empfangen haben. Wie diese spontane Gewissheit erlangt wird, ist nicht leicht zu klären. Sie kann individuell sehr unterschiedliche Ausprägungsformen annehmen. Allgemein und kulturübergreifend bekannt sind die in Heiligenvitae geschilderten Mitteilungen durch Träume, Visionen und Erscheinungen, die der Frau Empfängnis – meist eines ungewöhnlichen Kindes wie bei den Religionsgründern – signalisieren. Solche z. T. durch transzendente Instanzen symbolisierten Eröffnungen erfolgen meist nicht in einer Empfängnissituation, also dem Geschlechtsverkehr, sondern später oder gelegentlich auch vorher in Form einer Ankündigung. Mit dem Traum, der Vision oder Erscheinung erlangen die Frauen ein Wissen um die erfolgte oder bevorstehende Befruchtung, das nicht unbedingt an leibliches Spüren gebunden bzw. von leiblichem Spüren verursacht oder begleitet sein muss. Offenbar ist die über einen Traum erlangte ›Gewissheit‹ der Befruchtung nicht nur Stoff für Heiligengeschichten, sondern scheint sich gar nicht so selten zu ereignen. Es gibt, namentlich bei sogenannten primitiven Kulturen, aber auch Mischformen von Beschreibungen der Empfängnisgewissheit, die Traum bzw. Vision und leibliches Spüren zusammenführen, z. B. bei den von Malinowski untersuchten Trobriandern, die den Sachverhalt der Zeugung durch Geschlechtsakt nicht kennen. Sie haben eine Vorstellung der Empfängnis, nicht aber der Zeugung: Die Frau empfängt das Kind beim Baden durch die Geister. Der ›Geist‹, meist Mutter oder Vater der Empfangenden, nimmt das im Wasser treibende Kind und legt es auf den Kopf der Frau, die schwanger wird. Nun heißt es bei Malinowski (1978, 39), Tomwaya Lakwabulo zitierend: »diese hat Kopfweh, erbricht sich und verspürt einen Schmerz im Bauch. Dann kommt das Kind in den Bauch herab, dann ist sie wirklich schwanger. Sie sagt: ›Schon hat es, das Kind, mich gefunden; schon haben sie (die Geister) mir das Kind gebracht.‹«

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

Das Eingreifen der Geister, die das Kind übergeben, ohne dass die Frau an dem Vorgang beteiligt ist, verweist auf den metaphysischen Vorstellungskomplex; die ›Einführung‹ des Kindes wird aber auch leiblich gedacht und mit dem Bild, »daß in den Kopf und dann in den Bauch Blut strömt« (ebd.) verbunden. Der das Kind übergebende ›Kontrollgeist‹ erscheint der Frau im Traum; sie »erwacht und sagt, ›oh, es gibt ein Kind für mich‹« (ebd., 40). Indem die Frau ihrem Mann mitteilt, wer das Kind überbrachte, entsteht eine Überlieferungsvorstellung in Bezug auf den ›Geistpaten‹ des Kindes. Die Empfängnisgewissheit wird in dieser Mythe u. a. durch Kopfschmerz, Erbrechen und Bauchschmerz, also leibliche Sensationen, und eine Art Herabkunft des Kindes in den Leib beschrieben. Man mag nun vermuten, dass es in einer Zeit und Kultur wie der unsrigen, die den Vorgang der Empfängnis bis ins kleinste Detail erforscht hat, keine wie auch immer geartete Empfängnisgewissheit gibt, die unabhängig von medizinischer Diagnostik wäre. Das scheint aber zumindest für einige Frauen nicht zuzutreffen, die eine Befruchtungserfahrung beim oder unmittelbar nach dem Geschlechtsakt bezeugen. Eine solche Evidenz stellt sich lange vor der ärztlichen Diagnose ein. Es handelt sich dabei um subjektive Tatsachen, die das auf medizinische Fakten gedrillte Denken brüskiert, und Frauen haben häufig nicht den Mut, über ihre subjektive Gewissheit zu sprechen, ja nehmen diese vielleicht selbst nicht ernst, hat sie doch keinen objektiven Referenten, solange sich nicht typische Symptome einer Schwangerschaft einstellen oder das Ausbleiben der Menstruation deutliche Hinweise gibt. Zudem heißt es dann noch, die treffenden Worte zu finden, denn eine Empfängnisgewissheit kommt selten als eine klar an Leibesinseln lokalisierbare Regung zum Bewusstsein. Ihre Quellen sind von diffuser Bandbreite, eingebettet in Atmosphären und Stimmungen, nicht zuletzt dadurch beeinflusst, dass Schwangerschaft heute nicht als natürliches oder zufälliges Phänomen, sondern als Teil der Lebensplanung aufgefasst wird und von Erwartungshaltungen oder aber vom Überraschungseffekt begleitet ist. Qua medizinischem Wissen ist noch dazu bekannt, dass die Empfängnis auch außerhalb des Geschlechtsverkehrs erfolgen kann. Damit sind nicht nur die vielfältigen Strategien künstlicher Befruchtung gemeint, die den Fortpflanzungs- vom Sexualakt trennen, sondern ebenso die Fälle, wo sich die Empfängnis nicht beim Koitus einstellt, sondern erst ein oder zwei Tage, vielleicht sogar bis zu sieben Tage später, wenn nämlich die Spermien im vaginalen Milieu überleben, bis das Ei ›eintrifft‹. Die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle findet folglich nicht immer zeitgleich mit dem Koitus oder Ersatzhandlungen statt, was letztlich bedeutet, dass das Erleben der Empfängnis eine völlig individua442 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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lisierte weibliche Leiberfahrung sein kann, auch wenn es Paare gibt, die von einer gemeinsamen Empfängnis-Zeugungs-Erfahrung im Geschlechtsakt sprechen. Diese biologischen Fakten, die u. a. auch darin ihren Ausdruck finden, dass Kinder meist nicht zu dem von der Medizin standardisierten Geburtstermin geboren werden, machen die Frage nach Erfahrungen von Empfängnisgewissheit nicht leicht. Dass viele Frauen von der Empfängnis als biologisches Faktum nichts merken, ist nicht erstaunlich; sie kann sich schlicht in jeder beliebigen auf den Geschlechtsakt folgenden Situation ereignen. Dasselbe gilt für die Insemination oder die Operation bei Invitrofertilisation, bei der noch der Sonderfall vorliegt, dass eine bereits befruchtete Eizelle in den Körper der Frau gelegt wird. Die Frau hat also ›empfangen‹ und doch – meist – nicht, denn die ›eingelegte‹, befruchtete Eizelle und der ihr zugewiesene ›Lebensraum‹ müssen viele Voraussetzungen erfüllen, um eine Schwangerschaft zu ermöglichen. Der Begriff ›Empfängnis‹ scheint hier, aber auch bei natürlichen Verschmelzungen von Ei- und Samenzelle, die biologisch erfolglos bleiben, endgültig zu zerfasern, wenn wir ihn nur materialistisch begreifen. Obwohl wir der Beliebigkeit von Assoziationen mit dem ›Empfängniserleben‹ im Kontext des Zellgeschehens ausgesetzt sind und letztlich vor das noch ungelöste Rätsel gestellt sind, wie und wann sich Materie mit Bewusstsein verbindet, berichten Frauen gelegentlich – sehr selten auch Männer – davon, Empfängnis/Zeugung konkret erlebt bzw. einen besonderen Eindruck von der vermeinten Empfängnissituation zu haben, mitunter im Sinne der Atmosphäre einer Ankunft. Bei den Aussagen zur Empfängnisevidenz ist besondere Vorsicht geboten, weil objektiv nicht geklärt ist, ob die beschriebenen Erfahrungen tatsächlich und auch zeitgleich mit dem körperlichen Ereignis der ZellenVerschmelzung zusammenfallen. Sich an die Empfängnis zu erinnern, ist häufig ein Prozess, der erst nach der ärztlichen Diagnose über die eingetretene Schwangerschaft erfolgt, indem man sich etwa fragt: »Wann ist es wohl passiert?«; »Was habe ich zu der Zeit erlebt?«, »Habe ich bei diesem Geschlechtsakt bzw. bei den Geschlechtsakten in der fraglichen Zeit etwas besonders gespürt?«, »Was habe ich zu dieser Zeit bzw. im Anschluss daran gespürt?« und »Gab es etwas, das mir die Empfängnis angedeutet hat?« Diese Fragen beziehen sich nicht darauf, wie die beginnende Schwangerschaft gespürt wurde, sondern wie bzw. ob sich das Phänomen, ›empfangen‹ zu haben, ›befruchtet‹ worden zu sein, in irgend einer Weise aufdrängte. Diesen Fragen und möglichen Erfahrungen nachzugehen, bedeutet auch, sie im Kontext der medizinischen Diskurse bzw. Kinderzeugungsvorstellungen einer Kultur zu sehen. Bei einem Volk wie den Tro443 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

briandern ist das Empfängniserleben mit anderen Vorstellungen verknüpft als bei uns, die wir um die geschlechtliche Zeugung wissen. Unsere Empfängnisvorstellung ist generell mit dem Geschlechtsakt – heute auch der Insemination oder der operativen ›Einpflanzung‹ eines dem bloßen Auge unsichtbaren ›Stoffes‹ – verknüpft, und damit kreisen Erlebnisberichte über die Befruchtung meist um solche Akte bzw. um Erfahrungen, die in zeitlicher Nähe zum Geschlechtsverkehr oder medizinischen Eingriff gemacht werden. Davis (1994, 64 f.) sagt z. B., sie könne sich genau an den Augenblick erinnern, »in dem ich jedes meiner Kinder empfing«: »Noch jetzt überrascht es mich, wie lebhaft die Erinnerungen sind; jede Einzelheit der Umgebung und der Stimmung ist kristallklar, jede körperliche Empfindung auf dem Höhepunkt. Es gab kein Zurück – ich hatte mich verändert.« (ebd., 65)

Leider schreibt die Autorin nichts über den Zeitpunkt ihrer Erfahrungen im Verhältnis zum Befruchtungsakt, dennoch wird etwas deutlich, was viele Frauen u. U. gar nicht – wie Davis – unbedingt mit dem Stichwort Empfängnisgewissheit verknüpfen würden, sondern mit dem Topos des sich-aufdrängenden veränderten Befindens. Diese Veränderung des Ich wird leiblich umrissen und mit der Erinnerung an einen bestimmten Augenblick verbunden, die sich auf eine klare Wahrnehmung (Einzelheiten der Umgebung), auf Empfindungen und Stimmungen beziehen. Auffällig ist bei Davis die Eingegossenheit der Erlebnisse in ein chaotisch-mannigfaltiges Ganzes ohne Hervorhebung regionaler leiblicher Sensationen. Es ist der ganze Leib, der in einer besonderen, im Vergleich zur vorherigen, veränderten Verfassung gespürt wird und die Empfängnisevidenz vermittelt. Wenn Frauen von einer Empfängnisgewissheit lange vor der Möglichkeit einer medizinischen Verifikation sprechen, geben sie damit Kunde von einem – in vielen Fällen – treffsicheren Spüren, das der medizinischen Diagnose zumindest in zeitlicher Hinsicht überlegen ist. Es handelt sich um ein leibliches Spüren mit Evidenzcharakter, das als Empfängnisgewissheit vom Entdecken und Sich-Aufdrängen der Schwangerschaft – etwa durch Übelkeit oder später Kindsbewegungen – zu unterscheiden ist. Insofern die Medizin ein solches Spüren gar nicht erst ernst nimmt, steht die Frau der subjektiven Kenntnis, ab einem bestimmten Moment werdendes Leben in sich zu tragen, ambivalent gegenüber und mag auch in Konflikt geraten mit Unmündigkeitserklärungen durch medizinisches Personal. Ein anschauliches Beispiel hierfür finden wir bei Oriana Fallaci (1989, 7), die in ihrem »Brief an ein nie geborenes Kind« eine Empfängnisgewissheit beschreibt: 444 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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»Heute nacht erfuhr ich, daß du da bist: ein Tropfen Leben, dem Nichts entkommen. Ich hatte die Augen weit in das Dunkel hinein aufgerissen, und plötzlich flammte in diesem Dunkel ein Strahl von Gewissheit auf: ja, du bist da. Es gibt dich. Es war, als würde einem eine Kugel in die Brust geschossen. Mein Herz stockte. Und als es wieder zu schlagen begann mit dumpfen betäubenden Schlägen des Staunens, war mir, als stürzte ich in einen Schacht, wo alles Unsicherheit und Schrecken ist. Hier bin ich nun, eingesperrt in eine Angst, bei der mir Gesicht, Haar und Gedanken nass werden. Und ich verliere mich in ihr. … Es ist die Angst vor dir, vor dem Zufall, der dich aus dem Nichts gerissen hat, um dich an meinen Leib zu hängen. Ich war niemals darauf vorbereitet, dich aufzunehmen, obwohl ich dich sehr erwartet habe.«

Zunächst fällt die Plötzlichkeit auf, mit der die Autorin von der Empfängnisevidenz heimgesucht wird. Das starke Bild von der Kugel, die in die Brust schießt, suggeriert den Vergleich mit einer extremen körperlichen Erfahrung unter Todeseindruck. Leibliche Begleiterscheinung ist das Erschrecken, der Schock – ein Moment leiblicher Enge. Die Gewissheit, ein Kind im Leib zu haben, setzt Fallaci einem Wechselbad von Staunen und Angst aus, wobei der Angstschweiß sogar ihre Gedanken »nass« werden lässt, d. h. sie als ganzen Menschen ergreift. Weiter beschreibt Fallaci den Konflikt zwischen der eigenleiblichen Empfängnisgewissheit und dem medizinischen Kontext, in dem eine Schwangerschaft festgestellt wird. Sie (ebd., 9) redet das werdende Leben, von dessen Existenz sie weiß, mit Du an: »Du bist erst so kurze Zeit da: würde ich den Arzt um eine Bestätigung bitten, er würde nur spöttisch lächeln.« Noch bevor es zur medizinischen Verifikation kommt, hat sich ein Entscheidungsprozess für das Kind vollzogen: »ich habe mich für dich entschieden: du wirst geboren werden.« (ebd.) Schließlich erfolgt der Besuch beim Arzt und eine Unmündigkeitserklärung hinsichtlich der gespürten Empfängnis: »Ich habe dich zum Arzt gebracht. Mehr noch als die Bestätigung wollte ich ein paar gute Ratschläge. Als Erwiderung schüttelte er nur den Kopf und meinte, ich wäre ungeduldig, er könnte sich noch nicht äußern, ich sollte in vierzehn Tagen wiederkommen und mich auf die Entdeckung gefaßt machen, daß du nur ein Produkt meiner Einbildung gewesen wärst. Ich werde nur deshalb wiederkommen, weil ich ihm beweisen will, daß er ein Ignorant ist. Seine ganze Wissenschaft kann meine Intuition nicht aufwiegen, und wie soll auch ein Mann eine Frau verstehen können, die vor der Zeit behauptet, daß sie ein Kind erwartet?« (ebd., 12 f.)

Erst sechs Wochen später bestätigt der Arzt die Schwangerschaft: »Mit einer Stimme, die halb feierlich halb fröhlich klang, sagte er und hielt dabei ein Kärtchen in die Höhe: ›Meinen Glückwunsch, Signora.‹ … So verkündete mir die Wissenschaft in einem kalten weißen Zimmer durch die Stimme eines weiß-

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gekleideten Mannes, daß du da bist. Das hat mich in keiner Weise gewundert, weil ich es ja schon viel früher wußte als sie.« (ebd., 22) 1

Dieses Beispiel thematisiert zwar eine subjektive Empfängnisgewissheit, die sich mit leiblichen Sensationen eingestellt hat, aber man kann nicht sagen, ob die Gewissheit selbst es war, welche die Sensationen auslöste, oder ob das leibliche Erleben an die Empfängnis gekoppelt war. Man kann auch nicht sagen, zu welchem Zeitpunkt des biologischen Vorgangs das subjektive Wissen um das »Du« erfolgte. Das ist hinsichtlich des medizinisch nicht verifizierbaren Zeitpunktes, also der zeitlichen Deckung zwischen Erleben und körperlichem Vorgang generell noch nicht wissenschaftlich zu klären. Wie schwierig die gesamte Problematik ist, hat nicht zuletzt die Kontroverse zwischen feministischem, medizinischem und theologischem Diskurs rund um das Abtreibungsgesetz bewiesen, mit der Kernfrage, wann das Leben im Mutterleib beginnt. Medizinischer und theologischer Diskurs gehen insofern konform, als Mediziner den Beginn des Lebens mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle und deren Einnistung in die Gebärmutter konstatieren und christliche Theologen, die Auffassung auf den Geschlechtsakt bezogen repetierend, die Würde des noch ungeborenen Menschen verteidigen, indem sie Abtreibung für verwerflich, weil lebens-, ja menschenvernichtend, halten. Die Ablehnung jeglicher Verhütungsstrategie vonseiten des Vatikans und der Eingriff in die Privatsphäre durch die Vorschrift, Geschlechtsverkehr nur zum Zweck der Fortpflanzung auszuführen, hängen mit dieser rigiden Auffassung unabdingbarer Lebensbejahung zusammen. Feministinnen interessiert die Frage nach dem Beginn des neuen Lebens prinzipiell nicht, weil sie für den Frauenkörper als Ort freier Selbstbestimmung kämpfen und Verhütung sowie Abtreibung, unabhängig von der Frage, ob damit Leben verhindert oder getötet wird, als Recht zur Selbstbestimmung der Frau über ihren Körper zu etablieren suchen. Die Bedeutung dieses Rechts sollte nicht unterschätzt werden, aber es sollte auch nicht unerwähnt bleiben, dass manche – keineswegs alle – Frauen mit bestimmten Verhütungspraktiken (vor allem mittels synthetischer Hormone) und nach einer Abtreibung von diversen, nicht nur körperlichen Leiden betroffen sind. Fruchtbarkeit, Empfängnis und Schwangerschaft sind nicht allein körperliche Vorgänge innerhalb von Zellstrukturen, sondern betref1

Überrascht ist Fallaci (1989, 22) freilich darüber, dass die Kenntnis ihres Familienstandes (sie war unverheiratet und berichtigte das »Signora« in »Signorina«) jegliche Fröhlichkeit und Feierlichkeit ersterben ließ, was auch Einfluss auf die nachfolgende gynäkologische Untersuchung hatte.

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fen den Menschen, seinen Leib als Ganzen und den gesellschaftlichen Umgang mit Schwangerschaft und Kindern, und insofern sollte die Erfahrung der Empfängnis vielleicht ernster genommen werden, als das derzeit geschieht. Es wäre zu fragen, ob und wie in der Befruchtung dasjenige erlebt wird, was als ›neues Leben‹, als das ›Empfangen des Kindes‹ gespürt wird und wie sich Betroffene zu diesen Leiberfahrungen stellen. Das betrifft in letzter Konsequenz die Entscheidung, ob ich das, was sich mit einer Befruchtung womöglich leiblich als Gewissheit einer Ankunft einstellt oder aber, was sich materialistisch als Zellhaufen betrachten lässt, bejahe oder verneine. Wenngleich nur spärlich Erfahrungsberichte zu zitieren sind, scheint es doch eine Quelle zu geben, die eine erfolgte Empfängnis lange vor der medizinischen Diagnose wahrnehmbar macht. Während häufig Träume angeführt werden, gibt Jong (1998, 268) ein Beispiel, das sich auf leibliches Spüren im Wachbewusstsein bezieht: »Eines Abends fielen wir von Jet lag und gutem Wein erschöpft ins Bett; wir wollten beide schlafen, doch statt dessen griffen wir nacheinander und liebten uns endlos wie in Trance. Danach lag ich wach, während er schlief. Mein Schoß fühlte sich an wie von Licht erfüllt. Er kam mir vor wie ein riesiger roter Planet, der in mir glühte. Ich spürte das Pochen ein paar Zentimeter unter dem Nabel, bei dem man sich fühlt wie ein Möbiusband, in dem der Kosmos enthalten ist. Am nächsten Morgen wurde ich für irgendein Hochglanzmagazin vor den Löwen im Brunnen fotografiert, als meine französische Übersetzerin fragte, wieso ich einen so schalkhaften Blick hätte. ›Wir haben letzte Nacht ein Baby gemacht‹, sagte ich leichthin – und war nicht einmal sicher, ob es stimmte. ›Und was ist mit dem nächsten Buch?‹ fragte sie, da sie mir glaubte. ›Was soll damit sein?‹ sagte ich unbekümmert mit jener Euphorie, die tatsächlich eine Schwangerschaft ankündigt.«

Eine medizinische Diagnose wird Jongs Empfängnisvermutung später bestätigen, und auch hier haben wir es, wie bei Fallaci, aber doch anders, mit besonderen leiblichen Sensationen zu tun, die sich aufdrängen und schließlich zur Empfängnisgewissheit führen. Aufgrund fehlender empirischer Untersuchungen kann man zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht von einem verallgemeinerbaren Empfinden oder bestimmten wiederkehrenden leiblichen Regungen, schon gar nicht an eigens ausgewiesenen Leibesregionen oder in einem Zeitraster im Verhältnis zum Sexualverkehr sprechen, die eine Empfängnisevidenz unabdingbar begleiten. Immerhin aber gibt es Zeugnisse eines solchen subjektiven Wissens um Schwangerschaft, die nicht selten verifiziert werden, und das betrifft im übrigen nicht nur 447

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

die Betroffene selbst und zwar bevor sich leibliche Phänomene wie Ziehen in den Brüsten, Ausbleiben der Menses, Übelkeit, Leibeswölbung etc. einstellen. Oft sind es veränderte Stimmungen, möglicherweise jene »Euphorie« bei Jong, die eine Wandlung anzeigen. Die Befruchtete scheint von einer eigentümlichen Atmosphäre umfangen zu sein, die auch andere Menschen erspüren können. Mit diesen Ausführungen sei keineswegs in Abrede gestellt, dass es sich bei der Empfängnisgewissheit in manchen Fällen um bloße Einbildung handelt. Insbesondere bei Frauen, die sich sehnlichst ein Kind wünschen, ist häufig der Wunsch ›Vater‹ des Gedankens, und dieser sucht sich an alle möglichen Zeichen zu klammern, die nur irgendwie ungewöhnlich sind. Die Theorie der fruchtbaren Tage mag solche Frauen auch dazu treiben, ihre sexuellen Aktivitäten ›empfängnisfördernd‹ in der Phase des Eisprungs zu intensivieren. Internetforen zum Thema »unerfüllter Kinderwunsch« sind voll vom Elend, das solche Herstellbarkeitsvorstellungen hervorrufen kann. In den Einbildungsprozessen zur Empfängnisevidenz mag der starke Kinderwunsch sogar zum Ausbleiben der Menstruation und zur Scheinschwangerschaft führen. Ähnliche Phänomene finden sich bei Frauen mit Angst vor einem Kind, die sehnsüchtig ihre Menstruation erwarten. Es bedarf einer breiten Forschung, um eingebildete von authentischen Erfahrungen zu unterscheiden und sich diesem Thema auf dem Boden gesicherter methodologischer Voraussetzungen anzunähern.

12.3 Erste leibliche Sensationen Mit oder ohne Empfängnisgewissheit wird die beginnende Schwangerschaft von vielen Frauen durch ›Anhaltspunkte‹ und ›Signale‹ entdeckt, die mit medizinischen Befunden und Symptomen noch nichts zu tun haben, sondern sich auf das leibliche Befinden und Spüren beziehen. Dabei kann sich eine veränderte leibliche Verfassung schon sehr schnell aufdrängen, häufig bereits bevor die ausbleibende Menstruation ein deutlich interpretierbares Zeichen gibt. Die Künstlerin Annegret Soltau berichtete mir, dass sie, früher starke Raucherin, zwei Mal in ihrem Leben unvermittelt mit dem Rauchen aufhörte, obschon sie es nicht geplant oder gewollt hatte, es schmeckte ihr nicht mehr und daraus schloss sie – richtig, wie sich später herausstellte – auf eine eingetretene Schwangerschaft. Um erste leibliche Phänomene, die einer Frau Veränderung signalisieren, wird es also in diesem Kapitel gehen. Offenbar ereignen sie sich vornehmlich an Brüsten und Unterleib: 448

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»Ich hatte ab ca. eine Woche bevor die Mens kommen sollte, druckempfindliche, leicht geschwollene Brüste, Ziehen im Unterleib und mir war ständig kalt! Jetzt bin ich in der 7. SSW [Schwangerschaftswoche, UG]!« (»LG«, Forum »Hurra, ich bin schwanger!«, www.eltern.de, 5. 12. 2001, 20:44)

In den Internetforen zeigt sich gelegentlich Verwirrung über die Ähnlichkeit von Regungen des PMS und einer beginnenden Schwangerschaft, z. B. weiß eine Frau noch nicht, ob sie schwanger ist, hat aber bereits vier Tage nach dem anscheinend von ihr gespürten Eisprung »Unterleibsziehen und seit einigen Tagen festere, druckempfindliche Brüste«. Sie merkt an, es »könnten ja auch PMS-Sympt. sein« und fragt im Forum: »aber wem ging es auch so und wer ist jetzt schwanger?« (»Anke«, ebd., 5. 12. 2001, 16:58) Viele Frauen äußern sich ohne medizinische Diagnose einer Schwangerschaft im Internet über gespürte oder instrumentell festgestellte Veränderungen vor der anstehenden Menstruation: »Ich bin jetzt zw. dem 19. und 22. Zyklustag, und habe erst seit gestern Abend das dumpfe Gefühl, dass meine Brüste plötzlich auf Druck empfindlich reagieren und wärmer und fester sind. Meine Basaltemperatur war heute morgen von sonst 36,8/36,9 jetzt bei 37,06 Grad Celsius. So ist die Temperatur nun seit ca. dem 12. Zyklustag oben, also etwa 8 Tage. Das Zucken und Zwicken und den Druck und unwohle Gefühle, dass ich meine, meine Regel zu bekommen im Bauch habe ich noch immer seit nun einer guten Woche, zwar nicht ständig, aber immer wieder und meist rechtsseitig oder mittig. Einbildung. Ich glaube nicht. Da wir um den 8. und 9. und 14. Zyclustag GV [Geschlechtsverkehr, UG] hatten, denke ich ist eine SS [Schwangerschaft, UG] wohl nicht ganz ausgeschlossen. Ich weiß nicht, ob es auch etwas innerlicher Stress ist, aber ich habe derzeit morgens überhaupt keinen Appetit, wenn ich aufstehe und dann habe ich mir ein Wurstbrot gemacht, wo ich sonst eigentlich entweder Käse od. Marmelade esse. Aber Gelüste kann man ja immer haben. Meint Ihr es lohnt sich am WE [Wochenende, UG] doch mal einen vielleicht Frühtest zu machen, wenn die Temp. weiter so bleibt, was ich doch regelrecht beobachte.« (»Ich«, ebd., 5. 12. 2001, 16:07)

Wegen der Verschränkung von eigenleiblichem Spüren und instrumentell gesteuerter Selbstbeobachtung am Körper sei bei diesem Beispiel kurz verweilt. Zuerst wird die Druckempfindlichkeit der Brüste artikuliert und das »dumpfe Gefühl«, sie seien wärmer und fester geworden. In der Veränderung ihrer Empfindlichkeit treten also die Brüste als von besonderer Regung durchzogen ins Spüren. Eine »Druckempfindlichkeit« kann sich u. U. schon beim Tragen von Kleidung, also in der Berührung der Haut mit dem Stoff einstellen und ist eher ein Phänomen, das quasi durch den Kontakt des Körpers mit Dingen seiner Umwelt erzeugt wird; erst der Ein449

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fluss (Druck) von außen macht die Empfindlichkeit spürbar. Während die Empfindung der Festigkeit der Brüste sich auch, aber nicht nur in Kontakt mit der Kleidung aufdrängt, sondern vor allem bei Bewegungen und in bestimmten Körperhaltungen, ist die Empfindung herausgehobener Wärme von anderer Qualität. Die Eigenwärme des Körpers ist in der Regel ganzleiblich ergossen und wird, wenn es nicht gerade zum Frieren oder Schwitzen kommt, auch nicht sonderlich gespürt. Allerdings treten in der Alltagserfahrung durchaus einzelne Regionen durch Hitze- oder Kälteempfindungen hervor. So gibt es ein regional umgrenztes Brennen auf der Haut, das nach innen strahlt, oder ein regional begrenztes Kälteempfinden. Bei Sonnenbrand werden bestimmte (durch Röte sichtbare, durch Hitze tastbare) Körperoberflächen als heiß, brennend oder gar glühend erlebt. Ähnliches geschieht, wenn man aus bitterer Kälte in eine warme Stube kommt und ungeschützte Körperteile wie Ohren, Hände und vor allem Gesicht mit einem Mal anfangen zu brennen, oft begleitet von einem empfundenen ›Strom‹ aus dem Leibesinneren, der die betreffenden Partien ›durchwallt‹. Sichtbar ist dieser Vorgang an sich-rötenden Hautpartien, die nach einiger Zeit mit der Diffusion in die ganzleibliche Wärme wieder verblassen und dann auch nicht mehr bemerkt werden. An Füßen oder Händen ist ebenfalls ein Empfinden von regional begrenzter Kälte, selten auch Wärme, möglich. So bezieht sich eine Rede wie »ich habe kalte Füße«/»meine Füße brennen« auf diese Sachverhalte. Schließlich wird Fieber – bei Erwachsenen – nicht nur ganzleiblich in Gliederschwere und Bewegungsunmut gespürt, sondern auch im »heißen, schweren Kopf«. Was nun von der betreffenden Frau – und häufig von Schwangeren – beschrieben wird, sticht von jenen Phänomenen ebenso ab, wie von den Manifestationen des PMS, wo eher von einer Spannung als von Wärme in den Brüsten gesprochen wird. Dass die Brüste wärmer oder auch heiß werden, ist ein eigenleibliches Phänomen, das sich nicht aus umwelt- oder krankheitsbedingter Situationen ergibt (Sonnenbrand, extreme Temperaturunterschiede, Fieber), sondern in die normale Verfassung hineinragt, in der die Eigenwärme für das Empfinden keine Rolle spielt. Die zu Beginn einer Schwangerschaft mitunter empfundene Wärme an den Brüsten ist vor allem deshalb auffällig, weil an den Brüsten normalerweise keine ›Temperaturunterschiede‹ im Verhältnis zum Restleib gefühlt werden, wie das für die Extremitäten oder auch die Nase wahrscheinlich von jedermann schon einmal empfunden wurde. Sicher könnte keine Frau sagen, wo auf der Haut die Wärme anfängt und wo sie aufhört. Es handelt sich um ein diffuses Erleben an Leibesinseln, ein Eingegossen-Sein der Brüste in Wär450 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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me, das sich in Abhebung von anderen Leibesregionen, u. U. auch Wärme abstrahlend bzw. in Wärme aufwallend, bemerkbar macht. Mit der Basaltemperatur, die im zitierten Beispiel bereits eine Woche »erhöht« ist, also nicht mehr nur durch einen Eisprung erklärt werden kann und insofern bereits auf eine Schwangerschaft hinweisen könnte (wir wissen es aber nicht), lässt sich das subjektive Empfinden von warmen Brüsten jedoch nicht ausreichend erklären. Die instrumentell ermittelte Körperveränderung scheint auch nur von sekundärer Bedeutung für die Vermutung einer Schwangerschaft zu sein und dient allenfalls der Untermauerung und Glaubwürdigkeit des Verdachts, der zu einem Beitrag in dem Forum geführt hat. Zu dem veränderten Empfinden an den Brüsten treten weitere leibliche Phänomene: Da ist ein »Zucken und Zwicken«, ein »Druck« und ein »unwohles Gefühl« im Bauch, »meist rechtsseitig od. mittig«. Dies alles ähnelt wohl gewissen Empfindungen, die sich vor der Menstruation einstellen können, nur dass diese, wenn auch nicht ständig auftretend, bereits eine Woche lang andauern. Noch ein weiteres ungewöhnliches Leibbefinden führt sie an: morgendliche Appetitlosigkeit und veränderte Essgelüste. Die Betroffene glaubt nicht an Einbildung, nimmt die Regungen ernst, wenngleich sie in ihrer Interpretation unsicher ist. Interessant ist an diesem Internetbeitrag, wie die neue Befindlichkeit mit der Vermutung auf Schwangerschaft ohne medizinischen Befund bereits auf die Lebenskonzeption einwirkt und Befürchtungen hinsichtlich eines Arbeitsplatzes aufkeimen lässt. Die Verbalisierung dessen, was der Frau widerfährt, verdeutlicht darüber hinaus eine Körperbildlichkeit, die stark vom medizinischen Diskurs durchdrungen ist und leibliches Spüren in wechselseitiger Bestätigung an messbare Daten (Basaltemperatur, Zyklustag etc.) zu vermitteln sucht. Die betroffene Frau erhält im Forum eine Antwort von »Drea«, die ebenfalls – noch ohne medizinische Diagnose – eine Schwangerschaft vermutet und mit den Begriffen ZT (Zyklustag) und ES (Eisprung) umgeht, als seien es Dinge, und daneben Veränderungen an ihrem Leib verbalisiert. Der Hintergrund solcher narrativen Samples muss ungeklärt bleiben, z. B. hier hinsichtlich dessen, was die Aneinanderkettung von Fragezeichen für den ersehnten oder ungewollten Schwangerschaftsverdacht bedeutet: »Mir geht es auch so ähnlich. Ich hatte am 14. ZT wahrscheinlich meinen ES und auch GV. Heute ist mein 20. ZT und seit 3 Tagen habe ich bei Berührung muskelkaterähnliche Schmerzen in der Brust, seit 2 Tagen esse ich morgens statt Marmelade lieber Spiegelei mit Stampfkartoffeln oder auf Brot und seit heute ein Stechen auf der linken Seite. Ist das alles Einbildung??? Habe ich eine solche Fantasie??? Vielleicht bilde ich

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mir das ja auch nicht ein, es kann aber mit der nächsten Mens noch abgehen, oder??? …« (»Drea«, Forum »Hurra, ich bin schwanger!«, www.eltern.de, 5. 12. 2001, 19:56)

Auffällig ist wieder die Beschreibung veränderter Empfindungen an den Brüsten, ungewöhnliche Essgelüste und eine epikritische Regung im Unterleib. Die anschließenden Fragen, insbesondere die letzte, deuten einen Sachverhalt an, der sich theoretisch nach jeder Empfängnis einstellen kann, der Abgang der befruchteten Eizelle. In diesem Fall können vorübergehend alle leiblichen Sensationen einer Schwangerschaft auftreten. Bei Eintritt der Menstruation bzw. der Abgangsblutung kann eine vorherige Empfängnis nicht ohne weiteres festgestellt werden, es sei denn, es handelt sich um eine regelrechte Fehlgeburt. Die vorangegangene Symptomatik wird im Nachhinein häufig als Einbildung deklariert. Zu diesem Problemkontext gehört auch die Scheinschwangerschaft, die man gerne als eingebildete Schwangerschaft bezeichnet und früher für eine Form der ›Hysterie‹ hielt. Für die medizinische Diagnostik ist bei der Scheinschwangerschaft, jedenfalls für eine gewisse Zeit, eine Empfängnis nicht eindeutig auszuschließen, was zu Verwirrung, auch hinsichtlich der Definition der »Scheinschwangerschaft«, führen kann: Manche Scheinschwangerschaft wird als solche abgetan, obwohl vielleicht doch eine Empfängnis stattgefunden hat und das vermeintliche Einsetzen der Menses eine Abgangsblutung ist. Es ist interessant, dass gerade in dem medizinisch-diagnostisch nicht aufklärbaren Zeitraum zwischen einer möglichen Empfängnis und dem Ausbleiben der Menstruation doch einige Frauen Leiberfahrungen machen, die immerhin so auffällig sind, dass sie sich an ein Internetforum wenden, um durch Erfahrungsaustausch über etwas Klarheit zu gewinnen, wo die Medizin noch passen muss. Man kann bei diesen Aussagen natürlich nur in den wenigsten Fällen später herausfinden, ob eine Schwangerschaft vorgelegen hat oder ob diese leiblichen Phänomene doch eher den Charakter einer prämenstruellen Symptomatik haben oder ganz andere Ursachen, wie z. B. Krankheiten. In solchen Erfahrungen kommt jedoch nicht nur zum Ausdruck, was Frauen an ihrem Leib spüren, wenn möglicherweise eine Schwangerschaft ›im Raum‹ steht oder zumindest eine solche Deutung in Frage kommt, sondern auch, wie sie mit dieser Grauzone zwischen subjektivem Empfinden und medizinischer Objektivierbarkeit umgehen. Typisch ist für diese Situation, dass Frauen etwas Ungewöhnliches an ihrem Leib erleben und nach Interpretationshilfen suchen. Da die Deutung der Erfahrungen aber nicht über den medizinischen Diskurs 452 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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stattfindet, weil ein Schwangerschaftstest oder eine gynäkologische Untersuchung noch nicht aussagekräftig wären oder weil die Menstruation noch nicht ausgeblieben ist, wenden sich diese Frauen an andere Frauen. So heißt es z. B.: »Bin kurz vorm verzweifeln. Weiß nicht ob ich schwanger bin!!! Habe weh tuende brustwarzen, etwas anormale essgewohnheiten, bin den ganzen tag müde etc. Einen test kann ich noch nicht machen und meine tage wollen auch nicht so wirklich kommen. Ich habe gehört, dass, wenn man schwanger ist, am anfang manchmal eine schmierblutung hat. Wäre echt dankbar, wenn ihr ein paar tipps oder so für mich hättet!!!« (»biene maja«, Forum »Hurra, ich bin schwanger!«, www.eltern.de, 12. 12. 2001, 19:44)

Die Betreffende vermag das, was sich ungewöhnlicherweise aufdrängt – schmerzende Brustwarzen, veränderte Essgelüste, Müdigkeit und anscheinend eine Art Schmierblutung – nicht einzuordnen. Ihre Vermutung auf Schwangerschaft und das gewählte Internetforum deuten darauf hin, dass »biene maja« für diesen Verdacht eine Bestätigung oder Abweisung durch gleichartige Erfahrungen wünscht. Sie meldet sie sich am Tag darauf mit einer weiteren, nunmehr ziemlich eindeutigen Erfahrung zurück: »Ich habe heute morgen ein total kribbliges gefühl im bauch. Als ob da was ist, was da sonst nicht war.« (ebd., 13. 12. 2001, 7:17) Nach den Brüsten kommt also jetzt auch der Unterleib im Erspüren ungewöhnlicher leiblicher Phänomene ins Spiel und sorgt für entsprechende Spekulationen. Eine andere Frau, die bereits eine Schwangerschaft erlebt hat, befindet sich ebenfalls in dem ambivalenten Zustand zwischen eigenleiblicher und medizinischer Diagnose: »Meine Brüste schmerzen auch zwischendurch, aber sonst keine besonderen Anzeichen. … es fühlt sich an, als ob ich, wäre ich noch am stillen, bald mal wieder fällig wäre. Kenne dieses ziehen also nur vom stillen her. den Test werde ich so am Samstag oder Sonntag machen. hoffentlich halte ich solange durch. …« (»Kati«, ebd., 12. 12. 2001, 19:03)

Diese Frau kann ihr Empfinden schon auf eine frühere Leiberfahrung, diejenige des Stillens, zurückbeziehen und tendiert deshalb zu einer Interpretation, die Schwangerschaft nicht ausschließt. Das Warten auf Gewissheit scheint diesen Frauen nicht leicht zu sein, wenn vorher von Verzweiflung und jetzt von der Hoffnung durchzuhalten, also die Ungewissheit ertragen zu können, gesprochen wird. Dazu sei aber vermerkt, dass in dem Internetforum »Hurra, ich bin schwanger!« eher Frauen anzutreffen sind, die sich ein Kind wünschen und sich darauf freuen, als solche, die ungewollt schwanger werden bzw. geworden sind. Die erwartete, aber 453

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auch gefürchtete Gewissheit bei eingetretener Schwangerschaft bedeutet Freude, Glück und im anderen Fall Enttäuschung: »… mein busen tut höllisch weh und mein bauch zwickt. ich schwanke zwischen hoffnung und frust. manchmal bin ich mir sicher, dann denk ich wieder, ich bild mir alles ein«. (»ninni«, ebd., 5. 12. 2001, 10:43)

So können sich auch Regungen aufdrängen, die denen einer Schwangerschaft ähneln, z. B. im folgenden Fall, wo eine vermeintliche Einnistungsblutung vorangegangen war, die eine mögliche Schwangerschaft andeutete – ein falscher Verdacht: »Leider war es keine Einnistungsblutung, obwohl ich danach alle Symptome einer Schwangerschaft hatte: Übelkeit, Müdigkeit, Brustspannen, leichtes Schwindelgefühl, Bauchziehen. Hatte 5 Tage vor meiner Mens starke Schmerzen im Unterleib – meine FÄ [Frauenärztin, UG] stellte fest, dass diese eine Follikelzyste war, die zu spät abgegangen. Gleichzeitig habe ich auch meine Mens bekommen. … Natürlich war es dieses Mal ein besonderer Schock für mich« (»P.«, ebd., 5. 12. 2001, 19:16)

Es wird deutlich, wie sehr die prämenstruelle Spannung und andere, den Menstruationszyklus begleitende Phänomene, auch bestimmte Formen von Krankheiten, den subjektiven Eindruck entstehen lassen können, schwanger zu sein. Der »Schock« war in diesem Beispiel groß, da eine starke subjektive Gewissheit – und wohl auch ein starker Kinderwunsch – vorgelegen hatte. Andererseits können Frauen, die regelmäßig an dem prämenstruellen Syndrom leiden, mit einem Mal bemerken, dass übliche Symptome für das Eintreten der Menstruation gerade nicht auftreten: »OK, ich habe noch keinen Test gemacht und weiß es nicht hundertprozentig. Aber die Anzeichen sind wirklich optimal. Ich hätte heute meine Tage bekommen sollen. Ich habe sie aber nicht bekommen. Die Temperatur ist auch noch oben und ich habe keinerlei PMS. Die habe ich nämlich sonst immer besonders extrem. 1 Woche bevor ich meine Mens bekomme, habe ich tierische Brustschmerzen. Dieses Mal – NICHTS! 3 Tage bevor ich meine Mens bekomme, kriege ich Rückenschmerzen dazu. Dieses Mal – NICHTS! 1 Tag bevor ich meine Mens bekomme, habe ich eine Laune, die man niemandem an tun kann. Dieses Mal – NICHTS! Ich habe die beste Laune und mir geht es super gut. Das sind doch eigentlich super gute Anzeichen, oder? Was sagt ihr dazu. Sollte ich einen Test wagen oder lieber warten, bis die Temperatur wirklich die 16 Tage oben geblieben ist?« (»Steffi«, ebd., 12. 12. 2001, 10:22)

Auch in diesem Beispiel gibt es eine Referenz zum medizinischen System (der Test) als Rückversicherung für den Fall, dass die Schwangerschaft doch nicht eingetreten ist und das leiblich Gespürte sich als – offenbar unliebsame – Täuschung herausstellt. Die Frau beschreibt deutlich geän454

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derte Leiberfahrungen und führt dafür wiederum »die Temperatur«, also eine instrumentell festgestellte Eigenschaft des Körpers als ›Beleg‹ an. Was sie spürt, diese Veränderung im Vergleich zu den offenbar zyklisch eintretenden Schmerzphasen (und Übellaunigkeit) vor der Menstruation, drängt sich ex negativo auf, ist von ausgesprochenem Wohlbefinden gekennzeichnet und hebt sich klar aus der leiblichen Geschichte ab. Dieses den Leib Spüren hat die Gewissheit einer subjektiven Tatsache (in jedem Fall Veränderung, aber auch Hoffen, Sehnen bei der Interpretation der Erfahrung), die vom distanzierten Ich mit medizinischem Objektivitätscharakter (die Testdiagnose »positiv« oder »negativ«) bestätigt werden will. – Was immer sich aus diesen Internetsamples noch für ein Soziogramm von Körperbildern qua Kulturprägung ableiten ließe, so wird doch in diesen kurzen Analysen schon deutlich, dass Frauen sich nicht nur via Chatforen mit ihrer Leiblichkeit und vor allem ihrer Fruchtbarkeit inklusive ihrer naturwissenschaftlichen Referenten befassen, sondern dass sie dadurch, was die Vielzahl der Beiträge beweist, eine Art Gesprächskultur über weibliche Leiberfahrungen entfalten, in der Grauzone zwischen subjektiver Schwangerschaftsevidenz und objektiver, d. h. medizinischer Bestätigung. Doch konzentrieren wir uns nun auf Leiberfahrungen von Frauen, bei denen eine Schwangerschaft entweder bereits diagnostiziert oder aber im nachhinein festgestellt wurde, wo also von einer Übereinstimmung zwischen subjektiver und objektiver Tatsache auszugehen ist. Es sei sogleich vorausgeschickt, dass viele Frauen, zumal in der technischen Zivilisation, die einerseits wenig Wert auf diagnostische Gewissheit des Spürens legt und andererseits mit einer hochtechnisierten Verhütungskultur das Schwanger-Werden in einen lebensplanerischen Rahmen stellt, eine beginnende Schwangerschaft, wenn sie nicht sehnlichst erwartet wird, gar nicht bemerken bzw. erst dann aufmerken, wenn die Menstruation ausbleibt oder erklärungsbedürftige Störungen des Befindens in Form von Übelkeit, Erbrechen o. ä. auftauchen. Im Unterschied zu den angeführten Beispielen kann sich das Verhältnis zwischen subjektiver und objektiver Tatsache aber auch umgekehrt darstellen, z. B. wenn eine Frau nichts von ihrer Schwangerschaft bemerkt und durch die medizinische Diagnose vor ihre objektive Tatsache gestellt ist. Nicht jede Schwangerschaft wird sogleich gespürt; ihr Beginn kann völlig unauffällig sein, wie in folgenden Stellungnahmen: »Ich habe es auch erst gar nicht so richtig mitbekommen, daß ich schwanger war. Im dritten Monat erst bin ich zum Arzt gegangen.« (Reim, 1984, 82) »Eigentlich hatte ich mir das Schwangersein doch ganz anders vorgestellt, denn mir war weder schlecht, noch hatte ich irgendwelche anderen Beschwerden. Der bewußte ›Heißhunger‹ auf irgendwelche Speisen machte sich bei mir auch nicht

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bemerkbar. Vielleicht war das alles mit ein Grund, warum ich nicht so recht an meine Schwangerschaft glauben wollte, ehe sie mir der Arzt bestätigt hatte.« (ebd., 83)

An dem letzten Beispiel wird deutlich, wie stark die Pathologisierung der Schwangerschaft durch den medizinischen und auch volkstümlichen Diskurs (Übelkeit, Beschwerden, Heißhunger etc.) darauf einwirken kann, ob eine Frau sich schwanger fühlt oder nicht bzw. ob sie an eine Schwangerschaft glaubt oder nicht, wenn sich die ›typischen‹ leiblichen Phänomene nicht einstellen. Andererseits werden veränderte leibliche Regungen und Sensationen im Zuge einer Schwangerschaft erlebt und gerade aufgrund der Wissenskontexte richtig gedeutet. Wenn Frauen von Zeichen sprechen, die sich vom Leibe her aufdrängen, und einen Schwangerschaftsverdacht auslösen, treten diese auch nicht unbedingt erst nach dem Ausbleiben der Menstruation oder einer medizinischen Diagnose auf. So schreibt z. B. Elke Fröhlich (1998, 134): »Gemerkt habe ich das mit der Schwangerschaft verdammt schnell. Meine Brüste haben in kürzester Zeit signalisiert, daß irgendwas hormonell aus dem Ruder läuft. Anders ist. Als dann mein Gesicht morgens grüner aussah als eine durchschnittliche Erbsensuppe, war mir eigentlich alles klar.«

Einmal abgesehen davon, dass Schwangerschaft als hormonelle Veränderung, wenn nicht Störung in Worte gefasst wird, scheint Fröhlich hinsichtlich Gewissheitsmethoden, die über das Spüren hinausgehen, keinerlei Anforderungen zu stellen. Was sie am Leibe erlebt, ist ihr evident und weist hinreichend in Richtung Schwangerschaft. Es regt sich in ihren Brüsten und der Blick in den Spiegel bestätigt ihre Vermutung. Sehr häufig wird von Veränderung an den Brüsten, aber auch im Gesicht und an der Haut im Allgemeinen, also sowohl regional als auch ganzleiblich ergossen, berichtet. Dazu einige Beispiele aus einer Sammlung von Erfahrungsberichten mit dem Titel »Frauen berichten vom Kinderkriegen«: »Schon drei Wochen, nachdem der ›Grundstein‹ zu Robert gelegt worden war, fühlte ich, daß ich schwanger war. Die Brüste wurden heiß und größer, meine Haut wurde weich.« (Reim, 1984, 146) »Schwangerschaft … die große Veränderung in meinem Leben! Die Regel bleibt aus, Spannungen in den Brüsten …« (ebd., 104) »Mit viel Ruhe … nahm ich die ersten körperlichen Veränderungen wahr. Meine Brüste wurden größer und häufig war mir übel. Vor allem konnte ich sehr viel schlafen …« (ebd., 162)

Im ersten Beispiel ist wieder von dem Gefühl schwanger zu sein die Rede, und von veränderten Empfindungen der Haut, im zweiten und dritten von der großen Veränderung, auch durch ein anderes Schlafverhalten; in allen Zitaten werden Wandlungen an den Brüsten thematisiert. In einem 456

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weiteren Bericht erfahren wir von einer Frau, die zu Beginn ihrer Schwangerschaft ein gesteigertes Körperbewusstsein, positive Veränderungen ihrer Stimmungslage und auffällige Modifikationen bei Essgelüsten erlebt: »Ich lauschte in mich hinein und spürte in jeder Zelle meines Körpers, daß etwas Besonderes in mir vorging. Es machte mich einfach stark. … Mein ganzer Körper war sensibilisiert, meine Gedanken liefen in neuen Bahnen, die starke formale Seite meiner Persönlichkeit hatte Grund, ihre feste Position aufzugeben. Ich fühlte, wie mich Wohlbehagen und Wärme durchströmten. Es machte mich glücklich und stolz zugleich, daß ich etwas erlebte, was niemand ansprechen konnte und somit hatte ich die Ruhe und das Glück, ungestört genießen und in mich hineinhorchen zu können. Gleichzeitig machte sich die Furcht vor dem Entdecktwerden breit. … Ich lebte aus der Situation heraus, nahm meinen Körper viel bewußter wahr. Heißhunger, Appetitlosigkeit, Übelkeit wechselten. Der Verdauungsapparat funktionierte plötzlich zuverlässig. Meine Entscheidungsfreudigkeit wuchs. Arbeiten erledigte ich konzentriert und mit Erfolg.« (ebd., 10)

Die berühmten Essgelüste von Schwangeren sind ein noch kaum empirisch evaluiertes Phänomen: Sie werden gelegentlich während der Schwangerschaft (und häufig auch infolge der Diätkultur in unserer Gesellschaft) erlebt, aber es gibt im Volksglauben auch die Rede vom Verlangen nach Saurem (Gurken, Hering) als typisches ›Symptom‹ einer Schwangeren, und es wird der Schwangeren – nicht nur damit – eine Legitimation zur Stillung besonderer Essgelüste zugestanden. Wenngleich es wohl in keiner Kultur die Vorstellung gibt, eine Schwangere müsse doppelt so viel essen wie eine Nicht-Schwangere, so wird doch ein zusätzlicher Ernährungsbedarf meist nicht abgestritten, und man kann davon ausgehen, dass z. B. Schwangere armer Familien sich in früheren Zeiten ab und zu einmal richtig ›satt‹ essen durften, wenn sie Ernährungsbedarf über Essgelüste geltend machen konnten. Bei den Essgelüsten mag es sich durchaus um ein soziokulturell gesteuertes Phänomen handeln, z. B. hinsichtlich Ernährungsbzw. Nahrungsmangelzuständen, das im intra- und interkulturellen Bereich eigens erforscht werden müsste. Veränderte Essgelüste werden heute unter den leiblichen Regungen einer Schwangerschaft zwar immer wieder erwähnt, ihre Häufigkeit tritt jedoch gegenüber anderen Phänomenen deutlich zurück. Neben Veränderungen an den Brüsten werden als erste Regungen während der Schwangerschaft auch Erfahrungen am Unterleib beschrieben, wie sie oben bei noch nicht medizinisch bestätigten Schwangerschaften kurz thematisiert wurden. Nach einer ›planmäßigen‹ Zeugung wird bei Reim (1984, 186) berichtet: »Ich bemerkte bald in der rechten Bauchseite ein Ziehen, das ich nicht kannte.« Das »Ziehen« drängt sich auf, zeigt eine 457 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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unbekannte Veränderung an. In Schilderungen, die sich auf den Unterleib beziehen, wobei oftmals gleichzeitig Sensationen an den Brüsten festgestellt werden, ist vielfach von einem »Zucken«, »Zwicken« oder »Ziehen« die Rede, wie in folgenden Beispielen: »Ich weiß seit 1 Woche, dass ich in der 6. SSW bin. Habe seit ein paar Tagen so ein Zwicken und Ziehen in der Gegend um den Bauchnabel. Ist das normal? Das ist meine erste SS, deshalb ich etwas unsicher. Habe außer dem Zwicken und Zucken, nur Probleme mit leichten Brustschmerzen.« (»Elli«, Forum »Hurra, ich bin schwanger!«, www.eltern.de, 12. 12. 2001, 15:59)

Es mag dahingestellt bleiben, ob das Wissen um die Schwangerschaft eine erhöhte Sensibilität für Veränderungen begünstigt bzw. ob Schwangerschaft überhaupt heute zu etwas so Besonderem wird, dass leibliche Regungen mit Akribie verfolgt werden, jedenfalls wird Sorge und Unsicherheit über ein Empfinden artikuliert, das die Kontaktaufnahme mit dem Forum herbeiführt. Es gehört zur Dynamik von Kommunikationsabläufen in Internetforen, dass solche Äußerungen bestätigt werden. So erhält »Elli« folgende Antwort: »Ich habe diese Stiche um den Bauchnabel ebenfalls und zusätzlich noch an den Seiten ab und zu ein Ziehen. Das kommt davon dass Deine Gebärmutter wächst. Alles in Ordnung. Ich habe diese Frage ebenfalls mal hier im Forum gestellt und sehr schnell haben mir viele geantwortet, die dieses Problem auch haben. Mein FA [Frauenarzt, UG] sagt auch es ist normal. – Also – mach’ Dir keine Sorgen!« (»Petra & Krümel«, ebd., 12. 12. 2001, 18:41)

Hier ist von Stichen um den Bauchnabel die Rede, also von einer epikritisch gespürten Regung, von einem recht klar differenzierten, kurzen Spüren örtlich begrenzter Stellen des Leibes, die sich in einem spitzen Hof momenthafter Rührung mit einem Richtungsimpuls, vielleicht Schmerz, bemerkbar machen. »Stiche um den Bauchnabel«, vergleicht man sie mit von außen auf die Haut einwirkenden Nadelstichen, haben immer eine Richtung, in die der Schmerz nach dem »Einstich« gleichsam ›hinläuft‹, ›diffundiert‹ oder auch ›strömt‹ bzw. ›zuckt‹. Bei Stichen in die Haut handelt es sich auch um das Erleben einer deutlichen Grenze, da mag gar ein zerfasernder ›Punkt‹ der Hautoberfläche des Körpers, ein winzig kleiner Herd plötzlich zu spüren sein. Die bekannten Stiche am Bauch einer Schwangeren sind dagegen von breiterem Raum und betreffen nicht die Körperoberfläche; sie werden unter der Haut, zwar im Inneren der großen Leibesinsel Bauch, aber doch an ihrem nach außen gewandten Raum gespürt. Das erwähnte Unterleibsziehen ist dagegen von etwas anderer Art, weil es – in der Schmitzschen Terminologie – weniger epikritisch, aber 458

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auch nicht protopathisch ist. Das Unterleibsziehen ist dumpfer, im Leibraum breiter und wird als langsamer wahrgenommen; dennoch ›zieht‹ da etwas, und ›zuckt‹ nicht, wie beim Stich, und zwar ›zieht‹ es von einer Stelle an die andere, ist also von klarer Richtung und wird darin erst richtig in seiner Breite gespürt. Auf die Frage nach der Art des Unterleibsziehens einer ›unbestimmt‹ Schwangeren, die ein »Stechen und Zwicken mal links, mal rechts« feststellt, »Test wäre noch zu früh und sonst merke ich auch nichts« (»Mirjana«, ebd., 11. 12. 2001, 12:31), antwortet eine Schwangere: »Also bei mir war das ziehen auch mal links mal rechts und an anderen Tagen als würde jeden Augenblick meine Regel einsetzen. Ich hatte halt zusätzlich noch eine sehr empfindliche Brust. Und mehr Ausfluss als sonst. Mehr hab ich eigentlich nicht gemerkt.« (»Silke«, ebd., 11. 12. 2001, 13:58)

Deutlich spricht diese Frau die Ähnlichkeit zwischen ihren Empfindungen beim Schwangerschaftsbeginn und in der prämenstruellen Phase aus. Neben der Sensibilisierung der Brüste wird das Ziehen im Unterleib thematisch, das sich sowohl regional an den Körperhälften differenziert als auch die Insel als Ganze durchzieht. Eine andere Frau schreibt: »… es war ein leichtes Ziehen auf beiden Seiten und ein ›dumpfes‹ Gefühl. Als würde irgendwas an den Eierstöcken ziehen. Kein wirklicher Schmerz. Allerdings hatte ich sehr gespannte, schmerzende Brüste« (»D.«, ebd., 11. 12. 2001, 14:18)

Die Versprachlichung des Phänomens verweist auf die früher angeführte Verquickung von Spüren und anatomischer Interpretation, zunächst durch Beschreibung leiblicher Regungen von sowohl eindeutig regionaler als auch diffuser Natur, dann mit Referenz zum naturwissenschaftlichen Körpermodell. Von den Ovarien wissen wir, wo sie im Unterleib lokalisiert sind, aber gespürt werden sie nicht, und das zeigt die sprachliche Wendung »als würde« deutlich an, denn es wird in einen Vergleich übergegangen: Das Ziehen und das dumpfe Gefühl bekommen dadurch aber einen naturwissenschaftlichen Referenten, worauf übrigens in freien Berichten sehr häufig Wert gelegt wird. Wie in anderen Beispielen werden Regungen am Unterleib aufgeführt, die sich zwar aufdrängen, aber meist nicht schmerzhafter Natur sind, während die Erfahrungen an den Brüsten mit Schmerzen verbunden sein können, die meist aus ihrer Gespanntheit resultieren. Auch wenn Schwangere bereits vor dem ›Signal‹ des Ausbleibens der Menstruation häufig von spürbaren Veränderungen berichten, die insbesondere die Brüste, aber auch den Unterleib sowie Stimmungen und gelegentlich Essgelüste betreffen, so sollten solche Erfahrungsbeschreibungen aber nicht darüber hinweg täuschen, dass viele Frauen dies alles gerade 459

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

nicht spüren, dass also eine Schwangerschaft auch völlig unbemerkt beginnen kann.

12.4 Ausbleiben der Menstruation Auffälliger Beweis für eine Veränderung des Leibes ist in unserer über Fortpflanzung aufgeklärten Kultur das Ausbleiben der Menstruation. Dieses Phänomen hat, wie die Menstruation selbst, den Charakter einer leiblichen Autorität, diesmal ex negativo. Es drängt sich durch Abwesenheit auf, ist Anlass für Sorge und Erklärungsbedarf oder für Hoffnung und den Wunsch nach Bestätigung des Erhofften. In Menstruationszyklen stehende Frauen leben in einer Leibesrhythmik, entwickeln ein Gefühl dafür und wissen, gestützt z. B. durch Kalenderführung oder geschientes Spüren meist, wann ›in etwa‹ eine Menstruation zu erwarten ist. Ob nun in Form von besonderer Aufmerksamkeit auf den Körper oder Inanspruchnahme medizinischer Dienste, die Frau nimmt eine anhaltende leibkalendarische Unregelmäßigkeit nicht ohne weiteres hin, sondern gerät in Unruhe und/ oder Furcht vor bzw. Hoffnung auf Schwangerschaft. Für die in Fortpflanzungsdingen unwissenden Frauen der frühen Neuzeit war das Ausbleiben der Menses Indiz für Irritation, ja Krankheit, ein »stockend Geblüth«, eine »böße Versamblung« im Leib, ein »widernatürlicher Zustand«. Heilkundige sollten die »Stockung des Geblüths« beseitigen, die »Fortsetzung der Purification« besorgen und »das Geblüth« wieder in Gang bringen (Labouvie, 1998, 16 f.). Heute wird das Ausbleiben der Menstruation sogleich mit Schwangerschaft in Verbindung gebracht und evoziert mit Tendenz zur Steigerung, je länger es dauert, verschiedene Erregungszustände von Freude über ein gewünschtes Kind bis hin zur Angst vor einem ungewollten Kind und, in beiden Fällen möglich, Sorge, Angst und Panik vor der mit Unwägbarkeiten behafteten personalen und leiblichen Situation. Die medizinisch schnell zu erreichende Gewissheit über eine Konzeption, ja die sonographisch zu ermöglichende referentielle Sichtbarkeit des in den Leib eingekehrten Organismus wirkt auf diese ambivalenten Regungen ein und stellt die Schwangere lange bevor sie ihren Zustand leiblich erfasst (abgesehen von den bereits beschriebenen Phänomenen) vor seine biologische Tatsächlichkeit und sogleich in einen breiten Nexus exigenter Nötigungen, die je nach persönlicher Situation mit unterschiedlichen Gefühlsqualitäten behaftet sind. Möglicherweise drängt sich mit dem anhaltenden Ausbleiben der Menstruation der Leib der Schwangeren mit diversen Unpässlichkeiten 460 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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auf, mit Erbrechen, Schwindel, Rückenschmerzen, Blutungen und anderen Komplikationen bis hin zum natürlichen Abort. Es gibt aber viele Schwangere, die in keiner Weise von solchen leiblichen Regungen betroffen sind, sondern die Schwangerschaft weitgehend frei von körperlichen Einschränkungen der genannten Art erleben oder sich in ihrer leiblichen Gesamtverfassung sogar deutlich verbessern. Mit der Gewissheit darüber, schwanger zu sein, setzen auch Reflexionen über den veränderten körperlichen Zustand und die Auswirkungen auf die persönliche Zukunft ein. Lange bevor überhaupt etwas am Körper sicht- und tastbar oder in vielen Fällen auch leiblich spürbar wird, ist die Schwangere mit dem Ungeborenen als Teil ihrer Lebensplanung konfrontiert. Ist die Schwangerschaft ungewollt oder ungeplant, richten sich Entscheidungsprozesse darauf, ob das Kind angenommen wird oder nicht, bzw. wie dem körperlichen Fakt schließlich begegnet wird. Ganz gleich, wie diese Entscheidung ausfällt, das Schwanger-Sein lässt sich nicht durch einen Entschluss des Willens rückgängig machen, es ist geschehen und kann freudig begrüßt, widerwillig oder gelassen akzeptiert oder mittels eines körperlichen Eingriffs beendet werden. Zuweilen beendet es sich selbst. Wird die Schwangerschaft akzeptiert, so bleibt sie meist nur kurze Zeit eine persönliche, individuelle Angelegenheit des eigenen Leibes. Sie ist in vielen Fällen zuerst Thema im Arzt-Patientin-Verhältnis, wenn die Schwangere das Ausbleiben der Menstruation anzeigt und um Diagnose bittet, sie wird dem Partner und/oder im privaten Kreis mitgeteilt und aufgrund der Anzeigepflicht beim Arbeitgeber rasch einer ferneren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Wenngleich eine Schwangerschaft meist von Paaren durchlebt wird und heute von einer gesellschaftlichen Veränderung hinsichtlich der Einbeziehung der Väter in den Schwangerschaftsverlauf auszugehen ist (z. B. in Geburtsvorbereitungskursen für Eltern) und man im Scherz sagt »wir sind schwanger« oder »wir kriegen ein Kind«, so bedeutet das für die Frau, die das Kind im eigenen Leibe austrägt, doch etwas ganz anderes als für den mitfühlenden Mann. Bei ersten Schwangerschaften begleitet häufig eine gewisse Irritation über den leiblichen Vorgang die Reflexionen. Fiona Shaw (1998, 18 f.) schreibt: »Am ersten Tag, nachdem wir entdeckt hatten, daß dieses neue Leben entstand, saß ich in der Julisonne in unserem Garten, betäubt, als hätte mir jemand einen Schlag verpasst, der eher meinem Herzen und meinem Denken gegolten hatte als meinem Körper. Ich wollte schwanger sein, von Hugh ein Kind haben. Aber ich konnte kaum glauben, daß jetzt eine unaufhaltsame Reise angebrochen war. Wenn alles gutging, würde im Frühling ein Mensch zur Welt kommen, der mich nur als Mutter kennen würde. In gewissem Sinne würde dann auch mein Leben neu beginnen.

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Über jede andere Identität hinaus würde die Mutterschaft meine tägliche Wirklichkeit sein.«

Das angesprochene Numinose, mit dem eine Schwangerschaft die Frau konfrontieren kann, wird deutlich als Erfahrung reflektiert, die nicht den Körper als solchen betrifft, also die nackte Tatsache der Gravidität, mit der ein weiblicher Körper selten wirklich Probleme hat, sondern das Gefühlsleben und das Denken. Das Kind war in diesem Beispiel gewünscht und doch kann sie »kaum glauben«, dass mit dem Wunsch und der Tatsache seiner Realisierung etwas stattfindet, das sie in die Zukunft vorauslaufend als Menschen, mit Herz und Verstand, verändern wird und schon verändert hat. Die Schwangerschaft wird als unausweichliche Reise zu Neuem, zu anderer Wirklichkeit thematisch, mit ihr wird das individuelle Leben, »mein Leben« »neu beginnen«. Die Ergriffenheit von dem Wissen um diesen Prozess lässt die Schwangere wie vom »Schlag« getroffen »betäubt« zurück. Solche Reflexionsprozesse über die Neuinkarnierung des Selbst durch Mutterschaft mögen sich vor allem bei Erstgebärenden einstellen, die ohnehin selbstreflexiv ihr Leben schienen. Das mit möglicher Schwangerschaft verbundene Ausbleiben der Menstruation und die rasch erfolgende medizinische Diagnose konfrontieren die durchschnittliche Schwangere aber auch insofern mit ihrem veränderten Zustand, als er medizinisch von vorneherein überwacht wird, lange bevor er leibliches Erlebnis und ohne technisches Gerät sicht- und tastbar geworden ist. Die Enteignungspraxis in der medizinischen Überwachungstechnologie fordert einerseits geradezu einen Aneignungsprozess qua Reflexion heraus und gibt ihm andererseits durch sonographische Verbildlichung neue, veräußerlichte, von medizinischer Technik abhängige Referenten. Die Pathologisierung der Schwangeren durch die gynäkologische Praxis hat die Erfahrung von Schwangerschaft und Geburt erheblich verändert. Die Schwangere ist heute per se Patientin und nicht erst dann, wenn Probleme auftreten; sie sitzt im ärztlichen Wartezimmer neben Frauen, die wirklich, vielleicht sogar lebensgefährlich erkrankt sind; sie führt wie Schwerkranke, auf Medikamente eingestellte Patienten, ihren »Mutterpass« mit sich und muss etliche auch schmerzhafte Untersuchungen über sich ergehen lassen; sie lässt sich wie zu einer unausweichlich gewordenen Operation ein Bett im Krankenhaus reservieren; sie lässt sich ›entbinden‹. Sie ist also in einen breiten Interaktionsradius mit der Autorität des medizinischen Systems gestellt und wird schon von daher mit einem Konglomerat von Vorstellungen konfrontiert, das sie von ihrer Schwangerschaft entfremdet bzw. sie zu etwas Außergewöhnlichen, auch Künstlichen, technisch Vermittelbarem werden 462 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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lässt. Dass diese gesellschaftliche Praxis individuell sehr unterschiedliche Resonanz hat, zeigt Martin (1989), indem sie signifikante, z. B. schichtspezifische Verschiedenheiten im Umgang mit der Verwissenschaftlichung der Gravidität und der Konsultation der gynäkologischen Sprechstunde eruierte. Es bleibt aber Tatsache, dass das medizinische Wissen um die Fortpflanzungsprozesse im kollektiven Gedächtnis verankert ist und eine Schwangerschaft unter heutigen Lebensbedingungen, also nach dem weitgehenden Zusammenbruch der patriarchalischen Familie, erhebliche Konsequenzen für die persönliche Lebensgestaltung, z. B. für das Berufsleben hat. Frauen müssen unausweichlich mit dem Ausbleiben der Menstruation die Frage nach einer möglichen Schwangerschaft stellen und haben sich mit einer positiven ›Diagnose‹ auseinander zu setzen. Die objektive Tatsache der Schwangerschaft, angezeigt durch Verfärbung auf dem Schwangerschaftsteststreifen und/oder medizinischen Befund, ist aber in den meisten Fällen noch nicht zu einer subjektiv manifest spürbaren geworden. Das Ausbleiben der Menstruation bleibt eine Erfahrung ex negativo, das »Esblutet-nicht-mehr« bzw. das »Ich blute nicht mehr« findet statt, das Bluten wird nicht erlebt, aber an seine Stelle ist auch gewissermaßen noch nichts anderes Spürbares getreten. Die schnell erreichte ›Diagnose‹ Schwangerschaft mag deshalb u. U. gerade eine pointierte Beschäftigung mit dem sich in Veränderung befindenden Körper provozieren. Die Erkenntnis einer eingetretenen Schwangerschaft hat durch diesen Wissenskontext zwei konkrete lebenspraktische Konsequenzen. Zum einen weiß die Frau, dass sie nun für einen ziemlich langen Zeitraum, neun bis zehn Zyklen, nicht menstruieren wird. Zum anderen weiß sie, dass sie nicht mehr verhüten muss. Dieses Wissen wird ihr nicht von ärztlicher Seite, schon gar nicht bei einer gynäkologischen Erstuntersuchung vermittelt, denn man sagt der Frau nicht, dass sie nicht mehr menstruieren wird oder nicht mehr verhüten muss (allenfalls, dass sie die Pille absetzen oder das Pessar entfernen muss, um das Kind nicht in Gefahr zu bringen), sondern dass sie schwanger ist. Das, was also, vor allem im Falle der Menstruation, der Frau subjektiv auffällt, nämlich ihr Ausbleiben, wird in der Diagnosesituation nicht thematisch. Es wird in Reflexionsprozessen erkannt, z. B. wenn die Schwangere sich darüber klar wird, dass sie für viele Monate keine Hygieneartikel bereit zu halten hat, dass sie ihre Tampons oder Binden aus ihrer Handtasche, ihrem Koffer, aus ihrem Badezimmer entfernen kann bzw. sich nicht darum kümmern muss, dass sie sich jederzeit zum Schwimmen verabreden kann, ohne Vorkehrungen treffen zu müssen etc. 463 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

Bei der sexuellen Praxis fallen die lebenspraktischen Veränderungen in dieser Anfangsphase der Schwangerschaft je nach der Art des vorangegangenen Umgangs mit der Fertilität unterschiedlich aus. War ein Kind gewünscht und geplant, so war zuvor eine Verhütungsstrategie bewusst ausgesetzt worden, also eine Lebenspraxis, mit der heute vernünftigerweise jede auf Penetrationen gerichtete sexuelle Beziehung von ihrem Beginn an gestaltet wird, ob nun individuell oder gemeinsam mit einem Partner. Sexualität mit gewünschter Zulassung der Befruchtung mag für viele Frauen – und auch Männer – durchaus befreiend sein; die ›Pille‹ kann abgesetzt werden, das Kondom muss nicht mehr umgelegt werden, die Temperatur nicht mehr gemessen, das Vaginalsekret nicht mehr untersucht werden, der Fertilitätscomputer nicht mehr mit Daten gefüttert werden, die Fruchtbarkeit ist mit einem Male nicht mehr Problem mit Beanspruchung von Lebenszeit, sondern Chance. Die Sexualität mag sich unter diesen Bedingungen nach der medizinisch bestätigten Befruchtung, die dem Liebesakt nicht mehr die bestimmte Note eines Empfängnis- bzw. Zeugungswunsches gibt, auch wiederum verändern. Von anderer Art sind solche Erfahrungen, wo es trotz Verhütung zu einer Schwangerschaft kommt und die Frau sich mit einem Male nicht mehr mit dem Problem der Verhütung konfrontiert sieht, sondern z. B. mit der Möglichkeit einer Abtreibung. Wird das Ungeborene akzeptiert, mag sich die Sexualität ebenfalls verändern, weil z. B. eine vorher bestandene Angst vor der Schwangerschaft irrelevant geworden ist und Verhütung als Körperpraxis entfällt.

12.5 Allgemeinbefindlichkeit und Stimmungslagen Wenn Frauen von ihrer beginnenden Schwangerschaft berichten, ist nicht nur vom Ausbleiben der Menstruation, von relativ örtlichen Leiberfahrungen wie veränderter Brustempfindlichkeit, Unterleibsziehen, Übelkeit etc. die Rede, sondern auch von Modifikationen der allgemeinen Befindlichkeit und von ergreifenden Stimmungen. Zu den häufig beschriebenen Wandlungen der Allgemeinbefindlichkeit gehören Mattheit, Müdigkeit, Schlaffheit, Schläfrigkeit, Antriebs- und Aktivitätsarmut, Schwitzen. So finden wir z. B. Aussagen wie: »Seit ich schwanger bin, könnte ich dauernd nur schlafen.« (Reim, 1984, 22) oder auch Beschreibungen, in denen Müdigkeit und Übelkeit in Verbindung auftreten: »Im Augenblick geht es mir nicht gut. Mir ist ewig schlecht und ich könnte den ganzen Tag schlafen, schlafen, schlafen. Zu Aktivitäten kann ich mich nicht aufraf-

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fen.« (ebd., 134 f.) »Das morgendliche Aufstehen klappte nur mit nie gekannter Anstrengung. Mein morgendliches Übelsein ließ sich auch nicht mit Frühstück im Bett beheben. Jeden Morgen mußte ich so lange würgen, bis selbst keine Galle mehr kam …« (ebd., 135)

Neben Umschwüngen in der Allgemeinbefindlichkeit und regionalen Schmerzempfindungen treten in einigen Fällen Änderungen bei den Stimmungslagen auf. Im folgenden Beispiel wird von einem »Tief« gesprochen, das auf Gefühlsqualitäten verweist: »Ich habe in der letzten Zeit häufig Rücken- und Bauchschmerzen, glaube auch, irgendein Tief zu haben. … Vielleicht mache ich mir auch zu viele Gedanken – aber kann man sich überhaupt zu viele Gedanken machen? Eigentlich kann ich an gar nichts anderes mehr denken als an mein Kind.« (ebd., 84)

Hier spielen Prozesse der Auseinandersetzung mit dem Schwanger-Sein und der individuellen sowie der gesellschaftlichen Situation ebenso eine Rolle wie Sorgen um das Ungeborene. Bei diesen Gefühlen handelt es sich um komplexe Bedingungsgefüge mit einem großen Spektrum zu berücksichtigender Faktoren, auch im Rahmen des gendering. Die Variationsbreite liegt in ihren beiden Extremen sicher zwischen Verzweiflung, etwa bei ungewollter Schwangerschaft einer Minderjährigen, und Euphorie, wenn eine heiß ersehnte Schwangerschaft ›endlich‹ eingetreten ist und jedes Zeichen, auch ein unangenehmes, begrüßt wird. Im Rahmen einer Phänomenologie weiblicher Leiberfahrungen sind vor allem die Gefühlsdispositionen von Bedeutung, also Konstellationen von Gefühlen oder Gefühlsveränderungen, die sich im Zustand der Schwangerschaft vom Leibe her aufdrängen. Dass darin auch Elemente auftauchen, die mit den körperlichen Gegebenheiten, dem Selbstwertgefühl etc. zusammenhängen, zeigt ein Beispiel bei Fröhlich (1998, 160): »Die gesamte Schwangerschaft war für mich eher enttäuschend. … Aufgegangen bin ich wie ein größenwahnsinniger Kreppel, und Pickel habe ich bekommen, als wollte ich mich in die Pubertät zurückbeamen. Ein richtiger Akneschub. Wenn da was geblüht hat, dann die Pusteln. … Von andauerndem Sodbrennen, so ab der 20. Woche, und Krampfadern gar nicht zu reden. Nächtliche Wadenkrämpfe und ständig eine gefüllte Blase waren noch die harmloseren Begleiterscheinungen. Richtiggehend verflucht habe ich das Ungeborene, meine Claudia, als ich das erste Mal eine völlig neue körperliche Schwäche an mir entdeckte: Hämorrhoiden. Kleine Geschwülste. Hügelige Knubbel im Pobereich. Am After. Krampfadern im Hintern. Da hat es mir wirklich gereicht. Dazu der Watschelgang und mein ständiges Schwitzen. Nicht zu vergessen die ersten 3 Monate; in denen mir fast ständig schlecht war.«

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Die Magenschwierigkeiten hat die Protagonistin Andrea ebenso gehasst wie »die zahlreichen Wasserdepots« im Körper, vor allem in den Beinen, so »daß ich in jedem beliebigen Seniorenwohnheim eine Spitzenreiterposition eingenommen hätte – wenn es um die Ödemgröße ginge« (ebd., 161). Witze über ihre Zehen, die wie »feiste Cocktailwürstchen« ausgesehen hätten, konnte sie nur schwer ertragen: »Diese Art der Witze hat mich jedenfalls eher zum Heulen gebracht. Das war sowieso das einzige, was ich richtig ausgiebig konnte in meiner Schwangerschaft: Weinen.« (ebd.) In diesem Beispiel fällt auf, wie stark das Geschehen an Körper und Leib in das Bewusstsein der Schwangeren eingedrungen ist, ja wie stark die Schwangerschaft als ein enttäuschender Ausnahmezustand mit unverfügbaren Unannehmlichkeiten erlebt wird. Die Frau ist nicht mehr »Herr« ihres Körpers und hat sich völlig Unerwartetem (wie z. B. Hämorrhoiden) zu stellen, das in einzelnen Komponenten (z. B. Übelkeit) durchaus, ökonomisch ausgedrückt, zur Verminderung der Arbeitskraft führen kann. Mit den ungewohnten Prozessen am Körper verändert sich die leibliche Gesamtkonstitution, wobei das Empfinden von Aufgedunsenheit und der »Watschelgang« Phänomene sind, die sich allmählich aufdrängen und dann dauernd im leiblichen Empfinden mitanwesend sind. Das Ungeborene wird hier als Auslöser »verflucht« und mit ihm der sich verändernde, schmerzende Leib. Hinzu kommt, sicher mitbestimmt durch die narzisstische Kränkung, eine allgemeine Stimmungslage, die häufig als ein Zustand beschrieben wird, in dem es zu ausgiebigem Weinen, oft in Verbindung mit Stimmungsschwankungen kommt: »Bin jetzt in der 6. ssw und meine Stimmungsschwankungen sind enorm .. ich könnte wegen jeder kleinigkeit heulen .. hört das denn garnicht mehr auf???« (»Schneckenmel«, Forum »Hurra, ich bin schwanger!«, www.eltern.de, 10. 12. 2001, 13:51) »Ohhhh das kenn ich, ich bin auch in der 6. SSW und ich motze meinen Freund wegen jeder doofen Kleinigkeit an. Ich könnte immer aus der Haut fahren. Und dann tut es mir so leid, und dann könnte ich wieder heulen. …« (»Steffi«, ebd., 10. 12. 2001, 14:03)

Was hat es mit diesem Weinen auf sich, das Schwangere erwähnen, wenn sie etwa sagen, sie könnten »andauernd heulen« (Reim, 1984, 22)? Weinen ist eine Form affektiver Betroffenheit, in der nach Schmitz (1995, 49) der Mensch aus der entfalteten Gegenwart in die primitive abstürzt, aber den Sturz gleichsam abfängt und ausklingen lässt: »Das personale Subjekt sinkt dann in sein Hier und Jetzt ein, die mit einander und mit ihm verschmelzen, und die Wirklichkeit packt den Betroffenen unmittelbar,

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ohne ihm seine Distanzierungsfähigkeit zu lassen; alle Eindeutigkeit schrumpft auf die Spitze des Plötzlichen zusammen, dem er ausgesetzt ist.«

Nun wird von Schwangeren behauptet, sie wüssten oft gar nicht, warum sie in diesem und jenem Moment weinen würden, da der gegebene Anlass zu gering sei, um eine solche Reaktion zu rechtfertigen. Das manche Schwangere gelegentlich eruptiv anfallende Weinen könnte aus dem Kontext ihrer leiblichen Verfassung verständlich werden, die einen Zustand mehr oder weniger starker, elementarer Betroffenheit impliziert. Wenn der Volksmund sagt, eine Schwangere dürfe man nicht erschrecken, so scheint sich darin ein Wissen um den Zustand der Schwangerschaft auszudrücken, das um diese Betroffenheit kreist. Wenn Schmitz (ebd., 48) ausführt, dass das menschliche Leben sich zwischen primitiver und entfalteter Gegenwart bewegt, »gelegentlich in primitive Gegenwart abstürzend, meist auf einem labilen Niveau personaler Emanzipation über dieser«, so könnte für Schwangere behauptet werden, die Gemengelage dieses »Zwischen« habe sich dadurch verändert, dass sie von Unverfügbarem stärker betroffen sind, dass sie auf das Ungewisse der Geburt hinauslaufen, und dadurch mehr und mehr ihrer sonst verfügbaren »personalen Emanzipation« entfremdet werden. Das ohnehin »labile Niveau personaler Emanzipation« (Schmitz erwähnt viele Erfahrungen aus dem Alltag, wo ein Absturz aus entfalteter in primitive Gegenwart erfolgt) kann im Zustand der Schwangerschaft mehr oder weniger deutlich in Richtung primitive Gegenwart sinken. In dieser Gemengelage kann ein Erschrecken natürlich fatale Auswirkungen haben, die der Volksmund mit dem Abgang der »Frucht«, mit Missgeburten oder Missbildungen etc. in Verbindung bringt. Es ist heute noch üblich, Schwangere vor unangenehmen Eindrücken zu bewahren, weil sie leichter in Zustände affektiver Betroffenheit geraten, die man für Mutter und Kind für schädlich hält. Auch die Schwangere selbst, vor allem die Hochschwangere setzt sich nicht gerne Situationen aus, in denen zu erwarten ist, dass das Niveau personaler Emanzipation aus dem Gleichgewicht gerät. Aus der Tendenz zum Entzug personaler Emanzipationsmöglichkeiten im Zuge von Schwangerschaft und Geburt wird verständlich, warum viele Frauen in modernen Gesellschaften ihren Leib der medizin-technologischen Überwachungsmaschinerie überantworten und die Geburt, ein an sich nicht exakt terminierbares Ereignis, terminieren und sich durch Anästhetika vom bewussten Erleben weitestmöglich entfernen, um den Absturz in primitive Gegenwart zu verhindern bzw. durch weitgehende Ausblendung zu steuern. Die Medizin kann indes mit ihren breit gefächerten Aufklärungsstrategien 467 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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über Risiken auch Abstürze in Richtung der primitiven Gegenwart erst hervorrufen, etwa durch Schüren von Angst und Sorge, was wiederum die Abhängigkeits- und Enteignungsprozesse zwischen der zur Patientin gewordenen Schwangeren und dem medizinischen Establishment stärkt. Das möglicherweise veränderte Niveau personaler Emanzipation im Zustand der Schwangerschaft kann freilich auch andere Formen annehmen als die oben beschriebenen und in unserer Kultur anscheinend häufig auftretenden leiblichen Erschütterungen durch Weinen. Es kann sich in Richtung einer Depression entfalten, in der die Stimmung gewissermaßen stumm, gepresst, niedergedrückt bleibt, sich in die Enge zurückzieht, und nicht, wie beim Weinen, erleichternd nach außen dringt. Eine Frau berichtet, ihr wäre es in den ersten drei Monaten »miserabel« ergangen: »Ich litt unter starker Übelkeit und Depressionen.« (Reim, 1984, 79) Phänomene wie Übelkeit, aber auch Depressionen sind – wenn überhaupt – meist in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten anzutreffen und verlieren sich danach. Es handelt sich oft um Zustände mit raschem Wechsel einzelner Stimmungen und gesteigerter Gefühlsintensität in sowohl positiver als auch negativer Hinsicht: »Die ganze Schwangerschaft über lebte ich sehr intensiv. Ich hatte starke Gefühlsschwankungen und war sehr temperamentvoll. Ich hatte das Gefühl wirklich zu leben und alles schaffen zu können, wenn ich es nur will. Es war ein unheimlicher Lebenswille entstanden.« (ebd., 116)

Eine andere Frau, die, wie die Betroffene weiter oben, durch die Schwangerschaft eine narzisstische Kränkung erlebt, schreibt: »Mir ging es gesundheitlich bestens, aber emotional unterlag ich starken Schwankungen. Einmal himmelhochjauchzend – dann wieder zu Tode betrübt. Je dicker mein Bauch wurde, um so unattraktiver, unbeweglicher fühlte ich mich. Es war das erste Mal, daß ich einen Bauch hatte. … Ich wurde sehr eitel und damit verletzlich. … Im Laufe der Monate wurde ich eifersüchtig auf andere Frauen, die nicht so ›behindert‹ waren, wie ich mich eben fühlte.« (ebd., 147)

Der Wechsel zwischen Euphorie und Depression wird häufig beschrieben, aber die Stimmungslage kann sehr wohl auch ausschließlich positiv sein: »Als ich merkte, daß ich schwanger war, überkam mich ein ausgesprochen euphorisches Gefühl. Ich schwebte ständig auf Wolken. Alle positiven Bezeichnungen wie ›frei‹, ›stolz‹, ›glücklich‹, ›selbstbewusst‹, ›aktiv‹ waren treffend für meinen Zustand. Die kleinen Anflüge von Übelkeit registrierte ich mit Freude.« (ebd., 74)

Dieses Beispiel zeigt freilich – und deshalb sollte mit der These von der größeren Labilität von Schwangeren in Bezug auf den Absturz in primitive 468

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Gegenwart vorsichtig umgegangen werden –, dass eine Schwangerschaft auch zu einer gesteigerten Form personaler Emanzipation führen kann. Die leibliche Anwesenheit wird hier als ein »Auf-Wolken-Schweben« charakterisiert, was darauf hindeutet, dass das »euphorische Gefühl« leiblich seinen Niederschlag findet, indem die Solidität des Körpers weniger stark wahrgenommen wird. In ähnlicher Weise sagen Verliebte, sie »schweben im siebten Himmel«; in dieser Gesamtverfassung fühlt sich der Leib leicht an. Wieder andere Frauen verspüren keine auffälligen Stimmungsschwankungen, sondern eine – immerhin auch bemerkenswerte – Veränderung hinsichtlich der Stabilität ihrer Stimmungslagen. Waren sie vorher eher labil, werden sie während der Gravidität stabil: »Ich fühlte mich stark und gesund, meine Stimmungslage war so stabil wie sonst nie. Mit Stolz vermerkte ich Monat für Monat das wachsende Wölben meines Bauches. Außer einem unbändigen Durst auf Tomatensaft entwickelte ich keine weiteren typischen Schwangerschaftsgelüste.« (ebd., 39)

Doch diese Frau, die später ein Kind mit Down-Syndrom zur Welt bringt, verspürt auch große Angst davor, ein krankes Kind im Leib zu haben. »Je dicker mein Bauch wurde, um so machtvoller wurde die Angst, wuchs mit dem Bauch, still und tief in mir. Geheimgehalten fast vor mir selbst, kroch sie nachts durch die um den Bauch gelegten Handflächen bis in die Fingerspitzen, während sich gleichzeitig meine Gedanken gleichsam beschwörend durch die Bauchdecke bohrten, als könnten sie dort etwas sehen.« (ebd., 40)

Während an sich eine stabile und positive Stimmungslage vorherrscht, kommt es mit fortschreitender Schwangerschaft doch zu Angstzuständen, die in diesem Fall nachts, also zu einer Tageszeit, in der man einen den Leib beschützenden Raum aufsucht, eine gesteigerte Intensität erhalten und bis in die Fingerspitzen, also ganzleiblich ergreifen. Bei den spezifischen Stimmungen bzw. Stimmungsschwankungen der Schwangeren handelt es sich meist um chaotisch-mannigfaltige Zustände mit ambivalenten Strebungen, wie dieses Beispiel bei Reim (ebd., 26) zeigt: »… ich bin zur Zeit schlaff, oft müde, und mich interessiert eigentlich nur die Schwangerschaft und die Geburt. … Oft kann ich es gar nicht fassen, was in mir vorgeht und daß ich bald ein Kind haben werde. Meine Empfindungen sind so intensiv, ich kann es kaum beschreiben. Manchmal fühle ich mich wie besoffen, ich schwebe dahin und nehme nichts um mich herum wahr. Dann wieder bin ich voller Angst, denke, ich würde das alles nicht schaffen … Doch ab und zu bin ich einfach nur glücklich und freue mich sehr, Dich [das Ungeborene, UG] bald zu

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sehen. Jedenfalls bin ich voller Lampenfieber, voller Hoffnungen, Ängste, Freude, Erregungen, Träume, Ungewissheit und Liebe.«

Wichtig scheint hier die gesteigerte Intensität der Empfindungen. Die gesamtleibliche Verfassung wird mit dem Zustand des Betrunken-Seins in Verbindung gebracht wird, also einem Zustand, in dem die leibliche Orientierung im Raum mitunter verloren geht und der Gang schwankt. Auch diese Frau »schwebt dahin«, aber nicht, oder nicht nur, aus Euphorie, sondern anscheinend weil ihre Aufmerksamkeit von der Umgebung abgezogen ist, weil ihre Wahrnehmung verändert, wenn nicht getrübt ist. Wieder andere Frauen verspüren nicht die geringste Trübung ihrer sinnlichen Wahrnehmung, sondern gerade umgekehrt eine gesteigerte Aufmerksamkeit der Sinne: »Als besonders auffallend während der Schwangerschaft empfand ich die überdeutliche Ausbildung aller Sinnesorgane (bis auf die Augen, da bin ich nach wie vor halbblind). Schmecken, Riechen, Hören – das war mitunter erschreckend. Ich hatte auch Phasen, wo ich alles vergaß und sogar Leute verwechselte.« (ebd., 188)

Neben einer präziseren und fokussierten Sinneswahrnehmung spricht diese Frau aber auch von Vergesslichkeit und Erinnerungslücken, also Momenten, in denen die Aufmerksamkeit getrübt ist. Ferner gibt es Beispiele für ein erstarkendes Selbstbewusstsein und ausgesprochen positives leibliches Empfinden, wie etwa Shaw (1998, 19) beschreibt: »Ich genoß meine Schwangerschaft. Mein Haar war dicker und glänzender, meine Energie unerschöpflich. Mein Appetit war grenzenlos, außer bei Blumenkohl, grünem Salat, Pinienkernen, Hühnerleber, Kaffee, Whisky … und Rosinen. All diese Dinge lösten bei mir Brechreiz aus. In der Schwangerschaft trug ich meist schwarze oder gelbe Latzhosen und feste Leinenschuhe und marschierte herum, als wollte ich allem und jedem die Stirn bieten. Es gab nichts, wozu ich mich nicht fähig fühlte. Ich saß an meinem Schreibtisch und arbeitete an einer Dissertation, die nie und nimmer vor dem Baby fertig würde, mit der einen Hand auf dem Bauch, während ich mit der anderen in Büchern blätterte.«

Wenngleich es neben sogenannten Essgelüsten auch ausgesprochene Essabneigungen gibt, wie im Falle Shaws, ist der Eindruck, den Shaw von ihrer leiblichen Verfassung gibt, im Ganzen positiv und gesund. Ihr Selbstvertrauen ist erstarkt, keine Tätigkeit, auch die Teilnahme an und die Beaufsichtigung einer Hausrenovierung scheint, wie wir erfahren, die Schwangerschaft zu behindern. »Je hektischer mein Leben wurde«, schreibt sie (ebd., 20), »desto ruhiger und stärker war ich selbst.« In der Schwangerschaft fühlt sich Shaw deutlich besser, willensstärker, kräftiger als im nicht-schwangeren Zustand. 470

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Das Spektrum möglicher Erlebnisformen bei Allgemeinbefindlichkeiten und Stimmungslagen ist, wie dargelegt, ausgesprochen vielschichtig und nicht zu verallgemeinern, da jede Schwangerschaft individuell und situativ verschieden verläuft. Darin wirken sich die gesellschaftlichen Prozesse des gendering aus, jetzt außerdem neben der Stereotype »Frau« die der »schwangeren Frau«, z. B. bezogen auf das Selbstwertgefühl, so dass das Schwanger-Sein durch einen Zuwachs von Stärke und Macht oder aber durch Einbußen z. B. der sexuellen Attraktivität gezeichnet sein kann. Neben den gerade erläuterten Aspekten bewirkt auch das Ausbleiben der Menstruation Veränderungen in Bezug auf Allgemeinbefindlichkeiten und Stimmungslagen. Die Menstruationen mit ihren Handlungsimperativen, eventuellen Beschwerden und der zyklischen Rhythmik des Leibes setzen mit einem Mal und für einen längeren Zeitraum vollständig aus. Dies hat, je nach dem, wie die Menstruationen zuvor erlebt wurden, großen Einfluss auf das Lebensgefühl der Schwangeren. Hinzu kommt häufig eine Veränderung im sexuellen Erleben. Gleich wie die Verursachung dieser Wandlungen erklärt wird, ob als »Hormonschub«, oder als Auswirkung der Tatsache, dass eine Schwangerschaft nicht zu befürchten, weil bereits eingetreten ist, ob als Resultat einer stärkeren allgemeinen Körperbezogenheit oder anderen Gründen in Zusammenhang mit der Partnerschaft etc. – viele Frauen berichten von einer gesteigerten sexuellen Lust während ihrer Schwangerschaft und leben diese auch aus, wenn nicht Verhaltensregeln wie religiöse Tabus oder medizinische Ratschläge dem entgegen treten.

12.6 Medizinisches Wissen und die Hör- und Sichtbarkeit des Fötus Bis etwa zum dritten Monat ist die Schwangerschaft ein Zustand, der sich der Betroffenen zwar mit allerlei Regungen an Leibesinseln und in Stimmungslagen aufdrängen kann, keineswegs muss, sich aber am sicht- und tastbaren Körper noch kaum aufdrängt bzw. aufgedrängt hat. Die Frauen unserer Kultur wissen mittels medizinischer Diagnostik sehr früh um ihren Zustand und befinden sich aufgrund ihres Wissens auch in einer Erwartungshaltung bezüglich des körperlichen ›Stigmas‹ der Schwangeren: der dicke Bauch. Schwangere berichten häufig zuerst von deutlicher Veränderung der Brüste, die auch sichtbar ist, aber am Bauch tut sich vor allem bei Erstgebärenden in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft noch recht wenig. Es kann allenfalls von wenigen Zentimetern mehr Bauchumfang die Rede sein, so dass eine Veränderung der Kleidung meist 471

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noch nicht erforderlich ist und der Zustand der Gravidität der Öffentlichkeit verborgen bleibt. In den Reflexionen von Schwangeren steht mit der Diagnose ›Gravidität‹ zunächst in erster Linie der eigene Körper und seine Veränderungen, also das »Ich bin schwanger«, im Vordergrund, und noch kaum eine Auseinandersetzung damit, dass im eigenen Leib ein »Du« heranreift, also das »Ich trage ein Kind in mir«. Immer wieder erfahren wir, wie es den Frauen geht, wie sie sich fühlen etc., wobei auffällt, dass viele Aussagen um den Zustand des Schwanger-Seins kreisen, der aber zu diesem Zeitpunkt für die Frau allenfalls als Wissen zur Verfügung steht oder in wenigen spürbaren Veränderungen, aber kaum als Wandlung am sicht- und tastbaren Körper. Der Embryo, der Fötus, das Kind wird zu diesem Zeitpunkt nicht gespürt und folglich spielt er als konkreter Anderer auch kaum eine Rolle, wie es in folgender Aussage deutlich wird: »Dann stand ich doch eines Tages vor der Tatsache, daß ich schwanger war. Die Gefühle, die in mir erwachten, hatten nichts mehr mit den Gedanken gemeinsam, die ich mir vorher, eher vage, zu einer Schwangerschaft gemacht hatte. Von Ruhe, Freude, Erfüllt- und Verbundensein mit dem neuen Leben spürte ich nichts. … Ich bin wie erschlagen und betäubt. … Vielleicht gewöhne ich mich an den Gedanken, bald einen dicken Bauch zu haben, aber an ein Baby denke ich noch nicht. Das geht noch über meine Vorstellungskraft.« (Reim, 1984, 134 f.)

Es wird die ambivalente Situation deutlich, dass eine Frau um ihre Schwangerschaft weiß und sich mit dem Gedanken vertraut macht, bald einen dicken Bauch zu bekommen, aber das Baby noch nicht als etwas damit Verbundenes ins Bewusstsein getreten ist. Es ist der Bauch, um den es geht, und zwar mein Bauch, und nicht das, was im Bauch ist, das Kind, das quasi nur in Wissens- und Reflexionskontexten existiert. Der Bauch wird noch nicht als ›bewohnter‹ Bauch erlebt, ist als Leibesinsel noch völlig fest und integer eingegossen in den Gesamtleib. Dieser Zustand ändert sich radikal, wenn die werdende Mutter zum ersten Mal die Bewegungen des Fötus spürt, erst dann wird das Kind für sie etwas, das nicht nur von ihrem Wissen her, sondern auch erspürbar im Bauch ist. Unsere Medizintechnologie ermöglicht es jedoch, dass das Kind zu einem Zeitpunkt, wo es noch nicht zu spüren ist, doch schon sichtbar gemacht werden kann. Die medizinische Forschung vermag heute zu dokumentieren, in welcher Phase der Schwangerschaft welche Entwicklungen am Fötus, an Plazenta, Nabelschnur und Fruchtblase erfolgen; sie hat die Schwangerschaft bis ins Detail nicht nur nachbuchstabierbar, sondern auch sichtbar, durchsichtig gemacht. Wir kennen die faszinierenden Fotographien – und mittlerweile 472

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auch Videosequenzen – von Daumen lutschenden Föten; wir können quasi für jeden Moment sagen, was passiert und die ganze Schwangerschaft hindurch dieses Wissen präsent haben. Das hat Oriana Fallaci z. B. in dem »Brief an ein ungeborenes Kind« beschrieben. Sie (1979, 26) spricht mit dem Fötus und erklärt ihm sogar die Prozesse seines körperlichen Entstehens: »Dein Universum ist das Ei, in dem du seit sechseinhalb Wochen zusammengekauert, fast ohne Gewicht schwebst. Man nennt es den amniotischen Sack, und die Flüssigkeit, mit der er angefüllt ist, besteht aus einer Salzlösung; ihre Aufgabe ist es, dir den Kampf mit der Schwerkraft zu ersparen, dich vor Stößen zu schützen, die von meinen Bewegungen kommen, und schließlich auch, dich zu ernähren. Bis vor vier Tagen war sie sogar deine einzige Nahrungsquelle. Durch einen äußerst komplizierten und fast unbegreiflichen Prozess hast du einen Teil davon geschluckt, einen andern absorbiert, wieder einen andern von dir gegeben und einen neuen produziert. Aber seit vier Tagen bin jetzt ich deine Nahrungsquelle: mittels der Nabelschnur. In diesen Tagen ist so viel geschehen: ich bin ganz begeistert und voller Bewunderung für dich, wenn ich daran denke.«

Mit Hilfe des medizinischen Wissens wird eine Beziehung aufgebaut, und die Autorin (ebd., 26 f.) verweilt immer wieder vor dem Wunder des Geschehenen: »Du weißt bereits, ob du ein Mann oder eine Frau sein wirst. Am meisten entzückt mich aber, daß deine Händchen schon da sind, mein Kind. Man kann deine Finger gut erkennen. Und du hast jetzt auch einen kleinen Mund: mit richtigen Lippen! Und den Ansatz einer Zunge. Du besitzt die Kavitäten für zwanzig Zähne. Und hast Augen. Winzig wie du bist, nicht einmal eineinhalb Zentimeter groß, und so leicht, nicht einmal drei Gramm schwer, hast du schon Augen! Es kommt mir unfaßbar vor, daß sich all diese Dinge innerhalb weniger Wochen ereignet haben. Wie unwirklich.«

Fallaci gibt sich aber nicht mit Bücherwissen allein zufrieden, sondern beschäftigt sich, ihre Schwangerschaft meditierend, auch mit Fotographien aus der Fruchtblase. »Ich habe die Fotografie ausgeschnitten, die dich im Alter von genau zwei Monaten zeigt: dein Gesicht in Großaufnahme, in vierzigfacher Vergrößerung. Ich habe sie an die Wand geheftet, und hier vom Bett aus sehe ich sie mit Bewunderung an: gebannt von deinen Augen. Sie sind so groß im Verhältnis zu deinem übrigen Körper, so weit offen. Was sehen sie? Nur das Wasser und sonst nichts? Die Gefängniswände und sonst nichts? Oder das, was auch ich sehe? Eine wundervolle Ahnung macht mich ganz wirr: die Ahnung, daß sie durch mich hindurchsehen. Es tut mir leid, daß du sie bald schließen wirst. Am Lidrand bildet sich eine klebrige Substanz, die in wenigen Tagen die beiden Ränder zusammenfügen wird, um die Pupillen zu

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schützen, während sie ihr endgültiges Aussehen bekommen. Bis zum siebten Monat wirst du deine Lider nicht wieder öffnen. Zwanzig Wochen lang lebst du in völliger Dunkelheit. Wie schade!« (ebd., 39 f.)

In dieser Weise vom medizinischen Wissen um das Körperinnere durchdrungen, begleitet die Autorin ihr Ungeborenes mit Gesprächen und macht sich eine vermittelte Vorstellung von seinem Äußeren, seiner Entwicklung etc. Wie der Titel des Buches andeutet, verliert Fallaci das Kind und schwebt vorübergehend in Lebensgefahr. Sie besteht darauf, das tote Ungeborene zu sehen und erfährt eine schockierende Ernüchterung: »Über mir ist eine weiße Zimmerdecke und neben mir in einem Glas bist du. Sie wollten nicht, daß ich dich sehe, aber dann überredete ich sie doch, indem ich ihnen sagte, ich hätte ein Recht darauf, und so haben sie dich hierhergestellt. Dabei haben sie mißbilligend das Gesicht verzogen. Endlich sehe ich dich. Und fühle mich zum Narren gehalten, denn du hast wahrhaftig nichts gemein mit dem Kind auf der Fotografie. Du bist kein Kind: du bist ein Ei. Ein in rosarotem Alkohol schwimmendes graues Ei, in dem man nichts erkennt. Es war viel früher mit dir zu Ende, als sie es merkten: du hast es nie geschafft, Nägel und eine Haut und die unendlichen Reichtümer zu haben, die ich dir zuerkannt hatte. Ein Geschöpf meiner Phantasie, gelang es dir gerade noch, dem Wunsch nach zwei Händen und zwei Füßen Ausdruck zu verleihen, etwas das einem Körper ähnlich sieht, der Andeutung eines Gesichts mit einem Näschen und zwei mikroskopisch kleinen Augen. In Wahrheit habe ich einen kleinen Fisch geliebt. Und aus Liebe zu einem kleinen Fisch erfand ich mir einen Kalvarienberg, der auch mich in Gefahr brachte, dabei umzukommen. Das kann ich nicht akzeptieren.« (ebd., 116)

An diesem tragischen Fall wird deutlich, wie sehr das Wissen hinter der Tatsächlichkeit zurück bleiben kann und wie sehr die Einbildungskraft, durch bloßes äußerlich vermitteltes Wissen gespeist, in die Irre gehen bzw. einem reinen Konstrukt anheimfallen kann. Fallacis Phantasie wurde maßgeblich angeregt durch Bücher- und Medieninformationen und die Ende der 1970er Jahre auftauchenden zigfach vergrößerten Fotographien von jungen Ungeborenen, die im übrigen heute immer noch gern bei Kampagnen gegen Abtreibungen verwendet werden und ihre Wirkung im gender-Diskurs hinterlassen haben. Das in den Medien heute sehr häufig reproduzierte Bild der noch einmal weitaus stärker vergrößerten Eiund Samenzelle bei einer extrauterinen Befruchtung hat das Bild vom Fötus im schwangeren Unterleib weitgehend abgelöst, hat aber auf seine Art ebenfalls großen Einfluss auf unsere Vorstellung vom Körper und auf die Symbolkraft eines ›Materiellen‹, das mit bloßem Auge nicht sichtbar ist. Die oben zitierte Autorin hat nicht, wie die Frauen von heute, ihr ›eigenes Kind‹ auf dem Bildschirm in der Arztpraxis, durch Kontakt mit 474

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einem kalten Tastgerät auf dem warmen Bauch, bzw. auf dem sonographischen Abzug fürs Familienfotoalbum gesehen, sondern irgendein fremdes. Daran orientiert hat sie Vorstellungen über die körperliche Existenz ihres Ungeborenen gebildet und im Zuge verschiedenster Prozesse Liebe zu ihrem ›Kind‹, einem – wie sie später sieht – »kleinen Fisch« entwickelt. Ähnliches geschieht den Frauen seit Ende der 1980er Jahre im Hinblick auf konstruierte Images, zwar nicht unbedingt – obwohl das möglich wäre – in autodidaktischen Studien, aber wenn sie in der gynäkologischen Überwachung immer wieder von Anderen erfahren, wie weit entwickelt und groß ihr ›Kind‹ jetzt sei. Auch dabei wird eine von außen herangetragene Vorstellung und Beziehung zu einem – nun individuell – Sichtbaren hergestellt und ist das ›Kind‹, also dieses im Leib Heranwachsende, das Objekt/Subjekt eines Diskurses zwischen Arzt/Ärztin oder Hebamme und Patientin sowie zwischen den Mitmenschen, wenn über das ›Kind‹ gesprochen wird, das eigentlich noch gar kein Kind ist, nicht einmal ein Säugling, von dem aber schon ein ›Foto‹ existiert. Die heute in zivilisierten Kulturen praktizierte sonographische Untersuchung kann den Fötus schon in einem sehr frühen Stadium sichtbar machen. Frauen können ihr werdendes Kind durch Apparate, Bildschirme ›sehen‹, bevor sie es spüren, ja diese Sichtbarmachung kann bereits ein Diagnoseverfahren bezüglich der Schwangerschaft sein, bevor die Frau auch nur irgendetwas im Bauch spürt oder etwas am Körper sicht- und tastbar geworden ist. Was Frauen auf dem Bildschirm sehen, wenn ihnen auf dem Rücken liegend mittels Ultraschall in den Leib geschaut wird, ist allerdings nicht allzu eindeutig zu erkennen. Es bedarf eines Sehen-Lernens, um auf diffusen, sich verändernden, schwarz-weißen Strukturierungen des Sonogramms etwas zu erkennen, das ein Fötus sein soll. Da dieser Lernprozess Zeit und Anleitung in Anspruch nimmt, sind es meist zunächst andere Phänomene, die z. B. beim akustisch unterstützten Sonogramm für Aufregung bzw. Ergriffenheit sorgen und eine technisch vermittelte Verbindung zwischen werdender Mutter und ihrem ›Kind‹ herstellen, und zwar der Herzschlag des Ungeborenen, der früher meist nur für die Untersuchenden mittels Höhrror und Stethoskop hörbar war: »Schön war aber, daß ich zum ersten Mal die Herztöne unseres Kindes gehört habe. Das war unheimlich aufregend, ein tolles Gefühl!« (Reim, 1984, 84) Was ist schön, aufregend, ein tolles Gefühl? Dass etwas akustisch verstärkt wird, was ohnehin im Körper stetig vorhanden ist, aber nicht gespürt und wahrgenommen wird, und dabei muss man anfügen, zum Glück – eine Schwangere würde wohl verrückt werden, hörte sie andauernd die Herztöne des Kindes (viele Gebärende empfinden auch die 475 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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akustische Verstärkung der Herztöne während der Geburt als überaus störend). Es ist also das vorübergehende Hörbar-Machen eines körperlichen Vorgangs, und hierauf wird das Wissen um das heranwachsende Leben projiziert. Der hörbare Herzschlag wird zur Quelle der Freude: »Und dann kam der tollste Tag meiner Schwangerschaft: Ich hörte während eines Arztbesuches die Herztöne meines Babys. Das war im vierten Monat, also in einer Zeit, wo man sich eigentlich noch gar nicht so schwanger fühlt. Es war Leben in mir! Ich hätte die ganze Welt umarmen können.« (ebd., 105)

Das Hören der Herztöne des ›Kindes‹ wird in solchen Beschreibungen oft mit dem Leben in Verbindung gebracht. Das Schlagen des Herzens symbolisiert im kollektiven Gedächtnis das Leben eines Organismus, speziell des Menschen; schlägt das Herz nicht mehr, ist der Mensch gestorben. Der eigene Herzschlag ist gelegentlich spürbar, sei es bei sportlicher Betätigung, wenn einem das Herz vor Anstrengung in der Brust hochschlägt, oder in Angst-, Scham- und Orgasmuszuständen, ja es ist möglich, den Herzschlag, wenn er sich nicht speziell durch Veränderung seines Taktes aufdrängt, zu ›erhorchen‹, wobei es sich nicht um akustisches Hören handelt, sondern um das Erspüren eines körperlichen Rhythmus. Was die Schwangere aber hört, wenn ihr die Herztöne des Fötus von außen akustisch vernehmbar werden, ist nicht ihr eigenes Herz, dessen Rhythmus sie kennt, sondern das Herz eines Anderen, das noch dazu in ungewohnter Weise schnell schlägt. Zu hören, wie das Herz des ›Kindes‹ schlägt, mag nun schon den Eindruck des Anderen im eigenen Leib erwecken, des anderen Herzens, das nicht das eigene und paradoxerweise doch das eigene ist – nur ist dieser zweite Herzschlag nicht eigenleiblich ›erhorchbar‹. Hier schlagen im wahrsten Sinne des Wortes zwei Herzen (zwei Seelen) in einem Leib (in einer Brust), und die akustische Vermittlung des anderen Herzens evoziert das Gefühl für das »Leben in mir«, das zweite, andere Leben. Es ist bemerkenswert, dass das technische Verstärken der Herztöne eines Fötus als eine Art ›Glucksen‹ zu hören ist und die Atmosphäre des pulsierenden Wässrigen, Flüssigen mit sich führt, das die Vorstellung des im Fruchtwasser schwimmenden Fötus stützt. Von ganz anderer Art ist, ästhetisch betrachtet, der sonographische Abzug des Fötus, der offensichtlich nach eingeübter Sehweise oder mittels verbesserter Technik schließlich einen noch stärkeren Eindruck auf die Schwangere macht. Die Ultraschalluntersuchungen mit ›Foto‹ zum Mitnehmen werden heute zu Interaktionsprozessen zwischen Mutter und ›Kind‹ sowie einbezogener Mitmenschen. Das ›Kind‹ wird dabei nicht qua Herzschlag hörbar in seinem pulsierenden Leben im eigenen Leib, 476 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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sondern qua Bild, und zwar stumm als Körper, als Materie momenthaft fixiert. In diesen zweidimensionalen Sonogramm-Ausdrucken hebt sich eine weiße Kontur, der Fötus, vor einem schwarzen Hintergrund ab, – vor was, bleibt unanschaulich. Aus dem Bild lässt sich nicht ermitteln, dass diese Kontur, dieser referenzielle Fötus im Wasser schwimmt, dass er Teil eines Leibes ist, er hebt sich einsam, isoliert vor dem ab, das er nicht ist. Während der Ultraschalluntersuchung, von der das ›Foto‹ nur einen Moment dokumentiert, sieht die ›eingeübte‹ Schwangere aber ihr ›Kind‹ auch in Bewegung, und zwar z. B. das Schlagen seines Herzens. Der Herzschlag wird – je nach Ausstattung und Bedienung des technischen Gerätes – nicht unbedingt gehört, aber gesehen. Das mag wiederum Zustände von Ergriffenheit auslösen: »Uns hat öfters die Sorge erfaßt, ob das Kind physisch in Ordnung ist. Deshalb sind wir zur Ultraschalluntersuchung gegangen. Tief beeindruckt sahen wir auf dem Bildschirm das Baby in meinem Bauch. Es war gerade vier Monate alt, und wir konnten sogar das Herz schlagen sehen. Dies war für uns sehr faszinierend.« (ebd., 173)

Im Zuge solcher Praxen der Verbildlichung werden dem Ungeborenen nicht selten Verhaltensweisen und Reaktionen, z. B. auf den Vorgang der Untersuchung, angedichtet. Das Ultraschallgerät auf dem Bauch der Schwangeren wird zum Instrument eines Besuchs im »Wohnzimmer« des Fötus, es fungiert als ›heimliches‹ Schlüsselloch, durch das die werdende Mutter ihr ›Kind‹ schon mal beobachten kann: »Auf dem US [Ultraschall, UG] ist es echt immer lustig, weil man fast meinen könnte, im ersten Moment guckt der Zwerg erstmal, wer sich da heimlich in sein Wohnzimmer reinschleicht, und dann startet er seine Show. Bestimmt könnt Ihr beim nächsten US auch supersüße Dinge sehen!!!« (»schlolo«, Forum »Hurra, ich bin schwanger!«, www.eltern.de, 12. 12. 2001, 8:31)

Auffällig ist heute eine persönliche Ritualisierung der Ultraschalluntersuchungen; Schwangere werden gelegentlich ›süchtig‹ danach, ihr Kind wieder auf dem Bildschirm zu sehen, erwarten die Termine in großer Spannung und bezahlen selbst zusätzliche Sonogramme, obwohl Krankenkassen bereits drei Untersuchungen erstatten: »Kann es kaum erwarten endlich nochmal Krümel auf dem US zu sehen! Und muss leider noch bis zum 21. 12. warten. Puhh!« (»Petra & Krümel«, ebd., 11. 12. 2001, 18:51) »… ich habe am 28. 12. den nächsten termin und kann es kaum noch abwarten. du bekommst ja dann noch ein schönes us-foto als weihnachtsgeschenk.« (»SilkeK«, ebd., 5. 12. 2001, 11:44)

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»war Anfang der 11. SSW und Ende der 13. SSW beim Ultraschall und jedesmal war unser Zwerg total still und hat sich gar nicht stören lassen, Wachstum etc. ist o.k.! So gerne hätte ich Bewegungen gesehen. Ich werde immer total neidisch wenn ich lese, dass andere im Ultraschall ein aktives Baby sehen. Ich kann kaum die 20. SSW abwarten, um dann mein Baby endlich zu spüren.« (»Mel«, ebd., 10. 12. 2001, 10:06)

Es ist hier nicht der Ort, auf die Medikalisierung und Kolonisierung des weiblichen Leibes durch sonographische Untersuchungen der Schwangeren einzugehen. Barbara Duden hat in verschiedenen Untersuchungen die Veränderungen im Erleben der Schwangerschaft im Zuge der Professionalisierung und Technisierung der Medizin aufgezeigt. Dabei geht es ihr nicht nur um die Herstellungsgeschichte des »Fötus« in der Anatomie, sondern auch um die Soziogenese »des durch den Fötus bestimmten modernen Schwangerschaftserlebnisses« (Duden, 2002, 87), wobei sie sich insbesondere mit dem sozialen Wirklichkeitsstatus des Fötus befasst, für den die Technik der Visualisierung von großer Bedeutung ist. Die »Natur« der heutigen Schwangerschaft lasse sich nicht ohne »durchprofessionalisierte Körperbetreuung« denken und sie lasse sich nicht denken »außerhalb einer Gesellschaft, in der Frauen davon überzeugt wurden, dass Mediziner ihnen sagen können und sollen, ob sie schwanger sind und ihnen beibringen können, wie frau das richtig erlebt« (ebd.). Diese Medikalisierung »auch des Erlebens wäre ohne die Professionalisierung des Arztes kaum denkbar« (ebd.) und sie hat einen weiteren Exponenten an der operationellen Verifikation, also der »Tatsachenfeststellung durch wiederholte Messung« (ebd., 89). Als Körperhistorikerin hat Duden nachgewiesen, dass schon zu Hippokrates Zeiten bis hin zu den Gynäkologen des ausgehenden 18. Jahrhunderts Symptome für die Schwangerschaft bekannt waren, aber »keine Ansammlung von Zeichen konnte Gewißheit dafür geben, was aus den Geburtsteilen der Schwangeren herauskommen würde – Blut, eine Mole oder das erhoffte Kind« (ebd., 89). Nur die erste Kindsregung hat es der Frau ermöglicht, den »Status der Schwangeren gesellschaftlich zu beanspruchen« und zwar dies ausschließlich durch ihre persönliche Zeugenschaft. Heute ist es, wie Duden (ebd.) zu Recht bemerkt, umgekehrt: »Das Labor weiß es vor der Frau.« Die Frau weiß von der kommenden Schwangerschaft, bevor sie sie spürt: »Das ist uns selbstverständlich geworden, wir erleben uns auf Befehl, wir erleben uns wie diagnostiziert, und in der Herstellung der neuen Selbstwahrnehmung spielt die Visualisierung eine Schlüsselrolle. … Das Erlebnis des Leibes wird durch die Vorspiegelung innerer Sichtbarkeit geprägt.« (ebd.)

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Historisch macht Duden die Prozesse einer veränderten Körpererfahrung an der Schwelle der 1990er Jahre fest, mit fortschreitender Visualisierung des Körperinneren. Hinsichtlich der multiplen Einbettung der Schwangerschaft in Visualisierungs- und Vermessungstechniken spricht sie vom »entkörpernden Blick«, vom »Schwund der Sinne, von der Lähmung der Wahrnehmung«. Jede am schwangeren Leib vorgenommene Maßnahme »sagt etwas zur Frau, zeigt ihr etwas«, aber was sagen der Frau diese Untersuchungen? »Sicher scheint mir, dass mit jeder Einladung einem Verfahren zuzustimmen, mit jeder routinemäßigen Entnahme von Blut oder anderen Säften, mit jeder Durchleuchtung und Vermessung der Frau bescheinigt wird, dass ›hier etwas hätte vorliegen können‹, auch wenn einstweilen wenigstens ›nichts vorliegt‹ und alles derzeit ›in Ordnung ist‹. Subtiler könnte man die schwangere Frau nicht verängstigen, geschickter ihre Befindlichkeit gar nicht von einem fremden Urteil abhängig machen. Die Frau, die voll bei Sinnen schwanger wurde, lernt so ihren Sinnen nicht mehr zu trauen. Wie es ihr geht, was ihre Aussichten sind, lernt sie sich sagen zu lassen.« (ebd., 104)

Selbstsicherheit und das Vertrauen darauf, »dass die Natur schon weiß, was sie tut«, ja die früher so bedeutende »gute Hoffnung« der Schwangeren schwinden unter der Ägide gynäkologischer Vorsorge- und Diagnoseverfahren (vgl. Duden, 2001). Wundert es da, dass Frauen wie diejenigen aus den zitierten Foren bereits so infiltriert sind, dass sie sich auf ihren ›Ultraschallfilm‹ freuen, dass sie enttäuscht sind, wenn ihr ›Kind‹ vor laufender Kamera seine Aufführung verschläft bzw. einfach nur da ist. Duden (1991, 91) hat darauf hingewiesen, dass die »Wahrnehmung der Frau« »biologisch objektiviert« wird. Die Techniken, mit denen Schwangerschaft visualisiert wird, werfen einen »symbolischen Schatten auf die Schwangere«: »Die Ultraschall-Lotung wirkt in ihrer klinischen Anwendung besonders tiefgreifend auf das konkrete Erleben des eigenen Körpers und des kommenden Kindes – und zwar in der neuen klinischen Situation, in der Frauen lernen, sich ihren Zustand durch die Bildschirmvisualisierung digital verarbeiteter Vermessung von Gewebedichtigkeiten als ›Herzenssache: Mein Baby‹ interpretieren zu lassen.« (Duden, 2002, 105)

Die durch Technisierungsprozesse initiierte »Einladung zur Verquickung ihrer Herzenswünsche und Phantasien mit dem biologischen Prozess, dessen Entwicklung sie verfolgt« ist für Duden (ebd., 105 f.) »ein Skandal«; ebenso »die Verquickung des Phantoms in ihrem Bauch mit dem ›öffentlichen Fötus‹ als dem Emblem für ›ein Leben‹« (ebd., 106):

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»Im ›Blick‹ der Schwangeren auf den Bildschirm des Ultraschallgerätes wird ihr Gesichts-Sinn von der wirklichen Welt, der sicht- und tast- und erlebbaren Gegenstände abgetrennt, um aus 320x200 Pixel etwas Neues zu fabrizieren, das auch ›Körper‹ sein soll. Sie schaut in einen stockdunklen, technisch konstruierten ›Raum‹ hinein und ihr ›Gesicht‹ wird dazu veranlasst, dort ihr kommendes Kind zu ›sehen‹.«

Die »Vereinnahmung ihrer Sinnlichkeit durch das instrumentell hergestellte Phantom des eigenen Inneren« (ebd., 107) und die zahlreichen Qualitätskontrollen in der medizinisch-technischen Überwachung hinsichtlich der vermessbaren Masse des Fötus und des schwangeren Leibes hat eine umfangreiche Kolonisierung des weiblichen Erlebens und des Verständnisses und Zutrauens zum eigenen Leib herbeigeführt (vgl. dazu z. B. Schindele, 1996). Das medizinische Wissen und die Hör- und vor allem Sichtbarkeit des Fötus machen das Erleben der Schwangerschaft jedenfalls lange, bevor es am eigenen Leibe gespürt wird, zu einem entfremdeten und entfremdenden. Das betrifft besonders die erste Phase der diagnostizierten Schwangerschaft. Mit dem Spüren und In-Erscheinung-Treten des schwangeren Leibes gewinnt die Gravidität dann aber auch den Status des eigenen, des am eigenen Leibe Gespürten und nicht bloß des mittels technischer Apparate von Anderen und durch Anderes, Fremdes sichtbar Gemachten.

12.7 Das Spüren und In-Erscheinung-Treten des schwangeren Leibes Sieht man von mehr oder weniger gravierenden Unpässlichkeiten und dem oft belächelten Phänomen des Appetits auf bzw. des Widerstands gegen bestimmte Speisen ab, so drängt sich die Schwangerschaft leiblich erst allmählich auf, als Weitung des Unterleibs, eventuell einhergehend mit spürbaren Veränderungen im Bereich der sich zur Milchbildung vorbereitenden Brust. Die regionalen Wölbungen und die gesamtleibliche Gewichtszunahme lassen sich bis zu einem gewissen Grad verbergen, erlangen aber nach mehreren Monaten nicht nur öffentliche Sichtbarkeit, sondern werden zur ins Bewusstsein drängenden, sich förmlich aufzwingenden Leiberfahrung, der auch mit einer anderen Garderobe Rechnung getragen werden muss, weil sich der Körper gegen die Kleidung zu spannen beginnt. Die erhebliche Dehnung des Unterleibs führt zu einer Verlagerung des leiblichen Lots, zu veränderter Beweglichkeit und gesamtleiblicher Selbst- und Fremdwahrnehmung. Die Eigenaktivität und Eigenmächtigkeit des Leibes wird zum Gegenstand des Betroffenseins von einer numinosen Instanz, die etwas im 480

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eingeschlossenen, unsichtbaren Unterleib hervortreibt. Die ›Leibesfrucht‹ wird leiblich als etwas Rundes, Kugelförmiges, und, wie der Begriff »Gravidität« zur Anschauung bringt, Schweres wahrgenommen, das sich immer weiter bis in die Leibesinsel der Brust hinein ausdehnt und wovon der niederrheinische Volksmund etwa sagt, es sei ein »verschluckter Ball«. »Neun Monate lebte ich mit einem Kind in meinem Bauch. Ungläubig sah ich zu, wie es den Herbst über aus einem kleinen harten Knoten in der Tiefe meines Beckens hervorwuchs, sich über meine Hüften hinaus nach oben ausdehnte, bis es meinen Brustkorb erreicht hatte und mein Herz umklammerte.« (Shaw, 1998, 18)

Dass die Erfahrung immenser Ausdehnung des Unterleibs auch andere Leibesregionen einbeziehen und sich gelegentlich bis zur Atemnot auswachsen kann, zeigt eine Stelle in dem Roman »Ein Mensch ertrinkt« von Claire Goll (1988, 151), wo es heißt, Marie würde eines Nachts »schwer atmend in ihrem Bett« aufsitzen: »Ein großer, mit Blei gefüllter Sack drückt ihr das Herz ab. Das ist das Kind. Sie glaubt, ersticken zu müssen.« Eines der seltenen Gedichte über Schwangerschaft mit dem Titel »Die Tragende« von Lola Landau (1892–1990) beschreibt sowohl die Leibesrundung und -schwere als auch die den Prozess der Schwangerschaft später begleitenden Kindsbewegungen: »Wie seltsam ist ihr Gang, so schwer, doch leicht, Hochschwangere, beladen und erhoben. Sie trägt das Werdende; ihr Mund gebleicht. Schwer trägt sie. Erde trägt, hebt sie nach oben. Sie ist nur Hülse, Schale für das Wesen, Perlmutterschale, die das Kleinod birgt, Das Kind. Den Leib, die Frucht gewölbt und auserlesen Führt sie behutsam. Leben brodelt, wirkt. Es pocht und klopft an ihres Leibes Rand. Sie lauscht nach innen, und sie hört das Regen Des Werdenden, ein wundersam Bewegen, Das Lebenszeichen, das ihr Kind gesandt. Ihr Gang, so schwer und leicht mit ihrer Bürde. Beschwingt, behutsam, daß kein Schritt ihr schadet. Ihr Antlitz perlenblaß erglänzt in Würde. So schreitet sie, beladen und begnadet.« (Landau, 1980, 109)

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Landau beschreibt die Schwangere zunächst an ihrem spezifischen Gang, der sich häufig schon früh als diese besondere Bewegungsart im Gehen und Schreiten einstellt und Dritten bei geschultem Blick schon vor dem Wissen der Betroffenen eine ›Diagnose‹ der Schwangerschaft ermöglicht. Der veränderte Gang mag der Schwangeren selbst anfänglich kaum auffallen, da er sich allmählich einstellt und somit in Gewöhnung aufgeht; er wird aber irgendwann deutlich als Veränderung des leiblichen Lotes wahrgenommen, vor allem dann, wenn der Bauch bereits vorgewölbt ist und umfassend auf die Beweglichkeit des gesamten Körpers Einfluss nimmt. Als zweiten Aspekt spricht Landau die Schwere des Leibes und die Trägheit im Gehen an, die aber ambivalent ist, als Schwere, die »doch leicht« ist, wobei sie wohl darauf anspielt, dass eine Schwangere für den Blick von außen durchaus einen schweren Gang haben kann, sich selbst aber dennoch als leichtfüßig, eventuell getragen von der ›guten Hoffnung‹ und der Freude über das Werdende erleben kann. In der zweiten Strophe verweist Landau auf das Symbiotische, ja Schmarotzerhafte dieses Zustandes, der für das Kind, das dem anderen Leib wie instrumentalisierend einwohnt, Leben bedeutet. Im Wissen um das Ungeborene »führt« die Schwangere den Leib jedoch »behutsam«, ist sich der Verantwortung für das Leben in ihr bewusst. Dieses Motiv wird in der dritten Strophe verstärkt, indem Landau die Kindsbewegungen ins Spiel bringt, die der Schwangern jenes werdende Leben signalisieren. Die letzte Strophe nimmt das Bild des schweren, und doch nicht gar so schweren Schreitens auf, das sich als »beladen« und zugleich »begnadet« gibt, als ›süße Last‹, die behutsam, mit Würde getragen wird, auch beschwingt, wohl ob der vom Leibe her spürbaren Lebensverheißung. Es ist eigentümlich, dass Frauen sich allenfalls in den letzten Wochen der Schwangerschaft, wenn sie aufgrund ihrer Leibesfülle mit Bewegungsbeeinträchtigungen konfrontiert sind, als so schwer, rund oder dick erleben, wie man es dem äußeren Anschein nach meinen könnte. Das liegt daran, dass das Wachstum allmählich verläuft und als solches nicht gespürt wird. Die Fülle wächst sich leiblich ein, mit der Tendenz, sich fortschreitend vom Unterleib aus in den Rumpfbereich zu erstrecken, so dass der gesamte Rumpf bis zum Hals von zusätzlichem Gewicht beladen wird und eine Einheit bildet, die im Erleben diffundiert, sich also als solche nicht dramatisch aufdrängt. Mit dem Wachstumsprozess vollzieht sich automatisch die Umstellung des Bewegungsapparats. Ohne es bewusst tun zu müssen, verändern sich im Verlauf der Gravidität, angepasst an die leiblichen Umstände, alle Bewegungsvorgänge. Bewusst getan wird allenfalls etwas in Situationen, die des Schutzes bedürfen, so etwa in einer dicht 482 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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gedrängten Menschenmenge, in der Schwangere häufig ihre Arme um den Bauch legen, um Stoßeinwirkungen von außen zu vermeiden.

12.8 Kindsbewegungen Der von vielen Frauen als numinos erlebte und doch durch die medizinische Überwachungstechnologie entzauberte Vorgang der Schwangerschaft, der in seiner leiblichen Macht sowohl Vertrauen wie auch Erschrecken erwecken kann, nimmt mit dem Erlebnis der Kindsbewegungen eine neue Dimension an. Während sich anfänglich der schwangere Leib vornehmlich in seinem Schwerer- und Runder-Werden aufdrängt, gehört das Erleben der ersten Kindsbewegungen zu den ergreifendsten Leiberfahrungen der Gravidität. Was zuvor als schwere Blase, harter Klumpen oder gefüllter Sack diffus, aber doch als eingegossene Masse im Unterleib wahrgenommen wurde, wird zum Erleben eines Anderen. Für die ländlich lebenden Frauen der frühen Neuzeit waren Kindsbewegungen der erste eindeutige Hinweis auf eine Schwangerschaft. So schreibt Eva Labouvie (1998, 19): »Bezeichnenderweise bestätigten sie ihre Schwangerschaft offiziell niemals vor dem fünften Schwangerschaftsmonat und zumeist mit dem Zusatz, ›son fruit‹ habe sich in ihrem Bauch geregt, was ihnen sicheres Zeichen für die Schwangerschaft sei.«

Sie berichtet von Frauen, die »etwas im Bauch lauffend verspürt« hätten, dass sich etwas »gereget« hätte, dass die »Frucht zu Anfang kein Leben« gehabt hätte, dann hätten sie »leben gefühlet«, »ihre leibes frucht lebend in ihrem leib verspüret« oder »ihrer tragender frucht leben verspuhrt« oder sie hätten bemerkt, dass etwas im Mutterleib »kollerte« etc. Diese Belege zeigen, dass die Kindsbewegungen eine Zäsur im Leiberleben setzte, die jene Frauen zur Anzeige ihrer Gravidität veranlasste. Das mag heute verwundern, wo doch nicht allein das Ausbleiben der Menstruation, sondern auch eine erhebliche Leibeswandlung vorangegangen sein muss. Aber, so Labouvie (1998, 19), »diesen zwar deutlichen Zeichen einer körperlichen Veränderung fehlte das richtungsweisende Signal, jenes eindeutige Klopfen aus dem Innersten ihres Bauches, das sie aus Geschichten und Erzählungen anderer Frauen kannten«. Diese Botschaft aus dem Inneren drängte sich als leiblicher Beweis eminent auf und ist auch für moderne Frauen, die den sich bewegenden Fötus schon lange vom sonographischen Bildschirm kennen, ein ergreifendes Ereignis. Dazu zunächst einige Aussagen aus dem Internet: 483

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»Ich spürte die Kindesbewegungen das erste mal in der 20. Woche. Es fühlt sich echt witzig an. Ich habe es empfunden, als wenn Seifenblasen an der inneren Bauchdecke zerplatzen. Mittlerweile bin ich in der 27. Woche und aus den zarten ›Seifenblasenplatzen‹ sind mittlerweile kräftige Puffer geworden.« (NN, Forum: »Hurra, ich bin schwanger!«, www.eltern.de, 24. Juli 2000, 19:26) »Bei mir hat es sich am Anfang angefühlt wie Muskelzucken (wenn ein Muskel z. B. am Auge unkontrolliert zuckt und nicht mehr aufhört) so war das im Bauch. Später konnte ich eindeutig sagen, das war ein kleines, spitzes Gelenk, das sich irgendwo reinbohrt. Trotzdem ein tolles und vor allem beruhigendes Gefühl!« (NN, ebd., 25. Juli 2000, 9:13)

Die mit den Kindsbewegungen verbundenen Gefühle sind zwar durchaus ambivalent, aber es überwiegt eine positive Resonanz auf das spürbar werdende Eigenleben des Fötus, ja überhaupt das Spüren seines Lebens: erlebt werden Freude und Glück, z. B. über die Lebendigkeit des Heranwachsenden und das Numinose des gesamten Werde-Prozesses. »Heute habe ich zum ersten Mal Bewegungen gespürt! Es fühlte sich an wie ein ganz hartes Klopfen in meinem Unterbauch, so als wollte sich jemand ganz sanft von innen her bemerkbar machen. Jetzt spüre ich endlich, daß in mir etwas lebt!« (Reim, 1984, 178)

Immer wieder ist von Ergriffenheit die Rede, die Fallaci (1989, 75) so beschreibt: »Du hast getan, was ich seit Monaten erwartet und ersehnt habe. Du hast Dich gestreckt, vielleicht hast Du gegähnt, und hast mir einen kleinen Stoß versetzt. Einen kleinen Tritt. Deinen ersten Fußtritt … Meine Beine erstarrten wie zu Marmor. Ein paar Sekunden lang blieb mir der Atem weg und meine Schläfen pochten. Ich spürte auch, wie es mir im Hals brannte, wie mir eine Träne die Sicht verschleierte. Dann rollte die Träne hinab und plumpste auf das Bettuch.«

Hier wird ein Zustand des Schreckens thematisch, der die Glieder erstarren, den Atem ins Stocken geraten, das Herz rasen lässt. Obwohl die Kindsbewegungen sehnsüchtig erwartet wurden, ist ihr erstes Spüren doch so neu und ungewohnt, dass eine Art Schauer damit verbunden ist. Andere geraten in eine feierliche, weihevolle Stimmung: »Die ersten Bewegungen des Kindes spürte ich während eines Fernsehfilms, ›Maria Stuart‹. Der Bauch war etwas schief und Heinz machte ein paar Fotos. Wir tasteten am Bauch herum und waren ganz feierlich still. Spürte ich einen Tag das Kind nicht, so machte ich mir Gedanken, es könne krank oder tot sein.« (Reim, 1984, 187)

Immer wieder wird das Gefühl des Lebens hervorgehoben, das durch die Kindsbewegungen vermittelt wird: »Am ersten Februar spürte ich das erste 484

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Zappeln unseres Kindes. Es war wunderschön. Ein Zeichen, daß es lebte. Der Bauch wurde dicker. Ich war stolz.« (ebd., 115) Das folgende Beispiel veranschaulicht erneut, dass Kindsbewegungen eine Zäsur im Leiberleben der Schwangeren bedeuten: Das Kind und sein Leben konkretisieren sich nicht nur für das eigenleibliche Spüren, sondern auch für den Reflexionsprozess: »In diesen Tagen verspürte ich zum ersten Mal die Bewegung des Kindes. Bis dahin war ich nur schwanger gewesen, aber nach und nach wurde mir bewußt, daß in mir ein Kind lebte, das sich durch mich ernährte und durch mich wuchs. Nur selten hatte ich das Gefühl des Erfülltseins und der Rührung gegenüber dem Kind. … Als mein Baby ein Eigenleben entwickelte, häuften sich die Gedanken der Unfaßbarkeit (daß ich wirklich ein Kind haben würde), und ich staunte über meine Fähigkeit, mich zu verdoppeln. Aber etwas geschah auch mit mir, etwas, was ich nicht aufhalten konnte und was mich ganz in Anspruch nahm. Ich betrachtete mich völlig erstaunt im Spiegel. Mein Bauch – eine Wiege für mein Baby? Manchmal lähmte mich der Gedanke, daß sich dort jemand auf meine Kosten ernährte.« (ebd., 136 f.)

Neben positiven, manchmal geradezu euphorischen Beschreibungen der Kindsbewegungen tritt auch der Aspekt der Unverfügbarkeit dieses leiblichen Ereignisses: »Während ich versuche, ein Buch zu lesen, fängst Du in mir drinnen an zu toben. Ich kann einfach nicht beschreiben, welche Gefühle ich habe, wenn ich auf meinen Bauch schaue, den nicht ich in Bewegung setze, sondern Du. Ich kann diese Bewegungen nicht beeinflussen, Du bist ein eigenständiges Wesen, und ich habe das Gefühl, Dir wird es bei mir zu eng.« (ebd., 25)

Hinsichtlich der Unverfügbarkeit der Bewegungen wird häufig geschildert, dass sich die eigene Bewegungstätigkeit und die des Kindes abwechseln oder doch die Kindsbewegungen in bestimmten Haltungen und Tätigkeiten deutlicher hervortreten als in anderen. So berichten viele Frauen, dass sich Kindsbewegungen verstärken, wenn sie selbst in ruhendem Zustand sind, wogegen sie kaum zu spüren sind, wenn sie selbst in Bewegung sind: »Das Baby strampelt kräftig – vor allem dann, wenn ich schlafen möchte! Solange ich mich selbst viel bewege, spüre ich manchmal über längere Zeiträume hinweg fast gar nichts.« (ebd., 180) »Schon im Bauch tat diese kleine Persönlichkeit das, was sie wollte. Wenn ich mich ausruhen wollte, legte sie los: Dann strampelte sie wild hin und her oder machte Purzelbäume.« (ebd., 115)

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Oder, in einer der seltenen Erwähnungen von Kindsbewegung in der Belletristik, bei einer Schwangeren, die gerade ihr Fahrrad besteigt: »Sie hielt sich straff aufrecht; Fötus oder Baby schien das Radfahren zu mögen: Seine Bewegungen hören für gewöhnlich – wie sie fand, glücklicherweise – auf, wenn ihre begannen.« (Byatt, 2002, 31)

Die Romanfigur Stephanie erlebt ebenfalls deutliche Bewegungen ihres Kindes, wenn sie sich schlafen legt oder entspannt: »Als ihre Muskeln sich dennoch allmählich entspannten, begann das Kind wieder mit seinen delphingleichen Drehungen und Wölbungen. Sofern es zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden vermochte, war es nachtaktiv.« (ebd., 48)

Mit der Unverfügbarkeit der Kindsbewegungen geht gelegentlich Beklemmung einher und Angst vor diesem im Leib eingeschlossenen, unbekannten Wesen, das sich mit nicht kontrollierbaren Bewegungen jederzeit bemerkbar machen kann. Kindsbewegungen können die Aufmerksamkeit von dem, was man gerade tut, ablenken oder abziehen. Außer der Möglichkeit, entspannt zu reagieren und die ›fremde‹ Tätigkeit im Leib geschehen zu lassen, hat die Schwangere keine Aussicht, Kindsbewegungen in irgendeiner Weise zu beeinflussen – sie drängen sich auf, wie und wann immer sie wollen, und sie zwingen sich gelegentlich so heftig auf, dass alltägliche Tätigkeiten beeinträchtigt werden, wie das folgende Beispiel der Protagonistin im Roman von Byatt (ebd., 43 f.) schildert: »Auf der Treppe merkte sie, dass ihr die Kräfte schwanden. Während sie arbeitete, schob sich eine Hand oder ein Fuß spürbar außerhalb der Rippen unter der Haut hoch. Als sie die Eingangstür aufgehen hörte, war sie wegen der Umtriebe in ihrem Inneren kurzfristig außerstande zu stehen. Sie hatte vorgehabt, die Tür zum Willkommen zu öffnen.«

Frauen, die bereits mehrere Kinder in sich getragen haben, spüren deutliche Unterschiede in ihrer jeweiligen Bewegungstätigkeit: »Aber an den Bewegungen merkte ich, dass da ein anderer Typ Mensch in mir wuchs. Lina hat immer sehr stark gestrampelt und getreten, während Florian mehr streichelnde Bewegungen machte.« (ebd., 79) »Ich spürte meine beiden Kinder ganz verschieden: Meinen Sohn bereits in der 17. SSW und zwar ganz eindeutig und kräftig – gar nicht wie Seifenblasen, Fischchen oder ähnliches! Bei meiner Tochter war ich dagegen auch lange unsicher (dabei sollte man meinen beim zweiten kennt man sich aus?!). Das war dann tatsächlich mehr so ein Gefühl, als würde ein Fischlein an der Haut vorbeihuschen. Auf jeden Fall ist es wirklich wunderschön!« (NN, Forum »Hurra, ich bin schwanger!«, www.eltern.de, 24. 7. 2000, 20:10)

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In diesen Zeugnissen wird deutlich, wie ambivalent die Kindsbewegungen im Leiberleben zum Tragen kommen: Einerseits wird ein Vorgang beschrieben, der sich in einem Leib abspielt, andererseits wird ein fremder Körper wahrgenommen als wäre er gar nicht im eigenen Leib. Es ist so, als würde man von einem Fremden von innen berührt, und diese seltsame Berührung, die in keiner Weise mit einer Berührung von außen auf der Haut vergleichbar ist, berührt in dem Sinne, dass man gerührt ist von dieser Zärtlichkeit, die sich allerdings auch in handfestes und nach außen hin sichtbares Strampeln und Treten nach allen Seiten hin auswachsen kann und zuweilen »nicht wenig schmerzhaft« (Reim, 1984, 173) ist. Mit den Kindsbewegungen kommt die Wirklichkeit und Lebendigkeit eines selbstständigen Wesens deutlich zum Bewusstsein, wie es auch Cardinal (1979, 110 f.) in ihrem autobiographischen Roman »Schattenmund« zum Ausdruck bringt: »Ich weiß nicht mehr, was ich gerade machte als es zum erstenmal passierte. … Ich spürte in meinem Bauch an der rechten Seite eine fast unmerkliche Berührung. Etwa, wie man den Blick eines Menschen spürt, den man selbst nicht sieht. Einige Tage später tauchte erneut diese leichte Berührung auf, ein zärtliches Streicheln, wie eine sanfte Hand, die über Samt streicht. Es war mein Kind, das sich bewegte. Larve, Kaulquappe, Fisch aus großen Tiefen. Erstes Leben, blind und ungesichert. Enormer Wasserkopf. Vogelleib, Medusenglieder. Es existierte; es wohnt da in seinem warmen Wasser, vertaut mit der dicken Nabelschnur. Gebrechlich, ohnmächtig, entsetzlich. Mein Kind! … Es bewegte sich! Ich lernte es kennen. Es bewegte sich, wann es ihm passte, ich konnte seine Lebensäußerungen nicht voraussehen. Es hatte seinen eigenen Rhythmus, der nicht meiner war. Ich war gespannt, ich erwartete es. Da ist es wieder! Ich liebkoste die Stelle. Was bewegte sich wohl? Eines seiner durchsichtigen Händchen, eines seiner geschwollenen Knie? Eines seiner unförmigen Füßchen? Oder sein Riesenschädel? Es bewegte sich zögernd wie eine Blase, die in einem Moor aufsteigt und nicht die Kraft hat, sich zur Oberfläche durchzudrücken. Es bewegte sich wie der Schatten eines Baumes an einem windstillen Tag. Es bewegte sich, wie sich das Licht bewegt, wenn eine Wolke an der Sonne vorbeizieht. Ich wußte, wo es war und wie es sich im Lauf der Wochen zurechtrückte, und merkte, wie seine Bewegungen kräftiger wurden. Es schubste, hämmerte, strampelte, drehte sich hin und her. … Man hat viel Zeit, das Wesen kennenzulernen, das in einem lebt und das man selbst nicht ist. Gibt es eine größere Vertrautheit? Oder eine vertrautere Verschränkung?«

Cardinal spricht einen weiteren wichtigen Aspekt der Schwangerschaft und der sie begleitenden Kindsbewegungen an, nämlich die Phase der nun manifesten Gewöhnung an den leiblichen Zustand und das sich immer deutlicher bemerkbar machende Kind. Zuweilen scheint das Erspüren 487

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des Kindskörpers und einzelner Körperteile sehr deutlich zu sein. So berichtet Chang (1998, 174) sie wüsste »genau, wann das Kind sein Bein in Richtung Hand bewegte; ich konnte fühlen, wie es mich mit seinen Fingern berührte.« Es ist erstaunlich, mit welcher Phantasie Frauen dieses Leiberleben in Worte fassen, hat es doch mit dem anatomisch-physiologischen Vorgang der Schwangerschaft so wenig zu tun und gilt es, eine Erfahrung zu beschreiben, die sich im unsichtbaren Raum des eigenen Leibes abspielt, die unmittelbar mit dem Nerv des Lebens zusammenhängt. So stammen viele Umschreibungen aus der Natur: die Blase, die im Moor aufsteigt, das Fischchen, das seine Runden dreht; es ist von äußerst subtilen Empfindungen die Rede, wie der Schatten eines Baumes, wie das sich bewegende Licht. Es ist die Erfahrung des Lebens und der Natur sowie auch der innigen Verbundenheit mit der hervorbringenden Natur, die sich immer mehr ins Erleben drängt und schließlich klopft, hämmert und schubst. »Für uns nannten wir diesen kleinen Punkt, der da tief in meiner Gebärmutter lag, den Strandläufer, ein Vogel, dessen zarter, zuckender Schnabel stets ›nach etwas suchte‹, wie es bei Elisabeth Bishop heißt. Das Bild dieses in seine rastlose Suche vertieften Vogels in dem unsteten Gelände, wo Sand und Wasser zusammentreffen, ließ uns beide nicht los. Und sobald ich die Bewegungen des Kindes in meinem Bauch fühlen konnte, machte unser Strandläufer mit seinen ständigen Drehungen und ruckartigen Bewegungen seinem Namen alle Ehre.« (Shaw, 1998, 19)

Mit fortschreitender Schwangerschaft verändern sich häufig auch die Kindsbewegungen. Was anfänglich als subtile, eher leichte Berührungen eines Du, als diffuses Streicheln aus dem Leibesinneren erlebt wird, wandelt sich zu stärkeren Bewegungsimpulsen und -kontrasten. Kindsbewegungen werden an der Oberfläche des gewölbten Bauches auch für Andere sichtund tastbar. Die sich entwickelnde Kraft der Kindsbewegungen gegen Ende der Schwangerschaft wird von der Schwangeren immer deutlicher wahrgenommen, und das Kind vermittelt gelegentlich den Eindruck einer InBesitznahme oder sogar ›Übernahme‹ des eigenen Leibes. Byatt (2002, 122 f.) schildert diese Veränderungen an ihrer Romanfigur Stephanie: »Was sich schwimmend und schwebend in ihr bewegt hatte, war nun kompakt in sie hineingepresst, rieb sich an ihren Knochen, drehte sich unvermittelt aus eigenem Antrieb, drückte mit einer Kraft gegen ihre mittlerweile kaum mehr elastischen Seiten, die ihr den Atem raubte und sie schwindelig machte. … Sie hatte ihre Autonomie eingebüßt. Etwas lebte ihr Leben; sie lebte nicht.«

Eine außergewöhnliche Kindsbewegung ist schließlich die Drehung des Kindes in die Geburtslage, jener einmalige Prozess gegen Ende der 488

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Schwangerschaft, der aber nur selten bewusst erlebt wird. Ein Beispiel dazu findet sich bei Reim (1984, 121): »Ich spürte diese Drehung in der Nacht. Mein Körper wurde direkt hin und her geschüttelt. Der Bauch war ein Weilchen fast quadratisch. Ich spürte einen starken Druck in den Seiten und an den Rippen. Ich hatte das Gefühl, eine gewaltige innere Kraft hätte mich geschüttelt, und war erstaunt, daß ein so kleines Wesen so etwas vollbringen kann.«

Nach dieser Drehung des gesamten Kindskörpers fühlt sich der gravide Leib in seiner Lotung anders an und nehmen auch die Kindsbewegungen einen anderen Charakter an.

12.9 Fortschreitende und ausklingende Schwangerschaft Mit fortschreitender Schwangerschaft nehmen die Kindsbewegungen an Deutlichkeit, Häufigkeit sowie Heftigkeit zu. Der gesamte Bauch weitet und spannt sich immer mehr nach vorne heraus, wird immer runder; der Bauchnabel dehnt sich und wölbt sich häufig nach außen. Das Gefühl, ›nur noch rund zu sein‹, haben viele Kunstwerke des 20. Jahrhunderts festgehalten. So zeigt sich Picasso in seinen Plastiken zum Thema Schwangerschaft ganz von der Rundung des Leibes fasziniert. Die Gliedmaßen schrumpfen zu fast verkümmerten Begleitmotiven. Bei der berühmten Schwangeren von 1950 sind einzig Bauch und Brüste glatt poliert, eine Form der Hervorhebung die auch Gustav Seitz in dem Bronzerelief »Zwei Schwangere« von 1968/69 verwendet. Selbst auf dem Ölgemälde »Die schwangere Margaret Evans« (1978) von Alice Neel, das die Proportionen der Gliedmaßen nicht – wie bei Picasso – verfremdet, drängt sich dem Betrachter der im Bildmittelpunkt platzierte nackte Unterleib überwältigend auf und vermittelt einen Eindruck von der Leiberfahrung einer Hochschwangeren, die scheinbar nur noch Bauch ist. Die für eine Hochschwangere typische Haltung der Arme, die auf dem Bauch ruhen, den Bauch umschließen, ja geradezu stützen und schützen, ist ein beliebtes Motiv von Schwangerschaftsdarstellungen, so etwa schon auf dem um 1800 entstandenen Bildnis »Schwangere Frau auf dem Bett sitzend« von Nikolai Abraham Abildgaard oder bei dem schwangeren Akt, dem »Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag« von Paula Modersohn-Becker. Annegret Soltau hat das in der Kunst lange vorherrschende Tabu um Schwangerschaft und Geburt radikal gebrochen. In den Fotosequenzen und Kollagen »Schwanger« und »Geteilte Muttersäule« (1980–82) doku489 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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mentiert sie die Metamorphose des Leibes, wobei der Bauch mit zunehmender Schwangerschaft immer mehr Bildfläche beansprucht und schließlich den restlichen Leib völlig verdrängt. Durch Detaillierung, Zerschneidung und Überzeichnung macht sie die mit der leiblichen Gegenwärtigkeit verbundenen Stimmungen deutlich. In der Video-Sequenz »schwanger Sein« (1983) thematisiert sie den neun Schwangerschaftsmonaten analog neun Stimmungen, die sie als Panik, Zwiespalt, Hoffnung, Alleinsein, Trennung, Beengung, Erinnerung, Ansprache und Geboren-werden bezeichnet. Der weibliche Leib befindet sich in der Schwangerschaft in einem Zwischenzustand, einem zeitlich ungefähr terminierbaren, aber durch die Geburt gewiss begrenzten Stadium des Übergangs. Schwangerschaft bedeutet Werden zur Geburt hin, daher der Begriff »guter Hoffnung sein«, der das vage Zwischen andeutet, dessen Ende ungewiss, aber hoffentlich gut ist. Die Schwangere wird in einer natürlichen rite de passage zur Mutter. Schwangerschaft ist ein Vorgang, der, wenn er nicht gestört oder unterbrochen wird, zum Geschehen-lassen zwingt. Wie die Frau auf die Situation, Gravidität geschehen zu lassen und den Leib seiner Eigenaktivität zu überantworten, reagiert und wie sie diesen Prozess erlebt, ob mit Stolz und Macht-, zuweilen Allmachtsgefühlen oder aber Sorge, Panik, Angst und Ohnmacht im Sich-Ausgeliefert-Fühlen, Sich-Benutzen-Lassen-Müssen, hängt von kulturellen Gegebenheiten und der persönlichen Situation ab. Zu den für die Gravidität typischen Stimmungen gehören im Sinne des leiblichen Dialogs von Enge und Weite zum Bereich der Weitung Regungen von Stolz, Freude, Hoffnung, zum Bereich der Engung Angst, Sorge, Depression. In Geburtsvorbereitungskursen findet die Schwangere Begleitung und Aufklärung; Atem- und Leibesübungen sowie die Simulation der Geburtssituation sollen sie auf das Gebären vorbereiten und der Angst entgegenwirken. Auch die Frauen unserer Kultur, die sich den Prozess der Geburt vorlaufend präzise vergegenwärtigen können, sind von Angst letztlich nicht befreit. So heißt es in einem freien Bericht: »Je weiter die Schwangerschaft fortschritt, um so sicherer wurde ich einerseits, da ich mich gut vorbereitet und informiert fühlte, andererseits nahmen unerklärliche und diffuse Ängste vor Entbindung und Geburt zu.« (Reim, 1984, 13)

Mit der Weitung des Brust-Bauch-Bereiches geht dann zum Ende der Schwangerschaft, nach der Drehung des Fötus mit zunehmendem Druck nach unten hin, auch eine fortschreitende Einschränkung der Bewegungsfähigkeit einher. French (1988, 60) beschreibt in ihrem essayistischen Roman »Frauen« eine Hochschwangere, deren Körper »so dick und empfind490

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lich« war, »daß ihr in jeder Lage nach kurzer Zeit alles weh tat.« In vielen Fällen bewirkt die prinzipielle Angreifbarkeit und Schutzlosigkeit des Leibes, seine fundamentale Verletzlichkeit sowie seine mangelnde Beweglichkeit einen Rückzug ins Private oder in geschützte Umgebungen. Dem leiblichen Zustand einer ausklingenden Schwangerschaft wird im Arbeitsrecht durch die Mutterschutzfristen Rechnung getragen. Diese Fristen beziehen sich sowohl auf die Zeit vor der Geburt (in Deutschland derzeit sechs Wochen), als auch auf die Zeit nach der Geburt (acht Wochen). Die ausklingende Schwangerschaft wird häufig als Last empfunden und die Geburt ungeduldig ersehnt: »Je länger die Schwangerschaft dauerte, desto ungeduldiger wurde ich. Ich hatte das Gefühl, schon seit einer Ewigkeit schwanger zu sein, und fühlte mich behäbig und träge. … Die Tage und Wochen schienen dahinzuschleichen … Immer nur zu Hause. Woanders kann ich mich auch gar nicht mehr hinbewegen. … Mein Bauch wird immer größer und schwerer. … Ich habe langsam die Nase voll von der Schwangerschaft. Durch die Behäbigkeit meines Körpers fühle ich mich behindert. … Die Wohnung kann ich kaum noch saubermachen, da mich alles zu sehr anstrengt. Hoffentlich ist bald alles vorbei.« (Reim, 1984, 137)

Mit der deutlich spürbaren, nach unten ziehenden Schwere des Leibes wird auch seine immer größere Rundung erwähnt. Nicht in jedem Fall wird der voluminöse Bauch als große Belastung, und gelegentlich nicht einmal als ›Behinderung‹ empfunden: »Ich fieberte dem großen Bauch entgegen. Im neunten Monat fand ich mich dann so richtig schwanger, kugelrund. Ich konnte noch alles alleine machen … Ich fand mich schön und stand oft vor dem großen Spiegel im Flur.« (ebd., 188) »Jetzt bin ich aber endgültig rund geworden! Es ist alles doch recht mühsam, obwohl meine Bewegungen wahrscheinlich viel ›umständlicher‹ aussehen, als sie es sind.« (ebd., 180)

Im Hinblick auf den Rückzug in die private Atmosphäre ähnelt die unmittelbar vor der Geburt stehende Hochschwangere dem auf einen natürlichen Tod zulaufenden Sterbenden. Beide stehen vor einem Ereignis mit ungewissen Modalitäten, aber gewissem Eintreten. Zu den für diese Situation typischen Regungen gehören z. B. Angst vor dem Ungewissen oder auch Sehnsucht nach Erlösung. Diese Ambivalenz und die Beherrschung des Lebens einer Schwangeren durch ihre Leiberfahrung beschreibt auch French. Sie (1988, 59) teilt mit, dass für die Frauen ihres Umkreises »die Schwangerschaft schrecklich« war: »Nicht weil es so schmerzhaft wäre – das ist es gar nicht, es ist nur unbequem. Sondern weil es dich wegwischt, dich auslöscht. Du bist nicht mehr du selbst, du

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mußt dich vergessen. … Alles ist eine Anstrengung – eine Konservendose von einem hohen Fach herunterzuholen ist ein Unternehmen. Du darfst dich nicht fallen lassen, gleichgewichtsgestört wie du bist, weil du noch für ein anderes Leben verantwortlich bist.«

French bezeichnet die Schwangerschaft als »langes Warten, bei dem du lernst, was es heißt, völlig die Herrschaft über dein Leben zu verlieren.« Sie greife dominierend in das Leben ein, gerade weil sie ein auf einen Kulminationspunkt zustrebender Zustand ist: »Es gibt keine Kaffeepausen, keine Feiertage, in denen du deine normale Figur und dein Selbst wiedergewinnst, um dann erholt wieder an deine Arbeit zu gehen. Nicht einmal für eine Stunde kannst du dir das Ding wegwünschen, das dich so aufbläht, das deinen Bauch dehnt und dehnt, bis du denkst, die Haut müsse platzen, und das dich von innen tritt, bis du schwarz und blau bist. Nicht einmal zurückschlagen kannst du, ohne dich selbst zu verletzen. Der Zustand und du, ihr seid identisch: du bist kein Mensch mehr, sondern eine Schwangerschaft.« (ebd.)

Diesen Zustand vergleicht French mit dem eines Soldaten im Schützengraben, »dem es heiß und beengt ist und der das Essen hasst, der aber neun Monate aushalten muss«. So wie der Soldat irgendwann – komme was wolle – die Schlacht herbeisehne, so harre die Frau der Geburt entgegen: »Du wartest geradezu sehnlich auf die Schmerzen der Geburt, weil sie dem Warten ein Ende machen werden.« (ebd.) Das Warten wird zur Lebenserfahrung: »Du bist nicht mehr du selbst, sondern nur noch das Warten, deine Zukunft sind Schmerzen« (ebd., 60). So nennt French die Schwangerschaft den größten »Drill- und Abrichtungstrick«, aber der Vergleich mit dem Soldaten hinkt schon deshalb, weil der Soldat entlassen werden, in Heimaturlaub gehen oder gar desertieren kann, eine Schwangere jedoch nicht, sie kann sich in keiner Weise entziehen. In dem Ausgeliefert-Sein sieht French maßgebliche Gründe für Betroffenheit in Form von Wut und Empörung über die Natur, die zum Brechen des Willens und zur »Saat des Hasses« (ebd.) führen können. Wenngleich die von French geschilderte Situation, die mit vielen negativen Attributen umgeben ist, nicht von jeder Hochschwangeren in dieser drastischen Weise erlebt wird, ist das Warten auf die unausweichliche Geburt doch etwas, womit sich viele Frauen befassen: »… zum ersten Mal in meinem Leben war da eine Situation, die unausweichbar war. Denn von dem Augenblick an, in dem wir voller Freude feststellten, daß ich schwanger war, trieb mich eine immer sichtbarer werdende Kraft auf einen Punkt zu, vor dem ich nicht mehr fliehen konnte.« (Reim, 1984, 146)

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Dieser Augenblick, vor dem keine Flucht möglich ist, das Unbekannte der Geburt, auf das die Frau zustrebt, macht vielen Schwangeren Angst: »Trotz der Ablenkung wird mir jetzt doch manchmal ganz schön komisch. Ich weiß nicht, ob es Angst ist, auf alle Fälle ist es etwas Unbekanntes. Ich gehe jetzt öfter zu einer Freundin, die schon vor einem halben Jahr entbunden hat, und frage sie aus. Überhaupt bin ich sehr neugierig auf alles, was die Geburt angeht.« (ebd., 87 f.)

In seiner Unausweichlichkeit hat das auf die Geburt Zustreben, das Sein zur Geburt, wie erwähnt, Ähnlichkeit mit dem auf den Tod zulaufenden Sterbenden, dem Sein zum Tode. Solche Parallelen mögen sich etwa darin zeigen, dass Frauen kurz vor der Geburt von einem ›Aktivitätsschub‹ ergriffen werden, sich dem Erledigen ›letzter‹ Dinge widmen: »Am Abend vor der Geburt hatte ich zunächst einen ausgeprägten Aktivitätsschub. In der Wohnung versuchte ich, ein letztes Mal Ordnung zu schaffen, noch offene Korrespondenz erledigte ich. Danach folgte eine Phase, in der ich mich nicht mehr rühren wollte. Ich entschloß mich, ins Bett zu gehen. Ich hatte zu dem Zeitpunkt ein undefinierbares, aber sicheres Körpergefühl, daß ich mich bald von meinem Kind werde trennen müssen.« (ebd., 13) »Langsam sehnte ich nun den Termin herbei, manchmal hatte ich sogar den Wunsch, mein Kind wäre schon da. Vierzehn Tage vorher bekam ich einen wahnsinnigen Energieanfall. Ich putzte Fenster, richtete mein Zimmer für die Geburt her, als sei sie morgen.« (ebd., 164) »Die Tage kurz vor der Entbindung waren voller Hektik. Dieser Bewegungsdrang, wie er bei allen Frauen auftritt, tat mir gut, dadurch lenkte ich mich ab.« (ebd., 148)

Andere Frauen sind von einer Lähmung oder Hemmung der Bewegungsfähigkeit betroffen, die als Veränderung der allgemeinen Verfassung, wie kurz vor der Geburt typisch, erlebt wird. Zwei Tage vor der Geburt schreibt eine Schwangere, sie fühle sich »wie bisher noch nie«, müsse sich »laufend hinsetzen« und sei »total erschöpft« (ebd., 106). Häufig stellen sich weiterhin auch Ängste und Sorgen ein: »In der letzten Nacht hatte ich schlechte Träume, und auch tagsüber war Angst in mir. Ich spüre, wie sich mein Körper auf Deine Geburt vorbereitet, das verwirrt mich. … Ich spüre Vorbereitungswehen und glaube, daß es jeden Moment losgehen kann. Welche Verantwortung kommt da auf mich zu? Ich bekomme auf einmal große Angst vor dieser Verantwortung. Ich verkrampfe mich sehr und kann mich nicht dem Gefühl hingeben, daß du bald zur Welt kommen sollst.« (ebd., 25 f.) »Je näher der Geburtstermin rückte, um so größer wurden meine Sorgen um das Kind.« (ebd., 74 f.)

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Angst und Sorge beziehen sich sehr oft auf die Geburt und auch das Wohlergehen des Kindes. Die Angst vor der Geburt ist heute weniger als früher auf die Aussicht gerichtet, möglicherweise zu sterben, sondern auf die Schmerzen. Angst vor der Geburt kann aber nicht allein das Gebären selbst, sondern auch die Umstände betreffen, in die eine Gebärende geraten kann, also z. B. die Gebärsituation im Krankenhaus. Byatt (2002, 123) macht dies an ihrer Romanfigur Stephanie deutlich, deren Geburt von einer routinemäßigen Schamrasur und einem Einlauf begleitet sein wird, was heute in Europa nicht mehr üblich ist, aber Jahrzehnte lang aus ›hygienischen‹ Gründen durchgeführt wurde: »Sie fürchtete sich. Nicht vor dem Vorgang der Geburt, mit dem sie sich bedächtig vertraut gemacht hatte, sondern vor nebensächlichen Erniedrigungen im Krankenhausalltag – Klistieren und Rasiermessern –, über die sie hin und wieder stille Tränen weinte. Sie sagte sich, dass es keinen Zweck hatte, sich vor dem Geburtsvorgang zu fürchten, den die meisten Frauen ertrugen und heutzutage fast immer überlebten und der einen bestimmten Zeitraum umfasste, im äußersten Fall achtundvierzig Stunden. Sie sagte sich, dass man sich darauf einstellen konnte, fast alles für achtundvierzig Stunden zu ertragen. Die Frauen in der Klinik hatten Schauergeschichten ausgetauscht, denen sie nur mit halbem Ohr gelauscht hatte, Geschichten von Dammschnitten und Zangengeburten. Diesen Dingen sah man besser entgegen, wenn es soweit war, falls es soweit kam. Sie hatte ein Buch über natürliches Gebären gelesen – sie gehörte zu einer Generation, die sich eher an Bücher wandte als an die eigene Mutter – und war von den unnatürlichen Alternativen, die der Autor erwähnte, entsetzt gewesen. Sie machte sich nicht die Mühe, die vom Buch empfohlenen Entspannungsübungen durchzuführen. Sie hatte immer auf ihre Beherrschung des eigenen Körpers vertraut. Sie glaubte, dass Frauen trotz aller Zivilisation ein Gespür dafür besaßen, wie mit Dingen umzugehen war, die jedermann so zwangsläufig widerfuhren wie Nahrungsaufnahme und -ausscheidung. Wenn es naturgegeben war, sich zu entspannen, würde sie sich zum gegebenen Zeitpunkt entspannen. Wegen des Einlaufs und des Rasiermessers sagte sie jedoch einmal zu Daniel, es wäre ihr lieber, das Kind zu Hause zu bekommen. Daniel sah sie entsetzt an, sagte, wie sie es sich verzeihen sollten, wenn irgend etwas schiefging …«

An diesem Beispiel wird die ambivalente Stimmungslage einer Schwangeren deutlich, die sich mit dem Geburtsvorgang auseinandersetzt, wobei Gelassenheit hinsichtlich des leiblichen Geschehens, aber ein Unbehagen über seine von ihr selbst nicht zu beeinflussenden Umstände zu verzeichnen ist. Stephanie erwägt mit einer ordentlichen Portion Vertrauen in die eigenen körperlichen Fähigkeiten zwar eine Hausgeburt, die sie persönlich bevorzugen würde, deren Unwägbarkeiten gegenüber der ›sicheren‹ Krankenhausgeburt – mit freilich vorgewussten für sie selbst unangenehmen Umständen – jedoch zu einer Entscheidung für die Klinik führen. Die 494

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Leser erfahren später, dass die Vorstellungen hinsichtlich der Zumutungen im Krankenhaus, aber auch des Ausmaßes der leiblichen Nötigung untertrieben waren (dazu später mehr). Die Zumutungen, die Byatt ihre Romanheldin schließlich im Krankenhaus ertragen lässt, haben sich heute in großen Ausmaß gewandelt. Die Erkenntnis einer gesteigerten Empfänglichkeit der Hochschwangeren und Gebärenden für Gefühle und somit Atmosphärisches hat seit dem Ende der 1970er Jahre auf die Gestaltung von Gebäranstalten Einfluss genommen. Auch die in diesen Jahren zu verzeichnende rege Tendenz zur Hausgeburt zeigt, welche Bedeutung den Gefühlen als Atmosphären im Raum beigemessen wird. Eine Frau, die zu Hause gebären möchte, will über Atmosphärisches verfügen, will in einem ›geschützten Raum‹ die sie erwartende Ergriffenheit aufgefangen wissen, ist doch das Wohnen, so Schmitz (1995, 318), »Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum, wobei sich der Mensch mit den abgründigen Atmosphären, die diesen durchziehen, so arrangiert, dass er zu ihnen ein Verhältnis findet, in dem er mit einem gewissen Maß an Harmonie und Ausgeglichenheit leben kann«. Wenngleich der Trend zur Hausgeburt abgenommen und sich auf die ambulante Geburt im Kranken- oder Geburtshaus verlagert hat, wird in der Schwangerenbetreuung Wert darauf gelegt, dass sich die Frau mit dem Geburtsvorgang frühzeitig befasst, ein bestimmtes Übungsprogramm durchführt und sich mit den Gebär-Räumen auseinandersetzt. So wird versucht, die Angst vor der Geburt zu lindern bzw. zu kanalisieren. Parallel zu diesen Aneignungsprozessen wirkt aber auf die Hochschwangere mit einer Reihe gynäkologischer Untersuchungen und Beratungen heute ein nicht unerhebliches sozio-kulturell erschaffenes Konglomerat von Atmosphären ein, das auch zur Verunsicherung beiträgt.

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13. Geburt

»Die beiden wichtigsten Ereignisse des weiblichen Lebens, und weiter genommen des Lebens jedes Menschen, da ohne diese Ereignisse niemand existieren würde, sind mit Schmerzen verbunden, der erste Geschlechtsakt und die Entbindung.« (Groddeck, 1990, 73)

Die Geburt stellt in der Spannbreite weiblicher Leiberfahrung die extremste eigenleibliche Nötigung dar. Die Leibesfülle und nach unten ziehende Schwere drängt die Schwangere in geschützte Räume und behindert sie bei ihren alltäglichen Beschäftigungen. Das unausweichliche Ende eines monatelangen Zwischenzustands steht als Ereignis mit ungewissem Verlauf und Ausgang an, und daraus erklärt sich eine Stimmung des In-derSchwebe-Seins, in die sich ängstliche Erwartung, heute z. T. noch forciert durch den errechneten ›Geburtstermin‹, und freudige Hoffnung, Furcht und Sehnsucht mischen können. Der natürliche Impuls zur Geburt stammt aus dem Leibesinneren und ist von außen nur vage zu terminieren. Schon der Verlauf der Schwangerschaft erfolgt in eigenleiblicher Regie. Die Geburt steht ebenfalls unter dem Diktat des Leibes und drängt, ja zwingt sich nach ihrer eigenen Zeit auf. Die Schwangere kann ihr nicht ausweichen, sie ist zu ihrem Erleben genötigt und wird von diesem manchmal regelrecht überfallen und überwältigt. Die heutigen medizinischen Möglichkeiten können im Vergleich zu früheren Zeiten die Risiken der Geburt für Mutter und Kind sehr gering halten. Dennoch: Auch wenn dadurch Angst vermindert wird, wenn Atmosphärisches Beachtung findet und verschiedene Formen der Anästhesie zum Einsatz kommen, ist der Schmerz, oft begleitet von Angst, doch das dominante Erlebnis affektiver Betroffenheit während einer Geburt. »Angst und Schmerz«, so Schmitz (1998b, 338), »sperren den Menschen ab. Sie treiben ihn in die Enge, reißen ihn aus dem persönlichen und weltlichen Zusammenhang seines Lebens heraus«. Das trifft auch auf die Gebärende zu. Ihr drängt sich der rhythmisch in immer kürzeren Abständen wiederkehrende Schmerz auf, ein bis zur festen Härte Sich-Anspannen und Zusammenziehen des prall gefüllten Bauches. Die Wehen können sich zu 496 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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ganzleiblichem Ergriffen-Sein von Schmerz auswachsen und extreme affektive Betroffenheit auslösen. Es wird von Erlebnissen des auf- bzw. zerreißenden, zerplatzenden Leibes, des gewaltsamen Angriffs aus dem Leibesinneren, der von innen erfolgenden Vergewaltigung, der kolossalen Erschöpfung und des Eindrucks, sterben zu müssen, berichtet. Während im Säugetierreich die trächtigen Muttertiere ihre Herde meist verlassen und an einem abgeschiedenen Ort ihre Geburt ohne helfende Artgenossen bewältigen, sucht die gebärende Frau Mithilfe und wird selten allein gelassen. Die menschliche Geburt ist in nahezu jeder Gemeinschaft durch einen wie auch immer gestalteten Beistand geprägt. Wenngleich es ein kollektives Wissen um die basalen Vorgänge der Geburt gibt, beispielsweise über das Durchtrennen und Verknoten der Nabelschnur, gebären Schwangere in unserer Kultur nur selten und meist in Not- oder Extremsituationen alleine, ja man ist erstaunt, wenn man in den Medien zuweilen von Fällen hört, wo eine Mutter ihr Kind allein in einer Toilette geboren hat, ohne dass ihr oder dem Kind Schaden entstanden ist. Die Krankenhäuser halten für die Gebärende einen eigenen Raum bereit, den Kreißsaal, der Bezug auf ein Wort nimmt, das ausschließlich für die Gebärsituation gebräuchlich war und ist, das aus dem Mittelhochdeutschen abgeleitete Kreißen, das Gebären, das in Geburtswehen Liegen bzw. Sein. Die Gebärende ist eine Kreißende, eine von nötigender Leiberfahrung Betroffene, die in ihrem Kreißen die Hilfe anderer Menschen anruft. In früheren Jahrhunderten war dieser Beistand auf weibliche Mitglieder der Gesellschaft, die Hebammen und erfahrenen Mütter des Dorfes beschränkt; Männer wurden von diesem Geschehen und den daran anschließenden Wochenbettfesten ausgeschlossen. Nach einer wechselvollen Geschichte der Gebärsituation besteht dieser Beistand heute in unserem Kulturkreis in weitgehend unbekanntem, gemischt geschlechtlichem und in Schichten eingeteiltem Klinikpersonal, dem technischen Gerät zur Überwachung, dem ›Bauchladen‹ von Medikamenten und den Vätern oder engen Vertrauten, die in der Geburtssituation zugelassen werden. Das Prinzip der ›selbstständigen‹ Beleghebammen, die der Gebärenden vorher bekannt ist und ohne Schichtwechsel der Geburt beisteht, setzt sich aber auch in Krankenhäusern mehr und mehr durch. Es bedürfte näherer Analysen, um den Einfluss der sozio-kulturell geprägten, aus Privaträumen verbannten und der Öffentlichkeit entzogenen Gebärszene, des vorlaufend suggestiv wirkenden medizinischen Überwachungsprozesses der Schwangerschaft sowie der Programme und Strategien der Geburtsvorbereitung auf das Fühlen und Verhalten der Gebärenden darzulegen. Jedenfalls steht fest, dass trotz – oder gerade aufgrund – 497 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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massiver Einwirkung des medizinischen Diskurses, trotz umfangreicher Literatur über sogenanntes sanftes Gebären, trotz monatelanger Geburtsvorbereitung und medikamentöser Hilfe, trotz des heute zugelassenen Beistandes vertrauter Personen und der Vielfalt angebotener Gebärmöglichkeiten (Wassergeburt, Geburt im Hocken, Liegen, Sitzen, Stehen, Knien etc.), also eines Angebotes, das noch nie so reichhaltig war wie heute, die Gebärenden, vor allem Erstgebärende, häufig in einen Zustand des Außer-sichSeins geraten, da das leibliche Erleben eine Dimension annimmt, für die jeder gewohnte Maßstab von Erregungszuständen nicht mehr greift. Dass das Gebären schmerzhaft ist, ja bis zur Besinnungslosigkeit schmerzhaft sein kann, darüber kann auch die perfide Überwachungs-, Sicherheitsund Anästhesiemedizin eines technisch hochgerüsteten Gebärsystems und ein noch so ausgeklügeltes vermeintlich psychologisch auffangendes Umfeld nicht hinweg täuschen, darauf kann allenfalls der individuelle selbstbewusste Umgang mit dem eigenen Leibsein sowie mitfühlendes Begleiten durch vertraute Mitmenschen lindernd einwirken. In modernen, von allwissenden Experten und Apparaten begleiteten Gebärsituationen scheint es den Betroffenen, die meist bereits eine von vielen Sorge-Suggestionen und Entfremdungen durchzogene Schwangerschaft durchlebt haben, jedoch immer schwerer zu fallen, sich im Gebären so zu finden, dass eine eigenständige Bewältigung der Abgründe von Betroffenheit ohne allzu große Eingriffe in die individuelle leibliche Autonomie gelingt. Damit sollen die Verdienste und Errungenschaften der modernen Geburtsmedizin nicht geleugnet werden, die mit Problemsituationen im Geburtsverlauf, z. B. einem notwendigen Kaiserschnitt, extremen Schmerzen und der Lebenserhaltung von Frühgeborenen, viel besser zurecht kommt als je zuvor und maßgeblich zur Reduktion der Mütter- und Säuglingssterblichkeit beigetragen hat. In historischer Perspektive stand das Gebären hinsichtlich der Erzeugung von Atmosphären unter dem christlichen Edikt »Du sollst in Schmerzen gebären«; die Gebärtechnologie von heute steht unter der Suggestion »Du musst nicht mehr in Schmerzen gebären« – selbst der medizinisch nicht notwendige, aber gewünschte Kaiserschnitt wird vielerorts gewährt. Gleichwohl bleibt das Gebären ein leiblicher Vorgang, der die Lebenssituation einer Frau signifikant, wenn nicht dramatisch verändert und der Regelung, nicht nur im medizintechnischen und arbeitsrechtlichen, sondern auch im mitmenschlichen, im weiteren Sinne ethischen Kontext bedarf, wozu vor allem Schutzvorkehrungen, Beistandszusicherung und das Recht auf Selbstbestimmung gehören.

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13.1 Eröffnung des Geburtsvorgangs Der normale Geburtsverlauf ist ein allmählicher, sich mehr oder weniger lang hinziehender Prozess, der gemeinhin in zwei Phasen unterteilt wird, die Eröffnungs- und die Austreibungsphase. Im anatomisch-physiologischen Körpermodell spricht man von Kontraktionen des Uterus mit dem Ziel der vollständigen Öffnung des Muttermundes, die dann eine Austreibung des Fötus ermöglicht. Die natürliche Geburt kann, da sie nicht exakt zu terminieren ist, sondern abgewartet werden muss, zu einem beliebigen Zeitpunkt beginnen. Der heute von Gynäkologen per Formel errechnete wahrscheinliche Geburtstermin bezieht sich auf den Zeitpunkt der letzten Menstruation und berücksichtigt in keiner Weise den individuellen Empfängnistermin, wie er von Schwangeren, etwa per Erinnerung, eruiert werden könnte. Der Umgang mit dem diagnostischen Faktum »Geburtstermin«, der z. B. für die Festlegung der pränatalen Mutterschutzfrist im Arbeitsrecht maßgeblich ist, kann für die Schwangere von einiger Bedeutung sein. Er suggeriert die paradoxe Vorstellung von der Geburt als eines terminierbaren Ereignisses, dem der Leib Folge zu leisten hat, und konfrontiert die Schwangere und ihre Mitmenschen nicht selten mit erheblichem Erwartungsdruck. Man erwartet – überspitzt gesagt – nicht das Kind, sondern den ›Termin‹, also dass sich das Kind innerhalb eines von Anderen festgelegten Zeitraums von 24 Stunden zeigt, dass es ›nach Plan‹, einem an individuellen Parametern standardisierten Plan, auf die Welt kommt. Der »Geburtstermin« wird also häufig als Grenz- oder Schwellenwert fokussiert, auf den sich in den letzten Wochen der Schwangerschaft alles Sehnen, Erwarten und Hoffen richtet. Wird der Termin unterschritten, fragt sich die Schwangere vielleicht, ob es, die Geburt, überhaupt schon so weit sein kann und gerät u. U. in Sorge hinsichtlich eines ›normalen‹ Verlaufs. Wird der Termin überschritten, leiten Gynäkologen nach einer Toleranzfrist von wenigen Tagen bis zu zwei Wochen bzw. sobald sich Risiken andeuten die Geburt künstlich ein. Die meisten Frauen lassen sich zur errechneten ›Geburtszeit‹ ihr ›Krankenbett‹ in der Klinik reservieren und stellen sich nach Gesichtspunkten objektivierter Zeit auf ihre Geburt ein. In der überaktiven modernen Schwangerschaftsbetreuung werden Mutter und Kind kurz vor und insbesondere nach dem errechneten Geburtstermin mit Akribie überwacht. Nach der letzten Eintragung im Mutterpass, der letzten ›regulären‹ Diagnose des Zustands der Schwangeren und ihres Babys als Patienten, steht nur noch die Diagnose »Geburt« fristgerecht im Raum. Wenn nicht in die natürlichen Abläufe eingegriffen wird und die Ge499 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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burt sich im Rahmen der medizinisch akzeptablen Zeit ›einfindet‹, geschieht sie der Schwangeren; sie drängt irgendwann mit leiblichen Regungen und Sensationen ins Erleben und kann aus diesem dann zwar noch phasenweise, aber in der Regel nicht mehr gänzlich hinausgedrängt werden. Das Spektrum von Varianten, mit denen sich die Geburtseröffnung leiblich manifestiert, ist recht vielfältig und kann nur in einigen Spielarten vorgestellt werden. Eine amerikanische Vagabundin, die keine Ahnung von ihrem »Geburtstermin« hatte und für die auch die Mutterschutzfrist irrelevant war, schreibt in ihrer Autobiographie, sie sei jäh aus ihrer Arbeit gerissen und an die bevorstehende Geburt erinnert worden, »als ein plötzlicher Schmerz mir durch den Unterleib fuhr« (Boxcar, 1988, 236). Der Bauch von Schwangeren kann sich aber auch schon Wochen vor der Geburt »in erwartungsvoller Anspannung« befinden, in das gelegentlich ein »Rumoren« hineinragt (Shaw, 1998, 20). Häufig werden Schwangere nachts von Regungen ihres Leibes geweckt oder aber am Tag plötzlich von einer besonderen Frische überrascht: »Nach etwa zweieinhalb Stunden Nachtschlaf war ich plötzlich hellwach. Das war ganz ungewöhnlich für mich (wie kämpfe ich doch jeden Morgen mit dem Wachwerden). Ich wurde sehr hellhörig. Offensichtlich bereitete sich mein Körper auf die Geburt meiner Tochter vor. Es geschah einfach. Ich wurde nicht dazu gehört. Ich hätte gern gesagt, daß ich die unmittelbare und intensive Beziehung noch gern eine Weile genossen hätte. … Weder meine Tochter noch ich wurden gefragt. … Ich mußte mich aber damit abfinden, daß die Natur nüchtern und logisch funktionierte.« (Reim, 1984, 13 f.)

Das nächtliche Aufwachen kann von vorbereitenden Wehen begleitet sein, die sich dann wieder verflüchtigen, wie in diesem Beispiel: »Am 3. Juli war ich um 4.30 Uhr mit Wehen aufgewacht. … Ich hatte den Eindruck, daß die Wehen alle zehn Minuten kommen und etwa zehn Sekunden dauern. Ich hatte noch viel Zeit. Schlafen konnte ich aber nicht mehr. Das Kind machte zwischendurch immer ordentliche Bewegungen. Jetzt! Wieder eine Wehe!« (ebd., 124) In der nächsten Nacht kommt es wieder zum abrupten Wachwerden: »Um 2.30 Uhr wachte ich durch starke Wehen auf. Ich dachte: Sind die stark! … Ich mußte tüchtig atmen, um sie zu ertragen.« (ebd.)

Wenn sich nicht bereits Wehen deutlich spürbar ›melden‹, kann die Eröffnung des Geburtsvorgangs auch als diffuses Zerren im Unterleib oder auch ohne solche leiblichen Regungen, aber durch den Abgang von Blut oder Schleim bemerkt werden: »Vor ein paar Stunden bemerkte ich leichte Blutungen. Der Geburtsprozeß hat also wirklich begonnen. Ich kann es immer noch nicht fassen. Ich bin verwirrt, irritiert

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und weiß nicht, wohin mit meinen Gefühlen. … Ich möchte schreien, lachen, weinen, eben einfach all meine Gefühle zeigen.« (ebd., 26)

Eine Aufruhr der Gefühle ist ebenso charakteristisch wie häufiger Urindrang oder Schwierigkeiten schlafen zu können, auch wenn sich keine besonderen Regungen einstellen: »Die Nacht verlief ruhig. Ich habe aber kaum geschlafen. Am Nachmittag bemerke ich beim jetzt häufigen Gang zur Toilette etwas blutigen Schleim.« (ebd., 106) Gelegentlich mag sich auch eine leibliche Schwere aufdrängen, die fast den Eindruck der Bewegungsunfähigkeit vermittelt, so wie in dem Roman »Ein Mensch ertrinkt«, in dem die Protagonistin Marie aufstehen will, um ihren Durst zu löschen, doch: »Wie Gewichte hängen die Füße an ihrem Leib, in dem der Schmerz wühlt. Ein Zerren und Ziehen ist in den Därmen … Wie heiß und schwer ihre Schenkel sind – man könnte glauben, es flösse glühendes Öl statt des Bluts in den Adern.« (Goll, 1988, 151)

Das Zerren und Ziehen im Unterleib wird von kürzeren oder längeren Pausen unterbrochen, »die der neue Schmerz benutzt, um zu reifen«, und während dieser Pausen ist Golls Figur »Marie eingeschlummert« (ebd.), um erneut von den Regungen ihres Unterleibes zu erwachen. Andere erleben die Eröffnung der Geburt wie Darmkrämpfe, schließlich Bauchschmerzen, die ein Entspannen im Schlaf unmöglich machen: »Ich hatte den ganzen Tag und auch in der Nacht Krämpfe wie bei einer Darmgrippe. Als ich dann am 23. Juli um 6 Uhr morgens mit starken Bauchschmerzen aufwachte, wußte ich, heute ist es soweit. … Ich versuchte, noch einmal einzuschlafen, doch die Krämpfe kamen schon wieder. Es mußten die Wehen sein.« (Reim, 1984, 27)

Eine weitere Variante der Eröffnung des Geburtsvorgang ist der Blasensprung, der sich gelegentlich einstellt, ohne dass es zu Wehen kommt. Mediziner sprechen dann von einem vorzeitigen Blasensprung als einer unnormalen Entwicklung, die unter Beobachtung gestellt wird. In den meisten Fällen eröffnet sich die Geburt aber mit den ersten Wehen.

13.2 Die ersten Wehen Erste Wehen werden häufig als »leichtes Ziehen im Bauch«, »wie leichte Menstruationsschmerzen« (Reim, 1984, 89) geschildert, die noch nicht besonders schmerzhaft sein müssen und sich erst allmählich und zyklisch entfalten: 501

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»Gegen sieben Uhr wurde ich wach. Da war es: Ein ganz leichtes Ziehen in meinem Bauch, das schnell wieder verschwand. … Nach fünfzehn Minuten kam es wieder, und da wußte ich, daß es Wehen waren.« (ebd., 93) »Es tat nicht weh, nur der Bauch wurde alle fünfzehn Minuten hart.« (ebd., 148) »Ich habe es anfänglich als etappenweises Ziehen empfunden.« (ebd., 173)

Die Wehen als leibliche Phänomene zu beschreiben, fällt vielen Frauen schwer, handelt es sich doch, vor allem für Erstgebärende, um unbekanntes eigenleibliches Spüren: »Wie soll ich dieses Gefühl beschreiben? Ich spürte ein starkes Zusammenziehen meines Bauches. Es schien unten zu beginnen und steigerte sich langsam, so daß mir die Luft wegblieb. Es ist ein stechender Schmerz, der zunächst noch Ähnlichkeit mit starken Blähungen hat.« (ebd., 138)

Die spezifische Rhythmik der Wehen wird vielfach mit Bildern des Wassers, der Wellen und Anbrandungen geschildert: »… dieser Schmerz, der sich wellenförmig entwickelte, sich steigerte, umzukippen drohte, entlud sich wie die Wellen in der Brandung, die im Kieselgeröll zur Ruhe kommen und langsam absickern.« (ebd., 14)

Häufig werden die ersten Wehen mit Menstruationsbeschwerden oder Rückenschmerzen verglichen; es ist vom Hart-Werden des Bauches und geringen oder stärkeren Impulsen von Engung und Weitung im Unterleib die Rede, von Impulsen, die in keiner Weise der Verfügbarkeit anheimgestellt sind. Werden diese Regungen zunächst noch nicht als sonderlich schmerzhaft empfunden, steigern sie sich in der Regel irgendwann, je nach dem individuellen Fortschreiten der Geburt: »Zuerst war es nur ein Hartwerden des Bauches, ohne große Schmerzen. Nach etwa drei Stunden wurden die Wehen heftiger und kamen auch regelmäßig alle zehn Minuten. Wir warteten, bis die Wehen alle drei Minuten kamen und ich es kaum noch vor Schmerzen aushalten konnte. Meine Wirbelsäule wurde bei jeder Wehe gefoltert, und an richtiges Atmen war nicht zu denken.« (ebd., 75)

Die Intensität des Empfindens kann durch Entspannungs- und vor allem Atemtechniken gemindert werden. Das in Geburtsvorbereitungskursen als ›Trockenübung‹ Erlernte muss allerdings in der Situation des massiv schmerzenden Leibes neu angeeignet werden. Die Gebärende hat sich mit der affektiven Betroffenheit, die sie mit der Geburt überfällt, zu arrangieren, sich in ihr zu finden: »Anfangs fühlten sich die Wehen wie starke Periodenschmerzen an. Mein Bauch wurde hart, und alle Muskeln im Bauch, Rücken und Unterleib schienen mit aller

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Kraft nach unten zu ziehen. Später wurden die Kontraktionen stärker und damit auch schmerzhafter, so daß es mir anfangs noch schwergefallen ist, mich nicht gegen die Schmerzen zu sträuben. Erst nach einer Weile hatte ich die Schmerzen akzeptiert und versuchte, die Atemtechniken, die ich vorher gelernt hatte, so gut es ging, anzuwenden.« (ebd., 181)

Diese Frau beschreibt ihre Auflehnung gegen die Schmerzen, eine natürliche Reaktion, der von Schmitz beschriebene Impuls »Weg!«, der für das Gebären aber kontraproduktiv ist. Auflehnung, ja Verkrampfung verstärken die Wehen und führen zu einer Intensivierung der Schmerzen, da es sich um letztlich summierende und potenzierende Phänomene leiblicher Engung handelt. Die immer wieder geschilderte Schwierigkeit beim Gebären besteht darin, die Schmerzen geschehen, den Leib in seiner Geburtstätigkeit er selbst sein zu lassen und diese große Anspannung des Bauches, ja des gesamten Leibes entspannt zu begleiten und in die Wehe konkret ›hineinzuatmen‹. Dies gilt im Besonderen für die Eröffnungsphase, in der sich die Wehen allmählich entwickeln und ganz im Sinne des Pathischen erlitten werden. Die Wehenschmerzen drängen sich mit der Zeit immer stärker auf und beeinflussen die Tätigkeiten der Gebärenden, wobei meist eine geeignete Körperposition gesucht wird, in der die ›Anbrandungen‹ des Schmerzes ertragen werden können: »Endlich, am 14. nachts, bekomme ich Schmerzen wie bei der Mensis, nur viel stärker. Sie ziehen stark in der unteren Rückengegend. Ich kann nicht schlafen, nicht liegen, laufe im Zimmer rum und verbringe die Nacht mit Stricken und Radiohören. Oft kann ich nicht mehr sitzen. Ich hocke oder beuge mich über den Tisch.« (ebd., 164 f.)

Gebärende verhalten sich in der Eröffnungsphase selten völlig ruhig: Die leiblichen Regungen und Sensationen drängen sie in bestimmte Haltungen, Bewegungsabläufe, Streckungen. Mit der Aufruhr des Leibes werden Möglichkeiten zur Entspannung gesucht. »Wehen – ein Zustand, ein Gefühl, das mir vorher nie bekannt war. Der Bauch zog sich zusammen, leichte schmerzliche Empfindung – Atemtechnik. Noch beherrsche ich alles spielend. Die Wehen klingen wieder ab. … Doch die Nacht wird die unsere. Mit heftiger werdenden Wehen macht es sich den Weg frei. Die Zeitabstände werden immer kürzer. Ich muß ständig zur Toilette: Urin, Stuhl, Wehen … Das Bad wird mein ›Wehenzimmer‹. Die Atemtechnik hilft mir sehr gut.« (ebd., 106)

Die Art und Dauer der Eröffnungsphase hängt von vielen individuellen und kollektiven Gegebenheiten ab und ist bei keiner Geburt, auch nicht bei mehreren Geburten derselben Frau, identisch. Typisch ist aber, wenn 503

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es sich nicht um eine – äußerst selten vorkommende – ›Sturzgeburt‹ handelt, eine Intensitätssteigerung der Wehen und die allmähliche Verkürzung des Intervalls der Pausen zwischen den Schmerzwellen.

13.3 Fortgesetzte Wehentätigkeit Die leiblichen Phänomene von der Geburtseröffnung über die ersten Wehen bis hin zur fortschreitenden Wehentätigkeit entfalten sich in einem Prozess, der in folgender Geburtsbeschreibung aus der Belletristik anschaulich dargestellt wird und daher ausführlich referiert sei. Die bereits früher erwähnte Romanfigur Stephanie spürt als erstes, dass »ihr Rücken schmerzte« (Byatt, 2002, 124). Der Schmerz wird als ringförmig sich zusammen ziehend erfahren: »unter dem Gewicht bildete der Schmerz einen Ring wie die eisernen Bänder um das Herz des treuen Dieners im Märchen«; »ihr Kopf war plötzlich ganz klar« (ebd.), das Bewusstsein hellwach. Während sie noch dabei ist, den Teig für ein Brot zuzubereiten, beginnt der Leib mit der Eröffnung der Geburt durch erste Wehen: »Sie bückte sich, um die Brotformen hervorzuholen, und stieg auf einen Hocker, um nach dem Gefäß mit Mehl zu langen. Der eiserne Ring zog sich zusammen und gab nach, als sie herunterstieg.« (ebd.)

Deutlich spricht das Bild des ›eisernen Ringes‹ von einer erlebten Härte. Unverfügbar nimmt das Geschehen seinen Lauf: »Sie fuhr sich mit einer mehlbestäubten Hand über die Stirn, und der Schmerz traf sie, rein und klar wie ein musikalischer Ton, breitete sich vibrierend von der Störung im Rückgrat aus, ebbte ab. Sie begriff ungewöhnlich langsam …« (ebd., 125)

Sie fährt mit der Zubereitung des Teiges fort, »als der Schmerz unvermittelt wieder zustieß, noch schärfer, und sie sich an der Tischkante festhalten musste; diesmal spürte sie auch die machtvolle Kontraktion der Muskeln, die sich in ihrem Inneren zusammenzogen ohne jedes Anzeichen von Wollen oder auch nur Bereitschaft ihrerseits« (ebd.). Der Schmerz stieß also zu, mit epikritischer Tendenz, gleichsam wie ein Messer scharf in den Leib stößt. Dass sich die Gebärende am Tisch festhält, später gar am Türrahmen festkrallt, resultiert aus dem Impuls, die Spannung gewissermaßen ab- oder umzuleiten. Schließlich wird »Stephanie abermals vom Schmerz gepackt, so dass sie beinahe stürzte«: »Sie beugte sich zur Wand, krallte sich an den Türrahmen, hielt die Luft an und betastete mit der freien Hand ihre harte Seite, die sich nach oben wellte. … Sie

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keuchte und verharrte, bis der Schmerz wieder nachließ, ging dann zum Telefon und wählte den Notruf.« (ebd., 126)

Sie packt ihren Koffer, »Schweiß auf der Stirn, und konnte sich vor Schmerzen nicht aufrichten; diesmal bohrten und zerrten die Schmerzen in ihr, statt zu vibrieren, weil sie die falsche Haltung innehatte, weil sie verspannt war.« (ebd., 127) Später »spürte sie, wie es in ihr rieb, zog und zerrte«; »Wasser rann ihre Beine hinab«, das Fruchtwasser. Häufig berichten Frauen, die durch das Geburtspersonal oder andere Umstände in bestimmte Körperhaltungen gezwungen werden, von einer Verstärkung und Veränderung der Schmerzen und einer Störung ihres ureigenen Rhythmus. Das widerfährt auch Stephanie, deren Gebären in die 1950er Jahre fällt, wo man Frauen noch die Scham rasierte, einen Einlauf machte und Ruhe verordnete, wiederholte Male: »… was an Stephanie nicht warm und feucht war, wurde kalt und feucht, weil die Schwestern … den Rhythmus der Schmerzen störten, die aufschrillten und zuckten, statt wie vorher durchdringend zu vibrieren« (ebd., 128).

Der Einlauf versetzt Stephanie u. a. in »panische Angst«: »Die verschiedenartigsten Schmerzen stürmten auf sie ein, überlagerten sich wie einander überholende Flutwellen, wie unruhige Querströmungen in einer Flussmündung. … Als die Pein in ihren Eingeweiden nachließ, verspürte sie fast Erleichterung.« (ebd., 128 f.)

Doch der Wehenschmerz hält sie weiter fest im Griff. Sie »spürte, hörte oder meinte zu hören, wie in ihrem Becken Knochen knackten und splitterten.« In ein leeres Zimmer gebracht, begreift Stephanie, dass es sich nicht um eine »Prüfung handelte, die ihr auferlegt war, sondern dass es um zwei Menschen ging. Dass all dies zwei Menschen widerfuhr. Dass jemand hinausgelangen musste. Dass es unvorstellbar war, dass ein weiblicher Körper jemals offen oder elastisch genug sein konnte, um etwas in der Größe eines Babys hinausgelangen zu lassen. Dass es dennoch ein Ende geben musste – musste« (ebd., 129). Damit wird der numinose Aspekt der Geburt thematisch; es erscheint der Protagonistin schier »unvorstellbar«, dass ihr Körper das Kind jemals ›freigeben‹ könnte. Zwischen den Schmerzwellen gibt der Leib der Gebärenden wieder Ruhe, wobei diese Intervalle jedoch im Laufe der Eröffnungsphase immer kürzer werden. Von »Schmerzen überwältigt« (ebd., 130) empfindet Stephanie das verordnete Liegen als zusätzliche Pein: »Es hatte etwas Lächerliches, auf dem Rücken zu liegen, während die Schmerzen an einem zerrten – und etwas unnötig Schmerzhaftes. Sie rollte sich mühsam auf die

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Seite, was Krampfwellen auslöste. … Beim nächsten schmerzfreien Intervall hob sie die Beine vom Bett und ging zum Fenster. … sie hielt sich am Fensterrahmen fest und atmete tief ein, und dann gehorchte sie einem unwiderstehlichen Instinkt und begann rhythmisch im Zimmer auf und ab zu gehen, machte an der Wand kehrt, mit erhobenem Kopf und geweiteten Nasenflügeln. Als die nächste Schmerzwelle hereinbrach, konnte sie sie in den Rhythmus dieses Marschierens einbinden, in den Weg von Wand zu Wand und wieder zurück. Sie nahm den Schmerz wie eine Außenstehende wahr, lauschte seinem An- und Abschwellen, ließ ihn kommen.« (ebd., 130 f.)

In dem unwillkürlichen Impuls, die Schmerzwellen in Bewegungsrhythmen einzubinden und dadurch Erleichterung zu finden, wird Stephanie jedoch vom Krankenhauspersonal gestört. Ihr Protest und ihre Erklärungen werden abgewehrt, die sich ihr vom Leibe selbst aufdrängenden Bewältigungsformen als »unvernünftig« abgetan; Wut steigt in ihr auf: »Sie stand da wie ein begossener Pudel, und der Schmerz würgte wie ein Netz, unter dem sie zu ersticken drohte, wie jedesmal, wenn sein eigener Rhythmus gestört wurde, so dass ihr schwindelig wurde und man ihr ins Bett helfen musste …« (ebd., 131)

Es kann nicht weiter darauf eingegangen werden, wie in diesem Beispiel und in vielen anderen Fällen Gebärende für unmündig erklärt werden und an dem Prozess der eigenständigen Bewältigung des leiblichen Geschehens gehindert werden. Es gibt geradezu grauenhafte Schilderungen über Geburten, deren Erleben durch eine falsch verstandene, womöglich überaktive Geburtshilfe zum Trauma wurden oder die mit unnötigen Eingriffen und Komplikationen beladen wurden, weil man der Frau die Freiheit entzog, sich in dem Vorgang selbst zu finden. Heute lässt man Gebärenden in den westlichen Kulturen glücklicherweise mehr Spielraum für die Entfaltung eigener Umgangsformen mit den Wehen (keine Frau muss in Deutschland heute die Geburt im Liegen abwarten), was in Bezug auf die Emanzipation der Gebärenden in jeder Hinsicht als Fortschritt zu bewerten ist. Zu dieser Emanzipation gehört auch das Angebot einer breiten Palette von Schmerzmitteln und Anästhetika wie der Periduralanästhesie (PDA), die häufig allzu schnell, zuweilen sogar schon vor der Geburt angeboten und gerne angenommen werden. Die individuellen Methoden, mit den Wehen umzugehen, sind, wenn man Gebärenden Spielraum zur Entfaltung lässt, sehr verschieden. In der Eröffnungsphase wird das Gehen, also ein rhythmischer Bewegungsablauf des gesamten Körpers, in den sich auch das Atmen rhythmisch einbetten lässt, häufig als angenehm empfunden. Ein Paar berichtet z. B. beim Spaziergang von gemeinsamer Arbeit am Geburtsprozess: 506 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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»Alle zehn Meter blieben wir stehen, weil eine Wehe begann. Peter massierte mir den Rücken. Je mehr Druck er ausübte, desto angenehmer war es mir. Schließlich bat ich ihn, mir richtig ins Kreuz zu schlagen. So hatte ich am meisten Erleichterung.« (Reim, 1984, 79)

In anderen Phasen mag ein heißes Bad hilfreich sein, weil es dem durch die Schmerzen angespannten und in die Enge getriebenen Leib die Möglichkeit bietet, sich zu entspannen und Anschluss an die Weite zu finden: »Das wirkte Wunder. Die Wehen spürte ich nur noch am Hartwerden des Bauches. Meine Schmerzen waren weg. Ich registrierte eine Wehenfolge von einer halben Minute Abstand. Als ich nach einer halben Stunde die Wanne verließ, spürte ich die erste Preßwehe.« (ebd., 80)

Schon die im Rahmen der Eröffnungsphase geschilderten leiblichen Regungen und Sensationen machen deutlich, dass es sich beim Gebären um eine exigente leibliche Nötigung handelt, die eine Gebärende durch wiederkehrende Schmerzen allmählich und zunehmend aufdringlicher aus ihrem Alltag heraus zwingt. Die Schmerzen im Unterleib, in Bauch und Rücken drängen sich nicht allein als stechende, vibrierende, rasselnde etc. auf, sie reißen den Leib gelegentlich mit sich, reißen ihn in bestimmte Körperhaltungen oder aus solchen heraus, sie überwältigen die Erlebende nicht nur durch affektive Betroffenheit, sondern auch durch Übernahme des Körpers. So wird von Bewegungsbeeinträchtigungen gesprochen, ja vom Verlust der willentlichen Kontrolle über die eigenen Bewegungen: »Nach vier Stunden Eröffnungsperiode wurde es bei den Wehen plötzlich sehr schwierig, aufrecht zu gehen. Ich versuchte, durch kontrolliertes Atmen etwas dagegen zu setzen, doch was ich während einer Wehe in der Hand hielt, flog einfach durch die Luft.« (ebd., 14) »Ich hatte um diese Zeit schon viel Mut verloren. Warum konnte ich mich nicht entspannen? Sobald ich versuchte, mich ganz locker zu lassen, fingen alle Muskeln an zu zittern. Meine Zähne klapperten, meine Hände flogen und über meine Beine schien ich jegliche Kontrolle zu verlieren.« (ebd., 139)

Mit dem sich aufbauenden Wehenrhythmus und dem z. T. äußerst vehementen und plötzlichen Sich-Aufzwingen ungewohnter und beeinträchtigender Schmerzen sieht sich die Gebärende einer Situation gegenüber, der sie ausgesetzt ist und die sie zu einer Auseinandersetzung nötigt. Geburtsvorbereitungskurse vermitteln zwar Methoden zur leiblichen Meisterung der Wehen, in der konkreten Situation hat sich die Gebärende aber in ihrem schmerzenden Leib zu finden und ihm auf ihre Weise zu begegnen. Dazu gehört auch die Entscheidung über den Zeitpunkt des Anrufens mit507

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menschlicher Hilfe, des Aufsuchens der Gebäranstalt und der Wahl einer Schmerzmedikation. Viele Erstgebärende sind überrascht von der Intensität des Wehenschmerzes: »Ich hatte einfach nicht erwartet, daß es dann derart weh tun würde, aber Schmerzmedikamente wollte ich auch nicht nehmen, um mein Kind nicht zu betäuben.« Mit einer »rationalen Denkungskraft kontrollierte ich meine Atmung und ging in die Schmerzwellen hinein wie in die heranrollenden Brandungswellen eines aufgepeitschten Meeres. Ich stemmte mich nicht gegen sie, denn ich wußte, gleich ist diese Welle durch mich hindurchgerauscht, und es gibt eine Erholungspause.« (Stopczyk, 2000, 204)

Häufig wird bei fortgesetzter Wehentätigkeit von zunehmender Überwältigung berichtet, die das Schmerzgeschehen so sehr in den Vordergrund rückt, dass die Umgebung sich für die Wahrnehmung der Gebärenden verflüchtigt. Was um sie herum geschieht, ist ihr gleichgültig geworden: »Die Wehentätigkeit nahm intensiv zu. Zeitweilig hatte ich schon das Gefühl, nicht mehr weiter zu wollen. Ich stöhnte und atmete schwer, es war mir alles egal.« (Reim, 1984, 15) »Mein Körper war meiner Kontrolle völlig entglitten. Ich war wie eine stumpfsinnige Maschine. Stumpfsinnig, weil ich nichts mehr von meiner Umgebung wahrnahm, bis die Preßwehen einsetzten. Mir war alles so gleichgültig …« (ebd., 149)

Das Gebären kann zu einer Grenzerfahrung werden, in der auch jede Hemmung oder Lenkung des mit den Schmerzen verbundenen Selbstausdrucks unmöglich wird. So sind Frauen, die sich zuvor gegen eine Verabreichung von Medikamenten gewehrt hatten, in der affektiven Betroffenheit vom Schmerz schnell bereit, diese Vorsätze aufzugeben. »Diese Urgewalt, die mein Körper nun entwickelte, faszinierte mich. Ich versuchte, mich gegen den Schmerz aufzulehnen. Es gelang mir nicht. Mein Bauch überrollte mich. Auf dem Entbindungsstuhl brüllte ich … In diesem Augenblick wollte ich die Spritzen und all die Medikamente, die ich vorher in Gedanken abgelehnt hatte. Ich wollte doch so tapfer sein, und nun ertrank ich in einem Meer aus Schmerz, Gefühl und Angst.« (ebd.)

In der durch Wehen hervorgerufenen Grenzerfahrung werden gelegentlich mystische Erlebnisse mit veränderter Wahrnehmung geschildert, wie z. B. von der Philosophin Annegret Stopczyk (2000, 205): »Innerlich, in eigenleiblicher Erlebnisperspektive, wurde mir das Gebären ein mystischer Verlauf mit vielen Geheimnissen. Mit aufreißender Macht brachen neue Wahrnehmungsweisen in mir durch, die meine sehr rationale Vernunfthaltung zutiefst in Frage stellten. Nie wieder konnte ich seither in meine vorgebärende naive

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Vernunftidentität zurückfallen. Es war so, als ob meine glatte Oberfläche von innen her in die Tiefe verbunden worden wäre.«

Stopczyk (ebd., 206) halluziniert, hat Reh-Visionen und empfindet sich als »sanftes, mildes, leicht verwundbares Wesen«: »Ich fühlte dieses innere Reh-Sein als erleichternde Geburtshilfe … Insofern erlebte ich Gebären tatsächlich als ›tierisch‹, aber in einer vermittelten Weise, nicht als dumpfes, besinnungsloses Ausbrüten, wie sich das so manche Philosophen und auch die Philosophin Simone de Beauvoir vorstellten.«

Das Gebären ist für Stopczyk (ebd., 207 f.) aber auch ein Todeskampf, wobei die Schmerzen als überwältigend, bedrohlich und auf Selbstvernichtung gerichtet erscheinen: »Im Gebären fand für mich ein Kampf mit dem Tod statt, der mich heftig mit naturgewaltiger Kraft erschütterte. Dabei tobte immer rasender diese dunkle Todeskraft in mir, als ob der Schmerz mich zu vernichten drohte. Im tiefen Schmerz erschienen mir viele aufgerissene Menschenmünder, die ganze Erde schien zu stöhnen, gemarterte Leiber unter polternden, gräßlich hohnlachenden Menschenmonstern quälten sich in diesen Bildern, die an Hieronymus Bosch und Munch erinnerten. Der ganze Wehenschmerz schien in mich einzuströmen und mich zu überwältigen. Der ›schwarze Mantel‹ wollte sich über sie legen und sie zu Tode bringen, aber durch mein konzentriertes Atmen konnte ich diese Niederlage verhindern. Mein individuelles Leiden schien sich mit dem Leiden in der ganzen Welt zu verbinden. Gewaltig und fremd fühlte ich mich, als sei ich der Weltschmerz persönlich. Aber gleichzeitig spürte ich durch ihn hindurch meinen Lebenswillen und meine inneren liebevollen Anfeuerungsgedanken an mein Kind. Wir schienen mit unserer gemeinsamen Kraft mit dem Tod zu ringen, der immer wieder zur Lebensaufgabe verlockte, zur Sehnsucht nach der totalen Stille in der Resignation. Zum ersten Mal verstand ich, was tiefe ›Todessehnsucht‹ sein kann, wie sie in Schmerzphasen dazu verlockt, ›den Leib fallenzulassen‹, einfach aufzugeben, zu sterben.«

Auffällig und eher untypisch ist an dieser Schilderung der Gedanke an das Kind bzw. das Erleben eines gemeinsamen Ringens von Gebärender und Kind mit dem Tod. Viel häufiger sind dagegen Berichte darüber, dass in den tiefen Abgründen des Schmerzes kein Gedanke auf das Kind gerichtet wird, sondern die Frau selbst zum Schmerz geworden, der Schmerz ist. Charakteristisch ist dagegen der Wunsch, von dieser Flut von Schmerz ›endlich‹ durch den Tod erlöst zu werden. Dass allerdings in Deutschland, wie Stopczyk (ebd., 208) schreibt, »tatsächlich noch sehr viele gebärende Frauen« sterben, lässt sich statistisch nicht belegen. Zuzustimmen ist ihr aber wiederum in der Bemerkung, die »schmerzfreie Geburt als neues Leistungsziel für alle Frauen« (ebd.) würde das Erleben der Frauen ignorieren. 509

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Eine völlig schmerzfreie Geburt oder eine Geburtserfahrung als erotisches Erleben oder gar Orgasmus, wie etwa bei Groddeck oder später bei Kitzinger u. a. angedacht, ist – jedenfalls für unsere Kultur – ebenso wenig denkbar, wie die manchen Naturvölkern nachgesagten, angeblich nur wenige Minuten dauernden Geburten auf dem Felde, die nichts weiter als eine kurze Unterbrechung der Arbeit bedeuten. Es soll zwar nicht in Abrede gestellt werden, dass es ›leichte‹ Geburten gibt und dass Frauen früher auch in unserer Kultur aus ökonomischen Gründen unverantwortlich früh nach einer Geburt wieder ihre Arbeit verrichteten, die Geburtsschmerzen den Frauen jedoch an sich bereits als »falsche Atemtechnik« oder »mangelhafte[s] Können« (ebd.) anzulasten, widerstreitet den Erfahrungsberichten von der unverfügbaren Macht des Gebärvorganges als leibliche Nötigung. Allerdings soll auch nicht negiert werden, dass Atemübungen und das Aufnehmen des Schmerzrhythmus in Resonanzbewegungen das Schmerzerleben zumindest weniger dramatisch werden lassen. Doch häufig stoßen Gebärende an die Grenzen des Erträglichen, was die große Bereitschaft zu schwerwiegender Schmerzmedikation zeigt. Selten finden sich in Autobiographien Frauen, die jede Art von Schmerzbekämpfung ablehnen und sich sogar dagegen verwahren. Die bereits zitierte Vagabundin Boxcar berichtet in ihrer Lebensgeschichte, sie (1988, 237) habe zu der Ärztin gesagt: »Warum soll ich keine Schmerzen leiden? Welches Recht haben Sie, mir die Schmerzen zu nehmen, die die Natur mir gibt? Ich will wissen, wie das ist, wenn man ein Baby bekommt. Ich will alle Schmerzen spüren, die dazugehören. Ich will dabei sein. … Jetzt will ich sehen, wie mein Kind zur Welt kommt.«

Shaw (1998, 22) bezeichnet die Phase der Eröffnung und fortgesetzten Wehentätigkeit im Entbindungsraum als »merkwürdige Stunden außerhalb aller Zeit«. Mit den Wehen tritt bei ihr eine Überempfindlichkeit für Töne, Geräusche und Berührung auf: »Während meine Wehen stärker wurden, war jeder Ton und jede Berührung wie ein Nadelstich. Merkwürdig, sogar wenn der Schmerz in meinem Bauch anstieg, selbst wenn er mich in diesem schrecklichen rhythmisch pressenden Klammergriff hielt, hätte ich noch aufschreien können, wenn Hugh mich auch nur sanft berührte. Mir war so heiß, aber Hugh konnte kaum meine Stirn mit einem Tuch abtupfen, ohne bei mir einen Wutausbruch zu provozieren.«

In diesem Zustand gesteigerter Empfindlichkeit und eines Hereinbrechens primitiver Gegenwart scheint jeder Gedanke an das im Leib befindliche Kind nebensächlich: 510

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»Nur mit dem kurzen Krankenhausnachthemd bekleidet und ohne Unterhosen, gab ich in diesem Klammergriff, der meinen Körper in der Mitte zerriss, in meinen Unterleib hinunter- und meinen Rücken hinaufstach, jede Bemühung um Würde und Anstand schnell auf. … In diesen Stunden vor der Geburt war mein Baby ganz vergessen. Zum ersten Mal seit so vielen Monaten verdrängten andere Gedanken dieses Wesen in mir, es erschien mir als ein Teil dieses fremden Dings, zu dem mein Körper jetzt geworden war, und nicht mehr als ein Teil meiner selbst.« (ebd., 23)

Hier beschreibt Shaw auch das Phänomen der Abspaltung, in dem der Körper als fremdes Ding, als nicht mehr zu ihr gehörig erlebt wird. In solchen Zuständen wird die Räumlichkeit des eigenen Leibes nicht mehr wahrgenommen. Nach einer Schmerzwelle kehrt diese Wahrnehmungsfähigkeit aber meist zurück. Gleichwohl ereignet sich in der fortgesetzten Wehentätigkeit mit der extremen Entfaltung der Leibesinsel Bauch/Unterleib eine deutliche Irritation des »Gewoges verschwommener Inseln«, das den körperlichen Leib ausmacht. Häufig fällt es schwer, eine einigermaßen angenehme bzw. erträgliche Körperposition einzunehmen, da der Körper mehr und mehr einer willentlichen Kontrollierbarkeit entzogen wird. Auch die Bezwingung der Atmung fällt zunehmend schwerer.

13.4 Ende der Eröffnungsphase Gegen Ende der Eröffnungsphase, die sich über mehrere Stunden, z. T. sogar über einen Tag hinaus und länger erstrecken kann, befindet sich die Gebärende in einem leiblichen Zustand, der bereits eine bestimmte Geschichte hat und, wie im klassischen Drama, seiner Krisis entgegen strebt. »Ich war überwältigt von der Übermacht des Wehenschmerzes, der gleich einem zweischneidigen Messer unbarmherzig zwischen meinen Lendenwirbeln schnitt und bohrte. … Nach Stunden war ich wie betäubt. Meine Identität hatte sich verflüchtigt. Ich, ein Bündel Frau, vom Schmerz in Höhen und Tiefen, in flammendheiße Abgründe gerissen, ihm hingegeben in vernebeltem, hinter dämpfenden Wattewänden aufflackerndem Bewusstsein, daß er notwendig und natürlich sei.« (Reim, 1984, 41)

Erschöpfung und Überwältigung, ja manchmal der Eindruck, das leibliche Geschehen nicht mehr ertragen zu können, beherrschen das Bewusstsein. Reflexive Tätigkeiten werden jäh durch den Schmerz zum Verstummen gebracht, und noch ist der Schmerz etwas, das den Leib überrollt, ihn selbst passiv hält. Es hat sich noch nicht das eingestellt, was bei den Presswehen in der Austreibungsphase häufig als ernorme Erleichterung emp511

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funden wird, die Möglichkeit zur aktiven Übernahme des Schmerzes in dem Drang, ihm willentlich durch dann verfügbare Impulse eine Richtung zu geben und seinem Ende zuzuführen. Der Schmerz der Eröffnungsphase hat noch alle Charakteristika des Pathischen, er widerfährt der Gebärenden, und sie kann allenfalls in dieses an sich Unverfügbare hineinatmen, es hineinfühlend rhythmisch sich bewegend begleiten, wie in folgendem Beispiel: »Gegen Abend kamen die Wehen im Abstand von drei Minuten, und sie waren jetzt auch sehr heftig. Ich habe mich meistens in den Schaukelstuhl gesetzt und während einer Wehe geschaukelt. War die Wehe sehr heftig, konnte ich aber nur ganz ruhig dasitzen, mich konzentrieren und in meinen Bauch atmen.« (ebd., 94)

Die Schmerzwellen nehmen gegen Ende der Eröffnungsphase an Heftigkeit zu und treiben die Frau immer weiter der Geburt entgegen, noch unterbrochen von Intervallen der völligen Schmerzlosigkeit und plötzlichen Stille. »Die Endphase der Entbindung ist kraftvoll und unbändig. Der ganze Körper wird erschüttert, bäumt sich auf und findet plötzlich wieder Ruhe. Ruhig und erholsam, kraftvoll und wild, es ist ein Wechselspiel wie bei Ebbe und Flut. So wie ich in meiner Jugendzeit trotz Hochflut und Badeverbot die peitschende Brandung der Nordsee erleben, die Kraft des Wassers erfahren mußte, mich in die Wellen warf, keine Möglichkeit des Eingriffs mehr hatte, die Wellen überrollten mich und zogen mich in ihren Sog – ich kam aus dem Rausch erst wieder zu mir, als das Wasser zurückging. Es war alles wie im Traum, und dann wurde ich ganz ruhig. Oft denke ich an diese Situation zurück, und jedesmal entdecke ich dann bestimmte Parallelen zu meinem Entbindungserlebnis.« (ebd., 16)

Die schmerzhafte Unbändigkeit und Unverfügbarkeit des Geschehens führt gegen Ende der Eröffnungsphase häufig dazu, dass Gebärende medizinische Hilfe wünschen, gelegentlich sogar erflehen, weil das Maß des Erträglichen als überschritten empfunden wird und ein Ende nicht abzusehen ist. Der in Wellen auf den Leib anstürmende Schmerz kann Angst hervorrufen, eine Angst, die sich aus der Geschichte des Schmerzerlebens ergibt. Die Gebärende hat erfahren, dass sich der Schmerz in Wellen aufdrängt, dass er immer wieder kehrt, oft sogar noch heftiger als beim vorherigen Male, und aus dieser erfahrenen Wiederkehr resultiert eine Angst vor dem nächsten Mal, vor der nächsten Schmerzwelle, die womöglich noch schlimmer wird und mit Bangen erwartet wird. In diesem Gemisch aus Schmerz und Angst erfolgt in den Ruhephasen meist die Verbalisierung der Hilfsbedürftigkeit. Doch bei allen Versprechungen, die in neuester Zeit hinsichtlich einer schmerzfreien Geburt, nicht durch leibliche Bemeisterung, sondern durch die Errungenschaften der modernen Ge512

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burtsmedizin kursieren, muss auch hier konstatiert werden, dass es sich um Irreführungen handelt. Dabei bezieht sich der Irrtum auf die Vorstellung, die Medizin sei in der Lage, von Geburtsschmerzen gänzlich zu befreien – das vermag allenfalls die terminierte und vorausgewusste Operationsgeburt unter Vollnarkose, wobei aber nicht als Geburtsschmerz verrechnet wird, was postoperativ, beispielsweise durch Schnitt- oder Narbenschmerz erlitten wird, geschweige denn die Bewusstlosigkeit des Gebärens als Erlebnisverlust. Jede andere Medikation, die während einer Geburt verabreicht wird, erfolgt, nachdem bereits Schmerzen aufgetreten sind und deren Unerträglichkeit vor dem Geburtspersonal thematisiert wird. Aber, und auch hier muss man sich einem Märchen entziehen, auch die derzeit oft eingesetzte PDA ist nicht in jedem Fall so vielversprechend, dass sie Schmerzen bis zur Geburt eliminiert, wenngleich sie im Einzelfall ein relativ schmerzfreies Gebären bei vollem Bewusstsein ermöglichen kann. Es wird aber ebenso von empfindlichen Störungen oder Verzögerungen des Geburtsverlaufs berichtet und von der Wiederkehr überwältigender Schmerzen nach Abklingen der Wirkung, wie im folgenden Beispiel nach Verabreichung einer PDA: »Beim Abklingen der Betäubung verlor ich vollkommen die Beherrschung. Die Schmerzen übermannten mich völlig. Nie hatte ich mir eine Geburt so schwer vorgestellt. … An konzentrierte Atmung war nicht mehr zu denken. … Der Druck auf Steißbein und Po erschien mir unerträglich, und ich meinte ständig drücken zu müssen. … Diese letzten Stunden waren die schlimmsten für mich. Ich schrie und weinte und wäre am liebsten von der Liege gesprungen, um allem in Ende zu bereiten.« (ebd., 139) »Ob das Kind gestorben wäre oder ich oder ob man mir einen Kaiserschnitt machte – mir war inzwischen alles vollkommen egal. Überhaupt habe ich in diesen Stunden nicht mehr an ein Kind gedacht. Ich erlebte die Zeit nur schemenhaft. Ich glaubte zu träumen, nur manchmal wurde mir bewußt, daß ich tatsächlich noch dort war, und verlor wieder die Nerven.« (ebd., 140)

Gegen Ende der Eröffnungsphase werden die meisten Bewegungsaktivitäten eingestellt. Das Bedürfnis umher zu wandern verflüchtigt sich hin zum Aufsuchen einer relativ stabilen Ruheposition des Körpers; es zieht die Gebärende gleichsam zum Verweilen an einem Ort, ja sie vermag sich kaum noch fortzubewegen. »Ich lag im Bett, konnte und wollte auch nicht mehr hinaus. … Ich wollte schreien … Es gab keine Pausen mehr zwischen den Wehen. … Sollten diese brutalen Wehen wirklich noch bis 17 Uhr [das war die Prognose des Krankenhauspersonals, UG] so weiter gehen? Ich war am Verzweifeln, hatte keine Lust mehr. Nie hätte ich mir so einen Schmerz vorstellen können – nie wieder ein Kind!« (ebd., 29)

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Mit der Spannungssteigerung verstärken sich die Schmerzen, gelegentlich so stark, dass Atemtechniken keinen rechten Einfluss mehr haben. »Die Schmerzen waren so stark, daß keine Atmungsart Erleichterung brachte. Bei den Spitzen der Wehen hatte ich keine Kontrolle mehr über meinen Körper, er zitterte nur noch.« (ebd., 174)

Mit diesen starken Schmerzen geht meist bereits eine Erfahrung des zerreißenden Leibes einher, die für die Presswehen charakteristisch sind, nicht selten gepaart mit dem Eindruck völliger Erschöpftheit. So dachte z. B. Shaw (1998, 23 f.), sie »könnte den Schmerz nicht mehr ertragen«, und ihr »Körper würde jetzt bersten oder ganz in sich zusammensacken«. Von der Erfahrung des zerreißenden Leibes berichtet auch Goll (1988, 152) anhand ihrer literarischen Figur Marie. Diese befällt »eine Wehe von so gigantischer Kraft, daß sie, das starke Bauernmädchen, die Besinnung zu verlieren glaubt«: ›»Ich reiße entzwei‹, sagt sie zu sich, ›ich reiße entzwei.‹ Es will ihr nicht in den Kopf, daß solch ein Dämon in einem menschlichen Körper toben kann, ohne ihn zu zerstören. … Ich muß sterben denkt sie. Was kann ein solcher Schmerz anderes herbeiführen als das Ende? Sie, die zum ersten Mal gebärt, weiß es nicht, daß das Leben in ihren Eingeweiden ebenso wühlen kann wie der Tod. … Die Schwerkraft zieht ihr ganzes Blut in den zerplatzenden Leib hinunter, in ihre siedenden Füße.«

Von Kontraktionen des Uterus, wie sie das naturwissenschaftliche Körpermodell geradezu verharmlosend definiert, kann also beim Geburtserlebnis nicht die Rede sein. Der gesamte Leib ist von der Wehe betroffen, es ist ein Toben und Beben, ein Zerren, Reißen und Wühlen, ein Nach-unten-Ziehen und Drängen. Auch schlagen Marie vor Schmerz und Elend die Zähne, was schon in früheren Zitaten gelegentlich zum Ausdruck kam, und sie legt sich ein Taschentuch zwischen die Zähne. Früher wurden Holzstücke oder andere Materialien verwendet, um sie einer Gebärenden zwischen die Kiefer zu legen. Ein solches Vorgehen sollte der Unterdrückung von Schreien oder aber dem Vorbeugen von Verletzungen durch unkontrolliertes Aufbeißen dienen. Das starke Aufbeißen auf einen festen Gegenstand bietet offenbar auch die Möglichkeit, Schmerzimpulse durch Spannungsaufbau an anderer Stelle abzuleiten bzw. zu lindern. Es ist mit dem Einkrallen der Hände an bzw. in Gegenstände oder dem Ziehen der Arme, dem Entgegenstemmen der Beine etc. vergleichbar, also dem Aufbau von Gegenspannungen. Nach dem heftigen Aufbäumen einer Wehe kehrt aber stets wieder Ruhe in den Leib ein. Bei Goll (ebd., 152) heißt es: »Der Schmerz hat aufgehört. Er ist so plötzlich aus ihrem Leib verschwunden, wie er sich in ihn geschlichen hatte. Marie spürt nichts mehr.« Der ausset514

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zende Schmerz lässt sie wie betäubt zurück, um erneut zu reifen. Die Steigerung der Wehen und die Verkürzung der Erholungspausen vermehren die Angst vor dem Schmerz, dessen Wiederkehr gewiss ist. Im Stöhnen und Schreien, ja Kreischen, in unartikulierten, bellenden Lauten macht sich der Schmerz zuweilen frei. Maries Mund entfährt ein Schrei: »Sie merkt es gar nicht. Er hat sich von selbst geformt unter einer einsetzenden Wehe« (ebd., 156). Boxcar (1988, 237) beschreibt die leiblichen Sensationen nicht einmal mehr als Schmerzen: »Es war, als säße man auf einem Vulkan, der im Begriff war auszubrechen.« Dieses Bild spricht ein gewaltiges Naturereignis an, das sich mit Eruptionen, erheblichen Spannungen, dramatischen Erschütterungen ankündigt, bis der Ausbruch schließlich das unter Druck stehende, kochende Innere freisetzt. Nun ist die Autorin bei diesem Bild nicht mit dem Vulkan identifiziert, sondern mit jemandem, der auf dem Vulkan kurz vor seinem Ausbruch sitzt, was diesem Bild eine weitere Dramatik verleiht, die der völligen Machtlosigkeit gegenüber der Naturgewalt und der Unausweichlichkeit einer Situation, die den Menschen an die Natur gänzlich ausliefert. In diesem Zusammenhang mag es nicht verwundern, dass sie meint, es seien »eigentlich« »keine Schmerzen« gewesen. Der Begriff Schmerz scheint ihr wohl nicht treffend, weil es sich um eine ganz andere Dimension von Leiberleben handelt als bei einem gewöhnlichen, in einer bestimmten Leibesgegend verspürten Schmerz. Der auf dem ausbrechenden Vulkan sitzende Mensch ist ganzleiblich betroffen, vom Tode bedroht bzw. will man dieses Bild realistisch deuten, dem Tod bereits geweiht. So spricht die Autorin (ebd., 239) später auch von einem Schock, den ihr die Geburt bereitet hat. Das Erleben gegen Ende der Geburt wird häufig mit dem Bild des zerreißenden Leibes beschrieben. So beschreibt French (1988, 61) eine Geburtsszene mit folgenden Worten: »Ihr Bauch und ihr Unterleib schmerzten immer heftiger, als ob Teile ihrer Eingeweide sich losrissen und die Organe mit sich rissen und stetig auf ihre Beckenknochen hämmerten. Es ließ keinen Moment nach, es ging ohne Pause ununterbrochen weiter.«

Doch in diesem literarischen Beispiel sind es nicht nur die Schmerzen, die eine außergewöhnliche Situation herbeiführen, die gesamte Konstellation des Klinikgeschehens rund um die Gebärende wirkt sich dramatisch auf den Zustand der Protagonistin aus: »Mira versuchte ihre Gefühle zu betäuben. Was sie quälte, waren nicht die Wehen. Es tat weh, aber nicht zu sehr. Das Schlimmste war die ganze Situation – die Kälte

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und Sterilität, die verächtliche Haltung der Schwestern und des Arztes, die Demütigung, daß sie in Steigbügeln daliegt und fremde Leute auf ihre offenen dargebotenen Genitalien starren lassen mußte, wann immer es ihnen gefiel. Sie versuchte sich in einen inneren Bereich zurückzuziehen, wo all dies nicht existierte. Ein Satz ging ihr immer wieder durch den Kopf: Es gibt keinen anderen Ausweg.« (ebd., 62)

Dieses Beispiel thematisiert noch einmal das Konglomerat von Gefühlen, mit dem eine Geburtssituation in der Klinik behaftet sein kann: Entmündigung, Demütigung, Scham, Ausgeliefert-Sein, nicht nur dem eigenen Leib mit seinen Schmerzen, sondern auch der Blöße des Genitals, den Blicken fremder Menschen. Selten wird tatsächlich das Eintreten des Kindes in den Geburtskanal beschrieben, das die Austreibungsphase der Geburt anzeigt: »Ich spürte bei jeder Wehe, wie der Kopf des Kindes tiefer rutschte. Ich hatte kein Zeitgefühl mehr. Es brannte und stach in mir. Unvorstellbare Kraft. Ich war erschöpft, fror leicht, schlief zwischen den Wehen sekundenlang ein. Ich hatte keine Lust mehr. Ich konnte den Schmerz nicht mehr ertragen.« (Reim, 1984, 125)

13.5 Das Platzen der Fruchtblase In dieses Konglomerat von Empfindungen ragt eine weitere und für jede Geburt einmalige Erfahrung heraus: das Platzen der Fruchtblase. Dieser natürliche Vorgang ist zeitlich unvorhersehbar. Das Platzen selbst wird kaum gespürt, allenfalls wenn die Fruchtblase in der (über)aktiven Geburtshilfe vom Geburtspersonal mechanisch, z. B. zufällig durch eine vaginale Untersuchung oder absichtlich, um die Geburt voranzutreiben, ›gesprengt‹ wird. Deutlich erlebt wird allerdings der Abgang des Fruchtwassers, ein warmer Schwall, der unaufhaltsam, durch keinen Muskelimpuls zu lenken, alles einnässt. Es lässt sich schlechterdings kein Hygieneartikel erfinden, der in der Lage wäre, einen Fruchtwasserabgang aufzufangen und gesellschaftstauglich zu machen. Diese Eigenmächtigkeit ruft gelegentlich Scham, vielleicht auch einen Hauch von Entsetzen hervor, wenn es ›irgendwo‹ passiert, dort, wo die Regeln des Anstands verletzt werden könnten, eine Tatsache, die Gebärende in den Bereich des Privaten oder einer Klinik drängt, wo man vorbereitet ist. Das Platzen der Fruchtblase kann einen erstarrenden Schreck auslösen, so z. B. bei Golls (1988, 151) Figur Marie, die mit einem Schrei aus dem Bett fährt: »Was ist das?«: »Was tröpfelt so naß aus ihrem Leib? Eine warme Quelle fließt in ihr Bett, das Bett, das ihr doch nur zum Schlafen geliehen ist. Sie weiß nicht, wovor sie sich mehr

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fürchtet: davor, das Bett schmutzig zu machen oder davor, ihr Blut zu verlieren.« (ebd., 152)

Marie tastet nach dem Licht, fährt zitternd »mit der Hand an ihren Schoß« (ebd.) und stellt fest, dass es sich um Wasser, nicht um Blut handelt. Im Unterschied zum Menstruationsblut ist das Verströmen nicht zähflüssig und allmählich, sondern dünnflüssig und zugleich literweise stürzend, weshalb auch vom Blasensprung und von einer fließenden Quelle gesprochen wird. Diese »Quelle« entleert sich aber meist nicht in einem Moment vollständig; das Fruchtwasser ergießt sich zwar anfänglich in einem großen Schwall, es können aber weitere mehr oder weniger voluminöse Schwälle folgen, durch Bewegungen oder Wehen ausgelöst, wie das auch Goll (ebd., 153) ihre Romanfigur Marie erleben lässt: »Nach einigen Schritten auf der Straße setzt eine neue Wehe ein, so stark, daß sie sich mit den Nägeln in die Hausmauer einkrallen muß. Wieder fühlt sie Nässe zwischen den Beinen.«

Das Platzen der Fruchtblase und das Entrinnen mehrerer Schwälle Fruchtwasser kann sich auch ohne jede Ankündigung eines leiblichen Geschehens – wie Wehentätigkeit – ereignen, und markiert dann einen Einschnitt, der den Geburtsbeginn einläutet und vom medizinischen Standpunkt eine Geburt innerhalb der nächsten 24 oder maximal 48 Stunden erzwingt, häufig durch Verabreichung Wehen treibender Mittel, falls sich die Wehen nicht auf natürlichem Wege einstellen. Die medizinische Indikation für geburtsfördernde Maßnahmen bei vorzeitigem Blasensprung bezieht sich auf die Vorstellung, dass dem Fötus durch Abgang des Wassers seine Elastizität im Unterleib fehlt. Das Empfinden des schwangeren Bauches kann sich dadurch verändern, und zwar in Richtung einer Verdichtung, Verengung und Verfestigung des Unterleibs. Fruchtwasser wird aber vom Körper auch nachgebildet, so dass der Zeitpunkt der unabdingbaren medizinischen Geburtseinleitung unter Ärzten und Hebammen umstritten ist. In der Regel aber ereignet sich der Abgang des Fruchtwassers gegen Ende der Eröffnungsphase, gelegentlich erst in der Austreibungsphase, in jedem Fall zu einem nicht terminierbaren Zeitpunkt, wenn nicht – wie erwähnt – ein Eingriff von außen erfolgt. Mit dem Aufreißen der Fruchtblase kann es zu verstärkter Wehentätigkeit kommen, ein Wissen, das Geburtshelfer z. B. anwenden, um die Geburt zu forcieren: »Sie ritzte die Fruchtblase an, und danach kamen die Wehen mit einer unheimlichen Kraft. Ich hatte das Gefühl, gerüttelt zu werden. … Als Schmerz habe ich

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die Wehen eigentlich nicht empfunden, aber manchmal waren sie so stark, daß Christian mich festhalten mußte, sonst wären meine Beine weggeknickt.« (Reim, 1984, 94)

Der Fruchtblasensprung und der damit verbundene Drang von Flüssigkeit aus dem Körper heraus kann auch als Harndrang wahrgenommen werden, dem nicht zu widerstehen ist. In der Tat hat der Abgang des Fruchtwassers etwas von einem unkontrollierten Urinieren. Es fließt aber nicht aus derselben Öffnung, und dies wird schnell deutlich, da es keine Einflussmöglichkeit auf den Flüssigkeitsschwall gibt: Er ergießt sich, und was ich da u. a. spüre, ist das herabströmende Wasser. Solche Situation können Anlass zur Heiterkeit sein: »Als ich vom Tisch aufstehen wollte, bekam ich wieder eine Wehe, und dann ging ich zwei Schritte, und es machte plopp: Ein Wasserschwall quoll aus mir heraus, lief mir die Beine hinunter. Ich mußte furchtbar lachen, die anderen auch, wie ich so dastand, breitbeinig, pitschenaß, und ich stellte mir vor, das hätte mir morgens in Bremen passieren können.« (ebd., 165 f.)

Diese Frau spricht die Unverfügbarkeit des Geschehens an. Es hätte ›irgendwo‹, womöglich auf offener Straße, passieren können, es ist nicht zu beherrschen und kann unter gewissen Umständen peinliche Scham hervorrufen. In den meisten Fällen platzt die Fruchtblase aber in Situationen mit Menschen, die darauf eingestellt sind. Es ist Gebärenden dennoch häufig peinlich, von diesen Ausscheidungen betroffen zu sein und sich nicht selbst darum kümmern zu können.

13.6 Presswehen und Austreibung des Kindes In der Eröffnungsphase ist die Gebärende dem Leibgeschehen quasi ausgeliefert; sie kann es allenfalls durch gezielte Atmung, Bewegung und Positionierung des Körpers erleichtern. In der Austreibungsphase wirkt sie durch Hinausdrücken und -pressen aktiv mit, eine Veränderung, die häufig Erleichterung bedeutet. Hier ist nämlich die Möglichkeit gegeben, Angst und Schmerz in andere leibliche, durch schwellende Spannung ausgezeichnete Regungen umzuwandeln. Diese Veränderung wird durch die Konkurrenz von Spannung und Schwellung verständlich, die Schmitz (1998b, 90) am Beispiel von Angst und Schmerz beschreibt: »Die Spannung macht sich in diesem Fall als Hemmung des ›Weg!‹, als Zurückhaltung des expansiven Impulses bemerkbar, während die Schwellung im immer neuen Einsetzen dieses Impulses – buchstäblich oder gleichsam im Aufbäumen ge-

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gen die Hemmung – zum Vorschein kommt. Indem das Aufbäumen gegen die Hemmung sich von dieser aufgehalten findet, spannt es sich und schwillt zugleich an, wobei aber wegen der Unüberwindlichkeit der für Angst und Schmerz verantwortlichen Hemmung die Spannung das Übergewicht behält gegen die Schwellung, die ins Weite durchzubrechen strebt, während die Spannung den Leib in Enge zusammenfaßt.«

Die Spannung lebt vom Kampf mit der Schwellung, so dass »wenn sie ihrem Gipfel zustrebt, der schwellende Leib vor strotzender Fülle zu bersten – d. h. die Spannung, die ihn zusammenhält, zu zerreißen scheint« (ebd., 91). Schmitz denkt an dieser Stelle nicht an die Erfahrung des Pressens und Zerreißens bei der Geburt, speziell in der Austreibungsphase, doch auch seine weiteren Ausführungen treffen auf Erfahrungen des Gebärens zu: »Wenn aber der Schwellung der Durchbruch durch die zu ihr antagonistische Spannung, gegen die sie andrängt, gelungen ist, hat sie sich zugleich selbst vernichtet, indem sie, die vom Widerstreit zehrte, nun in ein Verströmen übergeht.« (ebd.)

In der letzten Phase der Geburt können Angst und Schmerz in andere leibliche, durch schwellende Spannung ausgezeichnete Regungen am Regungsherd selbst, durch das aktive Herauspressen des Kindes, umgewandelt werden. Bei den oben beschriebenen Formen des antagonistischen Spannungsverhältnisses in der Eröffnungsphase, z. B. beim Zusammenpressen der Kiefer, beim Krallen der Hände in einen Gegenstand etc., geschieht die Ableitung über andere Leibesregionen, also nicht am Bauch bzw. Unterleib. In der Austreibungsphase besteht aber die Möglichkeit, durch Pressen am Regungsherd selbst die Wehe ab- und schließlich das Kind auszuleiten. Schmitz (ebd., 90) hat in diesem Zusammenhang die »Kraftanstrengung nach Art des Tauziehens« als Beispiel erwähnt und einen Geburtshelfer zitiert, der die Austreibungswehen als »ein gutes Stück schwere Arbeit« bezeichnet und das Ächzen und Stöhnen der Gebärenden mit einem Mann vergleicht, der »mit Erfolg an einem Seil zieht«. In der Tat finden sich in Geburtsberichten Aussagen über die geleistete Arbeit: »Nie hätte ich gedacht, daß ich eine so schwere Arbeit aushalten würde.« (Reim, 1984, 127) Wenn sich die Eröffnungsphase dem Ende zuneigt und in die Phase der Presswehen übergeht, wird diese Veränderung unmittelbar empfunden. »Eine Viertelstunde nach der Spritze veränderten sich die Wehen plötzlich. Das mußten die Preßwehen sein. Ich hatte das Gefühl, als müßte ich ganz dringend auf die Toilette. … Nach drei Preßwehen war Lina geboren! Ich bin noch nicht einmal gerissen.« (ebd., 77)

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

Der Übergang von der Eröffnungs- in die Austreibungsphase kann als jäher Einschnitt erlebt werden, der jegliche Selbstbeherrschung außer Kraft setzt: »… meine Atemtechnik wird durch einen jähen Druck im Unterleib am Ausatmen behindert. Kaum noch Selbstbeherrschung. … Preßwehen – ein Orkan bricht aus, etwas Mächtiges geht in mir vor!« (ebd., 108)

Die Romanfigur Stephanie, die von den Schwestern angehalten wird, zu klingeln, falls sie das Gefühl hätte, »sie müsse nach unten pressen«, »hatte keine Ahnung, wie sich dieses Gefühl bemerkbar machen würde oder wie es zu identifizieren wäre« (Byatt, 2002, 132). Sie bringt es nicht fertig, danach zu fragen. Als sich die Presswehen aber einstellen, weiß und fühlt sie sofort, was die Schwestern gemeint hatten: »Das Bedürfnis, ›nach unten zu pressen‹, unterschied sich, als es eintrat, deutlich von allem was sie bisher empfunden hatte, und war sogleich identifizierbar. Es hatte die entsetzliche Unkontrollierbarkeit schweren Durchfalls und war doch anders durch den Umstand, dass sich nichts verknotete; etwas Schweres, Hartes in ihrem Inneren dehnte sie wie ein Rammbock, und der Schmerz war nicht länger etwas Eigenes außerhalb von ihr, sondern war sie, krallte, erhitzte, sprengte ihren ganzen Körper, ihren Kopf, ihre Brust, ihren malträtierten und zerschlagenen Bauch, bis dieser Körper Tierlaute ausstieß, Knurren, unzusammenhängendes knirschendes Gebrüll, hechelndes Seufzen. … Vor Augen sah sie plötzlich hellscharlachrote Kapuzinerkresse und dann einen Vorhang aus Blut. Die purpurfarbene Krankenschwester kam. Stephanie stöhnte wie im Delirium, dass es komme; wie eine steigende Flut ließ der Schmerz ein wenig nach, ebbte ab, sammelte sich und sprang sie an, ungestüm.« (ebd., 132 f.)

Byatt (ebd., 133) befasst sich anhand der Gebärenden auch mit der Räumlichkeit des Leibes und deren Wahrnehmung in der Phase der Presswehen: »Sie war eine Frau, die über die Ambivalenz der weiblichen Vorstellung von inneren Räumen nachgedacht hatte. … Der Schoß kann in der Vorstellung eine kleine verschrumpelte Tasche sein, in die eine Geldmünze passt, oder stille unterirdische Höhlen, die sich endlos fortsetzen, gewellt, samtig, dunkel wie Blut, wie Enzian. Blut ist blau, bevor es mit der Luft in Berührung kommt. Und die Vagina, die einen Tampon sicher festhalten kann, die einen Mann einlassen kann, einen großen Mann wie Daniel, und ihn tastend das verborgene und bedeutungsschwangere äußerste Ende ihrer Sackgasse erforschen lassen kann – dieser taschenbesetzte Schacht mit elastischen Muskeln –, wie soll diese enge Scheide einen stürmischen plumpen Klotz aushalten können, der der Wahrnehmung innerer Räume größer als der Körper selbst vorkommt und herauszubrechen scheint, indes er sich ausdehnt und sich nicht länger halten lässt?«

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Byatt beschreibt die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit der Gebärenden, sich vorzustellen, wie dieser »plumpe Klotz«, der ihr größer als der Körper selbst erscheint, jemals aus ihr hinaus gelangen sollte – eine Vorstellung, die für viele Schwangere beim Anblick des weit ausholenden eigenen Bauches bereits einen surrealen Charakter annimmt. Während sich in der Schwangerschaft dieser »plumpe Klotz« aber eher ruhig verhält, wird er in der Geburt, vor allem in der Austreibungsphase, zum »explodierenden Ding«. Es wundert nicht, dass in diesem Zustand nicht mehr vom Kind die Rede ist, sondern von einem »Ding«. Dass es sich um das Kind handelt, das diese extreme leibliche Nötigung verursacht, tritt völlig in den Hintergrund: »Das Rückgrat, konstatierte Stephanies schrumpfende Denkfähigkeit, ist eine Ebene, die flach auf dem Bett liegt, als wäre der Bauch durch einen Akt der Schlächterei abgetrennt und die Flanken fielen ab. Unterhalb des hilflosen Rumpfs schien eine regelrechte Mauer, ein Gehäuse aus Fleisch und berstenden Knochen, sich zwischen dem explodierenden Ding und der Luft zu erheben und zu dehnen.« (ebd.)

Sehr häufig beschreiben Gebärende in der Austreibungsphase und in den Presswehen den Eindruck, dass ihr Leib zerreiße bzw. gesprengt würde: »Das Ding warf sich immer wieder gegen die Wände seines Gefängnisses, und sie dachte an die Zeit: Wie lange sollte das währen, so lange wie das Gehen und Singen? Sie hatte sich getäuscht. Es war nicht zu ertragen. Es schwang sich empor und drang vor, und in ihrem Hirn klopfte und dröhnte es, und von irgendwoher nahm sie die Kraft der Verzweiflung, den Schmerz dadurch zu beenden, dass sie ihn steigerte, die Wand aus Fleisch zu zerreißen, obwohl man ihr zurief, sie solle halten, nicht pressen, und sie schrie auf, laut, stöhnend, am Ende, als ihr Körper sich spaltete und sie an ihren schweißgetränkten Oberschenkeln ungläubig eine warme, nasse Kugel spürte, die einen eigenen flatternden Pulsschlag hatte, nicht ihren.« (ebd., 134)

Üblicherweise gibt das Geburtspersonal Anweisungen zum Pressen, so auch hier: »Halten Sie, sagten sie eindringlicher, und sie merkte, dass sie es nun konnte; Stille strömte nach dem Aufruhr des Bluts zurück; an der geweiteten Öffnung drehten sie mit behutsamen Händen kleine Schultern; pressen Sie jetzt, sagten sie, und die Muskeln diktierten sanft: press, und das Ding glitt davon, kompakt, fest, wie aus Gummi, schleppend, weg war es. Sie konnte nichts sehen, spürte nur die Hände der anderen, geschäftig, in weiter Ferne.« (ebd.)

An dieser Beschreibung fällt sogleich auf, dass die Presswehe in einer gewissen Verfügungsgewalt der Gebärenden steht. Wenngleich es vielen 521

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Frauen äußerst schwer fällt, eine Presswehe zurück zu halten, ja es für beinahe unmöglich erklären, den ungeheuren Drang nach unten und vom eigenen Leibe weg aufzuhalten, gibt es diese Möglichkeit, willentlich einzugreifen und aufzuhalten. Stephanie merkt, dass »sie es nun konnte«; der Kopf des Kindes, der größte Widerstand ist auch bereits ausgetreten. Als sie wieder pressen ›darf‹, ist es ›nur‹ noch der weiche Kindesleib, nicht mehr der harte Schädel, der aus dem Leibe muss, und hierbei gehorchen die Muskeln dem Diktat des Willens. In dieser Phase wird der Widerstand in der Vagina meist auch deutlich als ein hinweg zu schiebender gespürt. Das »Ding«, wie es heißt, »glitt davon«, es gelangt ganz hinaus und wird als »kompakt, fest, wie aus Gummi« wahrgenommen. Das Baby, das keineswegs als dieses gespürt wird, ist ihrem Leib nun vollständig entglitten, ist ausgetrieben. Das Ausmaß der affektiven Betroffenheit kann sich während des Gebärens hin zur totalen Erschöpfung erstrecken, in der jeder Gedanke an das Kind aufgegeben wird: »Wieder eine Wehe, pressen, pressen, pressen! … Es tut alles so weh, daß ich mich kaum auf mein Kind freuen kann. … Ich bin fix und fertig. So schlimm hatte ich mir die Geburtsarbeit nicht vorgestellt. Ich denke ich reiße total auseinander.« (Reim, 1984, 166 f.)

Die Austreibung des Kindes geschieht nicht ohne leibliche Dramatik, die einen Höhepunkt erreicht. Die Frau spürt, dass die leibliche Nötigung ihrem Ende zustrebt, und wie ›angefeuert‹ von diesem Wissen können auch nach einer langen eröffnenden und erschöpfenden Wehenphase neue Kraftreserven mobilisiert werden: »Alle Macht der Erde zog mir die Mitte des Leibes in einem mächtig und unwiderstehlich ansteigenden Druck zusammen. Gurgelnde Schreie aus meinem Mund. Ich fühlte mich hilflos und verloren … Jäh aus dem Hindämmern in die Gewalt körperlichen Lebens gerissen, schrie ich mit unbekannter Stimme um Hilfe. … Es ging schnell, ich war plötzlich hellwach, alle Müdigkeit gewichen, mich überfiel ein strahlend warmes Glücksgefühl, da ich jetzt gleich mein Baby gebären und es an meinem äußeren Körper spüren würde. Ich schrie immer noch. … Endlich wußte ich wieder, was ich zu tun hatte. Ich preßte mit aller Kraft …« (ebd., 41) Weiter heißt es: »Dann hörte ich Zurufe und gehorchte ihnen und der Gewalt, die von meinem Körper Besitz ergriffen hatte. Pressen-pressen-pressen. Gut so. Ja, weiter so. Fest, fest pressen. Weiter, weiter. Atemnot. Luftleere. Alles heraus. Den ganzen Bauch nach außen pressen. Nur nicht aufhören. Es muß jetzt raus, das Kind. Die Hände meines Mannes drückend auf dem Rücken, ein Bersten in meinem Kopf. Dann sah ich es herausschießen. Wie ein blauer Blitz.« (ebd., 42)

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Geburt

Der Umschwung hin zur Austreibung wird deutlich beschrieben als das in der Mitte des Leibes Zusammenziehen, mit gleichzeitigem kulminierenden Druck nach unten, ein leiblicher Vorgang von ungeheurer Macht, Kraft und Gewalt, dem die Gebärende kaum etwas entgegen zu setzen hat. Sie ist diesem Druck ausgeliefert, und diese Frau fühlt sich hilflos, verloren, schreit um Hilfe, doch dann erfolgt die Wende hin zum plötzlich hellwach Sein und zum Wissen, was zu tun ist, nämlich aktive Mithilfe durch das Pressen, das den Prozess des Gebärens vorantreibt und im vom Körper vorgegebenen Rhythmus mitzuschwingen hat. Beim Pressen spielt die Atmung eine eminente Rolle: Im Anhalten des Atems wird eine Art Druck erzeugt, der das Pressen unterstützt bzw. sogar forciert. In diesem Beispiel wird die Vorstellung artikuliert, »den ganzen Bauch nach außen« zu pressen, in der Tat haben Gebärende in der Austreibung das Erlebnis, ihren Leib weg zu pressen bzw. im Pressdruck selbst zu zerreißen. In dieser aktiven Mitarbeit vollzieht sich die Austreibung, das »Herausschießen«, das in diesem Beispiel sogar visuell miterlebt wird. Auch das Beispiel bei Shaw (1998, 24) verdeutlicht die extreme Nötigung unter den Press- und Austreibungswehen, die den Eindruck erweckt, der Leib würde zerspringen: »Plötzlich fühlte sich mein Unterleib an, als würde er nach unten gerissen, und jeder Muskel wollte die Last hinausdrücken. Ich kniete auf dem Boden und dachte, ich würde in zwei Teile zerspringen, und Fran [die Hebamme, UG] mußte mir immer wieder beruhigend zureden, daß das nicht passieren würde. Als der Kopf des Kindes hervorkam, dunkel, mit filzigem Haar und blutverschmiert, wurden Hughs Worte des Zuspruchs an mich, seine Gefährtin und Geliebte, zu gemurmelten Liebesworten, die an sein Kind gerichtet waren. Und dann sagt mir Fran, ich solle aufhören zu pressen. ›Hör auf zu pressen, warte, halt alles zurück.‹ Wie sollte ich aufhören? Niemand hätte mehr von mir verlangen können. Die Nabelschnur hatte sich fest um den Hals des Babys gewickelt, und während ich den Druck zurückhielt, durchschnitt Fran die Nabelschnur und klemmte sie ab. Es dauerte nur einen Augenblick, schien mir aber eine Ewigkeit. Wenige Minuten später wurde unser Baby geboren.«

Auch in diesem Beispiel fordert das Geburtspersonal auf, das Pressen zu unterbrechen, und die Autobiographin beschreibt die Schwierigkeit eines solchen Tuns unter der Nötigung der Presswehen. Ihr gelingt dieses Aufhalten, dieses willentliche Anhalten der Wehe durch den starken Impuls der Engung, aber es scheint ihr ein Martyrium zu sein, das aufgrund seiner Intensität als »eine Ewigkeit« dauernd erlebt wird. Gelegentlich ist bereits durch die Eröffnungsphase ein Grad der Erschöpfung erreicht, so dass nur schwer eine Eigenaktivität bei den Press523

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wehen zu erwecken ist. Häufig wird aber doch mit allerletzter Kraft und im Wissen um die Notwendigkeit das Kind herausgepresst: »Als ich aufgefordert wurde, zu pressen, hatte ich kaum noch die Kraft. Die zweite Preßwehe forderte mich so heraus, daß ich alles an Energie bündelte. Es reichte aus. Meine Tochter war auf der Welt.« (Reim, 1984, 16)

French (1988, 63) beschreibt jedoch an dem Fall der bereits zitierten Mira auch, wie eine Gebärende sich einer aktiven Teilnahme am Gebärgeschehen schließlich verweigert, u. a. weil die Art des Umgangs mit ihr in der Klinik ihre Gefühle verletzt hatte: »Sie wußte, das Kind kam. Es tat weh, aber es waren nur physische Schmerzen. In ihrem Kopf war ein anderer, schlimmerer Schmerz. Sie dachte immer nur: Wenn du da einmal drin bist, kommst du nie wieder raus. Sie lehnte sich auf. Sie weigerte sich, etwas damit zu tun zu haben. Es war ihr gegen ihren Willen widerfahren, ohne daß sie es wußte, und es mochte enden, wie es wollte, gegen ihren Willen, ohne daß sie es wußte. Das Zimmer, die stöhnenden Frauen, die Schwestern – alles versank. Gleich über dem Schmerz war ein klarer, weißer Raum, und sie reckte den Kopf, um dort zu atmen. Nebelhaft nahm sie wahr, daß jemand ihr eine Spritze gab, daß sie irgendwohin gerollt wurde. Sie hörte die Stimme ihres Arztes, die sie beschimpfte: ›Sie müssen pressen! Pressen! Sie müssen mithelfen!‹ ›Geh zum Teufel‹, sagte sie. Oder meinte, daß sie es sagte. Und verlor das Bewußtsein.«

In diesem Beispiel, das eine Zangengeburt zur Folge hat, wird deutlich, wie sehr eine Gebärende aus ihren alltäglichen Zusammenhängen gerissen und einer enormen Grenzerfahrung bis hin zur Selbstaufgabe ausgesetzt ist. Zwar sind die mit der Geburt verbundenen Schmerzen dominant, stärker jedoch tritt das Ausgeliefert-Sein an das Klinikpersonal und eine Situation von Verachtung, Demütigung und Entmündigung in den Erlebnishorizont. In der Pressphase verlagert sich das Schmerzgeschehen von einem eher diffusen rhythmischen Verhärten und Zusammenziehen des Bauches in eine deutlich wahrnehmbare Richtung. Wenn auch diese Phase der Geburt von großer Anstrengung gekennzeichnet ist, so wird sie doch leichter ertragen, weil sie zum erstrebten Ziel (der Geburt) in einem erlebbaren Verhältnis steht und das dem eigenen Leib Widerstand bietende Baby als etwas, meist als Ding, als harte Masse gespürt wird, das hinausgedrückt werden kann, ja es wird in der Pressphase überhaupt erst tatsächlich als dieser zu ›beseitigende‹ Widerstand spürbar. Die Gebärende erlebt sich nicht länger als passiv Erleidende, wie in der Eröffnungsphase, sondern als selbst Vorantreibende, wobei der Leib das Pressen regelrecht aufdrängt und zur Mitarbeit veranlasst: 524

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Geburt

»Als sich die Preßphase ankündigte, war ich sehr erleichtert, weil ich endlich selber aktiv mitarbeiten konnte. Das Pressen war zwar ziemlich anstrengend, aber da ich wußte, daß das Baby bald geboren sein würde, fiel es mir nicht ganz so schwer.« (Reim, 1984, 181) »Dann kam schon der Preßzwang – eine echte Erleichterung. … Auch wenn ich gehechelt habe, war der Preßdrang so stark, daß es von alleine alles rausdrückt. Eine Naturgewalt, ich war beeindruckt.« (ebd., 190) »Diese Preßwehen sind wirklich eine große Erleichterung, denn dann ist alles bald überstanden, und endlich konnte ich Robert bewußt unterstützen.« (ebd., 149)

Die mit der Austreibungsphase geschilderte Erleichterung darf aber nicht über die Anstrengung hinweg täuschen, die nach wie vor anhält, obwohl sich die Schmerzen gelegentlich zu verflüchtigen scheinen: »Das Pressen war zwar anstrengend, und ich hatte das Gefühl, unmenschliche Kräfte anzuwenden, aber es war auch erleichternd. Ich empfand keine Schmerzen mehr. Dann hörte ich ein komisches Ratschen, es war der Dammschnitt. … Es tat nicht weh.« (ebd., 29)

Ein Dammschnitt, unter anderen Umständen ein ungemein schmerzhafter Eingriff an der genitalen Zone, kann, wenn er fachmännisch ausgeführt wird, und zwar im Anschwellen bzw. auf dem Höhepunkt einer Presswehe schmerzlos sein, weil er in die affektive Betroffenheit der Gebärenden gleichsam eingeht. Das angesprochene Geräusch, jenes »Ratschen«, das Zerschneiden von Fleisch, wird in diesem Fall dennoch bemerkt. Eine andere Frau »erschauderte« noch in Erinnerung »an den Dammschnitt, der zwar nicht zu spüren war, doch ein unvergeßliches Geräusch verursacht hatte« (ebd., 69). Auch weitere Sensationen können einen Dammschnitt begleiten: »S. sagte, daß meine Schamlippen einreißen würden, und sie müsse einen Schnitt in den Damm machen. Beim nächsten Pressen hörte ich ein ›Schnipp, Schnipp‹. … Genau wie vorher das Fruchtwasser spürte ich jetzt eine warme Suppe meine Schenkel hinunterlaufen. … Alles brannte und prickelte, die inneren und äußeren Schamlippen, die Klitoris.« (ebd., 126)

Die Anstrengung der Austreibungsphase resultiert aus der persönlichen Geschichte des Gebärens, wobei aber offenbar Kraftreserven mobilisiert bzw. freigesetzt werden: »Bei der nächsten Wehe pressen. Woher hatte ich bloß noch die Kraft? Ich drückte mit allem, was noch an Reserve in mir war. Dabei hatte ich das Gefühl, die Adern im Kopf mußten platzen.« (ebd., 140)

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Das letzte Zitat veranschaulicht noch einmal, wie stark der ganze Leib in der Geburt betroffen sein kann. Es ist kein Geschehen, das sich nur am Unterleib oder gar nur an seiner ›Öffnung‹ ereignet, es ergreift ganzleiblich, und der Druck bzw. die Gewalt einer Presswehe kann nicht nur den Eindruck erwecken, der Leib zerreiße, sondern auch, wie hier, dass »die Adern im Kopf« platzen. In der Austreibungsphase stellt sich meist eine spezifische Atemrhythmik ein, denn dabei ist wie in anderen Fällen großer physischer Anstrengung aus dem Anhalten des Atems eine besondere Kraft zu ziehen, derer man sich bedienen kann. In dem Zusammenspiel von Atmung, Pressen, genauer von Einatmen/Druck aufbauen und Anhalten bzw. Ausatmen/Pressen und d. h. Druck abgeben schreien manche Frauen, was als erleichternd erlebt werden kann. Die Kreißsäle früherer Zeiten waren akustisch gedämpft, weil man das Schreien während der Geburt für einen normalen Vorgang hielt und die Schreie nicht nach außen dringen bzw. für Irritationen und Störungen, z. B. bei Mitgebärenden, Wöchnerinnen oder Angehörigen, sorgen sollten. Heute wird offenbar beim Gebären nicht mehr so häufig geschrieen, wobei die Gründe dafür darin liegen könnten, dass das Schreien als unschicklich für eine moderne Frau gilt, die doch alles ›unter Kontrolle‹ hat bzw. zu haben hat. Das Schreien kann bei der eigenleiblichen Bewältigung des Gebärens jedoch durchaus hilfreich und für den Geburtsprozess unterstützend sein, da es Spannungen abzuleiten vermag. Manchmal gelingt es einer Gebärenden aber auch gar nicht, einen Schrei zu unterdrücken; er geschieht ihr. So berichtet eine Frau, die nach vergeblichen Versuchen zur Unterbindung des Schreiens dann doch mit Kraft ihren Schmerz herausschreit: »es war wie eine Befreiung« (ebd., 148). Auch das folgende Beispiel bei Reim (ebd., 29) zeigt den Zusammenhang zwischen Pressen und Atmen, gleichsam als würde die Presswehe die Atmung selbst unter ihr Diktat zwingen wollen, ein ›heilsames‹, weil die Geburt förderndes Diktat, das sich anfänglich nur durch einen bewussten Eingriff in die Atemtechnik eindämmen lässt: »Ich war willenlos, erschöpft, müde und kapierte erst gar nicht, was Dr. N. meinte, als er sagte: ›Pressen Sie mal!‹ Die erste Preßwehe nahm ich nicht wahr, da ich versuchte weiterzuatmen. … Ich preßte mit den letzten Kräften, hörte meine Laute, es war, als röhrte ein Hirsch, nein, es war noch anders, gewaltig und unwirklich, ein nie gehörtes Brüllen. Ich preßte und preßte, hatte jedoch nicht das Gefühl, als ginge irgend etwas weiter.«

Die Schilderung des Schreiens ist insofern interessant, als diese Gebärende eigentlich gar nicht von sich selbst als der Schreienden, Brüllenden redet, 526

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sie ist, wie es scheint, vom leiblichen Geschehen so ergriffen, dass sie ihre stimmliche Artikulation weder als eigene erlebt noch unterdrücken kann, weil sie sich schlicht ereignet, sie ›übermannt‹; lediglich den Effekt, den voluminösen, nie zuvor gehörten Laut nimmt sie – wie von Ferne – wahr. Während des Gebärens kann es zu Phänomenen der Abspaltung kommen, wie wir sie bereits im Rahmen der Vergewaltigung kennen gelernt haben. Das veranschaulicht auch das folgende Beispiel, dessen Geschichte verschiedene zuvor erwähnte Phänomene aufgreift. Als die Gebärende vom Geburtspersonal erfährt, sie könne bald pressen, ändert sich ihre Verfassung: »Ich war schlagartig aufgeregt und munter.« (ebd., 125) Die Aufforderung zum Pressen korrespondiert aber noch nicht mit einem leiblichen Spüren: »Als ich das erste Mal pressen sollte, wußte ich gar nicht, was ich machen sollte. Ich drückte, so toll ich konnte, aber nichts tat sich.« Schließlich wird sie aufgefordert, die Wehen zu veratmen, obschon sie die Presswehen nun deutlich empfindet: »Mir fiel es unheimlich schwer, das Pressen zu unterdrücken. Ich hechelte. Das gab ein Gefühl der Erleichterung.« Mit dem verabreichten Wehentreiber Oxytoxin werden die Wehen wieder stärker, aber auch die damit einhergehende Erschöpfung: »Ich konnte bei jeder Wehe nur einmal pressen und war dann schon völlig fertig.« (ebd.) Dann kommt es zur Kulmination des Geschehens: »Ich wußte nicht mehr, wie oft ich gepreßt hatte. Irgendwann packte mich die Wut, und ich schrie ganz laut und tief aus der Kehle, das blöde Kind solle doch nun endlich kommen. … Einen Moment lang fühlte ich mich doppelt, als stieg ich aus mir heraus, als säße ich neben mir. Die zurückbleibende Hälfte empfand keinen Schmerz mehr.« (ebd., 125 f.) »… und ich fühlte die Haare des Kindes in der Scheide. … Beim Pressen merkte ich plötzlich, daß meine Schamlippen brannten wie Feuer.« (ebd., 126)

Gebärende vergleichen die Presswehen manchmal mit einem überdimensionalen Stuhlgang, und in der Tat sind diese Parallelen nicht von der Hand zu weisen: »Ich begriff inzwischen, daß ich pressen mußte, als wenn ich die dickste Wurst meines Lebens aus dem Arsch quetschte, und tat das auch mit aller Kraft.« (ebd.) Auch die Romanheldin Andrea bei Fröhlich zieht Parallelen zum Stuhlgang. In Auseinandersetzung mit einem dominanten Arzt während der Pressphase bedauert sie, derart von ihrem Leibe genötigt zu sein, dass es ihr an geistiger Gewandtheit fehlt: »Dummerweise scheint meine Schlagfertigkeit unter dieser Presserei doch ein bißchen zu leiden. Ich fühle mich, als müßte ich eine Wassermelone scheißen, und wer dabei noch amüsante Konversation machen kann – den möchte ich gerne mal kennenlernen; allerdings erst, wenn das hier erledigt ist. Ich habe mir das Ganze doch

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ein wenig anders vorgestellt. … Wenn das das schönste Erlebnis überhaupt ist, möchte ich niemals ein schlimmes haben.« (Fröhlich, 1998, 5)

Als die Hebamme die Geburt mit einem Spaziergang vergleicht, denkt Andrea: »Würde es mich beim Spazierengehen jedesmal so zerreißen, ich schwör’s: keinen Meter würde ich mehr gehen.« (ebd., 6) Während einer Pause in der Austreibungsphase erlebt sie das »Über-den-Gang-Schlurfen« mit dem Gefühl, als hätte sich die Erdanziehungskraft verzehnfacht (ebd., 7). Als die Geburt nicht wie gewünscht fortschreitet, keimen »erste Versagergefühle« auf: »Ich mag nicht mehr. Ich will eine Betäubung, Vollnarkose, Ecstasy, Dope jeder Art.« (ebd., 10) Sie bettelt um Medikamente, ja selbst um einen Kaiserschnitt; sie verlangt nach Befreiung: »Ich, eine junge, moderne Frau, Typ Gebildete-junge-Yogurette-Esserin, werde zur devoten Schleimerin. Ekelhaft, dieses Aufgeben jeglicher Prinzipien.« (ebd.) Nach der ›erbettelten‹ PDA geht es zunächst besser: »Die Schmerzen lassen nach. Sie sind nicht verschwunden, aber irgendwie eingedämmt. Phantastisch; was für eine Erfindung! Ein Wunder. … Warum habe ich mich bloß so lange gequält? Weil ich eine perfekte Gebärerin sein wollte. Na, dann bin ich eben keine. … seit der PDA glaube ich …, daß ich eine Chance habe, diesen Vorgang hier zu überleben.« (ebd., 11 f.)

Bei der letzten Austreibungswehe »geht ein Ruck durch« die Protagonistin (ebd. 12): »So etwa wie bei Alien 2, als Sigourney Weaver sich wie verrückt windet, weil das Monster von ihr Besitz ergriffen hat. Und dann Erleichterung. Man knallt mir etwas Glitschiges, nicht direkt Ansehnliches auf den Bauch. Aber: ein Alien ist es nicht.«

Der erste Moment nach der Austreibung des Fötus wird als Erleichterung beschrieben, eine typische Leiberfahrung unmittelbar nach der Geburt. Das Baby ist noch nicht das Baby, sondern »etwas Glitschiges«, das den eigenen Leib als enormen Widerstand verlassen hat. Die Austreibung wird häufig als relativ-örtliches Geschehen bewusst miterlebt. So schreibt eine Frau: »ich spürte etwas aus mir herausgleiten« (Reim, 1984, 29 f.); eine andere berichtet: »Das Gefühl, als Roberts Kopf durch meine Scheide schoss, war nichts als ein großes Durchatmen.« (ebd., 149) Im Spüren des Kindes, wie es dem eigenen Leibe ›entkommt‹, werden dessen Körperteile, vor allem der Kopf als größter Widerstand, wahrgenommen: »Ich durfte wieder pressen. Der Kopf kam mehr und mehr. Ich hatte das Gefühl, meine Knochen brächen auseinander. Ich mußte mich tiefer legen, damit das Kind nicht immer auf mein Steißbein schlug. Ich spürte dort einen starken Druck.

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Dann, nach vielen Preßwehen, preßte ich ein letztes Mal ohne Wehe und sah den Kopf herauskommen. … Ich drückte nicht mehr, sah einen blauen Kopf, verknittert, haarig, eine Schulter und die andere Schulter und, flutsch, der ganze Körper lag draußen. Phantastisch! Ein gurgelndes, blaurotes Etwas. Es roch ganz toll. Ich erinnere mich noch genau an den intensiven Geruch: warm, scharf, süßlich, unverkennbar. Ich merkte, wie eine warme Flüssigkeit aus mir herausfloß.« (ebd., 126)

Die Erfahrung, dass der Kopf des Kindes durchtritt, wird als besonderer, herausragender Moment der Austreibungsphase geschildert, als Durchtreten, Durchstoßen, als tatsächliches Überwinden eines immensen Widerstandes, wohingegen die Ausscheidung des Restkörpers eher als sanftes ›Herausflutschen‹ oder ›Hinausgleiten‹ beschrieben wird: »Als der Kopf durchtrat, beziehungsweise während einer Wehe voll stehenblieb, durfte ich unter keinen Umständen pressen. Das war sehr schwer. Er rutschte dann von alleine heraus. … Dann flutschte es und lag gleich auf meiner Brust.« (ebd., 191) »Dann ist der Kopf draußen, und unser Baby schreit das erste Mal ganz laut und eindringlich … Alle lachen, ich schreie mit aus Schmerz. Und dann macht es schwupp, und die Hebamme legt mir unseren kleinen Schatz auf den Bauch. Noch nehme ich es gar nicht richtig wahr. Ich sehe nur die pulsierende dicke Nabelschnur.« (ebd., 167)

Das Herauspressen des Kindes wird von einer anderen Frau »wie ein Sektkorken« (ebd., 90) beschrieben. Golls Romanfigur Marie erlebt in der Austreibung des Kindes deutlich die Konkurrenz von Spannung und Schwellung: Sie drückt, »trotzdem es ihr vorkommt, als würden durch das Pressen ihr Leib, ihre Schenkel, ihre Eingeweide zerrissen«; schließlich geht ein »Beben« »durch ihren Leib«, »aufgepflügt wie die Erde von einer unterirdischen Katastrophe.« Im Halbdunkel ihrer Sinne nimmt sie wahr, dass sie ein Mädchen geboren hat. Danach heißt es: »Eine Schwäche läuft durch Maries Leib, eine süße Müdigkeit ist in ihrem Kopf.« (Goll, 1988, 159) Mit der eigentümlichen Kontrastierung von leiblicher Schwäche und ›geistiger‹ Mattheit, die zugleich, durch die Ankunft eines Menschenkindes, ›verzuckert‹ ist, fängt Goll die Stimmung einer gerade Mutter gewordenen Frau treffend ein. Abschließend sei noch eine der seltenen lyrischen Aufarbeitungen der Geburt zitiert. 1 In dem Gedicht »Geburt« bringt Lola Landau (1993, 178) 1

Eine weitere dichterische Verarbeitung liefert das Prosastück »Die Geburt« der Expressionistin Anneliese Hager (1991, 21), das beschreibt, wie die Geburt zu einer Erfahrung des Leibes in seiner absoluten Örtlichkeit wird.

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

die Spielarten der leiblichen Nötigung beim Gebären zur Sprache, aber auch die »Erlösung«, als das Kind geboren ist. Ein Marterpfahl steht für die aufgezwungene ›Folter‹ des rhythmisch kreisendes Rasens der Schmerzen, die den Leib haltlos werden lassen und wie aus einem Abgrund emporsteigen. In der Eröffnungsphase der Geburt wird das Stöhnen zunächst bezwungen, bis in der Austreibungsphase der Schrei »als Fackel« aus dem Mund herausbricht und die »festliche Stunde« in Brand setzt. Mit der Kreißenden schreien mit einem Mal »alle Dinge«, die gesamte Umgebung, schließlich auch das Kind: »An den Marterpfahl gebunden, Auf der Schmerzen kreisendes Rad gewunden Rast mein Leib ohne Rasten! – Meine Hände tasten Nach einem Halt. Aber sie fassen nur in einen neuen spitzigen Marterspalt. – Ich will nicht stöhnen! Meine Nöte will ich verhöhnen Zu einem himmlischen Freudenfasten. Ich will nicht rufen, Immer stumm steigen die Leidensstufen Aus meinem Schacht. – Aber da bricht ein Schrei als Fackel aus meinem Munde Und legt Brand an die festliche Stunde. Und alle Dinge beginnen mitzuschrein In meinem höchsten, unsäglichen Weihn. Bis der flackernde Schrei meines Kindes Schrei angefacht. – Und ich höre, wie Gott mir leibhaftig entgegenlacht. Und wirble hoch in seliger Runde!«

13.7 Das Trennen der Körper Nachdem das Kind geboren wurde, verbleibt es noch in unmittelbarer Nähe des Mutterkörpers und ist mit ihm durch die Nabelschnur an einen gemeinsamen Ort gebunden. Von dieser Verbindung, die in einer merkwürdigen Doppelung sowohl innerhalb als auch außerhalb ihres Körpers ist, spürt die Mutter jedoch so gut wie nichts. In der modernen Geburtssituation, die unter der Aufsicht von Experten stattfindet, kümmern sich Dritte um das Trennen der Körper. Es kommt also so gut wie gar nicht vor, dass Gebärende sich selbst auch körperlich vom Kinde trennen, den Akt des Durchschneidens der Nabelschnur vollziehen und den Nabel ›versor530

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gen‹. 2 Dass mit der Trennung der Körper keine Leiberfahrung, z. B. ein Schnittschmerz verbunden ist, verwundert nicht weiter: Die Nabelschnur war schon während der Schwangerschaft nicht spürbar, und in der Perspektive subjektiver Betroffenheit wird das ›Herauspressen‹ des Kindes als das eklatante, enorme leibliche Ereignis erlebt, als die Trennung des eigenen Leibes von dem Widerstand bietenden und Schmerz verursachenden Kindskörper. Die Geburtszeit des Kindes orientiert sich auch gerade an diesem Akt, in dem das Kind ›das Licht der Welt erblickt‹ und nicht am Moment des Schnitts an der Nabelschnur. Diese physische Trennung wird von der Mutter nicht als eine solche erlebt, da die Trennung sich für sie leiblich bereits vollzogen hat. So registrieren viele Frauen nicht einmal den Zeitpunkt der Separation, wenn sie nicht eigens darauf achten. Die dann noch aus ihrem Körper heraushängende Nabelschnur diffundiert beinahe vollständig in das Erleben der Leibesinsel Genital und wird allenfalls als ein ›Etwas‹ gespürt, wenn z. B. das Geburtspersonal an der Nabelschnur zieht und diese damit an der Scheidenöffnung diffus wahrgenommen wird. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Ablösen der Plazenta noch Zeit in Anspruch nehmen kann, so ist es doch eine eigentümliche Erfahrung, mit einem Strang eigenen Fleisches, der aus der Vagina heraushängt, aber kaum bemerkt wird, mit dem Baby noch verbunden zu sein und durch einen nicht spürbaren Schnitt schließlich endgültig von ihm getrennt zu werden.

13.8 Austreibung der Plazenta Der Abgang der Plazenta ist wiederum eine herausragende Leiberfahrung für die Gebärende. Ob sie nun will oder nicht, ob sie mit dem Neugeborenen befasst ist oder sich einfach nur der Erleichterung, es ›geschafft‹ zu haben, hingibt, sie kommt nicht umhin, von der Austreibung der Plazenta betroffen zu werden, da dieser Vorgang einen materiellen Referenten hat,

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Manche Mütter sind regelrecht entsetzt, angewidert oder angeekelt, wenn sie zum ersten Mal jene Stelle sehen, an dem sie mit dem Kind verbunden waren, denn das Neugeborene hat keineswegs den Nabel, den wir sonst kennen, eine kreisrunde, meist eingestülpte Stelle am Bauch. Vielmehr steht noch ein Stück Nabelschnur, häufig mit einer kleinen Klemme versehen, vom Leibe ab und trägt noch deutlich sichtbar die Spuren der Verbindung mit dem Mutterkörper. Diese empfindliche Stelle am Kindskörper, eine Art Wunde, die verheilen muss, bedarf einer besonderen Pflege. Erst nach einigen Tagen ›stirbt‹ der Nabelschnurfortsatz ab und es bildet sich allmählich jene Körperstelle heraus, die wir als Nabel kennen.

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

der in seiner ›Abwanderung‹ aus dem Leib zu irgendeinem Zeitpunkt gespürt wird. Die Plazenta ist eine ziemlich große und dichte, wenn auch nicht harten Widerstand bietende Masse blutigen Fleisches mit einer eigenen Konsistenz. Der Prozess ihres Abstoßens kann und soll in keiner Weise aufgehalten werden; er kann dann bewusst begleitet oder durch eigenleibliche Impulse forcierend vorangetrieben werden, wenn die Plazenta als Widerstand in der Vagina wahrgenommen wird. Die Austreibung ist u. U. von mehr oder weniger aufdringlichen Regungen in Form von Nachwehen oder auch Presswehen begleitet, meist aber lediglich von geringfügigen Konvulsionen im Unterleib, die aufgrund der bereits überwundenen Schmerzgeschichte als eher harmlos erlebt werden. Dieser Abgang von Materie wird am Genital bemerkt, als Herausrutschen, Hinausgleiten, Herausflutschen, Herausstülpen, als die eigentümliche Erfahrung einer vaginalen Ausscheidung, weder flüssig noch gänzlich hart, aber fest, kompakt und nachgiebig sowie voluminös und zusammenhängend, – eine Ausscheidung, deren Beschaffenheit in der ihr eigenen Weise erlebt wird, u. U. gemeinsam mit einem abgehenden Flüssigkeitsschwall (Blut oder noch Fruchtwasser). Wir wissen, dass der vollständige Abgang des ›Mutterkuchens‹ für die Gesundheit der Gebärenden von eklatanter Bedeutung ist und dass es einen gewissen Zeitrahmen gibt, in dem dieser eigenleiblich zu erfolgen hat und nach dessen Überschreitung medizinische Maßnahmen erforderlich werden. Meist geschieht die Austreibung der Plazenta im unmittelbaren Anschluss an die Geburt des Babys, nach einer Pause von wenigen Minuten. Für Mediziner ist von großer Bedeutung, ob der Vorgang ›normal‹ verläuft und vor allem, ob die ausgeschiedene Plazenta vollständig, ein »runder Mutterkuchen« ist, sich also gänzlich und d. h. ohne Rückstände abgelöst hat. Deshalb wird diesem Geschehen seit jeher besondere Aufmerksamkeit vonseiten des Geburtspersonals beigemessen. Es mag ein Spiegel der diskursiv erzeugten Besetzungen dieses Ereignisses sein oder aber Ausdruck der letztlich nicht allzu bewegenden Leiberfahrung, dass ihm in Erlebnisberichten zur Geburt nur sehr selten Rechnung getragen wird. Als Leiberfahrung wird das Austreiben der Plazenta weder in medizinischen noch in populärwissenschaftlichen Kontexten thematisiert. Der Klassiker »unser körper unser leben« (Boston Women’s Health Book Collective, 1981, 701), ein Werk von immerhin über 900 Seiten, widmet diesem Thema einen kleinen Absatz, und dieser folgt dem medizinischen Gestus:

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»Ausstoßen der Plazenta Wenn das Baby draußen ist, zieht sich der Uterusmuskel sehr schnell zusammen. Dadurch verkleinert sich auch die Haftfläche, und die Plazenta, die neun Monate lang das Kind genährt und die Abfallstoffe abgeführt hat, wird ausgestoßen. Dies geschieht meistens innerhalb von wenigen Minuten nach der Geburt, es kann aber auch bis zu einer halben Stunde dauern. Hebamme oder Arzt müssen die Plazenta genau untersuchen, um sicher zu sein, daß sie intakt ist. Wenn Teile zurückgeblieben sind, führt dies zu Blutungen, weil die Blutgefäße sich in der Gebärmuttermuskulatur an dieser Stelle nicht verschließen können.«

Einmal abgesehen davon, dass das in diesem Zitat deutlich werdende Körperbild eher dem einer Maschine ähnelt, die Produkte herstellt, bleibt die Frau als Erlebende völlig außer Acht. Der Uterusmuskel scheint der einzige Akteur in dieser Szene zu sein, und die Ärzte sind diejenigen, welche die geleistete Arbeit am Produkt, das ein ›Abfallprodukt‹ ist, begutachten und entweder gute oder schlechte Qualität bescheinigen und bei schlechter medikamentös eingreifen. In vielen Geburtsschilderungen, seien sie nun literarischer oder freier Art, wird die Nachgeburt wie ein zu vernachlässigendes Detail einfach übergangen. In den vielen Fernsehsendungen, die heutzutage Life-Mitschnitte von Geburten zeigen, wird die Austreibung der Plazenta als integraler Bestandteil der Geburt ausgeklammert. Mütter erinnern sich aber meist gut an diese eigentümliche Leiberfahrung, auch wenn sie nicht als besonders herausragend geschildert wird. Deutlich wird vielfach bemerkt, dass das Geburtspersonal die Nachgeburt einer eingehenden Untersuchung unterzieht, wie in diesem Beispiel bei Reim (1984, 69), das auch das unverfügbare leibliche Geschehen aufgreift: »Zeit zum Nachdenken blieb nicht, auch ich war wieder ›dran‹ : Die riesige, fast doppelt große Nachgeburt wurde auf Vollständigkeit untersucht, doch blutete ich unverändert stark.«

In Byatts (2002, 134) belletristischer Schilderung kommt es zu einer Forcierung des Austreibungsvorgangs durch das Geburtspersonal: »Die grüne Schwester drückte die unvermittelt geschrumpfte Wölbung flach; pressen Sie, sagte sie, und während der Rhythmus erlahmte, presste der Körper zum letztenmal, und Stephanie hörte das fließende Glitschen der Nachgeburt.«

Solche Einflussnahme durch das Drücken auf den Bauch ist nicht selten und greift meist die noch vorhandene Pressrhythmik des Körpers unterstützend auf. Auffällig ist, dass der Abgang des Mutterkuchens auch als akustisches Erlebnis beschrieben wird, als »das fließende Glitschen«. Häufig wird, wenn dieser Vorgang überhaupt Erwähnung findet, von begleitendem Bluten berichtet, das aber auch durch einen Dammschnitt oder 533

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-riss oder vaginale Wunden verursacht sein kann. Die neuerliche Dehnung durch eine Widerstand bietende Masse mag dann die gesamte Genitalregion empfindlich reizen. So schreibt eine Frau: »Die Nachgeburt kommt, begleitet von einem Meer von Blut. Jetzt ist mir erst bewusst, daß ich geschnitten wurde.« (Reim, 1984, 108) Das ›Kommen‹ der Nachgeburt verweist auf die Eigenmächtigkeit des Geschehens. Auch im folgenden Beispiel (ebd., 127) ist von einem Blutschwall die Rede, der in Zusammenhang mit dem Abgang der Plazenta steht: »Ich spürte keine Nachwehen. … Erst kam ein Schwall warmen Blutes und dann die Plazenta. Wir sahen sie uns zusammen an. Sie sah aus wie eine Wasserpflanze, finde ich. Alles so wunderbar! Ich fühlte mich lebendig und stolz. Und unheimlich stark …«

Es ist eher selten, dass Frauen selbst, wie in diesem Beispiel, ein Interesse an ihrer Nachgeburt hegen, sie sich gar ansehen und daraus eine Quelle von Stolz und Stärke beziehen. In der Regel wird dem Mutterkuchen von der Gebärenden keine weitere Beachtung gezollt und viele Mütter wissen nicht, was mit ihm geschieht. Sie gehen davon aus, dass er auf irgendeine Weise von Anderen entsorgt, als ›Körpermüll‹ dem Abfall zugeführt wird. Das ist aber keineswegs der Fall: Meist geht dieses Ausscheidungsprodukt in die Hände von Kosmetik- oder Pharmafirmen über, die daraus wertvolle Substanzen wiederverwerten. Dieser unpersönliche und industrielle Umgang mit der Plazenta hat die von abergläubischen und kultischen Handlungen begleitete Umgangsweise früherer Zeiten abgelöst. Als ›Ausscheidungsprodukt‹ ist die Plazenta aber nicht etwas, das durch den Abstoß erledigt wäre, wenngleich man bei heutigen Geburtsszenen den Eindruck eines ›Entsorgungsaktes‹ gewinnt. Wenn die Plazenta den eigenen Leib verlässt, ist sie etwas, das gespürt wird, und durch die Natur dieses Festen als eines relativ Voluminösen mag diese ›Ausscheidung‹ doch ein gewisses Interesse wecken, wenngleich dafür bei Klinikgeburten kaum Verständnis zu finden ist. Es mag sich auf das Bedürfnis beziehen zu sehen, was da aus dem eigenen Leibe ›noch‹ herausgekommen ist und in Zusammenhang mit dem Kind stand. Die Gebärende wünscht vielleicht an ihrem sicht- und tastbaren Körper bzw. mit eigenen Augen zu eruieren, dass sie von dem Festen, das noch mit der Nabelschnur aus dem Leibe hing, nun gänzlich befreit ist und sie so ihre Bewegungsfreiheit zurückerhält, denn der Zustand des gebärenden Leibes bindet die Frau an einen Raum mit kleinem Bewegungsradius, sie wird von der Geburt gleichsam zu Boden gezwungen, zumindest aber zu einer – im Moment der Austreibung – ziemlich bewegungslosen Haltung. Ist die Plazenta und damit auch 534 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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das zweite Ende der durchtrennten Nabelschnur einmal nicht mehr im Leib, kann sich dieser wieder als Einheit formieren. Das unabhängig von medizinischen Kontexten u. U. sich rührende Interesse für die Plazenta, deren Aussehen und Volumen, scheint auf eine Sphäre des Numinosen zu verweisen, die in vielen Kulturen in entsprechende Kulthandlungen kanalisiert wurde. Es handelt sich dabei um rituelle Umgangsformen mit den körpereigenen Ausscheidungen. Hier hat die Frau also diese besondere, unvermeidbare Ausscheidung eines ›Festkörpers‹, meist im Beisein anderer Personen und außerhalb der für Ausscheidungen normalerweise vorgesehenen Räumlichkeiten, wie der Toilette, und ihr ›Produkt‹ ›liegt‹ gewissermaßen ›herum‹. Der Blick in die Geschichte zeigt, dass die Plazenta, plattdeutsch »tüch«, die »Bürde«, das »Bürdeli«, die »Nachbürde« oder auch »Nachfreude«, nicht immer als zu ignorierender, unwichtiger, ›nur‹ noch zu entsorgender ›Körpermüll‹ betrachtet wurde und wenn, dann als ganz besonderer ›Körpermüll‹, mit dem auch in besonderer Weise zu verfahren ist. Bei fast allen Umgangsformen mit der Plazenta, die das »Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens« aufführt, ist die Wöchnerin jedoch völlig unbeteiligt, ja es gibt sogar eine »abergläubische Scheu« vor der Nachgeburt mit dem Diktum, sie dem Blick der Wöchnerin zu entziehen, »weil die Mutter sonst stirbt«, »weil sonst das Kind aus dem Mund riecht« etc. (Bächtold-Stäubli, 1987, 761). Andererseits wurden aber auch Rituale mit ihr an der Mutter selbst vorgenommen, z. B. das Bestreichen ihrer Brust mit dem Mutterkuchen, das Umkreisen ihres Halses mit demselben, Einreibungen im Gesicht oder gar eine orale Zuführung, gelegentlich im pulverisierten Zustand. Eine Weitergabe an fremde Personen zu magischen oder Heilzwecken ist ebenfalls belegt (ebd., 765). Hinsichtlich der ›Entsorgung‹ der Plazenta haben sich historisch und regional verschiedene Verfahren entwickelt, wobei das Vergraben mitsamt der Nabelschnur an der Wurzel eines Baumes oder das Aufhängen in einem Baum allgemein üblich gewesen sind (ebd., 760). Dabei wurden Obstbäume bevorzugt und eine Wahl je nach Geschlecht des Neugeborenen (Birnbaum bei Knaben, Apfelbaum bei Mädchen) getroffen (ebd., 761). Es gab auch Anweisungen, sichere, d. h. dem Zugriff von Hunden und Katzen verborgene Vergrabungen ausdrücklich nicht im Freien, sondern »in der Scheune, im Stall, unter der Diele, unter der Stiege und endlich tief im Keller« (ebd., 762) vorzunehmen, gelegentlich mit rituellen Beschreitungen durch die Wöchnerin beim ersten Aufstehen nach der Geburt. Gebräuchlich scheint jedoch auch das Verbrennen der Plazenta sowie das Abwerfen in fließendes Wasser gewesen zu sein (ebd.). Viele Bräuche 535 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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weisen, wie auch Labouvie (1998, 126) für die Landfrauen der frühen Neuzeit ausführt, darauf hin, dass in der ländlichen Geburtshilfe »die Plazenta eine besondere Rolle sowohl als magische Substanz, als Heilmittel und auch als symbolischer ›Doppelgänger‹ des geborenen Kindes« einnahm: »Der Abgang der Nachbürde – eine zweite Geburt –, eines Stoffes also, der Fruchtbarkeit und Gesundheit verkörperte, wurde deshalb intensiv beobachtet und begleitet.« Was immer mit der Plazenta geschah, wurde von den die Geburt begleitenden Personen (die Hebamme oder auch der Hausherr), keinesfalls von der Wöchnerin selbst ›getan‹. Auch heute pflegt die Wöchnerin selbst keinen ›Umgang‹ mit ihrem Mutterkuchen, sie hat außer der Leiberfahrung seines Ausstoßens meist keine haptische und ebenso wenig visuelle oder sonstige Begegnung mit ihm, ja sie mag sich aus Regungen des Ekels u. U. einer visuellen Konfrontation mit ihm bewusst entziehen. Im Rahmen moderner Geburtsmedizin hat inzwischen, nachdem die Plazenta schon vor langer Zeit als kostbarer Rohstoff entdeckt wurde, die Nabelschnur und ihre Bedeutung z. B. als Lieferant von Stammzellen das vermehrte Interesse von Wissenschaftlern geweckt. Eingriffe an der noch pulsierenden Nabelschnur gehören aber noch nicht zur Routine einer Klinikgeburt.

13.9 Unmittelbar nach der Geburt: Leere, Erschöpfung, Erleichterung Die vorangegangenen Kapitel haben die Phasen der Geburt im leiblichen Erleben der Frau analysiert. In einer letzten Austreibungswehe wird das Kind ausgestoßen bzw. herausgepresst, der Leib entbindet sich von ihm, und das bedeutet einen einzigartigen erheblichen Verlust. Die Tatsache, dass dieser Verlust groß ist und schwer wiegt, zeigt sich heutzutage immer noch an den stolz präsentierten Maß- und Gewichtsdaten des Kindskörpers bei Geburtsanzeigen – auch ein Ausdruck der enormen Schwangerschafts- und Geburtsleistung. Das ersehnte Ende der Geburt führt zur Erleichterung, die Leibesfülle weicht, und der vorher nur im Verborgenen erspürte und qua medialer Vermittlung sichtbare Kindesleib wird zum sicht- und tastbaren Körper. Mutter- und Kindskörper werden an der Nabelschnur voneinander getrennt, und der Leib ist noch einmal betroffen von einem unverfügbaren Erleben, der Austreibung der Plazenta. Ein letztes ›Martyrium‹ erleben Frauen danach aber meist dennoch, wenn vaginale Risse, ein Dammriss oder ein Dammschnitt, der heute in sehr vielen Fällen durchgeführt wird, genäht werden müssen. Greer (2000, 536

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139) spricht in Bezug auf die Häufigkeit von Dammschnitten in der modernen Geburtshilfe mit Sheila Kitzinger von einer besonderen Form westlicher Genitalverstümmelung. Während manche Hebamme ihren Berufsstolz in das Wissen und die Anwendung bestimmter Techniken zur Vermeidung eines Dammrisses bei der Austreibung des Kindes legt, z. B. durch Dammmassagen in der Geburtsvorbereitung und während der Geburt, rückt die moderne Geburtshilfe dem gespannten Damm schon fast routinemäßig mit Messer oder Schere zu Leibe. Was vielleicht unter der Geburt, auf dem Höhepunkt einer Wehe, nicht unbedingt gespürt wird und von vielen Frauen gar nicht bemerkt wird, so dass sie überrascht sind, wenn sie davon später Mitteilung erhalten, tritt nach der Geburt um so deutlicher ins Erleben, wenn der Schnitt genäht wird. Das Vernähen eines Dammschnitts geschah früher ohne Betäubung, weil man davon ausging, dass diese Region schmerzunempfindlich ist. 3 So schreibt eine Frau noch in den 1980er Jahren: »Das Nähen der Wunde bei vollem Bewusstsein war das schmerzintensivste. Anschließend bin ich weggetreten.« (Reim, 1984, 108) Wenngleich es heute üblich ist, das Vernähen des Dammschnitts oder -risses mit örtlicher Betäubung vorzunehmen, ist es doch so, dass dieser Vorgang die Frau noch nicht aus der Geburt entlässt. Das Nähen kann sehr zeitaufwendig sein und fesselt die Frau an ihren Ort. Sie muss es an sich, und zwar an einer überaus schambesetzten Leibesregion passiv geschehen lassen, sie muss über sich ergehen lassen, dass ein Arzt oder eine Ärztin (Hebammen war bis vor kurzem das Nähen untersagt) ihre Vagina, ihren Damm, ihre Schamlippen wieder in Form bringt, und zwar nach seiner oder ihrer Vorstellung, ohne dass die Betroffene darauf Einfluss nehmen kann. Viele Frauen berichten davon, mit Ungeduld den Moment erwartet zu haben, in dem sie ›endlich‹ in Ruhe gelassen werden, in dem sie wieder frei sind von jedweden Eingriffen in oder Angriffen auf den Leib. Wenn jetzt vom Leiberleben unmittelbar nach der Geburt die Rede ist, so ist in den Erlebnisbeschreibungen häufig nicht klar, ob damit die Zeit vor oder nach der Austreibung der Plazenta gemeint ist. Das mag in diesem Kapitel, das ohnehin eine Art künstliche Trennung zwischen dem leiblichen Zustand der Erleichterung und Erschöpfung kurz nach der Geburt und dem ersten Kontakt mit dem Kind (das folgende Kapitel) einführt, zunächst nicht weiter von Belang sein. Es geht um eine Besonderheit der leiblichen Verfassung, die in der realen Geburtssituation durchaus in einer sehr kurzen Phase und häufig überlagert von der Emotionsfülle durch den Kontakt zum Kind erlebt wird. Es soll aber deutlich werden, 3

Zu den Hintergründen der Praxis des Dammschnitts siehe z. B. Greer, 2000, 139 ff.

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dass es dieses ›Zwischen‹ hinsichtlich der Geburt und der ersten Hinwendung zum Kind gibt, ein Zwischen, das in erster Linie davon geprägt ist, dass der Leib nach der Geburt ›erleichtert‹ und erschöpft zurückbleibt und sich erst wieder in allen seinen Belangen und seiner räumlichen Orientierung zu finden hat. Es ist nämlich meist nicht oder nicht immer so, dass Mütter sich unmittelbar nach der Geburt freudestrahlend dem Kind widmen; vielmehr gibt es diese mehr oder weniger intensiv erlebte Phase der Rückkehr von einem ›übermächtigen‹ Leiberleben, von einer erheblichen affektiven Betroffenheit, nach der sich die Mütter zuerst einmal im wahrsten Sinne des Wortes zurücklehnen, eine entspannte Haltung aufsuchen. In diese Phase mag noch nachwirkender Schmerz hineinragen. So sagt eine Frau über ihren Zustand kurz nach der Geburt: »Mir taten die Knochen weh. Vor allem das Steißbein. … Die Nachwehen kamen, aber ich war so glücklich.« (Reim, 1984, 128) Schon während der Geburt wird durch die extreme Betroffenheit von den leiblichen Vorgängen kaum ein Gedanke auf das Kind gerichtet. Erst nach dem Moment der den Leib entspannt weitenden Erleichterung folgt die wiederholt beschriebene ergreifende Freude über das Neugeborene. In dieses Erlebnis kann sich leiblich engend noch die sorgenvoll erwartete Antwort auf die Frage, ob es gesund ist, einmischen. Unmittelbar nach der Geburt stellt sich aber als ergreifende Stimmung zuerst und vor allem diese Erleichterung ob der überstandenen Anstrengung eines gewaltigen leiblichen Geschehens ein. In einem Internetforum lesen wir z. B.: »Hinterher kam statt dem überwältigenden Glücksgefühl erstmal ein herzhaftes ›Gottseidank ist das vorbei und so schnell brauche ich das auch nicht wieder‹, – das Glücksgefühl kam dann zu Hause, wo wir 5 Std. nach der Geburt wieder waren.« (NN, Forum »Geburtserlebnisse«, www.eltern.de, 22. Juli 2000, 0:29)

Dieses Beispiel zeigt die Erleichterung, die wie ein tiefes Seufzen erscheint. Die Erinnerung an den vom Schmerz zerrissenen Leib ist kurz nach der Geburt häufig noch so leibnah, dass schon die Vorstellung einer weiteren Geburt zurückgewiesen wird. Diese Erinnerung verflüchtigt sich später schnell bzw. wird von anderen Stimmungen überlagert. So heißt es auch im Volksmund, Geburtsschmerzen würden rasch vergessen. Hört der Schmerz nach der langen Schmerzgeschichte einer Geburt schließlich auf, hat sich der Leib erst wieder zu finden, und zwar in einem Zustand ohne Schmerz, ohne die rhythmischen Wellen extremer Anspannung. Das Ausbleiben der vom Schmerz verursachten Spannung kann dazu führen, dass sich der Leib mit einem mal wie aufgelöst, diffus, weich, unkonturiert anfühlt, wie bei Shaw (1998, 24) deutlich wird: 538

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»Der Schmerz hörte auf. Nicht langsam, sondern auf der Stelle. Und zum ersten Mal fühlte ich jetzt, wie mir die Knie weich wurden. Fran half mir in den Stuhl, an den ich mich gelehnt hatte, und ich hielt mein Baby. … Mein Körper fühlte sich ganz aufgelöst an, als hätten meine Arme und Beine, mein Rücken und meine Füße vorläufig den Geist aufgegeben. Bevor ich es noch gestillt hatte, hatte mein Baby meinen Körper schon ausgetrunken und mir nichts als meine Liebe hinterlassen.«

Shaw beschreibt, wie sie noch nicht wieder die Kontrolle über ihren Leib hat, wie er neu angeeignet und durchdrungen werden muss. Auch in der folgenden Schilderung bei Reim (1984, 141) ist von Erleichterung und einem diffusen Zustand die Rede: »Sie wurde sofort abgenabelt und mir auf den Bauch gelegt. In dem Moment war mir die Größe des Augenblicks nicht bewusst. Ich war erleichtert und gleichzeitig vollkommen durcheinander. Aber die Müdigkeit war verflogen, und ich war ziemlich aufgekratzt.«

Ein plötzliches Hellwach- und Aufgekratzt-Sein wird wiederholt beschrieben, wenngleich die Erschöpfung mit dem Eindruck, dass der Leib noch nicht wieder zur Verfügung steht, meist jede andere Empfindung überwiegt: »Ich lag nun erstmal total erschöpft da …« (ebd., 95). »Von diesen ersten Minuten, in denen mein Sohn und ich alleine waren, kann ich wirklich nicht sagen, daß ich glücklich war. Ich war nur einfach ausgepumpt und leer im Kopf. Ich weiß auch bis heute noch nicht, woher ich diese Kraft genommen hatte, so lange zu pressen. So lag ich also, man kann wirklich sagen, platt wie eine Flunder, im Bett und war nicht mehr in der Lage, auch nur ein Bein oder einen Arm zu heben.« (ebd., 96)

Ein Gefühl des Leer-Seins, das jenes so hochgehaltene »Mutterglück« zunächst hemmt, beschreiben viele Frauen für den Zeitraum unmittelbar nach der Geburt. »Meine Juliane ist da, uff!!! Zunächst ist es ganz leer in mir. Die Nabelschnur wird abgetrennt, und nun der glücklichste Augenblick: Ich bekomme mein Baby in den Arm gelegt.« (ebd., 108)

Freilich hält, wie in diesem Beispiel, der Eindruck von Leere und Apathie nicht lange an und wird abgelöst von anderen überwältigenden Gefühlen. Die von dem Geburtserlebnis zurückbleibende Traumatisierung des Leibes führt aber zunächst zu jener so oft beschriebenen Leere, in die sich auch eine Art ›Lähmung‹ des Empfindens mischt: »Als M. rief, daß es ein gesunder Junge sei, sank ich zurück, ließ die Augen geschlossen und war ganz leer. Der Wunsch, der bei fast allen Müttern entsteht, daß sie zunächst nur ihr Baby in den Arm nehmen möchten, stellte sich bei mir nicht

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sofort ein. Ich war körperlich so erschöpft und so außer mir, daß ich zunächst auch nichts bei mir fühlen wollte. Dann wurde mir Robert an die Brust gelegt. Ich war so erstaunt, daß wir nun ein Kind hatten …« (ebd., 150)

Dieses Beispiel zeigt deutlich den Prozess des Zurückkommens vom Geburtserlebnis. Leere, Erschöpfung und das immer noch Außer-Sich-Sein verebben nach der Geburt erst allmählich, und so wundert es nicht, dass zunächst nichts ›gefühlt‹ wird, ja dass der Wunsch, in Kontakt mit dem Kind zu treten, sich noch gar nicht einstellt: »Anfangs war die Erleichterung größer als das Bedürfnis, mein Kind in den Armen zu halten. Erst nach und nach wuchs in mir der Wunsch, meinem Kind nahe sein zu können.« (ebd., 181)

Die Rückkehr vom Zustand extremer Ergriffenheit wird auch von Byatt (2002, 134) beschrieben als ein Zurücksinken, ein In-sich-Zusammensacken unmittelbar nach der überstandenen Anstrengung, das die Entspannung einleitet: »Der Knabe quäkte abermals, und die Frau sah über ihre Füße und die befleckten Laken hinweg die purpurne Schwester den kleinen blutroten Körper wie ein Bündel auf einer Hand halten. Sie schloss die Augen und ließ sich zurücksinken, allein, überrascht, allein zu sein, nach so langer Zeit nur den Pulsschlag ihres eigenen Lebens zu hören.«

Es ist etwas Besonderes, sich nach der Geburt mit einem Mal wieder allein zu fühlen und sich in diesem Erleben wieder zu sammeln. Nach dem abrupten Verlust von mehreren Kilogramm Eigengewicht fühlt sich der Leib konturlos, schwammig, zerrissen an: »Als sie das Kind schreien hörte, nach dreiundzwanzig Stunden, in der Morgenfrühe, glaubte sie, es schreie vor Schmerz. Sie fühlte sich wie ein betäubter Sack verknoteter und zerrissener und durchgesackter Muskeln, die nach kurzer Erholungszeit wieder anfangen würden weh zu tun.« (ebd., 344)

Der Leib ist noch traumatisiert, noch in einer durch die Schmerzgeschichte aufgebauten Erwartungshaltung, dass es vielleicht gleich weitergehen könnte. Später hießt es dann in diesem Roman (ebd., 345) nochmals, und zwar im Vergleich zu einer früheren Geburt: »Das Glück, als es kam, war nicht das Leuchten, das es bei Wills Geburt gegeben hatte, keine Klarheit, kein Wissen, sondern die Entspannung, die Wärme und Unwirklichkeit einer Schmerzspritze.«

Das nach der Geburt erlebte Glück beschreibt die Autorin bei dieser Geburt als das der Entspannung und Schmerzlosigkeit, was darauf hindeutet, 540

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dass das Glück sich nicht auf das Kind bezieht, sondern auf den Zustand der Erleichterung, der sich einstellen mag, wenn ein Schmerzmittel zu wirken beginnt. Die Intensität des Geburtserlebnisses bedingt meist, dass die Mutter, auch wenn sie vollkommen erschöpft ist, doch nicht schlafen kann: »Ich fühlte mich total zerschunden, wollte eigentlich nur noch in Ruhe gelassen werden … Gleichzeitig war mir jedoch klar, daß an Schlaf nicht zu denken sein wird, zu intensiv waren die Ereignisse gewesen.« (Reim, 1984, 69)

Diese Frau will sich z. B. waschen und umziehen, um aus dem Kreißsaal auf die Station zu gehen, doch ihr Körper reißt sie zu Boden: »Nicht einmal bei mehreren vorangegangenen Operationen habe ich anschließend dafür die Hilfe anderer in Anspruch nehmen müssen! Und dann jetzt? Nein! Ich richtete mich also auf, hatte kaum Zeit, mich über ein sonderbares Rauschen im Kopf zu wundern, und wurde auch schon ohnmächtig. … Ich blutete immer noch sehr stark … Bald wankte ich mit einer Schwester zum Klo, hinterließ aber eine Blutspur …, wie Wasser lief es aus mir heraus. Die eilends herbeigerufene Ärztin drückte nicht eben sanft riesige Klumpen geronnenen Blutes aus meinem Bauch heraus, jede Berührung war nun schon entsetzlich für mich. … Ich blutete dabei weiter, wurde immer wieder untersucht und wollte doch am liebsten in einem Mauseloch verschwinden.« (ebd., 70)

Solche Ohnmachten sind zwar selten, aber charakteristisch für gerade Entbundene, die zwar nicht schlafen können, deren Bewusstsein jedoch aufgrund von Erschöpfung und Überanstrengung schlicht ›abtritt‹, vor allem dann, wenn sie sich mehr zumuten als möglich ist. Diese Mutter wird dann freilich aufgrund der Komplikationen mit einer Narkose für eine Ausschabung vorbereitet. Sie »sehnte nun den Tiefschlaf der Vollnarkose herbei, doch wurde ich vom Klappern meiner eigenen Zähne wach: Einen so starken Schüttelfrost konnte es doch gar nicht geben.« (ebd.) Von Schüttelfrost und Kälteschauern, ja von einer ergreifenden in den Leib einkehrenden und durch den Leib ziehenden Kälte, die kaum durch äußerlich zugeführte Wärme gelindert werden kann, ist häufig die Rede. Das Gefühl der Erschöpfung, Leere und des In-sich-Versinkens kann schnell, vor allem bei leichten Geburten, von überwältigenden Gefühlen zum Kind abgelöst werden: »Ich fühlte mich leer und eingefallen, doch mein Kind ließ ganz viel Wärme bei mir zurück. Es war ein wunderschönes, überwältigendes Gefühl. Es war das tiefste Glückserlebnis, das ich in meinem Leben hatte. Von dem Riß hatte ich nichts gemerkt, wieviel Blutverlust ich hatte, weiß ich

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auch nicht. Ich lag einfach nur so da und genoß die Situation, voller Dankbarkeit über die leichte Geburt und die ersten gesunden Reaktionen meiner Tochter. Seit ungefähr zwei Stunden konnte ich zum ersten Mal wieder Blickkontakt mit meinem Mann aufnehmen.« (ebd., 16)

Dass nach zwei Stunden erst wieder ein Blickkontakt mit dem Ehemann möglich wurde, deutet auf das Phänomen der Rückkehr hin, das sich nach der Geburt einstellt. Erst allmählich tritt auch die Umgebung wieder stärker in das Wahrnehmungsfeld, jene Umgebung, die während des Außersich-Seins in der Schmerzgeschichte z. T. völlig ausgeblendet sein kann. So beschreibt die folgende Frau, sie hätte sich kurz nach der Geburt nicht getraut, ihre Augen zu öffnen: »Da lag ich und traute mich nicht, meine Augen zu öffnen, geschweige denn, mein Kind zu streicheln. Aber ich hielt es ja schon, und es suchte gleich die Brustwarze und fing an zu nuckeln. So lag sie dann mit abgeklemmtem Nabel (mich störte die kalte Schere) bestimmt eine Viertelstunde. Ich konnte gar nicht weinen vor Erleichterung. Das kommt nach und nach, wie jetzt zum Beispiel, wo ich daran denke.« (ebd., 191)

Auch hier wird eine stumme Erleichterung angesprochen, die ein Weinen zunächst nicht möglich macht, die noch in sich selbst eingekapselt ist. Aber diese Frau beschreibt auch, dass sie schließlich, nach und nach und in der Erinnerung zu diesem Weinen in der Lage ist. Vom Weinen nach der Geburt ist in vielen Berichten die Rede, auch von dem durch Erinnerung ausgelösten, oder gar durch den Anblick einer Geburt ausgelösten Weinen, wie in folgendem Beispiel (ebd., 77): »Peter und ich, wir lagen uns weinend in den Armen. Schmerzen und Angst waren wie weggewischt, und übrig blieb das reine Glück! Noch heute muß ich weinen, wenn ich Geburten sehe. Es ist ein Gefühl, das ich nicht mit Worten beschreiben kann.«

Erleichterung und auch die Freude unmittelbar nach der Geburt sind häufig begleitet von einem erschütternden, den Leib durchbebenden Weinen. Die Weinende handelt sich – in der Terminologie von Schmitz (1995, 159) – »das Entkommen aus bedrängender, leiblich spürbarer Enge ein« und findet »Anschluß an die Weite, in die diese Enge eingebettet ist, von der sie sich abhebt«. Das Weinen ist »vergangenheitsträchtig«, »wesentlich auf eine Herkunft bezogen, auf eine Geschichte, die es hinter sich hat«. Weinen ist »wesentlich Abschiednehmen, Zurücklassen von Vergangenheit«, in unserem Fall, von Schwangerschaft und Geburt. Gerade für den erhebenden Moment des Weinens nach der Geburt trifft Schmitzens Terminologie zu, denn Weinen ist »so etwas wie eine Wiedergeburt, für die 542

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das Vergangene zum chaotisch Mannigfaltigen wird«. Die Schwangere wird in einem leiblichen Drama zur Mutter, erlebt also eine Neu- bzw. Wiedergeburt, und vermag, insbesondere als Erstgebärende, das mit ihr Geschehene oft gar nicht zu fassen, sie steht sozusagen fassungslos vor ihrem neuen Dasein. Ich zitiere weiter Schmitz (ebd., 160): »Das, wovon der Weinende Abschied nimmt, hüllt sich ihm dank des Weinens in zerfließende, der Schärfe beraubte Unbestimmtheit, die ihm Gelegenheit zu einem neuen Anfang gibt, wobei sich das Neue erst vage und gleichfalls vieldeutig … abzuzeichnen beginnt.«

Die affektive Betroffenheit von den Vorgängen der Geburt zerfließt der Mutter zur Unbestimmtheit, was etwa daran deutlich wird, dass viele Frauen überraschend schnell die enormen Schmerzen vergessen. So berichten sie, die Geburt sei trotz aller erlittenen Unbill das schönste und überwältigendste Erlebnis des Lebens gewesen. Die Medizin geht von der Produktion bestimmter körpereigener Stoffe, Endorphinen, während der Geburt aus, die das Bewusstsein trüben, in eine Art Rausch versetzen, um das Erleben diffus und damit ertragbar zu machen. Diese Unbestimmtheit gibt Gelegenheit zu einem Neuanfang, zu der Existenz als Mutter, die – zumindest bei Erstgebärenden – von vager Vieldeutigkeit ist. Schmitz (ebd.) schreibt: »Dieser weiche, diffuse Zustand bietet dem Menschen, der durch Weinen freigekommen ist, ein Spektrum möglicher Erhebung an, in dem er sich das Niveau personaler Emanzipation, auf dem er sich fortan zu halten vermag, suchen kann und den dafür passenden Stil zu finden vermag.«

Eine mögliche »Erhebung« hin zu einem gänzlich Neuen wird denn auch von vielen Müttern erlebt, und oft ist das Weinen nach der Geburt von ungewöhnlicher Intensität. Der Leib wird vom Weinen quasi aufgeschüttelt. Häufig kommt es durch Erinnerung an die Geburt zu spontanem Weinen. Auch der sogenannte ›Baby-Blues‹, der sich in scheinbar grundlosem, heftigem Weinen äußert, wird im Licht dieser Interpretation verständlicher. Die von Medizinern und Psychologen beobachtete Verminderung von Weinkrämpfen bei stillenden Müttern und praktiziertem »Rooming-In« bestätigt sich in dieser Perspektive ebenfalls: Mit dem präsenten Kind und der Intimität des Stillens dominiert bereits das Neue im Vergleich zur vergangenen Geschichte von Schwangerschaft und Geburt.

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

13.10 Erster Kontakt mit dem Kind Der Zeitpunkt der ersten Zuwendung zum Kind ist individuell und je nach Geburtssituation und deren Ritualisierung sehr verschieden. Hier hat es, u. a. durch die Frauenbewegung und die Forderungen selbstbewusster Mütter, in den letzten Jahrzehnten einen erheblichen Wandel in der Klinikgeburt gegeben. Während früher Mutter und Kind nach der Geburt getrennt und erst Stunden später wieder zusammengebracht wurden, ist es heute üblich, das Kind – gelegentlich noch mit verbundener Nabelschnur – auf den Bauch der Mutter zu legen, jedenfalls so bald wie möglich mit ihr wieder in Kontakt zu bringen und womöglich den ersten Stillvorgang einzuleiten, eine Maßnahme, die sich u. a. aus der medizinischen Kenntnis über das Stillen und die Bedeutung der sogenannten Vormilch für das Abwehrsystem des Babys ableitet. In diesem Kapitel geht es noch nicht um das Stillen, sondern um den ersten Körperkontakt zwischen Mutter und Kind überhaupt, wobei jedoch einzuräumen ist, dass die erörterten Empfindungen auch von anderen Personen, etwa von dem der Geburt beiwohnenden Vater, erlebt werden können. Konzentrieren wir uns auf das weibliche Erleben, so ist grundsätzlich zu sagen, dass es eine ganz eigene Erfahrung der Frau ist, das Kind bereits beim Austritt aus dem eigenen Leib zu spüren: »Ich spürte Nora an den Beinen, sie war warm und nass, ich fand das toll.« (Reim, 1984, 90) Aber nicht jede Frau erlebt diesen Moment so deutlich wie gerade beschrieben. In der Schmerzgeschichte einer Geburt wird, wie gezeigt, das Kind häufig gar nicht als das Kind empfunden, sondern als das Widerstand bietende »Ding«, das aus dem Leibe heraus muss und irgendwann als eine abgehende »Masse« gespürt wird und Erleichterung zurücklässt. Der erste bewusste Kontakt zum Kind, das Erspüren und Betasten seines kleinen Leibes kann durchaus von ambivalenten Gefühlen durchzogen sein: »Meine Tochter wurde mir auf den Bauch gelegt. Ich konnte sie gar nicht richtig sehen. Ich spürte sie aber. Ein warmes, weiches Bündel. Ich erlebte das Gewicht ihres kleinen Körperchens, es schien mir schwerer zu sein als vorher. Ich hatte Angst, meine Tochter anzufassen. Das Gesicht war feuerrot, die Hände ziemlich blau, das Haar verklebt. Sie sah einfach ganz hilfebedürftig aus. Und dennoch war ich wie gelähmt. … Ich hatte große Angst vor der ersten Berührung. … Vorsichtig versuchte ich, ein Händchen zu ergreifen und die Stirn meines Kindes zu küssen. Dann war der Bann gebrochen. Es war ein sehr schwerer Weg zu meinem Kind, das als kleiner eigenständiger Mensch plötzlich neben mir lag.« (ebd., 16 f.)

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Geburt

Der Leib des Babys wird hier kaum konturiert, eher diffus wahrgenommen, sein Gewicht erscheint schwerer als das, was im eigenen Leib während der Schwangerschaft gespürt wurde. Dann beschreibt diese Mutter ihre Angst vor dem nun eigenständigen Kind, Angst davor, es zu berühren, einen äußerlichen Kontakt mit dem Wesen herzustellen, das so lange Zeit ihren Leib bewohnt hatte, mit ihr verschmolzen war. Doch die Hemmung, das Kind zu berühren, es anzunehmen löst sich und es stellt sich jenes so viel beschworene ›Mutterglück‹ ein, das Kind in den eigenen Armen zu erleben. Dieses ›Mutterglück‹, das allzu häufig als ›instinktive‹ Reaktion vorausgesetzt wird, muss sich nicht sogleich einstellen, es kann ein »sehr schwerer Weg« sein, der u. U. auch von Entfremdung gezeichnet ist. Meist jedoch erlebt die Mutter den ersten Kontakt zum Kind als erhebendes Ereignis: »Zwei blinzelnde Augen nehmen Kontakt auf. … Kleinste Finger berühren mich; es sind, glaube ich, die kleinsten Finger der Welt. Verliebt betrachte ich dich … Glücklichste Momente, ich nehme von meiner Umgebung keine Notiz mehr. Doch dann kommt der Zusammenbruch – Kreislaufversagen!« (ebd., 108)

Diese Frau, die selbst eher passiv erscheint, ist ergriffen von der Weise, wie das Kind Kontakt – und zwar Augenkontakt – aufnimmt. Mediziner behaupten, dass Babys kurz nach der Geburt und noch einige Zeit danach prinzipiell gar nichts sehen könnten, dennoch haben sehr viele Mütter (und Väter) den Eindruck, dass es zur Kontaktaufnahme mittels der Augen kommt. Auch wenn freilich nicht klar ist, was das Kind ›objektiv‹ sieht, wird dieser Blickkontakt als Einleibung gespürt, als Ineinander-Verwoben-, Zueinander-Gestellt-Sein, als In-Beziehung-Treten. Deutlicher, im objektiven Sinne wären da schon die angesprochenen Berührungen, aber von diesen lässt sich nicht behaupten, sie würden willentlich ausgeführt. Jedenfalls empfindet die Mutter die diffusen, wenn auch nicht absichtlichen Berührungen durch das Kind – und ist gerührt. Sie spricht vom Verliebt-Sein, von unmittelbarer Zuneigung, glücklichsten Momenten, die von einer Art ekstatischen Zustand begleitet sind, in dem die Umgebung ausgeblendet wird. Wieder ist es eine Form affektiver Betroffenheit, in der von einem Heraustreten aus dem Leibe die Rede ist, wie in folgendem Beispiel von Stephanie, der Protagonistin in Byatts Roman (2002, 135 f.): »Es war nicht die Zeit und nicht das Krankenhaus, wo man Kinder den Müttern an die Brust legte. Doch für eine Weile lag er neben ihr auf dem Kissen, und sie lehnte sich ein wenig auf und sah seitwärts zu ihm hinunter, feucht und erschöpft. Mit Ekstase hatte sie nicht gerechnet. Sie stellte fest, dass er sowohl weitaus

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

kräftiger als auch in der Zartheit der flatternden Bewegungen seiner Lippen und Wangenmuskeln, im gefährlich wirkenden Wackeln seines willenlosen Kopfes zerbrechlicher war, als sie erwartet hatte. … Er besaß wenig, aber nicht etwa keine Ähnlichkeit mit dem ungestümen Ding, das sie zerrissen hatte. … Sie streckte einen Finger aus und berührte die Faust, gehorchte einem Urinstinkt und schmiegte die winzigen Finger um ihren Finger, den sie festhielten, losließen und wieder festhielten. ›Da‹, sagte sie zu ihm, und er schaute, und das Licht ergoss sich durch das Fenster, heller und heller, und seine Augen sahen es und ihre, und sie empfand Seligkeit – ein Wort, das sie nicht leiden konnte, aber es war das einzig zutreffende. Da war ihr Körper, ruhig, benutzt, ruhend; da war ihr Geist, frei, klar, strahlend; da war der Knabe mit seinen Augen und sah – was? Und Ekstase. Manches würde weh tun, sobald das Licht dieses Tages verging. Der Knabe würde sich verändern. Doch jetzt im Sonnenlicht erkannte sie ihn, und sie erkannte, dass sie ihn nicht kannte, ihn noch nie gesehen hatte und ihn liebte, in der hellen, neuen Lust und mit einer Selbstverständlichkeit, die sie niemals für möglich gehalten hätte. ›Du‹, sagte sie zu ihm, und zum erstenmal berührte ihrer beider Haut sich in der Luft draußen, die warm und leuchtend war, ›du‹.«

Byatt beschreibt an ihrer Romanfigur den ekstatischen Zustand beim Anblick und bei der Berührung des Neugeborenen, auch jenen nur mit dem Willen zu bezwingenden Drang, einen Finger nach der Hand des Babys auszustrecken und diesen Finger von ihm umschließen zu lassen. Sie erlebt ihren Körper als gezeichnet und erschöpft von der ungeheuren Anstrengung der Geburt, ihren Geist dagegen als »frei, klar, strahlend«. Sie umschreibt ihr Empfinden mit Seligkeit, obwohl ihr dieses Wort nicht gefällt, sie kennt kein anderes und spricht mehrfach von Ekstase. Doch sie beschreibt auch das Erkennen ihres Sohnes mit der Feststellung, dass »sie ihn nicht kannte«, also eigentlich das Erkennen seiner Fremdheit. Es wird ihr klar, dass dieses Baby, das ihren Leib bewohnte, das sie ungezählte Male in ihrem Leibe sich bewegend gespürt hatte, dass ihr dieses Kind fremd ist, dass sie es in ihr gespürt, aber noch nie gesehen hatte. Schließlich entflammt Liebe für das Kind und sie ist überwältigt von dem Ansturm der Gefühle, die sich unvermittelt und unerwartet in dieser Kontaktaufnahme einstellten. Stephanie erlebt ihre zweite Geburt, eine schwere Zangengeburt, ganz anders als die erste, und auch der erste Kontakt mit dem Kind weckt andere Gefühle: »Stephanie nahm das Bündel und wickelte das Tuch langsam auf. … Das Kind rührte sich nicht. Stephanie empfand Mitlied – es war nicht das Erkennen wie bei Will, nicht Staunen, sondern beschützendes Mitleid. Sie hielt das Kind fest.« (ebd., 346)

Solche Beispiele verdeutlichen die unterschiedlichen Gefühle bei der ersten Kontaktaufnahme mit dem Kind, die nicht unbeeinflusst vom Baby 546

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Geburt

selbst und seinen Zuständen des Wachens oder Schlafens, des Berührens, seines Schreiens etc. sind. Der von Byatt bei der ersten Geburt ihrer Protagonistin geschilderte Ansturm der Gefühle für das Kind wird auch von Goll (1988, 159) anhand der Romanfigur Marie beschrieben, einer ungewollt schwanger gewordenen Dienstmagd, die während der Geburt zu sterben glaubte und ihr Kind verfluchte. Doch als sie den Schrei des Kindes vernimmt, heißt es: »Sie hört ihr Kind schreien, und an Stelle der Gleichgültigkeit und des Hasses von neuen Monaten tritt eine heiße Sehnsucht nach dem Wesen, dem diese Stimme gehört, dort auf dem Wickeltisch.«

Als man ihr das Kind zeigt, ist sie entzückt. Sie »lechzt danach«, es zu umarmen und als man es ihr reicht, heißt es: »Verliebt ruft sie wieder: ›Wie schön es ist.‹« (ebd., 160) Für manche Frau ist der erste Kontakt mit dem Kind von Gefühlen begleitet, die unaussprechlich sind, und es wird hervorgehoben, dass der Moment, in dem die Mutter ihrem Kind als einem äußeren Wesen bewusst gegenüber steht, von ungewöhnlicher Intensität ist: »Das jammernde Bündel wurde mir dann, noch total verschmiert, aber in ein wärmendes Moltontuch gewickelt, auf meinen Bauch gelegt. Mein Kind! Ich wollte alle Zärtlichkeit dieser Welt in mein Streicheln legen, um es die Qualen vergessen zu lassen [die Geburt erfolgte mit der Saugglocke, UG], um ihm zu zeigen, daß die Geborgenheit nun zwar eine ganz andere, aber eine ebenso intensive war. Zu dritt dürfen wir eine kurze ›kleine Ewigkeit‹ miteinander verbringen, so absolut und intensiv wie in diesem Augenblick hatte ich noch nie zuvor gelebt. Ich wollte dem Winzling von unserem tiefen und gemeinsamen Glück vermitteln, damit er sein jämmerliches Klagen einstellen würde.« (Reim, 1984, 68 f.)

Solche und ähnliche Gefühle überströmender Liebe oder ergreifenden Mitleidens sind jedoch nicht genuin weiblich und können ebenso gut von Dritten erlebt werden.

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14. Puerperium

In der Genese der Gravidität wird die Frau zunächst zur Schwangeren, dann zur Gebärenden und schließlich zur Wöchnerin. Unter dem Puerperium, dem Kind- oder Wochenbett, versteht man die ca. sechs bis acht Wochen dauernde Zeitspanne nach der Geburt, der heute im Arbeitsrecht mit einer Schutzfrist Rechnung getragen wird, ein Gesetz zum Schutz der erwerbstätigen Mutter und zur Zahlung eines Ausgleichslohns (bei gleichzeitigem Beschäftigungsverbot), das erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts in ersten Fassungen erlassen wurde. 1 Die Schutzfrist dient der Erholung von Wöchnerinnen und der Wiederherstellung ihrer Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben. Das Mutterschutzgesetz für die Wöchnerin wurde rechtsgeschichtlich in Deutschland noch vor dem Gesetz zur pränatalen Schonfrist erwirkt. Die heutige Fassung sieht eine Schutzfrist von sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt vor. Für die Leiberfahrung des Puerperiums spielt die gesellschaftliche Situierung und Ritualisierung eine nicht unwesentliche Rolle, was Labouvie (1998, 198 ff.) z. B. für die frühe Neuzeit anhand der rituellen Hilfs- und Festgemeinschaften der Frauen erforscht hat. Es würde in dieser Arbeit zu weit gehen, die Vielfalt sozialen Umgangs mit der Wöchnerin für die heutige Zeit zu evaluieren. Was nun alle Wöchnerinnen gleichermaßen betrifft, ist die medizinische Versorgung nach der Geburt, also etwa Untersuchungen zur Rückbildung der Gebärmutter und zum Verheilen der Dammschnittwunde im Krankenhaus, bei Gynäkologen in ihren Praxen, durch Hebammen beim Hausbesuch sowie das Angebot bzw. die Anleitung zu Rückbildungsmaßnahmen, also Körperübungen, die unter dem Gesichtspunkten der Rekonvaleszenz durchgeführt werden sollen. Die gerade zur Mutter gewordenen Frauen wie auch ihre Säuglinge unterliegen nach wie vor für eine gewisse Zeit einer peniblen medizinischen Überwachung. Das Puerperium ist natürlich maßgeblich dadurch bestimmt, dass nun

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Zur Geschichte des Mutterschutzgesetzes s. Kuhn, 1992, 394, 450, 461, 534, 594.

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Puerperium

das Kind auf der Welt ist, also ein Dauergast, der durch seine umfassende Pflegebedürftigkeit das alltägliche und nächtliche Leben von Erwachsenen massiv verändert. Wenn geschlechtsneutral von den ›Erwachsenen‹ die Rede ist, so soll damit betont werden, dass das Dasein des Kindes nicht zwingend die Mutter allein tangiert bzw. tangieren muss. Der gesamte Komplex der Pflege und sogar der Ernährung ist, da das Kind nun von der Mutter physisch getrennt ist, von jeder erwachsenen Person zu bewältigen, so dass an dieser Stelle, auch wenn die gesellschaftliche Realität oft eine andere ist, nicht von weiblichen Leiberfahrungen die Rede sein kann und sollte. Von genuin weiblicher Leiberfahrung ist nach der Geburt dennoch auszugehen, aber ausschließlich im Kontext der Nachwirkung der Geburt, also leiblicher Vorgänge, die sich aufgrund von Schwangerschaft und Geburt qua Natur einstellen. Diese Leiberfahrungen drängen sich der Mutter mit engem Bezug zu körpereigenen Flüssigkeiten auf: das Verströmen des Wochenblutes, der Lochien, mit gelegentlichem Auftreten von Nachwehen, und die Laktation. Beide Phänomene folgen eigenleiblichen Impulsen, sind nicht bzw. kaum kontrollierbar und nötigen zu Handlungen des Auffangens. Dieses Kapitel behandelt das Puerperium als leiblichen Zustand unter Berücksichtigung des Wochenflusses, während die Laktation dem nächsten Kapitel vorbehalten bleibt. Die Laktation ist zwar Bestandteil des Puerperiums und hat ihren Ursprung in Schwangerschaft und Geburt, aber sie ist nicht auf das Wochenbett beschränkt und erstreckt sich, je nach kulturellem Kontext, mehr oder weniger weit über diesen Zeitraum hinaus. Die Erfahrung des blutenden Genitals wurde bereits im Rahmen der Menstruation behandelt. Für den Wochenfluss gilt Ähnliches, nur dass, wie der Terminus schon andeutet, die Blutung mehrere Wochen anhält und zunächst wesentlich stärker ist. Das Woher des Blutes, der unsichtbare Ort im Unterleib, wird aber häufig – im Unterschied zum Menstruationserleben – als eine tatsächliche Wunde wahrgenommen, deren Aufbruch und Entstehung die Geburt bewirkte. Nachwehen, die sich besonders auch beim Stillen aufdrängen können, treten gelegentlich schmerzhaft als Ziehen im Unterleib ins Bewusstsein der Wöchnerin, sie werden aber im Vergleich zur Schmerzgeschichte während der Geburt als eher harmlos und undramatisch empfunden. Mit den Nachwehen gehen mitunter deutlich spürbare Schwälle von Blut aus dem Genital ab, u. U. begleitet von kleineren oder größeren Blutklumpen, die dann, ähnlich wie bei der Austreibung der Plazenta, als sanften Widerstand bietende Masse in der Vagina oder beim Austritt am Scheidenausgang deutlich gespürt werden. Dem im Vergleich zur Menstruation dramatischen Bluten und klumpigen Aus549 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

scheiden nach der Geburt kann nicht, zumindest nicht in der ersten Zeit, mit herkömmlichen Artikeln der Monatshygiene, also normalen Binden, geschweige denn Tampons, begegnet werden. Shaw (1998, 28) schreibt in ihrer autobiographischen Erzählung: »Eine Stunde nach der Geburt wurde der Blutfluss stärker. Die Binden waren in dieser Flut wie Papiertaschentücher, meine beiden Nachthemden bald blutgetränkt, und meine Betttücher blühten rot.«

Der Wochenfluss ist so stark, dass er einer eigenen Hygienekultur bedarf, sehr großer und breiter Binden, häufig übereinander gelegt, mit einer speziellen Halterung, etwa einer Einmalunterhose aus Netz. Es dürfte klar sein, dass die körperliche Beweglichkeit mit einem solcherart ›verpackten‹ Genital eingeschränkt ist und dass vor allem in den ersten Tagen nach der Geburt das ›überdimensionierte‹ Absondern deutlich wahrgenommen wird, bis es in das Leiberleben diffundierend eingeht und unbemerkt vor sich geht, zumal sich nach kurzer Zeit eventuell begleitende Nachwehen verlieren und der Wochenfluss sich dann anfühlt wie eine sehr starke Menstruation. Dennoch gibt es für das Spüren einige Differenzen zwischen Menstruations- und Wochenfluss, u. a. hinsichtlich der Konsistenz der Ausscheidung, die anfänglich noch mit größeren Klumpen versetzt ist oder aber äußerst dünnflüssig erscheint, etwa auch in Schwällen helleren Blutes abfließt, schließlich vom zähflüssigen zum eher wässrigen Abfluss neigt und gegen Ende des Wochenflusses auch im Bereich der Sichtbarkeit mehr einem gelben oder hellwässrigen Wundsekret ähnelt. Aber es ist nicht das starke Bluten aus dem Genital allein, das den leiblichen Zustand des Puerperiums zu einem besonderen macht. Der gesamte Leib der Wöchnerin ist noch gezeichnet von der Geburt. Vor allem Unterleib und Bauchraum sind durch den abrupten Verlust mehrerer Kilogramm Eigengewicht und die starke Dehnung des Beckens für das eigenleibliche Fühlen in gewisser Weise ›irritiert‹, so dass diese Regionen neu bzw. wieder angeeignet werden müssen. Die Nachwehen können diesen Prozess unterstützen, indem sie an Bauch und Unterleib Richtungsimpulse setzen und damit Konturen in der diffusen Bauchmasse spürbar machen. Wie bereits im Kapitel über das Befinden unmittelbar nach der Geburt geschildert, bedarf es nach der Geburt einer Rückkehr in die ›Normalität‹, und zwar im eminent leiblichen Sinne. Die Intensität der Ergriffenheit von Schmerz und häufig auch Angst, begleitet von mitunter starken Erlebnissen des Aus-sich-heraus-Tretens, wirkt im Wochenbett noch nach, und der ›allein‹ zurückgelassene Leib hat sich in dieser neuen Lage erst zu sammeln. Eine eindrucksvolle Schilderung des Konglomerats 550 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Puerperium

von Empfindungen während des Puerperiums bietet die Aufarbeitung von Fröhlich: »Ich bin dick. Erst eine Entbindung und dann das [gemeint ist, dass sie immer noch aussieht, als wäre sie schwanger].« (Fröhlich, 1998, 17) »Unter der Bettdecke halte ich es leider nicht lange aus. Zu warm. Ich habe Hitzewallungen, als wäre ich direkt vom Entbinden in die Wechseljahre eingetaucht.« (ebd., 18) »Ich wälze mich aus dem Bett. Wie der Kafka-Käfer. Schwerfällig. Dabei dachte ich, wenn es erst mal raus ist, würde ich leichtfüßig wie eine Ballerina durch die Gegend schweben. Irrtum. … Ich laufe wie eine Fußballspielerin. Breitbeinig. Die passenden O-Beine habe ich sowieso. Ich will gar nicht sehen, was Dr. Wiemann da unten genäht hat. Es brennt und zieht jedenfalls höllisch.« (ebd., 71)

Fröhlich beschreibt den ›Irrtum‹, die unrealistische Vorstellung, dass mit der Geburt ein körperlicher Zustand wiederhergestellt würde, der jenem vor der Schwangerschaft ähnelt. Die Schwerfälligkeit des Leibes, wie sie von der Hochschwangeren erlebt wird, bleibt zunächst noch eine gewisse Zeit erhalten, bildet sich erst allmählich zurück. Die Wöchnerin fühlt sich verständlicherweise immer noch dick, das Gehen ohne das Kind im Leibe irritiert sie, es ist nicht leichtfüßig, sondern schwerfällig, das Gleichgewicht muss nun wieder anders ausbalanciert werden als mit jener prallen Fülle im schwangeren Leib, das leibliche Lot muss sich neu ausrichten. Das stark gedehnte Becken, die Lockerung der Gelenke (Hüftgelenke), die den typischen ›Schwangerengang‹ bedingten, wirkt sich beim Gehen noch auf die gesamte Körperhaltung aus, dabei zunächst auch behindert oder eingeschränkt durch den für die Lochien eingerichteten ›Hygieneapparat‹ zwischen den Beinen. Zusätzlich bereitet vielen Frauen, so auch hier, die Naht nach dem Dammschnitt oder -riss unangenehme Empfindungen und Beeinträchtigungen der Bewegungsfähigkeit. Beschwerden an dieser Naht können mitunter so dramatisch sein, dass jedwede Körperhaltung, vor allem das Sitzen, für eine gewisse Zeit beinahe unmöglich, weil äußerst schmerzhaft ist, also die Lebensqualität stark beeinträchtigt. In dem zitierten Beispiel hat es die Wöchnerin also außerdem mit den leiblichen Regungen und Sensationen eines vernähten Schnitts an der Genitalregion zu tun, einer Wunde, einer zu verheilenden Narbe, die den Wochenfluss sowie das Urinieren und den Stuhlgang zu einer Tortur werden lassen können. Bei den ›natürlichen‹ Folgen der Geburt spielt im Puerperium die Art und Weise, wie der Leib sich in seinen Bewegungen einfindet, eine bedeutende Rolle, und hier tritt insbesondere der Bauch als herausragende Leibinsel ins exponierte Spüren. So schreibt Fröhlich (1998, 70 f.), dass sich 551 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

Bewegungen im »Schildkrötentempo« vollziehen und der Bauch dem eigenleiblichen Spüren regelrecht entgleitet: »Mein Bauch schwabbelt bei jedem Schritt wie eine gallertartige Masse. Waschbrettvisionen auf Wiedersehen. Die Zeiten sind jetzt wahrscheinlich für immer vorbei. Vielleicht sollte ich mir diese Miederunterhöschen mit ›Bauch weg‹-Einsatz kaufen. Immer noch attraktiver als das, was ich momentan trage. Ein gigantisches Netzgebilde. Nennt sich Einmalunterhose. Wird vom Krankenhaus gestellt. Genau wie die riesigen Binden zum Einlegen. Binden, die auch einem Nilpferd spielend passen würden.«

Der nach der Geburt erschlaffte Bauch wird von dieser Wöchnerin als diffuse Masse gespürt, die mit jedem Schritt »schwabbelt«, also zwar mit dem Leibe mitschwingt, aber doch eine Beweglichkeit entwickelt, die nicht in die Gesamtheit der leiblichen Empfindungen eingegossen ist, sondern ein Eigenleben führt – ein leibliches Phänomen, das dem Empfinden der Brüste ähnelt, die bei einer gewissen Fülle ebenfalls ihre eigene Beweglichkeit im Mit- und Nachschwingen entfalten. Obwohl die Wöchnerin am Bauch – anders als bei der Brust – über ein ausgeprägtes Gebilde von Muskeln verfügt, steht ihr der Bauch doch noch nicht wieder zur Verfügung. Schon gegen Ende der Schwangerschaft sind der Bauch und seine Muskelpartien derart gedehnt, dass die Muskeln nicht mehr kontrahiert werden können. Bewusst gesetzte Impulse von Engung und Weitung prallen gleichsam am Bauch ab, es gibt keinen Widerstand mehr, an dem der Impuls greifen könnte. So ist es wenig erstaunlich, dass nach der Geburt das Empfinden für den Bauch ›irritiert‹ ist, insofern zwar die Dehnung nicht mehr vorhanden ist, aber die Bauchmasse noch nicht wieder Kontur angenommen hat, weder im Bereich der Sicht- und Tastbarkeit noch im Spüren. Nachwehen und andere eigenmächtige Konvulsionen am Unterleib, die den Wochenfluss beeinflussen, sowie die bekannte Rückbildungsgymnastik tragen dazu bei, dass die Wöchnerin ihren Bauch allmählich wieder in das Gefüge verschwommener Leibesinseln zu integrieren vermag, nachdem er aus dieser Struktur gewissermaßen ausgefasert war. An obigem Zitat wird aber auch deutlich, wie stark das gesellschaftliche Bild vom Frauenkörper auf die Qualität der Empfindungen und Einstellungen der Wöchnerin in Bezug auf ihren Leib Einfluss nimmt. Die narzisstische Kränkung setzt sich im Puerperium fort. In Zeiten eines rigiden Körperideals, das dem ›schönen‹ weiblichen Bauch eine nahezu unnatürliche, so gut wie gar nicht vorgewölbte Erscheinungsform zuweist, wundert es nicht, dass Frauen nach der Geburt, wie auch schon während der 552 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Puerperium

Schwangerschaft, mit Sorge auf ihren Bauch blicken, weil sie den Verlust ihrer Attraktivität befürchten: »Mein Bauch sieht wirklich erschütternd aus. Wie welkes Wellfleisch. Daddelig. Einfach scheußlich. Eine Freundin von mir hat mal voll frustriert gesagt, ihr Bauch hätte danach ausgesehen ›wie eine matschige überreife Birne‹. Ich wäre beglückt, wenn meiner irgendeinem Obst ähneln würde.« (ebd., 153)

Mit der vielfältigen Anpreisung von Techniken und Pflegepräparaten wird schon der Schwangeren Angst vor den optischen Nachwirkungen einer Schwangerschaft, insbesondere vor sogenannten Schwangerschaftsstreifen, gemacht. Die in unserer Kultur nach einer Geburt durchgeführte Anleitung zur Rückbildungsgymnastik bezieht sich zwar auch auf eine Optimierung der Erscheinungsform des Bauches, zielt aber in der Arbeit mit dem Leib durch unterstützende Rückbildung und Stärkung der Bauch- sowie insbesondere der Beckenbodenmuskulatur vor allem auf die Wiederherstellung der sowohl gesamt- als auch regionalleiblichen Integrität. In den Leibesübungen wird mittels Impulsen von Spannung und Schwellung sowie Enge und Weite das Gespür für den Leib als Richtungsraum wieder erlangt, so dass der ›aus den Fugen‹ geratene Bauch wieder in die gesamtleibliche Konturierung eingefügt wird und der durch starke Dehnung ›zerfaserte‹ Beckenboden wieder eine in sich gefestigte Leibesinsel bildet, was vor allem bei der Neigung zu postpartualer Inkontinenz von Bedeutung ist. Die Fähigkeit, den Bauch in seinen Umrissen, seiner Masse und seinem Volumen zu spüren, verblasst schon mit fortschreitender Schwangerschaft und geht nach der Geburt vorübergehend fast gänzlich verloren. Der anhaltende Druck des Gewichts der Fruchtblase auf den Beckenboden während der Schwangerschaft und die starke, sich über Stunden hinwegziehende Dehnung des Beckens während der Geburt, bis der Kindskopf, der größte und härteste Teil des Kindskörpers, in einer weiteren extremen Dehnung durch die Vagina tritt, führt zu Weite-Erfahrungen, ohne dass ein unmittelbares Enge-Korrelat gespürt oder anschlussfähig gemacht werden könnte. Die Verfügbarkeit über den Leib wird also durch Schwangerschaft und Geburt vor allem an Bauch und Beckenboden erheblich eingeschränkt und muss wiedererlangt werden. Da nun die Beweglichkeit des Leibes maßgeblich von der Körpermitte mitbestimmt wird, wirkt sich die Umwälzung jener Leibesinseln grundlegend auf alle Bewegungen, so z. B. auch auf den Gang aus, so dass das erneute Sich-Finden im räumlichen Gefüge des Leibes auch die leibliche Lotung im Allgemeinen betrifft. Von den eigentümlichen Empfindungen einer Wöchnerin am Bauch erfahren wir auch bei Byatts (2002, 143) Romanfigur der Stephanie: 553 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

»Stephanie kam sich allmählich regelrecht zerlumpt vor. Das Haar klebte ihr mittlerweile am Kopf, und unten war sie wund und blutverkrustet. Ihr Bauch, der sich kurzfristig klein und leer angefühlt hatte, kam ihr nun sinnlos geweitet und formlos vor: Wenn sie zum Badezimmer ging, hing er wie ein Sack herab, und sie spürte das Knirschen der Unterleibsknochen, die wundgescheuerte Stelle am Ansatz der Wirbelsäule und das Spannen der dünnen Haut über den glühenden Alabasterbrüsten. Sie selbst als eigenständige Person wurde zermürbt, zerrieben zwischen zwei Gemeinschaften, der Station und der Familie, beide augenscheinlich darauf bedacht, sie und William den eigenen Bräuchen und Klassifizierungen gemäß zu formen.«

Der Eindruck des Zerlumpt-Seins bezieht sich wohl primär auf das Allgemeinbefinden im Krankenhaus, deutet aber auch einen leiblichen Zustand an, in dem die Konturen des eigenen Leibes nur zerfasert gespürt werden und einzelne Leibesregionen, wie das Wund-Sein »unten« und das Formlose des Bauches, hervortreten. Nach einer Geburt hat sich die Leibinselstruktur des gesamten Leibes neu auszurichten bzw. wieder einzupendeln und sich auch bereits auf Neues einzustellen, nämlich auf die Laktation mit ihren leiblichen Schwellungen, neuerlichen Änderungen von Gewichtsverhältnissen, mit vielfältigen Regungen und Sensationen an den Brüsten, wie hier mit dem »Spannen der dünnen Haut« über den Brüsten angedeutet ist. Der Bauch aber hängt »wie ein Sack herab«, er erscheint »sinnlos geweitet und formlos«, Knochen werden ›gespürt‹, wunde Stellen ausgemacht, und in dieser Konfrontation mit dem zerfaserten Leib fühlt sich die Protagonistin noch dazu einem an ihr zerrenden sozialen Formungsprozess durch Krankenhaus und Familie ausgeliefert, eine Situation, die manche Wöchnerin zur Verzweiflung treiben mag. Bei Stopczyk (2000, 212) erfahren wir sowohl etwas über das veränderte Leibempfinden und die Unmöglichkeit, nach einer Geburt zu einem früheren ›Körpergefühl‹ zurückzufinden, als auch über einen dramatischen Wandel der Stimmungen bzw. der affektiven Empfänglichkeit: »Mich politisierte das Muttersein, was mich sehr überraschte. Aber auch mein Körper fühlte sich nie wieder leicht und frei wie eine Feder an, was mich einige Zeit traurig stimmte. Ich schien wie mit unzähligen Antennen nach außen bestückt herumzulaufen, die immer auf Empfang geschaltet waren.« »Ich spürte auch den verdeckten Kummer anderer Menschen und ertrank fast in Mitgefühlen. Kämpfte jemand um seine Existenz, dann spürte ich es sofort am heftigen Ziehen in Brüsten und Bauch, und es tat mir selber weh, als würde es mir geschehen. Aber auch die Freuden im Leben steigerten sich in eine sehr differenzierende, verfeinernde Genussfähigkeit. Manchmal war mir, als könnte ich allein vom Duft mancher Speisen satt werden, und das Lachen von wildfremden Menschen konnte mich in euphorische Glückseligkeitsstimmungen versetzen.

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Puerperium

Ich war durch dieses Gebären auf rätselhafte Weise irgendwie in diese Welt und meinen Körper hineingeschleudert worden und brauchte Jahre, bis ich meine ›Antennen‹ mit meinem rationalen Willen ›an‹- und ›abschalten‹ konnte, um nicht von den Eindrücken dieser Welt überschwemmt zu werden.«

Stopczyk beschreibt eine Sensibilisierung gegenüber den Mitmenschen, eine Steigerung ihrer Einfühlungsgabe mit den Extremen von Euphorie und Verzweiflung. Mitmenschliches Leiden verursacht ihr gerade an jenen Leibesregionen Regungen, die mit Schwangerschaft und Gebären in besonderer Weise verbunden sind, an Brüsten und Bauch. Die sinnliche Wahrnehmung differenziert sich und sie spricht vom unverfügbaren Mitfühlen, das sie erst Jahre später wieder unter Kontrolle zu bringen vermag. Das Bild von ›ausgefahrenen Antennen‹, die für alles mögliche empfänglich werden, findet sich auch in anderen Beschreibungen, die Stopczyks Schilderungen vom ›Hineinschleudern‹ in den Körper ähneln: »Die ersten Wochen nach der Geburt: Ich bestehe nur aus Körpergefühl. In den ersten Tagen nach der Geburt laufe ich wie auf Wolken, der ganze Körper pulsiert. Alle Antennen sind ausgefahren. Ich scheine schärfer zu sehen, höre fast die Därme arbeiten, und kein Geruch entgeht mir. Ich rieche mit Begeisterung an Daphne, wie ein schnupperndes Tier.« (Reim, 1984, 192)

Auch hier wird eine Verwandlung beschrieben: Der Leib wird in besonderer Weise gespürt und die sinnliche Wahrnehmung differenziert sich. Gleichzeitig erlebt diese Frau Stolz und Freude über die gelungene Geburt und spricht von bedingungsloser Liebe: »Ich habe das Gefühl, eine ungeheure körperliche Leistung vollbracht zu haben, und ich bin stolz auf mich. Ich fühle mich rund und voll – und komplett. … Ich stelle fest, ich habe noch niemals so geliebt, so bedingungslos. … Alles andere um mich herum scheint zu verblassen – leblos zu sein.« (ebd., 193)

Eine neue oder gesteigerte Sensibilität im Wochenbett mag sich auch in starker Aufregung manifestieren, u. U. in emotionalen Überreaktionen und Stress. Dabei sind jedoch die Situationen und Kontexte zu berücksichtigen, in denen eine Wöchnerin vor allem in den ersten Tagen nach der Geburt ihr Wochenbett erlebt. Ein Klinikaufenthalt im Mehrbettzimmer, tagsüber rund um die Uhr offen für Familienbesuche und ärztliche Visitationen, nächtliche Störungen durch Stillphasen, die Sorge um sich und das Kind, von außen oder selbst auferlegte Ansprüche an die Verwirklichung eines Idealbildes von der guten Mutter, vielleicht fehlendes Eingeständnis der Ruhe- und Sammlungsbedürftigkeit oder das Unvermögen, 555

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

dieselbe durchzusetzen, dies alles mag die Erfahrung des Puerperiums zu einer Tortur geraten lassen. Die folgende Frau berichtet über ihren Ärger mit dem Besuch des Schwiegervaters, der die von ihr gewünschte Abgeschiedenheit nicht akzeptiert hatte: »In dieser für mich unabwendbaren Situation habe ich mich so aufgeregt, daß ich Wehen bekam, ganz starke Blutungen hatte und sichtbar litt.« (ebd., 18) Hier bewirkt die Aufregung leibliche Sensationen in den Reaktionsmustern des Gebärens: erneutes Anbranden von Wehen, starke Blutungen, Leiden. Andererseits mag ein angenehmes Umfeld, z. B. umsorgende, rücksichtsvolle und entlastende Mitmenschen sowie ein starkes Selbstbewusstsein der Wöchnerin, das es ihr ermöglicht, ihre persönlichen Wünsche durchzusetzen, die Leiden des Puerperiums lindern. Viele Irritationen werden in sozial unangemessenen Kontexten erst hervorgerufen. In diesem Zusammenhang ist es durchaus erschreckend, mit welchem Erwartungsdruck hinsichtlich der Wiederherstellung von ›Normalität‹ die Mütter unserer Kultur konfrontiert werden und welche Vorstellungen vor allem Erstgebärende in diesem Konglomerat auch selbst entwickeln. Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Geschichte von Schwangerschaft und Geburt nicht mit dem Abschluss des Gebärvorgangs ›erledigt‹ ist. Es ist gerade diese leibliche Geschichte von oft extremer Betroffenheit, die noch nachwirkt bzw. durch den Kontakt mit dem Kind, jenem »Ding« im Leib, das herausdrängte und nun zu einem fremden Gegenüber, einem Du geworden ist, zur weiteren Entfaltung von Affekten führt. Was oft fälschlicherweise als »Wochenbettdepression« bezeichnet wird, lässt sich ebenfalls mit dieser leiblichen Geschichte erklären und der großen Herausforderung für die Mutter, sich nach der Geburt in ihrem Leib wieder zu finden. Der Begriff »Wochenbettdepression« scheint nicht gerechtfertigt zu sein, weil Phänomene wie beispielsweise das spontane, scheinbar grundlose Ausbrechen in heftige Weinkrämpfe durchaus im Sinne des oben bereits beschriebenen Entkommens aus der Vergangenheit, dem Hinter-sich-Lassen einer Geschichte verstanden werden können. Solche Vorgänge sind situationsbedingt harmlos, jedenfalls keineswegs eine Depression im klinischen Sinne. Die Erfahrungen auf Wochenbettstationen zeigen, dass der sogenannte ›Baby-Blues‹ ohnehin nicht alle Mütter befällt und dass gerade ein freier Zugang zum Neugeborenen solche Phänomene seltener aufkommen lässt, was für die These spricht, dass in der Konfrontation mit dem Neuen, das die Geburt bewirkt, also mit dem Säugling, der Abschluss der vergangenen und der Anschluss an die neue Geschichte leichter möglich ist. So wird beispielsweise berichtet, dass stillende Mütter insgesamt weniger von jenen ›Verstimmungen‹ betroffen sind. Der Kon556 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Puerperium

takt mit dem Säugling beim Stillen scheint nicht unwesentlich dazu beizutragen, dass die von der Geburt herrührenden Irritationen hin zum Wiedererlangen einer leiblichen Integrität geschient werden. Es soll jedoch nicht geleugnet werden, dass es im Puerperium Fälle von schwerer psychischer Erkrankung gibt, die sich zu einer Psychose auswachsen. Diesen Einzelfällen wird mit psychiatrischen Maßnahmen, von Psychopharmaka bis zur Elektroschocktherapie, im günstigsten Fall mit ›nur‹ mündlicher Therapie, jedoch sehr häufig mit stationärer Behandlung begegnet. Wochenbettpsychosen mit ihren nachhaltigen Folgen für die psychische Integrität der Frau sind bis heute in tiefenpsychologischer Hinsicht nicht hinreichend geklärt. Shaw beschreibt mit eindrucksvoller Offenheit in ihrer autobiographischen Darstellung »Out of me. The Story of a Postnatal Breakdown« (1997) einen postnatalen Zusammenbruch.

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15. Laktation

Zum Puerperium als leiblichem Zustand gehört unabdingbar die Laktation, die sich, wie der Wochenfluss, unverfügbar einstellt und eingebettet ist in das vielfältige Spektrum von Leiberfahrungen nach einer Geburt. Die Laktation geschieht dem Leib und ist nur durch medikamentöse oder andere Einflussnahme von außen zu verhindern. Selbst wenn sich die Mutter aus welchen Gründen auch immer vor oder nach der Geburt entscheidet, nicht oder nicht mehr zu stillen, oder aber die Laktation nicht ausgelebt werden kann, beispielsweise bei Blockaden oder nach einer Totgeburt, ist der weibliche Leib von den mit ihr verbundenen leiblichen Phänomenen für einen gewissen Zeitraum nach der Geburt betroffen. Es kommt sogar nach Abtreibungen gelegentlich zu Laktationsphänomenen. Da das Thema Abtreibung nicht grundlegend thematisiert werden kann, solche Phänomene in diesem Kontext jedoch keine Seltenheit sind und gerne verschwiegen werden, sei folgende Schilderung einer Frau bei Ayalah und Weinstock (1983, 18) angeführt, die mehrere Abtreibungen mit begleitenden Laktationsphänomenen hatte: »Wegen meiner Brüste fielen mir die Abtreibungen noch schwerer. Solange das Kind nicht sichtbar war, war es leicht, die Schwangerschaft wegzuschieben. Der Abbruch war immer sehr früh. … Aber immer sah ich mich das Baby stillen, denn obwohl mein Bauch noch ganz flach war, konnte ich zugucken, wie meine Brüste wuchsen; na, du weißt schon, sie sind bereit für das Baby und bereit für die Milch. Meine Brüste haben mir gesagt ›Hey, da wächst was in dir drin‹. Nach der letzten Abtreibung war ich sechs Wochen später bei der Nachuntersuchung, und meine Brüste produzierten immer noch Milch, weil sie die Botschaft noch nicht mitgekriegt hatten, daß die Schwangerschaft vorbei war. Das war deshalb so schlimm für mich, weil ich mich sonst gut hätte belügen können und ignorieren, daß ich je schwanger gewesen war, und da sind jetzt meine Brüste und sagen einfach: ›Oh nein, so geht’s nicht!‹ Wie damals, als ich unter der Dusche stand und meine Brüste berührte und es kam Milch – ich habe nur noch geweint, geweint und geweint. Nach meinen Abtreibungen, als ich diese starken Erlebnisse mit meinen Brüsten hatte, passierte es auch, daß plötzlich Milch aus ihnen rauströpfelte und ich da,

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Laktation

wo die Nippel waren, nasse Flecken auf der Kleidung hatte. … Es hat mich auch sauer gemacht, weil ich nicht an die Abtreibungen erinnert werden wollte.«

Dieses Beispiel verdeutlicht, wie stark Brüste bereits von den leiblichen Prozessen während der Schwangerschaft betroffen sind und beschreibt einige jener Phänomene, die eine in Gang gekommene Laktation bezeichnen, dass aus den Brüsten mit einem Mal Milch austritt, dass die Brüste, die vor der Schwangerschaft noch eher ›stumm‹ waren, in der Schwangerschaft einem spürbaren Wandel unterliegen und zu neuem Leben erweckt sind, das sich u. a. durch unkontrollierbare Ausscheidung von Flüssigkeit manifestiert.

15.1 Erstes Anlegen Ein drastisch gespürtes Eigenleben der Brüste, die sich zu praller Fülle entfaltenden Leibesinseln, stellt sich nicht im unmittelbaren Anschluss an die Geburt ein, sondern erst wenige Tage später, wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt in Zusammenhang mit einer mehr oder weniger aufdringlichen Leiberfahrung die Milch eintritt oder einschießt. Ob und wie der Milcheintritt erlebt wird, ist in hohem Maße vom Stillverhalten und von der individuellen Konstitution abhängig. Das Anlegen des Säuglings, wie es heute unmittelbar nach der Geburt, also vor dem Milcheintritt praktiziert wird, ist von einer anderen Dimension und lässt sich deutlich von jenen leiblichen Aufwallungen abheben, die nach einer in Gang gekommenen Laktation den weiblichen Leib betreffen. Es handelt sich um ein Konglomerat verschiedenen Spürens an den Brüsten, am Leib in seiner Ganzheit sowie an anderen Leibesinseln, mitunter besonders aufdringlich am Unterleib, sowie um die mit der körperlichen Wiedervereinigung einhergehenden Empfindungen der Mutter für das Kind. Diese leiblichen Regungen treten aber nur dann auf, wenn das Neugeborene unmittelbar nach der Geburt tatsächlich angelegt wird, wenn also die Wiedervereinigung zwischen Mutter und Kind stattfindet; kommt es nicht dazu, werden sich die Brüste erst im Milcheinschuss einige Tage später von selbst, als für die Laktation bereit ›melden‹. Im Kontakt mit dem Säugling, d. h. indem das Neugeborene an die Brust der Mutter gebracht wird, spürt die Mutter seinen Saugreflex am eigenen Leib. Mit einer für Erstgebärende unvorstellbaren Kraft bemächtigt sich der Säugling der Brust, saugt die Brustwarze an und beginnt mit seiner Saugaktivität, und zwar mit einer Direktheit und Zielsicherheit, die 559 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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Erstaunen hervorrufen kann. Das erste Ansaugen wird sehr deutlich gespürt, verursacht häufig in der ersten Phase einen plötzlichen stechenden Schmerz, dem weitere Schmerzimpulse folgen können. Die Brustwarze tritt als von Sensationen betroffene Leibesinsel unmittelbar ins Bewusstsein. Eine Frau berichtet: »Dann kam der erste Augenblick des Stillens – ein Gefühl, wie wenn zwei Zähne in die Brust beißen? Es war ein unangenehmer Schmerz.« (Reim, 1984, 174) Bei diesem ersten Anlegen kurz nach der Geburt wird aber, wie erwähnt, die eigene Brust noch nicht als Nahrung spendende erlebt. Die Milch ist noch nicht eingetreten, die Brüste strotzen noch nicht vor Fülle, die abzufließen verlangt, es gibt noch keine Empfindung des Hinausströmens. Dennoch wird diese erste Einleibung, das erste Verschmelzen der beiden Körper häufig als »tiefgreifendes Erlebnis« geschildert: »Noch im Kreißsaal wurde meine Tochter angelegt. Doch ich war noch von all den Ereignissen so beeindruckt, daß die Hebamme mir helfen mußte. Instinktiv saugte meine Tochter in regelmäßigen Abständen an meiner Brust, schlief ein und erholte sich ein wenig, saugte weiter. Es war ein tiefgreifendes Erlebnis.« (ebd., 17)

Mit diesem intensiven Leibeserleben können die von der Geschichte der Geburt zurückgebliebenen realen, noch nachklingenden oder imaginierten, erinnerten Schmerzen in den Hintergrund treten, wie in diesem Beispiel bei Reim (ebd., 30): »Ich versuche, Dir die Brustwarze in den Mund zu schieben. Es gelingt – ich empfinde ein nie gekanntes Glück. Die Schmerzen sind weg. Du bist da. Wie soll man dieses Glück beschreiben? Ich weiß es nicht. Die Nachgeburt und das Nähen spüre ich nicht mehr. Ich sehe nur Dich, streichle und küsse Dich, will Dich nie wieder loslassen.«

Wenngleich davon die Rede ist, dass Schmerzen durch das Stillen in den Hintergrund treten, kann es, vor oder nach dem Milcheintritt, zu Regungen und Sensationen an anderen als den unmittelbar betroffenen Leibesinseln kommen, z. B. am Unterleib: »Als ich meinen Sohn zum ersten Mal an die Brust legte, hatte ich das Gefühl, noch mitten in der Geburtsarbeit zu stecken. Mein Uterus zog sich derart stark zusammen, daß ich auf meine für die Geburt eingeübte Atmung zurückgreifen mußte, um die Kontraktionen ohne innere Verkrampfung durchzustehen.« (Lothrop, 1994, 29)

Hier handelt es sich anscheinend um Nachwehen, die das Stillen auslösen kann. Ähnliche Phänomene beschreibt auch French (1988, 65 f.) anhand ihrer Figur Mira, die sich der Endphase der Geburt durch Bewusstlosigkeit 560

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Laktation

entzog. Als sie ihr Kind in Augenschein nimmt und es zum ersten Mal auf dem Arm hat, durchzuckt »irgend etwas« ihren Körper, es ist ein diffuses Leiberleben, das sich aber bald an einzelnen Leibesinseln konzentriert: »Mira legte sich ins Kopfkissen zurück, ihr Körper lag still da. Ihre Arme fühlten sich leer an. Sie spürte, daß in ihrem Körper irgend etwas vorging. Es war ein Ziehen, das von der Gegend der Genitalien ausging und ihren Magen durchzuckte, ihre Brust, ihr Herz, bis oben in die Kehle. Ihre Brüste schmerzten. Sie wollte sie ihm in sein Mündchen stecken, sie wollte es in ihren Armen halten. Sie wollte ihren Finger in seine Hand stecken und es bei sich liegen lassen, wollte es wärmen, wollte, daß es ihren Herzschlag spürte. Sie wollte für das Baby sorgen. Sie wußte, was sie fühlte, war Liebe, eine Liebe, noch blinder und irrationaler als sexuelle Liebe. Sie liebte es, weil es sie brauchte. Es war nebensächlich, daß es durch Zufall ihr gehörte, aus ihrem Körper gekommen war. Es war hilflos, und es bewegte sich an ihr, als ob ihr Körper der seine wäre, als ob sie eine Quelle all dessen wäre, was es wollte. Sie wußte sehr wohl, daß ihr Leben von jetzt an von dieser winzigen Kreatur beherrscht würde, daß seine Bedürfnisse das Wichtigste in ihrem Leben sein würden, daß sie sich immer und ewig mühen würde, diese krampfartig zupackenden Hände, dieses rosenknospige Loch von Mund zu füllen … Aber irgendwie war es in Ordnung wegen dieser Liebe, die nicht einfach nur Liebe war, die sogar mehr noch war als Notwendigkeit: absoluter Wille und die Antwort auf alle Schmerzen.«

In der Laktation erfolgt an der Leibesinsel Brust die mit intensiven Regungen verbundene Wiedervereinigung zwischen Mutter und Kind. Heute weiß man medizinisch um die Bedeutung der Vormilch für das Immunsystem des Säuglings und psychologisch um das sogenannte Bonding, also um die Wichtigkeit des unmittelbaren Kontaktes zwischen Mutter und Kind, und zwar für beide Betroffenen. Nach dem Trennungserlebnis der Geburt und der Rückkehr vom Zustand u. U. dramatischer affektiver Betroffenheit wird die Mutter in der Regel von einer Sehnsucht nach ihrem Kind ergriffen. Sie hört seinen Schrei, interessiert sich für sein Wohlergehen und verlangt danach, es in den Armen zu halten, es berühren, es ansehen, es schließlich – wenn nicht eine Entscheidung gegen das Stillen getroffen wurde – anlegen zu können. Auch das Neugeborene sucht sogleich nach der Geburt instinktiv die Mutterbrust und strebt nach Wiedervereinigung. Sein Saugreflex hat bei der Mutter nicht allein Einfluss auf den Vorgang der Milchbildung, sondern auch auf die Rückbildung des Unterleibs. So können beim Stillen in direktem Anschluss an die Geburt Nachwehen auftreten, die als fortschreitende Engung des seiner Fülle beraubten Bauches wahrgenommen werden und u. U. von verstärktem Blutfluss begleitet sind. Mediziner haben auf die Bedeutung des Stillens für die Rückbildung des Uterus hingewiesen. Für die Stillende können die Leibesinseln 561

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von Brust und Bauch bzw. Unterleib in diesen Momenten zu einer Einheit verschmelzen, was auch für die Regungen von Wonne und Wollust zutrifft, die noch lange über das Wochenbett hinaus beim Stillen erlebt werden.

15.2 Milcheintritt Der wenige Tage nach der Geburt erfolgende Milcheintritt kann vor allem für Erstgebärende eine von unmittelbarer Betroffenheit gekennzeichnete Leiberfahrung sein, er kann sich aufdrängen, ja als plötzliche und z. T. auch schmerzhafte Weitung der Brust aufzwingen. Die zuvor nicht als Nahrungsquellen erlebten Leibesinseln schwellen an, weiten sich zu einem als numinos erfahrenen ›Flüssigkeitsreservoir‹ und stehen in enger leiblicher Kommunikation mit dem Kind. So kann z. B. das Schreien des Kindes und manchmal auch dasjenige fremder Kinder deutlich spürbares Spannen und Schwellen sowie Milchaustritt zur Folge haben. Die Mutter erlebt also eine erneute Wandlung ihres Leibes. Ihre Brüste verändern wenige Tage nach der Geburt deutlich ihre Größe, ihre Konturen, ihre Festigkeit, sie treten auf eine neue, andere Weise in den eigenleiblichen Raum, haben in ihrer sich aufdrängenden Fülle auch Einfluss auf die Beweglichkeit des Körpers und das leibliche Lot. Das früher beschriebene Konglomerat leiblichen Empfindens am Bauch steht in merkwürdigem Kontrast zu dem, was sich an den Brüsten ereignet: Der Bauch ist nach der Geburt zunächst schlaff, ausgefasert, unkonturiert; dagegen bekommen die Brüste mit einem Mal deutlich Festigkeit, Kontur, Gewicht und treten als solche auch in der visuellen Wahrnehmung des Körpers anders hervor. Blickt die Frau an sich herunter, sieht sie die voluminöse Wölbung ihres Busens. Das Leiberleben wandelt sich vor dem Hintergrund dieser Entfaltung, es bedarf womöglich einer besonderen Garderobe an der Brust. Viele Frauen verwenden eigens dieser Veränderung angepasste Still-Büstenhalter, die sowohl eine bequeme Öffnung für den Stillvorgang, als auch eine Stütze für die mitunter ausufernde Fülle der Brüste bieten. Die veränderten Brüste bewirken ein anderes, ›neues‹ Leiberleben. So schreibt Fröhlich (1998, 18): »meine sonst eher bescheidenen Brüste haben fatale Ähnlichkeit mit denen von Pamela Anderson. Ein ganz neues Gefühl.« In jedem Fall wird während der Zeit der durch Milcheintritt in Gang kommenden Laktation eine Veränderung der Brüste deutlich empfunden und gesehen. Eine andere Frau bemerkt: »Meine kleinen Brüste erschienen mir riesig.« (Reim, 1984, 191) Sie berichtet auch: »Ich hatte nie einen ›Milcheinschuß‹.« (ebd.) Wie 562 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Laktation

erwähnt, hängt die Deutlichkeit der Erfahrung eines Milcheintritts stark vom Stillverhalten und von individuellen Voraussetzungen ab. Dass die Milch irgendwann in den ersten Tagen nach der Geburt ›einschießt‹, bezeichnet an und für sich lediglich den Vorgang der einsetzenden Milchbildung, der für das Anschwellen und Schwer-werden der Brüste verantwortlich ist. Häufig wird jedoch der Milcheintritt als Milcheinschuss zu einem herausragenden, wenn nicht gar dramatischen Leiberlebnis, in dem die Brüste mit einer prallen Fülle ins Bewusstsein treten: »Nach zwei Tagen kam der Milcheinschuß. Ich hätte heulen können (habe ich auch). Meine Brüste kamen mir vor wie Backsteine. Sie waren ganz prall und ziemlich warm, was eigentlich nichts Unnormales ist.« (ebd., 98)

Auch in einem anderen Beispiel heißt es, nachdem es mit der »Milchproduktion« zunächst nicht gut funktionierte: »eines Nachts geschah das Wunder. Ich bekam den richtigen Milcheinschuß, mit schmerzhaft prallem Busen und tropfender Milch!« (ebd., 79) Es muss aber nicht immer zu einem besonderen Ereignis des Milcheinschusses kommen, häufig vollzieht sich das typische Füllen der Brüste mit Milch allmählich während der ersten Woche nach der Geburt und steht in Korrespondenz mit dem Stillen selbst, seiner Häufigkeit, seiner Intensität etc., denn bekanntlich wirkt das Saugen des Kindes anregend auf das In-Gang-Kommen der Milchbildung. Dieser leibliche Prozess, der nach der Geburt und in Kontakt mit dem Kind unverfügbar den weiblichen Leib bedrängt, ist also hinsichtlich seiner Erlebnisqualität individuell und situativ verschieden. Gemeinsam ist diesen Erfahrungen, dass die Brüste sich verändern, schwerer, voller, voluminöser werden, dass sie sich warm, ja heiß anfühlen und als solche in der Wahrnehmung des Leibes hervortreten. Die Psychologin Hannah Lothrop (1994, 95), die mit Publikationen und u. a. als Gründerin der ersten deutschen La Leche League-Gruppe maßgeblich zur ›Renaissance‹ des Stillens beigetragen hat, schreibt zum Milcheinschuss: »Milcheinschüsse können unterschiedlich sein. Manche Frauen merken gar nichts davon, andere haben das Gefühl zu platzen. Frauen, die ihr Kind von Geburt an nach Bedarf stillen, nehmen oft den Zeitpunkt des Milcheinschusses gar nicht richtig wahr – er geht ganz allmählich vor sich. In einer rigiden Krankenhausstruktur mit langer Nachtpause kann das Einschießen der Milch jedoch äußerst unangenehm und schmerzhaft sein. Die Brust wird hart und gespannt und tut wahnsinnig weh.«

Die inhuman technisierte Ritualisierung des Gebärens und des Wochenbettes kann, wie Lothrop ausführt, auf das leibliche Erleben der Mutter einen erheblichen Einfluss haben. Erstgebärende, die sich einem völlig unbekannten leiblichen Vorgang ausgesetzt fühlen und es faktisch auch sind, 563

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zeigen sich gelegentlich verunsichert und verspannt, stehen vielleicht unter dem ›Erfolgsdruck‹ eines gelingenden Stillens, der früher noch durch Vorher- und Nachherwiegen der Säuglinge forciert wurde, was heute allenfalls noch bei Stillschwierigkeiten praktiziert wird, um die Versorgung des Babys sicher zu stellen und gegebenenfalls durch künstliche Milch zu ergänzen. Verunsicherte Mütter bedürfen zur Erfüllung der Stillaufgabe einer einfühlenden Unterstützung, die sich neben guten Ratschlägen zur körperlichen Technik, vor allem durch die Schaffung einer Atmosphäre geschützter Intimität für die leibliche Zweisamkeit der Stillpartner auszeichnet. Die leibliche Integrität, die eine Wöchnerin kurz nach der Geburt erst einmal wieder zu erringen hat, die also keineswegs selbstverständlich ist, ist für die Stillfähigkeit von großer Bedeutung, da Angst, Nervosität und Stress Vorgänge wie den Milchfluss erheblich behindern. Dass ein Krankenhausaufenthalt mit Öffentlichkeitscharakter in vielerlei Hinsicht Hemmnisse hervorbringen und fördern kann, wird schon durch die Tatsache deutlich, dass das Stillen die partielle Entblößung wenigstens einer der beiden Brüste nötig macht und somit im menschlichen Miteinander von medizinischem Personal, familiärer, freundschaftlicher und fremder Besucherschaft Schamgrenzen erreichen kann. Es gibt Kliniken, die dieser Situation durch Stillräume und andere Möglichkeiten einer Absonderung gerecht werden und auf Stillschwierigkeiten durch wiederholte Anleitung reagieren.

15.3 Die Stillbeziehung Die ersten Stillerlebnisse sind auch bei erfahrenen Mehrfachgebärenden gewöhnungs- und einübungsbedürftig. Jedes Baby ist zwar mit dem berühmten Saugreflex ausgestattet, aber es ist unmöglich, sein Trinkverhalten zu manipulieren. Es bedarf also der Einspielung und des wechselseitigen In-Resonanz-Bringens, und anfänglich einer gewissen Konzentration auf den Vorgang, der die Erlebende von der Umgebung bewusstseinsmässig ›abzieht‹. Individuelle Unterschiede beim Stillen sind ebenso zahlreich wie die Arten des Essens, die Erwachsene an den Tag legen; jeder Säugling ist ein Individuum mit spezifischem Temperament, das sich schon in seinem Stillverhalten zeigt: »Anya trank jeweils in wenigen Minuten die Brust leer, während Kerry ein echter Trödler war – langsam, gemütlich, interessiert an dem, was um ihn herum vorging. Die Temperamentsunterschiede, die sich darin zeigten, kann ich auch heute noch gut beobachten.« (Lothrop, 1982, 97)

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Laktation

Auf die Art, wie das Kind sich der Brust bemächtigt, hat die Mutter wenig Einfluss: »Manche Kinder trinken zaghaft, andere saugen so fest, daß es der Mutter fast weh tut. Manche dehnen ihre Mahlzeit über eine ganze Stunde aus und legen öfter mal eine Pause ein. Andere verschlingen ihre Milch so hastig, daß sie hinterher einen Teil wieder ausspucken.« (ebd., 97 f.)

Dabei handelt es sich um individuelle Züge, die der Einstellung der Mutter auf das Kind ebenso bedürfen wie der Berücksichtigung ihrer eigenen Integrität, im Extremfall hinsichtlich ihrer Toleranz gegenüber Schmerzgrenzen oder Regungen von Unwohlsein oder Müdigkeit. Freilich steht kaum zu erwarten, dass der Säugling in irgendeiner Weise auf die Belange und Grenzen der Mutter eingeht, und insofern sind die Stillpartner in der leiblichen Kommunikation alles andere als gleichberechtigt, vor allem was die Artikulation von Wünschen angeht. In der Stillbeziehung lässt sich die Mutter wesentlich auf den Leib und die Bedürfnisse des Kindes ein, was insbesondere die vom Kind und Erwachsenen stark unterschiedenen Speisegewohnheiten des Säuglings hinsichtlich Häufigkeit und zeitlicher Ausrichtung im Tag- und Nachtrhythmus betrifft. Säuglinge ›essen‹ nicht angepasst an den kultivieren Rhythmus von Frühstück, Mittag- und Abendessen. Säuglinge ernähren sich nach ihrem individuellen Bedarf, täglich und auch nachts in ziemlich regelmäßigen, ein-, zwei-, drei- oder vierstündigen Abständen – äußerst selten kommt ein Kind ja auch mit dem Schlafrhythmus eines Erwachsenen zur Welt. Es beginnt zu schreien, wenn es Hunger empfindet und nicht, wenn es für Erwachsene Zeit zum Essen ist oder wenn es der Mutter gerade passt. Während es zu anderen Zeiten und bei bestimmten Bevölkerungsgruppen eher üblich war, die Säuglinge nachts schreien zu lassen und so drastisch in den Rhythmus von Wachen und Schlafen der Erwachsenen zu drängen, tendiert man heute dazu, dem Rhythmus des Kindes zu folgen und diesen allmählich an den Nacht-Tag-Rhythmus anzupassen. Der sich meist über mehrere Monate hinziehende Schlafverlust und die Schlafstörungen von stillenden Müttern werden allerdings im menschlichen Miteinander und in der Arbeitswelt kaum berücksichtigt, sind aber von grundlegender Bedeutung für den leiblichen Zustand der Frau während der Laktation. »Stillen ist ein Lernprozess«, sagt Lothrop (ebd., 97). »Das Kind muß lernen, an der Brust zu trinken« und die Mutter muss lernen, ihm die Brust zu geben. Immerhin handelt es sich bei den Stillpartnern um zwei nunmehr getrennte Körper, die auf eigentümliche Weise zueinander und zu einer gemeinsamen leiblichen Rhythmik finden, ganz ähnlich dem se565 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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xuellen Akt. Beide treten also in eine leibliche Kommunikation, die von der körper-technischen Seite ebenso eingeübt werden muss wie von der Seite des leiblichen Empfindens. Allerdings beherrscht der Säugling seine Aufgabe zumeist schon perfekt, ohne dass ihm etwas beigebracht werden muss. Eine Frau berichtet, sie habe sich »gewundert, daß ein kleiner Mund so kräftig saugen kann. Ich fand es so toll, daß ich ihn immer lange hab nuckeln lassen« (Reim, 1984, 98). Der Schwerpunkt des Lernprozesses liegt wohl auf der Seite der Mutter, da sie die Anpassungsfähigere ist. Sie muss das Kind mit seinen Speisegewohnheiten, seinem Saugverhalten kennen lernen und sich darauf einstellen. Naturgemäß lastet die Verantwortung auf der Mutter, die das der eigenen Fortbewegung unfähige Kind in Position zu sich, zu ihrem Leib zu bringen hat. Hierfür kennen wir den Begriff des Anlegens: Das Kind wird von der Mutter an die Brust gelegt. Sie greift es auf, legt es in ihre Arme und bringt es in eine dem Stillen förderliche Position. Was dann geschieht, ist eine Frage subtiler leiblicher Kommunikation: Die Brustwarze wird in die Nähe des Mundes gebracht und dieser hat sie auf eine bestimmte Weise zu ergreifen und den Saugrhythmus aufzunehmen. Sind Brust und Mund vereinigt und in rhythmische Konvulsionen eingetreten, nimmt das Stillen meist seinen Lauf und bedarf keiner weiteren ›technischen‹ Aufmerksamkeit. Die rechte Trinkposition und die rechte Begegnung zwischen Säuglingsmund und Brust mag sich auf natürliche Weise einstellen und sogleich gelingen, aber beides lässt sich auch qua Technik erlernen, insbesondere dann, wenn es Schwierigkeiten gibt. Aber, auch wenn ›technisch‹ alles in Ordnung ist, kann es sein, dass das Kind nicht trinkt, dass es die Brust nicht ergreift. Das mag sich partiell während der Stillperiode immer wieder einmal einstellen, beispielsweise, wenn das Kind krank ist. Grundsätzlich vermag keine Mutter ihren Säugling zum Saugen zu zwingen, und so gesehen handelt es sich um Unverfügbares: Es geschieht entweder, und das ist meist der Fall, oder aber nicht, und dann kann es sein, dass die sich anstauende Milch zu extremen, auch schmerzhaften Erfahrungen der Fülle und des Festen an den Brüsten führt. Allerdings gibt es Irritationen oder Anfangsschwierigkeiten bei den Stillversuchen in der ersten Phase nach der Geburt, die mit Geschick überwunden werden können. Dem Anlegen korrespondiert das Ablegen, um dem Säugling die andere Brust zu geben oder aber um das Stillen zu beenden. Selten beendet das Kind in der ersten Zeit der Laktation selbst den Stillvorgang; auch wenn es beim Stillen einschläft und nur hin und wieder Saugimpulse gibt, bleibt es ›angesaugt‹, fest mit der Mutterbrust verbunden. Das von der 566 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Laktation

Mutter vollzogene Abnehmen von der Brust gelingt nicht, indem das Kind einfach weggezogen wird, denn beim Stillen »bildet der Mund des Babys ein Vakuum« (Lothrop, 1982, 102). Beim schlichten Wegziehen »bleibt es trotzdem festgesaugt, und die Warze wird in die Länge gezogen« (ebd.), was schmerzhaft sein kann. Die Technik bzw. der Hilfsgriff besteht im Durchbrechen des Vakuums, indem z. B. ein Finger zwischen Brust und Mundwinkel gelegt wird. Sobald Luft in den Mund dringt, lässt das Kind die Brust los. In diesen Beschreibungen der leiblichen Vorgänge beim Stillen wird deutlich, dass es sich um äußerst komplexe Prozesse überwiegend einseitiger, aber auch wechselseitiger Einstellung und Einstimmung handelt, die in der Anfangsphase einige Aufmerksamkeit verlangen. Zum Erlernen des »Die-Brust-Gebens« gehört für die Stillende auch, die rechte Position ihres eigenen Leibes insbesondere im Hinblick auf die Dauer des Stillvorgangs zu finden. Es muss nicht weiter erwähnt werden, dass die Bewegungsfreiheit einer Stillenden erheblich eingeschränkt ist und nur in wenigen körperlichen Stellungen, vorzugsweise im Sitzen oder im Liegen, überhaupt für längere Zeit durchgeführt werden kann. Stillen findet immer nur auf je einer Seite des Körpers statt, auf der im Sitzen das Hauptgewicht des Säuglings liegt, was für die Ausrichtung der beiden Leiber in einem gemeinsamen leiblichen Lot von Belang ist. Da jede größere An- bzw. Verspannung den Milchfluss beeinflussen, ja behindern kann, sucht die Stillende eine Körperposition auf, die möglichst entspannend und wenig belastend hinsichtlich des Gewichts des Kindes ist. Es sind immerhin einige Kilogramm ›Fremdkörper‹, die mit dem eigenen Leib in Kontakt gebracht werden und dort verbleiben müssen. Hilfsmittel wie Armlehnen, Fußschemel, Kissen, oder aber das Aufsuchen eines Schaukelstuhls oder des Bettes erleichtern der Stillenden das Ruhen, Verharren, ja die unabdingbare relative Bewegungslosigkeit ihres eigenen Leibes beim Stillen. Das alles aber erfordert einen gewissen Rückzug von Alltagsaktivitäten und hat mit der Einplanung von alltäglichen und nächtlichen Stillphasen einen beträchtlichen Einfluss auf das Leben der Mutter. Im späteren Verlauf der Laktation mag das Stillen durch Einübung und Einstellung so automatisiert sein, dass es kaum noch einer speziellen Fokussierung auf den Vorgang selbst bedarf. Wenn sich die Stillende dann nicht unbedingt dem leiblichen Erleben, etwa der weitenden Entspannung oder der Betrachtung ihres Kindes, hinzugeben gewillt ist, kann sie die Stillphasen zu begleitenden Beschäftigungen nutzen, die im körperpraktischen Sinne während des Stillsitzens oder -liegens möglich sind und zugleich mit einer Körperhälfte, vor allem nur einem freibeweglichen Arm 567 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

bewältigt werden können. Das Stillen bleibt dennoch weiterhin und immer auf einen eng umgrenzten Ort körperlicher Anwesenheit angewiesen und schwingt freilich auch bei ›Nebentätigkeiten‹ mit. In diesem Konglomerat lebenspraktischer Aspekte ist das Stillen vor allem Nährung, es ist ein Geben und Nehmen, das einen materiellen Referenten hat, die Milch, die sich mitunter auch außerhalb der eigentlichen Stillsituation ungewollt, beispielsweise durch Einnässen oder Ausspritzung aufdrängt. Eine Frau berichtet: »Ich fühlte mich ganz als Ernährerin, meine Brüste waren nicht mehr Sexualorgane, sondern dazu da, ein Kind zu ernähren.« (Reim, 1984, 128) Die objektive Tatsache des Nährens wird mit dem Stillerlebnis zur subjektiven: »Als ich das erste Mal stillte, war es erstaunlich. Da war dieser kleine Mund an der Brust, und natürlich war er sehr gierig. Die Lippen des Babys sind warm und arbeiten an der Warze, die Hände manipulieren die Brust und dein ganzer Körper antwortet. Plötzlich wird dir klar, daß du mit deinem Körper den eines anderen Menschen ernährst. Du wußtest es, du hast es schon gesehen und hast immer und immer wieder davon gehört – aber nie weißt du es so genau wie in dem Augenblick, wo es deine Brust ist, dein Baby ist.« (Ayalah/Weinstock, 1983, 182)

Eine stillende Mutter steht in unmittelbarer leiblicher Kommunikation mit dem Kind. Was sie in ihrem Leib hervorbringt, bringt sie dem Kind dar, lässt es abfließen, und in diesem Vorgang entwickelt sich die Stillbeziehung. Die Analysen früherer Kapitel haben gezeigt, dass das Material der Nährung, die Milch, im Grunde nur als eigenleibliche Fülle oder auch als Festes, u. U. in verschiedenen Graden des Auf- und Abbaus, der Dichte, Härte etc. an den Brüsten gespürt wird. Der Austritt von Milch wird im diffusen Erleben des Absaugens und seiner leiblichen Attraktionen kaum gespürt; er verläuft allmählich, mit mehr oder weniger starker Empfindung einer Richtung des Verströmens auf die Brustwarze hin. Im Verlauf einer Stillphase kann es allerdings zu der Wahrnehmung kommen, dass die eine Brust ›leer‹, also ihrer Fülle beraubt ist. Auch wenn das Kind weiter saugt, kann sich der Eindruck verstärken, die Brust sei ›ausgesaugt‹, was zum Abnehmen des Kindes oder zum Wechsel der Brüste veranlasst. In ähnlicher Weise mag eine Mutter nach dem Stillen ihre Brüste als leicht, weich oder gar ›erleichtert‹ empfinden und dann allmählich spüren, wie die Milch, also Fülle und Schwere zurückkehrt, um erneut zu ausgedehnter Schwellung zu erblühen, die wiederum durch das Kind von ihr genommen wird. In dieser innigen Korrespondenz zweier Leiber verwundert es nicht, dass die Brüste als für die Frau herausgehoben spürbare Leibesinseln während der Laktation ein Eigenleben zu führen scheinen, das dem be568

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wussten Willen mehr oder weniger entzogen ist. Was hier geschieht, vollzieht sich am Leib quasi von selbst, als zu- und abnehmende Fülle, als Entstehen und Vergehen, steht aber in Verbindung mit dem Saugverhalten des Kindes. Die Bedeutung der Laktation geht mit der damit verbundenen leiblichen Intimität weit über die reine Ernährung hinaus: »Stillen – eigentlich das Schönste, was man als Mutter seinem Baby geben kann. Für mich ist es nicht nur schlicht ein Fütterungsprozeß, nein, ich sehe das Stillen als eine Art Zuwendung. Wenn mein Baby die warme Milch aus meinen Brüsten saugt, spüre ich ein ungeheures Hochgefühl. Ich weiß, daß es die beste Nahrung ist, die ich ihm geben kann. Der Stillvorgang durchströmt meinen ganzen Körper, eine Flut von Gefühlen, die man kaum beschreiben kann.« (Reim, 1984, 109)

Das Stillen kann als klassischer Fall der von Schmitz (1995, 137) definierten Einleibung verstanden werden, als eine »Verschmelzung auf einander eingespielter oder sich einspielender Leiber« zu einer übergreifenden Einheit. Für viele Mütter ist das Stillen eine von starken Gefühlen durchzogene Fortsetzung der in der Schwangerschaft erlebten innigen Leibesgemeinschaft. Dass auch von einer erotischen Dimension gesprochen werden kann, wird durch Regungen der Vereinigungswollust und Wonne deutlich, die das Stillen begleiten und die das Schmerzhafte der Geburt vergessen lassen. In dem Moment des Stillens ist – wie das Wort schon sagt – Stille, also Ruhe gegeben, die in Regungen der Behaglichkeit zu ganzleiblich ergreifender Weitung führen kann. So beschreibt eine Mutter das Stillen als eine Art Droge, für Mutter und Kind: »Das Stillen war ein tolles Gefühl. In jeder Situation ist die Brust für Nora – auch für mich – das beste Beruhigungsmittel.« (Reim, 1984, 91) Immer wieder wird von einem schönen Gefühl gesprochen, das die leibliche Intimität und die Erfahrung der Nährung mit sich bringt, einer Nährung, die nicht von außen an das Kind herangetragen wird, sondern im Leib der Mutter selbst entsteht: »Wenn ich Nina stillte, dachte ich, wie toll ist das, ein schönes Gefühl für mich, ein wunderschönes Gefühl für Nina. So einfach, so problemlos! Die Brüste sind immer trinkfertig, kein kompliziertes Flaschenmachen, keine Sorge zu haben, daß es zu viel oder zu wenig sei.« (ebd., 168)

Das Stillen wird trotz mitunter unangenehmer Begleiterscheinungen genossen: »Ich genoß das Stillen, sogar den Schmerz und das Austreten der Milch, wenn ich darauf wartete, daß sie aufwachte und trank und sich meine Brüste anfühlten wie zwei stramm gespannte Trommeln.« (Shaw, 1998, 29)

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Die Entspannung und das Aufsuchen einer gemütlichen Körperposition fördern nicht nur den Milchfluss, sondern auch die gesamtleibliche Verfassung in der Hingabe an den Vorgang. Die Saug-Rhythmik des Säuglings, die zu Beginn einer Stillphase primär an einer Brust, u. U. mit Übertragungsphänomenen auf die andere gespürt wird, mag sich in Wellen, in einem Prickeln, in begleitenden Sensationen am Unterleib etc. auf den Leib ausdehnen und diesen als ganzen mitschwingen lassen. Erika Stöppler (1982, 176) beschreibt die Aspekte Wollust, entspannende Ruhe und das In-den-Hintergrund-Treten der Geburtsschmerzen in ihren Versen »Stillend die Süße«: »Oh, du mein Kind Du mein Ach, Du mein Schön Ach, daß es nie vergeh Das ganze kleine Weh Das Ah und das Ja Trinkst du an mir Dehnt sich die Sehnsucht In meinen Leisten Blüht mir mein Leib In tausend Sonnen und Monden Ich bin dein Mondboot Am hellichten Tag Ach, du mein Engel Mein Oh und mein Ah Mein Seufzer nur dir Dir alle meine Lieben Die verlorenen und vergangenen Die gegenwärtigen und die kommenden Tanzend in mir Wonniglich ein Schauer Auf sonnenwarmer Haut Trink ich in meinen Brüsten An deiner Liebe Oh ja und Oh ja Du Süße, du Nymphe Verheilst längst die Wunde Stillst mit Honig den Schmerz Still ich dich mit süßer Milch Still, ganz still mein Kind Nur dein wollüst’ger Mund

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Wie dein Zünglein spielt Und das Lachen so vieler Kinder Unterm schattenden Baum Du wollüstig Allerliebstes mein Sieben Himmel mal Ah Ist die Liebe hoch.«

Das Gedicht beschreibt verschiedene Phänomene beim Stillen: Dehnung und Weitung, das ›Erblühen‹ des Leibes, Wonne, Schauer, das Stillen von Schmerz, Wollust, das gespürte Spielen des »Züngleins« an der Brust, die innige Verbindung zwischen Stillender und Kind im ›siebten Himmel‹ (?) und Empfindungen der Liebe. Mit dem Roman »Die Frau am Abgrund der Zeit« von Marge Piercy (1986, 128) findet sich sogar eine literarische Verarbeitung im ScienceFiction-Umfeld. Der Roman handelt von den Zeitreisen in eine zukünftige Zivilisation, die eine angeblich geisteskranke Frau in einer Nervenheilanstalt erlebt. Sie erinnert sich an das Stillen ihrer Tochter: »Angelina, du Kind meines blutenden, geschundenen Körpers … Die Schwester hat gesagt, ich müßte dir’s beibringen, aber du hast gleich nach meiner Brust gegriffen. Du hast gleich genuckelt. Ich erinnere mich noch, wie du mit deinem kleinen gespitzten Mund meine Brust gesucht und angefangen hast, Milch aus mir zu saugen. Was für ein süßes Gefühl das war!«

Der Anblick einer skurrilen Stillszene 1 berührt die Protagonistin Connie: »Ihre Brüste taten ihr weh bei der Erinnerung daran. Sie hatte es geliebt, die Brust zu geben – diesen warmen Milchstrom tief drinnen, der in ihrer Gebärmutter zu entspringen schien und durch ihren Leib bis zu ihren dunklen Brustwarzen floss. Ihre schweren Brüste öffneten sich in Angelinas Blumengesicht, der süßen Sonnenblume, die sie in den Armen wiegte. Sie hatte sich tragen lassen von den Strömungen dieser intimen sinnlichen Verbindung, die ruhiger, sanfter war, als mit einem Mann zu schlafen, aber genauso gewaltig und befriedigend.« (ebd.)

Diese Zitate sind in mehrerlei Hinsicht interessant. Zunächst einmal die Erwähnung der selbstverständlichen Natürlichkeit des Vorgangs: Hier gibt es nichts, das dem Kind beizubringen wäre, es weiß, was zu tun ist. Dann wird dieses oft beschriebene »süße Gefühl«, Wonne und Wohlbehagen, thematisiert. Es geht ferner um das Phänomen der Erinnerung. Frauen, 1

In der von Piercy entworfenen Zivilisation der Zukunft entfaltet sich bei Männern die Stillfähigkeit in gleicher Weise wie bei Frauen. Sie (1986, 161 f.) beschreibt, wie einer der Männer ein Baby stillt, wie sich ein »Ausdruck der Verklärung« (ebd., 162) auf seinem Gesicht ausbreitet, »er schwebte«. Diese merkwürdige Szene löst bei der Protagonistin Connie die Erinnerung an ihre eigene Stillerfahrung aus.

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die einmal gestillt haben, scheinen beim Anblick einer Stillszene gelegentlich Regungen am eigenen Leib zu verspüren, auch in diesem Fall, als die Erinnerung an das eigene Stillen, ausgelöst durch das Gesehene, Schmerzen in den Brüsten verursacht. Schließlich beschreibt das letzte Zitat auch leibliche Vorgänge, die keineswegs auf die Leibesinseln der Brüste beschränkt sind. Es ist von dem »warmen Milchstrom« die Rede, der »tief drinnen«, also im Innersten des Leibes, lokalisiert wird und dessen Ursprung der Gebärmutter zugeschrieben wird. Allerdings deutet die Autorin an, dass eine klar umrissene Stelle im Leibesinneren nicht ausgemacht werden kann. Jedenfalls geht es um das Spüren des Stroms vom Unterleib in den Oberkörper, in die Brustwarzen. Dann kommt das Öffnen der schweren Brüste zur Sprache, das wiederum nicht wörtlich zu verstehen ist, da hier nicht das Öffnen der tatsächlich vorhandenen Milchkanalöffnungen gemeint sein kann, das gerade nicht willentlich, ohne Impuls von außen, provoziert werden kann. Vielmehr wird hier das Sich-Weiten zum Kind hin als leibliche Regung thematisiert. Dazu gehört schließlich die unverhohlen geäußerte erotische Komponente beim Stillen. Diese sexuelle Dimension wurde lange Zeit vernachlässigt bzw. tabuisiert, wie ja überhaupt das Stillen und das Stillverhalten der Frauen in hohem Maße von sozio-kulturellen Bedingungen abhängig war und ist. In Zeiten massiver Entmündigung von Frauen konnte beispielsweise der Ehemann als ›Besitzer‹ des Körpers seiner Frau bestimmen, ob und wie lange ein Kind gestillt wurde, wobei u. a. das Geschlecht des Kindes über die Stilldauer entschied. Die wechselvolle Geschichte des Stillens zwischen den Extremen von Lobpreis und Verteufelung zeigt, dass das Stillen als Teil der Mutterschaft nicht nur ein Anhaltspunkt für die Konstruktion eines bestimmten Frauenbildes ist, sondern auch für die Konstruktion eines gesellschaftlichen Bildes der Kindheit (vgl. z. B. Badinter, 1991). Erst mit dem aufkeimenden Selbstbewusstsein der Frauen in den Frauenbewegungen, das auch eine größere Akzeptanz des eigenen Leibes mit sich brachte, gestehen Frauen sich selbst ein, dass das Stillen Aspekte von Wonne oder gar Wollust haben kann. Mit den intensiven Leibesempfindungen beim Stillen mag sich das erotische Leben der Mutter verändern, insbesondere im Hinblick auf das sexuelle Verhältnis zum Mann. So berichten stillende Mütter gelegentlich, ihre Lust auf Sexualkontakt mit dem Partner hätte während der Stillperiode an Intensität verloren oder sei gar vollkommen erloschen. »Mein ganzer Körper war aufs Stillen eingerichtet, meine Zärtlichkeit habe ich nur diesem kleinen Wesen gegeben. Zärtlichkeiten, die von außen, das heißt von Chris-

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tian, kamen, haben mich gestört, und ich habe sie sofort abgeblockt.« (Reim, 1984, 102)

Die leiblichen Attraktionen beim Stillen können also u. U. zu einem veränderten Körperbewusstsein führen, in dessen Rahmen sich die Sexualität nach der Geburt erst wieder neu zu finden hat. »Anfangs sah ich Eckart und mich gar nicht mehr als sexuelle Wesen, sondern nur in Bezug zu Lena, als Vater und Mutter. Es dauert lange, bis ich wieder zu meinem Körper, zu meiner Sexualität finde.« (ebd., 128)

Solche Veränderungen mögen nicht nur durch das Stillen ausgelöst werden. Schon die Geburt selbst ist ja mit einem Geschehen am Genital verbunden, das üblicherweise in sexuellen Zusammenhängen Bedeutung hat. In der Geburt geschieht gewissermaßen eine Penetration des Genitals von innen nach außen. Das Wiederaufnehmen sexueller Verbindungen, insbesondere von vaginalen Penetrationen, kann mit anfänglichen Schwierigkeiten verbunden sein. Die erneute Penetration nach der Geburt hat zwar nicht den gleichen Status wie die Defloration, aber sie kann doch als ›neu‹ empfunden werden, vor allem dann, wenn nach einem Dammriss oder -schnitt genäht wurde und die erste Penetration nach der Geburt mit Schmerzen verbunden ist. Zum Spektrum gewisser Unsicherheiten bei der Wiederaufnahme des Geschlechtsverkehrs gehört aber nicht nur das Spüren der Naht oder Narbe, sondern vor allem die neue Erfahrung der durch die Geburt geweiteten Vagina.

15.4 Aspekte der sozialen Situiertheit des Stillens Neben den häufig anzutreffenden euphorischen Beschreibungen des Stillens mit einem Konglomerat von Wonne, Wollust, Behaglichkeit, Intimität, rhythmischer Einleibung usw. darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass das Stillen für Frauen auch problematisch und sogar sehr unangenehm sein kann oder dass sie sich bewusst aus welchen Gründen auch immer dagegen entscheiden, was nicht nur mit individuellen, sondern überaus häufig mit kollektiven Bedingungen zu tun hat. So schreibt Lothrop (1994, 17) zu Recht: »Wenige Bereiche menschlichen Lebens werden von Modeerscheinungen und medizinischen Ideologien so sehr strapaziert wie Schwangerschaft, Geburt und Stillen.« Mit dem Stillen wurde immer schon sehr unterschiedlich umgegangen, sei es aufgrund der Lebensverhältnisse, der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaftsschicht oder eines demographischen Bezirks, eines bestimm573

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ten Lebensstils etc. Im abendländischen, vom Christentum beeinflussten Kulturkreis wurde dem Stillen in der bildenden Kunst besondere Aufmerksamkeit gewidmet, z. B. im Motiv der Maria lactans. Der historische Wandel künstlerischen Ausdrucks sogenannter Stillszenen spiegelt die jeweilige gesellschaftliche Bedeutung des Stillvorgangs, von der ›geheiligten‹ weiblichen Handlung in der christlichen Ikonographie über die weltliche Situierung mit idyllischen Naturszenen oder gemütlich-behaglicher Häuslichkeit bis hin zu gesellschaftskritischen Darstellungen oder expressionistischer Ausdruckssteigerung, um nur einige Beispiele zu nennen. 2 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird das Motiv der stillenden Mutter in der bildenden Kunst nur noch selten aufgegriffen. Als in den 1950er und 1960er Jahren die adaptierten Babynahrungen auf den Markt kamen, breitete sich eine allgemeine Stillfeindlichkeit aus. Selbst in Krankenhäusern riet man vom Stillen, insbesondere von längerem und ausschließlichem Stillen (mehrere Wochen oder Monate) ab, pries die angeblich hohe, ja gleichwertige Qualität der Ersatzprodukte und ihren im Vergleich zur Muttermilch höheren Sättigungseffekt, fütterte die Säuglinge – häufig ohne Wissen der Mütter – schon zu Beginn mit Substituten zu, so dass die Mütter regelrecht um ihre Stillerfahrungen gebracht wurden. Die Kampagnen brachten eine Flascheneuphorie hervor, die u. a. an der Normierung der Fütterung orientiert war: »Endlich konnte man wiegen, messen und einteilen, was jedes Kind wann und in welcher Menge zu trinken hat. Jetzt war es plötzlich fortschrittlicher, ›exakt nach Plan mit der Flasche‹ zu füttern, als ›nach Gefühl mit der Brust‹ wie zu Großmutters Zeiten. Spätes erstmaliges Anlegen, strenge Fütterungszeiten im Vier-StundenRhythmus, lange Nachtpausen, Zeitknappheit und Streß beim Stillen, Vorfüttern oder Wiegen und Zufüttern laut Tabelle verunsicherten Frauen so sehr, daß sie kaum mehr voll stillen konnten.« (ebd., 17)

Eine Unmenge von Vorurteilen über das Stillen, die Verlagerung der Wissenskontexte von weiblichen Traditionen auf medizinisches Personal, fehlende Informationen darüber, wie mit dem Stillen so umzugehen ist, dass es auf lange Sicht gelingt, im Verein mit Probleme schaffenden Situationen in Kliniken führten dazu, dass Mütter nicht nur qua Geburt, sondern auch qua Stillen zu Patientinnen wurden. Sie waren darauf angewiesen, dass man ihnen die ›Natur‹, die Milchbildung nach der Geburt, pharmakologisch wieder aus dem Leib trieb. 3 Viele Frauen haben ihre Unfähigkeit 2

Vgl. eine Interpretation des Bildes »Mi Nana y yo o Yo mamando« von Frida Kahlo bei Gahlings, 2002. 3 Man könnte es als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnen, was in diesen Jahren in

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bedauert, sich dem Diktat des Krankenhauspersonals und des von der Industrie geprägten medizinischen Diskurses zu entziehen. Es bedurfte der Gründung von Selbsthilfegruppen und international organisierter Stillinitiativen wie der La Leche League, um Mütter überhaupt wieder mit dem Stillen vertraut zu machen und die diskursiv erzeugten Irritationen über einen natürlichen, an sich problemlosen leiblichen Vorgang auszuräumen. Solidargemeinschaften von einigen wenigen Wissenschaftlern, vor allem aber Hebammen, Feministinnen und Ökologinnen, die erkannten, dass diese Praktiken zur Pathologisierung des Frauenkörpers sowie zur Konstruktion weiblicher Abhängigkeit beitrugen und dass das Stillen nur mit erheblichem technischen, kapital- und energieintensiven sowie lebenspraktischen Aufwand überhaupt zu substituieren ist, führten schließlich zur Wende in der Stillfeindlichkeit. Im Zuge des durch die Frauenbewegungen der 1970er Jahre angeregten neuen Körper- und Naturbildes wurde das Stillen als leibliche Praxis in den 1980er Jahren mehr und mehr gesellschaftsfähig, ja gelegentlich provozierend öffentlich ›zelebriert‹, jedenfalls als integraler Bestandteil eines natürlichen Umgangs mit dem Körper betrachtet, was die Entzerrung der Schamgrenzen in der Öffentlichkeit nach sich zog. Spätestens als auch von medizinischer Seite erkannt wurde, wie wichtig das Stillen für die Rückbildung der Gebärmutter unmittelbar nach der Geburt sowie für das Immunsystem des Kindes, vor allem für die Allergie-gefährdeten Kinder heutiger Umwelten ist, und als von psychologischer Seite die emotionale Bedeutung des Bonding zwischen Mutter und Kind bekräftigt wurde, kam es zur gesamtgesellschaftlichen Rehabilitation des Stillens. Derzeit wird in Europa das Stillen grundsätzlich für die erste Lebenszeit des Säuglings wieder als die beste und natürlichste Art der Säuglingsspeisung angesehen und entsprechend gefördert, mittlerweile sogar mit Nachdruck auch in Kliniken. 4 Nachdem der Skandal um die Babynaheiner Koalition zwischen Medizin und Industrie mit Müttern und ihren Säuglingen geschah, und zwar nicht nur in Europa und Amerika. Als die Babynahrungsindustrie ihre Produkte in der Dritten Welt abzusetzen begann, kam es zur Erhöhung der Säuglingssterblichkeit: »Säuglinge (z. B. in Afrika), die bis dahin durch das Stillen in den ersten Lebensjahren vor Infektionen und Unterernährung relativ geschützt waren, starben unter den dortigen hygienischen Verhältnissen zu Tausenden an fehlender Muttermilch und keimverseuchter, falsch zubereiteter Flaschennahrung (›Nestle tötet Babys‹).« (Lothrop, 1994, 18) 4 Ich möchte allerdings behaupten, dass der heutige Diskurs um das Stillen noch von den Folgen der »Flascheneuphorie« geprägt ist und dass sich wieder ein Trend hin zur Flaschenernährung ausbildet, z. T. jedoch unter veränderten Vorzeichen. Vereinzelt werden Mütter heute offenbar dazu animiert, ihre Milch abzupumpen, um sie dann als ›überwachte‹, sterilisierte, gekühlte und aufgewärmte, sichtbare Ware dem Säugling per Flasche zuzuführen. Das mag im

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rungsindustrie verschiedene juristische Nachspiele hatte, gibt es inzwischen auch gesetzlich erlassene Auflagen bei der Werbung für Ersatznahrung. Über die Dauer der Stillperiode gibt es gleichwohl nach wie vor gesellschaftliche Tabus, es gilt z. B. als anrüchig, wenn eine europäische Frau ihr Kind mehrere Jahre stillt – bei sogenannten Naturvölkern kommt uns das selbstverständlich vor. Ferner gibt es Meinungsverschiedenheiten unter Medizinern darüber, wie lange eine Stillzeit dauern sollte, wobei Normierungen, u. a. anhand der Qualität der Muttermilch, angestrebt werden und die Dauer der Stillperiode als rationale Entscheidungsfrage und nicht als natürlicher Prozess diskutiert und entsprechend in der medizinischen Sprechstunde thematisiert wird. Untersuchungen der Muttermilch auf Schad- und Giftstoffe oder radioaktive Kontaminierung sind nach den großen Umweltkatastrophen wie 1986 in Tschernobyl vor allem von den Stillinitiativen gefordert worden. Insofern Stillende ihren Körpersaft selbst ›herstellen‹, ist für sie immer interessant, was sie zu sich nehmen, so dass es nicht verwundert, wenn gerade im Kontext von Umwelt-Kampagnen Frauen und Mütter besonders engagiert sind. Heute gibt es für die Qualität der Muttermilch bereits Standards und Belastungsgrenzwerte, die Einfluss auf die Dauer der Stillzeit nehmen können. Obwohl man Müttern heute das Stillen wieder nahe legt, gibt es nach wie vor Frauen, die es von sich aus schon vor der Geburt bewusst ablehnen. Die Gründe dafür sind vielfältig und können sowohl lebenspraktischer Natur sein, wenn die Mutter rasch nach der Schutzfrist wieder erwerbstätig sein und ein mühsames Abstillen vermeiden will oder aber wenn sie sich nicht dem ›Stress‹ einer ausschließlichen Stillbeziehung aussetzen und die Ernährung durch Andere sicherstellen will. Die Bedenken können außerdem ästhetischer Natur sein und beziehen sich etwa auf die Vorstellung, dass das Stillen die Brüste in Richtung von ›Hängebrüsten‹ nachteilig verändert; sie können aber auch gefühlsmäßiger Natur sein, so etwa durch Ekel, Widerwillen, Unbehagen gegenüber einem quasi ›animalischen‹ Vorgang oder durch mangelndes Selbstvertrauen in das Gelingen des Stillens selbst – ein Relikt aus den Zeiten massiver Verunsicherung der Einzelfall, z. B. wenn ein Säugling intensivmedizinisch betreut wird oder wenn es Komplikationen bei der Geburt gab, eine sinnvolle Methode sein, dem Kind die wichtige Nahrung Muttermilch zukommen zu lassen, wenn der leibliche Kontakt nicht möglich ist. Das mag dank moderner Abpumptechnik den Stillenden auch einen freieren Umgang mit ihrer Zeit erlauben. Wenn aber situationsbedingte, im Klinikalltag entstehende Stillschwierigkeiten mit dieser Methode aus dem Weg geräumt werden, und zwar dauerhaft, so dass Frauen nun wieder die Flasche (mit ihrer eigenen Milch) geben und nicht mehr oder weniger stillen, scheint sich lediglich die Strategie der Pathologisierung geändert zu haben.

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Mütter durch Verteufelung des Stillens. Die Gründe können je nach individueller Situation verschieden sein. Exemplarisch sei nur ein Zitat bei Ayalah und Weinstock (1983, 163) angeführt, das noch einmal die Unverfügbarkeit der Laktation gegenüber dem persönlichen Willen deutlich zum Ausdruck bringt: »Nach der Geburt meiner ältesten Tochter wollte ich eigentlich nicht stillen, aber mein Gynäkologe befürwortete das Stillen, was damals ungewöhnlich war. Ich war nicht stark genug, ihm zu entgegnen: ›Hören Sie mal, ich will nicht stillen, und damit basta!‹ Also stillte ich sie im Krankenhaus gezwungenermaßen. Ich mochte das Gefühl nicht. Erstens tat es weh, weil meine Brustwarzen sehr empfindlich waren. Und sie hat wirklich zugeschnappt und gezogen. Als die Milch einschoß und ein bißchen bei ihr mit einem Bäuerchen wieder hoch kam, wurde mir klar, daß das Milch von mir war! Das hat mich absolut entsetzt! Ich kam mir vor wie eine Kuh. Ich habe mich wahnsinnig aufgeregt. Ich weinte und wurde hysterisch und weigerte mich, sie weiter zu stillen. Der Arzt gab mir eine Injektion, um den Milchfluß zu stoppen, aber ich hatte inzwischen so viel Milch, daß ich, als ich aus dem Krankenhaus kam, sehr krank wurde. Ich bekam hohes Fieber wegen meiner Brüste, und sie waren riesig und hart und rot. Ganz schrecklich. Meine Schwiegermutter mußte sich um das Baby kümmern. Ich konnte es nicht einmal hochheben. Drei Wochen lang war ich richtig krank. Die Milch stockte in den Brüsten, bildete Klumpen und diese Klumpen hielten sich jahrelang.«

Diese Frau erlebt nun nachgerade den umgekehrten Fall des in den 1960er Jahren typischen Trends, die Mütter schon früh vom Stillen abzuhalten und zum Kauf von Babynahrung anzuhalten. Der offenbar aus diesem Trend fallende Gynäkologe versucht den Willen der Mutter zu ändern, und ebenso wenig wie die meisten Frauen unter dem Eindruck der Propaganda von Babynahrungsprodukten ihren Willen zum Stillen durchsetzten, vermag diese Frau, sich ihrem Arzt zu widersetzen und auf freier Selbstbestimmung über ihren Körper zu beharren. Eine positive und entspannte Einstellung kann unter einem solchen Zwang nicht erwartet werden. Die Erfahrung mit dem Stillen fällt in diesem Beispiel negativ aus, nicht nur wegen leiblicher Sensationen wie Schmerz und dem Empfinden eines aufdringlichen Saugens, sondern vor allem in Bezug auf das Gefühl, einem ›animalischen‹ Vorgang ausgeliefert zu sein, ein Gefühl, das in einem bestimmten Augenblick eine heftige Abwehrreaktion hervorruft, die das Ende der Stillbeziehung bedeutet. Dieses Gefühl überkommt die Mutter nicht etwa beim Stillen selbst, also im Verein z. B. mit einem Schmerz oder einer unangenehmen Interaktion mit dem Baby, sondern in dem Moment, wo die Stillende ihrer eigenen Milch ansichtig wird und 577

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

erkennt: Es ist ihr Körpersekret, das aus dem Mund des Kindes läuft. Jetzt erst fühlt sie sich als »Kuh«, als das Milch gebende Tier, und ist von Ekel, Schauer, Entsetzen ergriffen, sie weicht zurück und verweigert die Brust. Das Verweigern oder sonstige Aussetzen des Stillens zieht, wie in dem Beispiel angeführt, Konsequenzen für den Leib der Mutter nach sich, der qua Natur die Milch hervorbringt. Die Laktation ist ein leiblicher Vorgang, der sich nicht durch einen Willensakt beseitigen lässt; es handelt sich um Unverfügbares, das sich nach einer Geburt am Leibe ereignet und selbst unter Medikation nicht problemlos hinwegzwingen lässt. Sich die Milch ›wegspritzen‹ zu lassen, bedeutet einen Eingriff mit vorübergehenden Folgen für das leibliche Wohl. Das muss freilich nicht immer so dramatisch sein wie im zitierten Beispiel, kann aber Spannungen und Schmerzen in den Brüsten, eventuell Entzündungen nach sich ziehen. Die von der zitierten Frau anschließend in den Brüsten gespürten »Klumpen« werden übrigens später Referenten einer Angst vor Brustkrebs. Dass das Stillen als weibliche Körperpraxis im Spektrum diskursiver Zuschreibungspraktiken und patriarchalischer Interpretationen keine Tabula rasa ist, dürfte mit Bezug auf die bereits erörterten Kolonisierungsversuche des weiblichen Leibes ohne weitere Ausführungen deutlich sein. Die historische Tatsache, dass Frauen mit der Laktation Geld verdienen konnten, wenn auch sehr wenig, und zwar als Amme, mögen uns heute wie Relikte einer fernen Vergangenheit anmuten (der Beruf bzw. Nebenberuf der Amme ist seit der Entwicklung der Ersatzmilch so gut wie ausgestorben). Sie verweist aber auf die im 17. und 18. Jahrhundert nicht nur in aristokratischen und bürgerlichen Gesellschaftsschichten weit verbreitete Praxis, die Kinder nicht selbst zu stillen, sondern in ihrer ersten Lebenszeit der Obhut einer Fremden zu überlassen, die sich meist der gesamten Säuglingspflege widmete. Dass viele Frauen über einen langen historischen Zeitraum nicht selbst stillten, ist wohl weniger auf die Argumentation zurückzuführen, diese Frauen hätten dafür keine Zeit gehabt oder seien von medizinischen Diskursen infiltriert gewesen. Die Gründe hierfür sind vielmehr in der Stellung des Kindes und der Bedeutung der Kindheit zu sehen, die erst im 18. Jahrhundert allmählich als das anerkannt wurde, was für uns heute selbstverständlich ist und schließlich zur »modernen Familie« führte, die von Zärtlichkeit und Intimität zwischen Eltern und Kindern getragen ist. Aus jener historischen Grundeinstellung zum Kind resultierten Umgangsformen mit Kindern, die uns heute egoistisch oder gleichgültig, kalt oder gar brutal anmuten und die sich u. a. in der Weigerung von Müttern äußerte, selbst zu stillen, obwohl die häufig bereits kurz nach der Geburt außer Haus gebrachten Säuglinge keine guten Über578 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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lebenschancen hatten. Freilich wurden Frauen in gehobenen Gesellschaftskreisen als unwürdig für die ›animalische‹ Aufgabe des Säugens angesehen, jedoch geht, wie Badinter (1991) ausführt, diese Haltung auch mit einem selbstbezogenen bzw. ›frauenemanzipierten‹ Lebensstil vor allem der Städterinnen einher, für den ein Kleinkind nur allzu lästig war. Die in den 1950er und 1960er Jahren in unseren Breiten betriebene Propaganda, die darauf zielte, Babys von der Brust auf industriell gefertigte Babynahrung umzustellen und Mütter vom Stillen ab- und zum Zubereiten der Ersatzprodukte anzuhalten, bediente sich neben dem vermeintlichen Gesundheits- und Sättigungsargument u. a. auch des Vorstellungskomplexes »Unabhängigkeit« bzw. »Freiheit« und war bei der Zielgruppe der bürgerlichen und gehobenen Gesellschaftsschicht besonders erfolgreich, während die unteren sozialen Schichten schon allein deshalb nicht so stark infiltriert wurden, weil sie als weniger zahlungskräftige Kundinnen nicht attraktiv waren. So haben Frauen der unteren sozialen Schichten ihre Kinder sehr häufig selbst gestillt, waren aber früher noch dazu bereit oder wirtschaftlich gezwungen, die Milch mit anderen, fremden Kindern zu teilen. Gleichwohl ist in den letzten Jahrzehnten, namentlich seit Bekanntwerden der Bedeutung des Stillens für Mutter und Kind, die Stillbereitschaft in allen Schichten angestiegen. Die Länge der Stillperiode ist aber nach wie vor sowohl intra- als auch interkulturell sehr unterschiedlich.

15.5 Das Abstillen Kehren wir nun von der sozialgeschichtlichen Situierung der Laktation wieder zum leiblichen Vorgang des Stillens zurück. Die Stillbeziehung stellt wie Schwangerschaft und Geburt eine Phase des Übergangs dar: Sie hat ihren Anfang nach der Geburt, zieht sich mehr oder weniger lange hin und geht irgendwann zu Ende. Erstgebärende werden in der Laktation mit neuen, bislang völlig unbekannten körperlichen Funktionen konfrontiert, in die sie sich hineinzufinden haben. Je nach Dauer der Stillzeit ändert sich die spezifische Ausrichtung und ihr Erleben. Mutter und Kind, die sich zunächst als ›Fremde‹ gegenüber treten, gewöhnen sich aneinander und im Verlauf der Stillbeziehung stellen sich Säugling und Stillende aufeinander ein. Während es anfänglich vielleicht immer wieder einmal zu spontanem Milchaustritt kommt, orientiert sich die Milchbildung in der Regel recht bald an den Bedürfnissen des Säuglings, so dass die Interaktionen mit der Zeit harmonischer werden. Die Stillsituation verliert alsbald den 579

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Charakter des Neuen und geht in routinierte Alltagspraxis im Erlebnisspektrum von Genießen und Überdruss über. Das Wachstum des Kindes bedingt sein Schwerer-Werden und beides wiederum Anpassung vonseiten der Mutter hinsichtlich Stillhaltung und -dauer. In unseren Breitengraden ist es eher ungewöhnlich, wenn eine Mutter ihr Kind ein ganzes Jahr lang stillt. In dieser Zeit sind die Veränderungen des Kindes in Bezug auf seine körperlichen Fähigkeiten noch vergleichsweise gering, es bleibt noch einer leiblichen Anwesenheit im Raum verhaftet, die es selbst nicht oder kaum verändern kann. Das passiv an einem Ort verharrende Kind wird von der Mutter aufgenommen und an die Brust gelegt. In anderen Kulturen, wo die Kinder beispielsweise noch bis ins dritte Lebensjahr hinein gestillt werden, kommt es aber vor, dass das Kind, wie übrigens im Tierreich weitgehend üblich, sich eigenmächtig ›die Brust nimmt‹, es bewegt sich selbst zur Mutter hin und bemächtigt sich im Wechsel von Bedarf, Nachfrage und Erlaubnis der Brust. Ein solches Kind hat bereits seine Milchzähne und wird u. U. bereits seit einiger Zeit zugefüttert, ist also nicht auf die Muttermilch als einzige Nahrungsquelle angewiesen, und das ›Aufsuchen‹ der Brust verliert sich mit der Zeit relativ undramatisch für beide Beteiligte. Es versteht sich von selbst, dass der Stillvorgang in seiner zeitlichen Ausdehnung Veränderungen unterworfen ist und dass er zu einem unbestimmten Zeitpunkt ein Ende nimmt. Das Ende der Stillbeziehung ist, wenn nicht Wille und Zwang walten, ein unverfügbares, sowohl vonseiten der Mutter als auch vonseiten des Kindes. Es mag sein, dass sich ein Kind selbst entwöhnt, es mag sein, dass die Mutter irgendwann nicht mehr über ausreichend Milch verfügt und dem Speisebedürfnis des Kindes gemäß zufüttern muss, es mag sein, dass beides zusammenfällt und sich Mutter und Kind gemeinsam voneinander ›entwöhnen‹, es mag aber auch sein, dass die Mutter nach einem lange zuvor festgelegten Plan oder einem Impuls des Willens oder aber aus situativen Zwängen, wie dem Arbeitsleben, dem Druck der Mitmenschen oder einer Mischung dieser und anderer Komponenten, in das Stillverlangen des Kindes und die leibliche Bereitschaft zur Durchführung des Stillvorhabens eingreift und zu Methoden und Techniken greift, um das Kind von der Brust zu entwöhnen. Margit Roth (zit. nach Lothrop, 1994, 137) von der La Leche League schreibt: »Das Abstillen ist eine ganz wichtige Zeit. So wie das Kind dabei lernt, sich langsam von der Mutter zu lösen (und nach Bedarf wieder zu ihr zurückzufinden), so lernt auch die Mutter, sich von ihrem Kind zu lösen. Die Gefühle, die sich dabei entwickeln, können durchaus zwiespältig sein. Zu merken, daß die schöne Zeit dieser ganz besonderen Zweisamkeit zu Ende geht, ist nicht immer einfach, so sehr man

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sich auch auf ein bißchen mehr Unabhängigkeit freuen mag. Wenn es uns gelingt, mit einem lachenden und einem weinenden Auge von der Stillzeit Abschied zu nehmen, so dürfen wir stolz darauf sein.«

Auf die Frage, wie lange ein Kind gestillt werden ›soll‹, gibt Lothrop (1994, 137) keine Antwort durch Angabe von Monaten, wie üblicherweise im Normierungsversuch durch den medizinischen Diskurs (z. B. mindestens 6 Wochen, gut wären 6 Monate, danach sollte man zufüttern), sondern die klare, auf Interaktion und Gefühlsbasis beruhende Empfehlung: »Solange Mutter und Kind Freude daran haben.« D. h., wenn einer der Partner diese Zweisamkeit »nicht mehr will, ist der Zeitpunkt gekommen, abzustillen« (ebd.). Idealerweise geschehe dies im »Einvernehmen von Mutter und Kind«, aber was bedeutet das? Eine natürliche Lösung besteht z. B. darin, dass die Mutter das Kind sich selbst abstillen lässt, dass sie also spürt und auch respektiert, wenn das Kind sich abstillen möchte. In diesem Fall hat sich die Mutter darauf einzustellen, dass sie vielleicht viel kürzer stillt oder, dass sie gegebenenfalls viel länger stillt als ihr selbst recht ist, was erheblichen Einfluss auf ihren Lebensentwurf hat. Die andere, in unserer Kultur am häufigsten anzutreffende Praxis ist das Abstillen durch die Mutter qua Entscheidung, mit der allerdings, so Lothrop (ebd., 138), umsichtig zu verfahren ist: »Abruptes Abstillen kann bei einem Kind zu depressiven Reaktionen führen, es kann aber auch für eine Mutter ein tiefes Trauma werden, wenn z. B. das Abstillen aus medizinischen Gründen erforderlich ist. Je länger der Abstillprozess dauert, desto besser für das Kind, desto besser auch für die Brust der Frau, die sich allmählich zurückbilden kann und die eventuell noch vorhandene Milch resorbiert.«

Die Entwöhnung des Kindes von der Mutter und der Mutter vom Kind, ob nun als natürlicher Prozess oder bewusste Entscheidung, ist weitgehend irreversibel und bedeutet, in vielerlei Hinsicht Verantwortung zu übernehmen, und zwar gegenüber dem eigenen Leib, weil dieser das Abstillen zu erleben hat, und gegenüber dem Kind, weil nicht nur für seine Ernährung anderweitig, nun nicht mehr ausschließlich von der Mutter, gesorgt werden muss, sondern auch, weil bei einem weiterhin nach der Brust verlangenden Kind trostspendende Disziplinierungsmaßnahmen nötig werden. Diese Umstellung kann für beide Partner der Stillbeziehung mehr oder weniger drastische Folgen haben und kommt einer mehr oder weniger stark erlebten Verabschiedung gleich, für deren Verlauf die Psychoanalyse auf der Seite des Säuglings sogenannte Schlüsselerlebnisse ausfindig gemacht hat, ohne dabei aber die andere Seite, die der Mutter, in ihrem psychodynamischen Erleben gebührend einzubeziehen. Das Erlebnisspek581

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

trum von Konflikt, Unverfügbarkeit und Willensimpuls zeigt sich in folgendem Beispiel: »Weil das Chaos total war und weil ich mich nach fast sechs Monaten Stillzeit ausgenuckelt fühlte, beschloß ich, abzustillen. Doch auf halber Strecke packte mich das schlechte Gewissen. Ich verstand mich selbst nicht mehr, ich hatte mir vorgenommen, möglichst lange zu stillen, und jetzt dieser Egoismus. … Dann versuchte ich den Weg wieder zurückzugehen, wollte das Stillen wieder ausweiten. … Doch dieses war nicht mehr möglich.« (Reim, 1984, 18)

Deutlich werden hier situative Bedingungen – das ›totale Chaos‹, worauf immer sich das beziehen mag –, die im Verein mit dem Gefühl verbraucht zu sein, zu dem Entschluss abzustillen führen. Im Zuge des vermutlich mit entsprechend bekannten Techniken eingeleiteten Abstillens packt diese Frau das ›schlechte Gewissen‹ gegenüber den eigenen Vorsätzen. Was immer die psychologischen Hintergründe sein mögen, der Versuch, nach dem einmal eingeleitetem Abstillen zu einem früheren Zustand zurück zu kehren, scheitert an den Bedingungen des weiblichen Leibes und des Kindesleibes, dem Unverfügbaren dieser eigentümlichen auf leiblicher Interaktion beruhender Stillbeziehung. Das Abstillen qua Entwurf, also qua Entscheidung, ist ein bewusstes Abschiednehmen der Mutter vom Kind, das den Bedürfnissen des Kindes häufig zuwider läuft und mit entsprechenden Verhaltensweisen quittiert wird. Wie es ein erstes Mal beim Stillen gibt, setzen Mütter gelegentlich den ›Termin‹ der letzten Speisung selbst fest und erleben das Abschiednehmen, die Trennung zuweilen mit Trauergefühlen. So berichtet eine Frau: »als ich ihn dann das letzte Mal so dicht an meiner Brust hatte, musste ich doch heulen. Nun war ich austauschbar, es war unsere zweite Trennung.« (ebd., 150) Das Trennungserlebnis bzw. der Abschied von der Intimität des Stillens mag sich aber in Grenzen halten, wenn das Kind den Vorgang des Abstillens ohne weitere Schwierigkeiten akzeptiert und der leibliche Neubeginn der Mutter, der die Entwöhnung stets bedeutet, positiv konnotiert ist. Mit der körperlichen Unabhängigkeit gewinnt die Frau wieder mehr Verfügbarkeit über ihren Leib. »Nicht zu stillen hatte natürlich auch viele Vorteile. Ich brauchte nicht immer ›griffbereit‹ zu sein, konnte weggehen, wenn ich wollte, meine Brüste würden kleiner werden, ich könnte mich besser bewegen, ohne daß ständig Milch rausschießt.« (ebd., 168) »Nach drei Wochen war ich fertig mit dem Abstillen. Ich konnte es kaum fassen, keine Milch mehr zu haben, es war unglaublich schön! Vor allem das Durchschlafen.« (ebd., 169)

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Laktation

Hier wird das Ende der Stillbeziehung mit Erleichterung aufgenommen. Die Entlastung durch Andere bedeutet eine enorme Regenerationsmöglichkeit für die Mutter. Auch die Integrität ihres Leibes erfährt eine Veränderung, da die Brüste, ohne in unmittelbarer Resonanz zu einem fremden Leib zu stehen, wieder zur Ruhe kommen. In der Stillbeziehung liegt eine besondere Intensität, die für die Dauer der Stillperiode das gesamte Leben sowie vorher und nachher dauerhaft den Leib der Frau verändert. Das Leben mit dem Kind ist für eine Stillende deutlich unterschieden von dem die Flasche oder den Brei zubereitenden Dritten. Die enge leibliche Kommunikation mit dem Kind kann, da sie nicht vorwiegend auf Willensimpulsen beruht, sondern allzu oft von unfreiwilligen Regungen bestimmt ist, auch als Diktat erlebt und der ständig zwischen ab- und zunehmender Fülle sich bewegende, gelegentlich mit spontanem Austritt erfolgende Milchfluss als leibliche Autorität empfunden werden. Selbst die notwendige verstärkte Zufuhr von Flüssigkeit mag lästig sein – eine Stillende ist typischerweise ständig durstig. Viele Frauen spüren auch, dass ihnen tatsächlich etwas, in einem durchaus materiellen Sinne, aus der Brust ›genommen‹, herausgesaugt wird, das sie durch eigenes Trinken wieder ›aufzufüllen‹ meinen. Nach dem Abstillen findet die Mutter also wieder zu sich selbst zurück, lebt quasi wieder alleine in ihrem Körper, ohne dass ihr Kind diese besonderen Attraktionen und Sensationen an den Brüsten hervorrufen könnte. Es handelt sich um die Wiedererlangung von Freiheit und Unabhängigkeit, denn Schwangerschaft, Geburt und Laktation halten den weiblichen Leib in einem Zustand zunächst unausgesetzter und sich schließlich verflüchtigender Abhängigkeit von einem Anderen, der spätestens mit den Kindsbewegungen seinen eigenen Willen demonstriert und frühestens mit dem Ende des Stillens seinen unmittelbaren Einfluss auf den Körper der Mutter verliert. Häufig und vor allem in unserer Kultur bietet das Abstillen die erste realistische Möglichkeit, sich von den Strapazen dieses gesamten leiblichen Zustands des ›Kinderkriegens‹ zu regenerieren: »Rückblickend möchte ich noch einmal verdeutlichen, daß durch ein Kind alles, aber auch alles aus dem Lot gerät. Durch den Kraftakt der Geburt, die vielen Unsicherheiten in der neuen Verantwortung, die körperliche Erschöpfung und durch die ständigen Forderungen, die ein Neugeborenes rund um die Uhr stellt, war ich kaum fähig, mich anderen Aufgaben zu stellen. Der Haushalt blieb liegen, Sexualität und Partnerschaft waren lange Zeit für mich völlig abgeschrieben. Konzentrationsschwäche, Formulierungsschwierigkeiten und ständiger Streß plagten mich. Erst durch das Abstillen (noch einmal würde ich sicher nicht so lange stillen) und

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

durch die Wiederaufnahme meiner Berufstätigkeit kam ich aus meinem persönlichen Tief heraus.« (Reim, 1984, 19)

Andere Frauen wiederum erleben das Stillen als besonders positive, durch Wollust, Behagen und Wonne geprägte leibliche Interaktion mit dem Kind und leiden unter dem Ende der Stillbeziehung, wenn das Kind sich z. B. selbst entwöhnt oder die Milchbildung in den Brüsten versiegt, ohne dass die Mutter ihrer Einstellung gemäß dazu bereit wäre: »Schade! Ich versuche mit Macht, das Stillen aufrechtzuerhalten, aber mein Körper hat seine eigenen Gesetze, nicht zu beeinflussen. … Für mich war die Zeit des Abstillens eine sehr kritische Phase. Ich war in dieser Zeit sehr gereizt, kaum ansprechbar, meist in mich gekehrt. … Eine Zeit, die ich wie eine ›Abnabelung‹ empfunden habe. … Ich bin in dieser Zeit ganz schön durchgehängt …« (ebd., 109 f.)

Hier beherrscht das Trennungserlebnis die Mutter im Zwiespalt zwischen dem Willen und der Unverfügbarkeit des Leibes. An diesem und anderen Beispielen zeigt sich eine Asymmetrie, die eine auf ihr Ende zulaufende Stillbeziehung begleiten kann, hinsichtlich der leiblichen Bereitschaft zum Stillen, die nicht immer vom Säugling aufgegriffen wird oder umgekehrt vom leiblichen Verlangen des Kindes, gestillt zu werden, das die Mutter, beispielsweise aufgrund versiegender Milch, nicht mehr befriedigen kann. Laktation ist wie die Gravidität ein Zwischenzustand einer innigen Leibesgemeinschaft, der auf sein Ende zuläuft. Unzeitgemäßes Abstillen kann sowohl bei der Mutter wie auch beim Kind zu Verstimmungen führen, ein Beleg für den Einfluss der Stillbeziehung auf das Wohlbefinden beider Beteiligten an dieser eigentümlichen leiblichen Verbindung. Das natürliche Abstillen wird im Gegensatz zum Erlebnis des Milcheinschusses als allmähliches Weicher- und Leichter-Werden der Brüste, aber auch als Engung wahrgenommen. Die weibliche Brust macht, wie Lothrop (1982, 147) ausführt, »durch eine Schwangerschaft und im Verlauf der Stillzeit große Veränderungen durch«: »Eine Vergrößerung der Brust gehört zu den ersten Anzeichen einer Schwangerschaft. Größer denn je, hart, voll und gespannt ist die Brust 2 oder 3 Tage nach der Geburt, wenn die Milch einschießt, danach wird die Brust weicher. In den ersten 2 bis 3 Monaten der Milchbildung wird der Busen weiterhin größer sein als vor der Schwangerschaft, aber nach 8 bis 12 Wochen werden die Brüste wieder ihre Normalgröße bekommen.«

Erst danach, wenn also auch diese ganzen Veränderungen, die sich mit dem Abstillen oder der Entwöhnung ergeben, abgeschlossen sind, ist der weibliche Leib wieder er selbst, wenn auch verändert, denn durch die verschiedenen mit der Mutterschaft verbundenen Leiberfahrungen hat sich 584

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Laktation

mit dem Leib auch der sicht- und tastbare Körper verändert, was für viele Frauen unserer Kultur ein Problem ist. Lothrop (ebd.) schreibt zu den Ängsten, die Frauen im Hinblick auf ihren Busen und das Stillen haben: »Die Angst vieler Frauen, besonders wenn sie schon vorher einen großen Busen hatten, daß ihre Brust durch das Stillen noch größer und schwerer wird, vielleicht sogar ein ›Hängebusen‹ entsteht, ist unbegründet. Zu einem ›Hängebusen‹ kommt es viel eher, wenn man zu schnell abstillt oder überhaupt nicht gestillt hat, der Körper sich also umsonst 9 Monate auf das Stillen vorbereitet und entsprechend verändert hat. Direkt nach einer längeren Stillzeit ist die Brust meistens kleiner als vorher. Durch die Ausdehnung der Milchgänge wurde Fettgewebe teilweise ersetzt. Erst nach einiger Zeit wird dieses Fettgewebe, das der Brust ihre ursprüngliche Form gab, wieder angesetzt. Manche Frauen mit vorher großem Busen machen jedoch auch die Beobachtung, daß ihre Brust nach dem Stillen kleiner bleibt als sie es vor der Schwangerschaft war.«

In den formulierten Ängsten zeigt sich erneut, wie in den diskursiv erzeugten Stereotypen des weiblichen Busens natürliche Prozesse weiblicher Leiblichkeit als Abweichungen sanktioniert sind und sicherlich in unsachlichen Vorstellungen und medial vermittelten Idealbildern großen Einfluss auf das Stillverhalten der westlichen Bevölkerung haben. Das Ende der Laktation, so leicht oder schwierig es für beide Beteiligten der Stillbeziehung sein mag, bedeutet keineswegs das Ende leiblicher Intimität, wohl aber das Ende einer besonderen weiblichen und kindlichen Leiberfahrung. Ältere Kinder wissen nicht mehr, wie das Saugen an der Brust funktioniert, eine Fähigkeit, die nach der Entwöhnung verlernt wird; das Baby weiß also nach dem Abstillen mit der weiblichen Brust nichts mehr anzufangen. Ein über das Stillen hinausgehender leiblicher Dialog muss dagegen nicht genuin weiblich sein; das Wiegen auf dem Arm, das beruhigende Umhergehen und die Pflege konnten vorher bereits Formen leiblicher Intimität zwischen dem Kind und einer dritten Person sein. Nach dem Abstillen besteht, dem leiblichen Kontakt nach, grundsätzlich kein Unterschied mehr zwischen der Mutter oder anderen Bezugspersonen. Dennoch kann das Mutter-Kind-Verhältnis, speziell vonseiten der Mutter zeitlebens von einer besonderen Art des Erspürens wechselseitiger Befindlichkeiten geprägt sein. 5 5

So können Mütter geradezu telepathische Fähigkeiten in Bezug auf ihre Kinder entwickeln, was z. B. Geschichten von Soldatenmüttern dokumentieren, die den Tod eines in den Krieg gezogenen Sohnes lange vor der offiziellen Meldung erspürten, oder von Müttern, die eine schwere, nicht-sichtbare Erkrankung ihres Kindes erahnen, bevor sie medizinisch diagnostiziert wird.

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16. Klimakterium

»Der Ausfall der Menstruation zeigt, daß die Ovulation aufgehört hat; mit ihr hat die ganze glandulare Körpermaschine in ihrer Tätigkeit ausgesetzt, beziehungsweise im Sinne des Abbaues dieselbe verändert. Die Genitalorgane atrophieren und der übrige Körper zeigt die allmählich eintretenden Altersveränderungen. Diese Phase des weiblichen Lebens wird ›Menopause‹, ›Klimakterium‹ genannt, im weiteren ›change of life‹, ›kritische Jahre‹. ›Kritisch‹ in der Tat, und welchen Einfluß auch die Änderung der hormonalen Tätigkeit auf das ganze psychosomatische Verhalten ausüben mag, es unterliegt keinem Zweifel, daß die Bewältigung der psychologischen Reaktionen auf den einsetzenden Abbau der organischen Lebensvorgänge zu den schwersten Aufgaben des ganzen weiblichen Daseins gehört.« (Deutsch, 1995, Bd. 2, 310)

Vom Klimakterium sind Frauen bereits betroffen, bevor sie im leiblichen Sinne zu Betroffenen werden, da sie einem Konglomerat diskursiver Besetzungen über jene ach so kritische Lebensphase ausgesetzt sind, die nicht nur bei Deutsch im psychologisch-medizinischen Horizont, sondern auch in den ebenso primitiven wie subtilen Spiegelungen moderner Werbung als Krankheit, als nur schwer zu vermeidendes, aber zumindest – je nach Geldbeutel – beeinflussbares Übel präsentiert wird. Im Zuge der Aufklärung während der Menarchephase und in der Konfrontation mit dem hygienischen Imperativ mag manche Jugendliche vielleicht jene Zeit herbeisehnen, wenn Menstruationen keine Rolle mehr spielen, wenn sie wieder in einen Zustand wie vor der Menarche tritt, also immerhin mindestens ein Lebensjahrzehnt, ohne jene Lästigkeit mitzuführender Hygieneartikel, ohne Grummeln und Ziehen im und Wärmflaschen auf dem Bauch, ohne Kalenderführung etc. Diese Vorstellung mag unter dem ungeheuren Eindruck der ersten Menstruationen etwas beruhigendes und besänftigendes haben und jede überstandene Menses mag dem Mädchen noch als ein Heranrücken an den menstruationslosen Zustand vorkommen. Doch diese Vorstellung verflüchtigt sich mit der Gewöhnung an das ›Allmonatliche‹; der menstruationslose Zustand scheint unendlich weit entfernt, bis mit vorrückendem Alter das ›Schreckgespinst‹ der Wechseljahre in das Leben wohl jeder Frau unserer Kultur ›hereinbricht‹. 586

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Klimakterium

16.1 Die körperlichen Veränderungen Unter dem Klimakterium ist nicht das Resultat, der ›menstruationslose‹ und damit dauerhaft und unwiederbringlich unfruchtbare Zustand gemeint, sondern jener Übergang zwischen den beiden großen weiblichen Lebensphasen der Fruchtbarkeit und der Unfruchtbarkeit, der eine Art Zäsur setzt. Das Wie und Wann dieser erneuten und wohl letzten rite de passage des weiblichen Leibes ist der Unverfügbarkeit anheim gestellt, in ähnlicher Weise wie das zu Beginn der Menstruationen der Fall war. An die Menarche und die ersten Menstruationen muss sich das Mädchen erst einmal gewöhnen, sie sind zunächst ein Ausnahmezustand, der mit leiblichen Regungen und Sensationen durchsetzt ist, in den es sich hineinleben und dessen lebenspraktische Seite es erlernen muss. Die durch jahrzehntelange Einübung und Gewöhnung in ihrem Menstruieren routinierte ›reife‹ Frau sieht sich im Übergang zur Menopause nun der Tatsache gegenüber, dass die Menstruationen nicht mehr in der bekannten Regelmäßigkeit auftreten, dass die zyklische Routine, die spezifische Zeitlichkeit des blutenden Leibes zerfasert. Die Rhythmik des Blutes setzt aber in der Regel nicht ›einfach‹ aus, so wie sie bei der Menarche ›einfach‹ einsetzte, sondern vollzieht sich vielleicht mit größeren oder kleineren Abständen, möglicherweise mit Schmier- und Zwischenblutungen, mitunter mit anderen Konsistenzen, mit anderen leiblichen Begleiterscheinungen. Es mag auch sein, dass die Rhythmik des Blutes zwar relativ konstant bleibt, aber wesentlich weniger Blut fließt, bis es sich schließlich auf wenige Tropfen und vereinzelte Nässespuren reduziert und dann gänzlich verliert. Die Variationsbreite dieser Unregelmäßigkeiten ist individuell sowohl der jeweiligen Auftrittsart wie auch der Dauer nach sehr verschieden, ebenso das Konglomerat damit verbundener leiblicher Regungen. Auf den Menstruationsrhythmus ist meist kein Verlass mehr; Phänomene wie der prämenstruelle Spannungszustand bleiben aus oder verstärken sich. Die Frau wird aus den für so lange Zeit üblichen Gezeiten ihres Leibes heraus- und in einen anderen u. U. zunächst diffusen Rhythmus hineingetrieben, ohne dass sie darauf Einfluss hätte. Die Konsistenz und Menge des Blutes verändert sich, sowohl im Bereich der Sicht-, Tast-, und Riechbarkeit als auch in dem, was gespürt wird, wenn es herausfließt, wenn das Blut mit einem warmen Strom hervorquillt und sich die – vielleicht nicht mehr so voluminöse – Nässe am Genital breit macht. Dies alles hat schon im praktischen Sinne einen außerordentlichen Einfluss auf das Leben der Frau. Der zerfasernde Menstruationskalender bedingt, dass die Frau nicht mehr nur zu gewissen Zeiten mit Hygieneartikeln zu tun hat, sondern 587 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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diese u. U. ständig bei sich tragen muss, weil Blutungen unerwartet, mitunter sehr stark oder aber sehr schwach, auftreten. Das mag besonderer Aufmerksamkeit bedürfen oder aber eine hygienische Krise auslösen, ähnlich wie sie von vielen westlichen Mädchen zu Beginn der Menstruationen erlebt wird. In der Menarchephase sind die Menstruationen noch nicht sehr regelmäßig, in der Übergangsphase zur Menopause werden sie wieder unregelmäßiger, bis sie mit einem Mal aussetzen, aber u. U. nach einigen Monaten wieder für kurze Zeit auftreten. Dieser Prozess des leiblichen Übergangs kann sich lange oder kurz hinziehen, mag eine Frau mehr oder weniger stören oder ihr lästig sein und macht mitunter besondere Vorkehrungen in der Verhütungspraxis nötig, weil z. B. eine Eisprung-Diagnostik schwieriger wird. Das Ende dieser Entwicklung ist der ›menstruationslose‹ Zustand, ein Zustand, der vor der Menarche und für jede Schwangerschaft vorübergehend ›normal‹ war, der aber mit der Menopause endgültig ist und damit die vielbeschworene Hygienefrage und die für Frauen so wichtige Verhütungsfrage ein für alle Mal erledigt. Die Frau tritt also in einen leiblichen Zustand ein, der ihr die Zugehörigkeit zur Geschlechtergruppe ›Frauen‹ nicht allmonatlich zur Anschauung und zum Spüren bringt und der sie von Schwangerschaft ausschließt. Das bedeutet die erhebliche ›Entbindung‹ von spezifischen Körperpraxen und Fixierungen auf leibliche Erfahrungen. Darin Befreiungspotenziale für das weibliche Existieren zu sehen, fällt allerdings vor dem Hintergrund eines Diskurses um den weiblichen Leib, der schon die Menstruation als ›Reproduktionsabfall‹ klassifiziert und Fruchtbarkeit hypostasiert und der sexuelle Praxis und Attraktivität vorwiegend für junge Frauen vorsieht, schwer. Etwa 100 Jahre nachdem Frauen aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung überhaupt in den ›Genuss‹ von einem, zwei oder mehr Jahrzehnten des menstruationslosen Leibes kommen, ist dieser bereits umfangreich pathologisiert und ein sehr lukratives Geschäft für verschiedene Industriezweige. Über das, was auf der körperlichen Ebene geschieht, wenn die Frau sich in diesem Übergang befindet, herrscht weitgehende Unkenntnis. So schreibt Greer (1991, 13): »Die gewaltige Flut an Veröffentlichungen über die Menopause steht in krassem Gegensatz zu der Tatsache, daß die wahren Vorgänge noch völlig unverstanden sind. Niemand weiß, weshalb der Eisprung ausbleibt, nicht einmal, wann er ausbleibt oder welche Symptome darauf und nicht aufs Altern zurückzuführen sind; ebenso wenig ist bekannt, ob jüngere Frauen die Menopause leichter durchstehen als ältere. Hinsichtlich der Wechseljahre lassen sich keine Vorhersagen treffen, keine Risikofaktoren benennen, keine Präventivmaßnahmen ergreifen. Jedes Jahr kommen zum Klimakteriumssyndrom neue Symptome hinzu, während andere wegfal-

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Klimakterium

len. Wir haben die Involutionsmelancholie verloren und die autogene Dysregulation hinzugewonnen.«

Es handelt sich also um eine Wandlung, die kaum vorhersagbar und kontrollierbar ist. Das Klimakterium besteht abseits der sozio-kulturellen Kodierung und mit Blick auf das Geschehen an Körper und Leib lediglich im allmählichen Schwinden der Menstruationen, jener Ausscheidungen, die so vieler lebenspraktischer Umstände bedürfen und die als spezifische Gezeiten den weiblichen Leib periodisch ›befallen‹. Dieser Übergang wird natürlich gespürt, auch in seiner Unverfügbarkeit, dem Entgleiten des leiblichen Blut-Rhythmus. Er hat lebenspraktische Konsequenzen, die aber mit der ›letzten‹ Lebensmenstruation ausgeräumt werden, wobei zunächst nicht sicher ist, wann es sich tatsächlich um die ›letzte‹ Menstruation handelt. Der Wechsel ist häufig, aber nicht immer mit leiblichen Regungen und Sensationen verknüpft. Dass das Klimakterium jedoch eine »Zeit der Bestandsaufnahme« und der geistigen Auseinandersetzung ist, wie Greer (ebd., 12) behauptet, halte ich für einen Teil jenes Mythos, der um die Bedeutung der Menstruation konstelliert ist und der sowohl das Menstruieren wie auch das Nicht-Mehr-Menstruieren einem rigiden Diskurs unterstellt. Es mag sein, dass es irgendwann einmal im Leben jedes Individuums eine Auseinandersetzung mit Altern und Sterben gibt, vielleicht geben muss, diese aber qua Natur mit einem körperlichen Vorgang zu verknüpfen, ist Auswirkung eines Diskurses, der einen ganzen Symptompool ›subjektiver Körperbeschwerden‹ wie auch ›psychologischer Erscheinungsweisen‹ hervorgebracht hat. Wenn sich die Frau in den Wechseljahren mit dem Altern, mit ihrer Rolle als Frau und mit ihrem Körper verstärkt auseinandersetzt, muss das nicht in Referenz zu körperlichen Veränderungen und irgendwelchen leiblichen Phänomenen stehen und kann sowohl positiv als auch negativ erlebt werden. Hinsichtlich der unabweisbaren körperlichen Veränderungen, insbesondere dem Schwinden der Menstruationen, ist wie beim Eintritt in die Zeit der Menarche und der ersten Menstruationen das Wissen von eklatanter Bedeutung. Eine Frau, die nichts davon weiß, dass sich ihre Menstruationen nicht lebenslang fortsetzen, wird ihr Unregelmäßig-Werden und Aussetzen vermutlich als Krankheit auffassen und entsprechend mit Sorge oder Schrecken reagieren. Meist haben Frauen jedoch ein von der Gesellschaft präpariertes ›Wissen‹ um die Wechseljahre und mögen, wie bei der Menarche, ihr Eintreten mit Hoffen und Bangen erwarten oder aber, beim allzu frühen und damit unerwarteten oder allzu späten und damit womöglich ersehnten Eintritt wiederum als krankhaft erleben. In 589 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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jedem Fall steuert dieses Wissen das Erleben des eigenen Leibes mit, und zwar einerseits im positiven Sinne, indem bestimmte Symptome als völlig normal angesehen und Verunsicherungen vermieden werden können, und andererseits im negativen Sinne, indem mit einer tendenziösen Darstellung der Wechseljahre das ›Schreckgespinst‹ einer Krankheit evoziert wird und bestimmte Symptome hochstilisiert und dem Druck einer Medikation ausgesetzt werden. Die Frau befindet sich also in jenem von der jeweiligen Kultur festgelegten wahrscheinlichen Lebensalter des Klimakteriums in einer Art Erwartungshaltung hinsichtlich ihres persönlichen Erlebens und eines möglicherweise anstehenden Wandels. Sie wird in der Regel nicht von den Veränderungen im Klimakterium ›überfallen‹, sondern richtet sich auf ihre Weise darauf ein, ohne freilich exakt zu wissen, worauf sie sich eigentlich einzustellen hat, denn wann und wie sie was im Klimakterium erlebt, bleibt ihr solange verschlossen, bis sie es am eigenen Leibe erfährt. In ähnlicher Weise sieht sich die Frau aber auch den Erwartungshaltungen ihrer Mitmenschen ausgesetzt, die ebenfalls unter dem Diktat eines rigiden Diskurses um die Wechseljahre u. U. dazu neigen mögen, bestimmte Verhaltensweisen oder Symptome als ›klimakterisch‹ oder gar ›hysterisch‹ und zwar meist im negativen Sinne zu interpretieren oder abzutun, ohne dass sie solche sein müssen bzw. ohne sie als mögliche Empfindungsqualitäten im Rahmen der subjektiven Betroffenheit entsprechend ernst zu nehmen. In der Lebensphase des Klimakteriums können aber auch viele andere Veränderungen auf das Erleben von Frauen Einfluss nehmen, z. B. der Wegzug der Kinder aus dem Haushalt einer bürgerlichen Kleinfamilie, dass eine allzu pauschale Schienung im Hinblick auf typische Phänomene der Wechseljahre zu Missverständnissen führen kann. In Bezug auf den Körper wurden bereits die lebenspraktischen Umstellungen in der Phase des Übergangs, der Entgrenzung der leiblichen Gezeiten des Blutens beschrieben. Auf die Seite der leiblichen Regungen und Sensationen gehören hierzu freilich Veränderungen in den Empfindungen der mit den Menstruationen verbundenen Leibesinseln, also der Brüste und des Unterleibs. Zuvor erfahrene Spannungen in den Brüsten und Unterleibskrämpfe als Begleiterscheinungen der Menstruation mögen sich also in die eine oder andere Richtung hin verändern, vielleicht stärker, vielleicht schwächer werden, oder ganz aufhören. Die leiblichen ›Zeichen‹ des Menstruierens mögen sich u. U. nicht mehr so eindeutig manifestieren. Während eine Frau früher bestimmte Signale aus dem Inneren als ›Vorboten‹ der Menstruation erlebt hat, ist darauf womöglich kein Verlass mehr. Sie mag empfinden, dass ihr persönlicher ›Symptompool‹ des Blutens aus der Fassung gerät. Die Phase des Abschieds von einem regelmäßi590 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Klimakterium

gen Menstruationszyklus ist also nicht eine mit ausschließlich lebenspraktischen Dimensionen, sondern auch eine des Sich-Einrichtens auf andere leibliche Umstände und des Einmündens in eine neue leibliche Gesamtverfassung, die zunächst vage und diffus in Erscheinung tritt, bevor sie sich stabilisiert. Dieser Übergang bedarf für die einzelne Frau eventuell einer besonderen Aufmerksamkeit oder gar eines vorübergehenden Zurückziehens, in der sie sich mit diesen Prozessen auseinandersetzt, wofür allerdings in unserer an männlicher Körperlichkeit orientierten Gesellschaft keine Möglichkeit geboten wird. Die Hormonsubstitutionstherapie soll vielmehr dafür sorgen, dass das Klimakterium für andere möglichst unsichtbar und für die Frau selbst möglichst unspürbar bleibt. Zu dem Sich-Einrichten auf andere leibliche Umstände und Erlebensformen gehören neben den Veränderungen in der Erfahrung des Blutens verschiedene Regungen und Sensationen außerhalb des eigentlichen Menstruierens. Die zahlreichen Leiberfahrungen im Klimakterium werden häufig als ›Beschwerden‹ dargestellt und nehmen laut medizinischer Definition gelegentlich pathologische Züge an. Typische ›Beschwerden‹ in den Wechseljahren werden freilich nicht von allen Frauen erlebt und unterliegen kulturspezifischen Schwankungen. So erwähnt selbst der Brockhaus (2001), dass in Japan Wechseljahresbeschwerden nicht bekannt seien, »was zum Teil auf den hohen Verzehr an Sojaprodukten (enthält östrogenähnliche Substanzen) zurückgeführt wird, aber auch auf eine andere Einstellung zu diesem Lebensabschnitt«. Typische Wechseljahresbeschwerden in westlichen Kulturen sind als Erfahrungen des weiblichen Leibes, ganz gleich ob sie der Kultur oder der Natur verursachend zugeschrieben werden, aber ernst zu nehmen. Wie bei der Menstruation zielen medizinische und andere Studien auch beim Klimakterium häufig auf einen ›Beschwerdepool‹, der den körperlichen Vorgang von einer negativen Perspektive aus begreift und die Parameter für pharmakologische und psychologische Therapiekonzepte liefert. Immerhin ist die Zweite Berliner Menopausestudie aus dem Jahr 1996 darum bemüht, das Körpererleben in unterschiedlichen Perspektiven und einem komplexen Bedingungszusammenhang zu betrachten. Dazu gehört im Ergebnis die Analyse der Menopause als Erfahrung einer körperlichen Entlastung: Für 81 % der befragten Frauen war es eine große Erleichterung, keine Regelblutungen mehr zu haben und 90 % waren gegenüber der Tatsache, nicht mehr schwanger werden zu können und von Verhütungsmethoden befreit zu sein, positiv eingestellt. 1 Unter den klimakte1

Zu der kleinen Gruppe von 10 % bis 20 %, für die es im Klimakterium kein entlastendes

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

rischen Beschwerden wurden, wie Beate Schultz-Zehden (1998, 14) ausführt, »die Trockenheit der Scheide (30 %) und Harnwegsbeschwerden (34 %) am seltensten genannt, Leistungsminderung (68 %), Schlafstörungen (63 %) und Hitzewallungen (58 %) hingegen am häufigsten«. Zu psychischen Befindlichkeitsstörungen gaben 51 % eine erhöhte Reizbarkeit und Ängstlichkeit sowie 48 % depressive Verstimmungen in der Lebensphase des Klimakteriums an. Jedoch sollte, wie Schultz-Zehden (ebd., 15) zu Recht bemerkt, eine »erhebliche Aufmerksamkeit der großen Gruppe von Frauen geschenkt werden (ca. 40 %), die keine Beschwerden angegeben haben«. So hätte die Querschnittsstudie ergeben, dass 42 % aller Frauen keine Hitzewallungen erlebten. Weitere Auswertungen zeichnen ein anderes als das stereotypische Bild von der Frau in den ›kritischen Jahren‹. So scheint sich das Verhältnis der Frauen zu ihrem Körper eher zu intensivieren als zu verschlechtern: »50 % nehmen keine Veränderungen wahr. Wurde ein Wandel empfunden, dann eher zum Positiven hin. 37 % stellen eine positive Veränderung im Sinne einer Verbesserung an sich selber fest. Den Antworten wurde entnommen, daß die Beziehung zum eigenen Körper sich jetzt intensiver, aufmerksamer gestaltet, sich vertieft hätte, die Frauen liebevoller als in jüngeren Jahren mit ihrem Körper umgehen, mehr Zeit in ihn investieren, mehr in ihren Körper hineinhören und versuchen, mehr für ihr Wohlbefinden zu tun. Das positive Verhältnis drückt sich sowohl in einem intensiveren Körperbezug als auch in einem bewussteren Umgang mit dem eigenen Körper aus. … 13 % geben an, daß sich die Beziehung zum eigenen Körper verschlechtert hätte.«

Auch in Bezug auf die viel beschworene Attraktivitätseinbuße im Klimakterium hat die Studie unerwartete Ergebnisse gezeigt: 75 % haben eine Attraktivitätseinbuße aus ihrem subjektiven Empfinden heraus zurückgewiesen, 5 % waren sogar der Ansicht, »ihre Attraktivität hätte sich erhöht«, was Schultz-Zehden (ebd., 16) als »Indikator für das gestiegene Selbstbewusstsein der Frauen« wertet. Nach ihrem Weiblichkeitserleben befragt, zeigen sich noch höhere Prozentzahlen: »82 % aller Frauen erleben keine Einschränkungen in ihrer Weiblichkeit.« Dieser erstaunlich positive Befund steht im Widerspruch zu dem, wie Frauen das Bild der ›reifen‹ Frau in der Öffentlichkeit erleben. Von der Öffentlichkeit sehen sich immerhin 40 % der Befragten eher abgewertet. Hinsichtlich des ZusammenKörpergefühl gab, gehörten ungewollt kinderlose Frauen, gewollt kinderlose Frauen, die sich aus beruflichen oder ideologischen Gründen gegen die Mutterschaft entschieden hatten, Frauen mit unbefriedigender Lösung des Kinderwunsches und Frauen, die anlässlich der Menopause in eine Weiblichkeitskrise gerieten.

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Klimakterium

hangs zwischen dem Diskurs um die klimakterische Frau und dem subjektiven Empfinden ist im Ergebnis nicht erstaunlich, dass Frauen, »die dieses Gefühl ›abgewertet zu sein‹ angaben«, diejenigen waren, die auf der Menopause-Bewertungsskala »die höheren psychischen Beschwerden hatten« (ebd.). Der in der Studie belegte kumulative Rückgang sexueller Aktivitäten bei 57 % aller Frauen verweist ebenfalls auf psychosoziale Zusammenhänge. Statistisch signifikant waren hierbei der fehlende Partner, Qualitätsmängel in der Partnerschaft, psychische Beschwerden (z. B. depressive Verstimmungen), Schmerzen beim Geschlechtsverkehr infolge von Lubrikationsmangel. Für den Rückzug aus sexuellen Aktivitäten wurden aber ebenso Gründe beim Partner, Versandungsprozesse in der Partnerschaft, erhöhte Schamhaftigkeit und Lusthemmung durch sichtbare körperliche Alterungserscheinungen sowie internalisierte Wertvorstellungen genannt. Auf der Basis einer Clusteranalyse unterscheidet Schultz-Zehden vier Körperkonzepte von Frauen im Klimakterium: Körperakzeptanz (40 %), Körperunsicherheit (34 %), der gekränkte weibliche Körper (13 %) und der Körper als Last (13 %). Demographische Variablen hätten keine statistisch signifikanten Unterschiede ergeben, wohl aber hätten Frauen im Cluster 3 und 4 angegeben, ohne Partner zu leben, was u. a. die geringeren sexuellen Aktivitäten erklären könne; in Cluster 2 und 4 hätten mehr als die Hälfte der Frauen eine Hormontherapie erhalten. In einer Schlussfolgerung schreibt Schultz-Zehden (ebd., 20): »Es erscheint zunächst widersprüchlich, daß drei der vier Cluster Verunsicherungen in ihrem Körpererleben aufweisen, auf der anderen Seite die Frauen in den Satzergänzungen so nachdrücklich Veränderungen in ihrer Körperbeziehung, in ihrer Attraktivität und Weiblichkeit negierten. Auf dem Hintergrund einer eher erlebten gesellschaftlich abnehmenden Aufmerksamkeit kann man das als Wunsch und Appell der Frauen interpretieren, zukünftig ›angesehen‹ (im wörtlichen Sinne) zu bleiben und nach einem Ideal bewertet zu werden, wo man ›Schön-sein nicht mit Jungaussehen-zu-müssen‹ gleichsetzt.«

Die günstigste Klimakteriumsverarbeitung würden Frauen aufweisen, »die sowohl ihren Körper annehmen und wertschätzen konnten, und das war eng gekoppelt mit dem Selbstwertgefühl der Frau, als auch eine eher niedrige Körperaufmerksamkeit zeigten« (ebd.). Für die Behandlung klimakterischer Beschwerden fordert Schultz-Zehden (ebd.), »das Körpererleben und Körpergeschehen einer Frau ganzheitlich zu betrachten«: Es könne »als Ausdruck einer individuellen Biographie und ganz bestimmter Körpererfahrungen im Leben verstanden werden sowie als Ausdruck einer bestimmten Lebenssituation.« 593

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

Es kann hier nicht darum gehen, die gesamte individuelle und psychosoziale Umstellung im Klimakterium und in der Menopause sowie die Verarbeitungsstrategien und -varianten dieser auch von Leiberfahrungen getragenen rite de passage darzulegen. Im gesellschaftlichen Kontext wird dieser Übergangsphase ebenso wenig Rechnung getragen wie den beginnenden Menstruationen des Mädchens. Ich möchte aber auf zwei Erfahrungen aus dem ›Symptompool‹ klimakterischer Regungen und Erscheinungen eingehen, die neben der lebenspraktischen, im Verborgenen sich vollziehenden Einstellung auf unregelmäßige und schwindende Menstruationen durch Hygienevorsorge, den weiblichen Leib in der Erfahrung seiner Unverfügbarkeit in besonderer Weise betreffen, und zwar insofern sie in der relativen Örtlichkeit des Leibes spürbar werden. Gemeint sind die von vielen Frauen beschriebenen Hitzewallungen und spontanen Schweißausbrüche sowie die Veränderungen im Feuchtigkeitsmilieu des Genitals (Lubrikationsmangel) – Erfahrungen, die sich aufdrängen und Einfluss auf das Erleben haben können, nicht nur, weil sie einen selber betroffen machen, sondern auch, weil sie im Fall von Hitzewallungen öffentlich werden und damit Scham auslösen können und im Fall des sich verändernden genitalen Feuchtigkeitsmilieus im Zusammenhang mit partnerschaftlicher Sexualität stehen. Anne Fausto-Sterling (1999, 174) zufolge sind Hitzewallungen und vaginale Trockenheit »the only climacteric-associated changes for which estrogen unambiguously offers relief.« »Since significant numbers of women do not experience these changes and since for many of those that do the effects are relatively mild, the wisdom of estrogen replacement therapy must be examined carefully and on an individual basis. Both men and women undergo certain changes as they age, but Wilson’s catastrophic vision of postmenopausal women – those ghosts gliding by ›unnoticed and, in turn, notic[ing] little‹ – is such a far cry from reality that it is a source of amazement that serious medical writers continue to quote his work.«2

Zu den leiblichen Zeichen des Wechsels gehören laut Berliner Menopausenstudien für 58 % der Frauen sogenannte Hitzewallungen. Ähnlich wie bei den Wehen für Erstgebärende, verfügen Frauen zunächst über ein Konglomerat von Vorstellungen über Hitzewallungen, bis sie dann ins Erleben treten und als solche identifiziert werden. Vorformen bzw. abgeschwächte Formen solcher Hitzewallungen können freilich schon als ›normale‹ leibliche Regungen im Menstruationszyklus erfahren werden. Eine Wallung 2

Fausto-Sterling bezieht sich auf Robert Wilson, der 1963 in Publikationen alle postmenopausalen Frauen als Kastraten stigmatisierte und in Amerika für die Verbreitung der Hormonsubstitutionstherapie eintrat.

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ist, wie im Handbuch des Boston Women’s Health Book Collective (1981, 845) ausgeführt, »ein plötzliches Hitzegefühl, vor allem im Oberkörper. Oft bilden sich dabei rote Flecken auf der Haut. Eine Wallung dauert gewöhnlich einige Sekunden bis eine Minute und kann mit Schweißausbruch verbunden sein. Danach tritt oft ein Kältegefühl ein. Im Durchschnitt muss man mit vier bis fünf Wallungen am Tag rechnen; nachts sind sie häufiger und daher oft schlafstörend.«

Besonders charakteristisch an Hitzewallungen ist die Schnelligkeit und Plötzlichkeit, mit der sie den weiblichen Leib ›befallen‹, gleichsam ›anfliegen‹, wie der Begriff von der ›fliegenden Hitze‹ veranschaulicht. Es handelt sich also um eine spontane, impulsive Leiberfahrung, die allerdings in Belastungssituationen häufiger auftritt als unter entspannten Lebensbedingungen. Subjektiv beschreiben Frauen Hitzewallungen als Hitzegefühl, das sich in Wellen durch den Körper ›arbeitet‹, aber nicht etwa von den Füßen aufwärts und zurück, sondern gelegentlich vom Unterleib, aber auch von der Brust ausgehend, u. U. an Brust und Hals kurz verweilend, um dann ›zu Kopfe‹ zu steigen und von dort aus wieder in das gesamtleibliche Empfinden zu diffundieren bzw. sich in Nichts aufzulösen. Viele Frauen spüren gegen Ende einer Hitzewallung deutliche Hitze im Gesicht und eventuell sein Rot-Werden, was in öffentlichen Lebenssituationen Irritationen oder auch Scham hervorrufen und zu missverständlichen Interpretationen von seiten der Mitmenschen führen mag. Zurück bleibt meist das deutliche Empfinden des Schwitzens, des Schweißes beispielsweise auf der Stirn, aber auch am gesamten Körper, der allmählich abkühlt und trocknet. Dem Gefühl der Hitze folgt ferner ebenso häufig eine Kälteempfindung oder gar ein Frösteln, was auf einen schnellen Wechsel im Empfinden der ›Körpertemperatur‹, aber ebenso gut der spezifischen Wärme einzelner Regionen hinweist. Diese Hitzeempfindungen sind nun von anderer Art als etwa das Fieber und zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie spontan und plötzlich, ohne ›Vorwarnung‹ entstehen, einen Wellengang in der oberen Körperhälfte von unten nach oben nehmen, schließlich an Hals und Kopf ihre Krisis haben und ebenso plötzlich und spontan wie sie sich dem leiblichen Empfinden aufdrängten, aus demselben wieder entschwinden – alles in allem ein Vorgang von sehr kurzer Dauer, der sich aus dem Leiberleben heraushebt und wieder verflacht und verlöscht – ein Strömen und Wallen im Leib, das auch sichtbare Referenten hat, den Schweiß, das Rot- oder Fleckig-Werden des Gesichts oder des Oberkörpers, was Unbehagen hervorrufen kann. Schmerzhaft ist eine Hitzewallung jedoch nicht. Sie mag 595 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

als Erfahrung ungewohnt und neu sein, mag einzelne Leibesregionen vorübergehend besonders fokussieren und dort zu einem eigenartigen Empfinden von Kribbeln und Richtungen nehmenden Durchströmen führen, mag eine vermehrte Transpiration auslösen, aber sie tut nicht weh, was von Bedeutung ist, wenn man sie einem ›Symptompool‹ von angeblich therapiebedürftigen Beschwerden zurechnet. Hitzewallungen ›befallen‹ also durchaus dramatisch den Leib, müssen aber als Erfahrung nicht negativ sein, schon gar nicht in Richtung eines Schmerzes, auch wenn sie in der Regel nicht als angenehm empfunden und erst recht nicht so bewertet werden. Mediziner liegen sicher mit ihren endokrinologischen Erklärungen für das Phänomen der Hitzewallung richtig, was die Frau allerdings spürt, ist nicht die chemische Reaktion von Hormonen in ihren Drüsen, sondern wandernde, nach oben steigende Hitze, wie sie übrigens nicht selten auch in Anwandlungen des Verliebtseins und in erotischer Leidenschaft vorkommt. Angesichts der in einigen Aspekten parallelen medizinhistorischen Entfaltung und Wirkmacht des prämenstruellen und des klimakterischen Syndroms als Leiden liegt der Verdacht nahe, dass es sich um ähnliche Entwicklungen von Kolonisierungsformen des weiblichen Leibes durch patriarchalische Verantwortungsmuster handelt, für die in beiden Fällen meist eine Medikation durch synthetische Hormone vorgesehen ist. Unter Lubrikationsmangel versteht man als Phänomen am Körper eine relative »Trockenheit der Scheide«, also einen Rückgang der vaginalen Sekretion. Die Medizin führt dafür eine endokrinologische klimakterische Ursache an, für deren Manipulation bzw. Beseitigung bereits hormonhaltige Salben und Gele zur Anwendung ›vor Ort‹ entwickelt wurden. Gerade dieses Phänomen im ›Symptompool‹ typischer Wechseljahrsbeschwerden ist vom leibphänomenologischen Standpunkt aus jedoch, sofern man seinen Kontext im leiblichen Empfinden betrachtet, suspekt. Zunächst sei vorausgeschickt, dass in der Zusammenfassung der Berliner Menopausenstudien von Schultz-Zehden (1998, 18) lediglich 30 % aller befragten Frauen »die Trockenheit der Scheide« »mehr oder weniger ausgeprägt« nannten. Davon hätten wiederum 17 % »als Folge über Schmerzen beim Geschlechtsverkehr« geklagt. Ohne auf die Hintergründe eingehen zu können, die zu einem solchen Ergebnis führen, sei kurz auf das eigentümliche Phänomen des Feuchtigkeitsmilieus am weiblichen Genital eingegangen. Als sicht- und tastbare Region des Körpers ist das weibliche Genital per se und immer in ein Feuchtigkeitsmilieu von gewisser Ausprägung eingebettet. Die das Genital umgebenden Hautfalten können völlig trocken 596 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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sein, sobald man jedoch diese Falten öffnet, in sie hineindringt, ist dort Feuchtigkeit, feuchtes, nicht trockenes Fleisch. Dieses feuchte Fleisch ist zu vielfältigen Wandlungen hinsichtlich der spezifischen Konsistenz des jeweils herrschenden Milieus fähig. Wenngleich diese Veränderungen keineswegs immer gespürt werden (am deutlichsten wohl in der sexuellen Erfahrung), zeigt doch die Tastprobe, dass sie vorhanden sind und in der langen Lebensphase der Fruchtbarkeit eine Rhythmik aufweisen, die für eine natürliche Empfängnisverhütung/Familienplanung qua sympto-thermaler Methode eine optimistische Erfolgsprognose gestattet. Übrigens zeigt die jederzeit nachprüfbare Wandlung der Temperaturkurve im Zyklus der fruchtbaren Frau bereits, dass der weibliche Körper regelmäßig seine Eigenwärme verändert, auch wenn die messbaren Unterschiede meist nicht empfunden werden. Im Klimakterium sprechen Frauen bei Hitzewallungen vom kurzfristigen Anstieg der Körpertemperatur, ganzleiblich, an einzelnen Leibesinseln oder an deutlich den Leib durchziehenden Wärmeströmen. Das Feuchtigkeitsmilieu am weiblichen Genital wird, wie die Körpertemperatur beim gesunden Menschen, in seinen Veränderungen kaum gespürt. Es drängt sich beim Menstruieren auf besondere Weise auf, vor allem aber in der sexuellen Erregung. Hier entspricht, wie gezeigt wurde, dem Verflüssigen des Genitals im eigenleiblichen Spüren nicht nur die – auch sichtbare – Schwellung, sondern ebenso die Absonderung besonderer Sekrete, die ebenfalls an der Oberfläche des Körpers gespürt werden und u. U. die genitale Zone gänzlich in Nässe einbetten. Jede Frau wird bestätigen, dass die Erfahrung des sekretierenden Leibes in der sexuellen Aktivität sehr variabel ist: Mal scheint ›es‹, also die Feuchtigkeit, das Sekret, wie im Überfluss zu schäumen, mal ist ›es‹ sehr zurückhaltend, mal fühlt ›es‹ sich eher zäh und dicht an, mal durchlässig und leichtflüssig; und mal spürt man vielleicht nichts Nasses oder irgendwie Verändertes im Feuchtigkeitsmilieu des Genitals und mag dennoch sexuell erregt sein, wenngleich im Allgemeinen von einer Sekret-Vermehrung in der sexuellen Erregung gesprochen werden kann. Geht man davon aus, dass es im Klimakterium und in der Menopause bei manchen Frauen zu einer »Trockenheit der Scheide« kommt, so müssten die ohnehin bereits in der fruchtbaren Phase des weiblichen Leibes vorhandenen Unterschiede in Rechnung gestellt werden. Außerdem müsste dieses Phänomen im individuellen Erleben der Frau im Vergleich zwischen fruchtbarer und unfruchtbarer Lebensphase und in den Phasen des Menstruationszyklus beurteilt und schließlich auch an der sexuellen Erfahrung evaluiert werden. Eine »trockene Scheide«, die, wie wir gesehen ha597 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

ben, niemals völlig trocken ist, kann auch während der fruchtbaren Lebenszeit bereits zu Schmerzen führen, jedoch nur bei der die sexuelle Aktivität begleitenden Penetration. Es sind Penetrationsformen möglich, die diesem Phänomen so begegnen, dass Schmerzen vermieden werden können – das gilt sowohl für eine »trockene Scheide« in den fruchtbaren Jahren als auch während des Klimakteriums und der Menopause. Für die anderen Formen sexueller Praxis mag das Feuchtigkeitsmilieu an der genitalen Zone vergleichsweise belanglos sein. Dass es für eine »trockene Scheide«, die bei der Penetration als unangenehm empfunden wird, andere ›Behandlungsmethoden‹ als die Hormonsubstitutionstherapie oder vaginale Hormon-Gele gibt, also z. B. nicht-östrogenhaltige Cremes und Gele, ist bekannt. Fausto-Sterling (1999, 174) führt zudem an: »Continued sexual activity also helps – yet another example of the interaction between behaviour and physiology«. Sollte sich nun bei einer intensiven Erforschung des Phänomens herausstellen, dass eine »trockene Scheide« oder »trockenere Scheide« für die Sexualität der alternden Frau typisch wäre, wozu derzeit noch keine präzisen Ergebnisse vorliegen, so ist damit dennoch nicht viel über die Sexualität selbst, also deren Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein, deren Intensität etc. ausgesagt. Unabhängig von diesem spezifischen Phänomen des Feuchtigkeitsmilieus in der genitalen Zone ist die Sexualität alternder Frauen ohnehin noch nicht hinreichend erforscht. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass gerade die von der Angst vor Schwangerschaft und von Verhütungsstrategien befreite Sexualität der ›reifen‹ Frau einen Erfahrungsreichtum und eine Freiheit im leiblichen Ausdruck ermöglicht, der vorher nicht in dieser Weise ausgelebt werden kann und der möglicherweise vom Diskurs um die als erotisches Subjekt entwertete, nicht mehr menstruierende Frau ›verschüttet‹ wird. Was nun die Konstruktion des Bildes von der klimakterischen, von Hormonstürmen heimgesuchten Frau und die damit einhergehende Pathologisierung angeht, so ist Fausto-Sterling (1999, 176) grundlegend zuzustimmen: »The premise that woman are by nature abnormal and inherently diseased dominates past research on menstruation and menopause. While appointing the male reproductive system as normal, this viewpoint calls abnormal any aspect of the female reproductive life cycle that deviates from the male’s. At the same time such an analytical framework places the essence of a woman’s existence in her reproductive system. Caught in her hormonal windstorm, she strives to attain normality but can only do so by rejecting her biological uniqueness, for that too is essentially deformed: a double bind indeed. Within such an intellectual structure no medical research of any worth to women’s health can be done, for it is the blueprint itself

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that leads investigators to ask the wrong questions, look in the wrong places for answers, and then distort the interpretation of their results.«

16.2 Zur Repräsentanz und Thematisierung des Klimakteriums Die ausführliche, wenn auch in ihrem interpretatorischen Gehalt bei weitem noch nicht ausgeschöpfte Heranziehung der ersten und zweiten Berliner Menopausenstudie entsprang einerseits dem Interesse an einer statistisch signifikanten Erhebung über die Eindrücke, Begleiterscheinungen und ›Beschwerden‹ sowie den ›Wandel‹ im Klimakterium aus der Sicht von Betroffenen, andererseits einer gewissen Verlegenheit hinsichtlich der Verfügbarkeit solcher Aussagen außerhalb eines vertraulichen privaten Gesprächskontextes. Hier kann ich mich den Feststellungen Greers (1991, 28) anschließen: »Frauen haben zu diesem Thema weitgehend geschwiegen. Wenn Forscherinnen die männlichen Hypothesen zur Menopause überprüfen, neigen sie dazu festzustellen, daß sie sich nicht erhärten lassen. Ihr Urteil über Ergebnisse und Grundlagen einer Hormontherapie ist eher skeptisch. Eine Frau, die die männliche Auffassung von der Menopause ablehnt und sich an Frauen wendet, wird feststellen, daß es schwierig ist, dieses Thema anzusprechen.«

Zwar teile ich nach den von mir sporadisch geführten Gesprächen nicht Greers pauschale Bewertung, Frauen seien »nicht in der Lage, ihre eigenen Erfahrungen mit den Wechseljahren zu beschreiben« – sie sind es sehr wohl, wenngleich sie ihre eigene Sprache oftmals tastend, versuchend, stammelnd finden –, aber es ist ein Fakt, dass in den Werken von »Autorinnen, Memoirenschreiberinnen, Verfasserinnen von Romanen und Tagebüchern, Erzählerinnen und Dichterinnen« »von der Menopause so gut wie nie die Rede« (ebd.) ist. Die englische Literatur hat Greer (ebd., 29) »auf der Suche nach jenem Augenblick der Veränderung, dem Wendepunkt, dem Anfang des dritten Lebensalters« durchforscht, aber »nur wenig gefunden«. Die Frau mittleren Alters käme in der englischen Literatur »überhaupt nicht vor«, die Jahre des Klimakteriums seien »selbst für die stimmgewaltigsten Frauen stille Jahre« und dies trage dazu bei, »daß wir ihnen mit einer gewissen Scheu begegnen« (ebd.). Alle Romanheldinnen, die als Projektionsfiguren zur Identifikation dienten, seien junge Frauen und auch die älteren Schriftstellerinnen würden am Jugendlichkeitswahn leiden und zu den Vorurteilen gegen sich selbst beitragen:

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»Sie dulden die endlosen Sticheleien gegen Frauen in den Wechseljahren, gegen Schwiegermütter, alte Frauen im allgemeinen, ohne auch nur ein Wort des Protestes zu äußern. Selbst die Frauenbewegung hat sich durchgängig mit jungen, sexuell aktiven Frauen identifiziert und die älteren als Unterdrücker dargestellt.« (ebd., 30)

Selbst Romane wie Doris Lessings »Sommer vor der Dunkelheit«, der die Wiedergeburt einer Frau in den Wechseljahren behandelt, »die genaue Beschreibung einer ganz und gar weiblichen, einer ausschließlich weiblichen Erfahrung«, würde mit sehr gemischten Gefühlen aufgenommen. Insgesamt gebe es keine Literatur, die auf das Klimakterium vorbereiten würde bzw. – dies sei von mir ergänzt – anders vorbereiten würde, als hinsichtlich der Stereotype von der ausgedienten alten Frau, wie sie in manchen literarischen Nebenfiguren, häufig von unangenehmen Alterungszuständen betroffen, in Erscheinung tritt. Greer (ebd., 31) erkennt darin zu Recht ein ernstes Problem: »Wenn die Frauen selbst kein Interesse an reifen Frauen haben, wenn selbst reife Frauen sich nicht für ihresgleichen interessieren, stehen wir vor einem riesigen und tückischen Problem.«

Das Problem ist ein solches der Aneignung und Präsenz, die das gesellschaftliche Situieren der ›alternden‹ Frau widerspiegelt, die weder in der Literatur noch im öffentlichen Leben einen ›ehrenwerten‹ und eben nicht entwerteten Platz hat. Allerdings gibt es erfrischende literarische Ausnahmen, z. B. Leonora Carringtons »Hörrohr« (1980). Was Greer aber meint, ist freilich jener ›dunkle‹, oder sollten wir besser sagen ›graue‹, ›faltenreiche‹, ›verkümmerte‹ Fleck in der weiblichen Biographie, der die klimakterische und alternde Frau ins Aus setzt, in die Unsichtbarkeit, in die NichtVorhandenheit oder aber, wobei nicht zu entscheiden ist, was schlimmer ist, in die Negation ihrer selbst. Eine dramatische Folge dieser Situation ist, dass diese Aneignung, wenn sie nicht von den Frauen selbst erfolgt, schnell in eine ›feindliche Übernahme‹ mündet. Greer (ebd., 33) konstatiert, dass die Öffentlichkeit sich erst mit dem Klimakterium auseinander setzte, nachdem sich »Mediziner dieses Themas bemächtigt und es als Syndrom definiert hatten; danach konnte man nicht mehr mit der gebotenen Achtung darüber reden«. Zwar wusste bereits Aristoteles, dass Frauen über fünfzig keine Kinder mehr gebären können, aber erst im 19. Jahrhundert wurde von dem geistigen Vater des medizinischen Begriffs »Menopause«, C. P. L. de Gardanne, ein Syndrom, »la Ménéspausie« beschrieben, das von Medizinern »als Leiden zu behandeln, das ihres Eingreifens bedurfte«, und das nicht als wichtiger »Vorgang in der weiblichen Entwicklung« betrachtet wurde, »mit dem Frauen sich selbst auseinanderzusetzen haben« 600 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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(ebd.). Bei Deutsch (1995, Bd. 2, 310) lesen wir beispielsweise über das Vorklimakterium, dass schon jetzt »oft vasomotorische Störungen« »mit den charakteristischen Wallungen, Schwindelgefühlen, Schweißausbrüchen« auftreten; »dazu gesellen sich oft Kopfschmerzen, Neuralgien usw.«. Sie beeilt sich hinzuzufügen, dass »meist alle subjektiven Körperbeschwerden dieser Lebensperiode als ›klimakterisch‹ betrachtet und auf die veränderte hormonale Funktion zurückgeführt« werden, ebenso jene »psychologischen Erscheinungen, die sich in dieser Lebensperiode einstellen: Schlaflosigkeit, Angstzustände, Reizbarkeit, Depressionen« (ebd.). Bei diesen ›Beschwerden‹ müsse es sich aber nicht unbedingt um klimakterische handeln und einzelne Erscheinungsformen seien »außerordentlich von der Persönlichkeit des betreffenden weiblichen Individuums abhängig« (ebd., 311). Deutsch bleibt aber ambivalent bei der Bewertung der »subjektiven Körperbeschwerden« und »psychologischen Erscheinungen«, denn einerseits spricht sie vom Klimakterium als einer Art Krankheit, insofern »mit dem Versiegen der Ovarialtätigkeit das ganze übrige endokrine Drüsensystem in seinen normalen Funktionen gestört wird« (ebd., 310), wobei die Formulierung »gestört« mehr meint als nur »verändert«, in Wandlung begriffen. Andererseits steht das Klimakterium für sie »unter dem Zeichen einer schwer korrigierbaren narzißtischen Kränkung« (ebd., 311), die auf ein kulturell hervorgebrachtes Frauenbild verweist. Maßgeblich dafür sei der ›Verlust‹ von Weiblichkeit. So spricht sie von »genitalen Rückbildungsprozessen«, mit denen die »schönheitsspendende Tätigkeit der inneren Drüsensekrete« aussetze, von den »sekundären Geschlechtscharakteren«, die unter dem Zeichen des »Verlorengehens der Weiblichkeit« stünden, schließlich von der »Entwertung des Genitales als Fortpflanzungsorgan« (ebd.). Im Klimakterium würde »dem weiblichen Wesen alles das, was ihm die Pubertät gespendet hat, zurückgenommen« und als Reaktion darauf begänne »der Kampf um die Behaltung der nun im Entschwinden begriffenen Weiblichkeit«, übrigens, wie Deutsch betont, bereits im Vorklimakterium, als Vorwegnahme des biologischen Prozesses. Diese Zeit parallelisiert sie mit der Vorpubertät: Erscheinungen wie Selbstbezogenheit, Aktivitätsschub und dergleichen würden sich im Vorklimakterium etwa zum aufwallenden späten Kinderwunsch, zur Rückkehr zu lange brachliegenden Interessen oder einem gesteigerten Liebesleben kanalisieren. Darin sieht Deutsch (ebd., 313) aber auch eine Protesthaltung: »Im Aktivitätsschub drückt sich auch der Protest aus, der aussagen soll, daß die Frau nicht nur eine Dienerin der Art ist. Sie ist keine Gebärmaschine, sie besitzt höhere Gehirnzentren und ein kompliziertes Gefühlsleben, das sich nicht nur auf

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die Mutterschaft einschränkt. Dadurch kann es ihr gelingen, aktiv einen Ausweg aus den biologischen Komplikationen herauszufinden.«

Deutsch (ebd., 313) bemerkt, dass die »kulturellen Bedingungen, in denen der Frau im Klimakterium Chancen geboten werden, die ihr die Verleugnung der biologischen Tatsachen erleichtern« sich immer mehr verschöben. Sie setzt das Alter des psychologisch relevanten Vorklimakteriums approximativ auf den Zeitraum zwischen 40 und 50 Jahren fest, und zwar »ohne [!] Rücksicht darauf, ob die Ovulation noch stattfindet oder nicht«. Hier wird die Kluft zwischen biologischem Vorgang und subjektivem Erleben offensichtlich: Wenn bestimmte psychologische Erscheinungen des Vorklimakteriums unabhängig von körperlichen Prozessen sind, werden sie also nicht von diesen hervorgerufen, sondern diskursiv erzeugt. Dass Deutsch diese kulturelle Konstellation mit einem Bild von Weiblichkeit identifiziert, das durch die Fortpflanzungstätigkeit bestimmt ist, mag man ihrer Zeit und ihrer Ausbildung bei Freud anlasten – das Buch erschien zuerst 1948. Doch auch bei Beauvoir finden sich ähnliche Vorstellungen vom Klimakterium, wenn sie (1970, 550) vom »Verlust der Weiblichkeit« spricht: »Da die Frau stärker ihren weiblichen Funktionen verhaftet bleibt, hängt ihre Geschichte viel mehr als die des Mannes von ihrem physiologischen Schicksal ab. Die Kurve dieses Schicksals hat daher auch mehr Knicke, verläuft diskontinuierlicher als die des Mannes. Jede Periode des weiblichen Lebens bleibt sich gleich monoton, doch die Übergänge von einem Stadium in ein anderes erfolgen mit gefährlicher Brutalität. Solche wie Pubertät, erste geschlechtliche Erfahrungen, Klimakterium geben sich durch viel entscheidendere Krisen zu erkennen als beim Mann. Während dieser kontinuierlich altert, wird der Frau die Weiblichkeit schlagartig genommen. Noch verhältnismäßig jung verliert sie den erotischen Anreiz und die Fruchtbarkeit, aus denen sie in den Augen der Gesellschaft und in ihren eigenen Augen die Rechtfertigung ihrer Existenz und ihre Glücksmöglichkeiten ableitete: Ihrer ganzen Zukunft beraubt, hat sie etwa die Hälfte ihres Lebens als Erwachsene vor sich.«

Auffällig ist Beauvoirs Vergleich mit dem Mann, der kontinuierlich altere, anscheinend ohne dass ihm seine Männlichkeit »genommen« würde, während der Frau ihre »Weiblichkeit« mit einem Male »genommen« werde. Dieses Schwinden der Weiblichkeit teilt die Erwachsenenzeit in eine ›weibliche‹ (die fruchtbare, schöne, erotisch anziehende Frau) und in eine ›nicht-weibliche‹ (die unfruchtbare, ihrer Schönheit beraubte, unerotisch gewordene Frau), die Beauvoir als unweibliches, wertloses Erwachsenenalter deutet und noch zuspitzt, wenn sie von der alten Frau als einem geschlechtslosen Wesen spricht. Auch Beauvoir (ebd., 551) führt »organische Störungen« als körper602

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liche Referenten für das »gefährliche Alter« an, beharrt in der Frage ihrer Bedeutung aber auch auf deren »symbolischen Wert«. So liest man bei ihr von der »endgültigen Verstümmelung«, die lange vor ihrem realen Eintreten »die Frau in ihren Vorstellungen vom Schrecken des Alterns verfolgt«. Es mag sein, dass Frauen Angst vor dem Altern haben, vor allem in einer Kultur, die Jugend und Schönheit propagiert, von einer »endgültigen Verstümmelung« als einer Art objektiver Tatsache zu sprechen, scheint jedoch aus der Tücke eben jener Diskurse zu stammen. Hier kann allenfalls das Argument der subjektiven Tatsache von Bedeutung sein, nämlich der Verinnerlichung des gesellschaftlichen Bildes von der alternden Frau, also das Sich-Verstümmelt-Fühlen. Diese subjektive Tatsache kann den dramatischen Eindruck einer »endgültigen Verstümmelung« haben, ist aber als Grundgefühl aller Frauen nicht verallgemeinerbar. Dem Körper wird im Klimakterium kein Körperteil entfernt, das die Empfindung eines regionalen Ortes am Leib zur Folge haben könnte, etwa im Sinne von Phantomschmerzen nach Amputationen. Eine solche extreme Erfahrung wie das Sich-Verstümmelt-Fühlen betrifft gleichwohl den Leib, es wird gespürt, aber weniger als Folge eines biologischen bzw. körperlichen Prozesses wie des Schwindens der Menstruationen, sondern als Resultat eines Selbst- und Körperbewusstseins, das durch sozio-kulturelle Kodierung entsteht. Die Gesellschaft entwertet den alternden Körper, vor allem den der Frau, und selbst wenn die Frau das Altern noch gar nicht recht am eigenen Leibe spürt – eine Frau von 40 oder 50 Jahren hat normalerweise noch keine körperlichen Einbußen im Sinne von Bewegungsbeeinträchtigung und Vitalitätsverlust zu erleiden –, fühlt sie sich »schlecht«, vielleicht »verstümmelt« oder »entstellt«, wenn die Menstruationen ausbleiben und wenn sie an der für alle sichtbaren Erscheinung ihres Körpers ›Anzeichen‹ des Alterns, die wiederum diskursiv definiert werden, bemerkt. Wie Deutsch beschreibt Beauvoir (ebd., 551) den Kampf um Erhalt der »Weiblichkeit«: »Man läßt sie auf die Welt nur über den Mann als Mittler einwirken: was wird aus ihr werden, wenn sie auf ihn nicht mehr einwirkt? Das fragt sie sich ängstlich, während sie ohnmächtig dem Verfall ihres Körpers, eines Objekts, beiwohnt, mit dem sie sich identifiziert. Sie kämpft, aber Bemalung, Schälkur, Schönheitsoperationen ziehen immer nur das Sterben ihrer Jugend hinaus. Zum mindesten kann sie den Spiegel noch überlisten. Wenn aber der schicksalhafte, unwiderrufliche Prozess sich abzeichnet, der in ihr das ganze in der Pubertät errichtete Gebäude zerstört, fühlt sie sich vom Verhängnis zu Tode getroffen.«

Zu Recht bezeichnet Beauvoir hier den Körper als ein Objekt, mit dem sich die Frau identifiziert, das also nicht ein Objekt unter anderen ist, son603

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dern ihr zugehört, ihr ›Kapital‹ auf dem Markt menschlicher Beziehungen ist. Indem sie den Körper als ihren Leib spürt, »wohnt« sie auch allem, was ihm geschieht, »bei«. Ähnlich wie bei der »Verstümmelung« muss auch der angeführte »Verfall« dieses Objektes, mit dem sie sich identifiziert, gedeutet werden. Wohnt die Frau also im Klimakterium dem »Verfall ihres Körpers« bei, so fragt sich, von welchem »Verfall« hier die Rede ist. Die sich im Klimakterium befindende Frau ist keine Leprakranke, die sicht- und spürbar das ›Verfaulen‹ einzelner Gliedmaßen miterlebt. Gleichwohl kämpft sie, als wäre das der Fall, als gelte es, den Zustand der Jugend, der für Beauvoir schlichtweg Gesundheit symbolisiert, so lange wie möglich aufrecht zu erhalten bzw. die Illusion von Jugend und Schönheit, also erotischen Marktwert, zumindest durch die Erscheinung zu verkörpern. Der von Beauvoir angesprochene »Verfall« des Körpers betrifft in ähnlicher Weise auch Männer, die beim Altern um den Verlust von Gesundheit, sexueller Vitalität und beruflicher Leistungsfähigkeit fürchten. Da Frauen jedoch, wie Beauvoir ausführt, über ihren Körper, seine Schönheit und erotische Anziehungskraft, definiert werden, bedeutet das Stigma des Alterns für Frauen anderes, da mit dem körperlichen »Verfall« auch ein positives Selbst- und Fremdbild ›entfällt‹. Bei einer Lebenserwartung von mehr als 70 Jahren dürfte der eigentliche »Verfall« des weiblichen Körpers erst lange nach der Zeit gespürt werden, die von Medizin und Gesellschaft für das Klimakterium vorgesehen ist. Subjektiv tritt das Empfinden des »Verfalls« aber früher auf; viele Jahre bevor das der Fall sein müsste, sieht sich die Frau also vom »Verhängnis zu Tode getroffen«, und diese Betroffenheit löst mehr aus als ein Bestreben nach perfekter Schminke, Faltenkorrektur und Schönheitschirurgie zur Aufrechterhaltung einer narzisstischen Illusion – hier beschreibt Beauvoir (ebd., 555), wie Deutsch, einen Kampf in verschiedenen Arenen: Die Frau stürze sich »in Geschäfte, in Unternehmungen, in Abenteuer, die ihr irgendein Ratgeber oder eine innere Stimme eingegeben haben«, »sie ist zur Beute wie geschaffen für religiöse Sekten, Spiritisten, Propheten, Wunderdoktoren, für alle Arten von Scharlatanen«. Sie hänge der Illusion »eines neuen Lebens« an, aber: »Vor dem Spiegel bleibt eine Frau, die seit gestern wiederum einen Tag älter geworden ist.« (ebd.) So würden Auf- und Ausbrüche vorübergehend Erleichterung verschaffen, dann aber von trüben Stunden der Niedergeschlagenheit, der Depression und Isolation gefolgt. Diese Lage ändere sich, so Beauvoir (ebd., 557), mit dem Tag, »an dem die Frau sich mit ihrem Altern abfindet«: War sie bis dahin »noch eine junge Frau«, die »erbittert gegen ein Übel, das sie in geheimnisvoller Weise mitnahm und verunstaltete«, kämpfte, wird sie nun »ein anderes, ein ge604 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Klimakterium

schlechtsloses, aber vollendetes Wesen, eine alte Frau«. Die Vision der alten Frau entspringt Beauvoirs Vorstellung von der »endgültigen Verstümmelung«. Was ist ein geschlechtsloses Wesen in einer Gesellschaft, die stets daran arbeitet, die Unterschiede zwischen Mann und Frau aufrecht zu erhalten? Sie ist ein Nichts, ein Niemand, ohne Bedeutung für Andere, für die Welt, für sich selbst. Sie ist nicht einmal mehr die Andere. Deutsch wie Beauvoir führen in der Metaphorik medizinischer Begriffe die körperlichen Signifikanten des Klimakteriums an, also die hormonelle Umstellung, die innersekretorischen »Störungen« etc., und damit korrelierende leibliche Phänomene wie Hitzewallungen, sehen die typische ›Symptomatik‹ der Wechseljahre aber durchaus als Reaktion auf kulturelle Geschlechterkonstruktionen, in Form des Traumas »der verlorenen Fortpflanzungsfähigkeit« sowie der narzisstischen Kränkung »der entschwindenden Schönheit und Jugend« (Deutsch, 1995, Bd. 2, 330). Dass das Sexualleben der alternden Frau ausgeblendet wird, erhärtet den Verdacht, dass in ihren Vorstellungen Sexualität unabdingbar an die reproduktiven Fähigkeiten geknüpft ist und automatisch aussetzt, wenn diese nicht mehr gegeben sind. Beide Autorinnen finden kaum zu einem positiven Bild der alten Frau und bilden Klimakterium und Altern für die Frau als Leiden ab. Diese Vorstellung ist heute noch wirkmächtig und hat zur manifesten Definition des Klimakteriums als Krankheit geführt. Dieser wird schulmedizinisch hauptsächlich mittels zweier Verfahren entgegen gewirkt, mit Entfernung des Uterus und/oder der Ovarien schon bei geringen Auffälligkeiten, und, für gesunde Frauen gängiger, mit Hormontherapie. Die Uterus- oder Ovarienentfernung lässt sich dahingehend deuten, dass man sich der Unverfügbarkeit des ›weiblichen Dahinwelkens‹ durch einen radikalen Eingriff, dessen Zeitpunkt man selbst (oder der Arzt) bestimmt, entzieht, die Hormonsubstitutionstherapie hält dagegen den Zustand des Menstruierens künstlich aufrecht. Mit der Uterus- bzw. Ovarienentfernung wäre somit jene »Verstümmelung der Frau«, die Beauvoir als ›natürlichen‹ Prozess annahm, in die operative Sphäre verbannt; die Hormontherapie wäre das Pendant zum Aktivitätsschub mit der Hilfe im Kampf, die Illusion der Fortpflanzungsfähigkeit, der Schönheit, Jugend und auch Gesundheit zu bewahren, Gesundheit vor allem in der Hinsicht, dass man in der medizinischen Kodierung des Klimakteriums als Östrogenmangelzustand nicht müde wird, auf die negativen Konsequenzen der natürlichen hormonellen Veränderungen, z. B. auf die Neigung zu Knochenbrüchen, hinzuweisen. Der heutige Diskurs um das Klimakterium hat eine Vielzahl von Büchern hervorgebracht, von schulmedizinischen auf die Endokrinologie be605 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

zogenen populären Fachbüchern über naturheilkundliche und psychologisch angehauchte Ratgeber bis hin zur esoterischen Übungsliteratur. Die zur Mode gewordene Hormontherapie wurde lange Zeit unter der Voraussetzung verschrieben, dass sich in den ›kritischen Jahren‹ ein Mangelzustand mit dramatischen Folgen einfindet. Erst seit kurzem wird sie wegen erwiesener Krebs-Gefahr von Schulmedizinern kritisch betrachtet und zunehmend ganz abgelehnt. In der offenbar notwendig gewordenen öffentlichen Aufklärung darüber zeigt sich, wie die voreilig vorgenommenen medizinisch breitenwirksamen Übergriffe im gesellschaftlichen Diskurs mühsam wieder rückgängig gemacht werden müssen. Mit dem sinkenden Einsatz von Hormontherapien verflüchtigt sich aber keineswegs das Stigma der klimakterischen Frau, wie die Nachfrage nach alternativen ›Heilmethoden‹ verdeutlicht. Aber auch die Schönheitschirurgie und die »Anti-Aging«-Industrie verdienen an jenem weiblichen Syndrom, das in den letzten beiden Jahrhunderten eine bemerkenswerte Karriere gemacht hat. Die Kolonisierung des alternden weiblichen Leibes durch einen rigiden, am anatomisch-physiologisch-endrokrinologischen Körpermodell orientierten Diskurs über das Klimakterium und die Menopause steuert die Erfahrungen, die Frauen in dieser Lebensphase haben bzw. haben können und lässt einen unbefangenen Umgang mit der individuellen subjektiven Betroffenheit kaum zu. Das Schüren von Angst vor jenem durch das ›Verwirrspiel‹ der Hormone ausgelösten ›Symptompool‹ der klimakterischen Frau ist auch im Internet allgegenwärtig und stets werden hier, wie in anderen Medien, hilfreiche Rettungsanker ausgeworfen, die jegliche Auffälligkeit im subjektiven Empfinden und in der Sichtbarkeit für Andere zu nivellieren versprechen. Frauen greifen hier gerne zu, weil sie sich der Autorität möglicher leiblicher Regungen entziehen wollen, um damit im Erwerbsleben unbemerkt zu bleiben, und weil für die sogenannten ›kritischen‹ Jahre keine andere gesellschaftlich akzeptierte Ritualisierung als die Medikation vorgesehen ist. In diesem Kontext kann ich Greers Erfahrungen auf der Suche nach Beschreibungen des subjektiven Erlebens im Klimakterium, beispielsweise in der Belletristik, der Memoirenliteratur oder gar der Kunst, weitgehend teilen. Die ›klimakterische‹ Frau, die mit dieser oder jener Regung selbstbewusst umgeht oder sich in einem Umfeld bewegt, wo etwa eine Hitzewallung keine Pein bedeutet, existiert ebenso wenig wie die durch viele Jahrzehnte an ihren Erfahrungen gereifte ›weise‹ Frau. Zwar bietet das Internet heutzutage auch Foren zum Klimakterium, jedoch wird hier häufig nicht das, was dem weiblichen Leib im Klimakterium geschieht, zum Thema, sondern das, was ihm unter einer bestimm606 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Klimakterium

ten Medikation zu geschehen hat. Es hat sich der Eindruck erhärtet, dass Frauen die Möglichkeit zu einem anonymen Erfahrungsaustausch im Internet, der in anderen Zusammenhängen auch schon einmal medizin- und ideologiekritisch und insgesamt von einer überraschenden Eigenständigkeit geprägt ist, anscheinend nicht nutzen (wollen). Das mag u. a. daran liegen, dass Frauen im Klimakterium, die also heute – nach endokrinologischem Erklärungsmuster – zwischen 45 und 55 Jahre alt sind, dieses Medium generell nicht aufgreifen, um sich auszutauschen. Es mag daran liegen, dass der Symptompool klimakterischer Beschwerden doch nicht so groß ist, wie gemeinhin angenommen, was die Berliner Menopausenstudien bestätigen würden. Es mag aber auch daran liegen, dass das Klimakterium mit einem Tabu belegt ist, mit dem Tabu, darüber in einer bestimmten Weise zu sprechen, etwa als Teil einer normalen, u. U. auch positiv zu deutenden Wende in der leiblichen Biographie der Frau, mit der auch ohne die Hilfe von Ärzten und ›Wunderheilern‹ umgegangen werden kann.

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17. Sexualität

»Die Frau, eine Frau, die nicht ein Geschlecht hat – was meist als kein Geschlecht interpretiert wurde –, kann sich und ihr Geschlecht weder einem allgemeinen Term noch einem besonderen subsumieren. Körper, Brüste, Venushügel, Klitoris, Lippen, Vulva, Vagina, Muttermund, Gebärmutter … und jenes Nichts, das sie schon in und durch ihr Abseits Lust empfinden läßt, all das macht es unmöglich, daß man sie irgendeinem Eigennamen, irgendeinem besonderen Sinn, irgendeinem Konzept zuschlägt. Die Sexualität der Frau kann sich als solche in keine Theorie einfügen, das ist höchstens auf dem Umweg möglich, daß man sie nach männlichen Parametern eicht.« (Irigaray, 1980, 289 f.)

Im Rahmen der Sexualität könnte man von Erfahrungen des libidinösen Leibes sprechen und den von Freud evaluierten Begriff der Libido verwenden, also einer Triebenergie, die als Liebestrieb in die Psychoanalyse eingegangen ist. Diesem Liebestrieb hat Freud später den Todestrieb als Antagonisten gegenüberstellt. Leibphänomenologisch ist die Bezeichnung »Trieb« nicht unproblematisch, sie verweist aber richtig auf den Aspekt des Begehrens, also eines Angetrieben-Werdens zu Etwas. Dieses drängt sich am Leibe auf, ganz gleich, ob es in einem realen, durch Anmutungen von außen initiierten, in einem phantasmatischen, durch bestimmte Vorstellungen sprich Phantasien oder aber mechanisch, etwa durch Druck bzw. Reibung ausgelösten Kontext erfahren wird. In der Folge dieses Drängens kann es zu bestimmten Handlungen kommen, die es vielfältig potenzieren und/ oder in der weiteren Konsequenz erschöpfen. Freud hat die Entstehung von Kultur auf Prozesse der Triebsublimierung zurückgeführt und damit den breiten sozialen Kontext benannt, in dem sich das Angetrieben-Werden durch den libidinösen Leib entfaltet. Libidinöse Regungen werden ebenso wie die daraus folgenden Handlungen in hohem Maße durch kulturgeschichtliche Prägungen reguliert. Sinnvoll ist in diesem Kontext eine grundlegende Unterscheidung zwischen dem Begehren, also dem sexuellen Verlangen, das sich am Leibe regt, und der praktizierten Sexualität, also dem Ausführen sexueller Handlungen, seien diese nun auto-, homo- oder heterosexueller oder anderer Natur. Sexuelles Begehren drängt sich leiblich auf, in ganzleiblichen Attraktionen 608 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Sexualität

und Sensationen oder aber an Leibesinseln. Die sexuelle Praxis umfasst das breite Spektrum von Reaktionsmöglichkeiten auf diese Regungen, darunter auch das initiierte Wecken bzw. Aktivieren von Leibesregionen, also das, was ich im Sinne des Entwurfs aus dem Getrieben-Werden bzw. der Möglichkeit des Getrieben-Werdens mache und wie ich mich jeweilig in dem sehr variablen Spielraum, den mir das Getrieben-Werden lässt oder auch nicht lässt, verhalte. Dabei geht es nicht allein um mich selbst als Betroffene, sondern auch um den oder die Anderen, auf die mein Getrieben-Werden gerichtet ist und der oder die von meinem Getrieben-Werden betroffen sind bzw. werden können. Die Umgangsformen mit den Erfahrungen des libidinösen Leibes berühren auf fundamentale Weise ethische Fragen und sind in jeder Kultur in ein Konglomerat von Ritualen, Gesetzen und Vorschriften, Tabus etc. eingebettet, die das Verhalten der Betroffenen regelt. Im sexuellen Begehren stellt sich eine Vielzahl leiblicher Regungen und Sensationen ein, die auch in den Bereich der Sicht- und Tastbarkeit gelangen, die jedoch außerhalb von sexuellen Handlungen noch meist als mehr oder weniger ausgeprägte Flächenerfahrungen – mit freilich hohem Irritationsgrad – bezeichnet werden können. Unter der Voraussetzung, dass geschlechtliches Erleben in der sexuellen Praxis bei beiden Geschlechtern von gewissen, auch sicht- und tastbaren Schwellungen und Flüssigkeitsabsonderungen begleitet ist, kann eine Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen lediglich das aufgreifen, was an diesem Erfahren weiblich ist, und zwar hinsichtlich der gesamtleiblichen Verfassung und der Regungspotenziale an weiblichen Leibesinseln. Im Hinblick auf das, was am weiblichen Körper in der fortgeschrittenen sexuellen Handlung sicht- und tastbar auffällig wird, sind in erster Linie in Wechselbezüglichkeit, keineswegs linear und in der genannten Reihenfolge verknüpft zu nennen: das Anschwellen der Klitoris, das Anschwellen des Vaginavorhofes mit Sekretionsphänomenen sowie das Schwellen und Steifwerden der Brustwarzen. Man wird ferner Spannungsphänomene beobachten können, die sich in Körperhaltungen, Dehnungen, Streckungen usw. vollziehen und man wird, im Falle des Orgasmus, u. U. Zuckungen, Kontraktionen an und in der Vagina ertasten bzw. am Unterleib sehen – mehr aber auch nicht. Gespürt wird dies alles in individuell und situativ sehr unterschiedlichen Zuständen, wobei in der sexuellen Ekstase meist eine Fokussierung auf den Brust- und Genitalbereich stattfindet. Die Frage danach, wie weibliche Sexualität gespürt wird, ist für die verschiedenen Lebensalter und -situationen unterschiedlich zu bestimmen.

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

17.1 Kindheit Wenngleich die Psychoanalyse einige Modelle für die Sexualität des Kindes vorgelegt hat, sind deren Ergebnisse hinsichtlich des leiblichen Spürens kaum zu verifizieren. Über das, was Babys und Kleinkinder an ihrem Leib in seiner Gesamtheit und an einzelnen Leibesinseln empfinden, können nur Mutmaßungen angestellt werden, auch hinsichtlich geschlechtsspezifischer Unterschiede. Wir wissen nicht, was diese kleinen Menschen an ihren Genitalien spüren, wenn sie sie berühren oder wenn sie dort etwa im Rahmen der Körperpflege berührt werden. Gleichwohl gilt für jedes Kind, dass es sich in den ersten Lebensmonaten wohl fühlt, wenn wir es in leiblicher Nähe halten, in unserem Bewegungsrhythmus, z. B. beim Herumtragen, mitschwingen lassen, es stillen, streicheln und liebkosen. Doch es gibt auch Momente, in denen das Kind diese Nähe von sich weist, um beispielsweise die Welt zu erkunden. Die beiden anderen Hinweise darauf, dass und wie das Kleinkind seinen Leib deutlich spürt, sind im Lachen (vor allem beim Kitzeln an prädestinierten Stellen) und im Weinen bzw. Schreien gegeben; hier hat das, was das Kind spürt, sicht- und tastbare Referenten und reißt empathisch mit. Wenngleich wir wenig über Leiberfahrungen von Kindern, auch hinsichtlich sexueller und geschlechtsspezifischer Aspekte wissen, gehen wir doch alle aus der Kindheit hervor und sind von dem mitgeprägt, wie wir uns je schon gespürt haben – das hat die Psychoanalyse deutlich gemacht. Hilflos, abhängig und der Ortsbewegung unfähig, wie wir auf die Welt kommen, sind wir auf die Nähe zu Anderen angewiesen und erfahren in zwischenmenschlichen Beziehungen den Körperkontakt mit ihnen als etwas unserer Existenz zugehöriges. Der Säugling sucht menschliche Nähe, sein Schreien bringt dies zum Ausdruck; das Auf-den-Arm-Nehmen, Trösten und Stillen vermögen dieses Verlangen zu »stillen«: Das Schreien hört ebenso unmittelbar auf, wie es anfing. Die beim Stillen erfolgende Verschmelzung zweier Leiber ist wohl die erste Erfahrung, deren Erlebnisgehalt in einen sexuellen Kontext gesetzt werden kann. Hier war ein Begehren, das sich artikulierte, und sein »Stillen« durch Befriedung am und durch den Leib eines Anderen. Auch das Flaschenkind erlebt diese Befriedung, allerdings ohne die für das Stillen typische intime leibliche Responsivität. Zwar besteht zwischen der Brustwarze und dem Imitat an der Flasche eine materielle Verschiedenheit, und auch das Saugverhalten ist bei beiden Arten der Säuglingsspeisung unterschiedlich, aber die Stillung des Verlangens ist die gleiche, u. a., weil sie an Nährungsbedürfnisse gekoppelt ist. Mädchen wie Jungen erleben im Stillen aber den weiblichen Leib als 610 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Sexualität

Quelle der Nahrung und kennen die nackten Brüste der Mutter ›hautnah‹, während sie Personen des anderen Geschlechtes nicht in dieser intimen Situation kennen. Die Flaschenspeisung ist dagegen geschlechter- und lebensalterinvariant. All diese Prozesse intimer leiblicher Kontakte sind aufgrund von Geschlechterdiskursen und geschlechtlicher Arbeitsteilung von geschlechtertypischen Asymmetrien gezeichnet. So ist es heute immer noch meistens eine weibliche Person, die das Kind pflegt, wäscht und zur Reinlichkeit erzieht, also Berührungen an seinem Leib vornimmt. Mädchen wie Jungen ist die Berührung durch weibliche Personen geläufiger als diejenige durch männliche. Aber es ist auch eine bekannte Tatsache, dass Mädchen – aus welchen Gründen auch immer – schneller trocken werden als Jungen, dass sie sich früher von Pflegepersonen und Berührungskontexten emanzipieren und sich im Einüben der Waschrituale lernwilliger zeigen. Bei beiden Geschlechtern werden wiederum eigenständige Berührungshandlungen an der genitalen Zone beobachtet, wobei allerdings unter Berücksichtigung des europäischen Klimas und unter den Bedingungen heutiger WickelKultur, d. h. aufgrund der relativ langen Dauer, in der – aus verständlichen Gründen der Praktikabilität – Fertigwindeln verwendet werden, solchen Berührungshandlungen bis weit in das zweite oder dritte Lebensjahr, mitunter sogar darüber hinaus Vorschub geleistet wird. Geschlechtsspezifisch qua Körper ist an diesen genitalen Berührungshandlungen einzig, dass sich weibliche Kinder gelegentlich Gegenstände in die Vagina einführen, dass also von manchen Mädchen die Vagina schon in diesem Alter ›entdeckt‹ wird. Beim Heranwachsen des Kindes verschwindet das Begehren nach leiblicher Nähe zu Anderen für einen gewissen, durch kulturelle Reglements und Tabus bestimmten Zeitraum. In unserer Kultur folgt auf die Phase intensiver Körperkontakte zwischen dem Kind und seinen Pflegepersonen eine Phase von schätzungsweise einem Jahrzehnt, die von Zurückgezogenheit aus Beziehungen mit engen Körperkontakten wie Umarmungen und zärtlichen Berührungen geprägt ist. Mit der Reinlichkeitserziehung wird die Berührung der genitalen und analen Zone durch Andere allmählich eingestellt; das Kind lernt, sich zu waschen, übt sich in Praxen der Selbstberührung, eignet sich den Körper selbstverantwortlich an. Im Grundschulalter mag es noch sporadische Zärtlichkeiten zwischen Eltern und Kindern geben wie Umarmungen, Streicheln etc., aber diese Körperkontakte verlieren sich mit der Zeit bzw. werden zunehmend durch kulturelle Regelungen sanktioniert und häufig vom Kind bewusst aufgegeben bzw. nur in Situationen wie Kummer, Schmerz und Krankheit zugelassen. Kör611 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

perkontakte verschiedener Art finden in dieser Lebensphase gleichwohl unter Gleichaltrigen statt, z. B. beim Raufen, Zusammenhocken, bei Spiel und Sport.

17.2 Jugendalter Erst etwa ein Jahrzehnt nach der Phase postnatalen Zärtlichkeitsaustausches und Körperkontaktes zwischen dem Kind und seinen Betreuern erwacht im Jugendalter die Sexualität und damit erneut das Verlangen nach leiblicher Nähe. Auch die damit verbundenen Vorgänge sind in vielerlei Hinsicht für beide Geschlechter parallel zu eruieren. Was wir Verliebtheit, Sich-Hingezogen-Fühlen nennen, wird initiatorisch durch einen anderen Menschen ausgelöst, aber es ist etwas, das ich an mir spüre, als Regung, Erregung und Aufregung. Es rührt und regt sich etwas, es spannt sich etwas an und ruft aufdringliche Phänomene hervor. Es mag sein, dass solche deutlich spürbaren Spannungs- und Schwellungsphänomene schon vorher und unabhängig von der spezifischen Attraktion eines Anderen der Grund dafür waren, dass sich das Kind und der jugendliche Mensch in bestimmter Weise mit seinem Leib befasst und dabei Regionen entdeckt, die im Rahmen einer Selbstbetastung als lustvoll erlebt werden. Solche Regungen können sich bei zufälligen Reibungen einstellen, beim Mädchen mitunter durch Berührung und Reibung der Kleidung auf der Haut, z. B. während der Sensibilisierung der Brüste und Brustwarzen in der Thelarche, bei beiden Geschlechtern wohl durch Reibung und Spannung der Kleidung im Schritt, in besonderer Weise übrigens beim Mädchen aufgrund der körperlichen Lage der Regungszentren. So mag das Fahrradfahren, Reiten oder Seilturnen, aber ebenso ›geschickt‹ positioniertes Sitzen, ein Wasserstrahl beim Duschen oder eine Menstruationsbinde in der Unterhose durch Druck- und Reibungsimpulse sexuelle Regungen an der nach unten gewandten genitalen Zone hervorrufen. »Sie ist noch ein Kind, als sie es entdeckt, während sie das Treppengeländer vom oberen zum mittleren Stockwerk herunterrutscht. Überwältigt von dem neuen Gefühl bleibt sie unten sitzen. Die Beine hat sie übereinandergeschlagen und das Pochen und Zucken dazwischen noch einmal zurückholen können. Dann findet sie heraus, daß sie sich mit dem gleichen Erfolg an Stuhllehnen reiben kann. Schließlich geht es ohne Gegenstände: die Beine übereinanderschlagen und mit einem Bein oben reiben, da, wo die Beine anfangen. Sie kann das Gefühl haben, wann immer sie will. Sie braucht nichts und niemand dazu.« (Middendorf, 1985, 27)

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Sexualität

Möglicherweise erfahren alle Jugendlichen in der Pubertät ein besonderes Spannungsverhältnis im Leib oder an Leibesinseln und lernen, mit diesem Andrängen umzugehen. Ein markanter Unterschied in der Bewertung solcher leiblicher Phänomene liegt darin, dass das Mädchen mitunter Spannungen und Schmerzen am Unterleib im Rahmen der Menstruation erfährt, diese aber qua Diskurs nicht in sexuellen Parametern, zumindest nicht im Vollzug des Menstruierens interpretiert, sondern im Rahmen der Fortpflanzungstätigkeit. Gleichwohl drängen sich beim Mädchen außerhalb und während des Menstruierens Spannungs- und Schwellungsphänomene am Leibe auf und auch andere Flüssigkeitserfahrungen am Genital als das Bluten, aber diese beiden Erfahrungen des Flüssigen sind kulturell verschieden kodiert und dialektisch aufgespalten. Die Aufklärungsarbeit bezieht sich bei Mädchen auf den menstruierenden, meist jedoch nicht auf den sekretierenden und schwellenden Leib, wie er typischerweise in der Sexualität gespürt wird, so dass sie für diese Phänomene meist keine sexuell konnotierten Interpretationsmuster erhalten und nicht selten von der ›genitalen‹ Reaktion, den ›feuchten Höschen‹, überrascht werden. Wenn wir von männlicher Sexualität reden, denken wir an Erektion und Ejakulation, wenn wir von weiblicher Sexualität reden, sollten wir an Erektion der Klitoris, der Brustwarzen, an das Schwellen und Verflüssigen der genitalen Zone denken, an Konvulsionen des Unterleibs, manchmal mit begleitendem Blutfluss – aber wir tun es nicht. Die weibliche Sexualität hat im gesellschaftlichen Diskurs keine so eindeutigen Referenten wie die männliche im Phallus, worauf z. B. Irigaray mit Nachdruck hingewiesen hat und worauf sich allgemein die feministische Kritik an herrschenden Sexualdiskursen richtet. Weibliche Sexualität lässt sich, wie die angeführten Regungsphänomene zeigen, auch nicht auf die dialektische Struktur der ›genitalen‹ Erfahrung reduzieren. Den weiblichen Brüsten wohnt ein breites sexuelles und orgasmisches Regungsspektrum inne, das neben der erektiven Fähigkeit auch die Absonderung von Sekreten betrifft. Brustwarzen können in Erregung ›Schweißperlen‹ bilden und während der Laktation Milch verspritzen. Außerdem steht ihre Erregungsfähigkeit in Responsivität zu der des Genitals und folglich drängt sich die weibliche Sexualität mehrdimensional an miteinander in Verbindung stehenden Leibesinseln auf. Zu den Entwicklungsaufgaben in der Pubertät gehört, wie früher bemerkt, den eigenen Leib mit seinen dramatischen Veränderungen bewohnen zu lernen, und dazu gehört der Umgang mit den ihn ›anfallenden‹ Unruhe- und Spannungszuständen. Wenngleich das Menstruieren ein Sekretieren, Erigieren und Schwellen durch sexuelle Erregung nicht aus613 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

schließt, ist das Mädchen durch vorfigurierte Deutungsmuster in den Blut- und Hygienediskursen doch dazu angehalten, sich Unruhe- und Spannungszustände am Genital dialektisch und darüber hinaus in Wechselbezüglichkeit zu den Brüsten gewissermaßen triadisch anzueignen, während es der Junge offenbar eher mit monokausalen Reaktionsmustern zu tun hat. Typischerweise zieht das menstruierende Mädchen sich von bestimmten Aktivitäten zurück und scheut aus Scham nicht nur den intimen Kontakt mit dem anderen Geschlecht, sondern auch die Berührung des eigenen Genitals außerhalb von Wasch- und Monatshygieneritualen, wobei u. a. der Ekel vor dem Menstruationsblut eine Rolle spielen kann. Gleichwohl entdecken Mädchen wie Jungen ihre Sexualität, und in unserer Kultur wird diese Phase zwar nicht ausschließlich, aber auch im Rahmen der Autosexualität erfahren, also in Situationen, die es den Jugendlichen erlauben, sich ihren Spannungen und Schwellungen ›gefahrlos‹ auszuliefern und ihre Potenziale zu erforschen. Jugendliche entdecken ihre Sexualität und experimentieren mit ihr – alleine und mit anderen Menschen, denn das, was sich im Leibe spannt und regt, steht nicht nur für sich, sondern richtet sich auch auf bestimmte Personen, auf deren reale oder phantasmatische Präsenz der Leib antwortet. Mit einem Mal wird also die Anwesenheit eines anderen Menschen zur Attraktion, sie weckt intensive Gefühle, die das Alltagsbewusstsein phasenweise überlagern und aufstören, die in Träumen gegenwärtig werden und sich dominant aufdrängen. Frank (1999, 204) beschreibt die unvermittelt durch einen Traum im Raum stehende Sehnsucht nach einem »Jungenfreund«: »Durch ihn [den Traum, UG] entdeckte ich meine Sehnsucht nach einem Jungen. Nicht nach einer Mädchenfreundschaft, sondern nach einem Jungenfreund. Entdeckte auch das Glück in mir selbst und meinen Panzer aus Oberflächlichkeit und Fröhlichkeit. Aber dann und wann wurde ich ruhig. Nun lebe ich nur noch von Peter …«

Der Traum bezieht sich auf das Angerührt-Werden durch einen Jungen, den Anne von früher kannte. Herausragendes Ereignis im Traum ist eine körperliche Berührung: »Und dann fühlte ich eine weiche, oh so kühle und wohltuende Wange an meiner, und alles war so gut, so gut … An dieser Stelle wachte ich auf, während ich noch seine Wange an meiner fühlte …« (ebd., 162 f.)

Dieser Traum thematisiert grundlegend ein Sich-Hingezogen-Fühlen zu einem anderen Menschen, dessen Berührung »wohltuend« ist. 614

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17.3 Verlieben Irgendwann einmal in der schwierigen Lebensphase der Pubertät stellt sich das Interesse am anderen oder auch am gleichen Geschlecht ein, und zwar ein ganz besonderes Interesse, das u. a. von dem Wunsch nach leiblicher Nähe, nach Berührungen getragen ist, die lustvoll, wohltuend, aufregend, spannend sind. Das Angerührt-Sein vom Anderen mag sich in Träumen manifestieren, es mag sich in ›handfesten‹, unüberseh- und unüberspürbaren leiblichen Regungen einstellen, die womöglich zu Irritationen führen, weil sich mit einem Mal etwas verselbständigt, das sich der Kontrolle zunächst entzieht. Es drängt sich sensationell am eigenen Leibe auf, verändert die leibliche Gesamtverfassung, ist auch für Andere häufig sichtund spürbar und fordert zur Bewältigung heraus. Die ›Schmetterlinge im Bauch‹ sind ein von Frauen häufig verwendetes Bild für solches Empfinden, das sich unwillkürlich aufdrängt und Besitz vom Leib ergreift: Im Bauch kribbelt es, spannt es, rührt es sich; die Anwesenheit eines anderen Menschen mag Stiche oder gar Krämpfe im Herzen versetzen, eine ungewöhnliche Nervosität, eine fahrige Unruhe, ein Zittern hervorrufen, mag solche Anspannung verursachen, dass es zwischen diesen Menschen ›knistert‹; eine flüchtige Berührung mag Erschauern auslösen, mag sich in Wellen im ganzen Leib fortsetzen, Hitze- oder Kälteempfindungen hinterlassen; der Blick des Anderen mag durch ›Mark und Bein‹ fahren; schließlich mag dieses Konglomerat von Empfindungen ›durch den Magen‹ gehen, so dass Essen und Trinken womöglich ›vergessen‹ werden, weil Hunger und Durst von anderen Regungen überlagert werden. Diese Ergriffenheit führt nicht allein in der Anwesenheit des Anderen zu ungewöhnlichen Empfindungen; in seiner Abwesenheit kreisen Gedanken oder Träume um ihn, schon die bloße Vorstellung seiner Person mag ähnliche Attraktionen hervorrufen wie die konkrete Präsenz. Die Betroffenheit kulminiert, ja fokussiert sich in dem dominanten Wunsch, bei diesem Anderen zu sein, seinen Leib zu berühren, zu umfangen und mit ihm in leibliche Gemeinschaft zu treten. Jong schildert den Zustand des Verliebtseins, der starken Anrührung durch einen Anderen, als eine Art Besessenheit, die den Alltag durcheinander bringt: »Mein Herzschlag setzte aus. Mir wurde schwummerig, sobald er in meine Nähe kam. Er war mein Sonnenschein. Unsere Herzen hielten Händchen. Wenn wir uns im selben Raum befanden, war ich so erregt, daß ich kaum noch stillsitzen konnte. Es war eine Art Geistesverwirrung, etwas, was mich mit Haut und Haaren verschlang. Ich dachte nicht mehr an den Artikel, den ich schreiben sollte, ich dachte

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

an gar nichts mehr, außer an ihn.« (Jong, 1990, 183) »Ich war wie besessen. Sobald er irgendwo auftauchte und mich anlächelte, war ich verloren.« (ebd., 184)

In Zuständen solcher Besessenheit kommt es zu einer Vielzahl leiblicher Regungen, die sich bis zu jenem »Verflüssigen« des Leibes bzw. einzelner Leibesregionen steigern; Jong (ebd. 112) bringt dieses Erlebnisspektrum in Zusammenhang mit Vorstellungen über vermeintliche Erfahrungen im Klimakterium: »Ich bin sicher der erste Fall einer Neunundzwanzigjährigen im Klimakterium. Ich habe Wallungen. Fliegende Hitze. Ich habe das Gefühl, daß mein Gesicht knallrot ist, mein Herzschlag rast wie der Motor eines Sportwagens, meine Wangen prickeln wie von tausend winzigen Nadelstichen. Die untere Hälfte meines Körpers hat sich verflüssigt und tropft langsam auf den Boden. Es handelt sich längst nicht mehr um feuchte Höschen – ich schmelze dahin.«

Was sich hier aufdrängt, ist mehr als eine bloße Schwellung an einer ausgewählten Leibesinsel – der gesamte Leib ist in ›Mitleidenschaft‹ gezogen, durch Wallungen und Strömungen, durch Prickeln, Hitzeempfindungen, Herzrasen, durch ein ›glühendes‹ Gesicht, schließlich durch Empfindungen des Verflüssigens, Tropfens der »unteren Hälfte« [!] des Körpers. Der Leib scheint seine gewohnten Konturen zu verlieren und der Gleichmäßigkeit seiner räumlichen Ergossenheit zu entraten: oben Hitze, Glut, Röte, Wallung, in der Mitte rasender Rhythmus, Pochen, Schlagen, unten zerfasernde Dichte, ›mehr‹ als Feuchtigkeit, abtropfende Nässe, Zerfließen, Schmelzen. Im wechselseitigen Ineinanderwirken dieser Regungen mag das seinen Leib spürende Ich mal an dieser, mal an jener Leibesregion verweilen, ohne aber wesentlichen Einfluss auf die jeweilige Richtung zu haben, da dieses Konglomerat der Erregung den Leib bestürmt, ihn ›anfällt‹, dabei ist, sich zunehmend zu verselbstständigen und sich darin zu verdichten, und zwar zu jenem Erlebnis: »ich schmelze dahin«. Nicht mehr dies und jenes wird am Leib im Sinne einer vorübergehenden Attraktion gespürt, auch nicht mehr jene Gleichförmigkeit eines Alltagszustands, wo der Leib kaum bemerkt wird und keine weitere Beachtung verlangt, – jetzt dominiert das Geschehen am Leib und zieht die gesamte Aufmerksamkeit an sich, denn es wird ernst: Ich spüre, dass ich »dahinschmelze«, ›hinwegtreibe‹, ›mitgerissen‹ werde. Nahestehende Mitmenschen erspüren solche Zustände – trotz allem Aufwand, sie sich nicht anmerken zu lassen – meist recht schnell, und es gibt zudem sichtbare Referenten, deutlich zu beobachtende Veränderungen. Im Verliebtsein, durch die auf einen Anderen reagierende, antwortende affektive Betroffenheit, ›schwebt‹ der Leib dahin, ist alle Bewegung 616 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Sexualität

leicht und oft schnell, aber auch fahrig, braucht es wenig Schlaf, wenig Nahrung, wird viel gelacht, ja gealbert, verändert sich womöglich die Stimme, die Kommunikation und das zwischenmenschliche Interagieren, der gesamte Lebenselan. Endokrinologen kennen die diesem Zustand korrespondierende Körperchemie gut und wissen sie als Produktion körpereigener Drogen (Endorphine) zu beschreiben. Sie können diesen Zustand korrelierend zu einem hormonellen Cocktail klassifizieren, sobald er eingetreten ist, stehen aber vor einem Rätsel, wenn es darum geht, den auslösenden Faktor zu eruieren. In wen und wann sich Menschen verlieben, kann nicht über Hormone bestimmt werden; hier waltet auch nach der Entdeckung der Pheromone Unverfügbares, das allenfalls in sehr vagen Tendenzen zu erfassen ist, etwa grob nach Typen verschiedenen Attraktivitätsgrades aufgrund der äußeren Erscheinung und mittlerweile, ebenso grob, nach unsichtbaren ›Stoffen‹, wie dem Duft einer Person. Aber: SichVerlieben kann nicht gemacht und auch nicht erzwungen werden, es ereignet sich oder es ereignet sich nicht, nach vielfältigen, multikausalen Parametern. Es kann freilich bezwungen werden und, unter entsprechendem gesellschaftlichen Druck, womöglich gar nicht erst ›erlaubt‹, also zugelassen werden. So enthalten Anweisungen für monastische Askese häufig mentale Methoden für den Umgang mit sexuellen Wallungen. Es gibt Menschen, die sich, auch wenn sie wollten, nie oder nur einmal und danach nicht wieder verlieben oder solche, die sich schnell hintereinander verlieben, und es gibt Kulturen, die das, was wir unter Verlieben verstehen, gar nicht kennen. Man mag das Sich-Verlieben als Resultat einer romantischen Lebenskultur begreifen, und historisch gesehen wurden wohl die meisten Ehen nicht unter diesem Aspekt geschlossen. Das Sich-Verlieben verdeutlicht aber – auch in seinen flüchtigsten Momenten – ein basales Phänomen leiblicher Responsivität. Es ist uns gegeben, aufeinander zu reagieren, und im Sich-Verlieben auf besondere Weise, mit vielen Spielarten: von der Massenhysterie kreischender Mädchen, wenn der angebetete Popstar in Erscheinung tritt, von der ästhetischen Erfahrung der Schauung des Anderen, als »Eros der Ferne« (Klages), über die Responsivität in flüchtigen oder einmaligen Begegnungen, die sich nicht vertiefen lassen, oder in persönlichen Kontakten, im Kennenlernen des Anderen, bis hin zum SichVerlieben, das nach sexueller Betätigung verlangt und zu tiefgreifenden Erfahrungen geschlechtlicher Polarisation u.v. a. m. Der jeweilige Grad der affektiven Betroffenheit vom Verliebtheitsrausch hat seine gesellschaftlich geächteten Kehrseiten, die neben Vergesslichkeit, Oberflächlichkeit, Konzentrationsschwäche und mangelnder Ernsthaftigkeit wohl in erster Linie in der Unlust bestehen, auf seine ›Lust‹ 617 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

am Anderen zu verzichten. Das betrifft nicht nur den Fall der unerwiderten Liebe, der ›liebeskrank‹ machen kann, sondern im Fall des wechselseitigen Sich-Verliebens ebenso die Tendenz der Verliebten, sich ›asozial‹ zu verhalten, indem sie sich ihrer Liebe womöglich allzu intensiv hingeben und im sozialen Zusammenhang weniger zur Verfügung zu stehen. Der Hinweis auf den Erfindungsreichtum unserer Gesellschaft, das Ausleben der Sexualität zu unterdrücken bzw. zu kanalisieren (gleichzeitig aber die Lust darauf zu schüren) oder auf Freuds Erklärung für die Entstehung der Kultur durch Triebsublimierung mag genügen, um den kulturellen Aspekt der Liebespraxis, also der aktiven sexuellen Betätigung im Zusammenspiel von Herausforderung sprich Provokation und kanalisierender Schienung des »sexuellen Triebes« zu verdeutlichen.

17.4 Leibeskontakte Richten wir den Blick in einer idealtypischen Perspektive auf das, was sich mit dem Leibe zuträgt, wenn er im Sich-Verlieben vom Anderen betroffen ist und wenn diese Ergriffenheit zu dem wird, was wir sexuelles Verlangen nennen, dann sehen wir uns dem Phänomen gegenüber, dass das leibliche Empfinden sich nicht nur im ›Dahinschmelzen‹ des Leibes erschöpft, sondern dass es in diesem ›Zerfasern‹ der Konturen wesentlich auf den anderen Leib gerichtet ist. Im erwiderten Lieben ziehen sich die Leiber unwillkürlich an, sie haben die Tendenz, einander zu ›verfallen‹ oder leidenschaftlich ›anzufallen‹ und an einander im ›Dahinschmelzen‹ Halt zu finden. Die zwischen Verliebten herrschende ›knisternde‹ Stimmung, die z. B. im Flirt, im ›Kampf‹ der Blicke aufgebaute erotische Spannung, die wie eine elektrisch aufgeladene Atmosphäre die Leiber umfängt, sobald sie sich aufeinander beziehen, verdeutlicht das Phänomen, dass diese Leiber auf eigentümliche Weise miteinander kommunizieren, aufeinander reagieren, dass sie zueinander streben. Das, was sich am eigenen Leibe rührt und regt, ist also auf den Anderen gerichtet und rührt zugleich vom Anderen her, im wechselseitigen Antworten. Daraus ergibt sich der Wunsch nach Nähe, nach Körperkontakt, leiblicher Gemeinschaft. Dieser Wunsch ist nicht schlicht auf die Gegenwart des Anderen in einer beliebigen Situation gerichtet, es wird vielmehr eine ganz bestimmte angestrebt, intra- und interkulturell bedingt sehr unterschiedlich, an ausgesuchten Orten, die Intimität gestatten, z. B. die Intimität eines teilweise oder ganz entblößten Körpers. Verliebte sind gerne für sich, um in die sie verbindende, spannungsgeladene Atmosphäre ein618 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Sexualität

zutauchen, sie schotten sich – zuweilen tagelang – ab, nur an sich selbst Genüge findend. Es wird also eine Situation aufgesucht, in der sich die gemeinsame leibliche Präsenz in bestimmter Weise entfalten kann. In unserem Kulturkreis, der Sexualität weitgehend aus der Öffentlichkeit hinaus und in die Innenräume von Behausungen oder abgeschiedene Naturumgebungen hineindrängt, ist diese Situation traditionell an das Schlafzimmer gebunden, also einen Ort der Zurückgezogenheit, des Sich-Hineinbegebens in eine geschützte Abgeschlossenheit. Schauplatz des Geschehens ist häufig das Bett, jene Schlafstätte, die ohnehin bereits Entspannung, Entgleiten, Eintauchen in das Andere des Wach- und Alltagsbewusstseins bedeutet. Was Verliebte tun wollen, kann zwar in jeder beliebigen häuslichen Umgebung oder in der Natur stattfinden, das nicht ohne Grund zur Tradition gewordene weiche Bettlager für den Vollzug gemeinsamer Sexualität begünstigt jedoch in atmosphärischer und körpertechnischer Hinsicht das leibliche Beisammensein im Zuge des respondierenden An- und Ineinander-Verschränkens der Körper. In einer vertrauten, von der Außenwelt abgeschirmten Situation spielt sich dann die Entfaltung des leiblichen Miteinander ab, die durch den Wunsch nach Berühren und Spüren des Anderen bestimmt ist. Die Berührung des anderen Leibes, also Umarmen, Küssen, Streicheln, Ertasten, Saugen, Lecken, Beißen, Aufnehmen, Eindringen, das Drücken und das Aneinander-Reiben etc., das gesamte sinnliche Erleben des anderen Leibes, das Spüren der anderen Haut, das Riechen des anderen Duftes, das Schmecken des anderen Speichels, das Hören des anderen Atmens, das Erspüren des anderen Herzschlags potenziert das Erleben und schürt die zwischen den Leibern bestehende Spannung. Es kommt in gemeinsamen Berührungen zu einer intensiven leiblichen Kommunikation; die in der Attraktion vom Anderen ohnehin bereits geweckten Leibesinseln entfalten sich. Der für das westliche Liebesspiel typische Kuss ist ein solches Sich-Öffnen für den Anderen; Regungen und Sensationen können sich, namentlich bei der Frau, von der oralen Zone aus wellenförmig oder auch stechend, kribbelnd, strömend, schießend, plötzlich oder allmählich, einoder mehrgleisig, punkt- oder spiralförmig in andere Leibesregionen hinein ausbreiten, ja den gesamten Leib durchdringen und ihn immer wieder mit neuen Sensationen durchwallen und erschüttern. Der Kuss ist ein intensives Ineinander-Schlingen der Leiber an einer ausgewählten – geschlechtsneutralen – Region, mit einem großen Übertragungsspektrum von Regungen in den gesamten Leib hinein, ein sehr inniges, intimes Beisammensein und eine Mischung der sich im Vollzug vermehrenden Kör619 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

perflüssigkeiten. Es gibt Frauen, für die das Küssen eine intensivere Erfahrung bedeutet als die vaginale Penetration. Prostituierte verweigern meist ihren Kunden, nicht aber dem Geliebten den Zungenkuss, während sie ihre Brüste und die genitale Zone geschäftsmäßig vermarkten. In der räumlichen Ergossenheit des Leibes, in der wir, wie Stein beschreibt, einzelne Regionen und Glieder in unterschiedlicher Entfernung vom Ich spüren, ist uns der Mund, ja der Kopf und das Gesicht ›näher‹ als beispielsweise der Fuß und auch die genitale Zone. Im Küssen, in den Berührungen der Gesichter, in der Nähe des gemeinsamen Atmens und dem Eintauchen in den Speichel des Anderen treten die beiden Leiber in intime Nähe zueinander. Solches Spüren, wie es im intensiven Küssen möglich ist, strahlt in den gesamten Leib aus und ergießt sich bei der Frau schnell in andere Leibesinseln wie die Brüste und die genitale Zone, um sich dort zu vertiefen und zu sammeln, nicht ohne in stetiger Korrespondenz zu bleiben und den Leib mit Erregungswellen, Wallungen, Strömungen, Hitzeempfindungen zu durchfahren. Im weiblichen Verflüssigen des Genitals bzw. des Unterleibs geschieht dann ähnliches, jedoch nachhaltiger als beim Küssen. Die Feuchtigkeit an dieser Region vermehrt sich, was den Eindruck des Einweichens, Verflüssigens, Zerfließens, Aufschäumens, Sekretierens etc. hinterlässt. Aber es kommt daneben, namentlich im Erwecken und Entfalten der Brüste und der genitalen Zone zu Leibesinseln, zu Spannungs- und Schwellungsempfindungen, die sich im Liebesspiel vermehren und an ausgewählten Inseln nach bestimmter Berührung ›lechzen‹, ja solche unwillkürlich suchen, wenn man sich ihnen überlässt. Das solcherart geweckte Verlangen nach einer genitalen Penetration mag eine Variante unter mehreren sein, sie ist aber insofern eine besondere, als sich in ihrem Vollzug der männliche und der weibliche Leib ergänzend vereinen, eben auf diese spezielle Art, wie es für den männlichen und den weiblichen Körper, und nur in dieser Kombination, möglich ist. Dass die Frau den männlichen Leib in Gestalt seines Penis in ihrem Genital erleben kann, dass sie ihn tatsächlich in sich, als Teil ihrer selbst spürt, dass sie sich den männlichen Leib einverleiben kann und ihm in seiner Berührung antwortet, ist eine Erfahrung geschlechtlicher Polarisation, die sehr verschiedene Erlebnisqualitäten in sich birgt. Hinsichtlich der Polarisation der Körper, also der Art des In-Berührung-Kommens, ließe sich viel über die Stellungen im Liebesakt sagen, die in der Literatur zur Liebeskunst eine bedeutende Rolle spielen. In unserem Kontext scheint aber wichtiger, überhaupt das Phänomen in den Blick zu nehmen, dass hier zwei Körper an exponierter Stelle miteinander 620 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Sexualität

verbunden sind und gemeinsam interagieren, sich zusammen bewegen. Ganz gleich, welche unter den zahlreichen Möglichkeiten, sich dabei zu positionieren gerade vorliegt, immer ist es eine Haltung, die mit der des Anderen zu korrespondieren, zu harmonieren hat. Beide Leiber finden eine Position, in der sie nicht nur verharren, sondern miteinander in Bewegung treten, korrelierende, antwortende Bewegungen gemeinsam ausführen, sich Umschlingen, sich aneinander und ineinander Reiben, sich Umherwälzen, sich Gegeneinander-Stemmen etc. als seien sie ›ein‹ Leib. Und doch wird der andere Leib als er selbst gespürt, als das, woran sich einerseits die eigenleibliche Spannung zur Fülle hin entfaltet (in der genitalen Zone) und als das, was andererseits von dem in der Empfindung gegeben ist, was von ihm ›außen‹ ist. Der männliche Leib ist in der Penetration sowohl ›im‹ weiblichen Leib gegeben, als auch ›außerhalb‹, z. B. in der ganzleiblichen Umschlingung. Es liegt auf der Hand, dass verschiedene Stellungen unterschiedliche Erfahrungen mit sich bringen, sowohl hinsichtlich der Aufgabe, ein gemeinsames leibliches Lot zu finden als auch hinsichtlich der Fokussierung bestimmter Regungszentren, die nun einmal ihren relativen Ort am Leibe haben und durch besondere Ausrichtung eigens stimuliert werden. Im Sich-Aneinander-Spannen, im Sich-Halten, Sich-Bewegen, Sich-Widerstand-Bieten in der ›Zwei‹leibung und ›Zwei‹reibung, mag sich dann ein Zustand einstellen, in dem das Spüren des eigenen und des fremden Leibes verschwimmt und sich die Konturen der eigenleiblichen wie gemeinsamen räumlichen Ergossenheit verflüchtigen oder aber eine andere Form annehmen. Was dann noch in der geschlechtlichen Polarisation als eigener oder fremder Leib erfahren wird, ist wohl individuell und situativ sehr unterschiedlich. Der tantrischen Literatur darf der Hinweis entnommen werden, dass die im Geschlechtsakt liegenden Erfahrungen sehr weit gehen, wenn nicht gar zu ›mystischen‹ Zuständen geraten können. Auch in der autobiographischen Literatur wird gelegentlich auf die Intensität des Erlebens aufmerksam gemacht, z. B. bei Jong (1999, 334), die in einer sexuellen Begegnung die Bereitschaft zum Sterben beschreibt: »Als sie seinen Schwanz raus und rein gleiten fühlte, als gehöre ihm ihre Seele, meinte sie, es wäre ihr recht, wenn sie so in dieser Minute stürbe, denn dann hätte sie gelebt, hätte das meiste erfahren, empfunden.«

Dass es sich bei dieser ›Zweileibung‹ um Besonderes handelt, belegt schon die Tatsache, dass aus einer solchen Vereinigung Kinder hervorgehen können oder auch der Wunsch nach einem Kind. Im Text heißt es anschließend (ebd.): 621

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

»Mehr noch: sie wollte sein Kind, ihr und sein Kind, wollte den Schmerz spüren, die Lust, aber wenn sie in diesem Augenblick stürbe, würde sie sich nicht vom Leben betrogen fühlen.«

Im Zusammenspiel der beiden Leiber, in den Liebkosungen der Verliebten, der einander Verfallenden, wird die Außenwelt weitgehend ausgeblendet, sie scheint zu verblassen, ja das leibliche Geschehen selbst wird zum ›Nabel‹ der Welt. Dazu sagt z. B. Jong (ebd.): »Die Welt versank bis auf das Pochen in ihrer Möse, welche für sie jetzt das gesamte Universum darstellte, eine Milchstraße, ein schwarzes Loch im Universum.« Es kommt zu einem kontinuierlichen oder in Wellen und Phasen aufgebauten Erregungszustand des gesamten Leibes, der Atmung und Herzschlag spürbar verändert, einen ins Schwitzen geraten lässt, einem die Sprache verschlägt, womöglich unartikulierte Laute, Stöhnen, Ächzen, ja Schreie entlockt, und der sich schließlich an der genitalen Zone konzentrieren mag und einen extremen Spannungs- und Schwellungszustand erreicht. Dieser Zustand mag sich zu einer zum Zerbersten gespannten Erregung verdichten, die schließlich eine Schwelle, eine Krisis, einen Moment absoluter Fülle erreicht. In diesem point of no return ist klar, dass jeder weitere Impuls, jedes weitere Voranschreiten in der Zeit diese Grenze absoluter Fülle überschreiten wird, dass das Loslassen, das Freigeben dieser Fülle unvermeidlich geworden ist. Es kann ein Moment großer Klarheit und absoluter Präsenz des Leibes sein, in der sich die Örtlichkeit des Leibes verflüchtigt, oder auch ein Moment der Stille, der konzentrierten Sammlung, in der die Zeit zum Stillstand gekommen zu sein scheint. Dann erfolgt der Umschlag, die Freigabe, das unvermeidliche Ablösen, das von leiblichen Eruptionen begleitet ist bzw. sein kann, die den gesamten Leib oder einzelne Leibesregionen (meist den Unterleib) erfassen, aber nun zur Entspannung, zur Erlösung von der absoluten Fülle führen und eine relative Fülle, meist an exponierten Leibesinseln zurücklässt, um von dort in den Leib diffundierend abzuflauen. Dazu z. B. Jong (ebd.): »Der Orgasmus war offenbar nicht nur in ihrer Möse, sondern auch in der Kehle, überhaupt im ganzen Körper, und der Schrei gehörte dazu, mit ihm löste sich die Spannung.« »Sie kam mit einem Schauder, der sie von Kopf bis Fuß schüttelte und ihr noch einen Schrei entrang, der kaum menschlich war. Alles löste sich, sie schrie, es kam ihr …«

Im Zuge dieser Darstellung beschreibt Jong (ebd., 335) auch das Verlangen nach dem Sperma des Mannes, nach dem Spüren seines Ergusses in ihr:

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Sexualität

»›Willst du mein Sperma?‹ fragte er überflüssigerweise, denn selbstverständlich wollte sie es, sie wollte es gegen ihre Gebärmutter spritzen fühlen, gegen ihr Herz, bis in die Fingerspitzen, und er ächzte, er schluchzte, zitterte und weinte, als es ihm kam, und sie spürte, wie sein Penis zuckte, als er den Samen in ihren Schoß verspritzte, wo er, wie sie hoffte, aufgehen würde.«

Nach Überschreiten des point of no return und dem damit verbundenen Erbeben, den Konvulsionen und Zuckungen, kehrt allmählich wieder Ruhe in die Leiber ein. Eine wohlige Erschöpfung umfängt sie, eine Regungslosigkeit macht sich breit. Das gesamte »Gewoge verschwommener Inseln« (Schmitz) bringt sich in seiner räumlichen Gemengelage wieder ins Spüren, nicht ohne dass einzelne Inseln noch hervorgehoben bleiben, etwa durch ›nachbebendes‹, ›verebbendes‹ Strömen und Pulsieren im Unterleib, durch ausstrahlende Hitze- oder Wärmeempfindungen, z. B. in der Region des Zwerchfells: »In der Stille nach dem Erdbeben lagen sie reglos. Sie spürte im Zwerchfell eine kleine Sonne glühen. Ihre Arme und Beine waren schwer und unbeweglich, Raumanzüge mit Quecksilber gefüllt, bleierne Gliedmaßen.« (Jong, 1999, 335)

Neben einem Wärmezentrum im Zwerchfell kommt es bei und nach intensiven orgasmischen Erfahrungen mitunter zu diversen Strömungs- und Pulsierungserfahrungen im Bereich der unteren Lendenwirbelsäule, u. U. sogar mit gerichteten Wallungen nach oben bis hin zu Hals und Kopf. Solche Nachwirkungen haben eine eigene, angenehm-wohlige bis lustvolle Qualität, sind aber nicht zu vergleichen mit dem Geschehen vor dem Erreichen des point of no return. Sie sind keine Spannungs- und Schwellungsphänomene und lassen sich auch mit dem Dialogschema von Enge und Weite kaum erfassen. Gleichwohl bilden sich Leibesinseln aus, deren Räumlichkeit wie von Wärme bis hin zu Hitze erfüllt erscheint. Davon aus- oder abgehende Ströme mit deutlich wahrgenommenen Richtungsimpulsen sind sowohl epikritischer als auch protopathischer Natur, meist in dieser Reihenfolge, so dass ›scharfe‹ Hitzestiche meist von ›weichen‹, diffundierenden Wellen abgelöst werden, die sich dann mehr oder weniger schnell verflüchtigen. Allmählich nimmt also die beide Leiber umgebende Umwelt für das bewusste Erleben wieder Konturen an, die Atmung und das Hämmern des Herzens in der Brust beruhigen sich, die in der Erregung entfalteten, aufgepeitschten Leibesinseln diffundieren schließlich in das gesamtleibliche Empfinden, nicht ohne – jedenfalls bei der Frau – noch eine geraume Zeit ›ansprechbar‹ zu bleiben und in verklingenden Wellen oder beharrlicher regionaler Wärme gefühlt zu werden; wohlige Weite umfängt den Leib, 623 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

der wie nach einer Anstrengung zu seinem individuellen leiblichen Lot, zur Wahrnehmung seiner Konturen, zu seinem relativen Ort zurückfindet, der zuvor womöglich nur noch wie von Ferne wahrgenommen wurde. Die Rückkehr von diesem Zustand scheint bei der Frau von einem Gefühl der Frische und Wachheit, einer Verbesserung der gesamtleiblichen Verfassung begleitet zu sein, einem Zustand, der sich relativ schnell wieder in Richtung eines erneuten Spannungsaufbaus entfalten kann; der Mann scheint dagegen häufig in Schlaf oder eine Art Tiefenentspannung zu verfallen, die leibliche Engung in Richtung neuen Spannungsaufbaus zunächst hemmt. Jedenfalls kehrt nach dieser Ekstase das Spüren des Leibes wieder in eine eher unaufdringliche Alltagserfahrung zurück. Schon die Parameter des gerade in idealisierter Form beschriebenen Zustandes sexuellen Erlebens zeigen, dass es sich um einen ekstatischen Ausnahmezustand handelt, der an sich ein recht dramatisches leibliches Ereignis ist. Bereits die ersten Erfahrungen mit der Attraktivität eines Anderen, wie sie sich am eigenen Leibe aufdrängen, ja aufzwingen, wie sie dazu führen, dass sich etwas im Leibe regt, mögen von einem Numinosen begleitet sein, das zunächst fremd, ungewohnt ist, in dem man sich zu finden hat. Kommt es gar zu einem erfüllten gemeinsamen sexuellen Erleben, das sich im Falle der Verliebten auf der Grundlage spontaner Entfaltung der leiblichen Regungen, also mit der Schubkraft des ›ZueinanderTreibens‹, dem man sich überlässt, wie von selbst ergibt bzw. ergeben kann, gerät der Mensch in eine Art Rauschzustand. Er treibt mit großer leiblicher Unterstützung in einen Zustand, in dem er seine leibliche Integrität vorübergehend zwar nicht gänzlich aufgibt, so doch erheblich verändert. In der Praxis mögen sich die Erfahrungen mit dem Facettenreichtum des sexuellen Rausches vertiefen oder aber nicht, jedenfalls eröffnet die sich in der Pubertät regende Erregung ein großes Terrain leiblicher Erfahrung und Kommunikation. Dieses kann über Jahrzehnte hinweg bis ins hohe Alter zu einer Quelle von Freude und Lust werden und bei der Frau durch Menstruationen, Schwangerschaften, Laktationen, Lochien, das Klimakterium und die Menopause von vielen Variablen durchzogen sein.

17.5 Sexuelle Realitäten und die fehlende Theorie der weiblichen Sexualität Glücklich mögen sich jene schätzen, die in unverstellter, unverkrampfter Weise in diese Erfahrungen eingeführt werden und die Möglichkeit erhal624

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ten, ihre Sexualität mit einem geeigneten Partner zu einer gemeinsamen Erfahrungspraxis zu entfalten. Die Realität, zumal die weibliche, steht jedoch häufig in einem gewaltigen Gegensatz zu dem, was im Rahmen der Sexualität prinzipiell möglich ist. Sexualreporte wie die von Kinsey (1970) oder Hite (1985) haben erschreckende Ergebnisse ans Licht gebracht. Die sexuelle Praxis von Frauen ist demnach vergleichsweise selten von durchweg positiven Erfahrungen getragen. Wenngleich die Orgasmusfähigkeit bzw. die Häufigkeit, einen Orgasmus zu erleben, nicht unbedingt zum Gradmesser eines erfüllten Sexuallebens herangezogen werden sollte, zeigt doch die Tatsache, dass viele Frauen einen Orgasmus vortäuschen, und zwar nach einem durch Filme, Zeitschriften und Aufklärungsbücher bereitgestellten Muster, dass sie ihre eigenen Empfindungen zurückstellen und mitunter ihre eigene Sexualität und sexuelle Reaktion gar nicht erst kennen lernen. Das muss als Folge eines rigiden Diskurses um die Sexualität interpretiert werden, der immer noch von männlichen bzw. patriarchalischen Vorstellungen durchdrungen ist und beide Geschlechter auf je ihre Weise prägt. Die Parameter und historischen Bedingungen dieses Diskurses können hier nicht behandelt werden; über lange Zeit hinweg hat man Frauen jedenfalls sexuelles Empfinden an sich abgesprochen, man hat es geschlechtersymmetrisch am Genital abzubilden versucht, es dialektisch aufgespalten, durch Reaktions- und Empfindungskurven evaluiert etc. Noch in einem Schulbuch, das im Jahr 2004 der Sexualaufklärung an einer hessischen Grundschule diente, heißt es: »Wenn Mann und Frau sich lieben, entsteht zwischen ihnen eine starke Anziehungskraft. Manchmal wollen sie einander ganz nah sein und sich am ganzen Körper spüren. Meistens legen sie sich dann nackt zueinander, streicheln sich zärtlich und küssen sich. Dabei wird das Glied des Mannes steif. Beide kuscheln sich jetzt noch enger zusammen, sodass das Glied in die Scheide der Frau hineingleiten kann. Das ist für beide ein schönes Gefühl. Nach einer Weile fließt Samenflüssigkeit aus dem Glied in die Scheide. Wenn Mann und Frau sich so lieben, sagt man, sie schlafen miteinander oder sie haben Geschlechtsverkehr.« (Pommerening, 1996, 39)

In diesem Text und den begleitenden anatomischen Zeichnungen des Genitals beider Geschlechter bleiben das weibliche Lustorgan, die Klitoris, und die sexuelle Reaktion des genitalen Verflüssigens und Erigierens der Brustwarzen vollkommen ausgeklammert. Angeblich regt sich bei der Frau nichts dem Steifwerden des Gliedes und dem Flüssigkeitsausstoß der Ejakulation Vergleichbares. Der Geschlechtsakt wird als Penetrationsakt vorgeführt, bei dem der Frau eine völlig passive Rolle zugewiesen wird. Skandalös ist im weiteren Text ferner, dass dem Ejakulat sehr viel Auf625

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

merksamkeit gewidmet ist und auch die Eizelle als passiv auf die Samenzelle wartende beschrieben wird. 1 Die Menstruation bleibt gänzlich unthematisch und im Rahmen der Schilderung von Schwangerschaft und Geburt ist mit keiner Silbe von der Laktation und dem Stillen die Rede. Feministinnen wie Kate Millett (1971), die als Patriarchatskritikerin unter dem Motto »das Persönliche/Sexuelle ist politisch« die Strukturen einer herrschaftsorientierten Sexualität aufzeigte, oder Anja Meulenbelt (1981), die sich u. a. mit der Praxis der Lüge in sexuellen Beziehungen befasste, oder Irigaray (1974, 1979), die als Kritikerin der orthodoxen Psychoanalyse und ihrer Lehre von den zwei Sorten weiblicher Orgasmen eine neue Sprache für die weibliche Sexualität zu entwerfen suchte, haben mit vielen Anderen dazu beigetragen, ein Umdenken und Umlenken in den sexuellen Beziehungen und im sexuellen Erfahrungshorizont von Frauen herbeizuführen. Die vielfältige Therapie- und Ratgeberliteratur der zweiten Welle der Frauenbewegungen, z. B. Klassiker wie »Getting clear« (Rush 1977), »unser körper – unser leben« (Boston Women’s Health Book Collective, 1981) oder »für uns selbst« (Meulenbelt, 1981), thematisierte die Selbsterforschung des Körpers, insbesondere der genitalen Zone, und des sexuellen Empfindens, weil sie darin grundlegende Potenziale der Selbstbefreiung der Frau sah. Ohne mich auf die Breite des Sexualitätsdiskurses, die Theorien um die sexuelle Revolution und Veränderungen in der gegenwärtigen Sexualkultur einzulassen, muss konstatiert werden, dass sich das kollektive Verständnis von heterosexueller Sexualität immer noch im Rahmen des Penetrationsaktes, und zwar in einer ganz bestimmten, an Leistung, Ergebnis und Herstellbarkeit orientierten Vorstellung bewegt und in dieser Ausrichtung immer noch entscheidend auf die Prägung des sexuellen Selbstverständnisses des zur Frau heranwachsenden Mädchens einwirkt. Wenn sich nach dem ersten Lebensjahrzehnt am Leibe des jungen Mädchens etwas von selbst regt, nämlich die Sexualität, bezieht sich die gesellschaftliche Aufklärung auf die Signale und Zeichen der Fruchtbarkeit, also den Ablauf des Menstrualzyklus, die Möglichkeit der Schwangerschaft und, da die menschliche Sexualität in Parametern der ›schönen‹, aber für die Frau möglicherweise ›verhängnisvollen‹ Penetration gedacht wird, die Empfängnisverhütung. Dass sich im Zuge dieser leiblichen Ereignisse noch Anderes regen mag, das, ebenso wie die Menstruation, ›feuchte Höschen‹ macht, und von lustvollen Regungen begleitet ist, näm1

Zur wissenschaftlichen Konstruktion einer Romanze zwischen Ei und Sperma nach stereotypen Rollenmustern vgl. Martin, 1999, 179–189.

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Sexualität

lich die sich aufdrängenden sexuellen Empfindungen, darüber und über deren Kultivierung lernt das Mädchen meist nichts. Mit diesen Regungen und Sensationen bleibt es sich selbst überlassen, ja es wird eher dazu animiert, sich in perfekter Hygiene und ›vernünftiger‹ Empfängnisverhütung zu üben, um die Folgen einer Penetration nicht ›ausbaden‹ zu müssen, als dazu, authentisches sexuelles Erleben einzufordern. Der erste Geschlechtsverkehr, die Defloration, ist dann höchst selten, selbst wenn das Mädchen eine offensive Strategie wählt, wirklich lustvoll; sie wird hinter sich gebracht, in der Hoffnung, dass es, also die Penetration, danach vielleicht weniger schmerzen und irgendwann vielleicht auch einmal Spaß machen wird. Am Gängelband des Erfolgsdrucks (»ich möchte eine gute und normale sexuelle Partnerin sein«), unter Empfängnisangst (»hoffentlich werde ich nicht schwanger«), die freilich durch die Pille weitgehend ausgeräumt werden kann, um aber eventuell durch die Angst vor Nebenwirkungen ersetzt zu werden, außerdem – für beide Beteiligten – unter Angst vor AIDS, mit präkoitaler, den Schwung sexuellen Erlebens aufstörender Kondom-Vorsorge, und in der oft tragikomischen Lage, als Minderjährige selten ungestört mit Partnern experimentieren zu können, nehmen die sexuellen Erfahrungen des Mädchens ihren Lauf und werden allzu häufig mehr von Selbstbeobachtung und Selbstbeherrschung durchdrungen als vom Selbstfühlen und von Selbstvergessenheit im Sinne des Eintretens in den sexuellen Rausch. Vor dem Hintergrund dieser Situation mit einem weitgehenden Mangel an einfühlsamer Sexualaufklärung für Mädchen scheint Meulenbelts (1981, 103) Behauptung, sehr viele Frauen hätte Probleme, »einen Orgasmus zu machen«, nicht gerade abwegig zu sein: »Ein ganz wichtiger Grund dafür ist, daß Frauen in unserer Gesellschaft nicht gelernt haben, sich aktiv um das eigene sexuelle Vergnügen zu kümmern, und viele Frauen einfach nicht wissen, wie ein Orgasmus gemacht werden kann. Außerdem haben die meisten Frauen gelernt, ihre Sexualität von der eines Mannes abhängig zu machen, es ihm zu überlassen, ihr einen Orgasmus zu geben. Männer wissen häufig noch weniger darüber, wie Frauen gebaut sind, als die Frauen selbst. Auch sie sind schließlich meistens mit der Penis-in-Vagina-Idee erzogen, einer Art SteckkontaktSex, bei dem mit dem Einstecken des Steckers die Lampen von selbst angehen. Die Filme, in denen Frauen stöhnend zum Orgasmus kommen, wenn auch nur ein Penis in ihre Richtung zeigt, helfen auch nicht weiter, ebenso wenig wie alle Bücher, in denen Frauen unverändert knallende Orgasmen bekommen, sowie ein Mann in sie ›eindringt‹. Meistens sind das Männerphantasien, und leider haben auch Schriftstellerinnen oft diese Phantasien übernommen. Vielleicht, weil auch sie selbst glaubten, daß ›normale‹ Frauen es so empfinden.«

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

In ähnlicher Weise spricht Irigaray (1977, 24) davon, dass die Frau innerhalb des »sexuellen Imaginären nichts als eine mehr oder weniger gefällige Stütze für die Inszenierung der männlichen Phantasien« sei, dass sie sich in dieser Rolle aber auch ›eingerichtet‹ habe: »Daß sie dabei Lust empfindet, sofern sie dazu ermächtigt wird, ist möglich und sogar gewiß. Aber diese Lust ist vor allem masochistische Prostitution ihres Körpers für einen Wunsch, der nicht der ihre ist; das beläßt sie in diesem Zustand der Abhängigkeit vom Mann, den man ihr zuweist. Nicht wissend, was sie will, ist sie zu allem bereit, bettelt sogar immer wieder darum, er möge sie doch als ›Objekt‹ zur Ausübung seiner eigenen Lust ›nehmen‹. Sie, sie wird also nicht sagen, was sie begehrt. Sie weiß es außerdem nicht, oder nicht mehr.« (ebd.)

Selbst Freud hätte, so Irigaray, zugegeben, dass die Anfänge des sexuellen Lebens beim kleinen Mädchen »schattenhaft« wären und es nötig wäre, »die Erde gründlich umzugraben, um unter den Spuren dieser Zivilisation, dieser Geschichte die Überreste einer archaischeren Zivilisation wiederzufinden, die einige Hinweise darauf geben könnten, was die Sexualität der Frau sein würde« (ebd.). Es fragt sich nur, warum Frauen nicht in der Lage sein sollten, ihr eigenes Begehren zu ›wissen‹ und zu reflektieren, über ihr sexuelles Spüren und Empfinden Auskunft zu geben, es selbstbestimmt einzufordern und jenen Inszenierungen entgegenzutreten. Irigaray behauptet, dass das sexuelle Wünschen der Frau verschüttet, dass »ihr Lustempfinden« »vergewaltigt und gestohlen worden« (1980, 286) ist und wenn überhaupt, dann zweifellos in einer anderen Sprache, einem anderen Alphabet wieder zu beleben ist. Ihre Arbeit an der Sprache und dem Imaginären gilt dem Versuch, z. B. die spezifische Auto-Erotik des weiblichen Leibes in den Blick zu nehmen. Die Frau berühre »sich durch sich selbst und an sich selbst, ohne die Notwendigkeit einer Vermittlung und vor jeder möglichen Trennung zwischen Aktivität und Passivität« (1977, 23): »Die Frau ›berührt sich‹ immerzu, ohne daß es ihr übrigens verboten werden könnte, da ihr Geschlecht aus zwei Lippen besteht, die sich unaufhörlich aneinander schmiegen. Sie ist also in sich selbst schon immer zwei, die einander berühren, die jedoch nicht in eins (einen) und eins (eine) trennbar sind.«

Deutlich bemerkt Irigaray den Unterschied zwischen der Sicht- und Tastbarkeit im Bereich der genitalen Zone (die zwei Lippen) und dem leiblichen Spüren, das dort nicht unterscheidet. Ihre Ausführungen zur weiblichen Erotik gehen aber noch weiter: »Wenn sich … die Frau, eine Frau berührt, berührt sich ein Ganzes, um unbegrenzt zu sein; ein Ganzes, das sich nicht schließen konnte und das es auch nicht verstan-

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Sexualität

den hat, sich endgültig zur Ausdehnung eines Unendlichen aufzublähen. Denn das (Sich-)Berühren verleiht der Frau eine Form, die sich unendlich und unbegrenzt verändert, ohne sich dadurch zu verschließen, daß sie von ihr angeeignet, in Besitz genommen wird. In diesen Metamorphosen besteht niemals ein fertiger Zusammenhang, und niemals setzt sich die Systematizität des EINEN durch. Es sind immer unvorhersehbare Verwandlungen, die nicht auf die Erfüllung eines Telos hinauslaufen, eines Telos, das voraussetzt, daß eine Gestalt die voraufgehende aufnehmen – aufheben – und die folgende vorherbestimmen würde, so daß eine Form stillgestellt und eine andere im Werden ist. Das vollzieht sich nur im Imaginären des (männlichen) Subjekts, das auf alles andere die Vernunft projiziert, die von der Gefangenschaft seines Begehrens bestimmt wird: seine Sprache, die Anspruch auf das genaue Benennen hebt.« (Irigaray, 1980, 289)

Irigaray beschreibt leibliche Vorgänge, die durch Vielfältigkeit und Wandelbarkeit charakterisiert sind, auch durch eine gewisse Flüchtigkeit, in der das Lustempfinden vorübergehend anschwillt, um dann wieder zu diffundieren und sich an anderen Regionen zu sammeln, ohne dabei aber von dem Sich-Berühren, und das meint wohl auch dem Sich-Spüren als ganzer Leib, zu lassen, ohne eine Trennung herbeizuführen und ohne dass das eine zu schwinden hätte, um dem anderen Platz zu machen. Weibliche Sexualität wäre demnach in einen Kontext verschiedener Metamorphosen und Gleichzeitigkeiten gestellt, jenseits einer strikten Linearität oder Zielgerichtetheit. Auch könne nach Irigaray (1977, 27 f.) die Lust der Frau nicht, wie Freud annahm und als Voraussetzung weiblicher Individuation setzte, »zwischen der klitoridalen Aktivität und der vaginalen Passivität wählen«: »Die Lust der vaginalen Liebkosung kann sich nicht derjenigen der klitoridalen Liebkosung substituieren. Alle beide tragen sie in unersetzlicher Weise zum Lustempfinden der Frau bei. Unter anderen … Das Streicheln der Brüste, die Berührung der Vulva, das Aufgehen der Lippen, das Zu- und Abnehmen eines Drucks auf die hintere Scheidenwand, das Streifen des Muttermundes usw. Um nur einige spezifisch weibliche Lustmöglichkeiten anzuführen. Die ein wenig verkannt werden, innerhalb der sexuellen Differenz, so, wie man sie sich vorstellt. Oder nicht vorstellt: wenn nämlich das andere Geschlecht nichts als ein unentbehrliches Komplement zum einzigen Geschlecht sein soll. Nun, die Frau hat bald da, bald dort Geschlechtsteile. Sie genießt bald da, bald dort. Selbst ohne von der Hysterisierung ihres ganzen Körpers zu sprechen, ist die Geographie ihrer Lust abwechslungsreicher, vielfältiger in ihren Differenzen, komplexer, subtiler als man es imaginiert … in einem Imaginären, das allzu sehr auf das Gleiche zentriert ist.«

Die weibliche Sexualität entzieht sich also dem Zugriff üblicher Bilder des Sexuellen, sie muss in ihren imaginären Referenten, solange sie noch nicht 629

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in einer adäquaten Sprache, einer eigenen Bilderwelt zum Ausdruck gekommen ist, Fragment bleiben. Daher Irigarays Rede vom Geschlecht, das nicht eins ist, von der Frau, »die nicht ein Geschlecht hat – was meist als kein Geschlecht interpretiert wurde« (1980, 289 f.), sondern »mindestens zwei, die jedoch nicht als zweimal eins identifizierbar sind« (1977, 27), und die »außerdem noch mehr davon« hat: »Ihre Sexualität, immer schon mindestens doppelt, ist darüber hinaus vielfältig.« (ebd.) Die Frau könne sich und ihr Geschlecht weder einem (und damit einzigen) allgemeinen, noch einem besondern Term »subsumieren«: »Körper, Brüste, Venushügel, Klitoris, Lippen, Vulva, Vagina, Muttermund, Gebärmutter … und jenes Nichts, das sie schon in und durch ihr Abseits Lust empfinden läßt, all das macht es unmöglich, daß man sie irgendeinem Eigennamen, irgendeinem besonderen Sinn, irgendeinem Konzept zuschlägt. Die Sexualität der Frau kann sich als solche in keine Theorie einfügen, das ist höchstens auf dem Umweg möglich, daß man sie nach männlichen Parametern eicht.« (Irigaray, 1980, 290)

Wenngleich Irigaray in ihrer These von der Absenz einer Theorie der weiblichen Sexualität zuzustimmen ist, wenn man sie aus einer historischen Situation erklärt, in der die weibliche Sexualität als der ›dunkle Kontinent‹ im Sinne Freuds noch nicht zu einem angemessenen Ausdruck im Imaginären geführt hat, so ist aber letztlich nicht einzusehen, warum die Unmöglichkeit einer Theorie der weiblichen Sexualität ein Phänomen sui generis sein sollte, dass es also nicht möglich sein sollte, auch in einer von männlichen Parametern unabhängigen Sprache und Bildwelt das sexuelle Erleben konzeptionalisierend und theoretisierend einzufangen. Schon die neuere Sexualforschung sah sich gezwungen, für die weibliche Sexualität Modelle zu entwickeln, die in einem gewissen Kontrast zu denen der männlichen Sexualität stehen und einer teleologischen Linearität zumindest in einigen Aspekten widerstreiten. In dem Bemühen, die sexuelle Reaktion der Frau in ein Körperschema zu zwängen und die Wege ihrer Lust nachzubuchstabieren, sahen sich Sexualforscher einer grundlegenden Asymmetrie zwischen den Geschlechtern gegenüber. Das VierPhasen-Modell des weiblichen Reaktionszyklus von Masters und Johnson (1987) mit Erregungs-, Plateau-, Orgasmus- und Rückbildungsphase trennt zwar einzelne Lustreaktionen voneinander ab, operiert aber mit verschiedenen Organvorstellungen des weiblichen Körpers, die in wechselseitiger Bezüglichkeit stehen. Wenngleich damit eine Linearität nach männlichen Parametern aufgegeben scheint, wird doch die Mannigfaltigkeit weiblicher Lustreaktionen nur bedingt erfasst und letztlich dem männlichen Reaktionszyklus verähnlicht. Für den ebenfalls nach dem Vier-Pha630 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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sen-Modell dargestellten männlichen Reaktionszyklus nimmt man an, dass er weniger klar ausgeprägt ist und sich in zeitlicher Dimension anders manifestiert. Dennoch haben u. a. auch Masters und Johnson schon auf die größere ›physiologische Reaktionsfähigkeit‹ der Frau und ihre multiple Orgasmusfähigkeit hingewiesen und fundamentale Unterschiede zwischen männlicher und weiblicher Sexualität festgestellt. Es leuchtet durchaus nicht ein, warum die weibliche Sexualität in diesen und anderen, noch zu entwickelnden Modellen nicht einer Theorie zugeführt werden könnte, die das weibliche Erleben angemessen oder adäquat spiegelt, ohne gleichzeitig davon auszugehen, dass sich beim Mann Ähnliches abspielen müsste. Es muss ebenfalls offen bleiben, ob es sich bei den festgestellten Unterschieden zwischen den Geschlechtern um Verschiedenheiten qua Natur handelt oder um kulturelle Determinanten – immerhin stehen Mann und Frau seit Jahrhunderten unter einem Sexualdiskurs, der das Ausleben ihrer Sexualität prägt. Angesichts der von Sexualforschern eruierten und von Paaren immer wieder erlebten Asymmetrie zwischen dem Penetrationsdrang beim Mann und dem Penetrationsverlangen bei der Frau ist beispielsweise zu fragen, ob das nicht Relikte dessen sind, was den Geschlechtern jeweils als das ›Übliche‹ vermittelt wurde und sich so internalisierte und habitualisierte. Das mag vor allem für die angeblich männliche, herrschaftsbezogene und auf spontanes Ausleben des Penetrationsdranges bezogene Sexualität gelten, die das weibliche Erleben nicht oder kaum oder nur im Hinblick auf seine Instrumentalisierung zur Kenntnis nimmt, während die angeblich weibliche, passive, masochistische Sexualität gar nicht erst dazu gekommen ist, ein Penetrationsverlangen oder andere sexuelle Ausdrucksformen zu entwickeln. Dass Frauen sexuelle Wesen sind, ist ja überhaupt noch gar nicht so lange offiziell ›bekannt‹. Es ist nicht einzusehen, warum es bei den von Sexualforschern eruierten Unterschieden für immer bleiben muss. Außerdem ist es möglich, im individuellen Paar-Erleben eine von allen Stufen-, Parallel- und Asymmetriemodellen verschiedene gemeinsame sexuelle Erfüllung zu erreichen, die keiner Theorie entspricht. Meulenbelt (1981, 107–114) und andere feministische Praktikerinnen (Boston Women’s Health Book Collective, 1981, 92–94), die von einer mangelhaften Entfaltung weiblicher Sexualität im gegebenen kulturellen Kontext ausgehen, empfehlen jenen Frauen, deren sexuelles Empfinden mit Partnern unerfüllt ist bzw. deren Empfindungsfähigkeit sich in der Erfahrung mit dem Partner nicht von selbst einstellt, zunächst ihr sexuelles Erleben zu erforschen, einen Orgasmus ›machen zu lernen‹ und eigene Bedürfnisse zu artikulieren, was bedeutet, sich mit dem leiblichen Re631 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

gungsspektrum auseinander zu setzen und den ekstatischen Zustand einzuüben. Wenngleich der Begriff der Herstellbarkeit merkwürdig klingen mag, korrespondiert er doch mit einer technisch-mechanischen Seite des sexuellen Vorgangs. Das Wecken und in Spannung Versetzen der Leibesinseln mag sich durch Anmutungen und Attraktion durch einen Anderen, durch den Schwung der in erotischer Spannung befindlichen Verliebten und deren Liebesspiel von selbst ergeben, es kann aber auch in Selbsterfahrung entdeckt und in leiblicher Praxis kultiviert werden. Zweifellos mag eine solche Praxis sich positiv auf das Selbstvertrauen im Liebesspiel mit Partnern auswirken, da sie Aufschluss über die eigene Reaktionsfähigkeit im sexuellen Rausch gibt und Ängste vor dem Sich-Gehen-Lassen in der gemeinsamen Erfahrung abbauen hilft. In unserer Kultur gibt es für Frauen keine Tradition explizit sexualpraktischer Anleitungsliteratur; erst im Zuge der zweiten Welle der Frauenbewegung sind in der westlichen Welt – inspiriert u. a. durch erschreckende Resultate in Selbsterfahrungsgruppen – Bücher entstanden, die sich mit der weiblichen sexuellen Praxis in körpertechnischer und -praktischer Hinsicht auseinandersetzen. Anleihen aus dem asiatischen Tantra beziehen sich meist auf Sexualpraktiken von Männern (z. B. das Hinauszögern der Ejakulation und die Ejakulationskontrolle) bzw. darauf, wie die Frau – häufig zum Zweck der spirituellen Entwicklung – am besten und raffiniertesten zu ›locken‹ und zu ›nehmen‹ ist. Ausnahmen sind das aus der ›New-Age‹-Literatur stammende Buch der Eheleute Chia (1987), das eine Vielzahl von Übungen für die auto-, hetero- und homosexuelle Erfahrung von Frauen vorstellt, sowie diverse Bücher aus alternativen und avantgardistischen Szenen, die um sexuelle Befreiung bemüht sind. Feministinnen, wie am Beispiel Meulenbelt gezeigt, haben Frauen insofern zur Selbsterfahrung ermutigt, als sie im Anschluss an bahnbrechende Untersuchungen zur weiblichen Sexualität den Mythos vom vaginalen als einem eigenständigen Orgasmus entlarvten und das Selbstbewusstsein der Frauen in dem, was sie selbst fühlen, stärkten. In diesem Zusammenhang ist der Aufbruch vieler Frauen zu einer lesbischen Sexualität wohl als ein Schritt in Richtung einer befreiteren weiblichen Sexualität zu bewerten. Nach einer jahrhundertelangen Geschichte sexueller Gewalt gegen Frauen und einer ebenso langen Unterdrückung der weiblichen Sexualität ist das Insistieren auf andere, vom Koitus unabhängige Formen sexueller Betätigung zwar geschichtlich relevant geworden, und das Freudsche Modell von den zwei weiblichen Orgasmen gilt heute als überholt, von einer sexuellen Revolution, die auf die breite Gesellschaft übergegriffen hätte und in der insbesondere Frauen ihre leiblichen Belange und ihren sexuellen Rausch 632 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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mit Nachdruck einfordern und ausleben würden, kann jedoch nicht die Rede sein. Der mit Penetration verbundene heterosexuelle Geschlechtsverkehr ist nach wie vor das dominante Modell sexueller Praxis, und es darf vermutet werden, dass die Asymmetrie zwischen männlichem Penetrationsdrang und weiblichem Penetrationsverlangen immer noch Alltag ist. Ob freilich in einer Penetrationsverweigerung und einer Fokussierung auf klitoridales Erleben das breite Spektrum weiblichen Sexualerlebens erschöpft ist, mag dahin gestellt bleiben – die Wurzel des Problems scheint nicht in der Penetration als solcher zu liegen, sondern in der Art ihrer Praxis und in dem generellen Verständnis der Sexualität, das nicht selten uneingestanden auf einem Geschlechterkontrakt beruht. Eine umfassende und erschöpfende Theorie der weiblichen Sexualität muss allerdings noch geschrieben werden und kann nur als Desiderat thematisiert werden – zu sehr sind wir immer noch von der Diskursmacht um den Fortpflanzungsakt, von der fixen Idee des sekundengleichen gemeinsamen Orgasmus in der partnerschaftlichen Liebe, von der Sexualität als Leistung, Sport, Droge oder Gesundheitstraining und von einer auf Orgasmen beruhenden Teleologie der Sexualität in Beschlag genommen. In der Literatur und Kunst von Frauen zeigt sich zwar in den letzten Jahrzehnten ein Aufbruch auch in Richtung eines erotischen Schreibens, Fotographierens oder Filmens, das sexuelles Erleben zum Teil in veränderten Parametern darstellt, doch ist der Sexualdiskurs an eine überaus mächtige patriarchalische Sex-Industrie gekoppelt, deren Fundamente nicht leicht zu erschüttern sind. Das zeigen nicht nur die Umsätze von erotischen und pornographischen Artikeln sowie sexuellen Dienstleistungen für Männer im Unterschied zum Angebot für Frauen. Die leibphänomenologische Perspektive auf die weibliche Sexualität kann sowohl der multiplen Ausdrucks- und Erlebensfähigkeit des weiblichen Leibes und der wechselseitigen Reaktionsfähigkeit seiner sexuell weckbaren Inseln Rechnung tragen, wie das in früheren Kapiteln zum Ausdruck kam, als auch die Ambivalenz zwischen Unverfügbarkeit und strategischer Aneignung, also zwischen Faktizität und Entwurf in den Blick nehmen. Bei der Sexualität handelt es sich um eine vom Leib vorgezeichnete Fähigkeit zur Ekstase, zur Selbstüberschreitung, um einen Rausch, dem man sich überlassen kann, wenn man sich dem Leib und seinem Empfinden übergibt, wenn man ihm nachgibt und den point of no return zulässt. Es steckt darin immer auch Entwurf, also die unter mehr oder weniger Druck stehende, allzu häufig nicht mehr zurückzuhaltende ›Entscheidung‹, sich dieser Wende preiszugeben, sie mitzuvollziehen. Das Ich setzt sich dem Leib aus, lässt sich von ihm ›überwältigen‹. Vielen Frauen fällt 633 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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diese Übereignung deshalb so schwer, weil sie ihren Leib und ihre Sexualität bereits als enteignet wahrnehmen und erfahren. Die bis heute wirksamste Strategie zur Unterdrückung der Frau besteht in der Kontrolle ihrer Sexualität. Wie viele Frauen sind an der Suche nach dem vaginalen Orgasmus gescheitert, mühen sich noch heute mit Krisen ihres sexuellen Selbstbewusstseins ab, wenn sie den Geschlechtsverkehr mit nur mäßiger Lust erfahren, und begnügen sich damit, Objekt des männlichen Begehrens zu sein. In leibphänomenologischer Sicht kann eine Theorie der weiblichen Sexualität, eine Aneignung des weiblichen Begehrens und sexuellen Rausches durch das Nachbuchstabieren seiner leiblichen Referenten, also im weitesten Sinne seiner ›Mechanik‹ erfolgen. Hierfür ist ein Modell hilfreich, das im leiblichen Erleben verschiedene Grade von Ergriffenheit, also von Tiefenerfahrung unterscheidet, und zwar sowohl bezogen auf die Berührung im Sinne der dem weiblichen Körper inhärenten Auto-Erotik Irigarays als auch im Sinne der Erotik als Liebkosung des Leibes im Liebesspiel, als Erfahrung der vom Anderen berührten Haut, als Wecken und Entfalten von Leibesinseln sowie ferner in der grundlegenden Dimension des vielfältigen Responsoriums am weiblichen Leib. Die Bandbreite sexuellen Erlebens der Frau ist somit zu evaluieren in ›trivialen‹ Formen wie die Berührung der Haut durch einen angenehmen Stoff, dem Antworten auf einen Blick, eine Geste, ein Gespräch, eine Atmosphäre, über die sinnliche Erfahrung des Berührt-Werdens durch Andere, die vertiefte Liebkosung des gesamten Leibes und herausgehobener, besonders ansprechbarer Regionen, das Wecken der oralen, ›brüstigen‹ und genitalen Zone, bis hin zum aktiven Penetrationsverlangen, das die Rede von der vaginalen Passivität hinter sich lässt, zur rhythmischen Einleibung im Geschlechtsverkehr und dem Konglomerat unterschiedlicher Ekstasen. Außerdem kann in einem Modell mit verschiedenen Erlebnisqualitäten den Zuständen des weiblichen Leibes Rechnung getragen werden, also auch der sexuellen Erfahrungen beim Menstruieren, während Schwangerschaft und Laktation, im Klimakterium und in der Menopause. Wenngleich eine umfassende Darstellung des weiblichen sexuellen Erlebens in den genannten Dimensionen hier nicht zu leisten ist, soll abschließend noch einmal hervorgehoben werden, dass das Stillen als leibliche Praxis zum lustvollen Erleben der Frau zu zählen ist und ein weibliches Responsorium mit eigenen Qualitäten darstellt. Was sich in den laktierenden Brüsten regt, regt sich qua Leib, also von Natur aus, als Folge der Geburt, und antwortet auf den anderen Leib, ganz gleich welchen Geschlechts er ist, und zwar nicht einmal ausschließlich auf den des eigenen 634 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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Kindes. Was sich in der Laktation an den Leibesinseln der Brüste regt, als Erfahrung der Fülle und auch als Verflüssigen, wenn die Milch nicht anders kann als herauszutropfen oder zu schießen, manifestiert sich als Verlangen, als ein Begehren nach dem anderen Leib. Die sich in ihrer Fülle prall und u. U. schmerzhaft gebende Brust drängt auf ›Absaugen‹, auf den leiblichen Kontakt mit dem Kind, drängt danach, sich zu vereinigen und von ihrer Fülle erleichtert zu werden. Und doch ist diese sinnliche, lustvolle und befriedigende Erfahrung des Stillens, die ihre Regungen nicht nur aus dem Wecken der Brüste bezieht, sondern sich in den ganzen Leib oder einige seiner sexuellen Inseln hinein ergießt, keine Erfahrung eines ›punktuellen‹ Orgasmus mit ›Explosivkraft‹ und ›Spannungsentladung‹. Vielleicht lässt sich in einer leibphänomenologischen Aneignung weiblicher Sexualvorgänge neben der von Unterleibseruptionen und Ausscheidungen begleiteten Menstruation schließlich auch die Geburt integrieren, die den weiblichen Leib vor eine noch fundamentalere exigente Nötigung qua Drang stellt als die Sexualität oder die Laktation, und in der Frauen qua Natur einem unvermeidlichen point of no return mit erheblicher dreifacher körperlicher ›Entladung‹ (Fruchtwasser, Kind, Plazenta) ausgesetzt sind. Allerdings ist die weibliche Bevölkerung im Zuge der zunehmend technisch unterstützten Pathologisierung des Körpers weit davon entfernt, sich das Gebären qua Begehren anzueignen und nur zu gerne bereit, die extremen, eine Geburt begleitenden Gefühle betäuben zu lassen. Hierin kann eine Parallele zur Enteignungspraxis der weiblichen Sexualität gesehen werden. Möglicherweise vermag eine Theorie weiblicher Sexualität, die sich mit diesen einzigartigen Vorgängen am Leib der Frau ebenso befasst wie mit den Dimensionen des ›üblichen‹ sexuellen Erlebens, und die nun keineswegs mehr nach männlicher Analogie zu begreifen und auch nicht zwingend an die Teleologie der – nach patriarchalischen Parametern gefassten – Sexualität geknüpft sind, einen Beitrag zur Anerkennung des weiblichen Körpers, seines Responsoriums und seiner vielfältigen sinnlichen Erlebnisfähigkeit leisten.

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18. Der kranke weibliche Leib

»Wer da wirklich unbefangen das Menschenwesen betrachtet, der möchte die Hände zusammenschlagen vor Staunen darob, daß Gesundheit je als Norm hat gelten können.« (Keyserling, 1936, 39) »… es ist allen Ernstes sinngemäßer, den Krankheitszustand als Norm zu erklären, als die Gesundheit. Denn wer immer letzteres tut, sollte logischerweise auch daran glauben, daß es dereinst gelingen wird, den Tod abzuschaffen.« (ebd., 41)

Gesundheit als Norm, gar als Ideal zu setzen, wird in den Eingangszitaten von Hermann Keyserling, einem der wenigen Philosophen, die sich mit dem Thema Gesundheit befassen, kritisch hinterfragt. Selbst der befriedigenste Zustand des Leibes sei, so Keyserling (1936, 39), dadurch charakterisiert, »daß er mit einer bestimmten Art von Gleichgewichtsmangel steht und fällt«. Das Vorhandensein des Gesundheitsideals beweise, »wie wesentlich Problematik zum Menschen gehört« (ebd., 43), wie sehr das Leben sich von einem Gleichgewichtsmangel zum nächsten fortsetzt. Krankheit sei »mit dem Leben unablöslich mitgesetzt« (ebd., 42), weil sich der Mensch »überhaupt nicht in dauerndem Gleichgewicht befinden kann« (ebd., 45). Darüber hinaus konstatiert Keyserling, dass kein Zustand in allen Hinsichten als gesund und keiner in allen Hinsichten als krank anzusprechen sei. Das lässt sich leicht am Beispiel eines gebrochenen und in Gips eingelegten Armes veranschaulichen, der zwar lästig sein kann, aber nicht den Eindruck ›krank‹ zu sein vermittelt, wogegen eine Körpertemperatur von 39 Grad Celsius beim Erwachsenen zum SichKrank-Fühlen führt. Gesundheit, als Norm gesetzt, verschleiere, so Keyserling (ebd., 63), dass sie »nur in Funktion einer strikt persönlichen Gleichung bestimmt werden kann« und das bedeute, dass Gesundheit nicht in dem Sinne objektivierbar ist, wie uns das der medizinische Diskurs und das kommerzialisierte Gesundheitswesen glauben machen. Keyserling gibt hierfür einige persönliche Beispiele: Eine fleischlose Diät habe ihn, dem »geborenen Fleischesser«, jeglicher Vitalität beraubt und in Lebensgefahr gebracht, obwohl mit ihr lediglich eine Infektion geheilt werden sollte; Nikotin schade ihm, reichhaltigster Kaffee- und Alkoholgenuss nicht im geringsten; physische Anstrengung bringe seine Kör636 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Der kranke weibliche Leib

perkräfte aus dem Gleichgewicht; ihn langweilende Menschen wirkten auf ihn wie »richtiges Gift«; jede Lebensroutine im Sinne eines »gesunden Lebenswandels« entspanne seinen Organismus und lasse ihn altern – nur ein »gehöriger Exzeß« könne ihn wieder auf seine normale Höhe bringen. Desgleichen spricht er (ebd., 65) von Wutanfällen, denen er erhöhte Schöpferkraft verdanke, und führt aus, dass jede Gefahr, Aufregung und Gemütsbewegung, sogar eine richtige Überraschung lebenssteigernd auf ihn wirkten; er sei »der lebendige Gegenbeweis zur Ärztebehauptung, daß alles ›Ungesunde‹ vermieden werden soll«, und sterben werde er bestimmt zu seiner Stunde, und diese hänge »von keinerlei Normalisierung ab«. Wir sehen hier freilich den Exzentriker Keyserling, doch auch für weniger exaltierte Menschen trifft zu, dass Gesundheit eine Frage individueller Konstellationen und subjektiven Befindens ist. Jeder Mensch weiß im Grunde, was ihm schadet, was ihm förderlich ist und was er bei einer Veränderung seines Befindens, etwa einem Schnupfen, tun kann, um eine Besserung herbeizuführen – ein Wissen, das meist in der Kindheit, durch den von Pflegepersonen erlernten Umgang vorgeprägt wurde. Wenn es nicht gerade äußere Verletzungen, etwa in Folge eines Unfalls sind, die uns zu einem Besuch beim medizinischen Experten veranlassen, so sind es doch subjektiv erlebte, also u. U. zunächst nur für uns selbst auffällige Irritationen des Allgemeinbefindens, also dessen, was wir als den für uns normalen Zustand ansehen. Es gibt Menschen, die sich gesund fühlen, deren Körper aber vom Krebs befallen ist und solche, die medizinisch gesund sind, sich aber ständig krank fühlen oder Schmerzen erleiden. Die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit hat nicht nur eine objektive medizinische, sondern auch eine subjektiv-leibliche Komponente. Auch hinsichtlich der Lebensalter stellt das Gesundheitsideal ein Problem dar: Ist ein Kind krank, weil es noch nicht ausgewachsen ist, sehr viel Schlaf und Rundumpflege braucht? Ist ein greiser Mensch krank, weil er altert und stirbt? Heutzutage wird immer wieder mit dem Begriff der Todesursache jongliert. Man sagt, dieser oder jene sei an Krebs, an Herzversagen, an Alkoholvergiftung gestorben, auch Altersschwäche wird genannt. Doch hier wird das deutlich, was Keyserling im Eingangszitat erwähnt, dass das Gesundheitsideal konsequenterweise den Tod nicht akzeptieren kann, was besagt, dass ein gesunder Mensch nicht sterben kann, er muss krank werden, um zu sterben. Wenngleich die Begriffe Gesundheit und Krankheit heute vielschichtig erschlossen sind (dazu später mehr), gibt es ein Vorverständnis darüber, was Gesund- und Krank-Sein bedeutet. Wir reden von regionalen Schmerzen, z. B. Kopf-, Zahn-, Bauch-, Rückenschmerzen etc. und meinen aufdringliche Regungen an 637 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

betroffenen Leibesinseln. Schmerzen können plötzlich auftreten und wieder vergehen, sich allmählich in das leibliche Befinden ›schieben‹ und sich wieder verflüchtigen, sie können aber auch chronisch werden und die leibliche Integrität von Grund auf beeinflussen, da sie das gewohnheitsmäßige Spüren des Leibes schienen. Wir reden aber auch von ganzleiblich ergreifenden Krankheiten, die vielleicht nicht einmal besonders schmerzhaft sind, aber z. B. an das Bett fesseln. Typische Beispiele für unsere klimatische Zone sind Schnupfen, Erkältung, Bronchitis und Grippe. Was sich hier aufdrängt, bezieht sich zwar auf Zentren leiblichen Empfindens (Kopf, Nase, Hals etc.), aber es geht auch um ein ganzleiblich ergossenes Gefühl, krank zu sein und sich – vor allem bei Fieber – notfalls im Bett auskurieren und/oder medizinische Hilfe annehmen zu müssen. Mit Krankheit werden wir im Gesundheits-, Vorsorge- und Früherkennungssystem heute aber auch dann konfrontiert, wenn kein subjektives Empfinden uns ›vorwarnt‹ und Anlass zur Sorge bietet, sondern wenn ein Mediziner uns eine Krankheit zuweist, z. B. bei noch schmerzlosen Tumoren. Der Umgang mit solchen Diagnosen stellt besondere Anforderungen an die Lebensbewältigung, da die Krankheit nicht subjektiv festgestellt wird und in der Zuschreibung durch Fremde eine Übergabe des Körpers an das Heilungssystem aufnötigt. Die nach dem Körperschema verfahrenden medizinischen Diagnostiker verfügen über eine Vielzahl von Instrumentarien, um eine Krankheit ›objektiv‹ festzustellen, wenn Menschen sich subjektiv krank fühlen und auch wenn sie sich subjektiv gesund fühlen. Aber die Frage, »welche Körpermerkmale und -prozesse noch ›normal‹, welche bereits ›krankhaft‹ sind, bestimmt nicht nur die medizinische Forschung und Praxis, sondern auch«, wie Petra Kolip (2000, 9) bemerkt, »die alltägliche Wahrnehmung und Bewertung des Körpers«.

18.1 Zur Pathologisierung des Frauenkörpers Der Frauenkörper wurde traditionell – und wird noch heute – mit dem Topos der Krankheit in Verbindung gebracht. In medizin- und kulturhistorischer Sicht haben dies Esther Fischer-Homberger, Thomas Laqueur oder Claudia Honegger dargelegt, für die heutige Zeit z. B. Petra Kolip in ihrem Buch »Weiblichkeit ist keine Krankheit« (2000), das sich mit der »Medikalisierung körperlicher Umbruchphasen im Leben von Frauen« befasst. Da lange Zeit der männliche Körper als der normale begriffen wurde, bedeutete der weibliche Körper die Abweichung, der Mangel, die Krankheit oder aber, zu bestimmten Zeiten, ein männlicher Körper mit 638

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Der kranke weibliche Leib

Abwandlungen plus ›Gebärmaschine‹. Die Pathologisierung des Frauenkörpers hat eine lange Tradition, die aber, namentlich in der Frauenbewegung und der mit ihr etablierten Frauengesundheitsbewegung kritisch hinterfragt und durch Umbewertungen aufgebrochen wurde. Vor allem in den 1970er Jahren haben sich Frauen ermutigt gefühlt, ihre Gesundheit selbst in die Hand zu nehmen, doch sind die Bestrebungen zu einer kritischen Aneignung des Wissens um den Frauenkörper und zur Bewusstwerdung seiner Medikalisierung durch patriarchalische Medizin-Systeme, und d. h. auch zu einer selbstbewussten Auseinandersetzung mit dem Körper, heute wieder rückläufig. Die Bemühungen der Frauengesundheitsbewegung stoßen, wie Kolip (2000, 9) ausführt, »nicht nur bei Ärztinnen und Ärzten auf Widerstand – diese fürchten um ihre Monopolstellung-, sondern auch die Mehrheit der weiblichen Bevölkerung ignoriert die Angebote der Frauengesundheitsbewegung oder lehnt sie sogar ab«. Als Gründe für dieses Verhalten führt Kolip die damit verbundene Infragestellung wesentlicher »Elemente der Interaktion zwischen Arzt/Ärztin und Patientin« an, z. B. der Wissensvorsprung und die Definitionsmacht der Mediziner. Für viele Patientinnen sei »diese Hierarchie ein solch selbstverständlicher Bestandteil der Arzt-PatientIn-Interaktion, dass der Ruf nach mehr Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung auf großes Unverständnis stößt« (ebd.). In den zivilisierten Kulturen ist nach wie vor die Gynäkologie eine eigens auf den Frauenkörper zugeschnittene medizinische Disziplin mit großem Patientenaufkommen. Die Pathologisierung des weiblichen Körpers ist heute – und zwar durchaus als Wiederholungsmuster der Geschichte – ein bedeutendes Instrumentarium für hegemoniale Geschlechterkonstruktionen und trägt auf subtile Weise zur Verunsicherung, Entmündigung und zum Unwohlsein von Frauen sowie der Instituierung von zeit- und kapitalintensiven Abhängigkeitsverhältnissen bei. Hier ist vor allem an die Medikalisierung weiblicher Umbruchphasen zu denken, die neuerdings schon junge Mädchen als Klientel rekrutiert, so dass von einer breiten Normierung, Pathologisierung und Regulierung der Pubertät durch die Mädchengynäkologie auszugehen ist. 1 Weitere Beispiele beziehen sich darauf, dass Menstruationen als hygienisches Problem figuriert und der Abschaffung qua Depot-Intervention anheim gestellt werden, dass Schwangerschaft und Geburt im »Zangengriff« einer Überwachungs-, Apparate- und Anästhetikamedizin stehen, dass Schwangerschaftsabbruch

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Vgl. hierzu Schmidt, 2000, 31–57.

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III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

vom Eingriff zum medizinischen Zugriff (z. B. im Rahmen der Abtreibungspille RU 486 oder der Fötalmedizin) 2 zu werden droht, dass ungewollte Kinderlosigkeit Frauen zu Patientinnen einer invasiven Fertilitätsmedizin macht 3 , dass Frauen in den Wechseljahren zu Hormon- und Operationspatientinnen werden 4 , dass schließlich ein ausgeklügeltes System von Reihen- und Vorsorgeuntersuchungen von beträchtlicher Wirkmacht hinsichtlich der Auffassung von weiblicher Gesundheit ist 5 . Medikalisierung bedeutet, »dass Bereiche des Umgangs mit dem Körper, die bis dahin dem oder der einzelnen überlassen waren, durch die professionelle Medizin übernommen werden« (ebd., 10): »Medikalisierung umfasst alle Versuche der ärztlichen Profession, ihr Definitionsmonopol auszuschöpfen, normale Körperprozesse aus einer medizinischen Perspektive zu betrachten, sie zu pathologisieren und anschließend mit dem medizinischen Instrumentarium zu ›behandeln‹.«

Das Medikalisierungsrisiko betrifft Frauen in stärkerem Maße als Männer, weil ihre mit der Fruchtbarkeit in Zusammenhang stehenden Umbruchphasen offensichtlicher sind. Während die Gynäkologie bis vor wenigen Jahrzehnten ihre Hauptaufgabe darin sah, Schwangerschaft und Geburt unter ärztliche Obhut zu nehmen, stehen wir heute vor einer wahren Explosion von Medikalisierungspraxen, die das gesamte Spektrum weiblicher Leiberfahrungen betreffen. Kolip (ebd., 11) führt aus gesundheitswissenschaftlicher Perspektive mehrere Gründe für die immense Bedeutung dieser Medikalisierung an: »Zum einen ist sie relevant, weil durch die Diagnostik und Therapie neue gesundheitliche Probleme geschaffen werden, für deren Beseitigung wiederum die Medizin zuständig ist … Zweitens ist mit der Medikalisierung auch eine Stigmatisierung verbunden, die ihrerseits zu einer Verunsicherung bei der einzelnen Frau führt und medizinische Folgeschäden verursachen kann. … Und schließlich ist die Medikalisierung problematisch, weil die medizinische Betreuung normaler körperlicher Umbruchphasen immense Kosten verursacht.«

In leibphänomenologischer Perspektive bedeutet die Medikalisierung einen Stigmatisierungsprozess, der erheblichen Einfluss auf die leibliche Integrität, das Selbstbewusstsein, das Gesundheitsgefühl sowie die persönliche Gesundheitsregulation hat. Umgekehrt ist zu berücksichtigen, dass 2 3 4 5

Vgl. hierzu Bornhäuser, 2000, 88–116. Vgl. hierzu Schmedders u. Wlotzka, 2000, 117–142. Vgl. hierzu Lademann, 2000, 31–57; Müller, 2000, 173–189. Vgl. hierzu von Reibnitz u. List, 2000, 190–214.

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sozio-kulturelle Praxen in entscheidendem Maße dazu beitragen, dass die Medikalisierung erfolgreich wird. Kolip beschreibt drei Aspekte der Medikalisierung weiblicher Umbruchphasen: Normierung: Körperliche Erscheinungen und Entwicklungsprozesse würden unter medizinischer Perspektive in zwei Varianten normiert: Zum einen werde »der statistische Durchschnitt ermittelt und dieser als zu erreichende Norm aufgestellt« (ebd., 18). Dazu gehören z. B. die Normierung des 28-Tage-Monatszyklus oder die Errechnung des Geburtstermins. Die zweite Normierungsvariante greife »auf eine am Risikofaktorenmodell orientierte Logik zurück« und lege »mit dem Argument einer – wie auch immer ermittelten – medizinischen Gefährdung Grenzwerte fest«. Hier gehe es nicht mehr um die Entsprechung eines statistischen Durchschnitts, sondern um das Erreichen mehr oder weniger willkürlich festgelegter Idealwerte. Als Beispiel führt Kolip an, dass der Hormonspiegel vor der Menopause als normal, derjenige nach der Menopause als normabweichend definiert wird. Dies sei »der erste Schritt zu einer Pathologisierung, die ihrerseits wieder einen Behandlungsbedarf hervorruft« (ebd., 19). Pathologisierung: Abweichungen von medizinischen Normen werden als krankhaft und behandlungsbedürftig definiert. Pathologisierung meint also, wie Kolip (ebd., 19) bemerkt, »dass normale körperliche Vorgänge an sich als krankhaft beurteilt werden.« Das trifft z. B. für die Hormonmangeltheorie zu und für die Tatsache, dass eine im Krankenhaus gebärende Frau zur Patientin wird. Regulierung: Diese Maßnahme folgt der Pathologisierung, wobei die Medizin sich anbietet, die von ihr festgelegten Abweichungen wieder der von ihr festgelegten Norm anzugleichen, meist mit umfangreichen, kostenintensiven Behandlungsstrategien. Behandlung ist »in diesem Fall der Versuch, etwas zu regulieren, das in vielen Fällen keiner Regulierung bedarf«. Durch Normierung und Pathologisierung würde »erst ein Behandlungsbedarf geschaffen, den die Medizin zu befriedigen weiß« (ebd., 20). Kritisiert wird hier nicht, dass behandlungsbedürftigen Frauen geholfen wird, sondern dass die »Medizin ein Behandlungsmonopol beansprucht und ausschließlich ihre Techniken anbietet, obwohl andere Maßnahmen denkbar wären«, »dass überhaupt keine Intervention notwendig wäre, wenn nicht vorher eine Definition als pathologisch erfolgt wäre« und »dass die Medizin ständig darum bemüht ist, ihren Normierungs- und Regulierungsanspruch auszudehnen« (ebd.). Die Medikalisierung ist von historischen und kulturellen Parametern abhängig und beruht auf einem Konglomerat verschiedener Interaktionen. Akteure in diesem Prozess sind primär die pharmazeutische bzw. medizin641 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

III Weibliche Leiberfahrungen in Einzelanalysen

technische Industrie, die Ärzte und die Frau als potenzielle Patientin (vgl. ebd., 23). Während die wirtschaftlichen Interessen von Pharmazie und Medizin unmittelbar einleuchten, führt Kolip (ebd., 25 ff.) für die Ärzteschaft, die an sich zum Wohl des Menschen handelt, als Hintergründe für die Medikalisierung auch »medizinfremde« Faktoren an: Informationsflut, rechtliche Rahmenbedingungen (Absicherung gegen Fehlbarkeit), ökonomische Zwänge (Gesundheitspolitik), Machbarkeitsvorstellungen (Technikfixierung) und kulturelle Einflüsse (u. a. durch gendering). Frauen erscheinen in den Interaktionen nicht nur als Opfer. Sie unterliegen den gleichen kulturellen Rahmenbedingungen wie die Ärzteschaft und fordern beispielsweise neu entdeckte pharmazeutische Produkte explizit ein, auch wenn ihre Folgenabschätzung noch nicht gesichert ist. Darüber hinaus konstatiert Kolip (ebd., 28 ff.) weitere Aspekte für die aktive Rollenübernahme beim Medikalisierungsprozess: Wunsch nach Bestätigung von Normalität, fehlende Rituale, Suche nach Sicherheit, Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Weiblichkeitsbilder, Abgeben von Verantwortung. Kolip (ebd., 30) argumentiert: »Die genannten Faktoren zeigen, dass der Medikalisierung körperlicher Umbruchphasen ein kompliziertes Bedingungsgefüge zugrunde liegt. Sicherlich gibt es Aspekte der Medikalisierung, die positiv zu bewerten sind, z. B. wenn unnötiges Leiden durch Eingriffe der Medizin gelindert werden können. Es steht aber außer Frage, dass körperliche Umbruchphasen von Frauen heute an vielen Punkten unnötig normiert, pathologisiert und reguliert werden. Frauen wird dadurch die Verantwortung für den eigenen Körper abgenommen – und sie geben die Verantwortung auch aus verschiedenen Gründen nur zu bereitwillig ab. Medikalisierung ist tiefgreifend verankert; die Wurzeln freizulegen und die dahinterliegenden Prozesse in den Blick zu nehmen, ist eine vorrangige Aufgabe der Gesundheitswissenschaften. Darüber hinaus müssen Lernprozesse in Gang gesetzt werden, um Frauen bei der Entwicklung von Selbstbewusstsein und Eigenverantwortung im Gesundheitswesen zu stärken.«

Solche Lernprozesse sind seit den 1970er Jahren im Rahmen der Frauengesundheitsforschung vorangetrieben, aber schließlich von den meisten Frauen abgelehnt worden bzw. in gegenteilige Verhaltensmuster umgeschlagen – allerdings nicht in jeder Hinsicht, denn es ist z. B. professionellen Medizinern bis heute nicht gelungen, die Hebammen als gesetzlich vorgeschriebene gleichberechtigte Mitarbeiterinnen bei der Klinikgeburt zu vertreiben, es ist der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe im Jahre 1991 auch nicht gelungen, ein gesetzliches Verbot der Hausgeburt durchzusetzen, und an der wachsenden Zahl unabhängiger Geburtshäuser lässt sich die Tendenz ablesen, dass einige Frauen sich dem 642

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Medikalisierungsprozess einer Klinikgeburt zu entziehen wünschen. 6 Die kulturellen Bedingungen des tendenziellen Scheiterns der Frauengesundheitsbewegung im Hinblick auf die Verbesserung des Wohlbefindens von Frauen bedürften eingehender Analysen. Jedenfalls wurde das in diesem Kontext angesammelte Wissen in nur sehr geringem Umfang weiter tradiert, so dass es heute bei jüngeren Generationen kaum noch verfügbar ist. Die Motive dafür, dass Frauen die Medikalisierung aktiv unterstützen, ihre Gesundheit nicht selbst in die Hand nehmen und ein eigenes Gespür für ihren Körper entwickeln, sind in tief verwurzelten Prozessen des gendering, insbesondere in Fragen der Sexualität, zu suchen, die in hohem Maße dazu beitragen, dass sich Frauen nicht heimisch fühlen im eigenen Leib und in einer tiefgreifenden Verunsicherung ihrer leiblichen Integrität Rat bei Medizinern suchen, die ein bestimmtes Körpermodell vertreten. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Zunächst soll ein Bild über den Gesundheitszustand von Frauen mit Hilfe geschlechtervergleichender Untersuchungen gewonnen werden.

18.2 Geschlechtervergleiche in der Gesundheitswissenschaft Die Gesundheitswissenschaft hat sich in den letzten Jahren verstärkt um die Topoi Geschlecht, Gesundheit und Krankheit gekümmert, u. a. durch die längst überfällig gewordene Erforschung der geschlechterspezifischen Wirkung von Medikamenten, die traditionell an Männerkörpern (= Menschenkörper) erprobt und geeicht wurden. Wie das von Klaus Hurrelmann und Petra Kolip herausgegebene Buch »Geschlecht, Gesundheit und Krankheit« (2002) zeigt, ist die ältere Frauen- und die jüngere MännerGesundheits-Forschung bereits in vielfachen Diskursen und Evaluierungen entfaltet. Es dürfte aber klar sein, dass eine geschlechtervergleichende Forschung in der Medizin in gleicher Weise vom Diskurs um Gesundheit und Krankheit wie vom Geschlechter-Diskurs geprägt ist und schnell die Frage im Raum steht, ob im jeweiligen Gesundheits- und Krankheitsmodell nicht bereits Geschlechtsspezifisches unreflektiert mitanwesend oder abwesend ist. So lassen sich zwei Ursachen des Gender-Bias unterscheiden: die Annahme einer Gleichheit von Männern und Frauen, wo diese nicht vorhanden ist und die Annahme von Unterschieden, wo (möglicherweise) keine existieren. Es ist also in der Gesundheitsforschung notwendig, die Frage zu beantworten, »ob der bearbeitete Sachverhalt für 6

Vgl. hierzu Stolzenberg, 2000, 215–238.

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Männer und Frauen gleich oder unterschiedlich einzuschätzen ist«, was über eine Analyse verschiedener Formen des Gender-Bias erfolgen kann, etwa nach Maßgabe des Androzentrismus, der Geschlechterinsensibilität, der Geschlechterdichotomie, des Familialismus, des doppelten Bewertungsmaßstabes (bei der Erfassung, Beschreibung und Bewertung von identischen Situationen), der Geschlechtsverklärung und der Überverallgemeinerung (vgl. Jahn, 2002, 148). Auf die methodisch-theoretischen Probleme einer geschlechtergerechten Gesundheitsforschung weist Ingeborg Jahn (2002, 145) mit Nachdruck hin: Nicht nur die »methodologische Dimension des Sexismus in der Forschung« müsse »als Frage inhaltlich und methodisch angemessener Forschungspraxis« berücksichtigt werden, die neueren Diskussionen hätten vielmehr die Notwendigkeit »eines Paradigmenwechsels hin zu einer multidisziplinären Forschungsperspektive« gezeigt, »in der die Modelle der in den Gesundheitswissenschaften beteiligten Disziplinen Medizin, Psychologie, Soziologie, Anthropologie u. a. integriert werden können«. In dieser Perspektive fordert Jahn (ebd., 152) als strukturelle Aspekte einer geschlechterspezifischen und -vergleichenden Forschung eine multivariante Forschung, die die komplexen »biopsychosozialen« Zusammenhänge zum Gegenstand hat, sowie Meta- und Sekundäranalysen zur Evaluation des vorhandenen Wissens in der Geschlechterperspektive und zur Entwicklung geschlechterangemessener Methoden. In Bezug auf aktuelle Ergebnisse sagt Jahn (ebd.): »Während Perspektiven für eine inhaltliche und strukturelle Entwicklung, insbesondere der Frauengesundheitsforschung und -versorgung, vorliegen und auch in den politischen Raum Eingang gefunden haben, steht eine gesellschaftliche Debatte über Geschlechtergerechtigkeit in der Gesundheit erst an ihrem Beginn.«

Viele Beiträge zum Thema Geschlecht, Gesundheit und Krankheit bei Hurrelmann und Kolip zeigen aber immerhin, dass die Forschungsperspektive der Gesundheitswissenschaft bereits zu multidimensionaler Modellbildung geführt hat, die aufgrund theoretisch-methodischer Belange neben lebensalter- und lebenslaufbezogenen Determinanten und vergleichenden Gesundheitsanalysen bei Frauen und Männern auch Gesellschafts- und Umwelteinflüsse sowie die geschlechtsspezifische Inanspruchnahme des Versorgungssystems einbeziehen und in hohem Maße interund metadisziplinären Anschluss fordern. Die Ergebnisse der Gesundheitsforschung am Leitfaden des Geschlechts sind für sich bemerkenswert. Allgemein bekannt ist, dass die Lebenserwartung der Frauen die der Männer um einige Jahre übersteigt, und 644

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zwar homogen in den meisten Ländern. Blickt man jedoch auf die sogenannte »health-expectancy«, also die bei »guter Gesundheit verbrachte Lebenszeit, fallen die Unterschiede zwischen Frauen und Männern schon wesentlich geringer aus« (Kolip/Hurrelmann, 2002, 18). Die längere Lebenszeit der Frauen sei von »Behinderungen und Einschränkungen gekennzeichnet«. Es sei sogar zu beobachten, dass der auf den Rückgang der Müttersterblichkeit zurückgeführte Anstieg der Lebenserwartung von Frauen in den letzten 100 Jahren in einigen Industrieländern wieder rückläufig sei. Der Unterschied in der Lebenserwartung von Männern und Frauen verringere sich in diesen Ländern, z. B. den USA, weil »die Lebenserwartung der Männer mittlerweile stärker als jene der Frauen steigt«, was u. a. auf die verringerten Unterschiede im »gesundheitsriskanten Verhalten«, z. B. Rauchen, zurückgeführt werden könne (ebd.). Die Lebenserwartung der Männer sei dennoch kürzer als die der Frauen, aufgrund der wesentlich höheren männlichen Säuglingssterblichkeit und aufgrund von Todesursachen im frühen und mittleren Erwachsenenalter, (mit)bedingt durch Risikoverhalten. Die Todesursachenstatistiken zeigen deutliche Unterschiede bei den Determinanten Geschlecht und Alter: »Eindeutig sterben schon bei der Geburt mehr Jungen als Mädchen, auch schon zuvor während der Schwangerschaft. Jungen sind … häufiger von Geburtskomplikationen und angeborenen Missbildungen betroffen, zudem sterben sie in Entwicklungsländern häufiger an Infektionskrankheiten. Allerdings sind auch einige Störungen und Krankheiten bei Mädchen häufiger … so dass die Verallgemeinerung, dass neugeborene Jungen generell das biologisch schwächere Geschlecht seien, nicht zulässig ist.« (ebd.)

Gleichwohl seien vom ersten bis zum zwölften Lebensjahr Jungen eher als Mädchen »das verletzlichere Geschlecht«. Jungen würden häufiger wegen gesundheitlicher Störungen bei Medizinern vorgestellt und fielen »häufiger durch neurotische und emotionale Störungen, Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen, Störungen der Impulskontrolle und des Sozialverhaltens und durch aggressive Verhaltensweisen auf« (ebd.). Diese Liste könnte über das zahlreichere Auftreten von Verhaltensstörungen, geistige Behinderungen und emotional-sprachliche Störungen bis hin zur Todesursachenstatistik, derzufolge Jungen öfter eines gewaltsamen Todes sterben, fortgesetzt werden. Ein verändertes Bild zeige sich erst teilweise mit der Pubertät. Kolip und Hurrelmann (ebd.) stellen fest, dass »jetzt die Mädchen ihre Gesundheit subjektiv schlechter« einschätzen; sie würden häufiger krank, »und zwar im psychosomatischen und physiologischen Bereich«: 645

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»Auffällig sind vor allem die vielen internalisierenden Symptome bei Mädchen wie depressive Stimmungen, Ängste, Einsamkeitsgefühle, Suizidversuche und Essstörungen. Jungen zeigen hingegen mehr externalisierende Symptome wie oppositionelles Verhalten, Schulprobleme und Delinquenz. Vor allem im Freizeitbereich zeigen sie risikofreudiges und aggressives Verhalten, insbesondere im Sport und im Straßenverkehr sowie in Bezug auf den Konsum von legalen und illegalen Substanzen«. (ebd., 19)

Diese Tendenzen im Jugendalter würden sich im Erwachsenenalter fortsetzen, wobei Kolip und Hurrelmann (ebd.) zugespitzt formulieren, »dass Männer im mittleren Erwachsenenalter vor allem unter solchen Krankheiten leiden, die zum Tode führen, während das Krankheitsprofil von Frauen durch chronische Erkrankungen und Beeinträchtigungen im psychosomatischen und psychischen Bereich gekennzeichnet ist«. Im Alter schließlich sei die »Rangreihe« der Erkrankungen bei Frauen und Männern fast identisch, »aber Frauen sind von fast allen chronischen Erkrankungen häufiger betroffen und die Erkrankungen, unter denen Männer leiden, sind potenziell lebensbedrohlich«. Die Rangreihe der häufigsten Todesursachen sei geschlechterspezifisch zwar identisch, aber Frauen würden »an allen Krankheiten in höherem Alter« versterben. Für den leibphänomenologischen Gesichtspunkt ist nun folgende Erkenntnis der Autoren (ebd.) von Bedeutung: »Frauen haben die höhere Lebenserwartung und eine geringere Mortalitätsrate in jüngeren und mittleren Jahren, aber sie fühlen sich oft gesundheitlich nicht wohl, klagen über viele Beschwerden und suchen weit öfter als Männer medizinischen Rat und Hilfe.«

Wenngleich bei der Inanspruchnahme medizinischer Hilfe die Konsultationen im Rahmen von Schwangerschaft, Geburt, hormoneller Kontrazeption und klimakterischer bzw. menopausaler Hormontherapie einzurechnen sind, haben viele Untersuchungen die genannte subjektive Einschätzung unterstrichen: Frauen fühlen sich oft gesundheitlich nicht wohl, d. h. sie ›leiden‹ in wie auch immer ausgeprägter Weise unter ihrer Leiblichkeit und ›kranken‹ an ihrer leiblichen Integrität. Die Gründe dafür sind, wie die Gesundheitsforschung nahe legt, in multikausalen Zusammenhängen zu betrachten. Dazu zunächst noch einige ›Fakten‹ mit Bezug auf Arbeiten von Kolip und Hurrelmann: Frauen haben demnach »ein ausgeprägteres Gefühl dafür, sich gesund zu halten, den Körper zu beobachten und sich um den eigenen Körper zu kümmern«. Frauen zeigen eine größere Sorge um ihren Körper und entwickeln die Einstellung, »dem Körper etwas Gutes zu tun und so zur Ge646

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sundheit beizutragen«. Diesen Sachverhalten entsprechend »verfügen sie auch über ein breiteres Alltagswissen hinsichtlich Gesundheit und Krankheit« – Männer halten sich »hingegen für gesünder als Frauen« und suchen nur dann Hilfe auf, »wenn sie sich wirklich krank oder absolut hilflos fühlen«. Männer haben auch eine andere Einstellung zum Gesundheitssystem: Die Rede ist hier von »Angst vor Gesundheitseinrichtungen« und Furcht um Selbstständigkeit. Frauen dagegen, traditionell für die Gesundheit der Familienmitglieder verantwortlich, seien andererseits Laienmedizinerinnen und in besonderer Weise in die Pflege und Versorgung von Angehörigen, auch in Kontakten mit dem medizinischen System involviert, was für sie selbst zu gesundheitlichen Belastungen führt. »Frauen haben aufgrund der komplexen Anforderungen an ihre Geschlechtsrolle mehr psychische Belastungen als Männer, sie nehmen diese selbst auch deutlich wahr, sie leiden hierunter und setzen diese Haltung in ein aktives Suchen nach Unterstützung und Hilfe um … Gleichzeitig leisten sie auch mehr Unterstützung für Andere, in der Regel in einem höheren Ausmaß als sie sie selbst empfangen.« (ebd., 21) 7

Geschlechtsspezifische Rollenstereotypen zeigen sich nicht allein bei der Inanspruchnahme des medizinischen Versorgungssystems, sondern auch in diesem selbst. Worringen und Benecke (2002) weisen z. B. darauf hin, dass Gesundheitsprofessionelle die Beschwerden von Männern ernster nehmen als die von Frauen. Bei Frauen würden »schneller und häufiger alle Formen von psychischen und psychiatrischen Krankheiten diagnostiziert«, bei Männern »eher Diagnosen mit einer somatischen und physiologischen Komponente« (ebd., 20). Behandlungsmethoden, Vorsorgesysteme und gesundheitsfördernde Programme sind geschlechtsspezifisch konnotiert. Die Versorgungsstrukturen des medizinischen Systems würden »nicht nur von beiden Geschlechtern unterschiedlich in Anspruch genommen, in ihnen sind die beiden Geschlechter auch in höchst unterschiedlichen sozialen Konstellationen als AkteurInnen tätig« (ebd., 21 f.). 8 Hinsichtlich der »somatischen Kulturen« (gemeint sind Bewegung, Gestik, Mimik, Pflege, gesundheitsrelevantes Verhalten und andere Kör7

Die Autoren (2002, 21) fordern: »Frauen brauchen also deshalb mehr soziale Unterstützung, weil sie Anderen selbst eine große Hilfe sind.« 8 So seien zwar drei Viertel aller im Gesundheitswesen Arbeitenden weiblich, Frauen sind jedoch nur mit knapp 30 % der niedergelassenen Ärzte, mit 20 % der Krankenhausärzte auf Qualifikationsstellen und mit 5 % der leitenden Ärzte in Krankenhäusern vertreten, und das medizinische System sei von »Autoritarismus« und strenger Hierarchie in Lehre, Forschung und Praxis gekennzeichnet.

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perpraktiken) und der Lebensentwürfe von Frauen und Männern wird ein unterschiedliches körperbezogenes Verhalten festgestellt. Die Ergebnisse dieser Forschungen (ebd., 22 f.) bestätigen übrigens das von Stein eruierte Bild vom geschlechtsspezifischen Bezug zum Körper: »Männer betrachten ihren Körper vergleichsweise funktionalistisch, sie besitzen ihn und treiben ihn zu Höchstleistungen wie eine Maschine, die sie mitunter auch bekämpfen und besiegen müssen … Bei Frauen ist Gesundheit eher mit Wohlbefinden und einem reflexiven Verhältnis zum Körper verbunden … Das Körpermanangement von Männern und Frauen, also alle Aktivitäten der Gestaltung, Pflege und Nutzung des Körpers und des Erhalts seiner Leistungsfähigkeit, ist sehr unterschiedlich. Daraus ergibt sich auch, dass Männer weniger Körperhygiene und Körperpflege als Frauen betreiben und den Körper nicht so sehr wie Frauen als Teil ihrer eigenen Persönlichkeit ansehen. Männer praktizieren einen riskanten Lebensstil, der wenig Raum für vorsorgende Maßnahmen lässt.« 9

Die gesundheitswissenschaftliche Geschlechterforschung hat hierfür eine Vielzahl sozialisationsbedingter Aspekte zusammengetragen und bei der methodologischen Herangehensweise an den Komplex Gesundheit mehrdimensionale Definitionen eruiert: »Gesundheit ist nach dem Verständnis der modernen Public-Health-Forschung die ständige, im Lebenslauf immer erneut vorzunehmende Balance zwischen den inneren Ressourcen von Anlage, Temperament und Psyche und den äußeren Ressourcen der sozialen und physischen Umwelt. Männer und Frauen können dann als gesund bezeichnet werden, wenn sie im Einklang mit sich, ihrem Körper, ihrer Psyche und ihrer Umwelt leben, wenn sie Innen- und Außenanforderungen bewältigen und ihre Lebensgestaltung an die verschiedenen Belastungen des Lebensumfeldes anpassen können …« (ebd., 22)

Gesundheit ließe sich folglich als der lebenslange Versuch interpretieren, in der Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Natur und Kultur leibliche Integrität zu finden und aufrecht zu erhalten, also in dem gesamten Komplex von Wirkmächten, der dazu führt, dass man sich selbst in einer bestimmten Weise fühlt, sich spürt und den Lebensentwurf gestaltet, Stand zu gewinnen. Weiter heißt es noch (ebd., 23): »Gesundheit und Krankheit sind das Ergebnis der Interaktion von Risiko- und Schutzfaktoren, die von Männern und Frauen unterschiedlich verarbeitet werden. Von Männern und Frauen werden unterschiedliche Formen der Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit Körper und Psyche praktiziert. … Das Gesundheitsverhalten wird von einem Gesundheitsbewusstsein gesteuert, das ständig neue Er9

Vgl. Analysen bei Stein (2000, 86) u. Kapitel 1.2.2 dieser Arbeit.

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kenntnisse über Lebensgewohnheiten, Ernährung und Bewegung und über Krankheitsbehandlung einbezieht. Gesundheit ist in diesem Sinne immer ein Produkt der Lebensgeschichte, Lebenssituation und Lebensweise. Gesundheit kann als produktive Lebensbewältigung verstanden werden, als eine Balance zwischen schädlichen Belastungen und Noxen und schützenden sowie unterstützenden Faktoren.«

Die Gesundheitsforschung zeigt deutlich, dass beide Geschlechter in ihren Gesundheits- und Krankheitsprofilen »ihre rollenspezifische Sozialisationsbilanz« abbilden (ebd.). Die stereotypen Vorstellungen von Mann und Frau haben sich im letzten Jahrhundert erheblich gewandelt, und Auswirkungen davon finden ihren Niederschlag auch in den Krankheitsprofilen. Bei allen Problemen, die eine Rollenvielfalt bei der Frau hinsichtlich Doppel- und Mehrfachbelastung hervorruft, zeichnet sich für die Gesundheitsforscher ab, dass die Rollenvielfalt der Frau gegenüber der nach wie vor dominierenden ›Rollenarmut‹ des Mannes (Nur-Erwerbstätigkeit bzw. geringe Rollenübernahme in der Familie) der Gesundheit zuträglicher ist. Das zeigen u. a. die vergleichenden Untersuchungen zu erwerbstätigen Müttern und »Nur-Hausfrauen«, jedoch hauptsächlich dann, wenn die subjektive Belastung z. B. in einer guten Partnerbeziehung einen Ausgleich findet. Auf die stressgeplagte und unter dauernder Müdigkeit leidende alleinerziehende und erwerbstätige Mutter dürften solche positiven Schlussfolgerungen nicht zutreffen. Die Ergebnisse zur Vereinbarkeit von Berufs- und Familienarbeit bei Frauen legten aber, so Kolip und Hurrelmann (ebd.), den Schluss nahe, »dass sich die Belastungen und das geringe Wohlgefühl von Frauen eben nicht in einer höheren Sterblichkeitsrate niederschlagen, sondern umgekehrt in einer längeren Lebensdauer«. Mehrfachbelastungen ließen sich offenbar in »Mehrfach-Gestaltungsmöglichkeiten« umwandeln, so dass die Nachteile der spezifischen Rollenkonstellation »auch ihre spezifischen gesundheitlichen Vorteile haben« (ebd.). Dies alles kann nicht mit der gebührenden Ausführlichkeit aufgegriffen werden, die Autoren weisen aber darauf hin, dass erst ein gesellschaftsstruktureller Wandel, z. B. die gleichberechtigte Beteiligung beider Geschlechter am Arbeitsmarkt und im Bildungsbereich, jene grundlegenden »Ausgangsmuster für das heutige verzerrte Macht- und Privilegienverhältnis der beiden Geschlechter« (ebd., 25) abzubauen vermag. Gender-mainstreaming wäre damit nicht nur ein sozial-, sondern auch ein gesundheitspolitisch wertvolles Konzept. In der geschlechtervergleichenden Gesundheitsforschung hat sich ein multidisziplinärer Zugang konstituiert, der von einem statischen Körpermodell zugunsten eines »Körper-Psyche-Umwelt-Modells« (ebd., 28) ab649 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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gewichen ist. Ein solches Modell legt die Differenz der Geschlechter nicht genetisch oder anders programmiert fest, sondern hält Spielräume für das Gestalten und Ausleben offen: »Männer und Frauen werden in ein symbolisches System der Zweigeschlechtlichkeit hineingeboren, aber sie wirken immer auch aktiv an dessen Konstruktion und Aneignung mit. Biologische Faktoren wie endokrine und hormonelle Prozesse legen das Geschlecht nur auf einer spezifischen Ebene fest … Weiblichkeit und Männlichkeit werden vielmehr gelebt und ›hergestellt‹, indem ein Mann oder eine Frau mit der physiologischen Ausstattung, der körperlichen Konstitution, dem angelegten Temperament und den psychischen Grundstrukturen in eine Interaktion mit den äußeren Anforderungen der sozialen und physischen Umwelt tritt. Die jeweilige individuelle Ausgestaltung dieses Wechselverhältnisses definiert die Persönlichkeit, und in diese Persönlichkeit gehen Kerndimensionen von Männlichkeit und Weiblichkeit ein, die jenseits der individuellen Gestaltungsmöglichkeiten sind, weil sie angelegt und angeboren oder auch durch gesellschaftliche Zwänge oktroyiert sind. Durch kulturelle und gesellschaftliche Vorgaben werden die inneren Erfahrungen mit Körper und Psyche stark gesteuert, zugleich aber ist das Erleben und Erfahren von Körper und Psyche individuell geleitet, durch eigene und ursprüngliche persönliche Impulse, die nicht kulturell, gesellschaftlich und biologisch gesteuert sind.« (ebd.)

In diesem multikausalen Zugriff erscheint ein geschlechtsspezifisches Gesundheitsprofil also weder primär vom biologischen Substrat noch ausschließlich von gesellschaftlichen Bedingungen gesteuert, sondern von einem Wechselspiel dieser und anderer Faktoren. In diese Richtung, wenn auch anders gewendet und mit z. T. überdenkenswerten Rückschlüssen, dachte tendenziell auch der Historiker Edward Shorter in seinem Buch »Der weibliche Körper als Schicksal. Zur Sozialgeschichte der Frau« (1984), in dem er Biologie und Sozialisation als Wirkmächte für das Subjektempfinden der Frau durch mehrere Jahrhunderte verfolgte. Wenngleich Shorters Fazit, dass der Feminismus durch die Errungenschaften der modernen Medizin, z. B. durch die Reduzierung der Abtreibungsund Müttersterblichkeit, eine »physische Basis« erhalten habe, kritisch zu beurteilen ist, kann ihm doch dahingehend beigepflichtet werden, dass das Gefühl persönlicher Selbstbestimmung und eigenen Selbstwerts verbessert wurde, nachdem Frauen von entkräftenden Lebensbedingungen (z. B. durch das »Ernährungshandicap«) und ihrer Rolle als Opfer sexueller Verfügbarkeit durch den Ehemann, als Opfer ihrer Kinder und ihres Haushalts und als Opfer der Heimsuchung von damals unbehandelbaren »Frauenkrankheiten« mehr und mehr entbunden wurden. Die These, dass das »erste große Anschwellen des Feminismus« – Shorter meint die Frauenbe650

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Der kranke weibliche Leib

wegung im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts – »durch die völlig neue gesundheitliche Situation der Frau erst ermöglicht wurde« (Shorter, 1984, 336) erscheint aber überzogen, wenn man nur in Betracht zieht, in welchem Maße die Frauenbewegungen des 20. Jahrhunderts bereits historisch verwurzelt waren und auch Fortschritte in der Gleichstellungspolitik (z. B. Bürger-, Wahl-, Eigentumsrecht und freierer Zugang zu Bildungsressourcen) das »Gefühl persönlicher Selbstbestimmung, eigenen Selbstwerts« (ebd., 9) steigerte, das von Shorter ausschließlich auf die Gesundheit bezogen wurde. Seine These über den Feminismus ist aber letztlich auch auf die historische Entwicklung der Familie bezogen, denn er spricht vom Zusammenhang zwischen Gesundheitszustand, Feminismus und modernem Familienleben, wobei er (ebd., 336) sich z. B. auf die Entwicklung der Männer von »geringschätzigen, rohen Geschöpfen« zu »neuen« Männern, »liebevollen Ehemännern« bezieht. 10 Gegenüber Shorters Interpretation des Gesundheitsprofils von Frauen, verfügt das mehrdimensionale Modell der heutigen Gesundheitswissenschaften jedoch über wesentlich breitere Evaluationskriterien, deren Ergebnisse im Folgenden weiter diskutiert werden.

10

Shorters (ebd., 336) Auffassung, die erste Welle des Feminismus habe »im Bündnis mit den Männern und nicht im Kontext der traditionellen Frauenkultur stattgefunden« und seine These, die zweite Welle des Feminismus – Shorter meint die Zeit zwischen 1965 und 1980 – habe einen kurzen »historischen Stammbaum« und hätte sich »als Bündnis gegen die Männer« konstituiert, erscheinen allerdings problematisch.

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Schluss: Die Sorge um den weiblichen Leib

Blicken wir nun mit Rekurs auf die Ergebnisse der Geschlechterforschung in der Gesundheitswissenschaft auf den Frauenkörper unserer Zeit und Kultur, in der das Ernährungsdefizit von Frauen und die Müttersterblichkeit weitgehend im Griff sind, in der es einen breiten Markt für Verhütungsmittel und einen schmalen Markt für medizinisch sichere Abtreibungen gibt, in der Frauen ›auf dem Papier‹ gleichgestellt sind, in der vom Post-Feminismus die Rede ist und in der Shorters ›neuer Männertypus‹ historisch fortgeschritten sein dürfte. Was wir vorfinden, ist eine explodierende Industrie gynäkologischer Medizin, die eifrig bemüht ist, den Gesundheitszustand von Frauen zu erforschen, zu erhalten und zu fördern. Im Sinne Shorters müsste die Frau von heute so gesund und in seiner Logik auch so emanzipiert sein wie nie zuvor. Aber die Untersuchungen der Gesundheitswissenschaftler kommen zu dem einhelligen Schluss, dass die höhere Lebenserwartung und die geringere Mortalitätsrate von Frauen nicht mit einer »Health-Exceptance« verknüpft, sondern »von Behinderungen und Einschränkungen gekennzeichnet« ist (Kolip/Hurrelmann, 2002, 18). Frauen »fühlen sich oft gesundheitlich nicht wohl, klagen über viele Beschwerden und suchen weit öfter als Männer medizinischen Rat und Hilfe« (ebd., 19). Das sind ernst zu nehmende Resultate, die Rückschlüsse auch auf die leibliche Integrität von Frauen zulassen. Dass Frauen sich oft subjektiv gesundheitlich nicht wohl fühlen, bedeutet freilich noch nicht, dass sie sich krank fühlen, es bedeutet aber in jedem Fall, dass sie meinen, sie könnten sich besser fühlen. Frauen sind nicht nur Patientinnen, sondern heute auch Kundinnen des medizinischen Systems, das eng mit der Schönheitsindustrie verbunden ist. Dabei fällt auf, dass Frauen ihren Körper in einer Weise wahrnehmen und behandeln, die Unzufriedenheit signalisiert und den Eindruck evoziert, er könnte besser sein bzw. verbessert werden. Sicherlich haben sich Frauen – zumindest die, die es sich leisten konnten – schon vor 5000 Jahren um ihre Schönheit gekümmert und dafür den Rat der Experten eingeholt und auf die Hilfe der Mediziner zurückgegriffen, doch der heutige, auch die breiten Massen ergreifende Kult um den gestylten Körper 652 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Schluss: Die Sorge um den weiblichen Leib

und das perfekte Aussehen hat historisch einmalige Ausmaße erreicht. Millionen von Frauen sitzen täglich vor dem Spiegel und üben die zeitaufreibende Kunst des Schminkens aus. Milliarden von Euros fließen in eine Haarfärbeindustrie, die weibliche Haare von ihrer natürlichen Farbe ›befreit‹ und z. B. die Spuren ihres Ergrauens beseitigt. Millionen von Frauen unterwerfen sich dem Diktat von Bekleidungsmoden, die freie Atmung und freien Gang behindern und geben für Kleidung weit mehr Geld aus als Männer. Millionen von Frauen gehen freiwillig, ohne dass eine Krankheit vorliegt, das Risiko einer Narkose während einer Schönheitsoperation ein, um sich den Körper aufschneiden oder anstechen, auffüllen oder absaugen, um hier etwas wegnehmen und dort etwas hinzufügen zu lassen. Milliarden von Euros fließen in die Anti-Aging-Industrie, in diätetische Präparate, Fitness-Studios und Wellness-Oasen. Millionen von Frauen wissen um ihre ›Problemzonen‹, um das, was an ihrem Körper ›besser‹ sein könnte. Diese Reihe könnte beliebig fortgesetzt werden, sie zeigt, wie sehr sich Frauen, aus welchen Gründen auch immer, tagtäglich und unter Aufwendung nicht unerheblicher finanzieller Mittel sowie von Zeit und Schmerz, mit ihrem Körper befassen, ihn anfassen und im Spiegel betrachten, ihn wiegen, ihn stylen, ihn ›fitmachen‹, ihn bräunen, ihn rasieren, ihn hungern lassen, ihn malträtieren. 1 Fühlen sich Frauen oft nicht so wohl, weil sie dies alles machen, oder machen sie dies alles, weil sie sich oft nicht so wohl fühlen? Dies ist eine Frage wie nach der Henne und dem Ei. Oder leben Frauen immer noch in einer Welt, die sie krank macht, nicht so drastisch und deutlich wie früher, als die Geburt eines Kindes das größte Risiko bedeutete, sondern schleichend, etwa in Form eines ›erkrankten‹ Selbstwertgefühls und einer gestörten leiblichen Integrität, die zu chronischen Krankheiten führen können, wie sie vor allem bei älteren Frauen häufiger auftreten als bei Männern. Allerdings, so kann noch angemerkt werden, gelten manche der gerade angeführten Symptome mittlerweile auch zunehmend für Männer, für die der Körperkult ebenfalls industrielle Ausmaße angenommen hat. Speziell vom kranken weiblichen Leib zu reden, meint nicht nur, typische Krankheitsbilder wie Brust-, Gebärmutter- oder Vaginalkrebs mit entsprechenden Regungen und Sensationen an den diesen Organen entsprechenden Leibesinseln zu eruieren, sondern, wie am Beispiel der Gesundheitswissenschaft gezeigt, den Gesundheitszustand von Frauen unter dem Aspekt der geschlechtsspezifischen Situation zu betrachten. Die Unterschiede in den geschlechterspezifischen Situationen sind ein halbes Jahr1

Zum Mythos Schönheit s. ausführlich Wolf, 1993.

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hundert nach Beauvoir und Millett und nach den beiden großen Wellen der Frauenbewegungen im 20. Jahrhundert immer noch mehr oder weniger markant ausgeprägt und wirken auf die Gesundheits- und Krankheitsprofile von Männern und Frauen ein. Auf die Seite der Frauen gehören dazu z. B. die zwischenmenschliche Pflege mit Mehrfachbelastungen, die erlittenen Diskriminierungen als Geschlechtswesen, bis hin zu Gewalt als verborgenem Hintergrund von Gesundheitsproblemen. Frauen unserer Kultur sind im Zeitalter des Post-Feminismus immer noch in weitaus größerem Maße als Männer einer grundlegenden Sorgestruktur ausgesetzt. Das Sich-Sorgen kann, wenn es im Übermaß auf ein Individuum einwirkt, eine Ursache für Erkrankung sein, und zwar eher für eine chronische als für eine akute Erkrankung. Es mag sich dabei nicht zwingend um kausale Zusammenhänge zwischen dem Sich-Sorgen-Machen und spezifischen Organerkrankungen handeln, wenngleich die hohe Rate z. B. von Brustkrebserkrankungen zu Spekulationen Anlass bietet, gemeint sind vielmehr schleichende Auswirkungen auf die leibliche Integrität. Das mag sich z. B. in Schlafstörungen ausdrücken, ein häufiges Symptom der Sorgestruktur eines individuellen Frauenlebens, aber ebenso in nervösen Unruhezuständen, Angst, Furcht und Panik, gestörtem Essverhalten und grundlegend in Weisen leiblichen Verspannt-Seins bzw. der sich allmählich entwickelnden Unfähigkeit sich zu entspannen, ja überhaupt die Verspannung als solche am Leibe noch wahrzunehmen. Allerdings gilt dies – mit gewissen Einschränkungen – auch immer mehr für Männer. Der sich in einer aktuellen Sorge-Situation befindende Mensch mag sein In-die-Enge-getrieben-Sein durchaus noch leiblich empfinden, z. B. durch Kurzatmigkeit, Fahrigkeit, Tollpatschigkeit, Schreckhaftigkeit und Unaufmerksamkeit, durch Anspannung der Gesichtsmuskulatur und der leiblichen Haltung, auf lange Sicht aber, im Zustand chronischen SichSorgens, habitualisiert sich die Enge am Leibe selbst, wird unauffällig bzw. zur Gewohnheit, und es bilden sich starre Leibesinseln heraus, u. a. durch eingeschliffene falsche Atmung und Körperhaltung. Das, was nun im Frauenleben die grundlegende Sorgestruktur ausmacht, ist Effekt eines Zusammenspiels von natürlichen, kulturellen und persönlich-individuellen Gegebenheiten und bezieht sich hauptsächlich auf das Konglomerat von Phänomenen rund um die Fruchtbarkeit. Die vorangegangenen Kapitel haben deutlich gemacht, wie sich diese Sorgestruktur in der weiblichen Biographie an den Achsen von Körper, Leib und Diskurs entfalten kann. Schon die Thelarche wird in den seltensten Fällen neutral bis unauffällig erlebt, vielmehr drängen sich neben den Veränderungen des Körpers 654 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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und des leiblichen Empfindens sofort geschlechtsspezifische, insbesondere sexuelle Bedeutungen der Brüste auf, die das junge Mädchen in vielfältiger Weise im zwischenmenschlichen Leben bedrängen. Es hat sich mit der Unverfügbarkeit dessen, was die Thelarche mit sich bringt, auseinander zu setzen, weil weibliche Brüste diskursiv besetzt sind und das Mädchen diese Konnotationen am eigenen Leibe zu spüren bekommt. Es beginnt, seinen Körper mit dem Blick der Anderen wahrzunehmen und zu bewerten. Es wurde gezeigt, in welche Sorge junge Mädchen verfallen, wenn sich die Brüste nicht so entwickeln, wie es ihren meist durch kulturelle Bewertungen bedingten Selbst-Bildern entspricht, also wenn sie z. B. feststellen, dass diese ›zu klein‹ oder ›zu groß‹ sind, oder von Natur aus unterschiedlich. Durch den im Schönheitsmythos instituierten Blick der Anderen auf den eigenen Leib wird ein Zwang ausgeübt, dem zu entsprechen viel Aufwand betrieben wird. Hier haben wir es mit einer zentralen Sorgestruktur der weiblichen Biographie zu tun, die dadurch komplettiert wird, dass ›sich entwickelnde‹ Mädchen Verantwortung für die Sichtbarkeit und sexuelle Wirkung ihrer Brüste übernehmen müssen, z. B. auch im Befolgen der Kleidernorm ab einem gewissen Zeitpunkt in der Thelarche (beim Schwimmen das obligatorische Oberteil). Die Gesundheitswissenschaft hat festgestellt, dass sich Mädchen ab etwa dem 12. Lebensjahr subjektiv gesundheitlich nicht mehr so wohl fühlen wie zuvor, also zu einer Zeit, in der die Thelarche bereits in ihr zweites Stadium übergeht und durch die Menarche ergänzt wird. Es wurde gezeigt, dass die Menarche zwar Gegenstand einer eher oberflächlichen Sorge hinsichtlich des ›normalen‹ Eintretens im Vergleich zu Gleichaltrigen sein kann, dass sich die Sorge aber prinzipiell auf lebenspraktische, besonders hygienische Belange sowie etwaige leibliche Regungen richtet. Anders als die Thelarche, deren ›Resultate‹ in unserer Kleidungskultur immer irgendwie sichtbar sind, findet die Monatsblutung qua kultureller Norm ›nichtöffentlich‹ statt und ist in umfangreiche Hygienediskurse eingebettet. Neben der heute vielfältig lösbaren hygienischen Aufgabe richtet sich die Sorge aber grundsätzlich auf das, was dem weiblichen Leib geschieht, was da in Unverfügbarkeit den Leib regelmäßig befällt, nach Umsorgen verlangt, und was da womöglich auch leibliche Regungen wie Krämpfe, Schmerzen etc. hervortreibt. Aber es sind nicht allein die Menstruationen, ihre lebenspraktische Bewältigung und das Umgehen mit den sie begleitenden leiblichen Regungen, die den Frauen Sorge um ihren Leib bereiten, sondern vor allem die mit ihnen einhergehende Fruchtbarkeit. Das Aufklärungsprogramm unserer Kultur vermittelt das Wissen um den Zusammenhang zwischen Mens655 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Schluss: Die Sorge um den weiblichen Leib

truationszyklus und Schwangerschaft, und meist nicht das Wissen um einen Zusammenhang zwischen Menstruationen und Sexualität. Die Fruchtbarkeit, die in unserer Kultur eine Frage der Planung und nicht des Geschehen-Lassens ist, bringt die Frau in eine merkwürdige Distanz zu ihrem Leib. Die Sorge richtet sich auf die Unverfügbarkeit des Leibes, der zugleich, wie das sexuelle Paradigma vorgibt, immer verfügbar sein muss, und zwar in genau der Weise, in der sich das Problem der Fruchtbarkeit überhaupt stellt, nämlich in der auf Penetration zielenden Sexualität. Unabhängig davon, ob die Frau diese Form der Sexualität als eine für sie angenehme und erstrebenswerte leibliche Praxis entdeckt hat oder nicht, ist sie mit der Erwartungshaltung konfrontiert, sich um ihre Fruchtbarkeit zu sorgen, d. h. sie auszuschalten, denn weibliche Lebensentwürfe haben in unserem Bildungs- und Arbeitssystem kaum eine Chance, wenn das ›Kinder-Kriegen‹ nicht schon im minderjährigen Alter ›im Griff‹ ist. Die Folge davon und vor allem von einer eindimensionalen Aufklärung rund um die Fruchtbarkeit ist, dass das medizinische System kontaktiert und meist die hormonelle Kontrazeption angefangen wird, unterstützt und gefördert von der kostenfreien Abgabe der Pille an minderjährige Mädchen. Das ist freilich in unserer Kultur eine einfache Lösung, wenn auch nicht ohne Tücken. Die Handlung der pünktlichen Tabletteneinnahme, die regelmäßige Inanspruchnahme des medizinischen Systems, die Einstellung des Organismus auf das Präparat mit Probephasen zur Verträglichkeit, die Berücksichtigung des Gesundheitsverhaltens etc. stellen die Fruchtbarkeit in den kontextuellen Rahmen des Krankseins. Noch dazu verändert sich u. U. das leibliche Empfinden, und so haben wir es bei der hormonellen Kontrazeption bei allen erwünschten Wirkungen letztlich mit einem schweren Medikament gegen die Fruchtbarkeit zu tun. Es sind andere Methoden denkbar, nicht nur andere Formen von Sexualität, sondern vor allem andere Weisen, mit der eigenen Fruchtbarkeit umzugehen, die bekanntermaßen – wie die Menstruation – eine wiederkehrende kurze Phase ist. Doch auch wenn eine Frau andere als hormonelle Verhütungsmethoden verwendet, bleibt die Fruchtbarkeit ein Phänomen der Sorge, wenn Penetrations-Sexualität praktiziert wird. Die nächste Sorge stellt die mit der Fruchtbarkeit zusammenhängende Familienplanung selbst dar. Wenngleich mehr ungeplante Kinder auf die Welt kommen als gewollte ausbleiben, ist die Fruchtbarkeit unverfügbar und kann der unerfüllte leibliche Kinderwunsch zum Problem werden. Kinder können nicht – oder zumindest noch nicht – zu taxierten Terminen hergestellt werden, und es gibt Frauen und Männer, bei deren Lebensentwurf (Familie) der Leib nicht so recht mitspielt. Die moderne Repro656 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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duktionsmedizin stilisiert solche Fälle medienwirksam hoch und schafft so ein Klima, das die Herstellbarkeit der Empfängnis suggeriert. Dabei wird, wie das Beispiel der künstlichen Befruchtung zeigt, sogar der sexuelle Akt unnötig. Viele Frauen, die sich mit dem Eigenwillen ihres Leibes nicht abfinden wollen, kontaktieren das medizinische System, um ›nachzuhelfen‹. Ohne auf das Leiden dieser Frauen und die häufige Vergeblichkeit reproduktionstechnischer Versuche einzugehen, dürfte klar sein, dass die an einem unerfüllten Kinderwunsch ›leidende‹ Frau zur Kranken wird, wenn sie sich in die Hände der Reproduktionsmediziner begibt und mit Blutabnahmen, Spritzen, Tabletten und operativen Eingriffen, mit Vorund Nachsorge konfrontiert wird und bei misslungenen Versuchen der psychologischen Betreuung bedarf. Kommt es im Zuge der reproduktionstechnischen ›Nachhilfe‹ zu einer Schwangerschaft, ist diese wegen der erhöhten Rate von Mehrlings-Schwangerschaften in besonderer Weise medikalisiert, häufig von Abgängen und Fehlgeburten begleitet und endet, wenn sie denn ausgetragen wird, meist mit Frühgeburt und/oder Kaiserschnitt. Diesem Sonderfall der Medikalisierung der Schwangerschaft steht zwar die normale Schwangerschaft gegenüber, aber in der heutigen Zeit wird auch sie in den Kontext von Krankheit gestellt. Eine Schwangere, die erst im fünften Monat das medizinische System kontaktiert, wird für unverantwortlich erklärt, und eine Schwangere, die durch den Gynäkologen von ihrem Umstand erfährt, ist leiblich vielleicht noch gar nicht in dem Sinn betroffen, dass sie ihre Schwangerschaft spürt, sie wird aber sogleich mit einem umfangreichen medizintechnischen Überwachungssystem konfrontiert, das die Sorge um den eigenen Körper und den des Ungeborenen in oft mehr als nötiger Weise verstärkt. Das gilt zumal für definierte Risikoschwangerschaften, z. B. bei Frauen über 35 Jahren, ein Schwangerschafts-Alter, das in heutigen Industrienationen mehr und mehr normal wird. Diese Schwangeren werden z. B. zu Diagnoseverfahren wie der Fruchtwasseruntersuchung gedrängt und machen damit nicht nur sich selbst, sondern auch das Ungeborene zu Patienten und zum Gegenstand der Sorge. Auch die Geburt wird in hohem Maße medikalisiert und findet meist in der Klinik statt. Hausgeburten, die in den 1970er Jahren noch Attraktivität hatten, sind heute vergleichsweise selten. Dagegen scheint die ambulante Geburt in Klinik oder Geburtshaus bei einer gewissen weiblichen Klientel doch eine Konjunktur zu erfahren. Die Suggestionsmacht des medizinischen Establishments ist jedoch andererseits so erfolgreich, dass nicht wenige Frauen ohne medizinische Indikation die operative Geburt 657 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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verlangen und damit ihren eigenen Leib wie den des Ungeborenen der Möglichkeit berauben, die Geburt zu einem natürlichen Zeitpunkt geschehen zu lassen. Eine solche Überantwortung natürlicher Prozesse an Fremde, Apparate und Medikamente passt zu dem Lebensstil in industrialisierten Kulturen ebenso wie der Wunsch mancher Frauen, mit Testosteron versorgt zu werden, um in einer eher dem männlichen Leib angepassten Lebenswelt gut funktionieren zu können. Neben dem umfangreichen Einsatz von Schmerzmitteln gehört der Dammschnitt zu den fast alltäglichen Eingriffen während einer Geburt und lässt die Gebärende mit einer genähten Genitalverletzung zurück, die im Heilungsprozess der Nachsorge bedarf. Der Wochenfluss einer Gebärenden scheint wenig medikalisiert zu werden, was z. B. mitbewirkt, dass er im kollektiven Gedächtnis kaum präsent und zuweilen bei Nicht-Betroffenen überhaupt nicht mehr bekannt ist. Beim Stillen haben wir es heute mit einem Bemühen um Beseitigung früherer Entfremdungsprozesse zu tun, nachdem vor allem in den 1960er Jahren versucht wurde, diesen natürlichen Vorgang im Verein mit einer immensen Industrie für künstliche Babynahrung abzuschaffen. Nach der Geburt ist es zunächst die stillende Mutter, die in eine umfangreiche Sorge um das Kind eingebunden ist. Ihr Leib, ihre Brüste stehen in wechselseitiger Responsivität zu dem Säugling, die den lebenspraktischen Tages- und Nachtablauf einer Stillenden in nicht geringem Ausmaß verändert. Wenngleich heute andere als patriarchalische Familienmodelle gelebt werden und der Mann sich an der Sorge um die Kinder beteiligt, liegt die Last dennoch in den meisten Fälle größtenteils auf der Mutter, und, durch das Schwinden des großfamiliären Unterstützungsnetzes, heute oft auf der isolierten, vereinsamten Mutter. Wenn im Zusammenhang der Kinderpflege häufig von den positiven Rückkopplungsprozessen die Rede ist, sollte dennoch das Ausmaß der zu tragenden, rein körperlichen, und zu ertragenden, also von Betroffenheit gekennzeichneten, Last nicht unterschätzt werden. 2 Das Neugeborene ist in jeder Hinsicht ein Pflegefall, der eigentlich einer Rundumpflege durch zwei Personen bedürfte. Solche Pflegefälle werden von den Krankenkassen heute unter anderen Umständen finanziell in der höchsten Pflegestufe klassifiziert und mit entsprechenden Entlastungsstrategien (z. B. Pflegeurlaub), Ausbildungs- und Unterstützungsstrategien (z. B. Pflegekurse, wiederkehrende Besuche durch ausgebildetes Personal) bedacht. Ganz anders beim Pflegefall des normalen Neugeborenen, der noch von einer besonderen Qualität ist, weil die Verständigungsmöglichkeiten zwischen Pflegeper2

Vgl. hierzu z. B. Sichtermann, 1983.

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sonen und Zu-Pflegenden äußerst gering sind. Der Säugling mag Entzücken, Erstaunen, Freude und Glück hervorrufen, sein Schreien aber geht durch ›Mark und Bein‹ und muss erst einmal zu ertragen gelernt werden. Das Sich-Arrangieren mit der Mutter- bzw. Elternsituation ist nicht nur deshalb von großer Betroffenheit gekennzeichnet, weil es eine Veränderung des Lebensrhythmus mit Schlaf-, Freiheits- und Entspannungsentzug mit sich bringt, sondern auch, weil es in eine umfassende Sorgestruktur eingebettet ist, die als gesetzlich verankerte Sorgepflicht sehr große Verantwortung für das Gedeihen eines Menschen bedeutet. Diese Sorgestruktur mag sich mit dem Heranwachsen des Kindes verändern, insbesondere, wenn sich die Verständigung verbessert, sie wird aber häufig bis weit über das Mündigwerden hinaus noch real erlebt und in Kleinfamilien von immer weniger Menschen geteilt. Dieser immensen Bedeutung der Sorgestruktur im Zusammenleben mit Kindern wird in Deutschland zwar mit einem sich ständig entwickelnden Netzwerk begegnet, doch sind dabei auch schwerwiegende Defizite zu verzeichnen.3 Die qua Natur oder in hohem Maße durch Kulturalisierung und Medikalisierung in den Frauenleib eingeschriebene Fruchtbarkeit ist die Wurzel der heutigen gesellschaftlichen Einordnung der Frau. Ihre ›Fessel‹, ob nun mit oder ohne Erfüllung von Kinderwünschen, hält über mehrere Jahrzehnte den Frauenkörper und die auf ihn gerichtete Sorgestruktur fest im Griff. Auch in diesem Zusammenhang wird die gesellschaftliche Dimension der Fruchtbarkeit deutlich, die über die persönliche Sorge hinausweist und vor allem in Zusammenhang mit beruflicher Tätigkeit und finanzieller Unabhängigkeit steht, jenen Parametern weiblicher Existenz, die seit den ersten feministischen Impulsen als maßgeblich für die Befreiung der Frau und ihr Wohlbefinden betrachtet werden. Durch Sterilisation und Pille kann die Fruchtbarkeit als Wurzel der Chancen-Ungleichheit keinesfalls ausgeräumt werden, denn es geht eher um den Mythos Fruchtbarkeit als die Fruchtbarkeit einer konkreten Frau. So werden z. B. immer noch junge Frauen, die noch keinerlei Kinderwunsch bzw. noch keinen Partner haben, schon allein aufgrund des ›Verdachts‹ auf die spätere Möglichkeit der Schwangerschaft bei Berufswahl und Karriere be3

Das betrifft, um nur wenige Beispiele zu nennen, die sich auf elementare Sorgen beziehen, u. a. die finanziellen Regelungen während der Elternzeit, die Betreuungsmöglichkeiten für Kinder im Alter von bis zu drei Jahren und für Schulkinder (vor allem auch in den Schulferien) und die soziale Stellung von Alleinerziehenden. Politisch haben wir es hier mit der Paradoxie zu tun, dass wir eine Ideologie des Wachstums haben und Kinder als erstrebenswert angesehen werden, für das alltägliche Leben mit Kindern aber gesamtgesellschaftlich nicht genug getan wird bzw. immer noch um sinnvolle Lösungen gekämpft werden muss.

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nachteiligt. Diese gesellschaftliche Dimension betrifft aber z. B. auch gewollt kinderlose Frauen, die sich diesen äußeren Vorgaben nicht entziehen können. Im fortgeschrittenen Lebensalter mag die Sterilisation ein Eingriff sein, der von der ›Fessel‹ Fruchtbarkeit befreit – ein Eingriff, der von Medizinern bei jungem Lebensalter der Frau abgelehnt wird. Und die Menopause befreit endgültig vom ›Joch‹ der Fruchtbarkeit. Die weibliche Biographie ist dann aber schon in einer bestimmten Weise verlaufen und lässt sich in späteren Jahren nicht mehr in eine völlig andere Richtung bringen. So ist ein plötzlicher Karriere-Aufstieg nach jahrelanger beruflicher Benachteiligung unrealistisch; gerade Frauen sind nach Überschreitung ihres 50sten Lebensjahres auf dem Arbeitsmarkt nur schwer zu vermitteln. In der Übergangsphase des Klimakteriums sieht sich die Frau im Umgang mit ihrem Leib mit einer veränderten Sorgestruktur konfrontiert, die einerseits von der Natur ihres Leibes, andererseits vom gesellschaftlichen Umgang mit den Wechseljahren und ihrer Definition als ›gefährlicher‹ Hormonmangelzustand bestimmt ist. Die Ablösung der Fruchtbarkeit durch Unfruchtbarkeit stellt ein ähnliches Problem dar wie die Fruchtbarkeit selbst. Unregelmäßiger werdende Menstruationen und die Umstellung der leiblichen Zeitrhythmik stellen eine Herausforderung für das weibliche Subjekt dar, zu deren Bewältigung Frauen allzu gerne in Kontakt zum medizinischen System treten und z. B. zur Hormonsubstitutionstherapie greifen. In Unklarheit darüber, ob und wann noch Ovulationen stattfinden, verändert sich das Verhütungsverhalten, und der erneute oder fortgesetzte Griff zur Pille mag auch von der Motivation getragen sein, damit verbundenen Unwägbarkeiten vorzugreifen. Neben solchen Eingriffen in die leibliche Verfassung haben Schmerz- und andere Linderungspräparate sowie die breite Palette der Nahrungsergänzungsmittel im Klimakterium und in der Menopause Hochkonjunktur, von Schlaf- und Beruhigungsmitteln sowie Psychopharmaka ganz zu schweigen, die während des gesamten weiblichen Lebensverlaufes eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Die gesellschaftlich wenig anerkannte Stellung alternder und alter Frauen und die damit häufig verbundene Vereinsamung hat wiederum eklatante Auswirkungen auf das Wohlbefinden, das Selbstwertgefühl und die leibliche Integrität – zumal in unserer Gesellschaft, die durch das Schwinden der Großfamilie als sozialem Netz und durch die Trennung generationaler Lebensentwürfe bis hin zur ›Abschiebung‹ alter Menschen in Pflegeeinrichtungen geprägt ist. Nach Kolip und Hurrelmann (2002, 19) sind Frauen im Alter »von fast allen chronischen Erkrankungen häufiger betroffen« als Männer und bildet das Gesundheitsbild auch ge660 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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schlechtsspezifisch akzentuierte Lebenssituationen ab, z. B. durch den höheren Anteil von Witwen, das schlechtere Bildungsniveau und nicht zuletzt durch die schlechtere finanzielle Lage von Rentnerinnen in unserer Zeit. Obwohl im Alter die ›Fessel‹ des Fruchtbarkeitsproblems als abgeschüttelt gelten kann, fühlen sich Frauen offenbar nicht unbedingt besser. Sie scheinen verstärkt die ›Früchte‹ eines von vielen Sorgen um den Leib und zugleich einer Entfremdung von ihm durchzogenen Lebens zu ›ernten‹. Die gesamten natürlichen Lebensprozesse am weiblichen Körper werden also, wie die vorangegangenen Kapitel gezeigt haben, durch sozio-kulturelle und insbesondere medizinische Diskurse bewertet und geschient und wirken sich nachhaltig auf die leibliche Integrität aus. Dabei wird das, worunter Frauen leiden, in hohem Maße ›von außen‹ gesteuert und ist Effekt von Gesellschaftsstrukturen, die den natürlichen Vorzeichnungen des weiblichen Leibes und damit verbundenen Lebensentwürfen eher zuwiderlaufen. Gewiss ist der weibliche Leib qua Natur von anderen, vielleicht dramatischeren Erfahrungen betroffen als der männliche, das Ausmaß und die Qualität der sich mit diesen Erfahrungen einstellenden Betroffenheit ist aber in hohem Maße sozio-kulturell vorfiguriert und hat großen Einfluss auf die leibliche Integrität, die für das Wohlbefinden von grundlegender Bedeutung ist. Eine wesentliche Quelle des Wohlbefindens von Menschen ist, neben ausreichender Ernährung, angemessenen Wohnverhältnissen und befriedigenden sozialen Beziehungen, die Sexualität als Quelle leibeigener Lust, die u. a. in zwischenmenschlichen Interaktionen entsteht. In unserer Kultur weiß man von der Sexualität so gut wie alles: Die Körperchemie ist aufgedeckt, die Bedingungen der Fruchtbarkeit sind erkannt, der positive Einfluss auf die Gesundheit wird mittlerweile vom medizinischen System propagandistisch festgestellt und eine mächtige Sexualitätsindustrie schürt tagtäglich die sexuelle Lust – aber welche Lust? Diese Frage zu beantworten heißt, die heterosexuelle Matrix entlang zu schreiten und festzustellen, dass es eine phallozentrische ist, die in weitaus größerem Maße der männlichen Sexualität entgegenkommt als der weiblichen. Es gibt keinen der Prostitution vergleichbaren Industriezweig, der Dienstleistungen rund um die weibliche Sexualität anbietet. Während die männliche Sexualität durch die Bilderflut einer erotisch-pornographischen Industrie angestachelt und aufgerieben wird, ist die weibliche Sexualität gesellschaftlich so gut wie gar nicht besetzt, jedenfalls nicht in der Weise wie das für die männliche der Fall ist. Zur Zeit gibt es in der kulturellen Bilderwelt und anderen Sphären der Repräsentation nichts Adäquates für die weibliche Sexualität. Und auch wenn sich dies allmählich ändert, 661 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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bleibt zu fragen, ob dies eine wirklich wünschenswerte Veränderung ist. Außerdem soll nicht geleugnet werden, dass auch Männer unter dem Joch der für sie vorgesehenen Sexualitätsdiskurse leiden, so dass gesamtgesellschaftlich ein Umdenken z. B. in Bezug auf das Leistungsprinzip ›Orgasmus‹ und andere Parameter einer ausschließlich an der Penetration orientierten Sexualität wünschenswert wäre. Der Diskurs um die weibliche Sexualität ist nicht zu trennen vom Diskurs über die Frau und um die Weiblichkeit selbst. Es darf hier nicht vergessen werden, vor welchem historischen Hintergrund die Frauen von heute ihr Leben führen, oftmals im Unklaren darüber, was ihre Mütter, Großmütter und Ur-Großmütter politisch durchgesetzt haben und worunter diese bis vor wenigen Jahrzehnten noch gelitten haben, geschweige denn darüber, dass sie als Frauen westlicher Industrienationen weltweit gesehen unter ›paradiesischen‹ Zuständen leben, denkt man z. B. an die in anderen Kulturkreisen immer noch gebräuchliche Klitorektomie. Es darf nicht übersehen werden, dass Frauen auch heute noch unter den Folgen ihrer jahrhundertelangen Unterdrückung leiden und in den Folgegenerationen noch traumatisiert sind. Das liegt einerseits an dem historischen Ballast einer auf männlicher Leistung konstruierten Weltgeschichte, andererseits daran, dass mit der gesetzlichen Gleichberechtigung der Frau die reale, alltagsweltliche nicht Schritt gehalten hat: Frauen werden nach wie vor unterdrückt. Neben den zahlreichen Indizien für diese Unterdrückung, z. B. die schlechtere Bezahlung bei gleichwertiger Arbeit, um nur ein Beispiel zu nennen, das in Deutschland immer noch vorkommt, ragt das Leiden unter Gewalt in besonderem Maße hervor. Frauen sind nach wie vor Opfer männlicher Gewalt, und Mädchen wachsen mit dem Wissen auf, dass ihnen der ›böse Onkel‹ etwas ›antun‹ könnte, dass sie vorsichtig sein müssen, dass sie sich anders als Jungen verhalten müssen, dass sie eines besonderen Schutzes bedürfen etc. Mädchen und Frauen sind häufiger als Jungen und Männer Opfer sexueller Gewalt, selbst wenn diese mittlerweile verstärkt auch Jungen betrifft. Gewalt und insbesondere sexuelle Gewalt ist und bleibt eine reale Gefahr und Bedrohung für den Frauenkörper, und es fragt sich, mit welchen Methoden dieser begegnet werden kann, ohne die leibliche Integrität von Mädchen und Frauen zu beeinträchtigen. Diese Frage spielt deshalb eine große Rolle, weil die Ausdrucks- und Bewegungsfreiheit einen entscheidenden Einfluss auf die leibliche Integrität des Menschen hat, und eingeschränkte bzw. angstbesetzte Bewegungsmöglichkeiten im öffentlichen und, wenn man den häufigen Missbrauch im familiären Umfeld einbezieht, auch im privaten 662 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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Raum das Wohlbefinden beeinträchtigen. Genau dies ist aber bei vielen Frauen der Fall. Eine gesamtgesellschaftliche Veränderung der die Frau ›krankmachenden‹ Lebensumstände steht nach wie vor aus, wird aber immer seltener gefordert. Man hat den Eindruck, dass die bisherigen durchaus positiven Errungenschaften eine ›Müdigkeit‹ produzierten, auf dem einmal beschrittenen Weg zur Schaffung einer Frauen freundlicheren Umwelt fortzuschreiten. Hier erhebt sich die Frage, wie ein politischer Feminismus, der seit einiger Zeit von der Bildfläche gesamtgesellschaftlichen Lebens verschwunden zu sein scheint, wieder wirksam werden kann. Dass sich, wie immer wieder eifrig betont wird, die Frauenfrage erledigt habe, ist eine verhängnisvolle Behauptung, die lediglich darüber hinwegtäuscht, wie viel noch zu tun bleibt. In dieser Arbeit sollte u. a. gezeigt werden, dass die Frauenfrage bzw. die geteilten Probleme der weiblichen Bevölkerung sich gerade heute neu stellen, wenn weibliche Identität an den Achsen von Körper, Leib, Biographie und Diskurs nachbuchstabiert wird. Im Rahmen der Einzelanalysen des dritten Hauptteils wurde deutlich, wie stark Frauen unter der Macht eines rigiden Geschlechterdiskurses stehen, an dem sie freilich auch mitarbeiten und den sie selbst aufrechterhalten. Sie tun dies, weil dieser Diskurs machtvoll und in sehr frühem Alter in die weibliche Biographie eingreift, so dass er als eine ebenso unverfügbare Größe erscheint wie die Natur, nach der sich ein weiblicher Körper entwickelt. Eine feministische Theorie, die sich mehr am Problem des Zweigeschlechtermodells und der Zwangsheterosexualität abarbeitet als an den aktuellen Identitätsproblemen von Frauen in einer wesentlich am Zweigeschlechtermodell orientierten Welt, denkt an der Leiblichkeit von Frauen vorbei, übersieht allzu häufig das konkrete Erlebnispotenzial von Frauen. Dies schwächt die Argumentationsbasis und damit auch die politische Durchsetzungskraft. Es mag schwierig erscheinen, eine effektive Strategie in Opposition zu einer überaus mächtigen Weiblichkeitsindustrie zu entfalten, die, durch exzessives Konsumverhalten gefördert, eine bedenkliche Wachstumsrate aufweist. Führt man sich aber vor Augen, in welch alarmierender Weise Frauen immer noch Gewalt angetan wird, in welch drastischer Weise sie sich selbst Gewalt antun und in welch katastrophaler Verfassung sich mancher Frauenleib befindet, für den das In-die-Enge-getrieben-Sein zur Standarderfahrung und in Atmung und körperlicher Haltung manifest geworden ist, so dürfte die Arbeit am Körper und an der Einstellung zum eigenen Leib eins der wichtigsten Instrumente sein, zu einer leiblichen Existenz zu finden, in der man sich hei663 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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misch und wohl fühlt und das Recht auf lustvolle leibliche Selbsterfahrung einfordert. Im Zuge einer solchen individuellen Arbeit mag sich auf lange Sicht eine Veränderung des Konsumverhaltens bis hin zur Konsumverweigerung einstellen, die auch große Konzerne in die Knie zwingen könnte, jedoch scheint ein allzu großer Optimismus unangebracht zu sein, zumal die Weiblichkeitsindustrie mit vielen anderen Industrien in der technischen Zivilisation verbündet ist – Industrien, die den menschlichen Leib auch unabhängig von seiner Geschlechtlichkeit kolonisieren. Das Konsumverhalten ist aber kein rein wirtschaftliches Problem. Die industrielle, wirtschaftliche, kulturelle und medizintechnische Besetzung des weiblichen Körpers ist ein mögliches Machtinstrument, dessen Wurzel im hierarchischen Geschlechtermodell zu suchen ist. Der Konsum ist ein, vielleicht das mächtigste Unterdrückungsmittel in leistungsorientierten westlichen kapitalistischen Gesellschaften. Die Motivation zur Unterdrückung liegt aber tiefer: Konsum ist ein Herrschaftsinstrument. So lässt sich ein Konsumverhalten erst dann effektiv ändern, wenn die damit verbundenen Hintergründe aufgedeckt und erkannt werden und dazu gehört auch, sich mit den in der Weiblichkeitsindustrie erzeugten Körperbildern und Entwürfen für die weibliche Existenz, für weibliches Leibsein auseinander zu setzen. Feministinnen der 1970er Jahre haben das Recht auf das Sich-wohlFühlen im eigenen Leib einerseits in einen breiten Kontext von Aufklärung und Wissensvermittlung gestellt und andererseits die Verlässlichkeit und Wichtigkeit der eigenen Erfahrung sowie ihrer persönlichen Bewertung betont. Neben Tabuthemen wie Homosexualität, Vergewaltigung und Abtreibung wurde auch die weibliche Sexualität als Quelle der Lust und des Wohlbefindens in den Vordergrund gestellt und das Recht auf lustvolles Leibsein eingefordert. Was die Autorinnen des Boston Women’s Health Book Collective in ihrem Klassiker »our bodies, ourselves« (1981, 29) als Motivation für ihre Arbeit am Körper schrieben, ist Geschichte, auch als Erfahrung: »Die amerikanischen Frauen begannen zu ahnen, wie sehr sie ihrem eigenen Körper entfremdet waren. Ihr Körper war für sie nicht eine Quelle der Lust und der Auseinandersetzung mit sich selbst, sondern war zu einem Objekt geworden: für den Frauenarzt zur Befriedigung seines medizinischen Forscherdranges, für den Mann zur Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse, für die Mode- und Kosmetikindustrie zur Befriedigung ihrer Profitinteressen, für den Staat und die Unternehmer zur Produktion künftiger Arbeitskräfte. Was Frausein für sie bedeutete oder bedeuten könnte, hatten sie – und wir – nie erfahren.«

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Wenngleich die dort beschriebene gesellschaftliche Realität im Umgang mit dem Frauenkörper immer noch die von heute ist bzw. mit anderen Akzentuierungen und erweiterten Nuancen noch viel dramatischer geworden ist, scheinen Frauen sich heute nicht mehr ihrem eigenen Körper entfremdet zu fühlen oder darum bemüht zu sein, das, was Frausein »bedeuten könnte«, leiblich zu erfahren. Sie benutzen die instituierten Entfremdungsstrategien vielmehr aus ›Freiheit‹, heißen sie willkommen und treiben sie durch ein beispielloses Konsumverhalten an, ein Konsuminteresse, für das sie bereit sind, Geld, Zeit und Schmerz zu investieren. Dieses Verhalten bezieht sich in erster Linie auf die Herstellbarkeit der körperlichen Erscheinung und auf die Ausblendung, Kanalisation und Konstruktion bestimmter Erfahrungen. Das mag ein Ausdruck von Freiheit sein und hat auch viel zum Selbstbewusstsein von Frauen und zur Befreiung, vor allem vom Joch mehrfacher Mutterschaft, beigetragen. Die Investition von Schmerz einerseits, z. B. bei Schönheitsoperationen oder ganz banal beim Entfernen der Beinbehaarung, und die Ausblendung bestimmter weiblicher Schmerzen andererseits, z. B. bei gewünschtem Kaiserschnitt, sind jedoch alarmierende Signale dafür, dass der weibliche Körperkult von einer eklatanten Distanz zum Leibsein kündet, die industriell brutal ausgebeutet wird. Diskursiv erzeugte, freiwillige Schmerzen werden akzeptiert, eigenleibliche dagegen nicht, weil sie unverfügbar erscheinen, nicht dem Willen unterworfen sind. Dieser Krieg gegen die Natur entpuppt sich jedoch als eine kuriose Blüte patriarchalischer Kultur, die der Natur und damit immer noch der Weiblichkeit ihre Diskursmacht aufzwängt und weiter gegen die weibliche Sexualität arbeitet. Ein politischer Feminismus hat es in der heutigen Zeit deshalb so schwer, weil das Ausmaß der Entfremdung vom eigenen Leib nicht mehr als genau diese geschlechtsspezifische Entfremdung erkannt und erlebt wird. Damit wird deutlich, dass die Befreiung der Frau maßgeblich an der Befreiung ihrer Sexualität hängt, und zwar nicht nur in ›reproduktionstechnischer‹, sondern auch in Hinsicht auf die lustvolle Erfahrung und das leibliche Wohlbefinden. Eine Sexualität, die frei von der Angst vor Schwangerschaft ist, weil Schwangerschaften den weiblichen Lebensentwurf dramatisch verändern, muss als Möglichkeit unbedingt positiv bewertet werden. Ist sie aber deshalb schon wirklich lustvoller? Die Resultate der sexuellen Befreiungsbewegung zeigen, dass Frauen nicht unbedingt Positiveres in der Sexualität erlebt haben, obwohl das Experimentierfeld mit der Lust erweitert wurde. Die Einforderung der Lust am eigenen Leib sollte maßgebliches Ziel einer feministischen Gesundheitspolitik sein, der 665 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Schluss: Die Sorge um den weiblichen Leib

es um weibliches Wohlbefinden gehen und der es nicht gleichgültig sein sollte, wie Frauen ihren eigenen Leib in der Sexualität erfahren, bei allem, was sie sonst noch als ihre leibliche Realität erfahren, weil sie weiblichen Geschlechts sind. Doch nicht nur Fruchtbarkeit und Sexualität sind von gesellschaftlichen Zwangsmechanismen besetzt, die eine harmonische Leibentfaltung eher verhindern, insgesamt gilt es, den Alltag verstärkt auf leibliche Aspekte hin zu untersuchen und jene leibfeindlichen Tendenzen zu entlarven, die eine fragwürdige Industrialisierung mittels ausgefeilter Ideologie mit wachsendem Erfolg in den Köpfen der Menschen zu etablieren sucht. Dazu ist aber zunächst eine verstärkte wissenschaftliche Erfassung insbesondere der weiblichen Leiberfahrungen notwendig, da diese bisher vernachlässigt wurde und eine solche Vernachlässigung durchaus in das Konzept eines allseitig verfügbaren weiblichen Körpers passt, der ein umso besseres Objekt der Macht ist, je mehr freiheitliche Selbstentfaltung eigenleiblich gespürter Subjektivität ausgeblendet wird. In einem solchen ideologiekritischen Sinn versuchte die vorliegende Arbeit auch erste Schritte hin zu einer anderen Kultur weiblicher Leiberfahrung zu gehen.

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Nachwort zur zweiten Auflage

Im Anschluss an die Veröffentlichung meiner »Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen« vor 10 Jahren bin ich bei Vorträgen, in der wissenschaftlichen Lehre und auf philosophischen Veranstaltungen auf sehr unterschiedliche Reaktionen gestoßen. Ich möchte drei Beispiele kurz aufgreifen, bevor ich meine Arbeit im Kontext von Postgender noch einmal zu positionieren versuche. Der von mir vertretene – und aus meiner Sicht ›schwache‹ – differenztheoretische Ansatz, der sehr wohl sensibel ist für die Kulturalisierung von Geschlecht und gerade bei den beschriebenen Erfahrungen deutlich von der Diskursmacht ausgeht, wurde von Vertreter*Innen des Konstruktivismus immer wieder angegriffen. Dabei überraschte mich insbesondere der Widerstand gegen den in der Phänomenologie etablierten erkenntnistheoretischen Unterschied zwischen Körper und Leib. Die Härte der Auseinandersetzung bei meinem Beharren auf Geschlechterdifferenzen führte zuweilen so weit, dass mir die Legitimität, über Frauen und weibliche Leiberfahrungen zu sprechen, schlichtweg abgesprochen wurde und man mich regelrecht in Sprachlosigkeit zurückließ. Jahrhundertelang wurden Denker*Innen angefeindet, wenn sie gegen den biologistischen Determinismus opponierten. Gemessen daran, ist es wohl kein allzu schlechter Zustand für einen Geschlechterdiskurs, wenn heutzutage sogar meine ›Minimaltheorie‹ der Differenz kritisiert wird, die von einer relativen Unverfügbarkeit von Natur und Kultur ausgeht. Doch ich habe gelegentlich eine an Ausgewogenheit orientierte Konfrontation vermisst. Ein zweites Feld der Auseinandersetzung lieferte der neophänomenologische Ansatz. In seiner Neubestimmung von Subjektivität kam die Frage auf, wie denn überhaupt Leiberfahrungen und leibliches Spüren einer wissenschaftlichen, methodisch abgesicherten Bearbeitung zugeführt werden können. Diese und ähnliche, um die »subjektiven Tatsachen« (Schmitz) kreisenden Debatten werden nach wie vor in den akademisch streitenden Schulen weitergeführt, ohne dass ein Ende abzusehen wäre. Obwohl der Schmitz’sche Begriff der Situation es zulässt, vielfältige, durch biographische Genese und kulturelle Gegebenheiten bedingte Ausprägun667 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Nachwort zur zweiten Auflage

gen leiblichen Erlebens aufzugreifen, wurde mir doch gelegentlich vorgehalten, ich würde von so oder so präzise bestimmten und stets reproduzierbaren Erfahrungen ausgehen. Das ist sicher nicht der Fall, aber es mag sein, dass ich das Spektrum vielleicht nicht immer voll ausgeleuchtet habe. Ohne Einschränkungen im Umfang hätte ich mich beim Thema Geburt ausführlicher sowohl der Sectio Caesarea als auch dem spontanen Gebären in gelungenen Settings widmen können, und das Kapitel zur Sexualität wäre vermutlich zu einem eigenen Buch geraten. Abseits von akademischen Diskussionen gab es eine dritte Reaktion, die ich bei einer wissenschaftlichen Qualifikationsarbeit wie einer Habilitationsschrift nicht unbedingt erwartet hatte: Ich bekam mehrfach deutlich so etwas wie persönliche Dankbarkeit zu spüren. Es gab viele Frauen, die anfänglich eher schüchtern, später jedoch – wohl bestärkt – ganz offensiv ihre eigenen Erfahrungen reflektiert und darüber das Gespräch mit mir und untereinander gesucht haben. Dabei ging es genau um die von mir phänomenologisch eingefangenen Erfahrungen vom Brustwachstum bis zum Ausschleichen der Monatsblutung und ihre Bedeutung für das weibliche Selbstverständnis. Offensichtlich hat die von mir vorgenommene Thematisierung und Kontextualisierung der Leiblichkeit einen von diesen Frauen als wichtig erachteten Verstehens- und Selbsterkenntnisprozess angeregt. Diese zutiefst menschliche und zugleich hoch philosophische Resonanz hat mich berührt, und ich bin dankbar für die Rückmeldungen und Bestätigungen, die mir dadurch zuteil wurden. Zu meiner Freude war mein Buch aber nicht nur Frauen für das Verständnis weiblicher Erlebensweisen hilfreich. Im Haupttext meiner »Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen« habe ich keine Veränderungen vorgenommen. Seit Erscheinen der Erstauflage im Jahr 2006 kam es im Geschlechterdiskurs zu weiteren Ausdifferenzierungen. So hat sich zum Beispiel der Begriff Heteronormativität noch einmal als wirkmächtig erwiesen, um die normativen Ansprüche von Gender deutlicher auf die Institutionalisierung von Heterosexualität zu beziehen. Aus den Queer-Studies sind wichtige Publikationen hervorgegangen und auch in der Phänomenologie wurde die Beschäftigung mit der Kategorie Geschlecht weitergeführt. 1 Substanziell hat sich die Diskussion je1

Vgl. z. B. Silvia Stoller, Veronica Vasterling, Linda Fisher (Hg.): Feministische Phänomenologie und Hermeneutik. Würzburg 2005; Sara Ahmed: Queer Phenomenology: Orientations, Objects, Others. Durham, NC 2006; Jutta Hartmann, Christian Klesse, Peter Wagenknecht, Bettina Fritzsche, Kristina Hackmann (Hg.): Heteronormativität. Empirische Studien zu Geschlecht,

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doch nicht so stark verändert, dass eine Revision oder Erweiterung meiner Positionen erforderlich gewesen wäre. Allgemein ist zu konstatieren, dass mit den heute gängigen Theorietypen des Postgender nach wie vor ein kulturalistischer Determinismus einhergeht, der seiner Grundanlage nach die Kategorie Geschlecht der Beliebigkeit anheimstellt und damit die Legitimität einer Rede über Geschlecht in Frage stellt. Die jahrzehntelang tragfähige Unterscheidung zwischen Sex und Gender, eine erkenntnistheoretische Errungenschaft gegenüber dem biologistischen Determinismus mit seinem Dogma ›aus Sex folgt Gender‹, wurde bis zur Bedeutungslosigkeit nivelliert. Aus Gender folgt Sex, dieses Votum von Judith Butler bestimmt immer noch in verschiedenen Varianten die Auseinandersetzungen. Lebensweltlich hat die These von der Beliebigkeit, Konstruktion und Inszenierung von Geschlecht sowie generell die Öffnung der Geschlechterdebatte für die Themen der Homo-, Inter- und Transsexualität viele positive Signale gesetzt und begrüßenswerte Veränderungen herbeigeführt, was zum Beispiel die Toleranz der gleichgeschlechtlichen Liebe, die mittlerweile auch juristische Anerkennung der Intersexualität und das Verständnis für transsexuelle Menschen angeht. Wenn die Medien Gender-Bending, Transgender, Cross-Dressing oder Null-Gender-Codierung thematisieren und Models wie Tamy Glauser feiern, die sowohl für Frauen- als auch für Männermodenschauen laufen, dann trägt diese Fluidität von Geschlechtlichkeit selbstverständlich zur Dekonstruktion der gängigen Geschlechterstereotypen bei, auch wenn Androgynität nicht erst im Showbusiness von heute relevant gewesen ist und der spielerische Umgang mit Geschlechterdifferenzen immer nur bestimmte Gruppen der Gesellschaft betrifft. Gleichwohl ist das Geschlecht eines Menschen immer noch wichtig. Ist es ein Junge oder ein Mädchen? Diese Frage wird den Eltern neutral bekleideter Säuglinge nach wie vor gestellt. Schon der schwangere Leib provoziert zu der Frage: Was wird es denn? Und in Ländern mit kaum Sexualität und Macht. Wiesbaden 2007; vgl. dazu auch Ute Gahlings: Heteronormativität. Zur gesellschaftlichen Bedeutung von Geschlecht, in: Gernot Böhme u. Ute Gahlings (Hg.): Wie lebt es sich in unserer Gesellschaft? Bielefeld 2015, 149–169; Stacy Alaimo, Susan Hekman (Hg.): Material Feminisms. Bloomington, IN 2008; Silvia Stoller: Existenz – Differenz – Konstruktion. Phänomenologie der Geschlechtlichkeit bei Beauvoir, Irigaray und Butler. München 2010; Donald Hall und Annamarie Jagose (Hg.): The Routledge Queer Studies Reader. Oxford 2012; Hilge Landweer, Catharine Newmark, Christine Kley, Simone Miller (Hg.): Philosophie und die Potenziale der Gender Studies. Peripherie und Zentrum im Feld der Theorie. Bielefeld 2012.

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reguliertem Einsatz von Reproduktionstechnologien lautet die Frage noch früher: Was soll es denn sein? Die Menschheit lebt – daran besteht kein Zweifel – in Gendergesellschaften, was bedeutet, dass mit der Markierung von Geschlechtern Prozesse der Zuschreibung von Rollen und Eigenschaften einhergehen, sowie Erwartungsdruck, Handlungsimperative und Beziehungsmuster. Die Sichtbarkeit eines weiblichen Fötus auf dem sonographischen Bildschirm kann eine Abtreibung zur Folge haben, und die damit einhergehenden Veränderungen in der Geschlechterverteilung mit den entsprechenden gesellschaftlichen Folgen sind in den letzten zehn Jahren weiter vorangeschritten. Gender ist eine soziale Institution, wie die Soziologin Judith Lorber sagt, mit einer Geschichte, bestimmten Strukturen und sehr spezifischen Wirkungen, die dafür sorgen, dass die individuelle Identitätsbildung in Relation zu einer etablierten Geschlechtermatrix erfolgt. 2 Hier fragt man sich indes, ob die mit Gender verbundenen Festlegungen und Verwerfungen tatsächlich durch Theorien, die sich von Geschlechterdifferenzen verabschiedet haben, erfasst und nachhaltig ausgeräumt werden können. Als Ergebnis umfangreicher Kulturalisierung sind Geschlechterverhältnisse wandelbar, u. a. auf juristischer Ebene. In Deutschland gibt es seit fast 100 Jahren das Frauenwahlrecht; seit mehr als 60 Jahren ist die Geschlechtergleichheit im Grundgesetz verankert, seit 1994 steht Homosexualität nicht mehr unter Strafe, seit 2002 ist Prostitution legal und seit 2013 wird bei der Geschlechtsbestimmung nach der Geburt ein drittes, intersexuelles (nicht-bestimmtes) Geschlecht anerkannt. Gleichwohl führen wir Debatten über verpflichtende Frauenquoten in der Wirtschaft, wir nehmen Berichte über den Gender Pay Gap zur Kenntnis (Frauen verdienen bei gleicher Arbeit durchschnittlich 22 % weniger als Männer) 3 und wir sind mit erschreckenden Belegen zu Gewalterfahrungen von Frauen konfrontiert (laut EU-Studie ist jede dritte Frau betroffen) 4 . Mit Unbehagen beobachten wir den wachsenden Markt für pornographische Erzeugnisse mit frau2

Vgl. Judith Lorber, Gender-Paradoxien. Opladen 1999, 2. Aufl. 2003. Vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.), Frauenverdienste – Männerverdienste: Wie groß ist der Abstand wirklich? Online-Publikation, www.destatis.de/DE/Publikationen/STATmagazin/Ver diensteArbeitskosten/2013_03/PDF2013_03.pdf?_blob=publicationFile (Stand 6. 6. 2014); vgl. auch Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 18. März 2014 (104/14) zum Gender Pay Gap 2013 bei Vollzeitbeschäftigten; zur Lage in der EU vgl. Council of the European Union: The gender pay gap in the Member States of the European Union: quantitative and qualitative indicators. Belgian Presidency Report, Brüssel 2010. 4 Vgl. European Union Agency For Fundamental Rights: Violence against Women: an EU-wide survey. Main results report. Online-Publikation, www.fra.europa.eu/sites/default/files/fra-2014survey-main-results_en.pdf (Stand 26. 3. 2014). 3

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enverachtenden Inhalten, sowie, nachdem ›käufliche Liebe‹ zur steuerpflichtigen Dienstleistung deklariert wurde, die Veränderungen der Infrastruktur für den männlichen Sextourismus. Trotzdem glauben wir in einer post-feministischen Gesellschaft zu leben, in der sich angeblich die Forderungen nach Geschlechter-Gerechtigkeit und anständigen Umgangsformen zwischen den Geschlechtern erledigt haben.

Postgender und die Phänomenologie der Geschlechter Mit Postgender scheint sich der Geschlechterdiskurs selbst ad absurdum zu führen. Im Kontext von Forderungen nach Degendering wirkt es unzeitgemäß, geradezu anstößig, die Geschlechterdifferenz überhaupt noch aufzugreifen und sich dabei auf die Erscheinungsweise von Körpern und gespürte Leiblichkeit zu beziehen. Feministische Fragestellungen verlieren dadurch ihre Legitimation. Dabei wurde die Kategorie Geschlecht ursprünglich reflektiert, um inhumane Verhältnisse auszuräumen, die mit der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht einhergehen. Der Blick von Frauen auf sich selbst, ihre Rolle in der Gesellschaft, ihre Geschichte, ihre Beziehungen etc. rangierte als feministische Kritik, getragen von einem feministischen Bewusstsein, dessen Spuren sich bis in die Antike zurückverfolgen lassen, und entfaltet sowohl im Frauenemanzipationsstreben als auch – viel später – in den Frauenrechtsbewegungen.5 In dieser langen Geschichte waren die genuin feministischen Theorien in der akademischen Welt der 1970er bis 1990er Jahre ausgesprochen kurzlebig, was durchaus in das Bild eines zähen Kampfes um Anerkennung passt. Fatal an der Entwicklung von feministischer Theorie zu Postgender ist, dass Lebens- und Erfahrungsweisen aus dem Blick geraten, die nach wie vor oder sogar auf neue Weise mit Geschlechtlichkeit verbunden sind und ernste Fragen im Bereich von Ethik, Politik und Lebenskunst aufwerfen. Als Phänomenologin sehe ich daher – wie schon vor zehn Jahren – die Notwendigkeit einer Revitalisierung des Wissensfeldes Geschlecht mit Blick auf bedeutsame Erfahrungen, die in Gendergesellschaften mit dem Frau- und Mannsein, dem Inter- und Transsexuellsein gemacht werden. Da diese Erfahrungen eine hohe Komplexität aufweisen und unterschiedlichen Einflüssen unterliegen, begreife ich Geschlecht als fragiles Resultat 5

Vgl. dazu zusammenfassend Ute Gahlings: Die mündige Frau. Zur Geschichte des Kampfes der Frauen um Bürgerrechte. In: Gernot Böhme (Hg.): Der mündige Mensch. Denkmodelle der Philosophie, Geschichte, Medizin und Rechtswissenschaft. Darmstadt 2009, 25–43.

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natürlicher Ausprägung und kultureller Einwirkung. Ich gehe von einem Geschlechtsleib aus, der sich in vielfältiger Weise habitualisiert und ins leibliche Spüren bringt. Mit Bezug auf Geschlechterdifferenzen nehme ich also lediglich zur Kenntnis, dass sich eine biographisch gewachsene Geschlechtsidentität – auch wenn sie sich als Folge einer ›Diskurs-Blase‹ erweisen sollte – nicht mit einem kognitiven Geniestreich abschütteln lässt, sondern ausgesprochen eindrucksvoll unsere Haltung zur Welt, unser leibliches Erleben und unser zwischenmenschliches Verhalten prägt. So zeigt sich ›Weiblichkeit‹ bei einem als Frau geborenen Menschen ebenso wie bei einer transvestitisch inszenierten Frau oder einem männlich-zu-weiblich-transsexuellen Menschen. Schon mit Schopenhauers erkenntnistheoretischer Unterscheidung zwischen dem Leib als Objekt unter Objekten, also dem objektivierbaren Körper, und dem eigenen Leib als Ort subjektiven Erlebens kann man auf die körperlichen Erscheinungsweisen und die Leiberfahrungen dieser Menschen Bezug nehmen. Alle drei Menschentypen repräsentieren irgendwie das Klischee Frau, doch ihre Körper, ihre leiblichen Erfahrungen und die Genese ihrer Geschlechtsidentitäten sind verschieden. Der eine Frau mimende Transvestit und die männlich-zu-weiblich-Transsexuelle sind nicht als Frauen aufgewachsen. Sie haben weder biographische Umbrüche wie Thelarche (Brustwachstum) oder Menarche (erste Menstruation) durchlaufen, noch waren sie den Menstruationen mit ihren hygienischen Implikationen, der Fruchtbarkeit mit ihren Unwägbarkeiten oder einer Schwangerschaft ausgesetzt. Der Transvestit kann die häufig nach strikten Geschlechterstereotypen simulierte Frauenerscheinung und das ›weibliche‹ Gehabe wieder ablegen. Der männlich-zu-weiblich-transsexuelle Mensch hat u. U. einen chirurgisch und endokrinologisch zugerichteten ›weiblichen‹ Körper, der aber selbst nach massiven invasiven Manipulationen nicht menstruieren oder fruchtbar sein wird. Gerade weil Geschlechtsidentitäten stets auf eine etablierte Geschlechtermatrix reagieren, die in hohem Maße auch Körper und körperliche Vorgänge interpretiert, kann eine Erschließung gespürter Leiblichkeit zum Verständnis der Vielfalt von Erlebnisweisen, Lebensmöglichkeiten und Leidensformen beitragen. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse sind nicht nur wissenschaftlich, sondern ebenso gut lebensweltlich relevant, denn Menschen, die einander verstehen, können sich besser aufeinander beziehen und die gemeinsame Lebenswelt gestalten – dies war und ist das Ziel jedes seriösen Feminismus. So ist nicht nur für die zwischenmenschliche Bezogenheit, sondern grundsätzlich für die Humanisierung der Geschlechterverhältnisse solche Erhellung subjektiven Spürens und Befin672 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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dens von großer Bedeutung, um u. a. im politischen Raum wirksame Strategien zur Beseitigung von Benachteiligungen und zur Linderung von vermeidbarem Leiden entwickeln zu können. Doch nicht nur für klassische Geschlechterthemen oder frauenspezifische Anliegen kann eine phänomenologische Aufklärung geschlechtlicher Existenzweisen von Belang sein. Sie kann darüber hinaus zum Verständnis der Genderkomplexität beitragen, indem sie geschlechtlich konnotierte Leiberfahrungen in vielen Varianten und aus unterschiedlichen Perspektiven evaluiert. Werden dann auch verstärkt die Grenzen, Versionen und Überschreitungen der geschlechtlichen Differenzierungen in den Blick genommen, lassen sich Fragen klären, die heute von besonderer Tragweite sind, etwa danach, was Intersexualität oder Transsexualität für die gespürte Leiblichkeit bedeuten und wie die Gesellschaft darauf im Allgemeinen, vor allem aber mit Blick auf damit verbundene Leiden angemessen reagieren kann. Eine juristische Neuerung wie die Anerkennung eines intersexuellen Geschlechts ist keine reine Formalität, sondern verweist nun auch von Rechts wegen und mit einem Auftrag zur Integration auf Menschen, die mit völlig anderen Herausforderungen an ihr geschlechtliches Selbstverständnis konfrontiert sind als solche, die sich der üblichen Standardfolie ›weiblich‹ oder ›männlich‹ zuordnen lassen. In leibphänomenologischer Perspektive wird ja gerade deutlich, dass sowohl Sex als auch Gender sich leiblich ausprägen. Nicht nur die Natur, auch die Kultur ist in dem Sinne Schicksal, als sie sich in Leiblichkeit verankert. So hat die kulturelle Bewertung der Menstruation Einfluss darauf, was Frauen bei diesem körperlichen Vorgang erleben und wie sie von anderen darin wahrgenommen werden. Eine solche geschlechtsspezifische Situation, die von einem heteronormativen Überbau getragen wird, lässt sich nicht ohne weiteres ›wegfühlen‹, zumal sie seit je von Zumutung, ja sogar Zwang gezeichnet ist. Die Phänomenologie forscht dem leiblichen Erleben nach, das durch Kulturalisierung geschient ist, und macht zugleich deutlich, dass der Körper Einfluss darauf hat. Der biographisch gewachsene Geschlechtsleib wird gerade nicht in beliebiger oder gar frei wählbarer Weise erfahren. Neben Sex und Gender wird damit eine weitere, wesentliche Dimension geschlechtlicher Existenz erschlossen, mit der die Kategorie Geschlecht phänomenologisch erfasst werden kann. Bislang haben sich darauf bezogene Untersuchungen häufig im Allgemeinen, d. h. im Kontext der Entwicklung und Fundierung einer Phänomenologie der Geschlechter bewegt und, wenn es um konkrete Analysen ging, überwiegend auf weibliche Leiberfahrungen gestützt. Damit ist das Potenzial einer Phänomenologie der Geschlechter jedoch bei Wei673 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Nachwort zur zweiten Auflage

tem noch nicht ausgeschöpft. Auch zehn Jahre nach Erscheinen meiner »Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen« fehlen immer noch systematische Evaluationen der männlichen Leiberfahrungen. Das Spektrum des leiblichen Erlebens von inter- und transsexuellen Menschen ist auch noch nicht erschlossen, und interkulturelle Vergleiche wären von Gewinn, um den Blick darauf zu schärfen, wie stark historische, wirtschaftliche, politische sowie weitere inter- und intragesellschaftliche Kontexte bis hin zu Faktoren der natürlichen Umwelt die Bedeutung von Leiberfahrungen beeinflussen können. In unserer Zeit wirken die Errungenschaften der technisch-wissenschaftlich-kapitalistischen Zivilisation in besonderer Weise auf die Körperwahrnehmung, das Body-Sculpturing 6 , die leiblichen Erfahrungen, auf das menschliche und geschlechterspezifische Selbstverständnis ein. Hier können phänomenologische Analysen für die Lebenskunst hilfreich sein, um herauszufinden, wie ein Leben gelingen kann, das auf die Imperative eines von Selbstmächtigkeit und Leibvergessenheit geprägten Menschenbildes reagieren muss. Allgemein betrifft das zum Beispiel den Umgang mit Krankheit, Überforderung, sozialer Isolation und emotionaler Verarmung. Im Feld geschlechtlicher Leiblichkeit betrifft das beispielsweise die Haltungen zur Reproduktionsmedizin, bezogen auf Ansprüche an die eigene Fruchtbarkeit, die instrumentalisierende Objektivierung des Leibes als Körper, das ›Benutzen‹ des Körpers für Leihmutterschaften oder die kommerzielle Gewinnung von Fertilitätssubstanzen. Hier und in vielen anderen Bereichen zeigen sich Einstellungen und Verhaltensweisen, die mit geschlechtsspezifischer Leiblichkeit zusammenhängen. Umso wichtiger scheint es, die Kategorie Geschlecht systematisch zu rekonstruieren und sich Rechenschaft darüber abzulegen, dass und wie auch in Zeiten von Postgender noch sinnvoll von Geschlechterdifferenzen ausgegangen werden kann.

Zur Rekonstruktion der Geschlechterdifferenzen: Körper, Leib, Identität Um die Tragfähigkeit einer phänomenologischen Erfassung der Geschlechterdifferenzen deutlich zu machen, möchte ich meine Ausführungen aus Kapitel 2.2 »Geschlechtskörper, Geschlechtsleib und Geschlechts6

Vgl. hierzu u. a. Ute Gahlings: Körper-Sein als Leistung (Schönheit und Fitness). In: Gernot Böhme (Hg.): Kritik der Leistungsgesellschaft. Bielefeld, Basel 2010, 119–131.

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identität«, die aus pragmatischen Gründen eine Einbeziehung inter- und transsexueller Menschen ausklammern, noch einmal präzisierend mit Bezugnahme auf die in phänomenologischer Perspektive erhebbaren mindestens fünf Geschlechtertypisierungen – weiblich, männlich, intersexuell, weiblich-zu-männlich-transsexuell und männlich-zu-weiblich-transsexuell – aufgreifen. Der geschlechtliche Körper (Sex) Mit dem Geschlechtskörper ist der Körper in seiner äußeren Form als ein mit den Sinnen wahrnehmbares Ding gemeint. Dem Säugling ist sein Geschlecht weder im Gesicht noch an den Gliedmaßen oder am Oberköper bzw. Unterleib anzusehen. Am nackten Körper zeigen sich aber verschieden geformte Genitalien – weiblich, männlich, intersexuell – mit einer unterschiedlichen Anzahl von Körperöffnungen. Der weibliche Körper hat im Vergleich zum männlichen – und je nachdem auch zum intersexuellen – eine zusätzliche Öffnung. In geschlechtertypischen Wachstumsprozessen entwickeln sich im zweiten Lebensjahrzehnt unterschiedliche Körperproportionen. Der weibliche Körper bildet mit den Brüsten sogar neue Körperteile aus, der männliche tendiert u. a. zum Bartwuchs, der intersexuelle unterliegt anderen Veränderungen. Zudem sind die sexuellen Körperreaktionen verschieden. Zwischen dem zweiten und fünften Lebensjahrzehnt kann sich der weibliche Körper von anderen Geschlechtskörpern noch in anderen Hinsichten erheblich unterscheiden, und zwar erstens durch Ausscheidung von Flüssigkeiten: Blut (Menstruationsblut, Deflorationsblut, Lochien), Sekrete (zyklus- und/oder sexualitätsbedingt) und Fruchtwasser an der vaginalen Öffnung, außerdem Milch an den Brüsten; zweitens durch Ausdehnungen im Bauch- und Brustbereich: Gravidität und Laktation und drittens durch Ausscheidung fester Substanzen an der vaginalen Körperöffnung: Kindskörper und Plazenta. Die Differenzen der Geschlechtskörper zeigen sich im Vergleich, teilweise nicht einmal symmetrisch oder konstant. Wenn bei einer Geburt in Deutschland eins von – neuerdings – drei Geschlechtern bestimmt wird, so geschieht das nach der hier in Anschlag gebrachten sinnlichen Wahrnehmungsprüfung am Körper. Weitere, durch medizinisch-technische Verfahren ermittelbare Feindifferenzierungen der Geschlechter zeigen sich zunächst oder auch gar nicht am Körper, sondern unter Umständen erst in seiner Entwicklung, wenn z. B. eine phänotypisch ausgeprägte Frau auf675 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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grund einer bestimmten Chromosomenlage in der Pubertät keine Fruchtbarkeitsfähigkeit ausbildet. Mit Blick auf Geschlechtsumwandlungen, die am Körper Spuren hinterlassen, ist von fünf Geschlechtskörper-Typen auszugehen: weiblich, männlich, intersexuell, männlich-zu-weiblich-transsexuell und weiblichzu-männlich-transsexuell, und zwar in der Dimension dessen, was an nackten Körpern und ihren Öffnungen in der Perspektive ihrer Dinghaftigkeit in Erscheinung tritt. Der geschlechtliche Leib bzw. geschlechtlich konnotierte Leiberfahrungen Mit der Leiblichkeit rücken Erfahrungen in den Blick, Erlebnisse eines Ich, das den Körper ›bewohnt‹, ihn spürt, sich von ihm betreffen lässt, in gewisser Weise ihm auch ausgeliefert ist. Geschlechtskörper unterliegen unterschiedlichen leiblichen Lotungsverfahren. Die weiblichen Brüste und das männliche Genital erfordern schon als ›fleischliche Massen‹ je andere Lotungen, die auf das eigenleibliche Spüren ebenso Einfluss haben wie auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung. Für den Geschlechtsleib ist ferner von Belang, wie sich Körperhaltungen, Atmungsmodi und Gefühlsdispositionen auswirken. Insofern Menschen in Gendergesellschaften sozialisiert werden, lässt sich von geschlechtsspezifischer leiblicher Lotung auch in Bezug darauf sprechen, wie sie in gruppenspezifische Gefühlslagen hineinwachsen und entsprechende Habitusformen ausbilden. Analog zur Entwicklung der Geschlechtskörper verläuft zudem die Genese geschlechtlicher Leiberfahrungen unterschiedlich. Der weibliche Leib ist seinem Subjekt anders gegeben als der männliche, inter- oder transsexuelle. Geschlechtsspezifische Leiberfahrungen haben typische Verlaufsformen, die den Rahmen für das individuelle Spüren vorzeichnen. So gibt es am weiblichen Leib zusammenhängende oder einander ausschließende Erfahrungen des Flüssigen, des Festen und der Fülle. Dabei bringt sich der Leib relativ-örtlich, an geschlechtertypischen Leibesinseln ins Spüren. Im weiblichen Erleben sind Brust, genitale Zone und Unterleib solche Zonen, deren Regungen sich mitunter ganzleiblich und untereinander korrespondierend auswirken. Für den männlichen Leib sind andere Leibesinseln von Bedeutung, ebenso für den intersexuellen und transsexuellen Leib, wobei sich im Zuge einer chirurgisch und endokrinologisch vorgenommenen Geschlechtsumwandlung das Spüren bestimmter Leibesinseln stark verändern kann. Die unterschiedlichen Erlebnisweisen haben körperliche Referenten 676 https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

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und leibliche Verankerungsregionen, vom Blutausfluss bis hin zu Irritationen im Bereich einer operierten Körperstelle (z. B. nach Kaiserschnitt oder Genitalveränderung). Sie sind aber ebenso kulturellen Gegebenheiten geschuldet, bei den weiblichen Leiberfahrungen bezogen etwa auf das Entsetzen von unaufgeklärten Mädchen bei der Menarche, das Unbehagen junger Mädchen beim Blick der Anderen auf ihre sich entwickelnden Brüste oder die Angst vor sexueller Belästigung. Die Prozesse des Gendering sind vielfältig, intra- und interkulturell variabel, sowohl offenkundig als auch häufig subtil. Sie treffen den Menschen vom Beginn seines Lebens, begleiten seine Persönlichkeitsentwicklung und prägen auf fundamentale Weise sein Selbstgefühl und seine leibliche Integrität. Die Geschlechtsidentität (Gender) Die Geschlechtsidentität entfaltet sich an den Achsen von Körper, Leib, Biographie und Diskurs in komplexer Verschränkung von Individuum und Kollektiv. Sie ist beeinflusst von Gender-Kreationen aus allen Bereichen der Gesellschaft und konstituiert sich in biographischer Genese, stets bezogen auf die etablierten Identitätszuweisungen für die Geschlechter, also einen intra- und interkulturell höchst variablen Katalog von Verhaltensweisen, Rechtssetzungen, Lebensbedingungen. Dazu gehört der Sexualstatus, in dem individuelle Erfahrungen von Sexualität zugerichtet werden, leibliche Erlebnisse, die sowohl sexed, also physisch, als auch gendered, also sozial vergeschlechtlicht sind. 7 Unter Einbeziehung des Körpers, der Leiberfahrungen, der Varianten des Begehrens, der sexuellen Orientierung und Objektwahl, des Liebesund Sexualverhaltens, der Gefühlsbindungen und Beziehungsvarianten, der Inszenierungsformen sowie auch der in Chromosomen, Keimzellen und Genen heute feststellbaren Geschlechter-Schattierungen ließe sich die Zahl möglicher, auch temporär inkorporierter Geschlechtsidentitäten erheblich erweitern. Eine an Selbstgefühlen, Ich-Positionen, persönlichen Situationen, leiblicher Integrität und leiblichem Spüren orientierte Leibphänomenologie wäre sehr wohl in der Lage, diese Genderkomplexität subjektbezogen zu erfassen. Die Mannigfaltigkeit menschlicher Aus7

Die Sexualität ist sexed, weil weibliche, männliche, inter- und transsexuelle Anatomien und Orgasmuserfahrungen unterschiedlich sind. Sie ist gendered, weil »die sexuellen Skripte für Frauen und Männer, ob als Heterosexuelle, Homosexuelle, Bisexuelle, Transsexuelle oder Transvestiten, unterschiedlich sind« (Lorber, a. a. O., 112).

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drucksformen bleibt jedoch unbenannt oder ausgeschlossen, wenn man strikt an der Geschlechterbinarität festhält, wenn man sich ausschließlich auf fünf Geschlechtskörpertypen nach der Wahrnehmung des ›Körperdings‹ bezieht, und erst recht, wenn man den Sexualstatus als entweder hetero- oder homosexuell fasst, ihn darin für unveränderbar hält und mit Bewertungen sowie Erwartungsdruck belegt. In diesen und vielen weiteren Einschränkungen errichtet Gender zahlreiche Grenzen – keine Spur von Postgender. Jedoch zeigt sich in genderreflektierten Gesellschaften, dass sich zumindest die Spielräume für die Entfaltung individueller Geschlechtsidentitäten erweitern. In diesem Sinne kann eine Kultur mehr oder weniger Einfluss darauf haben, ob und wie stark geschlechtliche Leiberfahrungen in der Identitätsbildung ausschlagen. Das Ausmaß von Gendering, diesem ständig waltenden Einschreibungsprozess, hängt letztlich von der persönlichen Situation ab. In der technisch-wissenschaftlich-kapitalistischen Zivilisation, die sich auch mit dem Postulat von Postgender einer weitgehenden Selbstmächtigkeit versichert, wird nun zunehmend geltend gemacht, dass das individuelle Leben stets und allumfassend der Gestaltbarkeit unterliegt. Aus der Perspektive einer feministischen Phänomenologie des Leibes sind hier allerdings kritische Fragen zu stellen.

Demiurgische Lebenskunst und die Leibbeziehung Zweifellos ist menschliche Existenz aufgespannt zwischen Faktizität und Entwurf. Gleichwohl hat die philosophische Tradition die Regressionsfähigkeit des Menschen gegenüber seiner Emanzipationsfähigkeit stark vernachlässigt. Dies führte nicht nur zu einer Hierarchisierung dieser beiden Lebenspole – wissenschaftshistorisch auch zu einer Entgegensetzung von Natur und Kultur, die für die Unterdrückung der Frau wesentlich war –, dies führte auch zu einer Aufwertung, ja Überschätzung der Selbstmächtigkeit in den Welt- und Menschenbildern. In solcher Denkbewegung wurde Selbstbestimmung ein zentrales Konzept der europäischen Aufklärung. Sie soll den Menschen aus »selbstverschuldeter Unmündigkeit« herausführen, wie Kant sagt, jedoch weiß er, dass viele Menschen durch Fremdverschulden an einem selbst bestimmten Vernunftgebrauch gehindert werden. Als Beispiel führt er das »ganze schöne Geschlecht« an: Nachdem die Vormünder »ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben, und sorgfältig verhüteten, dass diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen 678

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durften: so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen, allein zu gehen.« 8 Nun, das »schöne Geschlecht« hat allein zu gehen gelernt und die Aufklärung hat entscheidend zu den Frauenbewegungen beigetragen, die Selbstbestimmung als politischen Gegenbegriff zur Fremdbestimmung propagierten. Heute ist dieses Konzept allerdings einer Vorstellung von individueller Selbstverwirklichung und demiurgischer Lebenskunst gewichen. Wir haben es mit einem dominierenden Autonomie- und KreativitätsDogma zu tun. Ob es um die »Lebenskunst des heroischen Individualismus«, um die »Lebenskunst der erweiterten Alltäglichkeit« oder um das »Selbstmanagement« in der »kapitalistischen Travestie der Lebenskunst« geht, unter den Bedingungen der Postmoderne und des globalen Kapitalismus sind wir offenbar »von allen Seiten mit der Zumutung konfrontiert«, »den kulturellen Naturzustand zur Selbstgesetzgebung zu nutzen, sich nach eigenem Bilde zu machen, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen, sich Möglichkeiten zu eröffnen, Lebenschancen zu nutzen, sich zu optimieren«, schreibt Wolfgang Kersting in seiner »Kritik der Lebenskunst«.9 Es herrscht »Lebenserfolgsdruck«; Scheitern wird als lebensethisches Versagen oder Selbstmanagementfehler abgestraft. Dabei trifft heute noch genau das zu, was Kant an seiner Zeit kritisierte und wogegen er Autonomie anmahnte, dass wir uns nämlich von allen möglichen Leuten sagen lassen, wie wir unser Leben zu leben haben. So ist die Leibbeziehung bei den meisten Menschen durch eine natur- und technikwissenschaftlich infiltrierte Intellektualkultur geprägt. Über das, was der Körper ist, was ihm nützt oder schadet und wie er auszusehen hat, lässt man sich durch Experten belehren: Ärztinnen, Ernährungs-, Hygiene- und Kosmetikspezialistinnen, Modeberater, Sport-, Wellness- und Fitnesstrainer etc. Die von ihnen vorgenommene Vergegenständlichung des Körpers, seiner Teile, sogar unsichtbarer Substanzen evoziert Körperbilder, Arbeitsmodelle und Handelsmärkte, die dann für den Umgang mit dem Body übernommen werden. Das eigene Spüren und die leibliche Selbsterfahrung treten in den Hintergrund. Wir lassen uns in hohem Maße durch gesellschaftliche Suggestionen fremdbestimmen, nur wird uns das aufgrund unendlich erscheinender Wahlmöglichkeiten gern als Selbstbestimmung, ja sogar individuelle Selbstverwirklichung verkauft, die nicht 8

Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, Werke, Bd. 9. Darmstadt 1983, 53. 9 Wolfgang Kersting und Claus Langbehn (Hg.): Kritik der Lebenskunst. Frankfurt/M. 2007, 62.

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selten mit einer Selbstausbeutung für überzogene Leistungsansprüche einhergeht. 10 In dieser Lage hat sich eine Leibvergessenheit etabliert, die traditionsreich vorgeprägt ist. In der europäischen Kultur wurde der Leib meist als Körper und damit als das vergängliche, unvollkommene und mit allerlei Wünschen aufbegehrende ›Erdenkleid‹ der Seele betrachtet, ein Störfaktor par excellence sowohl für die platonische als auch für die christlich konzipierte Denkbewegung. Diese ›animalische Hülle‹ galt es schon immer einer Disziplinierung zu unterwerfen, auf dass sie zum Instrument des gottgefälligen bzw. selbstherrlichen Subjekts werde. Vorstellungen von der Austauschbarkeit, Modellierbarkeit und Benutzbarkeit der KörperMaterie erfahren heute eine Kulmination, auch was die gezielte Gestaltung des Geschlechtskörpers und den Einsatz von Reproduktionstechnologien angeht. Im Sprachgebrauch wurde der Leib mit Konnotationen wie Leben, lebendige Person, lebender Körper immer mehr vom Körper verdrängt. Heute hat jeder einen Body und ein wissenschaftliches Vokabular für seine Steuerungsinstanzen. Dennoch kommen wir nicht umhin, diesem Körper gegenüber Stellung zu beziehen, ja mehr noch: dieser Körper selbst zu sein und uns von ihm auch im Zeitalter allseits verfügbarer Schmerz-, Schlaf-, Sex- und Aufputschmittel gelegentlich noch überraschen, in jedem Fall betreffen zu lassen. In »betroffener Selbstgegebenheit« (G. Böhme) schwindet die Distanz des Menschen zu seinem Körper und tritt der Leib als Quelle von Subjektivität hervor. Die Leibbeziehung konstituiert sich indes als ein fragiles Selbstverhältnis im Hinblick auf den subjektiven, spürbaren Leib, die kreativ-performative Selbstinszenierung als Body und die objektivierbare Vergegenständlichung des Körpers. An der Faktizität des Leibes kommt jedoch kein Entwurf vorbei: Der Leib imponiert schon durch elementare Dispositionen, die unser gefühltes Dasein maßgeblich prägen und die wir nicht selbst regulieren oder entwerfen können.

Weibliche Leiberfahrungen zwischen Faktizität und Entwurf Was nun die Geschlechter angeht, so ist qua Faktizität grundlegend, dass dem Menschen sein Geschlecht ebenso zufällt wie die Determinanten, die seine Kultur damit verbindet. Das geschlechtliche Selbst entfaltet sich am wahrnehmbaren Körper, an unabweisbaren leiblichen Phänomenen sowie 10

Vgl. dazu z. B. Gernot Böhme (Hg.): Kritik der Leistungsgesellschaft. Bielefeld, Basel 2010.

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den bereitgestellten Praxen geschlechtlicher Existenz. Im Kontext der Genese weiblicher Leiberfahrungen ist festzuhalten: Erstens: Frauen sind in ihrer Leiblichkeit qua Natur in größerem Ausmaß von Unverfügbarem betroffen als Männer; zweitens: diese Situationen unterliegen qua Kultur vor allem in den körperlichen Umbruchphasen einer besorgniserregenden Medikalisierung durch Prozesse der Normierung, Pathologisierung und Regulierung, und drittens verspricht und affirmiert die technisch-wissenschaftlich-kapitalistische Zivilisation gerade hier einen bisher nie erreichten individuellen Zugriff. Was die Natur in der Thelarche vorgibt und was die Kultur in ihr auswirkt, ist invasiv veränderbar. Menstruationszyklen sind steuerbar. Schwangerschaften können effektiv verhindert oder bis ins Rentenalter verlagert werden; sie sind zur Erfüllung eines biologischen Kindeswunsches nicht einmal mehr nötig. Einer Unfruchtbarkeit wird mit Reproduktionstechnologien begegnet. Mit Eizellenspenden und Leihmutterschaft lässt sich Kapital erwirtschaften. Eine Lustpille, die nicht wie beim Mann im Bedarfsfall, sondern wie ein Psychopharmakum wirkt und kontinuierlich einzunehmen ist, verspricht ein verbessertes Sexualleben. Schwangersein ist in medizintechnische Überwachungs- und Entscheidungszwänge eingebettet. Gebären kann zum planbaren Projekt avancieren. Das Puerperium wird kaum noch als Schonfrist nach der Geburt ernst genommen. Lochien und Laktation können verkürzt oder unterbunden werden. In den Wechseljahren lässt sich die ›Chemie‹ der Fruchtbarkeit künstlich verlängern. Und für beinahe jedes Lebensalter stehen Mittel und Verfahren zur Beseitigung der Spuren möglichen oder realen Alterns zur Verfügung. Bedeuten Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung also, gegen die Natur kämpfen zu können, sich vom eigenen Leib tunlichst nichts mehr bieten zu lassen und den Körper als beliebig nutz-, modellier- und ausbeutbare Ressource zu verwenden? Und tragen zumindest einige dieser neu gewonnenen Freiheiten nicht sogar zur Selbstentfremdung bei? Es hat sich in den letzten zehn Jahren nichts daran geändert, dass die Möglichkeiten zum ›freien‹ Entwurf qua Eingriff in früher unverfügbare Sphären des Körpers industrielles Ausmaß erreicht haben – die Lage hat sich eher noch zugespitzt, was im Bereich der Reproduktionstechnologien zum Beispiel das so genannte Social Freezing 11 angeht. Auch werden nach wie vor in großem Umfang Zeit, Kapital und Schmerz investiert, um die äußere Erscheinung zu optimieren, und es wird dafür weiterhin die Tilgung der Lust und der körperlichen Funktionalität in Kauf genommen, 11

Damit ist das Einfrieren von unbefruchteten Eizellen ohne medizinischen Grund gemeint.

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wenn z. B. beim ästhetisch motivierten Verlagern der Brustwarzen die sexuelle Empfindungs- und darüber hinaus die Laktationsfähigkeit der Brüste verlorengeht. Und während weltweit Widerstand gegen aufgezwungene Genitalverstümmelung geleistet wird, sparen Frauen hierzulande für ein chirurgisch indiziertes ›Fleisch-Design‹ am Genital oder eine Verengung der Vagina. Die so gearteten Wege zur freien Lebens- und Selbstgestaltung waren für Frauen aller Schichten noch nie so zahlreich, schnell und – dank globaler Kommerzialisierung – billig zu haben. Dazu passt, dass umgekehrt in Feldern mit heute erweiterten Möglichkeiten zur Selbsterfahrung systemisch bedingte Fremdbestimmung auf der Tagesordnung steht. So wird Schwangeren immer seltener und nur gegen Widerstand eingeräumt, sich dem leiblichen Vorgang des Gebärens ungestört auszusetzen. Dabei ermöglichen die wunderbaren, noch nie so zahlreichen Errungenschaften der Geburtsmedizin nicht nur die ›schmerzfreie‹ Wunschsectio, sondern auch eine andere Variante, nämlich sich in den Wehen erst einmal finden und das Gebären eigenleiblich aufgreifen zu können. Gerade weil die Medizin auf alle Eventualitäten eines komplizierten oder subjektiv nicht mehr zu bewältigenden Verlaufs sofort reagieren kann, hat die Frau auch für die leibliche Selbsterfahrung viel mehr Spielräume für den Umgang mit den Grenzen, die ihr das Gebären unweigerlich aufnötigt. Es gehört jedoch zur Kulturalisierung leiblicher Vorgänge, dass solche durch Technik und Wissenschaft eröffneten Entfaltungsmöglichkeiten nicht gesehen und schließlich auch nicht als Chancen genutzt werden. Stattdessen ist ein weltweit dramatischer Anstieg von Schnittentbindungen zu beklagen 12 , nicht etwa, weil Frauen diese einfordern würden – Wunschindikationen sind tatsächlich eher selten 13 –, sondern weil sie finanziell lukrativ, zeitlich und organisatorisch unaufwändiger, also in den Klinikalltag besser zu integrieren sind als eine in ihrem Verlauf nicht kal-

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Nach einer aktuellen Studie der WHO ist die Kaiserschnittrate in China mit 46,2 % am höchsten. Vgl. Lumbiganon, Pisake et. al.: WHO Global Survey on Maternal and Perinatal Health Research Group: Method of delivery and pregnancy outcomes in Asia: the WHO global survey on maternal and perinatal health 2007–2008. 2010, 3 (Online-Publikation, 12.1., www.thelancet.com). In Deutschland kam im Jahr 2011 etwa jedes dritte Kind (32,1 %) per Operation zur Welt. Im regionalen Vergleich zeigen sich große Unterschiede: Die Kaiserschnittrate lag z. B. im Saarland bei 38,2 %, in Sachsen dagegen bei 23,2 %. Innerhalb der letzten 20 Jahre hat sich die Anzahl von Geburtsoperationen fast verdoppelt: 1992 lag die Kaiserschnittrate bei 16,2 %. Vgl. Statistisches Bundesamt 2012. 13 Für den Anstieg von Schnittentbindungen sind sie jedenfalls nicht ausschlaggebend. Vgl. Ulrike Lutz und Petra Kolip: Die GEK-Kaiserschnittstudie. Sankt Augustin 2006, 35 ff.

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kulierbare spontane Geburt. 14 Sie passen daher gut in ein medizinisches System, das leibliche Vorgänge auf objektiv-neutrale, natur- und technikwissenschaftliche Tatsachen reduziert. 15 Dabei erfolgt die Sectio, laut Weltgesundheitsorganisation, »one of the most commonly performed surgical operations in the world today« in einer wachsenden Zahl von Fällen »without any medical need« – mit ernsten Folgen. 16 Seit Jahren fordert die WHO aus ethischen und gesundheitlichen Gründen die Begrenzung der Anzahl dieser Geburtsoperationen. 17 In einer kulturkritischen Perspektive erweist sich diese Veränderung im Umgang mit dem Gebären, den Gebärenden sowie auch der Gebärenden mit sich selbst als eine für die technisch-wissenschaftlich-kapitalistische Zivilisation charakteristische Folge der Leibvergessenheit bei gleichzeitiger Körperbesessenheit: Das Gebären wird nicht als Situation, sondern als Konstellation aufgefasst, das subjektive Befinden der Betroffenen wird zugunsten einer Orientierung an messbaren Parametern vernachlässigt. Handelt es sich dabei nicht um ein verfehltes Verhältnis zum Leib, zumal zum gebärenden Leib? Und bedeutet diese Reduktion des Leibes auf den Körper nicht einen Verlust leiblicher Selbsterfahrung, der in bestimmten Feldern des Gesundheitssystems regelrecht ›verordnet‹ wird?

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Eine komplikationslose Schnittentbindung wird deutlich besser honoriert als eine spontane Geburt und ist in der Regel nach 60 Minuten abgeschlossen. Vgl. Lutz / Kolip, a. a. O., 22. 15 Dass auch die Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der Hebammentätigkeit zu diesem Zustand beiträgt, zeigen die Arbeiten von Sabine Dörpinghaus, vgl. z. B. Dem Gespür auf der Spur. Leibphänomenologische Studie zur Hebammenkunde am Beispiel der Unruhe. Freiburg i. Br. 2013; Die Auflösung des Subjekts – Plädoyer für ein antireduktionistisches Verständnis von Geburtshilfe. In: Heidemarie Bennent-Vahle, Ute Gahlings und Robert Kozljanic (Hg.): Lebensdenkerinnen. München 2014, 291–304. 16 In einer globalen Studie hat die WHO die ernsten Risiken der Sectio Caesarea ohne medizinische Notwendigkeit dargelegt. Vgl. Lumbiganon, a. a. O.; Souza, Joao Paulo et al.: WHO Global Survey on Maternal and Perinatal Health Research Group (2010): Caesarean section without medical indications is associated with an increased risk of adverse short-term maternal outcomes: the 2004–2008 WHO Global Survey on Maternal and Perinatal Health. In: BMC Medicine, 8 (1): 71. 17 WHO: Caesarean section without medical indication increases risk of short-term adverse outcomes for mothers. Policy brief. Online-Publikation WHO/RHR/HRP10.20, 2010.

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Feministische Phänomenologie und die Ethik leiblicher Selbsterfahrung Angesichts der Befunde zu den kulturellen Imperativen für die geschlechtliche Existenzweise erhebt sich nach wie vor die genuin feministische Frage danach, welchen Spielraum Frauen für den eigenen Entwurf im Rahmen der Faktizität von Natur und Kultur überhaupt haben. Es gibt vielerlei Anhaltspunkte dafür, dass die durch Geschlechterimagos transportierten Fremdansprüche mittlerweile verstärkt als Selbstansprüche verinnerlicht und als attraktive Wahlmöglichkeiten zur Selbstverwirklichung wahrgenommen werden. Hier scheint es selbst im Zeitalter des Postfeminismus erforderlich, das geschlechtliche Subjekt zurückzugewinnen, um die politischen Forderungen des Feminismus differenziert zu aktualisieren. Gegenüber dem Gebot der Selbstmächtigkeit kann eine feministische Phänomenologie des Leibes im Eingedenken der Selbstgegebenheit des Leibes und des Pathischen menschlicher Existenz eine Ethik leiblicher Selbsterfahrung geltend machen. In ihr wird sowohl der moralische Umgang des Menschen mit sich selbst als auch der gesellschaftliche Umgang mit Leib und Leben zum Thema. Praktisch geht es um die Erschließung eines Erfahrungsspielraums für die Leibbeziehung, um jenseits von Körperkult und Intellektualkultur leibliche Integrität zu bewahren. Dazu sind über feministische Kritik und gesellschaftlichen Widerstand hinaus angemessene Formen der Selbstkultivierung und der individuellen Verweigerung notwendig. Diese könnten die »leiblich-persönliche Fassung« (Schmitz) 18 so stärken, dass uns in entscheidenden Momenten nicht nur Mut zur leiblichen Selbsterfahrung, sondern auch Gelassenheit überkommt – eine Gelassenheit, mit der die Abgründe und Schrecken der Existenz sowie auch das Scheitern des autonomen und kreativen Ich gegenüber der Macht des Unverfügbaren hingenommen werden können. 19 Dem autonomen Subjekt kann man mit Gernot Böhme das souveräne Subjekt entgegensetzen. »Souverän ist der Mensch, insofern er anerkennt, dass er nicht Herr im eigenen Haus ist: ein Subjekt, zu dem das Erleiden ebenso gehört wie das Handeln.« 20 Diese Konzeption beruft sich auf eine kritische Theorie der Natur, und Böhme meint, das Selbstverständnis des 18

Hermann Schmitz: Situationen und Konstellationen. Freiburg i. Br., München 2005, 95. Vgl. auch Ute Gahlings: Die Bedeutung der Leiblichkeit für eine philosophische Existenzform. In: Michael Großheim (Hg.): Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie. Festschrift für Hermann Schmitz. Freiburg i. Br., München 2008, 267–283. 20 Vgl. Gernot Böhme: Ethik leiblicher Existenz. Frankfurt/M. 2008. 19

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Menschen müsse heute »das Natursein in den eigenen Selbstentwurf bewusst integrieren« 21 . So wird der souveräne Mensch es »ablehnen, sich zum autonomen Subjekt zu stilisieren, nicht nur weil das eine Illusion ist, sondern auch weil er dadurch den Bezug zu allem, was ihn angeht, was ihn betroffen macht, verlieren würde. Auf der anderen Seite wird er es ablehnen, seinen Leib vollständig zum Körper zu objektivieren, weil er dadurch seiner ursprünglichen Selbstgegebenheit im leiblichen Spüren verlustig ginge.« 22 Solche Souveränität ist freilich eine Haltung, die man sich aneignen muss, die verteidigt und gegen Widerstände durchgesetzt werden muss. 23 Auf der Ebene »betroffener Individuen« geht es darum, das »Verhältnis zum eigenen Leib ernst zu nehmen, das heißt, ihn als moralisch relevant zu erkennen«.24 Eine an Wahlfreiheit und Selbstbeherrschung orientierte Lebenskunst, die sich dem leiblichen Sein verschließt, wird dagegen am Leben selbst verzweifeln. Leib-sein-Können ist daher – so meine ich – immer noch die größte Herausforderung für ein nicht völlig entfremdetes Leben in der Postmoderne, vor allem für Frauen, die von allen Seiten mit der Zumutung konfrontiert werden, ihre Leiblichkeit auszublenden. Auch wenn also nun einige Gendergesellschaften durchaus fortschrittlich sind und die Fluidität der Geschlechtlichkeit lebensweltlich immer mehr erkannt wird, haben sich feministische Anliegen und die Kritik an den Geschlechterverhältnissen nicht erledigt. Tatsächlich gibt es schon wieder neue vermeidbare Übel, die mit den Situationen von Frauen, vor allem mit ihrem Gesundheitszustand und leiblichen Wohlbefinden zusammenhängen – von dem, was generell weltweit für die Lage der Frauen noch zu tun ist, ganz zu schweigen. Gerade weil in vielen Bereichen noch erheblicher Handlungsbedarf besteht, halte ich die von Postgender ausgehenden Signale und Thesen bezüglich der Beliebigkeit und Wählbarkeit von Geschlecht – zumindest in ihrer Radikalität – für trügerisch und unverhältnismäßig, vor allem wenn aus einem Theoriefeld, das gerade die Verfahren des Gendering verstanden hat, hartnäckige Forderungen nach Degendering lautwerden. In ihrem Buch »Breaking the Bowls. Degendering and Feminist Change« 25 fordert Judith Lorber als letzten feministischen Akt die ersatz21

Ebd., 174. Ebd., 176. 23 Ebd., 195. 24 Ebd., 21. 25 Judith Lorber, Breaking the Bowls. Degendering and Feminist Change. New York, London 2005. 22

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lose Streichung der Kategorie Geschlecht aus den gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen. Wenn Gender formal nicht mehr existiert, kann es, so die These, keine Diskriminierungen nach Geschlecht mehr geben – ein wahrhaft post-feministischer Zustand. Lässt sich Gender mit einem solchen Geniestreich aus unserer Lebenserfahrung tilgen? Im Kontext leiblicher Selbsterfahrung zeigt sich Degendering als ein Konzept, das allzu sehr über Kognitionen und Formalitäten funktioniert, wenn es auf struktureller Ebene die Geschlechter-Segregation ausräumen will. Dabei brauchen wir aus meiner Sicht gerade in der gegenwärtigen Lage zunächst einmal und immer noch eine Würdigung der Genderkomplexität in den geschlechtlichen Existenzweisen mit ihren unterschiedlichen Leiberfahrungen, auch um weitere Handlungsspielräume für die Linderung damit verbundener Leiden zu erschließen. Ich meine, dass der Kampf sowohl um Geschlechter-Gerechtigkeit als auch um Anerkennung in den Differenzen noch nicht zugunsten einer Auflösung der Geschlechterkategorien aufgegeben werden darf und darauf geachtet werden muss, welche Ziele mit welchen Schritten erreicht werden können. Sicher ist eine Gesellschaft denkbar, die heteronormative Zurichtungen und die Leiden an der Geschlechtlichkeit überwunden hat. Vermutlich werden die Menschen einander dann offener begegnen. Gewiss werden sich die Möglichkeiten erotischer Bezogenheit und die Kreativität leiblicher Liebe erweitern. Mir scheint, dass es in gender-reflektierten Gesellschaften auch jetzt schon immer mehr Menschen gelingt, unvoreingenommener aufeinander zu reagieren. Da dies aber nicht die allgemeine Lage ist und immer noch sehr viel für das Verstehen zwischen Frauen, Männern, Inter- und Transsexuellen etc. getan werden muss, ist es außerordentlich wichtig, die Erfahrungsweisen geschlechtlicher Existenz am Leitfaden gespürter Leiblichkeit zu analysieren und in lebensweltlich relevanter Sprache nachzubuchstabieren. Es geht darum, wie Schmitz einmal schrieb, »verdeckte und ungeschützte Möglichkeiten des Lebens ans Licht zu bringen« 26 und einseitig orientierten Lebensformen entgegenzuwirken. Ich bin sicher, dass die phänomenologische Erfahrungskunde vorerst mehr zur Humanisierung der Geschlechterverhältnisse beitragen kann als eine formale Abschaffung oder wissenschaftliche Aufkündigung der Kategorie Geschlecht. Ute Gahlings

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Hermann Schmitz, Neue Phänomenologie. Bonn 1980, 25 f.

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Bibliographie Thomas, Philipp: 1996 Selbst-Natur-sein. Leibphänomenologie als Naturphilosophie. Berlin. Tüne, Anna (Hg.): 1982 Körper Liebe Sprache. Über weibliche Kunst, Erotik darzustellen. Berlin. Utrio, Kaari: 1984 Evas Töchter. Die weibliche Seite der Geschichte. Hamburg. (Or. 1984 Helsinki). Valitutti, Francesco u. Verdegiglio, Diego: 2001 Das Buch von der Vagina. Unter dem Feigenblatt. Hamburg u. Wien. (Or. 2000 Il Libro della Vagina.) Verein Sozialwissenschaftliche Forschung und Bildung für Frauen (Hg.): 1994 Zur Krise der Kategorien Frau – Lesbe – Geschlecht. Facetten feministischer Theoriebildung, Materialienband 14. Frankfurt/Main. Vintges, Karen: 1996 Philosophy as Passion. The Thinking of Simone de Beauvoir. Bloomington u. Indianapolis. (Or. 1992 Filosofie as passie. Het denken van Simone de Beauvoir.) Vogl, Joseph: 1993 Geschlecht ohne Ort. Das Casanova-Experiment oder: Vom Kampf der Natur gegen die Vernunft. In: Den Körper neu denken. Gender Studies. Neue Rundschau, 104. Jg., 1993, Heft 4, 33–45. Waldenfels, Bernhard: 1985 Das Problem der Leiblichkeit bei Merleau-Ponty. In: Leiblichkeit, hg. v. H. Petzold, Paderborn, 149–172. 1997 Fremdheit des anderen Geschlechts. In: Stoller/ Vetter, a. a. O., 61–86. 2000 Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Frankfurt/Main. Walter, Thoma Angelica: 1932 Seinsrhythmik: Studie zur Begründung einer Metaphysik der Geschlechter. Freiburg i. B. Waschek, Renate: 1995 Dieses kleine Stück Watte … Werbung und Tabu am Beispiel der Werbung für Binden und Tampons. Löhrbach. Weideger, Paula: 1975 Menstruation and Menopause. New York. Wimmer, Reiner: 1995 Vier jüdische Philosophinnen. 3. Auflage. Tübingen. Wittig, Monique: 1973 Le corps lesbien. Paris. 1981 One is not Born a Woman. In: Feminist Issues, Bd. 1, Nr. 2. 1985 The Mark of Gender. In: Feminist Issues, Bd. 5, Nr. 2. Wobbe, Theresa: 1994 Die Grenzen der Gesellschaft und die Grenzen des Geschlechts. In: Wobbe/Lindemann, a. a. O., 177–207. Wobbe, Theresa u. Lindemann, Gesa (Hgg.): 1994 Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht. Frankfurt/ Main.

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Bibliographie Wolf, Naomi: 1993 Der Mythos Schönheit. Reinbek. (Or. 1990 The Beauty Myth, London) Young, Iris Marion: 1990 Throwing like a Girl and Other Essays in Feminist Philosophy and Social Theory. Bloomington u. Indianapolis. Young-Eisendrath, Polly: 1999 Women and Desire: Beyond Wanting to Be Wanted. New York. Zahavi, Dan: 1994 Husserl’s phenomenology of the body. In: Études phénoménologiques 19, 63–84. Zinn-Thomas, Sabine: 1996 Menstruation und Monatshygiene. Zum Umgang mit einem körperlichen Vorgang. Münster, New York, München, Berlin.

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Personenregister

Abildgaard, Nikolai Abraham 489 Acker, Kathy 386 Adolph, Helene 20–22 Ahmed, Sara 668 Akashe-Böhme, Farideh 100, 293, 362 Alaimo, Stacy 669 Alcoff, Linda 82, 87, 90 Ales Bello, Angela 83 f. Anderson, Bonnie S. 131 Andreas-Salomé, Lou 247 Aquin, Thomas von 50, 134 Ariès, Philippe 431 Aristoteles 46, 134, 600 Arnold, Jean 251 Arp, Kristana 61 Ayalah, Daphna 150, 152, 249 f., 254 f., 257, 260, 262 f., 558, 568, 577 Badinter, Elisabeth 54, 431, 572, 579 Bächtold-Stäubli, Hanns 331, 535 Banchetti-Robino, Marina Paolo 88 Barry, Kathleen 390 Beauvoir, Simone de 26 f., 55, 57, 61–67, 75, 82, 84, 88, 94, 100, 127, 138, 243 f., 253, 325, 345, 373, 383 f., 509, 602– 605, 654 Benhabib, Seyla 54, 94, 100 f. Bennent-Vahle, Heidemarie 683 Bergoffen, Debra 61, 63, 66 f. Benjamin, Jessica 101, 137 Bennent-Vahle, Heidemarie 27 Berkemer, Georg 80 Bernstein, Susan D. 137 Beth, Mary 130 Bettelheim, Bruno 291 f. Bode, Kathrin 311

Böhme, Gernot 23, 26, 31, 42, 61, 71–78, 80, 88, 111, 239, 669, 671, 674, 680, 684 Boivin, Marie-Anne-Victoire 135 Bollnow, Otto Friedrich 29, 37 Bornhäuser, Annette 640 Borzello, Frances 318 Boureau, Alain 398 Bourdieu, Pierre 119–123, 126, 137, 268 Bourgeois/Boursier, Louise136 Boxcar, Bertha 500, 510, 515 Braidotti, Rosi 27, 100–102 Braun, Christina von 131 Broude, Norma 317 Brownmiller, Susan 151–153, 399 Brüggebors-Weigelt, Gela 410 Bryce, Britton 180 Butler, Judith 16, 46, 54, 56, 66, 76, 84 f., 91, 94–98, 100–102, 107 f., 110, 126, 316, 669 Buytendijk, F. J. J. 77, 88 Byatt, Antonia 486, 488, 494 f., 504, 520 f., 533, 540, 545–547, 553 Bydlowski, Monique 433 Cardinal, Marie 377, 386–388, 487 Carrington, Leonora 600 Cassirer, Ernst 37 Cavarero, Adriana 101 Chang, Pang-Mei Natasha 488 Chasseguet-Smirgel, Janine 137 Chia, Mantak u. Maneewan 181, 216– 218, 632 Chicago, Judy 130, 317 Cixous, Hélène 57, 101 Columbus, Renaldus 174

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Personenregister Conrad-Martius, Hedwig 83 Croner, Else 47 Dalton, Katharina 329 f. Dausien, Bettina 106 Davies, Joshua 180 Davis, Elisabeth 444 Descartes, René 23, 61, 140 Deutsch, Helene 136, 294, 304, 426, 586, 601–605 Dilling, Jochen 403 Dilthey, Wilhelm 68, 127 Dörpinghaus, Sabine 683 Dörrie, Doris 130 Doucet, Julie 318 Duby, Georges 131 Duden, Barbara 66, 96–99, 108, 131 f., 134, 478 f. Duval, Jacques 103 Ellis, Havelock 331–333, 344 Embree, Lester 29, 82 Ensler, Eve 270 Ernster, Virginia 303 Eva-Maria (Knapp) 254, 304, 366, 372 f., 378, 384 Export, Valie 130 Fallaci, Oriana 444–447, 473 f., 484 Fausto-Sterling, Anne 594, 598 Feher, Michel 131 Fend, Helmut 244 f., 247, 253 Fiegl, Verena 390 Fischer-Homberger, Esther 135, 314, 359, 638 Fisher, Linda 29, 43, 61, 82, 85–91, 668 Flapan, Mark 433 Flax, Jane 101 Flothmann, Karin 403 Frank, Anne 262, 294, 324 f., 359, 362, 366, 614 Frank, Petra 135 Frank, Robert T. 353 Frederiksson, Marianne 307, 377, 419 French, Marilyn 416–418, 490–492, 515, 524, 560 Freud, Sigmund 136, 243, 432, 602, 608, 628 f.

Freundl, Günter 135 Friday, Nancy 301 f. Fritzsche, Bettina 668 Fröhlich, Susanne 456, 465, 527 f., 551, 562 Fuchs, Thomas 26 Gadamer, Hans-Georg 87 Gahlings, Ute 43, 574, 669, 671, 674, 683 f. Galenos von Pergamon 134 Garrard, Mary D. 317 Gebauer, Günter 137 Gentileschi, Artemisia 364 Gilligan, Carol 54, 57 Giuliani, Regula 94–97 Goll, Claire 481, 501, 514, 516 f., 529, 547 Graaf, Regnier de 135 Grätzel, Stephan 23, 26 Greer, Germaine 273–278, 281, 300 f., 321, 324 f., 536 f., 588 f., 599 f., 606 Griffin, Susan 393 Groddeck, Georg 331, 496, 510 Groß, Jessica 431–434 Großheim, Michael 684 Gugutzer, Robert 26, 98, 121, 138 Guillebaud, John 135, 342, 346 Hackmann, Kristina 668 Hager, Anneliese 529 Haney, Kathleen 29 Hall, Donald 669 Harding, Sandra 93 Hartmann, Jutta 668 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 23 f., 64 Heidegger, Martin 29, 33, 58, 62, 68 Heinämaa, Sara 43, 61, 82 Heinsohn, Gunnar 135 Hekman, Susan 669 Hering, Sabine 314, 327 Hite, Shere 304, 625 Hollander, Anne 153 Honegger, Claudia 638 Horney, Karen 136 Hurrelmann, Klaus 643–646, 649, 652, 660

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Personenregister Husserl, Edmund 28, 30–34, 41–43, 58, 61, 68, 78, 82 f., 85 f. Irigaray, Luce 57, 66, 84, 94, 101, 137, 150, 608, 613, 626, 628–630, 634 Jacobson, Edith 136 Jagenow, A. 433 Jagose, Annamarie 669 Johnson, Virginia E. 630 f. Jones, Ernest 136 Jong, Erica 161, 173, 294 f., 297, 299, 306, 319–321, 333 f., 438 f., 447 f., 615 f., 621–623 Kahlo, Frida 129, 574 Kant, Immanuel 41, 678 f. Kegel, Arnold 180 Kersting, Wolfgang 679 Keyserling, Hermann 636 f. Kinsey, Alfred C. 217, 333, 625 Klesse, Christian 668 Klimt, Gustav 129 Klinger, Cornelia 26 f., 88 Kolip, Petra 638–646, 649, 652, 660, 682 f. Kollwitz, Käthe 415 Kozljanic, Robert 683 Krais, Beate 137 Kristeva, Julia 57, 66 Kröhn,Wolfgang 403 Kruks, Sonia 66 Kuhn, Annette 548 Labouvie, Eva 130 f., 133–135, 460, 483, 536, 548 Labowitz, Leslie 416 Lacy, Suzanne 416 Lademann, Julia 640 Lampl-de-Groot, Jeanne 136 Landau, Lola 481 f., 529 Landweer, Hilge 83 f., 86, 669 Langbehn, Claus 679 Lachapelle, Marie-Louise 134 Laqueur, Thomas 66, 96, 638 Lerner, Gerda 55, 131 Lerner, Harriet G. 137 Lever, Judy 354

Lévinas, Emmanuel 84 Lévi-Strauss, Claude 79 Lindemann, Gesa 84, 97–100, 126, 138 List, Sabine Maria 640 Lorber, Judith 670, 677, 685 Lordes, Audre 101 Lothrop, Hannah 560, 563–565, 567, 573, 575, 580 f., 584 f. Lutz, Ulrike 682 f. Lysbeth, André van 149, 258 f. MacKinnon, Catharine 357 Mahr, Erika 291 f. Maierhof, Gudrun 314, 327 Maihofer, Andrea 94 Malinowski, Bronislaw 441 Martin, Emily 100, 137, 303, 315, 326, 328, 352–356, 463, 626 Masters, William 630 f. Mayer, Constance 129 McClintock, Martha 332 Merleau-Ponty, Maurice 34, 58–63, 78– 80, 84 f., 89, 138, 149 Merlet, Agnès 364 Meulenbelt, Anja 252, 391 f., 394, 626 f., 631 f. Meyer, Ursula 27 Michaelis-Arntzen, Else 391, 396, 399 f., 402 f. Middendorf, Ingeborg 612 Miller, Simone 669 Millett, Kate 65, 100, 626, 654 Mitscherlich, Margarete 137 Mittag, O. 433 Modersohn-Becker, Paula 129, 489 Mörth, Gabriele 390, 395, 398 f., 402– 404, 406 f., 409, 415 Moser, Milena 437 Müller, Klaus 640 Müller-Küppers, Manfred 403 Muraro, Luisa 57, 101 Nadig, Maya 137 Nagl-Docekal, Hertha 27, 54, 83, 86, 359 Naslednikov, Margo 193 Natanson, Maurice 84

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Personenregister Neel, Alice 489 Newmark, Christine 669 Nietzsche, Friedrich 24–26 O’Conell, Helen 175 Oakley, Ann 414 Öttinger, Ulrike 130 Pane, Gina 130 Pappenheim, Bertha 136 Parker Rhodes, Jewell 284, 288 f. Perrot, Michelle 131 Pestalozzi, Johann Heinrich 244 Petzold, Friederike 130 Petzold, Hilarion 26 Picasso, Pablo 489 Pieper, Annemarie 27 Piercy, Marge 571 Plath, Sylvia 378, 382 Platon 134 Plessner, Helmuth 42 f., 78, 84, 99 Price, Janet 100 Prima, Diana di 343, 347 f., 382, 422, 440 Raith, Elisabeth 135 Rappe, Guido 23–26, 33, 38, 69, 80 Redgrove, Peter 286, 291 f., 327, 329–331, 333, 336, 344, 356 Reibnitz, Christine von 640 Reim, Doris 455–457, 464, 466, 468 f., 472, 475, 484, 487, 489–492, 500 f., 507 f., 511, 516, 518 f., 522, 524–526, 528, 533 f., 537–539, 541, 544, 547, 555, 560, 562, 566, 568 f., 573, 582, 584 Rohde-Dachser, Christa 137 Rich, Adrienne 101, 393 Rodewald, Rosemary L. 338 Rossi, Alice S. u. Peter R. 356 Rullmann, Marit 27 Rush, Anne Kent 626 Saint Phalle, Nike de 129 f. Sander, Helke 130 Sartre, Jean-Paul 41, 58–63, 67 f. Scheler, Max 30 f., 36 f., 40, 43, 68, 78, 113 Scherer, Migael 404–406, 408–413

Scheu, Ursula 390 Schick, Béla 327 Schindele, Eva 309, 312, 480 Schlehe, Judith 288, 314, 331, 349 Schlesier, Renate 137 Schmedders, Mechtild 640 Schmidt, Bettina 301, 308 f., 311–313, 639 Schmidt-Honsberg, Louise 137 Schmitz, Hermann 15, 19 f., 23 f., 29, 33 f., 37 f., 40, 67–72, 78, 84 f., 89 f., 98–100, 107, 111–113, 116 f., 119–122, 124, 127, 129, 138, 141, 143–146, 148, 156, 165, 180, 190 f., 204, 213, 225, 229, 233, 290, 371 f., 404, 406 f., 409, 416–418, 423, 458, 466 f., 495 f., 503, 518 f., 542 f., 569, 623, 667, 684, 686 Schopenhauer, Arthur 24–26, 111, 114 Schüssler, Marina 311 Schütz, Alfred 84 Schultz-Zehden, Beate 592 f., 596 Sepp, Hans Rainer 43 Serres, Michel 424 Shaw, Fiona 261, 461, 470, 481, 488, 500, 510 f., 514, 523, 538 f., 550, 557, 569 Shildrick, Margrit 100 Shorter, Edward 431, 650–652 Shuttle, Penelope 286, 291 f., 327, 329– 331, 333, 336, 344, 356 Sichtermann, Barbara 435–438 Siegemundin, Justine 135 Smith, Barbara 101 Smith, Kiki 318 Soltau, Annegret 130, 448, 489 Soranus von Ephesus 134 Spelman, Elizabeth 101 Spivak, Gayatri Chakravorty 101 f. Stefan, Verena 379 f., 389 Steiger, Otto 135 Stein, Edith 16, 26–41, 43–57, 59, 61, 64–66, 74 f., 81, 83 f., 112 f., 116, 156, 206, 620, 648 Stephan, Inge 97, 131, 136 f. Stöppler, Erika 570 Stoller, Silvia 29, 62, 66, 82, 86, 88, 668 f. Stolzenberg, Regina 643 Stopczyk, Annegret 27, 508 f., 554 f. Strobl, Ingrid 308

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Personenregister Tellenbach, Hubert 29 Teubner, Ulrike 414 Thomas, Philipp 26, 31 Trinh, Minh-Ha T. 101 Trotha, Margarethe von 130 Tymieniecka, Anna Teresa 83 Utrio, Kaari 131 Valitutti, Francesco 218 f., 310 Vasterling, Veronica 668 Verdegiglio, Diego 218 f., 310 Vetter, Helmuth 29, 82 Vintges, Karen 66 Vogl, Joseph 103 Wagenknecht, Peter 668 Waldenfels, Bernhard 15, 26, 61, 78–80, 88, 116, 204 Walther, Gerda 83 f.

Walter, Thoma Angelica 48 Waschek, Renate 288, 349 Weideger, Paula 331 Weinstock, Isaak J. 150, 152, 249 f., 254 f., 257, 260, 262 f., 558, 568, 577 WHO (AutorInnenkollektive) 682 f. Wimmer, Rainer 28, 44 Wittig, Monique 101 Wlotzka, Karin 640 Wobbe, Theresa 97 f. Wolf, Naomi 653 Young, Iris Marion 89, 149 f., 159 f., 249, 270 f., 273–275, 280 Young-Eisendrath, Polly 174 Zahavi, Dan 31 Zinsser, Judith P. 131 Zinn-Thomas, Sabine 315 f., 322 f., 337, 352

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Sachregister

Abspaltung 376, 408 f., 416, 511, 527 Abstillen 154, 238, 576, K. 15.5: 579–585 Abtreibung 93, 245, 425 f., 446, 464, 474, 558 f., 640, 650, 652, 664. 672 Adoleszenz 247 Adoption 430 Aids 347, 627 Allergie 71, 402, 575 Altern 115, 154, 241, 276, 588 f., 603– 605, 677 Anästhesie 135, 343, 377, 496, 498, 506 Anatomie 23, 47, 59, 145, 151, 168, 206, 362, 478 Angst 69, 71, 107, 109, 114, 197, 201 f., K. 5.5: 239–242, 245, 251, 258, 262, 286, 291–293, 298, 304, 319, K. 10: 359–385, K. 11: 386–423, 460, 468, 476, 486, 490 f., 493–495, K. 13: 496– 547, 550, 564, 606, 654, 677 Anorexie 108, 402 Anspannung 124, 171, 184, 202, 381, 391, 392, 500, 503, 538, 615, 654 Antisepsis 135 Atmen 71–73, 111–113, 122, 125, 148 f., 186, 258 f., 392, 503, 506, 512, 526– 528 Atmung 112, 148 f., 153, 186, 188, 190, 197, 206, 257–259, 262 f., 268, 392, 405, 511, 518, 523, 526, 622 f., 653 f., 663 Atmosphäre 29, 38, 40, 60, 68, 73, 77, 106–108, 122, 129, 215, 285, 288, 290, 297, 321, 327, 346, 349, 369, 371, 375, 389, 397, 409, 415, 435, 442 f., 448, 476, 491, 495, 498, 558, 564, 618, 634 Aufklärung 280, 290, 299, 307–310, 314,

316, 345, 352, 362, 366, 383, 399, 415, 467, 490, 586, 606, 613, 625–627, 655 f., 664, 673, 678 f. Ausleibung 70 Austreibung 185–187, 197 f., 202, 229, 388, 499, 511, 516 f., K. 13.6: 518–530, K. 13.8: 531–536, 537, 549 Ausweglosigkeit 407, 409 Autobiographie 31, 130 f., 252, 381 f., 500, 510 Autonomie 363, 435, 488, 498, 679 Autorität, leibliche 80, 112, 114, 116, 202, 205, 208 f., 211 f., 239, 242, 249, 264, 286, 424 f., 435, 460, 583, 606 Baby-Blues 543, 556 Basaltemperatur 188, 451 Bauch 105, 187, K. 4.4.3: 194–198, 199 f., 202, 220, 224, 226–230, 233, 235 f., 237, 240, 250, 258 f., 337 f., 369, 373 f., K. 12: 424–495, K. 13: 496–547, K. 14: 548–557, 561 f., 615 Bauchatmung 258 f., 392 Bauchdecke 188, 227 f., 469, 484 Bauchmuskulatur 172, 190, 195 Bauchraum 190, 194, 196–198, 228, 235 f., 550 Bauchschmerzen 240, 329, 501 Becken 198, 369, 481, 505, 515, 550 f., 553 Beckenboden 173, 185 f., 198, 227, 387, 553 Beckenbodengymnastik 180, 387 Befruchtung 205, 333, 339, 419, 425– 429, 431, 434 f., K. 12.2: 441–448, 464, 474, 657 Begehren 95, 183, 270, 282, 437–439, 608–611, 628 f., 634 f.

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Sachregister Beschwerden 31, 329, 338, 349, 352, 357, 402, 455 f., 471, 551, 591–593, 596, 599, 601, 607, 646 f., 652 Bewegung, Bewegungen 29, 32, 35 f., 78, 117 f., 150–157, 165, 167 f., 171, 182– 185, 194–196, 199 f., 214, 216, 225– 228, 235 f., 249 f., 252, 258, 274, 283 f., 380, 393, 450, 485 f., 488, 490, 493, 501, 507, 517 f., 551–553, 616, 621 Binde, Binden 214, K. 8: 284–313, K. 9: 314–358, 550, 612 Biographie 16–17, 76 f., 78, 80, 84, 86, 92, 103, 105–107, 109 f., 122, 242–244, 259, 264, 267 f., 282, 303, 359, 421, 593, 600, 607, 654–655, 660, 663, 677 Biologie 42, 46, 56, 74, 95, 650 Binnenstruktur 145, 147, 158–164, 167, K. 4.3.2: 168–187, 198 Blasensprung 220, 501, 517–518 Blockaden 393, 558 Blut 38, 105 f., 132, 164 f., 177–179, 207 f., K 5.2.1: 209–215, 241, K. 8: 284–313, K. 9: 314–358, K. 10: 359– 385, 420, 500 f., 514, 521, 534, 541, K. 14: 548–557, 587, 589, 675 f. Bluten 207, K. 5.2.1: 209–215, K. 8: 284–313, K. 9: 314–358, K. 10: 359– 385, 463, 533, K. 14: 548–557, 590 f., 613 Blutfluss 211, 318, 320, 338, 347, 361, 419, 550, 561, 613 Brust, Brüste 16, 104–106, 116, 145, 147, K. 4.2: 148–161, 167, 175, 194 f., K. 4.5: 199–203, 212 f., 219, K. 5.2.4: 220–223, K. 5.3.5: 232 f., K. 5.4.3: 237–239, 240–242, 245, K. 7: 247– 283, 303, 341, 402, 422, K. 12: 424– 495, 552, 554 f., K. 15: 558–607, K. 17: 608–635, 655, 658 Brustkorb 148 f., 153 f., 248, 250, 257 f., 275, 404, 406, 481 Brustwachstum s. a. Thelarche 17, 109, 194, 244, K. 7: 247–283,670, 672 Brustwarze, Brustwarzen 105, 155, K. 4.2.: 158–161, 173, 175, K. 5.2.4:

220–223; K. 5.3.5: 232 f.; K. 5.4.3: 237–239, K. 7: 247–283, 453, K. 15: 558–607, 609 f., 612 f., 625 Büstenhalter 150, 152 f., 252, 259, 269, 275 f., 562 Cervix uteri 192 Chirurgie 135, 270, 278 Damm 186, 525, 537 Dammriss 536 f., 573 Dammschnitt 186, 525, 533, 536 f., 548, 551, 658 Defloration 17, 105, 201 f., K. 5.2.1: 209– 215, 226, 240–242, 245, 283, 293, 347, K. 10: 359–385, 387, 389, 419, 422, 573, 627, 675 Degendering 671, 685, 686 Diät 125, 457, 636 Diagnose 93, 133, 138, 442–444, 447, 449, 451, 453, 455 f., 461–463, 472, 475, 479, 482, 499, 638, 647, 657 Ding 23, 32 f., 35, 40, 47, 58, 62, 71, 100, 102, 104, 151, 224, 410, 511, 521 f., 524, 544, 556 Disposition 30, 98, 117, 120 f., 147, 401, 676, 680 Durst 69, 111 f., 114, 125 f., 615 Ei 189, 327, 334 f., 442 f., 446, 626 Eierstock, Eierstöcke s. a. Ovarien 135, 188 f., 327 Eigengewicht 198, 540, 550 Eigenwärme 114, 224, 450, 597 Eizelle 425, 443, 452, 626, 681 Einfühlung 30, 32, 39 f., 43, 125 Einleibung 70, 107, 118, 153, 157, 161, 182, 200, 213 f., 416, 545, 560, 569, 573, 634 Eisprung 188 f., 326 f., 331, 333–335, 343 f., 431, 449, 451, 588 Ejakulat 114, 217, 347, 625 Ejakulation 70, 216–219, 312, 367, 613, 625, 632 Ekel 37, 61, 288, 324, 346, 351, 371–374, 379, 382, 384, 402, 404, 410, 421 f., 536, 576, 578, 614 Ekstase 242, 383, 546, 609, 624, 633 f.

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Sachregister Emanzipation 72, 119, 131, 324, 348, 423, 467–469, 506, 543 Embryo 103, 259, 420, 472 Empfängnis 333, 346, 424–428, 431, 436, K. 12.2: 441–448, 452, 657 Empfängnisverhütung 280, 333, 341, 347, 597, 626 f. Enge 69 f., 112, 119, 144, 148, 159, 172, 177, 180, 185, 191, 337, 363, 364 f., 367, 372 f., 381, 392 f., 404 f., 413, 417– 421, 445, 468, 490, 496, 507, 519, 542, 553, 623, 654, 663 Engung 112 f., 145 f., 148, 155, 161, 167, 172, 179, 183, 185 f., 197, 201 f., 229 f., 233–235, 241, 334, 360, 372, 387, 392, 490, 502 f., 523, 552, 561, 584, 624 Entfremdung 59, 67, 71–73, 271, 273, 282, 312, 352, 357, 370 f., 498, 545, 658, 661, 665 Entkörperung 364, 367, 374 f., 383, 404, 407–409, 422 Entmündigung 357, 516, 524, 572, 639 Entsetzen 107, 109, 308, 364 f., 516, 578 Entspannung 171, 179, 184, 186, 195, 197, 301 f., 328, 332, 381, 383, 408, 502 f., 540, 567, 570, 619, 622, 624 Entwicklung 86, 104, 107, 115, 122, 240, 243 f., 247–249, 251, 257, 261, 264, 273, 284, 311, 339, 403, 432, 474, 600 epikritisch 70, 145, 159, 189, 191–193, 228, 372, 452, 458, 504, 623 Erbrechen 342, 372, 442, 455, 461 Erinnerung 257, 305, 374, 405- 410, 413, 417, 419 f., 444, 470, 490, 525, 538, 542 f., 571 f. Erleichterung 158, 172, 175, 184, 186, 198, 242, 266, 293, 334 f., 339, 345, 368, 409, 506, 511, 518, 525, 527, 528, 531, K. 13.9: 536–543, 544, 583, 591, 604 Ernährung 220, 222, 457, 549, 569, 576, 581, 649 f., 652, 661, 679 Erregung 155, 157 f., 160 f., 166, 169 f., 174–176, 178 f., 185, 191–193, 202, 208, 216, 219, 281 f., 360, 367 f., 401, 460, 498, 597, 612 f., 616, 620, 622– 624, 630

Erschöpfung 392, 411, 417, 497, 511, 522 f., 527, K. 13.9: 536–543, 583, 623 Essenzialismus 29, 50, 86, 89 Essgelüste 451–453, 457, 459, 470 Feminismus 16, 27–29, 46, 55, K. 1.5: 80–92, 94, 100, 102, 277 f., 339, 650 f., 652, 654, 663, 665, 672, 684, 686 Fertilität 333, 432 f., 464, 674 Feuchtigkeitsmilieu 341, 594, 596–598 Fleisch 22 f., 58, 66 f., 152–154, 214, 250, 360, 396, 525, 531 f., 597 Fleischlichkeit 158, 235, 252 Flüssigkeit, Flüssigkeiten 105 f., 113, 165, 172, 177, 179, 181, K. 5.2: 207–223, 231, 238, 285 f., 288 f., 299 f., 378, 406, 518, 529, 549, 559, 675 Fötus 227–229, 233, 472–480, 483 f., 486, 490, 499, 517, 528, 670 Frauenbewegung 29, 44 f., 55, 75, 82, 84, 93, 130 f., 137, 163, 270, 311, 317, 403, 414, 416, 435, 544, 572, 575, 600, 626, 632, 639, 651, 654, 679 Frauengeflüster 140, 310 Frauengesundheitsbewegung 270, 339, 358, 639, 643 Freude 37 f., 107, 109, 117, 242, 335, 433, 454, 460, 476, 482, 484, 490, 538, 542, 555, 624, 659 Frieren 111, 113, 166, 450 Frische 36, 111–113, 500, 624 Fruchtbarkeit 126, 129, 134, 148, 242, 283, 291, 293, 326, 338–339, 342, 344, 347, 355, 424–427, 440, 446, 455, 464, 536, 587 f., 597, 602, 626, 640, 654– 656, 659–661, 666, 672, 674 f., 681 Fruchtblase 219, 227, 472 f., 516–518, 553 Fruchtblasensprung 518 Fruchtwasser 105, 177, 178 f., 181, 207 f., 219 f., 227, 476, 505, 517, 525, 532, 635, 675 Fülle 16, 106, 152, 158, 159, 161, 166, 170, 170–172, 176, 178 f., 184 f., 186, 190–192, 195, 206 f., 214, 220–222, 226 f., 230 f., K. 5.4: 232–239, 251,

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https://doi.org/10.5771/9783495860823 .

Sachregister 280, 482, 519, 551 f., 559, 560–563, 566, 568 f., 583, 621 f., 635 Gebären 70 f., 126, 196, 219, 228, 228– 230, 242, 362, 381, 388, 490, 494, K. 13: 496–547, 555 f., 563, 635, 668, 681 ff. Gebärmutter s. a. Uterus 187, K. 4.4.2: 189–194, 327, 446, 458, 488, 548, 571, 572, 575, 608, 623, 630 Gebärmutterhals 180, 192 f., 350 f. Gebärmutterhalsorgasmus 192 f. Gebärpraktiken 245 Geburt 17, 107, 116, 126, 130, 134, 139, 185–187, 189, 196–198, 202 f., 204 f., 208, 220–222, 233, 236, 240–242, 245, 381, 462, 467, 490–495, K. 13: 496– 547, K. 14: 548–557, 558–564, 569, 573, 578 f., 583, 634 f., 657 f., 668, 670, 675, 681 ff. Geburtshilfe 134 f., 506, 509, 516, 536 f., 642 Geburtspersonal 505, 513, 516, 521, 523, 527, 531, 532 f. Geburtsvorbereitung 190, 197, 461, 490, 497 f., 502, 507, 537 Gefahr 25, 307, 309, 339, 389, 392, 397, 408 f., 417, 474, 606, 636 f., 641, 662 Gehen 42, 72, 115, 119, 152, 179, 194, 199 f., 267, 276, 392, 395, 482, 506 f., 521, 528, 541, 551 Gender 16, 27, 44, 46, 55, 84, 87, 91 f., K. 2: 93–110, 131, 264, 269, 303, 474, 643, 644, 649, 668 ff., 673 f., 676 ff., 685 f. Gendergesellschaft 670 f., 676, 685 Gendering 53, 63, 110, 126, 148, 173, 218, 241, 244, 249, 251, 257, 265, 272 f., 277, 279 f., 284, 291, 336, 465, 471, 642 f., 677 f., 685 Genderkomplexität 673, 677, 686 Genital 106, 145, 147 f., K. 4.3: 161–187, 191, 193, 199–203, 209–220, 225, 229, K. 5.4.1: 233–235, 240 f., 284 f., 288, 293, 298, 318 f., 346, 364, 378, 381, 404, 422, 516, 531 f., 549–551, 573, 587, 594, 596 f., 601, 613 f., 620, 625, 675 ff., 682

Genitalverletzung 658 Genitalverstümmelung 537, 682 Geschlechterdifferenz 26 f., 29, 43, 49, 54, 56, 61, 63, 70, 73, 75–77, 79 f., 82, 92 f., 95, 97, 99, 114, 122, 146, 252, 667, 669 ff., 674 Geschlechter-Realitäten 15, 28 f., 44 f., 308, 358, 393, 432 Geschlechtsakt 240, 242, 360, 364, 366, 376, 380, 409, 441–444, 446, 496, 621, 625 Geschlechtsidentität 15 f., 46, 56, 92, K. 2: 93–110, 282, 324, 672, 677 f. Geschlechtskrankheit 286, 402 Geschlechtsrollen 75 f., 93, 291, 356, 390, 413, 647 Geschlechtsverkehr 109, 210, 218, 346, K. 10: 359–385, K. 11: 386–423, 427 f., 444, 573, 593, 596, 627, 633 f. Gesundheit 124, 180, 222, 312, 532, 536, 604 f., K. 18: 636–651, 661, 683, 685 Gewalt 241, 363 f., 375, 383 f., K. 11: 386–423, 522 f., 526, 632, 654, 662 f., 670 Gewicht 105, 152, 181, 194, 196, 198, 212, 214, 235, 248, 252, 276, 343, 402, 480, 482, 540, 545, 550, 553 f., 562, 567 Gleichgewicht 197, 119, 152, 250, 467, 551, 636–637 Gleitflüssigkeit 216 f. G-Punkt 184, 216–219 Gravidität s. a. Schwangerschaft 105, 116, 130, 133, 188, K. 4.4.3: 194–198, 200, 202–205, K. 5.3.2: 226–228, K. 5.4.2: 237 f., 240–242, 245, K. 12: 424–495, 548, 584, 675 Gusher 217–219 Gynäkologie 134 f., 137, 311–313, 341, 639 f., 642 Haare 112, 194, 251 f., 653 Habitus K. 3.3: 116–122, 123 f., 126– 128, 137, 239, 676 Haltung, Haltungen 52, 119, 150, 165, 168 f., 200, 236, 249 f., 252, 256, 260, 263, 268, 282 f., 393, 427, 485, 489, 503, 505, 534, 538, 621, 654, 663

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Sachregister Haltungsschäden 119, 154, 262, 278 Handtasche 278 f., 324, 393–395, 463 Harndrang 111 f., 172, 202, 208, 518 Harnausgang 162, 168, K. 4.3.2.2: 171– 173, 176 f., 180 f. Hausgeburt 494 f., 642, 657 Haut 22, 164 f., 168–171, 173, 179, 182, 204 f., 207 f., 210, 214 f., 221 f., 250, 276, 285, 288, 359 f., 449 f., 456, 458, 487, 554, 612, 619, 634 Hebamme 134 f., 475, 497, 536 f., 548, 575, 642, 683 Heilung 136, 404, 411 f., 638, 658 Heißhunger 455–457 Heteronormativität 668, 673, 686 Herztöne 475 f. Hitze 450, 595 f., 615 f., 623 Hitzewallung 241, 551, K. 16: 586–607 Hoden 135, 281 f. Homosexualität 76, 282, 664, 670, 677 Hormone 56, 65, 341, 343, 354, 596, 606, 617 Hormonmangelzustand 660 Hormontherapie 591, 593, 598 f., 605 f., 646, 660 Hunger 24, 69, 111 f., 114, 125 f., 343, 424, 615 Hygiene 108, 173, 287 f., 297–299, 301 f., 314 f., 317, 322 f., 325, 336, 346, 349, 357 f., 363, 550 f., 588, 594, 614, 627, 648, 655, 679 Hygieneartikel 211, 214, K. 8: 284–313, K. 9: 314–358, 463, 516, 586 f. Hymen 210, 226, K. 10: 359–385, 386 f. Hysterektomie 136 Hysterie 136, 326, 452, 617 Identität 16, 95 f., 103, 109–111, 119, 122, 249, 271, 303, 358, 663 Imperativ, Imperative 287, 297, 321, 471, 586, 670, 674, 684 Implantate 108, 150, 279 f. Inkontinenz 172, 180, 218 f., 553 Insemination 443 f. Integrität 16 f., 51, 72, 103, K. 3.3: 116– 122, 127, 240, 254–256, 341, 346, 363, 372 f., 391–393, K. 11.3: 404–423, 553,

557, 564 f., 583, 624, 638, 640, 643, 646, 648, 652–654, 660–662, 677, 684 Interaktion, Interaktionen 103, 107, 120, 175, 199, 202 f., 208, 225, 238 f., 424, 577, 579, 581–582, 584, 650, 661 Internet 138 f., 141, 333, 349, 448 f., 451– 453, 455, 458, 483, 538, 606 f. Intersexualität 669 f., 673, 675 ff. Intuition 48, 445 Invitrofertilisation 443 Irritation, Irritationen 116, 218, 254, 257, 266, 288, 411, 460 f., 511, 526, 556 f., 566, 575, 595, 609, 615, 637 Jugend 65, 244 f., 247, 253, 284, 603– 607 Jugendliche 124, 244 f., 271, 298 f., 338, 424, 586, 613 f. Jungfrau K. 10: 359–385, 404 Kaiserschnitt 109, 245, 498, 513, 528, 657, 665, 668, 676, 682 f. Kindbettzeche 135 Kinderwunsch 325, 335, 342, 344, 346, K. 12.1: 424–440, 448, 454, 601, 656 f., 659 Kindesmund 205, 223 Kindheit 15, 65, 209, 244, 383, 431 f., 572, 578, 610, 637 Kindsbewegungen 140, 195, 199, 205, 227 f., 230, 235, 444, 481 f., K. 12.8: 483–489, 583 Kleidung 113 f., 118, 152 f., 155, 159, 164 f., 169, 173 f., 179, 194, 213 f., 216, 222 f., 250, 252, 259, 262–264, 276 f., 285, 392, 395, 397, 449 f., 480, 612, 653 Klitorektomie 662 Klitoris 105, 161 f., 168, K. 4.3.2.3: 173– 176, 178, 184, 193, 367, 525, 608 f., 613, 625, 630 Klimakterium 17, 76, 130, 205, 240–242, 244 f., 294, K. 16: 586–607, 616, 624, 634, 660 Knochen 163, 341, 505, 554 Körpergefühl 198, 254, 402, 410 f., 421, 554 Körpergeschichte 134

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Sachregister Körperhaltung, Körperhaltungen 120, 148 f., 152, 154, 165–167, 171, 174, 186, 208, 235, 251, 255, 257 f., 260, 364, 392 f., 450, 505, 507, 551, 609, 654 Körpermodell 25, 69, 103, 116, 131, 134, 144 f., 163, 167, 188 f., 197, 202, 205, 221, 228, 310, 312, 346, 459, 499, 514, 606, 643, 649 Körperoberfläche 22, 32, 207, 210, 285 f., 450, 458 Körperöffnung, Körperöffnungen 81, 104, 161, 167, 171, 176, 208, 225, 289, 422, 675 Koitus 204, 210, 347, 359, 361, 403, 433, 438, 442, 632 Kommunikation 60, 562, 565 f., 568, 583, 617, 619, 624 Kondom 351, 464, 627 Kontraktionen 167, 180, 190, 193, 197, 213, 301, 499, 514, 609 Kontrazeptiva 109, 333, 342, 344 f., 426 Konturen 69, 152, 155, 178, 182 f., 185, 187, 189, 198, 228, 234, 550, 554, 562, 616, 618, 621, 623 f. Konvulsionen 190, 197 f., 203, 212, 532, 552, 566, 613, 623 Konzeption s. a. Befruchtung 335, 425 f., 435, 460 Kopfschmerzen 402, 442, 601 Korsett 153, 259 Kränkung 466, 468, 552, 601, 605 Krankheit 115, 254, 264, 286, 301, 304, 312–314, 325, 328, 337, 340, 342, 354, 357, 586, 589 f., 601, 605, 611, K. 18: 636–651, 653, 657, 674 Krämpfe 287, 300, 302, 501, 615, 655 Kreißen 497 Kreißsaal 497, 541, 560 Krise 27, 55, 100, 102, 255, 288, 296, 300, 319, 345, 349, 588 Kunst 72, 127, 129 f., 138, 270, 317 f., 415, 489, 574, 606, 633 Kurzatmigkeit 112, 268, 654 Küssen 544, 619 f., 625 Kuss 162, 202, 619

202–205, 208, 219, K. 5.2.4: 220–223, K. 5.3.5: 232 f., K. 5.4.3: 237–239, 240–242, 245, 253, 270, 276, 280, 282, 430, 438, 549, 554, K. 15: 558–585, 613, 626, 634 f., 675 Lebensalter 75, 92, 106, 111, 114–117, 123, 124, 127, 147, 239, 248, 262, 272, 283, 424, 590, 609, 637, 644, 660, 681 Leere 158, 232 f., 235 f., 433, 437, K. 13.9: 536–544 Leibbemeisterung 72, 338, 387 Leibesfülle 19, 232, 482, 496, 536 Leibesinsel, Leibesinseln 34, 69, 103, 106, 118 f., K. 4: 143–203, K. 5: 204– 242, 248, 258, 269, 282, 289, 341, 360, 371, 381, 409, 422, 442, 450, 458, 471 f., 481, 511, 531, 552 f., 559–562, 568, 572, 590, 597, 609 f., 613, 616, 619 f., 622 f., 632, 634 f., 638, 653 f., 676 Leibesregion, Leibesregionen 106, 112, K. 4: 143–204, 248, 250, 372, 388, 447, 451, 481, 519, 537, 554 f., 596, 609, 616, 619, 622 Leibeszentrum 202 Leibschmerzen 19, 187, 316, 326, 354 Leiche 22, 293 Leichnam 20, 22, 35, 58 Leiden 304, 353, 446, 555 f., 596, 600, 605, 642, 657, 662 Leihmutterschaft 429, 674, 681 Libido 344, 608 Liebe 72, 74, 160, 183, 223, 375, 384, 422, 439, 618 Lippen 38, 145, 162, 168–171, 608, 628– 630 Lochien s. a. Wochenfluss 106, 203, 205, K. 5.2.1: 209–215, 241, 340, K. 14: 548–557, 624, 675, 681 Lot, Lotung K. 3.3: 116–122, 126 f., 149 f., 154, 158, 194, 198, 201–203, 224 f., 250–252, 280, 489, 551, 553, 562, 567, 621, 624, 676 Lubrikationsmangel K. 16: 586–607 Lust 16, 113 f., 160, 166, 170, 191, 203, 208, 216, K. 5.5: 239–242, 253, 262, 275, 343, 346, 348, 362, 365, 373, 381,

Laktation 17, 105 f., 116, 130, 154, 157,

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Sachregister 383–385, 471, 572, K. 17: 608–635, 661, 664 f. Mädchengynäkologie 311, 313, 639 Masse 117, 144, 149–155, 159, 165, 167, 178, 187, 195 f., 222, 226–231, 236, 480, 483, 524, 532, 544, 549, 552 f. Mattheit 120, 444, 529 Medikalisierung 136, 311, 313, 345, 478, 638–642, 657, 659 Medikamente 135, 197, 301 f., 462, 508, 528 Medikation 328, 335, 341, 343 f., 513, 578, 590, 606 f., 681 Medizin 30, 66, 103, 107, 115, 125, 131, 134 f., 137 f., 237, 282, 313–315, 328 f., 334, 336, 353, 429 f., 441, 452, 467, 513, 543, 639–644, 650, 652 Medizintechnologie 136, 431, 472 Menarche 17, 107, 109, 116, 204 f., 240– 242, 245, 248, 252 f., 255, 262 f., 270, 273, 280, 282 f., K. 8: 284–313, 316 f., 319, 321, 336 f., 339, 345, 347, 359, 361, 365, 380, 384, 424, 586–589, 657, Menopause 76, 204 f., 245, 296, 325, 586–588, 591–594, 596–600, 606 f., 624, 634, 641, 660 Menstruation, Menstruationen 65 f., 130, 190 f., 201 f., 204 f., K. 5.2.1: 209–215, 237, 241, 245, 252, 263, 282, K. 8: 284–313, K. 9: 314–358, 360, 380 f., 402, 422, 424, 442, 448 f., 451–456, 459–464, 471, 483, 499, 549 f., 586 f., 591, 594, 598, 603, 613, 624, 626, 635, 639, 655 f., 660, 672 f., 675, 681 Menstruationsbeschwerden 326, 328–331, 335, 341, 502 Menstruationskalender 331, 340, 587 Menstruationssimulation 108, K. 9.3: 341–346 Menstruationsstörungen 328 f. Menstruationssubstitution K. 9.3: 341– 346 Menstruationszyklen, Menstruationszyklus 76, 116, 154, 160, 188, 205, 237, 240, 242, 280, K. 8: 284–313,

K. 9: 314–358, 454, 460, 591, 594, 597, 681 Milch 105, 158, 160 f., 207, 208, 219, K. 5.2.4: 220–223, 225, K. 5.3.5: 230– 233, K. 5.4.3: 237–239, 280, K. 15: 558–585, 613, 635, 675 Milcheinschuss 230, 237, 238, 559, 562 f., 584 Milcheintritt 205, 208, 221 f., 238, 559 f., 562 f. Milieu, vaginales 162, 164 f., 178, 181 f., 213, 229, 341, 442 Mittelschmerz 334 Monatsblutung s. a. Menstruation 109, 247, 262, 287, 302, 310, 655, 668 Monatshygiene 315, 317, 323, 325, 550 Müdigkeit 39, 69, 111–113, 336, 453 f., 464, 522, 529, 539, 565, 649, 663 Muskel, Muskeln 117, 151, 171 f., 177, 180 f., 185, 274, 373, 387 f., 484, 486, 502, 504, 507, 520–523, 540, 552 Muskelaktivität 186, 200, 238, 388 Mutterfreuden 242 Mutterkuchen s. a. Plazenta 187, 229, K. 13.8: 531–536 Mutterleib 19, 21, 93, 115, 222, 446, 483 Muttermilch 106, 214, 574, 575 f., 580 Muttermund 185, 193, 499, 608, 629 f. Nabel 194, 447, 458, 489, 530 f., 542 Nabelschnur 186, 205, 472 f., 487, 497, 523, 529–531, 534–536, 539, 544 Nachtragsangst 392, 417, 421 Nährung 282, 568 f. Nässe 164 f., 173, 177, 179, 181, 191, 201, K. 5.2: 207–224, 231, 285, 287 f., 338, 340, 364, 517, 587, 597, 616 Narbe 513, 551, 573 Narzissmus 65, 269, 466, 468, 552, 604 f. Nervosität 564, 615 Neugeborenes 93, 115, 531, 535, 538, 546, 556, 559, 561, 583, 645, 658 Normalisierung 276, 413, 422, 637 Nullpunkt 29, 34, 39 f., 116, 156, 252 Öffnung, Öffnungen 81, 105, 161 f., 168, 176–178, 217, 222, 225, 285, 359, 387 f., 499, 518, 526

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Sachregister Ohnmacht 201, 268, 293, 374, 394, 404, 406, 409, 490, 541 Operation 252, 276–281, 376, 379, 384, 443, 462, 513, 603, 640, 653, 665, 682 f. Opfer 272, 330, 356, 391, 393, 400, 402– 404, 409, 412, 414–416, 418 f., 421, 642, 650, 662 Organempfindung 30, 37, 69, 144, 189, 441 Orgasmus 160 f., 175 f., 192 f., 200, 216– 219, 368, 376 f., 476, 510, 609, 625, 627, 630–635, 662 Orientierung 29, 34, 39 f., 69, 78, 89, 107, 116 f., 119, 143, 156, 194, 249, 252, 397, 470, 538 Ovar 135 Ovarien s. a. Eierstöcke 64, 135, 145, 188 f., 334, 459, 605 Panik 109, 202, 401, 407, 411, 460, 490, 654 Passivität 168, 226, 376, 388, 400, 628, 634 pathisch 31, 61, 76, 99, 123, 152, 153, 171, 189, 241, 254, 293, 337, 503, 514 Pathologisierung 136 f., 246, 456, 462, 575 f., 598, 635, 638 f., 641, 681 Patientin 132, 136, 278, 330, 434, 461 f., 468, 475, 574, 639- 644, 652 f. PDA s. a. Periduralanästhesie 506, 513, 528 Penetration, Penetrationen 177, 182–184, 192 f., 201, 216, 225–230, 233–235, 350, 361 f., 367–371, 375 f., 380–384, 387–389, 409, 464, 573, 598, 620 f., 625–627, 631, 633 f., 656, 662 Penis 105, 184, 216, 227, 233–235, 281, 379, 432, 620 Periduralanästhesie s. a. PDA 508 Pessar 334, 463 Phantomgliederschmerz 60, 138 Physiologie 23 f., 47, 59, 162, 200, 206, 217, 433 Pille 326, 335, 339, 341–345, 357, 426 f., 463 f., 627, 640, 656, 659 f. Plazenta s. a. Mutterkuchen 105, 177 f.,

185–187, 198, 225, 229, 472, K. 13.8: 531–536, 537, 549, 635, 675 PMS s. a. Syndrom, prämenstruelles 316, 326–329, 337, 339, 344, 354, 356 f., 449 f., 454 Postgender 667, 669, 671, 674, 678, 685 Praxis, sexuelle K. 9.4: 346–352, 361 f., 367, 370, 464, 588, 598, K. 17: 608– 635 Pressen 388, K. 13.6: 518–530, 531 Pressdrang 198 Presswehen 198, 511, 514, K. 13.6: 518– 530, 532 Prostitution 350, 390, 628, 661, 670 protopathisch 70, 113, 145, 191, 193, 228, 372, 458, 623 Psychoanalyse 57, 82, 101, 126, 136 f., 345, 432, 581, 608, 610, 626 Psychologie 37, 47, 50, 131, 136–138, 315, 328 f., 644 Psychopharmaka 339, 357, 557, 660, 681 Psychose 390, 393, 557 Pubertät 65, 76, 109, 244, 247 f., 268, 287, 311–313, 345, 601–603, 613, 615, 624, 639, 645 Puerperium s. a. Wochenbett 245, K. 14: 548–557, 558, 681 Rausch 368, 512, 543, 627, 632 f. Regulierung 146, 639, 641, 681 Reibung 179, 226, 250, 608, 612 Reproduktionsmedizin 425, 431, 435, 674 Reproduktionstechnologien 94, 670, 680 f. Responsivität 119, 192, 199, 203, 222 f., 233, 610, 613, 617, 658 Responsorium 78, 122, 195, 634 Retraumatisierung 412 Rhythmik 157, 203, 314, 328, 331 f., 339 f., 345, 471, 502, 565, 570, 587, 597 Rhythmus 112, 186, 302, 330, 356, 406, 476, 505 f., 523, 565, 587, 589, 616 Richtung, Richtungen (leibliche) 70, 112, 116, 181, 458 f., 512, 524, 568 Rite de Passage 288, 359, 383, 490, 587, 594 Rücken 197, 200–201, 507

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Sachregister Rückenschmerzen 154, 240, 337, 461, 502, 637 Säugling 93, 104, 115, 117, 126, 157 f., 161, 177, 208, 222 f., 229, 231, 238 f., 244, 259, 282, 290, 475, 548, 556 f., K. 15: 558–585, 610, 658 f. Samenzelle 218, 425, 442 f., 446, 474, 626 Saugeffekt 231 Saugen 157 f., 161, 222 f., 563, 566, 585, 619 Scham 38, 59–61, 108 f., 151, K. 5.5: 239–242, 251, 256 f., 262, 266 f., 272, 287 f., 291, 297, 308, 310, 316, 361, 401 f., 404, 407, 410, 414, 421 f., 476, 516, 518, 594 f., 614 Schamlippen 145, 161–163, K. 4.3.2.1: 168–171, 214, 525, 527, 537 Scheide 105, 181, 297, 319, 322, 350, 359, 367, 376, 520, 527 f., 592, 596– 598, 625 Scheidenöffnung 162, 168, K. 4.3.2.4: 176–179, 180 f., 183 f., 186 f., 211 f., 214, 230, 284, 387, 531 Scheinschwangerschaft 448, 452 Schlaf 36, 114, 214, 292, 403, 411, 419, 501, 541, 617, 624, 659 Schlafen 36, 71, 111–113, 122, 214, 250, 269, 297, 401, 413, 456, 464, 485 f., 500–501, 503, 541, 565 Schlafstörungen 402 f., 411, 418, 565, 592, 654 Schmerz, Schmerzen 16, 33, 36–38, 40, 59–61, 69–71, 106 f., 111–114, 185, 188, 190 f., 194, 197, 201, 203, 208 f., 212, K. 5.5: 239–242, 249, 253, 256, K. 8: 284–313, K. 9: 314–358, K. 10: 359–385, K. 11: 386–423, 458 f., 492, 494, K. 13: 496–547, 550, 560, 571– 573, 577 f., 593, 596, 598, 613, 637 f., 655, 665 Schmerzgeschichte 187, 532, 538, 540, 542, 544, 549 Schmerzlosigkeit 512, 540 Schmerzmedikation 508, 510 Schmerzmittel 338, 541 Schock 362, 364, 404, 422, 445, 515 Schönheit 51, 602–605, 652 f.

Schönheitschirurgie 73, 278, 604, 606 Schönheitsindustrie 652 Schönheitsmythos 655 Schreck 37, 132, 219, 266, 361, 364, 404 f., 414, 416 f., 421 f., 516 Schrecken 107, 286, 291, 316, 405, 409, 420, 445, 589, 603 Schreckhaftigkeit 392, 403, 654 Schrei 383, 404, 419, 526 Schreien 401, 405 f., 409, 417, 419–421, 515, 526, 610 Schüttelfrost 113, 541 Schwangerschaft s. a. Gravidität 17, 126, 187, 194, 199, 205, 220 f., 226, 235– 237, 240, 245, 259, 276, 313, 335–337, 402, K. 12: 424–495, 496–499, 521, 531, 542 f., 545, 549, 552 f., 555 f., 569, 579, 583, 588, 634, 639 f., 646, 656 f., 672 f., 681 Schwangerschaftswunsch K. 12.1: 424– 441 Schweiß 507, 595 Schwellung 70, 112 f., 120, 144–146, 148, 160 f., 167, 175–180, 182–186, 188, 191, 197, 215, 224, 229–231, 233 f., 518 f., 529, 553 Schwere 152, 161, 170–173, 176, 178 f., 186, 191 f., 195, 214, 226, 232, 481 f., 491, 496, 501, 568 Schwerkraft 117 f., 154, 168, 173, 194, 208, 220, 224, 274, 281, 285, 473, 514 Schwitzen 111, 113, 164, 207, 285, 450, 464 f., 622 Selbstverteidigung 387 f., 393 f., 396, 408, 415 Sekret, Sekrete 165, 177, 178 f., 207, 215– 218, 285, 289, 372, 597, 675 Sekretion 105, 596 Sex 266, 316, 328, 348, 351, 627, 633 Sex (engl.) 16, 27, 44, 46, 55 f., 87, 91, K. 2: 93–110, 669, 673, 675, 677 Sexualität 17, 54, 74, 130, 136, 141, 155, 160, 162, 171, 176, 180, 192, 201 f., 205, 218, 241 f., 245, 247, 270, 275, 282, 308, 313, 335 f., 339, 344, K. 9.4: 346–352, K. 10: 359–385, 390, 432 f., 436, 438, 464, 573, 583, 594, 598, 605,

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Sachregister K. 17: 608–635, 643, 656, 661 f., 664– 666, 668, 677 Sexualsekrete 182, 207 f., 215, 225 Silikon 275, 277, 278, 280 Social freezing 681 Solarplexus 258 Solidität 159, 178, 195, 221, 224, 229 f., 232, 469 Sonogramm 475, 477 Sorge, Sorgen 288, 293, 335, 370, 458, 460, 465, 468, 477, 490, 493 f., 498 f., 553, 555, 589, 638, 646, K. 18.2: 652– 661 Soziologie 98 f., 137 f., 644 Spannung 70, 112 f., 120, 144–146, 148, 160 f., 167, 175–180, 182–186, 188, 190 f., 196 f., 215, 224, 229 f., 232–234, 236, 266, 504, 518 f., 529, 538, 553 Sperma 181, 439, 622 f., 626 Spermien 429, 442 Sterben 71, 254 f., 289, 304, 405, 408, 419, 494, 497, 509, 514, 547, 589, 603, 621, 637, 645 Stigma 345, 374, 409, 421, 471, 604, 606 Stigmatisierung 75, 313, 336, 414, 432, 640 Stillbeziehung 222, 238, K. 15.3: 554– 573, 576 f., 579–585 Stillen s. a. Laktation 126, 157 f., 160 f., 203, 208, 213, 219, K. 5.2.4: 220–223, K. 5.3.5: 230–232, K. 5.4.3: 237–239, 240 f., 253, 280, 433, 549, K. 15: 558– 585, 610, 634, 658 Stillende 129, 160, 223, 231, 239, 279, 543, 556, K. 15: 558–585, 658 Stimme 382, 394, 405–407, 417, 419 f., 522, 604, 617 Stimmung, Stimmungen 29, 36 f., 106, 113, 201, 286, 336 f., 341, 344, 356 f., 442, 444, 448, 459, 464, 468 f., 484, 490, 538, 554, 618, 646 Stoff 206, 214, 250, 449, 536, 543, 634 Stofflichkeit 206 Stolz 148, 151, 241 f., 269, 282, 293, 324 f., 331, 361, 370, 373 f., 379, 457, 468 f., 485, 490, 534, 555, 581 Stress 449, 555, 564, 576 Stuhldrang 111 f., 115, 286, 337

Stuhlgang 111, 146, 206, 287, 388, 527 Syndrom, prämenstruelles s. a. PMS 201, 326, 329, 337 f., 454, 596 Tabu, Tabus 108, 128–130, 163, 270, 281, 292, 329 f., 336, 346–350, 352, 366, 471, 489, 576, 607, 609, 611 Täter 391, 399, 401–403, 405, 408 f., 412–414, 416, 419 Tampon, Tampons 182 f., 211, 214, K. 8: 284–313, K. 9: 314–358, 550 Thelarche s. a. Brustwachstum 17, 109, 116, 141, 150, 154, 194, 203–205, 241, 242, 244 f., K. 7: 247–283, 284, 287, 365, 612, 654 f., 672, 681 Therapie 138, 328, 354, 404, 557, 626, 640 Todesangst 402, 409 Topographie 15 f., 24, 68, 70, 80, 128, K. 4, K. 5: 143–242, 243 Transsexualität 669, 671 ff., 686 Transvestit 76, 672, 677 Traum, Träume 65, 331, 355, 401 f., 408, 411–413, 441 f., 447, 614 f. Trauma 310, 371, 396, 402, 409, 411, 419, 421, 506, 581,607 Traumatisierung 382, 398, 403, 413, 539 Trieb 24, 43, 133, 331 f., 439, 608, 618 Übelkeit 338, 343, 437, 444, 448, 455 f., 464, 466, 468 Ultraschall 475–480 Umbruchphasen 244, 246, 638–642 Unfruchtbarkeit 335, 344, 427, 587, 660, 681 Unterdrückung 64 f., 67, 81, 102, 344, 354, 356, 415, 435, 532, 634, 662, 664 Unterleib 16, 19, 69, 145, 147 f., 162, 172, 176 f., 180, 184–186, K. 4.4: 187– 199, K. 4.5: 199–203, 210–213, 219 f., 225, 236, 240, 259, K. 8: 284–313, K. 9: 314–358, 360, 376, 379, 422, K. 12: 424–495, K. 13: 496–547, 549 f., 552, 559–562, 570, 572, 590, 595, 609, 613, 620, 622 f., 675 f. Urin 171–173, 211, 217 f., 284 f., 287, 290, 337, 501, 503

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Sachregister Urinieren 111, 167, 171–174, 177, 180 f., 206 f., 518, 551 Uterus s. a. Gebärmutter 64, 135, 186, K. 4.4: 187–198, 199, 202, 205, 212 f., 215, 499, 514, 560 f., 605 Vagina 162, 168, 175, K. 4.3.2.5: 179– 187, 192 f., 210, 212, 214, 216 f., 225 f., 228, 230, 233–235, 321, 360 f., 379, 383, 387 f., 389, 402, 422, 522, 531 f., 537, 549, 553, 573, 608 f., 611, 675, 682 Vaginalsekret 188, K. 5.2.2: 215–219, 464 Vergewaltigung 107, 109, 201 f., 226, 241, 245, 330, 363, 372, K. 11: 386–423, 428, 497, 527, 664 Vergewaltigungsangst 109, 245, 389, 397 Verwundung 129, 211, 361, 409 Verhütung 313, 342 f., 344, 346 f., 427, 431, 437, 446, 455, 464, 588, 591, 598, 656, 660 Verhütungsmittel 335, 339, 370, 375, 428, 436, 652 Verlangen 126, 183 f., 221 f., 225, 231, 237, 331–333, 335, 344, 437, 608, 612, 618, 620, 622, 635 Verletzung, Verletzungen 113, 210 f., 286, 361, 363 f., 372 f., 378, 388, 402, 409, 514 Verlieben 436, K. 17.3: 615–618 Verliebte 117, 362, 469, 618 f., 622, 624, 632 Verspannung 119, 338, 567, 654 Wachstum 104, 112, 115 f., 194, 244, K. 7: 247–283, 293, 482, 580 Wachstumsschmerzen 194, 249 f. Waffen 393, 396, 400 Wallung, Wallungen 335, 559, 594 f., 601, 616 f., 620, 623 Wasser 118, 159, 164 f., 169 f., 206, 208, 216, 285, 288, 342, 350 f., 466, 477, 498, 502, 612 Wechseljahre 313, 551, K. 16: 586–607, 640, 660, 681 Wehen 140, 185–187, 196–198, 202 f., 213, 219, 228 f., 236, 240, 493, K. 13: 496–547, 549 f., 552, 556, 560 f., 594

Weiblichkeit 27, 65, 79 f., 96 f., 130, 136, 215, 243, 252, 261, 268–271, 279, 312, 324, 329, 345, 356, 592 f., 601–603, 638, 642, 662, 665 Weiblichkeitsindustrie 663 f. Weinen 215, 343, 355, 401, 409, 417, 421, 466–468, 542 f., 610 Weite 69 f., 112, 119, 144, 155, 172, 175– 177, 182–184, 191, 334, 373, 392, 417– 421, 490, 507, 542, 553, 623 Weitung 112 f., 145 f., 148, 155, 160 f., 167, 169, 172, 178 f., 183–186, 201, 203, 215, 229 f., 233 f., 360 f., 372, 387, 502, 552, 562, 569, 571 Widerstand 117–119, 172, 178, 181, 184–187 192, 224–231, 360, 367, 379, 383, 387, 522, 524, 528 f., 531 f., 534, 544, 549, 552, 621 Wille, Willen 24–26, 30, 39, 121, 150 f., 156, 172, 177, 187, 196, 200, 284, 286, 386 f., 424, 428, 461, 522, 569, 577, 584, 665 Wochenbett s. a. Puerperium 130, 134, 240, K. 14: 548–557, 562 f. Wochenbettdepression 556 Wochenbettpsychose 557 Wochenfluss s. a. Lochien 190, 202, K. 14: 548–557, 558, 658 Wöchnerin 212, 221 f., 526, 535 f., K. 14: 548–557, 564 Wohlbefinden 455, 584, 592, 643, 648, 659–661, 663, 664–666, 685 Wollust 69, 106, 113, 145, 160, 562, 569– 573, 584 Wonne 242, 377, 562, 569, 571–574 Wunde, Wunden 182, 209 f., 214 f., 232, 279, 361, 372, 378, 402, 406, 409, 531, 534, 548 f., 551 Wut 354–356, 373 f., 413, 492 Zeitrhythmik 660, 345 Zellempfindung 189, 441 Zittern 253, 370, 392, 409, 416, 420, 507, 517 617 Zone, anale 144–146, 167, 180 f., 186, 199, 611, 676 Zone, genitale 16, 147, K. 4.3: 161–187, 199–202, 209, 211, 215–217, 219, 225,

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Sachregister 241, 282, 284 f., 360 f., 367, 387 f., 422, 525, 597 f., 611–613, 620–622, 626, 628, 634 Zone, orale 146, 203 Zorn 38, 356

Zwangsheterosexualität 76, 95, 663 Zweigeschlechtlichkeit 76, 94 f., 103 f., 131, 650 Zwischenleiblichkeit 78, 204

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