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German Pages 247 [248] Year 1966
E RFAHRUNG UND D ENKEN S c h r i f t e n z u r Fö rd e r u n g d e r B e z i e h u n g e n z w i s c h e n Ph i l o s o p h i e u n d Ei n ze l w i s s e n s c h a f t e n
Band 17
Philosophische Begründungen der Pädagogik Die Frage nach Ursprung und Maß der Bildung
Von
Theodor Ballauff
Duncker & Humblot · Berlin
ERFAHRUNG UND DENKEN 'iduiften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzel wissenseitaften
Hera,JSgeber Paul Bernays (Zürich), Wilhelm Britzelmayr (Müncl1en), Alwin Diemer (Düsseldorf), Kar! Dürr (Zürich), Helmar Frank (Berlin), Viktor Kraft (Wien), Heinrich Lange (Köln), Andre Mercier (Bern), Karl Popper (London), Kurt Schelldorfer (Bern), Aloys .Wenzl (München), Leo;:-o~d v. Wiese (Köln). Beirat Th. Ballauff (Mainz), H. Coing (Frankfurt), H. v. Einem (Bonn), C. A. Emge (Mainz), C. ]. Friedrich (Heidelberg), G. Heberer (Göttingen), H. Hediger (Zürich), R. Hegglin (Zürich), H. Heimann (Bern), A. Kohlschütter (Bonn), H. Kühn (Mainz), J. Lohmann (Freiburg), R. Meili (Bern), G. Pilleri (Bern), B. Rensch (Münster), H. Schack (Berlin), F. Wagner (Marburg/L.), M. Waldmeier (Zürich), R. Wellek (New Haven, Conn./USA). Schriftleitung Kurt Schelldorfer Hinweise 1. Der Zwe& der Schriften "Erfahrung und Denken" l:.esuht in der Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissensd1aften unter besonderer Berü&sichtigung der "Philosophie der Wissenschaften".
2. Unter "Philo~ophie der Wissenschaften" wird hier die kritische UntersudJung der Einzelwissenschaften unter dem Gesichtspunkt der Logik, Erkenntnistheorie, Metaphysik (Ontologie, Kosmologie, Anthropologie, Theologie) und Axiologie verstanden. 3. Es gehört zur Hauptaufgabe der Philosophie der Gegenwart, die formalen und materialen ßezieh11ngen zwismen Philosophie und Einzelwissenschaften 1u klären. Daraus soll sim einerseits das Verhältnis der Philosophie zu den Eimelwissensmaften und andererseits die Grundlage zu einer umf:t~~enden, wissenschaftlich fundierten und philosophisch begründeten Weltanschauun~ ergeben Eine solche ist weder aus einzelwissenschaftlicher Erkenntnis allein noch ohne diese möglich.
T H E O D O R BALLAUFF
Philosophische Begründungen der Pädagogik
E R F A H R U N G
U N D
D E N K E N
Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
B a n d 17
Philosophische Begründungen der Pädagogik D i e Frage nach Ursprung und M a ß der Bildung
Von
Prof. D r . T h e o d o r
D U N C K E R
&
Ballauff
H U M B L O T
/
B E R L I N
Alle Rechte vorbehalten © 1966 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1966 bei Alb. Sayffaerth, Berlin 61 Printed in Germany
Vorwort Das folgende Werk ist aus Untersuchungen hervorgegangen, die zum Teil bereits früher veröffentlicht wurden. Es stellt den Versuch dar, diese Gedankengänge zusammenzuführen und zu ergänzen. A u f diese Weise gelangt es zu neuen Ergebnissen, die jene früheren Ansätze und Studien überholen, ohne sie außer Kraft zu setzen. M i r geht es darum, die prinzipiellen Begründungen der Pädagogik aufzuzeigen. Das Buch bedeutet zugleich eine geschichtliche Herleitung meiner an anderer Stelle vorgelegten „Systematischen Pädagogik". Daß die vorliegenden Erörterungen in der Reihe „Erfahrung und Denken" erscheinen, hat seinen Grund nicht nur in dem freundlichen Entgegenkommen der Herausgeber und des Verlages, denen ich an dieser Stelle sehr dafür danke, sondern auch in dem Grundgedanken, daß w i r erst im Bedenken der Erziehung erfahren, was sie ist und heute sein kann. Damit sind w i r an die Geschichte der Pädagogik verwiesen, welche die Erfahrung der Erziehung im Licht ihres Gedankens darstellt. Z u danken habe ich der Mitarbeit und K r i t i k meiner Assistenten Dr. Hubert Hettwer und D r . Gert Plamböck, ferner den Herren D r . Hermann J. Meyer und D r . Paul Röhrig, die sich vor allem der Korrekturen annahmen. Wieviel ich im übrigen den Forschungen anderer verdanke, geht aus dem Text hervor. Mainz, im Februar 1966 Theodor Ballauff
Inhalt Einleitung
9
I. Erziehung als Hinführung zur Wahrheit
14
1. Die Logoszugehörigkeit des Menschen bei Heraklit
14
2. Das Denken des Seins bei Parmenides
27
3. Das Ermessenlernen bei Protagoras
45
4. Der Weg zum Wissen bei Piaton a) Das Höhlengleichnis b) Die Deutung des „Höhlengleichnisses"
54 57 63
II. Erziehung als Überwindung
der Verkehrung
der Menschlichkeit
1. Die Verkehrung der Menschlichkeit und ihre Überwindung nach der Lehre der Stoa 2. Erziehung zur Natürlichkeit bei Rousseau 3. Die Wahrung der Menschlichkeit bei Pestalozzi
....
85
85 97 121
I I I . Die Notwendigkeit der Erziehung infolge der menschlichen Unvollkommenheit 131 1. Der Mensch als Wesen der Bildung bei Herder
131
2. Der Mensch als das sich in Liebe und Glauben geschenkte Wesen bei Pestalozzi 141 IV. Die Begründung von Erziehung und Bildung im Grundverhältnis von Mensch und Welt
153
1. Die Grundlegung der modernen Bildungslehre durch Leibniz . . . . 153 2. Die Begründung der Persönlichkeitsbildung bei Kant
165
3. Die Grundstruktur der Bildung bei Wilhelm von Humboldt . . . . 185 4. Die Grundstruktur der Bildung bei Schleiermacher
197
V. Philosophische Konsequenzen für einen neuen Ansatz der Pädagogik 205 1. Die Wendung der pädagogischen Fragestellung durch die Philosophie Martin Heideggers 206 2. Die resultierenden Grundgedanken einer neuen Pädagogik
233
Einleitung
M i t Pädagogik haben w i r es nur dann zu tun, wenn eine A n t w o r t auf die Frage nach Sinn und Maß der Bildung gegeben wird. Pädagogik hat es zunächst nicht mit der sog. Erziehungswirklichkeit zu tun. Ob und wann w i r die „Wirklichkeit" der Erziehung vor uns haben, das kann ja nur von der Pädagogik her ausgemacht werden. .Pädagogik hat auch zunächst nicht Unterricht und Schule zum zentralen Thema. Noch weniger w i r d sie ihre Aufgabe darin sehen, psychologische und soziologische, ja biologische Voraussetzungen zusammenzustellen, die für Erziehung und Unterricht bestimmend sein könnten. Auch aus einer sog. philosophischen Anthropologie w i r d sie sich nicht als Konsequenz herleiten, so sehr auch vom Menschen innerhalb der Pädagogik die Rede sein muß. W o h l aber kann sie die Philosophie auf keine Weise entbehren. Das aber besagt etwas anderes, als sich ins Gefolge einer „Anthropologie" zu begeben. Sich einer solchen gängigen Aufteilung der Philosophie in „Disziplinen" und „Sektionen" anzuschließen, — damit muß man sehr vorsichtig sein. Nein, Pädagogik fragt, was das ist, die sog. Bildung, und damit, was sie gewesen und woran es mit ihr heute ist. Bei der Erörterung dieser Problematik stößt sie dann allerdings auf Erziehung und Unterricht und auf manches andere, was des Bedenkens wert ist. Aber nur dort ist in strengem Sinne von Pädagogik die Rede, wo das Thema der Bildung erörtert wird. I n Pädagogik beschäftigen w i r uns also nicht mit einer Technik, einer Anleitung zur Kunstfertigkeit und Ausübung der Erziehung. Auch nicht mit Erläuterungen, Bemerkungen und Handreichungen zu einer sog. erzieherischen und unterrichtlichen Praxis. Sie ist auch nicht Wissenschaft in dem Sinne, daß es ihr allein auf die Feststellung und Überprüfung von Tatsachen und auf die Erforschung ihrer Gesetze ankäme. Streckenweise w i r d sie die Gestalt einer „Erziehungswissenschaft" annehmen müssen, aber mit einer solchen Forschung hat es für sie noch nicht sein Bewenden. Pädagogik kann nicht bei der Feststellung dessen stehenbleiben, was erscheint und sich der „exakten Forschung" zu erkennen gibt. Beim Grundproblem der Pädagogik reicht zur Lösung Wissenschaft nicht aus,
to
Einleitung
denn hier muß eine A n t w o r t auf die Frage nach dem Maß der Bildung gefunden werden. Das heißt nun wiederum nicht, die Pädagogik sei Normwissenschaft, sofern sie auszumachen habe, wie erzogen werden soll. Von einem „Sollen" ist zunächst nicht die Rede, sondern von dem, was Bildung ist. Darin liegt ihr Maß beschlossen. Das w i r d man kaum ausfindig machen, wenn man von Mensch zu Mensch, von V o l k zu V o l k eilt und festzustellen sucht, was sie als Bildung ansehen. Woher nehmen w i r das Recht, einen Angehörigen der Gattung „ H o m o " als Menschen, und zwar in maßgeblichem Sinn, anzusetzen? Die biologische Zugehörigkeit besagt hier gar nichts. Die Pädagogik macht daher erst „Erziehungswissenschaft" möglich. Sie gibt allererst an, was Bildung und Erziehung ist, somit ihre Dimension, ihre Grenzen, ihre Grundlage. Sie gibt den Horizont voraus, in dem allein mit Fug und Sinn nach Bildung und Erziehung gefragt werden kann. Pädagogik muß daher zuerst und zuletzt als ein Gedankengang vor sich gehen. Insofern mag man sie philosophisch nennen, weil sie sich allein dem Denken unterstellt. Dies bleibt aber weder der W i l l k ü r noch dem Einfall überlassen, sondern ist an sich selbst gebunden, und d. h. an seine Geschichte. Denken und Geschichte gehören unaufhebbar zueinander. N u r dort w i r d gedacht, wo man den geschichtlichen Ausmaßen des Denkens nachkommt, mit anderen Worten: wo man die Gedanken der Denker mitdenkt und so vielleicht eines Tages mit neuer Einsicht bedacht wird. Die geschichtlich maßgeblichen und richtungweisenden Denker hat die Menschheit meist sehr schnell erkannt und, wenn auch oft widerstrebend, anerkannt. Weshalb, läßt sich sehr einfach sagen: weil jene in der Lage waren, alle anderen in das, was hier als Denken bezeichnet wird, zu geleiten. Die Mitmenschen bemerkten sehr bald, daß in Parmenides und Heraklit, Piaton und Aristoteles, Nicolaus Cusanus und Leibniz, Comenius und Rousseau das genannte Denken sich vollzog, ebenso in Sophokles und Euripides, in den Dichtern der Zeiten. A n diese Denker haben w i r uns auch in der Pädagogik zu halten. Den großen Gedankengang von Parmenides bis auf unsere Tage müssen w i r verfolgen, wenn w i r in Sinn und Maß der Bildung hineinfinden möchten. Daher haben w i r gerade nicht jeden, der über Bildung spricht, zu Wort kommen zu lassen, sondern jene Höhepunkte aufzusuchen, die sich als solche durch die Schwierigkeit des Gedankengangs und den Reichtum an Folgerungen ausweisen. Innerhalb der Pädagogik w i r d man eine begründete Auswahl treffen und damit eine klare Linie verfolgen können.
Einleitung
Man muß es sich wohl sagen lassen, daß Schwierigkeit ein Kriterium des Denkens ist. Das, was hier als Denken bezeichnet wird, ist nicht ohne weiteres jedermann zugänglich. Denn „jedermann" denkt nicht, sondern „stellt vor". Er bewegt sich weniger in einem Gedankenkreis als in einem Vorstellungskreis. Daher sind w i r dankbar, wenn uns gedankliche Einsicht in Gestalt von Bildern vermittelt wird, sei es in Gestalt von Leitbildern oder Weltbildern, sei es in Gestalt von Berufsbildern oder Menschenbildern. Darin stecken zwar die Gedanken, aber solche Bilder machen es uns nicht mehr zur Auflage, über sie nachzudenken. So werden w i r in Pädagogik nicht eine Galerie solcher „Bilder" zu durchwandern haben, sondern in einen Gedankengang uns hineinfinden müssen, den nicht w i r aufzubringen haben und beliebig variieren können, sondern dem w i r uns zu fügen haben. Dann stellt sich allerdings immer wieder heraus, daß die erwähnte Schwierigkeit des Denkens gerade in seiner Einfachheit und Ursprünglichkeit liegt. Zunächst und zumeist aber haben w i r uns alle in einen Vorstellungskreis eingewöhnt, in dem w i r uns mühelos bewegen. Dieser Kreis ist in seiner Herkunft und seinem Aufbau oft sehr komplex und überladen, aber seine Gewöhnlichkeit täuscht uns seine Verständlichkeit vor. Der Redner, der mit diesen Vorstellungen geschickt zu operieren weiß, findet unseren Beifall. Denn letztlich finden w i r uns selbst in diesem Vorstellungskreis bestätigt. Denken ist deshalb so schwierig, weil es diesem gewöhnlichen Vorstellungskreis entzieht, zugleich ihn aber auf seine gedankliche Herkunft destruiert. Von Möglichkeit und Wirklichkeit, von Anlagen und Kräften, von Dingen und Geschehnissen usw. zu sprechen, zu berichten, zu erzählen, das nehmen w i r einem Redner nicht übel. Aber auf Sinn und gedanklichen Ursprung von Möglichkeit und Wirklichkeit, von Potenz und Substanz, von einzelnem und allgemeinem zurückzugehen, das macht uns Kopfzerbrechen, erscheint uns schwierig und abwegig. Die notwendig werdende Sprache entspricht nicht mehr der zwar metaphysisch überlasteten, aber uns gewohnten und gilt daher als unverständlich. V o n diesem Vorurteil müssen wir, ist es einmal durchschaut, uns frei zu machen suchen. Wenn w i r im folgenden Piatons oder Pestalozzis, Parmenides' oder Humboldts Gedanken mitdenken, dann müssen wir immer der Beschränkung unseres Themas eingedenk sein. W i r haben uns um die Einsicht in das Maß der jeweils umschriebenen Bildung und ihren Sinnhorizont zu bemühen; also jenen Umkreis gilt es zu durchmessen, in welchem Bildung jeweils herleitbar und verständlich w i r d ; nicht aber haben w i r Maßnah-
Einleitung
men und Einrichtungen der Bildung, der Erziehung und des Unterrichts zu erörtern und zu begründen. Eine Pädagogik in engerem und strengem Sinn kann nicht über alles dies historisch und systematisch Auskunft geben. I n vierfacher Weise hat man Maß und Ursprung der Bildung und damit der zu ihr hinführenden Erziehung aufzuweisen versucht. 1. Die Zugehörigkeit des Menschen zur Wahrheit macht Erziehung als Hinführung zu dieser notwendig. 2. Die Verkehrung der Menschlichkeit, die sich immer schon im menschlichen Leben eingestellt hat, ruft Erziehung als die Überwindung jener Verkehrung hervor. 3. Die menschliche Unvollkommenheit und „Unnatürlichkeit" machen Erziehung notwendig und finden in der Bildung ihre positive Wendung. 4. Die Grundstruktur des menschlichen In-der-Welt-Seins umschließt Bildung und Erziehung als konstitutive Momente. Diese Herleitungen und Begründungen sind jeweils „philosophisch" vor sich gegangen, also in einer Radikalität und Totalität, die die unbedenkliche Übernahme von Prämissen oder Konsequenzen aus irgendwelchen Lehren oder Wissenschaften unmöglich machten. W i r können daher auch nicht sagen, daß w i r es in den folgenden Gedankengängen mit ausgewählten Kapiteln aus der „Anthropologie" zu tun hätten. Denn dann erscheint nicht nur diese „Anthropologie" wie eine bekannte, schon vorauszusetzende Wissenschaft, sondern ihre Umschreibung selbst müßte schon ein ganzes Wissenschaftsgefüge als bekannt und definiert ansetzen, in dem sie ihren eigenen Platz findet. Es ist im übrigen noch sehr die Frage, ob man den Menschen überhaupt angemessen durch eine „Anthropologie" erkennen kann. Das klingt paradox, ist aber gar nicht so abwegig. Fragen w i r nach der Menschlichkeit und nicht nach dem Menschen als einem Wesen unter anderen Lebewesen, so könnte sich ergeben, daß die Menschlichkeit weit über Inhalt und Gegenstandsbereich einer i,Anthropologie" als umgrenzter Wissenschaft unter anderen Wissenschaften hinausweist. Ja, sollte nicht die Frage nach der Menschlichkeit den Rahmen einer Wissenschaft, genannt Anthropologie, sprengen und daher immer wieder „Philosophie" hervorrufen, also jenes radikale und totale Fragen und Antworten, das nicht mehr in den Umkreis einer Wissenschaft oder auch mehrerer zu bannen ist?!
Einleitung
Unsere Frage nach Ursprung und Maß der Bildung und der ihr gemäßen Erziehung findet geschichtlich eine erste Beantwortung in der Antike. Die Logoszugehörigkeit des Menschen macht Erziehung notwendig. Weil Menschlichkeit dadurch gekennzeichnet ist, die Wahrheit erfahren, sagen und vollbringen zu können, der einzelne Mensch aber von Geburt an in der Abkehr von der Wahrheit und in der Befangenheit durch die Mannigfaltigkeit einer anfänglich wahrgenommenen Welt lebt, bedarf es eines Vorgangs und Geschehens, die ihn zu jener Menschlichkeit führen. W i r wenden uns im ersten Kapitel der ersten Prämisse zu, wie sie von Heraklit, Parmenides, Protagoras und Piaton durchdacht wurde. I m zweiten Kapitel verfolgen w i r die zweite Prämisse in ihren Konsequenzen bis in die Neuzeit.
I. Erziehung als Hinführung zur Wahrheit 1. Die Logoszugehörigkeit des Menschen bei Heraklit Der Gedankenkreis der Arete bestimmt im griechischen Altertum den Sinn der Paideia. Arete läßt sich wohl durch folgende Momente erläutern 1 . Zunächst bedeutet sie ein „Adelsprädikat". Sie hebt einen Menschen aus den anderen hervor und zeichnet ihn als Angehörigen einer sozialen Gruppe aus. Sie läßt sich mit Tüchtigkeit in einem weiten Sinne des Wortes umschreiben. Der Tüchtige übertrifft in edlem Wettstreit die anderen. Er weiß sich an die Normen seiner Gruppe gebunden. Er beweist Mannhaftigkeit im Aushalten und Durchhalten von Mühen, Gefahren und Kämpfen,, in der Selbstbewährung und in seiner Beständigkeit. Er weiß aber nicht nur zu kämpfen und zu siegen, sondern auch das rechte Wort am rechten Platz zu sagen. Die Ehre, die er durch die Wertschätzung und Anerkennung der Urteilsfähigen gewinnt, gilt ihm als das Höchste. Zugleich w i r d er Vorbild für die anderen, vor allem die Jüngeren. Wem Arete eigen ist, hat gelernt, das rechte Maß zu halten. Adel ist einem Menschen angeboren. Wie seine Geburt, so steht sein ferneres Leben unter dem Walten der Götter. Sie wahren und offenbaren die kosmische H a r monie. Sie sind die Einsicht besitzenden und schenkenden Mächte. Ein Mensch, der der Arete zugehört, weiß um seine Stellung im Kosmos, nämlich alles geschenkt zu erhalten und es übernehmen zu können. Denn es steht sehr wohl bei ihm, sich abzuwenden und zu verschließen. Die Götter gewährleisten das Rechte und das Recht. Das Walten der Dike erhält die Welt als Kosmos. Das Homerische Ideal der „heroischen Arete" wandelt sich in Sparta zum Hochziel der politischen Arete. Der einzige Maßstab der wahren Tüchtigkeit liegt in ihrem Nutzen für den Staat, für das Vaterland. Die Adelsethik w i r d durch die Polisethik verdrängt. Strengste Zucht bestimmt den einzelnen zu dieser Haltung. Der Gesetzgeber erscheint als der erste 1
Vgl. Werner Jaeger: Paideia. Berlin 1934. Bd. I. S. 23 ff.; ders.: Die Theologie der frühen griechischen Denker. Stuttgart 1953. S. 98 f.
1. Die Logoszugehörigkeit des Menschen bei Heraklit
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Erzieher im Staat. Er hat die Dike walten zu lassen durch Gesetze, die in Maße und Grenzen einweisen. Paideia hält sich demnach überall im Rahmen der Erhaltung von Gesellschaft und Staat. Diesen dient sie. Das w i r d anders, sobald die frühen „Philosophen" an diese Haltung und den Vorrang des Staates Rückfragen stellen, darüber hinaus aber einen neuen Weg weisen und gehen, der andere Ziele eröffnet und ein neues Maß lehrt. M i t Heraklit und Parmenides erreichen w i r den ersten Höhepunkt dieser neuen Wendung. Der „philosophos aner" w i r d Ziel und Maß der neuen Paideia. Heraklit vermag dem Neuen in einem viel tieferen Gedankengang nachzukommen, als es seinen älteren Zeitgenossen möglich war. Mensch ist nur, wer die Wahrheit verkündet. Dazu ist nur der berufen, der dem Logos zugehört. M i t diesem Ausdruck spricht Heraklit ein folgenschweres Wort zum ersten M a l in bis dahin unerhörter Weise aus. Bis auf den heutigen Tag sinnen w i r dem in ihm Gesagten nach. Heraklit weiß sehr wohl um das Unerhörte des Gedankens, den das Wort „Logos" ausspricht. Die Menschen, die vielen, die polloi, erscheinen ihm, dem Logos, gegenüber wie Taube 1 . „Diesen Logos, der doch immer ist, begreifen die Menschen nicht, weder bevor sie davon gehört noch sobald sie davon gehört haben. Denn obgleich alles nach diesem Logos geschieht, machen sie den Eindruck, als ob sie nichts vernommen hätten, sooft sie sich an solchen Worten und Werken versuchen, wie ich sie verkündige, indem ich ein jedes nach seiner Natur zerlege und klarmache, wie es sich damit verhält. Die anderen Menschen aber wissen ebensowenig, was sie im Wachen tun, wie sie sich erinnern, was sie im Schlafe tun." (Frg. 1 ) 8 Der Logos durchwaltet demnach alles, alle Dinge, alle Menschen. Ihn zu vernehmen, um ihn zu wissen, ihm zuzugehören, darauf kommt es an. Ihm gehören schon alle an. Desto erstaunlicher und bedenklicher ist es, 2
Die Fragmente werden zitiert nach Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker. 6. Aufl. 3 Bde. Berlin 1951/52. Bd. I. Vgl. zum Folgenden Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1954. S. 207 ff.; W. Jaeger: Theologie d. frühen griech. Denker. S. 130 f.; Robert Muth: Herakleitos. Forschungsber. Anzeiger f. d. Altertumswiss. 7 (1954), Sp. 65—90. 3
Übersetzung nach Wilhelm Capelle: Die Vorsokratiker. Die Fragmente u. Quellenberichte, übers, u. eingel. Stuttgart 1963. (Kröners Taschenausgabe. Bd. 119), S. 135, Nr. 31.
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I. Erziehung als Hinführung zur Wahrheit
daß die Menschen nicht nur den Logos nicht vernehmen und sich nicht zu ihm halten, sondern auch taub bleiben, wenn zu ihnen vom Logos gesprochen wird, wenn er ihnen zugesprochen wird. „Auch wenn sie es gehört haben, begreifen sie davon nichts, sind wie taub. Das Sprichwort bezeugt es ihnen: obgleich anwesend, sind sie doch abwesend." (Frg. 34) s a Die Menschen versuchen sich zwar an den Worten und Werken dessen, der des Logos inne wurde. Aber vergeblich! Sie wesen zwar immer im Logos, sofern er alles durchwaltet, aber in Wahrheit sind sie abwesend. Sie sind also in strengem Sinn nicht, sondern sie fehlen sich selbst. A n wesend ist in Wahrheit nur der, der um den Logos weiß, d. h. wer in seine Offenbarkeit gelangt ist. M i t anderen Worten, nur der ist, der denkt. Das kann nun an dieser Stelle gar nicht besagen, nur der sei in Wahrheit Mensch, der ein „psychisches Vermögen", genannt Denken, betätige. Denn hier kommt alles auf das Vernehmen an, in welchem ein Mensch sich dem Zuspruch des Logos überläßt. Eher sieht es so aus, als ob die Menschen durch all das, was sie von sich aus veranstalten und zu verstehen meinen, gerade des Wissens um den Logos verlustig gingen und sich um das Vernehmen brächten. Das spricht Heraklit auch deutlich aus, wenn er uns aus der üblichen Vielwisserei, der Polymathie, zurückruft. „Vielwisserei lehrt nicht Verstand haben. Sonst hätte sie's Hesiod gelehrt und Pythagoras, ferner auch Xenophanes und Hekataios." (Frg. 40) Nicht die Dichtung, nicht die Heilsverkündigung, ja auch ein Xenophanes nicht, lehren das, worum es sich hier handelt. Sie lehren nicht den Nous, das eröffnende Verständnis, die vernehmende Einsicht. M a n mag von all jenem noch soviel wissen, besser: kennen; in Wahrheit weiß man noch gar nichts, bleibt noch fernab des Logos. Daher gilt auch Heraklits Kampf den überkommenen Autoritäten der Paideia. Sie alle werden nichtssagend. „Lehrer aber der meisten ist Hesiod. Von ihm sind sie überzeugt, er wisse am meisten, er, der doch Tag und Nacht nicht erkannte." (Frg. 57) „Homer verdient, aus den Preiswettkämpfen herausgeworfen und mit Ruten gestrichen zu werden und ebenso Archilochos." (Frg. 42) 84
Nach Capelle, a. a. O. S. 155, Nr. 118.
1. Die Logoszugehörigkeit des Menschen bei Heraklit
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„Es ist nicht mehr zulässig, sich in Dingen, die man nicht weiß, auf Dichter und Sagenerzähler zu berufen, was doch die Früheren hinsichtlich vieler Dinge getan haben: riefen sie doch, wie Herakleitos sagt, unmaßgebliche Schiedsrichter in streitigen Dingen a n 3 \ " Heraklits K r i t i k macht also weder vor Homer oder Hesiod noch vor Archilochos, dem ältesten lyrischen Dichter der Griechen, halt. Sie alle wußten nicht um jene Sophia, die nun Heraklit zuteil geworden ist. U m das mitzudenken, was Heraklit in ihr vernehmlich machen möchte, bedarf es einiger behutsamer Analysen. Kaum ein zweiter Denker hat die Späteren so angezogen wie Heraklit. Schon die Überlieferung im Altertum ließ das Werk des Philosophen nur in Teilen bekannt werden. Das, was bekannt wurde, zog durch seine Dunkelheit an. Jeder, der die Worte des Denkers las, fühlte sich von ihm zum Nachdenken aufgerufen. Seine Worte machen nachdenklich, der unerschlossene Tiefsinn läßt nicht wieder los. W i r können im folgenden nur versuchen, in einigen Richtungen den überlieferten Aussprüchen Heraklits nachzugehen. Die Auswahl dieser Richtungen bestimmt unser Thema. W i r hüten uns, eine Philosophie der sog. Vorsokratiker darzulegen. Ja, w i r müssen uns wohl auch hüten, jedes Fragment bis ins letzte zu durchdenken. Allzuschnell dürfte uns der aufweisbare Bezug zu dem vorliegenden Spruch verlorengehen. Einiges haben w i r dem bisher Gehörten schon entnehmen können. Richtungen deuten sich schon an. Es ergibt sich eine einfache Gliederung unseres Vorgehens. Zunächst w i r d uns von den Menschen und ihrem primären Verhalten gesprochen. Es w i r d uns ferner die Logoszugehörigkeit in immer wieder anderen Wendungen umrissen. Bei genauerem Studium der Fragmente erkennen wir, daß uns Heraklit keineswegs im unklaren läßt über diese Logoszugehörigkeit und damit über das wahre Wissen, das in ihr aufkommt. W i r können es sogar wagen, Darlegungen zusammenzustellen, die dieses Wissen, diese Einsicht selbst umschreiben, und ihnen diejenigen Aussprüche zur Seite stellen, die das lehren, was zu wissen unerläßlich bleibt. Daß dies nicht irgendeine Wissenschaft ausmachen kann, wurde uns schon gesagt. Soviel steht fest, Heraklit lehrt uns nicht irgendwelche neuen Kenntnisse von diesem oder jenem, sondern möchte uns einem völlig andersgearteten Wissen zuführen. Das hat ja auch die Späteren veranlaßt, ihn als „Philosophen" den „Wissenschaftlern" gegenüberzustellen. Heraklit sah allerdings im Phil6sophos den allein in Wahrheit 8b
Diels 22 A 23 = Capelle, a. a. O. S. 156, Nr. 123.
2 Ballauff
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I. Erziehung als Hinführung zur Wahrheit
Wissenden. — Darin werden ihm übrigens Parmenides, Demokrit, Piaton folgen, um nur einige zu nennen. M i t einem später geläufig werdenden Ausdruck können w i r das, was Heraklit zunächst von den Menschen aussagt, als den Aufenthalt in der Doxa bezeichnen. Dazu bietet das Fragment 28 eine Handhabe: „Glaubliches allein ist, was der Glaubwürdigste erkennt, festhält. Aber freilich, Dike w i r d auch zu fassen wissen der Lügen Schmiede und Zeugen." Hier steht im griechischen Text: Doköonta für „Glaubliches" und Dokimötatos für „Glaubwürdigster". Man könnte wohl audi übertragen: nur Vermeintliches oder Scheinendes ist das, was der scheinbar Wissendste erkennt und als Erkenntnis bewacht. Die Lügenschmiede und -zeugen w i r d Dike, die Göttin der in allem waltenden Gerechtigkeit, zu fassen wissen. Die Menschen haben es in ihrem Erkennen mit Dokeonta zu tun, nicht mit dem, was in Wahrheit ist, was also nicht bloß zu sein scheint und als Seiendes vermeint wird. Die Menschen befinden sich in der Lüge, in der Unwahrheit. Sie aber ist ihr Werk und auf diesem bestehen sie, indem sie es bewachen und dafür eintreten. I n gleiche Richtung weist audi das Fragment 17: „Es verstehen solches viele nicht, so viele auch darauf stoßen, noch erkennen sie es, wenn sie es lernen; aber sie bilden es sich ein." Wiederum steht im Text: dokeousi. Es kommt ihnen so vor, es erweckt ihnen den Anschein, zu erkennen und die Wahrheit zu wissen. Darin w i r d derselbe Gedanke ausgesprochen, den w i r schon in den Fragmenten 1 und 34 hörten. I n Wahrheit gleichen die Menschen Tauben und Unerprobten. Sie bleiben im Unverstand. Das Bestürzende liegt darin, daß die Menschen auf die Wahrheit stoßen und sie auch lernen könnten. Sie schirmen sich aber gegen sie ab durch die Doxa und ihr Pseudos. Sie meinen, immer schon in der Wahrheit zu sein. Dieses Meinen unid dieser Anschein aber beraubt sie dessen, was sie gewonnen zu haben behaupten. Die Insistenz auf die angemaßte Erkenntnis kennzeichnet ihren primären Aufenthalt inmitten des Ganzen. Sie sind gar nicht anwesend, sie sind gar nicht bei dem Anwesenden, sondern abwesend, außerhalb des Anwesens. Das sagt uns auch Fragment 72: „ M i t dem Logos, mit dem sie doch am meisten beständig verkehren, mit dem entzweien sie sich, und die Dinge, auf die sie täglich stoßen, die scheinen ihnen fremd."
1. Die Logoszugehörigkeit des Menschen bei Heraklit
19
Obwohl die Menschen täglich mit dem Logos zusammenkommen, ja zusammen sind und umgehen, halten sie sich doch von ihm getrennt und nehmen das, was ihnen tagaus, tagein begegnet und zustößt, für das Fremde. Es ist also in Wahrheit nicht das Fremde, sondern ihr Eigenstes, nicht etwas anderes, sondern das, worin und bei dem sie sind, dem sie zugehören, eben der Logos. Das w i r d um so auffälliger, wenn w i r folgendes bedenken: „Die Schlafenden nennt er, glaube ich (Marc Anton), Werker und Mitwirker an den Geschehnissen des Kosmos." (Frg. 75) Die Schlafenden, damit dürften gerade die Menschen im Alltag bezeichnet sein. Sie gleichen den Schlafenden, weil sie nicht die Wachheit erlangen, die die Wahrheit gewährt. Trotzdem wirken sie am Kosmos mit. Sie sind in ihn verfügt als Synergoi; aber das wissen sie nicht, sondern stellen sich dem Kosmos wie dem Logos entgegen, nehmen ihn als das Fremde; nicht aber vernehmen sie den Logos als das, was sie, die Menschen, durchwaltet. Diese Fremdheit entfremdet die Menschen ihrem eigenen „Wesen". Die Wachenden haben einen einzigen und gemeinsamen Kosmos. Sie bewegen sich nicht, wie die Schlafenden, scheinbar jeder in einer eigenen Welt (Frg. 89) 4 . Die Trennung der Menschen erwächst aus dieser Logosfremdheit. Daher sagt Heraklit: „Deshalb muß man dem Gemeinsamen folgen. Aber obschon der Logos gemeinsam ist, leben die vielen, als hätten sie eine eigene Einsicht." (Frg. 2) Die Vielheit der Meinungen ist das Gegenstück zu der wahren Phronesis, dem einsichtigen Denken. Die Behauptung einer eigenen Einsicht hebt diese gerade auf und verurteilt sie zur Scheinbarkeit. Bewegt sich der Mensch primär in der Logosentfremdung, so muß er ursprünglich dem Logos zugehören. I n dieser Zugehörigeit muß sich der Mensch, wenn er in sie wieder hineingelangen möchte, seiner primären Insistenz auf eigene Einsicht, auf seine Selbständigkeit begeben. U n d diese Möglichkeit w i r d den Menschen keineswegs abzusprechen sein. „Den Menschen ist allen zuteil geworden, sich selbst zu erkennen und gesund zu denken." (Frg. 116) Die Menschen sind also keineswegs von der Wahrheit, von der Zugehörigkeit zum Logos und dem wahren Wissen ausgeschlossen. Auch nicht 4
2*
Vgl. W. Jaeger: Theologie d. frühen griech. Denker. S. 131 f.
I. Erziehung als Hinführung zur Wahrheit
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nur einigen wenigen w i r d sie zuteil. Daher gerade das Erstaunliche der primären Haltung! Sich selbst zu erkennen, kann nun nicht heißen, ein eigenes Selbst zu erkennen, das der Mensch besitzt, sondern vielmehr das zu erkennen, was den Menschen zum Menschen macht, woran es mit uns Menschen ist, unsere Lage, und worauf es ankommt. Gesund denken, sophronein, mag dann hier soviel besagen wie angemessen zu denken, sich also nicht der Doxa und ihren Verkehrungen zu überlassen. Sophronein geht auf die Besonnenheit, die des Logos eingedenk bleibt und aus ihm her denkt. Deshalb kommt es auf Phronesis und Gn6me an, auf das Denken und die eröffnende, aussprechbare Einsicht 5 . Die Zugehörigkeit zum Logos ereignet sich in ihnen. Heraklit spricht das in Frg. 41 aus: „Eins nur ist das Weise, sich auf die Gnome zu verstehen, welche alles durch alles steuert." Hen to sophön, so heißt es im Text, eins das Weise. Es besteht darin, sich auf die Gnöme zu verstehen. Also nicht auf dieses oder jenes Handwerk, auf diese oder jene Wissenschaft, sondern allein auf die Einsicht, den erhellenden Gedanken selbst. Es kommt gar nicht auf ein Wissen um Vielerlei an, nicht auf eine summative Kenntnisanreicherung, sondern auf diesen einen Gedanken, diese Gnome. I n ihr w i r d nicht vieles einzelne additiv vorgestellt, sondern alle Dinge, Panta, werden in ihrem Zusammenhang gedacht, in dem, was sie als Angehörige des Alls, des Pan, wesen läßt. Theognis 60 sind gnomai „Normen" oder „Maßstäbe", vgl. ebd. 693: das Übermaß hat viele törichte Männer zugrunde gerichtet, denn es ist schwer, im Glück das Maß zu kennen, gnome ist gerade dieses gnonai metron, weshalb sie das Beste genannt wird, das die Götter einem Menschen geben können (ebd. 1171), denn „sie hat (das Wissen um) die Grenzen von allem". Das ist offensichtlich einfach eine Paraphrase von Solon frgm. 16 (Diehl), wo er sagt, es sei am schwersten, das unsichtbare Maß der gnomosyne zu erkennen, das die Grenzen (peirata) vor allem habe6. Heraklits Gnome nennt ebenfalls das Wissen um das Maß, von dem bei ihm mehrmals die Rede ist (B 94, B 30, B 31 z. B.). Denn Angehörige des Alls können die Dinge nur sein, wenn sie ihre Maße und damit ihre Grenzen einhalten. 5 6
a. a. O. W. Jaeger: Theologie d. frühen griech. Denker. S. 276, Anm. 55.
1. Die Logoszugehörigkeit des Menschen bei Heraklit
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Noch präziser formuliert folgendes Fragment diese Gnome. „Haben sie nicht mich, sondern den Logos vernommen, so ist es weise, dem Logos gemäß zu sagen, eins sei alles." (Frg. 50) Das Fragment läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Die große Formel des „ H e n panta einai" spricht das allein Wissenswerte, das, was allein Wissen, Einsicht, Gnome ausmacht, uns zu: nicht alles sei eins, nicht alles sei in eine graue Einheit, in ein Nirwana oder eine Allsubstanz aufzulösen, w i r d hier gelehrt. Kein Pantheismus oder Panentheismus, keine simple Reduktion auf einen Grundstoff, sondern: daß eins alles sei. Das besagt sehr schlicht, daß alle Dinge, wenn sie als panta, als Seiende im Ganzen, eingesehen werden, nur als solche sind durch das eine Pan, durch das A l l , das sie durchwaltet und ihnen zu sein verleiht. Jedes geht vom A l l her in seine erfüllte Anwesenheit hervor und erhält von ihm her O r t und Stand. Dieses Hen, das eine Ganze, darf daher nicht als etwas Seiendes neben der Summe der Dinge und Wesen angesetzt und vorgestellt werden. Es muß vielmehr gedacht werden. Hier w i r d der Unterschied zwischen Denken und Vorstellen deutlich. Das Denken erschließt das „Sein" des Seienden. Denn das A l l läßt jedes einzelne hervorgehen und in jeweiligen Grenzen anwesen. Jedes bleibt einbehalten in das Eine Ganze, solange es ist. Das einzelne w i r d vorgestellt bzw. angeschaut, das Sein der vielen einzelnen kann nicht vorgestellt oder angeschaut werden. N u r denkend kann man einsehen, daß alle Dinge sind und darin ein Ganzes ausmachen, das nicht als ein Seiendes neben allen anderen besteht, sondern als das, worin alle schon immer eins sind. I n diesen Gedanken muß man gelangt sein, um des Kosmos ansichtig zu werden. Der Kosmos nennt das Pan, der Logos das Hen, das nur als Gedanke zu denken und auszusprechen ist. Werner Jaeger weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß Aristoteles in Phys. I I I 6, 207 a 18 f. sagt, die Vertreter der Apeiron-These übertrügen die Aussage: t6 panta periechon (das alles Umgreifende) von dem holon (dem Ganzen), zu dem sie eigentlich gehöre, auf das Apeiron, weil dieses in ihrer Spekulation den Platz des H o l o n einnehme. Sie geben ihm den Platz, den die spätere Philosophie „das Ganze" nannte. Piaton Philebos 28 d charakterisiert Xympanta als eine wiederkehrende Formel der feierlichen Sprache der frühen Denker und interpretiert es als t6de to kaloümenon holon (dieses sogenannte Ganze). Er stimmt also mit Aristoteles überein: h61on = tö panta periechon7. 7
a. a. O. S. 197, S. 233, Anm. 42 und 43.
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Dann w i r d uns wohl klar, daß sich das Hen, das Eine als das Ganze, durch die vielen einzelnen verbirgt. Die Menschen haben es primär mit den vielen einzelnen Dingen zu tun. Sie sind zwar wie diese, und sie gehören dem A l l zu, aber jedes erscheint ihnen fremd und anders, wie sie einander sich entgegenstellen, des Einen aber nicht einsichtig werden. Den Logos muß der einzelne vernehmen, nicht aber den Denker, den Philosophen, die „ A u t o r i t ä t " . Sonst gelangt der Mensch nie ins Denken. Dazu bedarf es eines anders gearteten Hinhörens und einer anderen Achtsamkeit, bei der es nicht wie im Alltag zumeist um die Beachtung bestimmter Dinge, Menschen und Verhältnisse geht. — Nachdrücklich formuliert Fragment 112: „Besonnen sich zu fügen ist die größte Arete, und die Weisheit besteht darin, die Wahrheit zu sagen und zu handeln gemäß der Physis, auf sie hinhörend." Auch hier w i r d wiederum katä physin zu handeln verlangt. Die Arete, das, was den Menschen zu seiner Menschlichkeit tauglich macht, besteht in dem rechten Hören und der besonnenen Einfügung ins A l l , das als Physis, als Natur, genannt wird. Physis besagt sicher nicht eine eigene Instanz oder Macht, ein umgreifendes Seiendes, sondern bedenkt das Geschehen des Alls. Dies geht vor sich als Physis, als Aufgang und Untergang, als Wandel. Das Eine w i r d als Physis offenkundig, nicht etwa als Natur gegenüber K u l t u r oder Geist, wie w i r vielleicht modern meinen möchten. Vielmehr liegt das, was ein jedes zu ihm selbst macht, in dem Hervorgang aus Verborgenheit und Dunkelheit, um nach kurzem Verweilen anderem Platz zu machen. Wer die Wahrheit sagt, kann sich daher nur in dieser Offenkundigkeit der Dinge und Wesen halten. Das Hervorgehen, Weilen und Vergehen, — dieses sich von sich selbst her eröffnende Sein der Dinge und Wesen w i r d in dem Wort Physis ausgesprochen. Jedes wahre Wort muß in diese Offenbarkeit versetzen. Nicht der Mensch bringt die Wahrheit auf oder stellt sie her, Einsicht verdankt er nicht seinen eigenen Kräften, sondern ein Hinhören gewährt die Offenkundigkeit der Physis und damit jedes einzelnen im Ganzen. Die von Heraklit umschriebene Besonnenheit w i r d durch die Eigenart des hier waltenden Denkens gekennzeichnet. Denken macht keine Fähigkeit des Menschen aus, es steht nicht der Anschauung oder den Sinnen gegenüber, es verschafft auch nicht eine Fülle von Kenntnissen über dies oder jenes. Es steht dem Menschen nicht zur Verfügung. Vielmehr muß es gesucht werden in jener Offenkundigkeit und Unverborgenheit eines jeden einzelnen im Ganzen. Wem das „ H e n Panta" nicht klargeworden
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ist und einleuchtet, der bleibt außerhalb des Denkens. Ja, noch schärfer muß man betonen: Denken besagt ein ursprüngliches Sehen und Hören, in denen das A l l als Ganzes vernehmlich wird. Denken ermöglicht erst ein menschliches Sehen und Hören. Denn dies bleibt nicht ein Vorstellen bzw. Wahrnehmen von einzelnem Seienden, als Widerstand oder Gegenstand, als Gegner oder Partner. Es vernimmt vielmehr jedes im Ganzen und vom A l l her. Das ist nur möglich, wenn Sehen und Hören im Denken vor sich gehen, d. h. in jener Offenbarkeit des „ H e n Panta", die „Logos" genannt wurde. Diese vorgängige Offenbarkeit des Ganzen, das als Hervorgehen und Vergehen, als Verweilen und Bestehen, als Anwesen und Abwesen an jedem einzelnen vernehmbar wird, muß also vom Menschen erreicht werden; sie muß ihm zuteil werden, soll er seiner primären Menschlichkeit enthoben werden. Denken gewährt zugleich Gemeinsamkeit. Niemand denkt einen eigenen Gedanken, sondern jeder w i r d denkend in eine Gemeinsamkeit erhoben, die nicht erst durch Mitteilung zustande kommt. Hier ist also nicht die Rede von einem jedem zugehörigen „Bewußtseinsbereich", von einer trennenden Innerlichkeit, sondern von dem Gemeinsamen schlechthin. „Gemeinsam ist allen das Denken." So spricht es Fragment 113 aus. U n d ähnlich Fragment 114: „Wenn man mit Einsicht reden möchte, dann muß man sich stark machen mit dem allen Gemeinsamen . . . " Jene Klarheit des Ganzen und jene Offenkundigkeit des einzelnen vom Ganzen als dem Einen her — für sie wäre es ja sinnlos, eine eigene Einsicht, die sich von allen anderen Einsichten und von der aller anderen unterschiede, zu behaupten, so wie man vielleicht eine andere Vorstellung über eine Sache zu haben beanspruchen kann, als sie die Mitmenschen besitzen. Einsichten, Gedanken sind entweder wahr, dann sind sie niemandes Eigentum und Eigenheit; oder sie sind es nicht, dann handelt es sich um Ansichten, Meinungen, Behauptungen, Vorstellungen. Daher w i r d mit dem Gesagten nicht ausgeschlossen, sondern vielmehr eingeschlossen, daß weisheitsliebende Männer vieler Dinge kundig sein müssen, wie Fragment 35 betont. Die „Philosophoi" sind geradezu die in strengem Sinne Kundigen. N u r sie, die Denkenden, die sich an das Sophon halten, stehen in der Offenkundigkeit aller Dinge und sprechen aus ihr. U m das Hen zu denken, bedarf es der Panta. N u r am Seienden im Ganzen kann das Hen offenbar werden, ist es doch kein Seiendes neben den Dingen, sondern deren Sein, ihre Fügung, ihr Werden und Weilen. So
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bekommt das Wissen um die Dinge einen anderen Sinn. Die Denkenden wissen sehr wohl um die Dinge, sie wissen nichts anderes als andere Sterbliche; aber sie wissen sie anders als ihre Mitmenschen. V o m Logos spricht Heraklit in vielen Fragmenten. Er weiß sehr gut um die Schwierigkeit seines Gedankengangs. Er weiß, daß das primäre Vorstellen geneigt ist, eine oberste Instanz vor Augen zu stellen, etwa in Gestalt des Zeus, wenn vom Logos die Rede ist. „Eins, das allein Weise, ist bereit und auch doch nicht bereit, mit dem Namen des Zeus benannt zu werden." (Frg. 32) Halten w i r uns im Vorstellen an die vielen Dinge und Wesen, so kommt uns das Hen wie eine oberste Gottheit vor, die alles lenkt und fügt. Denken wir, dann ist der Logos offenbar als die Fügung selbst, das gegenseitige Hervorbringen und Raumgeben der Dinge und Wesen, durch die sie sind, d. h. entstehen und vergehen, bestehen und ineinander übergehen8. Logos besagt also einmal Verhältnis des Seienden untereinander, sein Gegeneinander und Miteinander, seine Gegensätzlichkeit und seine Einigkeit. Logos besagt aber auch zum andernmal Versammlung aller Dinge als „ H e n Panta", als das eine A l l , von dem her alles ist, was es ist. Schließlich das eröffnende Wort, das nicht von Menschen erschaffen wird, sondern Menschen zuteil wird, weil das Denken, die Helle und Klarheit des Alls über sie kommt. — Alles wird, so können w i r auch freier formulieren, vom Ganzen her ausgelegt und doch ins Ganze einbehalten. Die Dinge sind, d. h. sie liegen vor in einem Ganzen und seiner Fügung. Das wahre Wort versammelt jedes auf das eine Ganze und läßt ein jedes in ihm dergestalt vorliegen, daß das Ganze in seiner Fügung offenkundig wird. Denken besagt, in jedem Seienden den Logos zu vernehmen und daher jedes in seiner Fügung sehen und hören zu lassen. Heraklits „Logos" läßt zum erstenmal denkbar und sagbar werden, was in der Folge auch die abendländische Bildungsgeschichte hervorruft. So sehr auch der in Heraklits Denken eröffnete Unterschied von Seiendem und Sein sich später verhüllte und zu einem Unterschied im Seienden selbst wurde — etwa von Ideen und sinnlicher Welt, von Gott und Welt, von denkendem Subjekt und ausgedehnter Dingwelt —, immer bleibt das 8
Vgl. Th. Ballauff: Vom Ursprung. Tijschr. voor Philos. 15 (1953). H. 1. S. 18—70; ferner zu „Logos", Heribert Boeder: Der frühgriechische Wortgebrauch von Logos und Aletheia. In: Archiv f. Begriffsgesch. 4 (1959), S. 82 bis 112.
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Denken selbst Ursprung und Hervorruf. Ja, man w i r d sagen dürfen: unsere abendländische Bildungsgeschichte stellt das unablässige Bemühen dar, dem Denken nachzukommen und in es einzutreten. Allerdings nehmen diese Versuche durch die platonisch- aristotelische und die neuzeitliche Wende eine Gestalt an, die ihren Ursprung nicht mehr unmittelbar erkennen läßt. Wort und Wahrheit bleiben trotzdem die unaufhebbaren Richtpunkte der Menschlichkeit bis auf den heutigen Tag. Der Logos als „ H e n Panta", als auseinanderlegendes Verhältnis und als einigende Versammlung, durch die ein jedes frei zutage t r i t t und als es selbst anwest, w i r d von Heraklit als palintropos harmome angesprochen. „Sie verstehen nicht, wie es auseinander getragen m i t sich selbst übereinstimmt: gegenstrebige Vereinigung wie die des Bogens und der Leier." (Frg. 51) Wie der Bogen in die beiden Enden auseinandertritt, zugleich aber durch die Sehne verbunden wird, so daß dadurch erst die den Bogen als Bogen „sein lassende" Spannung eintritt, so steht ein jedes in dieser Fügung der Gegensätze. I n Wahrheit sind Gegensatz und Spannung das Vorgängige, aus ihm empfängt der Bogen sein Eigenes, das, was er ist. Ja, aus jenem her kann es überhaupt erst einen Bogen geben. Seinen Hervorgang und seinen Bestand verdankt er der palintropischen Harmonie. Dieses Beispiel verdeutlicht die Fügung eines jeden Seienden. Durch die Gegensätzlichkeit w i r d dann aber auch alles geeint. Sie spannt nicht nur auseinander, sondern vereint gerade alles und alle Gegensätze durch die Gegensätzlichkeit selbst. Der Kosmos als die Fügung des Ganzen zu einem in sich einigen Geschehen läßt sich als „Feuer" umschreiben. Das Feuer, das verbrennt und wandelt, untergehen und hervorgehen läßt, das festigt und auflöst, erhellt wie ins Dunkel versinken läßt, bedeutet die Physis aller Dinge und Wesen. Das Feuer w i r d demnach hier nicht vorgestellt als „Urstoff", sondern als das unmittelbare Beispiel des Kosmos. Man muß es nur zu denken lernen, und d. h. ja, in ihm das A l l , so wie dieses an ihm offenkundig wird, vernehmen. Daher ruht der Kosmos ebensosehr in dieser palintropischen Harmonie, wie sich ein jedes in ihm in stetem Wandel befindet. Das Werden eines jeden offenbart das ruhende Ganze in seiner Fügung, es läßt das Sein denken. Diese Paradoxie ist die tiefste Aussage Heraklits hinsichtlich des Logos. Sie ist wider den „gesunden Menschenverstand" und die gängige Meinung des Alltags.
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Heraklits Gedankengang stellt die Menschen selbst in eine Spannung hinein. Sie gehören entweder dem Logos an oder leben von ihm abgekehrt, in Dunkel und Fremdheit. Gegen diese wendet sich Heraklit in aller Schärfe. „Denn was ist ihre Einsicht oder ihr Verstand? Volkssängern glauben sie, und zum Lehrer haben sie den Haufen, denn das wissen sie nicht: ,Die Vielen sind schlecht, wenige nur gut'." (Frg. 104) „Schlimme Zeugen sind den Menschen Augen und Ohren, sofern sie Barbarenseelen haben." (Frg. 107) „ M a n soll nicht handeln und reden wie Schlafende." (Frg. 73) „Einer gilt mir zehntausende, falls er der Beste ist." (Frg. 49) „Eins gibt es, was die besten allem anderen vorziehen: dauernden Ruhm den vergänglichen Dingen. Die vielen freilich liegen da vollgefressen wie das Vieh." (Frg. 29) Die meisten sind „Leute, die weder zu hören verstehen noch zu reden." (Frg. 19) I n all diesen Aussprüchen w i r d der Gegensatz zwischen den Einsichtigen und den vielen herausgestellt. Diesen fehlt all das, was Heraklit als das Auszeichnende des Menschen einsehen durfte. Es ist nichts damit getan, von einer „aristokratischen Haltung" zu sprechen, die Heraklit predige, von der Einsamkeit des Genies und ähnlichem. Hier w i r d eine Kluft aufgewiesen, die Paideia erst rechtfertigt und auf den Plan ruft. Sie ist seitdem nicht mehr aus ihrer Problematik fortzudenken. — Es geht auch nicht mehr um politische Arete, nicht mehr um den Aufbau und die Erhaltung eines Staates, eines Standes, auch nicht um den Vorrang durch Wettkampf oder Übung, um die Auszeichnung im Kampf. Das alles w i r d zwar nicht in Bausch und Bogen ausgeschlossen, aber es rückt an einen Platz, der aus einer anderen Sicht bestimmt w i r d als vorher. Denn jetzt handelt es sich um eine Rangordnung, die sich aus der Logoszugehörigkeit ableitet. I n Heraklits Gedanken w i r d der Gegensatz von Paideia und Apaideusia in einem neuen Sinn vorgezeichnet. Der Paideia w i r d eine neue Dimension eröffnet. Vor allem zeichnet sich der einzelne nicht mehr durch eine dinglich-körperliche Leistung aus, nicht auf ihn, seine Kraft und sein Können kommt es an. Vielmehr zeichnet ihn allein aus, daß er dem Denken als dem Gemeinsamen zugehört und Sprecher des Logos geworden ist. Ihm ist gewährt worden, in die Klarheit des „ H e n Panta" erhoben zu werden. Er betreibt nun nicht mehr bald das eine, bald das andere; er
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treibt sich nicht mehr taub und blind unter den Dingen und Wesen herum; er ist nicht mehr der Menge hörig, auf sie hörend und ihr nach dem Munde redend. Maßgeblich allein bleibt für ihn das Ganze, in dessen Licht er jedes erblickt und ins Werk setzt. Damit verläßt Heraklits Lehre den bisher bekannten und anerkannten Raum des Menschwerdens und Menschseins. Seine Fragmente sagen uns allerdings noch nichts von einem Weg, der in diese neue Dimension, dieses echte Verhältnis des Menschen zum Ganzen führen könnte. Er stellt hart beide Verfassungen der Menschlichkeit gegeneinander. Sein Zeitgenosse Parmenides sieht sich demgegenüber auf einen Weg gebracht und zeigt uns den Übergang in anschaulicher Weise.
2. Das Denken des Seins bei Parmenides „Der Wagen mit den Stuten, der mich zu tragen pflegt, soweit der Thymos jeweils gelangt, geleitete mich, wenn sie (die Stuten) mich auf den Weg echter Kunde, den Weg der Gottheit, führend gebracht, (den Weg) der über alle Städte hinführt den wissenden Mann. A u f diesem Weg ward ich dahingetragen, auf diesem führten mich die vielverständigen Rosse, den Wagen ziehend, und es schritten voran Jungfrauen. Die Achse in den Naben entsandte pfeifenden Laut, erglühend — denn durch doppelte gewirbelte Kreise wurde sie getrieben, auf beiden Seiten —, sooft sich die Heliadenjungfrauen beeilten zum Geleit, verlassend die Behausung der Nacht, zum Licht, vom Haupt den Schleier mit den Händen zurückschlagend. Dort befindet sich das Tor der Wege von Nacht und Tag (das Tor, durch das Nacht und Tag ihren Weg gehen) und dieses hält auf beiden Seiten (umfaßt) steinerne Türbalken und steinerne Schwelle. Es selbst aber, das Tor,, das ätherische, lichte, ist voll ausgefüllt von großen Torflügeln, und es ist die hart strafende Dike, welche die wechselnden Schlüssel in Besitz hat. I h r sprachen die Jungfrauen zu mit weichen Worten und verständig, ihnen möchte sie den verpflöckten Riegel geschwind fortstoßen von dem Tor, Dies aber machte den Schlund der Torflügel weit (auf), auffliegend, indem es die mit starkem Erz beschlagenen Pfosten, die beiden mit Zapfen und Dornen eingebauten, in den Pfannen wechselweise drehte. Da hielten denn die Jungfrauen geradezu auf dem Wagenwege Wagen und Rosse. U n d huldvoll nahm mich die Göttin auf und ergriff mit ihrer Rechten meine Rechte, so aber sprach sie das Wort und redete mich an: Jüngling, der du unsterblichen Wagenlenkerinnen freundlich gesellt,
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samt den Rossen, die dich tragen, in unser Haus kommst, H e i l dir, denn wahrhaft kein schlimmes Geschick war es, das dich leitete und führte, (gerade) auf diesem Weg hier zu kommen — fürwahr, er liegt weitab von der Menschen Straße —, sondern Themis und Dike. D i r w i r d geschuldet, alles zu erfahren, sowohl der überzeugenden Wahrheit unerschütterliches Herz wie die Auffassungen der Sterblichen, denen nicht innewohnt wahre Überzeugungskraft. Aber gleichwohl wirst du auch (noch) dieses erfahren: wie die angenommenen Anschauungen sich bewähren müßten und durch ein jedes in allem bis ans Ende hindurchgehen." 9 Eins ist sofort auffällig, wenn man dieses Bild, aber auch die anderen — hier nicht im einzelnen zu erörternden — Fragmente überschaut: Ausdrücklich geht es um Aletheia, nicht um Paideia! Parmenides steht völlig im Pathos des Wissenden, er bezeichnet sich selbst als „wissenden Mann". Dieses Wissen der Wahrheit spricht er allein aus. V o n Paideia ist nirgends die Rede. Diese Auffassung der Fragmente des Parmenides besteht sicher zu recht. Trotzdem darf nicht übersehen werden, ja, darf gar nicht überhört werden, daß Parmenides ständig als „Lehrer" auftritt, und zwar in dem tieferen Sinn des Lehrens; er unterrichtet nicht über seine oder der Menschen Ansichten und Meinungen, sondern teilt die Worte der Göttin mit, also mit dem Anspruch, daß es zu hören und zu behalten gilt, was eine außermenschliche Instanz zuspricht. Das adhortative Moment t r i t t mehr als einmal scharf hervor. Der Hörende — zunächst Parmenides selbst, dann jeder, der von Parmenides sich belehren läßt — w i r d als Jüngling angesprochen, also als ein aufmerksamer, williger Mensch, der den Charakter des Schülers durchaus noch wahrt. Man könnte geradezu sagen: Jung bleibt, wer — im Parmenideischen Sinn — zu hören bereit bleibt. Geht man die einzelnen Fragmente achtsam durch, so w i r d die Vielseitigkeit des pädagogischen Momentes bei Parmenides auffällig. Ich verfolge es an dieser Stelle nicht weiter 10 . 9
Nach Karl Deichgräber: Parmenides* Auffahrt zur Göttin des Rechts. Abhandig. d. Akad. d. Wiss. u. d. Lit. Geistes- u. sozialwiss. Klasse, Jg. 1958, Nr. 11; vgl. Conrado Eggers Lau: Die Hodos polyphemos der parmenideischen Wahrheit. Hermes 88 (1960), S. 376—379. 10
Vgl. Th. Ballauff: Die Idee der Paideia. Meisenheim/Glan 1952, dort auch ausführliche Literaturhinweise; ferner Hans Schwabl: Parmenides, Forschungsber. Anzeiger f. d. Alter turns wiss. 9 (1956), Sp. 129—156.
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I n Parmenides' Gesamtdarstellung fällt eine Zweiteilung auf: dem Bild selbst schließt sich ein Lehrvortrag an, der zwar noch in losem Zusammenhang mit dem Bild steht — es ist zunächst die Göttin, die redet —, der aber doch zugleich „Deutung" wird, nämlich dessen, was unter „der überzeugenden Wahrheit unerschütterlichem Herz" und unter den „ D o x a i " der Sterblichen zu verstehen ist. I m Bild selbst kann man eine Dreiteilung auffinden: die Fahrt (1—10), die Auffahrt (11—21), Ankunft und Empfang (22—32). Von den Wohnstätten der Menschen geht die Fahrt aus. Göttliche Wesen, von denen später gesagt wird, daß sie zuvor — nämlich bevor sie sich enthüllen — das Haus der Nacht verließen, führen hinauf. So liegen die Wohnstätten der Menschen auf der Nachtseite des Ganzen, durch das sich die Fahrt erstreckt. Der Weg führt ins Tor dieser beiden Sphären des Dunkeln und des Lichten und nach dessen Eröffnung endgültig ins Licht. So w i r d uns der anfängliche Aufenthalt der Menschen geschildert, dann der Ubergang in die Sphäre des Lichtes und schließlich diese selbst als die „Aletheia". Von hier aus ist — in den Worten der Göttin — die Welt der Menschen verständlich, sie w i r d ans Licht der Wahrheit gebracht. Es w i r d uns eine Bewegung dargestellt. Von Anfang an werden w i r in sie hineinversetzt. Diese Bewegung kommt erst zur Ruhe vor der Göttin und geht in die Stille des Hörens und Einsehens aus. Den Rückweg in die Welt der Sterblichen stellt uns Parmenides nicht als Bewegung dar, sondern als ein Vernehmen, nämlich was es mit jener Welt auf sich hat. Wir, die Schüler des Parmenides, hören in der gesamten Darstellung den „Wissenden" sprechen, der den Weg, die Bewegung, die Ereignisse auf ihm „erfahren" hat. Parmenides spricht aus der Aletheia. W i r lassen uns mit ihm auf den Hinweg versetzen. Erstens wird von einer Fahrt gesprochen, nicht von einem Gang, von einem Er-fahren, nicht von einem Er-gehen. Zweitens fehlt jede Andeutung eines ersten, vergeblichen Ubergangs, obwohl es denkbar wäre, daß Dike das Tor auch einmal verschlossen halten könnte. Parmenides spricht überall aus dem Glück des wissenden Denkers. I h m ist diese Erfahrung und die Aletheia zuteil geworden. Er steht in der Freude und Dankbarkeit dieser Würdigung. I h m gilt der Gruß der Göttin, ihm wurde das Tor aufgetan. Er kann nur davon künden und an diesem Glück des göttlichen Grußes teilnehmen lassen. Der Weg führt über alle Wohnstätten hin und damit wohl auch an ihnen entlang wie durch sie hindurch. I n Städten und Behausungen zu wohnen,
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kennzeichnet die Menschen. Diese machen ein Ganzes aus, die Welt der Menschen. I n ihr leben die Menschen in der Doxa, in der Mannigfaltigkeit von Meinungen, Ansichten und Worten. I n ihr bewegen sie sich außerhalb der Treue und Bürgschaft, die aus der Aletheia stammt. Ansicht steht gegen Ansicht, Doxa wider Doxa, immer gibt es den Plural der Meinungen; in der Aletheia nur den Singular einer einzigen und unwandelbaren Einsicht. Die Doxa scheint wahr zu sein. Dieser Schein durchdringt alles; alles ist in diesen Anschein gehüllt. Nichts kann sich ihm entziehen. Die Menschen nehmen das Verhüllte für das Unverhüllte, das Unwahre für das Wahre, die Dinge für das Seiende in seinem Sein. I n diesem Schein stehen die Menschen noch im Abglanz des Lichtes der Aletheia; aber sie nehmen diesen Schein nicht als solchen, sondern bringen alles in die Scheinbarkeit, in die Vermeintlichkeit der Wahrheit. Der Widerschein w i r d zum Licht selbst gemacht, der Schein als Sein vermeint. I n der „Paideia" lernt der Schüler den Schein-Charakter einsehen. I m anfänglichen Aufenthalt der Menschen ist alles durchherrscht von einer Haltung, dem Ethos der Gewöhnlichkeit aus Gewohnheit (Frg. 7). I n diesem Ethos steckt das Paradox, viel erfahren zu lassen, nämlich das endlose Kommen und Gehen, das endlose Benennen des Vorübergehenden, das doch als solches sich immer gleichbleibt, in das sich die Menschen eingewöhnt haben und worin sie sich zu Hause fühlen. Diese Haltung bannt die Menschen auf einen Weg, den einzigen des anfänglichen Aufenthaltes. Ein jeder von ihnen w i r d ganz seiner „Sinnlichkeit" überantwortet. Gebannt schaut und hört er auf all das Kommende und Gehende, das Getriebe um ihn, immer eines Neuen gewärtig, ohne in diesem Starren und Horchen etwas — in Wahrheit — zu erblicken und zu vernehmen. Immer hört jeder auf das Geschwätz der anderen, immer macht er dieses Gerede mit, ohne doch in Wahrheit etwas zu sagen. Gebannt und „gefesselt" folgt er diesem Weg, ohne sich losmachen zu können — es sei denn, es komme in der Paideia das Denken über ihn. So schwanken die Menschen in ihrem anfänglichen „Verhalten" dahin: „Ratlosigkeit steuert in ihrer Brust den hin und her schwankenden Nous. Sie aber treiben dahin, stumm zugleich und blind, die Verblödeten, unentschiedene Haufen, denen das Sein und Nichtsein für dasselbe gilt und nicht für dasselbe und (für die) bei allem widerstrebig die Bahn ist." (Frg. 6)
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Da die Menschen nicht in der Aletheia leben, so w i r d es ihnen unmöglich, zwischen Sein und Nichtsein zu scheiden. Da sie nie ins Noein, ins Denken gelangt sind, müssen sie in ihrem Scheindenken ständig beides verwechseln und identifizieren. Sie wissen nicht um das Sein des Seienden. So geraten sie in endlosen Streit über das Seiende, indem jeder etwas anderes dafür hält. Sie sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Paideia lehrt diesen Streit prüfen und entscheiden. Sie lehrt denken. Dadurch läßt sie in die Krisis des Seienden eintreten. Das Sein des Seienden zeigt sich als das immer von neuem mit den Dingen Verwechselte: Es zeigt sich als das, worin alle Dinge sie selbst sind, das aber deshalb gerade keins der Dinge ausmacht. Denken besagt, diese Differenz walten zu lassen, nicht die Aisthesis, die Wahrnehmung. I n jeder Aussage eines „ I s t " bewegen die Menschen sich in einer „Palintropie", im Selbstwiderspruch einer undurchdachten Identifikation. Es ist also die Unwissenheit alles menschlichen Wissens, was ihr Leben innerlich verkehrt, das Nichtwissen ihres Nichtwissens. — Paideia w i r d Mahnung und Prüfung, die zu diesem Wissen des Nichtwissens gelangen läßt. Einem einzelnen w i r d die Er-fahrung der Aletheia zuteil. Der wissende Mann w i r d emporgeführt. I h m stehen die Sterblichen gegenüber, die Vielen, die Nichtwissenden. Die vielen Menschen beschreiten nicht den Weg des Wissens. Dieser liegt außerhalb der Welt der Menschen. Er führt weit aus ihr heraus. Er w i r d also selten begangen. Er ist überhaupt nicht zu beschreiten, auf ihm kann der Mensch nur gefahren werden. Solange die Menschen sich von sich aus bewegen wollen, gehen sie immer in die Irre. N u r der, der nicht gehen w i l l , sondern sich einer ihn ergreifenden Bewegung hingibt, w i r d auf diesen Weg gebracht. Paideia bedeutet Auszeichnung und Vereinzelung. N u r der einzelne vernimmt; die Menge denkt nicht, sondern nimmt wahr und hat sich an Gewohnheit und Ansicht ausgeliefert. I m Lärm der Vorkommnisse, im ständigen Wechsel der Anschauungen und im endlosen Gerede überhören sie, was ein einzelner vernimmt, sofern er sich aus der „Anschaulichkeit" des Alltags herausrufen läßt. Der einzelne w i r d emporgeführt; er w i r d gezogen und gefahren. Dieses Passiv gehört wesentlich zum Geschehen der Paideia. Der Mensch w i r d zum Erzogenen, nämlich zum „Erfahrenen". So ist er Instanzen überantwortet, die nicht in seiner Macht stehen. Diese Passivität „empfindet" er jedoch als beglückend. Er w i r d befreit vom Zwang des alltäglichen Ver-
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haltens, von der Unsichtigkeit und Taubheit des anfänglichen Lebens in Welt. Jetzt lernt er hören und sehen, so sehr ihm auch dieses in seiner anfänglichen Weise vergeht. Jede W i l l k ü r bleibt ausgeschlossen. Das Denken geschieht ganz als es selbst. Paideia würde sinnlos, wenn in ihr nicht Führung waltete. Die Jungfrauen haben auf den Weg gebracht, sie weisen den Weg. Wie dies geschah, w i r d nicht näher ausgeführt. Die Unbeschreiblichkeit des Ergriffenwerdens vom Denken mag darin ausgedrückt sein. Von der Gewalt dieses Geschehens, von seiner emporreißenden Stärke zeugt die schnelle, scharfe Fahrt, bei der sich die Achsen der Räder erhitzen und die sich als „Heliaden" enthüllenden Jungfrauen voraneilen. Das Heißwerden und Pfeifen der Achsen deutet an, daß es nicht auf glatter Bahn dahingeht. Kein Anhalten, kein Säumen ist möglich. Der einzelne muß mit vorwärts und empor. Die Fahrt läßt Auge und Ohr abwenden von dem, was bisher vernommen wurde, sie bringt in eine neue Richtung. Hören und Sehen, Vernehmen und Einsehen werden über das hinausgeführt, was sie vordem fesselte. So sehr auch eine Ausrichtung erfolgt, so wenig w i r d uns diese als eine Umwendung — wie später bei Piaton — geschildert. Aus der Doxa und ihrer Verkehrtheit führt nicht eine Konversion des ganzen Menschen, sondern eine Bewegung über alle Dinge und Wohnungen der Menschen hinaus: ein Aufschwung ins Noein, der nicht umwendet, sondern erhebt und übersteigt. Die Bewegung der parmenideischen Paideia geht geradezu aus der Doxa in die Aletheia durchs geöffnete Tor. Hier liegt der Nachdruck auf dem Übergang, der „Erschließung" der Wahrheit, nicht auf einer Umwendung wie bei Piaton. Parmenides nennt die befreiende Instanz: Es ist Moira in Gestalt von Themis und Dike. So spricht es die Göttin aus. Aber im Bild tauchen noch andere Instanzen auf, die Anteil haben und geben an der frei machenden Bewegung: die Rosse und die Heliadenmädchen. Ohne uns allzuweit auf die schwierige Interpretation dieser „Gestalten" einzulassen, kann man wohl folgendes sagen: Themis und Dike geben Anteil an der Wahrheit. Sie fügen es, daß der Mensch in die Aletheia findet. Sie bringen auf den Weg und erschließen die Welt, zu der sie die Schlüssel verwalten. Sie sind die Gehilfen der Göttin und haben selbst ihre Dienerinnen in den Heliadenmädchen. Themis und Dike — hier denkt Parmenides von Hesiod und Anaximander her — nennen eine letzte Ordnung des Seienden, in der dies schon immer gefügt ist, der sich der Mensch zu fügen hat. Diese Ordnung
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enthüllt sich auf das hin, was sie birgt und wem sie dient. I n Wahrheit ist das Sich-fügen des Menschen ein Gefügtwerden, ein Ergriffen- und Geführtwerden. N u r wen diese Ordnung ergreift, wer sich von ihr führen läßt, der gelangt zur Wahrheit — nicht der Mensch, der sie sich verfügbar machen will. N u r wer Dike im Denken als Fügung des Seienden erfahren hat, dem eröffnet sich in eins das Haus der Nacht und das des Lichts, der erfährt die Differenz zwischen Fügung und Gefügtem, zwischen Sein und Seiendem. Das Bild des Tores bezeichnet diese Erschließung der Differenz 11 . Parmenides beschreibt — so wie später auch Piaton — eine stufenweise Einführung. Die Enthüllung der Heliadenjungfrauen bezeichnet die erste Stufe der Erhellung. Diese selbst bedeuten sicher nicht die Sinne bzw. die Sinnlichkeit — sie walten zu lassen, davor w i r d gerade gewarnt — ; vielmehr tauchen unter dem Seienden im Ganzen Verweisungen auf, die sich aber erst als solche enthüllen. Für den wissenden Mann treten die „Semata", die Zeichen des Seienden selbst hervor, die an die Wahrheit verweisen. Zunächst und zumeist allerdings bleiben diese verhüllt. Denken heißt: an den Dingen solche Verweisungen erfahren und nicht einfach die Dinge bloß wahrnehmen. Die Stuten mögen dabei die dem Menschen geliehenen Kräfte besagen, die es ihm möglich machen, die Fahrt anzutreten. Beachtet man ferner, daß die Rosse in Griechenland als chthonische Gestalten und Gewalten angesehen werden, so bestätigt sich auch darin, daß eine von der Erde anhebende Bewegung geschildert wird. Die Göttin selbst stellt den Logos dar, die im Wort sich vernehmbar machende Wahrheit, nicht diese selbst, — deren „unerschütterliches Herz" w i l l die Göttin ja erst verkünden —, nicht das Sein selbst, sondern das sich aussprechende Denken des Seins. Die parmenideische Paideia zeigt sich als Fahrt auf vorbezeichnetem Weg. Der Weg führt entlang den Wohnstätten der Menschen über diese hinaus, er w i r d also als emporsteigend geschildert. Zweitens w i r d seine Richtung als lichtwärts bezeichnet, drittens er selbst als abseits und selten benutzt. Die Schwierigkeit des Weges liegt vor allem in der Verschlossen11
Vgl. Hermann Fränkel: Wege und Formen frühgriechischen Denkens. Hrsg. v. Franz Tietze. 2. Aufl. München 1960. S. 162 ff., ferner Oskar Becker: Drei Abhandlungen zum Lehrgedicht des Parmenides. Kantstudien 55 (1964). S. 255—259. 8 BaUauff
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heit des Tores, zu dem hin er sich erstreckt und durch das er sich fortsetzt. Es liegt in den Händen der führenden Instanzen, ob das Tor sich öffnet oder nicht. Der Mensch hat sich ihnen nur zu überlassen. Der Weg endet im Hause der Göttin vor ihrem Thron. Viertens w i r d er als gerade gekennzeichnet. — Die Wahrheit w i r d immer auf geradem Weg erreicht. Krumme Wege führen ins Unwahre. Darin mag man ursprüngliche Synopsen erblicken: von wahr und gerade, von Wahrheit und Licht, von wahr und oben. Die Passivität der Bewegung auf diesem Weg bringt Parmenides noch schärfer zum Ausdruck als nach ihm Piaton: Der Mensch w i r d auf ihm gefahren. Selbst das Schreiten als eine ihm selbst überlassene Bewegungsart ist ausgeschlossen. Allerdings w i r d dadurch zugleich die Positivität der Bewegung betont: Sie ist nicht das Gezogen werden eines Sich-Sträubenden, sondern das Erhobenwerden eines Willigen, der die Erhebung in die Aletheia als beglückenden Aufschwung „erfährt". Sie ist Erfahrung in ursprünglichem Sinn. Erfahren kann der Mensch nur die Wahrheit. Die Welt erfährt er, wenn er sich über sie hinaus erheben läßt zu dem, was Welt sein läßt. Die alltägliche Erfahrung nennt sich nur so. I n ihrer scheinbaren Vielseitigkeit bleibt sie doch unerfahren. Die Menschen bleiben die Unerfahrenen. Das Sein des Seienden ist das einzig Erfahrbare in der Enthüllung seiner Semata. Diese Erfahrung können aber die Menschen nicht von sich aus in Gang bringen und veranstalten. Empirie in strengem Sinn liegt nur im Denken des Seins. Das Tor auf diesem Weg ist eindeutig als Trennung und Verbindung markiert. Es w i r d ausführlich beschrieben. — Die Aletheia muß also erschlossen werden, nicht in Syllogismen „aristotelischer Logik", sondern im Waltenlassen der Dike, im Bedenken der Ordnung des Seienden. Die Aletheia enthüllt sich in ihrer Verwahrung und Behütetheit. Dem muß der Mensch Rechnung tragen; das schärfen die weiteren Ausführungen des Parmenides ein. Er hat sich vor dem Abweg ins Denken des Nichtseins und vor dem Irrweg der Doxa zu hüten. Das heißt denken: Hüter und Wächter der Aletheia zu werden. Paideia macht ihn zum Wächter. Die Doxa w i r d die große Apostasie des Denkens von sich selbst, in der Verwechslung der Dinge mit dem Sein. So gehen diese sich selbst verloren, da sie nicht ans Licht der Wahrheit gebracht werden. Hinter dem Denker, hinter dem wissenden Mann schließt sich das Tor wieder, er w i r d nicht Wegbereiter oder Verwalter der Schlüssel zur Wahrheit. Für alle anderen ist es wieder verschlossen. Schärfer kann die N o t wendigkeit der Paideia nicht herausgestellt werden.
2. Das Denken des Seins bei Parmenides
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Die Wahrheit ist also nicht preisgegeben an die vielen und ihre Neugier. Sie hütet sich und stellt um sich einen Schutz, der nicht zu „durchbrechen" ist. Wem nicht die Heliaden Führung und Geleit bieten und die strenge Dike zur Öffnung des Tores bewegen, dem bleibt die Aletheia verschlossen. Aletheia hat sich schon immer verborgen; sie hat die Menschen der Doxa überantwortet. Paideia kann nie Sache der vielen werden, sondern die der wenigen einzelnen. Gleich zu Anfang des Bildes stehen die merkwürdigen Worte vom „Thymos": „Der Wagen mit den Stuten, der mich zu tragen pflegt, soweit der Thym6s jeweils gelangt, geleitete m i c h . . . " „Thymos" bezeichnet ursprünglich das Regsame, Stürmende, Wallende, abzuleiten von thyo, die Kraft, die den Menschen in Bewegung und Erregung versetzt; dann aber auch das ernstliche, entschlossene Verhalten, schließlich so etwas wie unser „Gemüt", „ H e r z " . Der Thymos bin ich nicht selbst, sondern Ich und Thymos können sogar in Widerstreit treten. Während das Wort nicht noch einmal im Text auftaucht, erscheint das „Hingelangen" in den Empfangsworten der Göttin wieder (Frg. 1,25). A u f sein Hingelangen zum Haus der Göttin, auf sein Kommen spricht die Göttin den Denker an. So mag man in Thymos die mutige Bereitschaft wiedererkennen, die die Voraussetzung der Paideia auf Seiten eines Menschen ausmacht, die Willigkeit und den M u t , die Fahrt durchzuhalten. Das Denken gilt es auszuhalten, ihm darf der einzelne sich nicht durch Flucht, Mutlosigkeit oder Trägheit entziehen. Aus dem Ganzen dieser Paideia resultiert das Ethos und Pathos des einsamen Denkers, der allerdings sehr wohl mit dem Anspruch auftritt, gehört zu werden. Denn er weiß nun um die beiden Sphären, er weiß um das Sein in Wahrheit und um das, was es mit der Welt der Sterblichen auf sich hat. Er kann daher diese „erklären" und durchleuchten. — Das Lehrgedicht wendet sich denn auch dieser Thematik ausführlich zu. Das Denken des Seins ist nicht Leistung und Vermögen des Menschen, sondern Gabe und Gewährung, die dem Menschen zukommen. Denken nennt einen Weg und eine Bewegung, die den einzelnen ergreift und mit sich führt. Denken läßt zur Wahrheit hingelangen, die nicht dies oder jenes Wahre über Dinge betrifft, sondern die Ermöglichung jeder Einsicht und jeder wahren Aussage umschließt. 3*
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I. Erziehung als Hinführung zur Wahrheit
Es ist gewiß berechtigt, die Auffahrt zur Göttin und die neue Sicht des Ganzen mit den Einweihungsriten der Mysterien in Verbindung zu bringen. Die höchste Weihe ist die Schau, die Epoptie. So kann man den Vers leusse d'homos (B 4) — „schaue ...." als Einleitung zu diesem Höhepunkt ansehen. Z u Beginn des Teiles über die Doxa steht dann die dem neuen Bereich angemessene Aufforderung „manthane — lerne kennen" 11 . Jaeger betont, daß Parmenides mit seiner Philosophie sicher keine religiöse Sekte unterstützen wolle. Die religiöse Ausdrucksform w i r d in die philosophische Sphäre übertragen. Das Wissen, das Parmenides zuteil wird, verleiht die Gottheit. Jenem Wissen steht die Doxa der Sterblichen gegenüber 13 . Man w i r d aber doch darauf hinweisen müssen, daß solcher Bezug zum Religiösen zwar historisch gerechtfertigt ist, aber Gefahr läuft, aus dem philosophischen Gedankengang einen „Säkularisationsprozeß" zu machen. Das Einzigartige des Denkens geht dann verloren. Parmenides nimmt zwar Vorlagen und Formeln der religiösen Riten auf, aber zwingt durch seinen Gedankengang ins Denken, und entzieht so gerade der „Schau" und „Enthebung" bzw. Vollendung durch Mysterien und K u l t . Was hier sich abspielt, ist nicht Säkularisierung, sondern Enttheologisierung. Parmenides ist kein Theologe. Er möchte vielmehr zeigen, daß der einzelne sich dem Denken überlassen muß. A u f seinem Weg ist nicht ein „Mysterium des Seins" 14 zu erfahren, sondern der strenge und schlechthin klare Gedanke des Seins. A u f diesem Weg bleibt daher audi die menschliche Vollendung des einzelnen, das „ H e i l der Seele" gleichgültig. Das allein Wichtige liegt in der Erhebung zum Denken des Seins, in den Logos, der die Wahrheit des Seienden — und damit auch des Kosmos — gewährt. Solches Denken bringt auf einen Weg, der auch die Aletheia des Mythos erfahren läßt. Sie liegt nicht in einer neuen „Theologie". Man muß sich hüten, die Gedanken der frühen und klassischen griechischen Denker dadurch besonders gewichtig erscheinen zu lassen, daß man sie einer „Theologie" unterstellt. Das Neue ist der sich eröffnende Gedankengang, nicht die mühsame Auseinandersetzung mit den gängigen und gewohnten Vorstellungen der „Volksreligion". 12 Vgl. Georg Picht: Die Epiphanie der ewigen Gegenwart. In: Beiträge zu Philosophie und Wissenschaft. München 1960. S. 201—244, hier S. 230; ferner W. Jaeger: Theologie d. frühen griech. Denker. S. 114 f.; Martin P. Nilsson: Geschichte der griechischen Religion. 2. Aufl. München: Beck 1955/61. (Handbuch d. Altertumswiss. Abt. 5 T. 2.) Bd. I. S. 661 f. 15 G. Picht: a. a. O. S. 234. 14 Vgl. W. Jaeger a. a. O. S. 125; K. Deichgräber a. a. O. S. 41.
2. Das Denken des Seins bei Parmenides
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Parmenides hat uns, seinen Hörern und Lesern, über den Logos, den Gedanken des Seins, den er durch göttlichen Zuspruch erfährt, unterrichtet. Die umfassenden Fragmente, die auf uns gekommen sind, geben uns noch eine Vorstellung von dem Ausmaß des sog. Lehrgedichts. Haben w i r bisher den Weg zur Wahrheit kennengelernt, damit aber auch schon von ihr selbst gehört, ja uns in sie hineingefunden, so bringen die anschließenden Fragmente eine ausführliche „Lehre vom O N (Seienden)", um in einem abschließenden Teil die Welt der Doxa in ihrem Ursprung und ihrem Verhältnis zur Wahrheit darzustellen, soweit w i r das noch aus den Bruchstücken ersehen können. Die Sätze dieses Denkers sind nun keineswegs für uns verständlicher als die seines Zeitgenossen Heraklit. Das liegt nicht an Parmenides und Heraklit, sondern an dem geschichtlichen Abstand, der uns von beiden trennt, nicht zuletzt aber auch an dem bis dahin Unerhörten, das diese Männer auszusprechen wagten. Einige Grundgedanken müssen w i r auch in unserem Zusammenhang zur Sprache bringen, vor allem aber die Konsequenzen, die aus jenem Gedanken des Seins sich für die abendländische Bildungsgeschichte ergeben. Es sind vor allem die Enthebung des Seins aus allem Wandel und aus der Welt und die Suche nach dem Sein, nach Unwandelbarkeit und H a l t in aller Vergänglichkeit. Letztlich der Kampf um die Versicherung des Seins! Diese Konsequenzen haben die Späteren gezogen. Der Gedanke des Seins, wie ihn Parmenides ausdrücklich zu denken lehrt, hat nicht nur die Geschichte des Abendlandes durchherrscht, er hat auch alle Lehren vom Ziel der Menschwerdung bestimmt. Allerdings liegt das Eigentümliche darin, daß der vorsokratische Ansatz — eines Anaximander, Heraklit, Parmenides, Empedokles — nicht mehr eingehalten, sondern in einer für das Abendland entscheidenden Weise umgedacht wurde. „Parmenides eröffnet den Aeon der Ontologie", schreibt Eugen Fink, „eine mehr als zweitausend jährige Epoche, mit der elementaren Unterscheidung von Sein und Nichts, und er legt zugleich damit den Grund des ,Nihilismus', sofern von nun an das ,Sein* immer dem ,Nichts' entgegengesetzt, gegen es verteidigt und behauptet und so gerade ständig daran gekettet w i r d 1 5 . " — 15
Eugen Fink: Zur ontologischen Frühgeschichte von Raum-Zeit-Bewegung. Den Haag 1958. S. 53.
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I . Erziehung als Hinführung zur Wahrheit
„Seitdem ist ein ,Maß f aufgestellt, das sich vernichtend auswirkt für jegliches, das angibt, zu sein, — seitdem ist die Welt zerrissen in das ,Sein' und in das ,Nichtige', — seitdem sind Raum und Zeit und Bewegung abgewertet, — seitdem ist die abendländische Philosophie dualistisch 16 ." Hören w i r zunächst Parmenides! „Aber nur noch eine Wegkunde bleibt dann, daß es ist. A u f diesem sind gar viele Zeichen: weil ungeboren ist es (das Sein) auch unvergänglich, denn es ist ganz in seinem Bau und unerschütterlich sowie ohne Ziel (5) und es war nie und w i r d nie sein, weil es i m Jetzt zusammen vorhanden ist als Ganzes, Eines, Zusammenhängendes. Denn was für einen Ursprung willst du für dieses ausfindig machen? Wie, woher sein Heranwachsen? Auch nicht sein Heranwachsen aus dem Niditseienden werde ich dir gestatten auszusprechen und zu denken. Denn unaussprechbar und undenkbar ist, daß es nicht ist. Welche Notwendigkeit hätte es denn audi antreiben sollen, (10) später oder früher mit dem Nichts beginnend zu entstehen? So muß es also entweder ganz und gar sein oder überhaupt nicht. A u d i w i r d ja die Kraft der Überzeugung niemals einräumen, aus Nichtseiendem könnte irgend etwas anderes als eben dieses hervorgehen. U m dessen Willen hat weder zum Werden noch zum Vergehen die Rechtsgottheit (Dike) das Sein freigegeben, es in den Fesseln lockernd (15), sondern sie hält es fest. Die Entscheidung aber hierüber liegt in folgendem: es ist oder es ist nicht. Entschieden ist aber nun, wie notwendig, den einen Weg als undenkbar, unsagbar beiseite zu lassen (es ist ja nicht der wahre Weg), den anderen aber als bestehend und wirklich wahr zu betrachten. Wie könnte dann aber Seiendes zugrunde gehen, wie könnte es entstehen? (20) Denn entstand es, so ist es nicht und ebensowenig, wenn es erst in Zukunft einmal sein sollte. So ist das Entstehen verlöscht und verschollen das Vergehen. A u d i teilbar ist es nicht, weil es ganz gleichartig is:, U n d es gibt nicht etwa hier oder da ein stärkeres Sein, das seinen Zusammenhang hindern könnte, noch ein geringeres; es ist vielmehr ganz von Seiendem erfüllt (25). Darum ist es ganz zusammenhängend; denn Seiendes stößt dicht an Seiendes. Aber unbeweglich — unveränderlich liegt es in den Grenzen gewaltiger Bande ohne Ursprung, ohne Aufhören; denn Entstehen und Vergehen wurden weit in die Ferne verschlagen, es verstieß sie die wahre 16
a. a. O.
2. Das Denken des Seins bei Parmenides
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Uberzeugung; und als Dasselbe und in Demselben verharrend ruht es für sich (30) und so verharrt es standhaft an O r t und Stelle. Denn die machtvolle Notwendigkeit hält es in den Banden der Grenze, die es rings umzirkt, weil das Seiende nicht ohne Abschluß sein darf; denn es ist unbedürftig . . . Dasselbe ist Denken und der Gedanke, daß es ist (des seienden Seins); (35) denn nicht ohne das Seiende, in dem es als Ausgesprochenes ist, kannst du das Denken antreffen. Es ist ja nichts und w i r d nichts anderes sein außerhalb des Seienden, da es ja die Moira (das Geschick) daran gebunden hat, ein Ganzes und unbeweglich zu sein. Darum w i r d alles Name sein, was die Sterblichen festgesetzt haben, überzeugt, es sei wahr: (40) Werden sowohl als Vergehen, Sein sowohl als Nichtsein, Verändern des Ortes und Wechseln der leuchtenden Farbe. Aber da eine letzte Grenze vorhanden, so ist es vollendet von (und nach) allen Seiten, einer wohlgerundeten Kugel Masse vergleichbar, von der Mitte her überall gleichgewichtig. Es darf ja nicht da und dort etwas größer (45) oder etwas schwächer sein. Denn es ist weder Nichtseiendes, das es hindern könnte, zum Gleichmäßigen zu gelangen, noch könnte Seiendes irgendwie hier mehr, dort weniger anwesend sein als Seiendes, da es ganz unversehrt ist. Sich selbst nämlich ist es von allen Seiten her gleich, gleichmäßig begegnet es seinen Grenzen." (Frg. B 8) 17 Parmenides hat durch diese Sätze den Gedanken des Seins in das abendländische Denken eingeführt, der bis auf den heutigen Tag unser Denken und Vorstellen maßgeblich leitet. Das Sein, von dem hier die Rede ist, w i r d gekennzeichnet durch seine Negativität, die zugleich Abwehr bedeutet. Die Kinesis, die Bewegung, den Wandel schließt der Gedankengang vom Sein aus. Die Kinesis, die Bewegung, Entstehen und Vergehen zu denken, ist ausgeschlossen, denn in ihr müßte das Nichtsein gedacht werden, das Beginnen und das Enden, die Teilbarkeit und die Vielheit der Dinge, in der eins das andere nicht ist. Die Kinesis ist nicht zu denken oder denkbar zu machen, sie ist nur anzuschauen. Was allein zu denken bleibt, das liegt im Gedanken des Seins beschlossen. Der Wandel bleibt immer vom Denken ausgeschlossen. Wer ins Denken eintritt, w i r d in den Gedanken des „ I s t " erhoben. Parmenides belehrte uns: Das Denken des Seins liegt in der einfachen Aussage des „ I s t " . Nicht w i r d damit gesagt, „das Sein" sei Baum oder Holz, Wasser oder Feuer, Mensch oder Tier, sondern der Baum, das 17
Nach H. Diels: Fragmente der Vorsokratiker.
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Wasser, der Mensch ist. Sein besagt keine Allsubstanz, die in allem in Erscheinung tritt, ohne in einem aufzugehen, nicht das eine Seiende, das zu dem A l l der Erscheinungen emaniert oder evolutioniert; nicht den Schöpfergott des Alls, nicht den Demiurgen des Kosmos. Sein nennt nicht das große X hinter allem Seienden, hinter der Welt und allen Dingen. Das „ I s t " , das von allem ausgesagt wird, so daß darin das Seiende als Seiendes angesprochen wird, kommt allem gleichermaßen zu. Es wandelt sich in keinem ab, denn es läßt sich weder mit Baum oder Mensch oder Ding identifizieren. Das „ I s t " bleibt sich gleich zu aller Zeit. Es kann nicht in einem höheren oder geringeren Grad dem Seienden zugesprochen werden: etwas ist oder es ist nicht. Es entsteht auch nicht, so sehr „Seiendes" entstehen mag. Dieses Entstehen ist oder ist nicht; tertium non datur. Es kann auch nicht geteilt werden. Jedes Seiende ist. Dieses „ I s t " hat weder Grade noch Teile, so daß Sein nur teilweise wäre. Die Teile des Seienden können sein oder nicht sein; Seiendes kann teilweise sein wie nicht sein. Aber eben diese Teile sind oder sind nicht; ein Drittes ist ausgeschlossen. Sein bleibt so immer ganz. Es hat sich nicht wie eine Allsubstanz unerschöpflich an seine Schöpfungen ausgeteilt. I n jedem Seienden muß es als das eine Sein, als ganz und ungeteilt, als vollendet ausgesprochen werden. A n jedem Seienden macht es dessen Sein aus, von dem keine Vielheit sich aussagen läßt. Sein kann auch nicht entstehen oder vergehen. Das Seiende ist in den Wandel hineingegeben, nicht das Sein; denn der Wandel ist oder ist nicht. So bleibt Sein von allem, von dem es ausgesagt wird, letztlich unberührt. Unversehrt bleibt es es selbst, verharrt es unbeweglich als es selbst. Es kann einer unbegrenzten Zahl von Seiendem angehören, es selbst bleibt unverändert eins, abgeschlossen, vollendet; es kann nicht bereichert noch verringert werden. So ist es nach allen Seiten umgrenzt, weil ganz. Sein bleibt daher nur an sich selbst gebunden, von sich selbst kann es nicht lassen — von allem Seienden aber bleibt es entbunden, wie dieses absolut an es gebunden w i r d ; denn nur in diesem „ I s t " kommt Seiendes zustande. Sein w i r d daher allein ausgesagt, obwohl es gerade das Unsagbare ausmacht; denn immer kann das Sein ja nur von einem Seienden, das so und so beschaffen ist, ausgesagt werden. N u r im Denken des „ I s t " werden alle Namen Nennungen, die Sein zu sagen ermöglichen. Sagen w i r : Der Baum ist eine Pflanze, so liegt im „ I s t " das Gedachte, in Baum und Pflanze das Angeschaute, Wahrgenommene. Baum und Pflanze können nie gedacht werden. Fragen wir, was Pflanze sei, so sagen
2. Das Denken des Seins bei Parmenides
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w i r erneut ein „ I s t " aus: Die Pflanze ist ein Lebewesen. N u r das „ I s t " w i r d gedacht. Alles zeigt sich so als ein einziger großer Verweisungszusammenhang des Seins; alles Seiende umkreist Sein als sein eigenes „ N i c h t " , durch das es doch sich selbst gewährt wird. Alles ist, und dodi macht dieses A l l nicht Sein aus. N u r deshalb kann Sein allem zukommen, in jedem ganz es selbst bleiben. Außerhalb des Seins liegt das Nichtsein, das undenkbar bleibt. I m übrigen hat damit Parmenides auch das „Prinzip der Anschaulichkeit" ins Denken eingeführt. Denken des Seins bleibt auf die Anschauung verwiesen als auf das Seiende in seiner Fülle, Unterschiedenheit, Wandelbarkeit, Übergängigkeit. Es kann nur den Wandel selbst als Sein des Seienden denken, als das Unwandelbare, Unveränderliche. Das Sich-wandelnde, das Entstehende, Ubergehende kann es nur in seinen Aussagen nennen, bezeichnen und zuordnen. Für Parmenides hat Sein von Seiendem überhaupt keine Erstreckung in der Zeit: „niemals war es, niemals w i r d es sein". I m Gedanken des Seins w i r d gedacht, worin alles und jedes als Seiendes zum Vorschein kommt. I n diesem Licht und am Gegensatz kann erst der Wandel in seiner Zeitlichkeit bedacht werden 18 . Sein w i r d erst von der Zeitlichkeit her in seinem A-privativum erreicht: als Unwandelbarkeit, als UnVergänglichkeit. Sein schließt jede Zeitlichkeit von sich aus. Der Wandel also, das darf man nicht vergessen, bleibt die unaufhebbare Voraussetzung, um zum Gedanken des Seins hinzufinden, denn nur von jenem her w i r d dieser in der negierenden Differenz denkbar. U n d umgekehrt bleibt der Gedanke des Seins das Licht, in dessen Denken das Werdende und sich Wandelnde offenbar sind. Darin taucht eine tiefste Paradoxie dieses Denkens auf: Es denkt das Sein in der Negation des Entstehens und Vergehens, des Wandels, also durch ein „ N i c h t " hindurch, dessen Denkbarkeit aber gerade ausgeschlossen wird. Nicht und Negation werden vorausgesetzt, um überhaupt „Sein" denken und aussagen zu können. Nach allem, was w i r hörten, geht Denken nur dann vor sich, wenn es auf das einai, auf Sein, angewiesen und in es eingewiesen bleibt. Noein, Denken, ist keineswegs dadurch Denken, daß es als eine nicht-stoffliche Tätigkeit der Seele abläuft. Noem und einai gehören zusammen. Ge18
Vel. G. Picht: a. a. O. S. 225/229.
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I. Erziehung als Hinführung zur Wahrheit
dacht w i r d nur dort und dann, wo und wann das Sein des Seienden in acht genommen wird 1 9 . Sein und Denken zeigen sich im Denken als dasselbe, als die Zweiseitigkeit desselben. N u r dort, wo gedacht wird, kommt Sein zum Vorschein, w i r d es aussagbar und erfahrbar. N u r dort, wo Sein erfahren w i r d und in seinem Licht alles erscheint, w i r d gedacht20. Die identifizierende Zusammengehörigkeit von Denken und Sein mag auf folgende Weise noch einmal bedacht werden: Wenn Sein von allen Dingen und Wesen unterschieden werden muß, so daß es niemals mit ihnen identisch wird, so kann Sein nicht in der gleichen Weise offenbar und einsichtig werden wie diese. I n Wahrnehmung und Anschauung werden sie offenkundig. Also kann Sein niemals wahrgenommen oder angeschaut werden. Seine einzigartige Offenbarkeit muß sich anders ereignen, nämlich als Denken. Jene Differenz setzt diese Zusammengehörigkeit in Kraft. Wenn Seiendes ist, wenn von Sein aber niemals ausgesagt werden kann, daß es als Seiendes ist oder wie ein „ D i n g " ist, so kann es auch nicht unter Seiendem öder neben ihm zum Vorschein kommen oder gar „bestehen". Es kann aber sehr wohl ein einzigartiges Ereignis eintreten, in dem Sein zum Vorschein kommt und gegenüber dem Seienden freigesetzt wird, aber nicht als ein Geschehnis zwischen Seiendem, als ein Vorgang unter Seiendem. Dieses Ereignis muß sich von allen Verhältnissen, Vorgängen und Zuständen unter Seiendem abheben und darf selbst kein Seiendes sein. Dieses Ereignis ergreift uns und ruft uns hervor: W i r nennen es Denken. Denken unterscheidet sich also von Wahrnehmung, Vorstellung, Phantasie, Gefühl, Empfindung dadurch, daß in ihm, und nur in ihm, die Differenz von Sein und Seiendem und damit Sein selbst ans Licht tritt. Da w i r aber zunächst und zumeist in Wahrnehmung und Vorstellung leben, also dem Seienden zugewendet sind, so vergessen w i r darüber jene Differenz, die uns erst Seiendes i n seiner Anwesenheit zu Gesicht kommen läßt. — Daher warnt Parmenides vor den „Sinnen". —• Denken und Sein ereignen sich also in einem: als die Offenbarkeit des Seins in der Differenz zu allem, was ist. Denken das Ereignis dieser Differenz! 19
Vgl. M. Heidegger: Was heißt Denken? Tübingen 1954. S. 146 ff.
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Vgl. M. Heidegger: Identität und Differenz. Pfullingen 1957. S. 18 ff.
2. Das Denken des Seins bei Parmenides
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Das den Menschen Auszeichnende beruht darin, daß er als Denkender offen für dieses Ereignis w i r d und ihm entsprechen kann. Ist der Mensch als Denkender er selbst, sind Denken und Sein ein Ereignis, so gehören Mensch und Sein zueinander. Nicht als sei zunächst der Mensch „da", um dann in einer besonderen Zuwendung unter anderem sich dem „Sein" zu verbinden, sondern er t r i t t selbst nur als Mensch hervor, wenn durch ihn das Ereignis des „Seinsdenkens" eintritt. Vordem ist der Mensch in strengem Sinn nicht da, kommt er nicht zum Vorschein 21 . So könnte man Parmenides' Auffahrt zur Göttin auf eine kurze Formel bringen: Erfahrung machen w i r nur denkend; und nur im Denken erfahren wir, was es heißt: zu sein, — im besonderen: ein Mensch zu sein. Parmenides' Gedankengang hat nicht nur die abendländische Ontologie vorbereitet, sondern auch die auf dieser Grundlage erstehende Ethik und Pädagogik. Ja, man muß schon an dieser Stelle den von fern sich meldenden Dualismus der Ethik selbst erkennen. Nicht nur der die Ethik aufbauende Gegensatz von Sinnlich-Vergänglichem und Unsinnlich-Überzeitlichem ist unter diesem Dualismus zu verstehen, sondern der durch die Ethik selbst ins Ganze des Seienden hineingebrachte Hiatus. Die Spannung von Sein und Seiendem, Sein und Nichtsein, Sein und Vergänglichem wandelt sich zu dem Gegenüber von Sein und Sollen. Dabei versteht man aber nun gerade unter „Sein" das erfahrbare, feststellbare Seiende, die sog. faktische Wirklichkeit, unter dem „Sollen" eben jene Charakteristika des parmenideischen „Seins". Jene Wirklichkeit bleibt hinter diesem Sein zurück; dieses t r i t t jener gegenüber als Vorbild und Forderung auf. Aus dem Gedanken des Seins w i r d eine Welt des jenseitigen Seienden, der „Ideen*, der ewigen Normen, der Gedanken Gottes; in der Moderne erneuert diese Tradition noch einmal die Lehre vom Wertreich. Durch diesen Dualismus w i r d die Welt als das Ganze der raum-zeitlichen Bewegtheit von Dingen und Wesen heillos; nur durch die Verbindung zu dem wie immer vorgestellten Jenseits und die „Verwirklichung" seiner „Gehalte" in der Welt des Vergänglichen kann sie ihrem H e i l zugeführt werden. I n all dem ist vom ursprünglichen Gedankengang nichts mehr zu erkennen, obwohl ohne ihn jene Endgestalt gar nicht zu erreichen war. 21
M. Heidegger: a. a. O. S. 22 ff., ferner G. Picht a. a. O. S. 237 f., 243 f.; Eberhard Jüngel: Zum Ursprung der Analogie bei Parmenides und Heraklit. Berlin 1964, S. 57. Vor allem zum Folgenden Karl-Heinz Volkmann-Sdiluck: Einführung in das philosophische Denken. Frankfurt: Klostermann 1965.
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I. Erziehung als Hinführung zur Wahrheit
So sehr die parmenideische Ontologie für die Geschichte des Abendlandes grundlegend werden sollte, so darf man die eben angedeutete geheime Verschiebung innerhalb des „Seinsdenkens" nicht unbeachtet lassen, die Parmenides zwar schon befürchtet hatte — wie auch schon sein Zeitgenosse Heraklit — aber doch noch nicht innerhalb seines Gedankengangs verfolgen konnte. Seine „Drei-Wege-Theorie" gibt allerdings Hinweise. Hatten die Aussagen des Parmenides dem Sein des Seienden gegolten, so suchen die Späteren immer eindringlicher das Seiende in seinem Sein. Die parmenideische Prädikation verschiebt sich vom Sein auf das Seiende. Von nun an sucht das denkende Abendland nach dem, was ist, und damit nach dem, was war und bleibt, dem t i en einai, wie es Aristoteles treffend formulierte. Nicht mehr von Sein ist die Rede, sondern von Seiendem, das in strengem Sinn ist. Während in der konsequenten Fortführung der Gedankengänge eines Heraklit und Parmenides alles, was ist, nicht das Sein ausmacht und nur in zeitlicher Weise, in der Weise der Zeit, dem Sein zugehört, sucht man später Seiendes zu erkennen, das dem Wandel entzogen ist. Die Differenz von Sein und Seiendem w i r d also zugunsten einer Identifikation aufgehoben. Demokrit findet solches Seiende in den Atomen und dem Leeren, Piaton in den Ideen, Aristoteles in den Formen und dem Stoff, der Neuplatonismus in „dem Einen", das religiöse Denken in Gott. Bis zur Lehre vom „ D i n g an sich" und dem Geist, der Substanz und Subjekt in einem ist, erstreckt sich diese gedankliche Verschiebung. Die Lehre von den „ewigen Werten" ist ebenso ein später Nachkömmling wie die Metaphysik von Kraft und Stoff, von Seele und Körper. Denken gehört schließlich nicht mehr dem Sein als das Ereignis seiner unvergleichlichen Freistellung an, sondern einem Seienden, genannt Mensch, dessen Besitz, Vermögen und Leistung es ausmacht. Denken w i r d instrumental: Es dient der Bemächtigung von Seiendem, von dem her die über das Denken verfügenden Menschen sich Sein feu erringen hoffen. Verborgen und vergessen waltet in der Angst und Sorge inmitten des Seienden jenes Denken des Seins weiter, nämlich dem Wandel sich zu entziehen zur Unvergänglichkeit und Ewigkeit, zu sein und nicht nicht zu sein.
3. Das Ermessenlernen bei Protagoras
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3. Das Ermessenlernen bei Protagoras M i t der Sophistik kommt eine neue Wendung unseres bisher verfolgten Gedankengangs auf 22 . Eine Linie beginnt sich innerhalb der Pädagogik abzuzeichnen, die bis auf unsere Tage führt, ja vielleicht erst heute in ihrer Bedeutung und ihrem Ausmaß gewürdigt werden kann. W i r können heute die Sophisten nicht mehr allein im Licht sokratisch-platonischer K r i t i k sehen, sondern erkennen in ihren Aussagen eine eigene durchdachte, sehr ernst zu nehmende Konzeption. Ihre Bedeutung liegt nicht darin, die Rhetorik in den Mittelpunkt der Erziehung gerückt oder politisch unhaltbare Theorien aufgestellt zu haben. Sie sind audi nicht als die ersten abschreckenden Beispiele eines Relativismus und Skeptizismus beachtenswert. Sie entdeckten vielmehr das Denken als ein seines eigenen Maßes nie gewisses, nie versichertes Ermessen, das gerade so und nur so der Wahrheit zugehört, der Aussage des Seins und Nichtseins. Zwischen Piaton und Protagoras bewegt sich bis auf den heutigen Tag die Pädagogik. Der erregendste Satz wurde sicher die Homo-mensura-These des Protagoras, wie w i r sie bei Piaton (im „Theätet") lesen: „(Sokrates und Theätet im Gespräch) Sokrates: D u scheinst mir keine schlechte Meinung vom Wesen des Wissens geäußert zu haben, sondern dieselbe, die Protagoras vorzutragen pflegte. N u r , daß er in anderer Form ganz dieselbe Ansicht vorgetragen hat. Denn irgendwo sagt er: ,Der Mensch sei das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind/ D u hast das doch gelesen? Theätet: Ja und gar oft. Sokr.: Meint er das also nicht folgendermaßen: So, wie jedes einzelne D i n g mir erscheint, so ist es auch für mich, und wie es dir erscheint, so ist es auch für dich? Ein Mensch bist du doch so gut wie ich? . . . Kommt es nicht zuweilen vor, daß beim Wehen ein und desselben Windes der eine von uns friert, der andere nicht? U n d der eine kaum merklich, der andere aber sehr? Th.: Gewiß. Sokr.: Wollen w i r nun behaupten, daß dann der W i n d an sich selbst kalt oder nicht kalt sei, oder sollen w i r dem Protagoras glauben, daß er für den Frierenden kalt, für den anderen aber nicht kalt sei? — Th.: Kann sein. — Sokr.: So scheint es doch auch jedem von beiden? — Ja. — Das Wort ,scheint' bedeutet aber doch: der Betreffende hat den Sinneseindruck? — Allerdings — Sokr.: Es sind also Vorstellung und Sinneseindruck ein und dasselbe bei Wärmeempfindungen und allem derart. 22 Zur Sophistik vgl. H.-I. Marrou: Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum. Hrsg. v. Richard Harder. Freiburg/München 1957. S. 75 ff.
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I. Erziehung als Hinführung zur Wahrheit
Denn so wie ein jeder ein Ding wahrnimmt, gerade so scheint es auch für jeden zu sein 23 ." U n d w i r können fortfahren: bedeutet diese These nicht die Überantwortung jedes Maßes an den einzelnen Menschen? Besagt diese These nicht die Souveränitätserklärung des Individuums? Aber auch an den Platonischen Text läßt sich die Rückfrage stellen, ob diese Deutung durch Sokrates die einzig zutreffende ist. I m Laufe der Zeiten, die sich immer wieder dem Satz des Protagoras zuwandten, hat sich eine A r t Interpretationsklimax der Homo-mensura-These herausgestellt, die w i r wenigstens in einigen Grundzügen verfolgen müssen. Die naheliegende Auffassung spricht dann von einer Relativitätsthese. Das Seiende ist daseins- und soseinsrelativ auf den Menschen. Die Dinge erscheinen nicht nur dem einen so, dem anderen so, vielmehr ist auch ihr Dasein vom Menschen abhängig, von seiner Zuwendung, von der Beachtung, die er einer Sache schenkt. Alles, was nicht beachtet und dergestalt ans Licht gezogen wird, letztlich durch Wahrnehmung und Untersuchung, ist nicht für den Menschen, bleibt im Dunkel der Abwesenheit. Was hervortritt und wie es zum Vorschein kommt, das hängt vom Menschen ab, der sich um die Dinge kümmert und sie vornimmt 2 4 . Diese Auffassung läßt sich zu einer Subjektivitätsthese zuspitzen. I n ihr w i r d alles Seiende zu subjektiver Erscheinung. Durch die Sinnlichkeit, deren Inhalten der Verstand nachträglich nur Abstraktionen entnehmen kann, hat es der Mensch immer nur mit den Verhüllungen des Seienden selbst zu tun, mit Erscheinungen. Sie wandeln sich obendrein von Mensch zu Mensch, und so kann man nur gewisse Abstraktionen nachträglich durch Konvention für allgemeinverbindlich erklären. Eine Entscheidung über Wahrheit und Unwahrheit ist dann gar nicht mehr möglich, da alles an die Subjektivität nicht nur des Menschen überhaupt, sondern der Menschen ausgeliefert wird. Die Konvention w i r d sich daher nach ihrer eigenen Nützlichkeit für die Erhaltung und Herrschaft der Menschen bzw. einer Gruppe zu richten haben. Man kann diese radikale Konsequenz aber auch vermeiden, nämlich durch eine Wendung, die einmal als Aspektivitätsthese bezeichnet sei25. 23
Nach Wilhelm Capelle, a. a. O. S. 327, Nr. 9; vgl. Walter Bröcker: Piatos Gespräche. Frankfurt: Klostermann 1964. S. 34 ff., S. 344 ff. 24 Vgl. Alexander Rüstow: Ortsbestimmung der Gegenwart. ErlenbachZürich 1952. Bd. I. S. 114. 25 Vgl. Heinrich Gömperz: Sophistik und Rhetorik. Leipzig u. Berlin 1912:
3. Das Ermessenlernen bei Protagoras
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Das Seiende zeigt sich in immer wieder anderen Aspekten in seinem A n sichsein nach Maßgabe von Standpunkt, Einstellung und Reife des Erkennenden. So liegt das Maß bei jedem einzelnen, wie er sich diese Aspekte eröffnet. Die Wahrheit aber w i r d dann durch Synthese der Aspekte und ihre gegenseitige Korrektur zu gewinnen sein, wobei Standpunkt und Vorbildung als Voraussetzungen zu berücksichtigen sind. W i r d diese Deutung der Protagoreischen These voll gerecht? Ist hier nicht doch der Mensch ausdrücklich zum Herrn aller Dinge eingesetzt? Muß man in jener These nicht viel eher eine Konstruktivitätsthese vor sich sehen? Sie besagt: den Dingen und Wesen w i r d ihr Sosein und Dasein zugewiesen, „konstruiert" nach Maßgabe der Ermächtigung des Menschen, also nach dem Ausmaß, das seine Verfügung über die Dinge annimmt. Ausmaß und Herstellbarkeit bestimmen sich dabei wechselweise. Je mehr Dinge ein Mensch sich gefügig zu machen weiß, um so maßgeblicher w i r d er für alle anderen. U n d je maßgeblicher er wird, desto mehr Dinge und Menschen werden in seine Botmäßigkeit geraten. — I m übrigen ein Phänomen des alltäglichen Lebens! — Das Maß bestimmt der Mensch, nicht eine Instanz außer ihm. — Ja, man muß noch einen Schritt weitergehen. Die Dinge bedürfen solcher Maßgabe, sie müssen allererst aus dem Maßlosen in Maß und Grenzen freigestellt werden. Die Welt ist auf den Menschen als Ermessenden angewiesen. D a er aber das Maß nirgends finden kann, so muß er es erfinden, von sich aus setzen. Er muß der Konstrukteur der Welt werden, sonst ginge sie an der eigenen Maßlosigkeit zugrunde. Diese These hat etwas für sich; aber sollte Protagoras in solchen Gedankengängen sich bewegt haben, wie sie diese Deutungen wagen? Diese Deutungen können auch nicht befriedigen, wenn w i r an die Einsicht der bisher herangezogenen Philosophen zurückdenken, die den Sophisten durchaus bekannt war. Welche der aufgeführten Thesen konnte ein Denker des 5. Jahrhunderts vertreten? Die Subjektivitätsthese und die Aspektivitätsthese sind neuzeitlicher A r t . Sie setzen schon die gedankliche Wende der Neuzeit voraus. „Jeder Subjektivismus ist in der griechischen Sophistik unmöglich, weil hier der Mensch nie Subjectum sein kann; er kann dies nicht werden, weil das Sein hier Anwesen und die Wahrheit U n verborgenheit ist 2 6 ." ferner Joh. Mewaldt: Kulturkampf der Sophisten. Tübingen: Mohr 1928; Alfred Neumann: Die Problematik des Homo-mensura-Satzes. Class. Philology 33 (1938). S. 368—379. 26
M. Heidegger: Holzwege. 2. Aufl. Frankfurt 1952. S. 96 f.
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Für Protagoras bleibt das Seiende auf den Menschen bezogen. U n d zwar auf den einzelnen hier und jetzt. Das aber besagt doch zunächst nur folgendes: Jeder Mensch steht und bewegt sich in einem Umkreis von D i n gen und Wesen, die unverborgen, sichtbar und faßbar, ihn umgeben. Alles, was in diesem Umkreis vorliegt oder in ihn eintritt, vernimmt er als anwesend, als seiend. Innerhalb des hellen Umkreises der Unverborgenheit verweilt der Mensch bei dem Anwesenden. So gehört der Mensch schon immer solchem Umkreis von Anwesendem zu, der doch in jedem Menschen seinen jeweiligen Mittelpunkt hat. Was in diesen Umkreis nicht eintritt, bleibt als das Abwesende ausgegrenzt. Aus dieser Grenze empfängt der Mensch das Maß für das, was an- und abwest. Er muß dieses Maß auch wahren. Nicht von einer abgesonderten Ichheit her setzt er das Maß, dem sich dann alles Seiende in seinem Sein zu fügen hätte. Der griechische Mensch ist Maß, insofern er die Mäßigung auf seinen beschränkten Umkreis der Unverborgenheit übernimmt und somit die Verborgenheit von Seiendem und die Unentscheidbarkeit über dessen Anwesen oder Abwesen, desgleichen über das Aussehen des Wesenden anerkennt. Daher sagt Protagoras: „Uber die Götter freilich etwas zu wissen (d. h. griechisch: etwas zu ,Gesicht' zu bekommen) bin ich nicht imstande, weder daß sie sind, noch wie sie sind in ihrem Aussehen." „Vielerlei nämlich ist, was daran hindert, das Seiende als ein solches zu vernehmen: sowohl die Nichtoffenbarkeit (Verborgenheit) des Seienden als auch die Kürze des Geschichtsganges des Menschen2®*." Die Heideggersche „Beschränkungsthese" als Sinn der Protagoreischen Lehre führt uns wieder in den Kreis des griechischen Denkens zurück. Der Mensch w i r d hier nicht als Souverän des Seins gedacht, sondern in seiner ihm zugewiesenen Position gesehen, die allerdings ihn in seinem Denken und Sprechen Maß werden läßt. Wenn der Mensch sich auf einen Umkreis von Anwesendem beschränkt findet, so gewährt also seine menschliche Position das Maß für all das, was ihm zugänglich und einsichtig werden kann. Umgekehrt bietet jeder Mensch den Dingen ihr Maß für ein jeweiliges Anwesen und Abwesen. Was nicht in den Kreis meines Denkens und Sagens gelangt, bleibt abwesend, so sehr es in dem Umkreis eines anderen anwesen kann. Jede Aussage muß also dieses Maßes eingedenk bleiben, soll sie nicht maßlos werden. Ubersetzung nach M. Heidegger, a. a. O.
3. Das Ermessenlernen bei Protagoras
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Sollte aber nicht noch ein weiterführender Gedanke in Protagoras' Satz enthalten sein, zumal wenn man an die ethisch-pädagogischen Konsequenzen denkt? Der Mensch ist das Maß aller Dinge, kann ja sehr schlicht besagen: allein durch den Menschen werden die Dinge ermessen. Maß kommt den Dingen erst durch den Menschen zu. Das besagt aber jetzt weder Relativität, noch Subjektivität, noch Souveränität. Es überantwortet keineswegs Dinge und Menschen der W i l l k ü r des einzelnen. Es macht den Menschen audi nicht zum maßgeblichen Ziel des Kosmos, von dem alles andere sein Maß empfinge. Es besagt vielmehr: der Mensch ist nur dann Mensch, wenn er Maß der Dinge zu sein in der Lage ist. Jene oben aufgestellten Thesen setzen ja immer schon den Menschen als ein psychophysisches Wesen voraus. Sie gehen vom Menschen im Sinne unseres alltäglichen Verständnisses aus, also von einem bestimmten Seienden unter anderen, und wundern sich, wie eine solche Anmaßung gelehrt werden könne, nämlich daß ein Seiendes für alle anderen das Maß abgeben dürfe. Der Mensch ist Maß von allem — dieser Satz nennt vielleicht gar nicht ein denkendes Lebewesen als Maß alles Seienden, sondern nennt den Menschen Maß aller Dinge. Was ihn zum Menschen macht, ist nicht der „Besitz" des Denkens, nicht die Kunst der gesellschaftlichen Lebensgestaltung, die ihn vor allen anderen Lebewesen auszeichnet; vielmehr liegt es darin, daß er allen Dingen Maß werden darf. Nicht ein Mensch steht allem anderen gegenüber und bestimmt alles nach W i l l k ü r . Maß ist nur dann Maß, wenn es nicht abhängt vom jeweiligen Belieben, sondern wenn es die Dinge in Wahrheit ermißt, sie also in die ihnen gemäßen Maße freigibt. Der Mensch macht dergestalt die Unverborgenheit des Maßes aus. Der Mensch sagt den Dingen ihr Maß. N u r durch ihn, sein Denken, Reden, Handeln w i r d das Maß aller Dinge offenkundig. Oder noch schärfer ausgedrückt: Das, was ein jedes ist, w i r d als Maß offenbar; auch das A n wesen und Abwesen in seiner Zugemessenheit, als Weile, als Zeitraum. Die Dinge in Maßen an- und abwesen zu lassen, das macht den Menschen selbst aus. Dieses „Lassen" hat nichts mit Subjektivität zu tun, sondern mit dem Vernehmen des Logos, des Verhältnisses und der Einigkeit des Ganzen. Der Mensch ist als das Wesen des Maßes, indem er alles auf das Sein bzw. Nichtsein hin ermißt. I n ihm w i r d offenbar, was in Wahrheit ist, was nicht. Damit haben w i r nicht nur die Verbindung zu Parmenides und Heraklit, sondern auch einen Ansatz, um den Vorrang der Rhetorik bei den Sophisten herzuleiten. Logos als Rede, als Ausspruch, geschieht als ein Ermessen des Seienden auf das Sein hin. Es stellt alles in das Seine, also in die dem jeweiligen Seienden angemessenen Grenzen. Das Maß liegt 4 Ballanff
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I . Erziehung als Hinführung zur Wahrheit
nicht einfach offen zutage, nicht ist jedem sein Maß an die Stirn geschrieben. Hier bedarf es des Menschen, der im bedachten Wort das verborgene Maß sich enthüllen und ihm gemäß die Dinge hervortreten und vorliegen läßt. Der Mensch hat dem Seienden das Maß zu nennen und zu wahren. Der Mensch aber ist dem Logos zugehörig. I n jeder seiner Reden w i r d er auf die Probe gestellt, ob er Seiendes zu ermessen in der Lage ist oder ob er sich vermessen zeigt. U m das Ermessen kommt er nicht herum, sofern er Mensch sein möchte. Alles Ermessen muß Seiendes in Grenzen einweisen, indem es jedes in seine Gegensätze versammelt und durch sie begrenzt. Alles Ermessen geht von der Verborgenheit des Maßes aus und sucht das Maß ins Licht des Gedankens zu erheben. Anwesen kann überhaupt nur das Ermessene, das Maßvolle. Daher auch die ständige Uberholbarkeit einer bisherigen Maßgabe. Die Fülle des Seienden eröffnet sich in seiner ständig überholbaren und gegensätzlichen, widerspruchsvollen Aussprechbarkeit. So mag man den Grundgedanken der Sophistik in dem Ermessenlernen des Seins sehen, wodurch gerade jeder einzelne in seinem Umkreis Maß zu werden aufgefordert ist. Die Rhetorik stellt das Seiende im Ganzen vor Augen, sie läßt es in Welt zu Gesicht kommen, sie ermißt das Seiende und läßt es in seinen Maßen vernehmlich werden. Die Technik dieser Maßgeblichkeit w i r d die Antilogik und Eristik. Das Maß einer Sache liegt nicht handgreiflich vor Augen. Es muß erst gefunden werden in einem vorsichtigen Abwägen ihrer Hinsichten, ihrer positiven wie negativen Seiten, die, je nach Sicht und Zusammenhang, in ihr Gegenteil umschlagen können. Dieses Erwägen geschieht in der Auseinandersetzung mit Widerspruch und Einwand. U n d der Mensch gelangt um so mehr in seine Menschlichkeit, je mehr er das Ermessen in Antilogik bzw. Eristik lernt. „Protagoras hat zuerst behauptet, es gäbe von jeder Sache zwei Standpunkte, die einander gegenüberständen. A u f Grund dieser Standpunkte richtete er audi Fragen (an seine Hörer), ein Verfahren, das er zuerst aufgebracht hat 2 7 ." „Eudoxos überliefert von Protagoras, daß er die schwächere Sache zur stärkeren gemacht und seine Schüler gelehrt habe, dieselbe Person zu tadeln und zu loben 28 ." 27 28
Nach W. Capelle: a. a. O. S. 325, Nr. 4. a. a. O. Nr. 3.
3. Das Ermessenlernen bei Protagoras
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„Die Griechen behaupten nach dem Vorgang des Protagoras, daß jeder Behauptung eine andere gegenüberstände29." Die Sophisten haben sicher ihre pädagogischen Folgerungen, die sie aus ihren Grundgedanken zogen, mehr als einmal ausgesprochen. I n der Überlieferung klingen noch ihre Reden nach, wenn w i r etwa bei Piaton lesen: „Ich behaupte also, daß es mit der Wahrheit so steht, wie ich es geschrieben habe: daß nämlich ein jeder von uns Maßstab des Seienden und des Nichtseienden ist; daß sich aber der eine vom anderen tausendfach eben darin unterscheidet, daß dem einen die Dinge anders erscheinen und sind als dem anderen. U n d ich bin weit davon entfernt zu leugnen, daß es Weisheit und weise Männer gäbe, vielmehr nenne ich auch eben denjenigen weise, der einem von uns, dem etwas schlimm erscheint und ist, dadurch daß er ihn umstimmt, dies als gut erscheinen und sein läßt . . . Doch glaube ich, daß ein Mensch mit guter Seelenverfassung bewirkt, daß jemand, der infolge seiner schlechten Seelenverfassung dementsprechende Vorstellungen hat, (anstatt dieser) gute bekommt, die eben manche infolge ihrer Unwissenheit für ,wahr' erklären. Ich dagegen nenne zwar die einen besser als die anderen, wahrer aber keine. U n d die Weisen . . . in Sachen des menschlichen Körpers nenne ich Ärzte; dagegen solche in der Pflanzenkunde Landwirte. Denn ich behaupte, daß auch diese letzteren den Pflanzen anstatt schlechter Sinnesempfindungen, wenn etwas an ihnen krank ist, gute und gesunde und somit ,wahre' Sinnesempfindungen verursachen, daß aber die weisen und guten Redner bewirken, daß den Staaten das Gute anstatt des Schlechten gerecht zu sein scheint. Denn was einem jeden Staat gerecht und gut zu sein scheint, das — so meine ich — ist es auch für ihn, solange er es dafür hält. Der Weise aber läßt anstatt der Dinge, die für den Menschen schädlich sind, ihnen diese als etwas Gutes erscheinen und sein. U n d aus eben diesem Grunde ist auch der ,Sophist', der die Fähigkeit besitzt, seine Schüler in diesem Sinne zu erziehen, weise und verdient in den Augen der von ihm Erzogenen eine hohe Bezahlung. U n d in diesem Sinne sind die einen weiser als die anderen, aber niemand hat eine falsche Meinung, und auch du — du magst wollen oder nicht — mußt es dir gefallen lassen, Maß zu sein. Denn auf Grund dieser Ausführungen behält diese Lehre ihre Gültigkeit 3 0 ." Zwischen Ermessen und Ermessen gibt es also große Unterschiede. Das ist nur konsequent. Es geht darum, wo immer man steht, die Dinge auf 2
® a. a. O. S. 326, Nr. 5. a. a. O. S. 329, Nr. 13.
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das hin zu ermessen, was sie anwesen und für anderes zum Tragen kommen läßt. Der „Sophist" macht den Leuten nicht ein X für ein U vor, vielmehr öffnet er ihnen die Augen, indem er ihnen sagt, worauf es in ihrer jeweiligen Situation und Position ankommt, woran es mit ihnen ist. Die Sophisten dürften so etwas wie die Lagegebundenheit jedes Seienden und die Situationsbedingtheit menschlicher Einrichtungen und Taten eingesehen haben. Alles ist, was es ist, nur an seinem bestimmten Ort, in seiner Lage. Ändert sich diese, dadurch daß andere Dinge ihre bisherige Stellung aufgeben, aber auch dadurch, daß der Betrachter und Tätige seine Lage und Einstellung verändert, dann wandelt sich auch das Seiende, um das es jeweils geht. Dann ist es vieles nicht mehr, was es vorher war. Dann gelangt anderes zur Anwesenheit. Chance und Unmöglichkeit zu ermessen, darauf läuft diese Erziehung hinaus. Sie muß man einzusehen und zu sagen gelernt haben. Wenn man allerdings für jedes Seiende ein unveränderliches Wesen ansetzt, dann muß solches Beginnen töricht und nun in negativem Sinn „sophistisch" erscheinen. Die große Gefahr, die dem sophistischen Vorgehen droht, liegt sicher in der Usurpation von Maßgabe und Maßnahme, etwa im Sinne der radikalen Behauptungen eines Thrasymachos und eines Kallikles. Diese entnahmen aus den Lehren der zeitgenössischen Weisen nur, daß es um den Nutzen des Stärkeren ginge, um eine A r t diktatorischen Herrentums. U n d es ist ja auch merkwürdig, daß Männer wie Sokrates oder Piaton vor allem die Entartungen der Sophistik sahen, daß sie aber des einfachen Sinnes der Homo-mensura-These, der Mensch sei das „Wesen des Maßes", deshalb aber gerade auf Situation und Position seiner selbst wie der ihm zukommenden Dinge eingeschränkt, kaum noch inne wurden. Sie suchten daher ihrerseits verbindliche Maße und deren Ursprung aufzuweisen. Die Rückbezogenheit des Maßes auf die Verhältnisse, die nichts mit „Relativität" zu tun hat, gibt auch folgender Bericht wieder: „Gerade diese Behauptung, erwiderte ich, vertraut neulich im Lykeion ein weiser Mann, Prodikos von Keos, aber er schien damit den Anwesenden so töricht zu schwatzen, daß er keinen von ihnen von der Wahrheit seiner Worte überzeugen konnte . . . Es fragte ihn nämlich der Jüngling, inwiefern er den Reichtum für ein Übel und inwiefern er ihn für ein Gut halte. Der aber erwiderte: für die guten und tüchtigen Menschen und solche, die das Geld zu rechter Zeit zu gebrauchen wissen, für die ist er ein Gut; für die Untüchtigen und Toren ein Übel. U n d so
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steht es auch mit allen anderen Dingen. Je nachdem, was für Menschen es sind, die von ihnen Gebrauch machen, sind notwendig auch die Dinge für sie beschaffen31." Wenn allen Dingen ihr Sein vom Ganzen her zukommt, dann wandelt es sich auch, je nachdem, wo und wie sie sich im Ganzen halten. Für den Menschen aber kommt alles darauf an, die Dinge recht einzuschätzen und sie an ihrem rechten O r t und zur rechten Zeit zur Anwesenheit kommen zu lassen. Die einen vernehmen den Logos der Dinge, ihre Verhältnisse und ihre Lage im Ganzen, und dementsprechend suchen sie das Maß der Dinge zu werden, indem sie sie in bestimmter Weise vorliegen lassen, einsetzen und behandeln. Die anderen nehmen nur die Dinge wahr und verbrauchen sie ohne Rücksicht auf ihre Lage und ohne Umsicht im ganzen. Wer das Sein jedes Seienden aus einem Ganzen vernimmt, der w i r d allem, womit er es zu tun bekommt, das wahre Maß gewähren, es nicht mißbrauchen oder vergewaltigen. N u r eins ist nach der Lehre der Sophisten nicht möglich, solches Maß den einzelnen Menschen in Gestalt fixer Maßstäbe zur Verfügung zu stellen oder ihn für immer an solche Maßstäbe zu binden. Der Mensch muß der Dinge Maß werden und sie jeweils ermessen. Das kann ihm nicht abgenommen werden. Hierfür mag es Hilfen geben, wie sie etwa in Mathematik und Musik, in Schreiben und Lesen, in Rhetorik und Eristik geboten werden können. Aber das macht nicht das Wesentliche der neuen „Bildung" aus; in ihr soll der Mensch das ihm allein Zukommende, das ihm Geziemende, das Unerläßliche lernen. „Mein junger Freund, wenn du bei mir in die Lehre gehst, so läßt Piaton Protagoras sagen, dann w i r d es dir beschieden sein, an dem Tage, an dem du mit mir zusammengewesen bist, (abends) in dem Bewußtsein nach Hause zu gehen, daß du besser geworden bist. U n d am folgenden Tag w i r d es dir ebenso gehen. U n d so wirst du an jedem Tag ständig besser werden,... Die anderen (Lehrer) nämlich quälen die Jugend; denn sie stürzen die jungen Leute, die der Erlernung der Wissenschaft entronnen sind, gegen ihren Willen wieder in das Studium der Wissenschaften hinein, indem sie sie Rechnen, Astronomie, Geometrie und M u sik lehren. (Dabei warf er einen Blick auf Hippias.) Wer aber zu mir kommt, der w i r d nichts anderes lernen als dasjenige, weswegen er zu mir gekommen ist. Man lernt bei mir Wohlüberlegtheit in seinen häuslichen Angelegenheiten: wie man am besten sein eigenes Hauswesen verwaltet, und, was die Angelegenheiten des Staates betrifft, w i r d man bei 31
a. a. O. S. 368, Nr. 12.
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mir so herangebildet, daß man möglichst befähigt wird, an der Regierung des Staates in Wort und Tat mitzuwirken. — Sokrates: D u meinst offenbar die Kunst der Politik und versprichst, deine Jünger zu guten Staatsbürgern zu machen. — Protagoras: Gerade das, Sokrates, ist der Sinn des Versprechens, das ich zu geben pflege. — Sokr.: Dadurch, daß du dich selber öffentlich vor ganz Griechenland als Weisheitslehrer angepriesen hast, hast du dich für einen Lehrmeister der Bildung und Tugend erklärt, es auch als erster für anständig gehalten, hierfür ein Honorar zu nehmen 32 ." Nicht um das Erlernen irgendwelcher Wissenschaften kann es also gehen, sondern um das Erlernen einsichtigen Ermessens, und zwar zunächst der Verhältnisse, die uns die nächsten sind: Haus und Staat. Es geht also gerade nicht so sehr um „politische Erziehung" als vielmehr um jene Bereiche, in denen der Mensch als Maß unmittelbar einleuchtet, zugleich aber auch die Schwierigkeit des rechten Ermessens offenkundig ist. Der Sinn von Paideia w i r d damit deutlich:, indem der Mensch lernt, dem Maß zuzugehören und allein in seinem ermessenden Vollzug er selbst zu sein, lernt er, alle Dinge auf das Sein hin freizugeben, auf ihre bemessene Anwesenheit. Er w i r d auch gelernt haben, sich auf den Kairos der Maßnahmen zu verstehen. Daher legen die Sophisten nicht nur allen Nachdruck auf die rechte Erziehung, sondern sie setzen auch voraus, daß der Mensch zu erziehen sei und in seine einzigartige Stellung eingewiesen werden könne. Die „politische Arete" ist also lehrbar. Zugleich w i r d der Mensch durch solches Lernen in das Wissen um seine einzigartige Aufgabe vorgerufen, nämlich für die Welt aufkommen zu müssen, in ermessendem Wort und bemessener Tat. Das besagt jetzt die Logoszugehörigkeit des Menschen.
4. Der Weg zum Wissen bei Piaton Der sokratisch-platonische Gedankengang knüpft an die Sophisten an 33 . Hatten die Sophisten gelehrt, ein jeder müsse sich bei seinem Ermessen auf den Bezirk des ihm Zugänglichen beschränken, angesichts des Reich32
a. a. O. S. 334, Nr. 20. Das Folgende im Anschluß an Karl-Heinz Volkmann-Schluck: Nicolaus Cusanus. Frankfurt 1957. S. 5 ff., vgl. ferner Rainer Marten: Der Logos der Dialektik. Berlin: de Gruyter 1965. 33
4. Der Weg zum Wissen bei Piaton
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turns des Seienden und der Kürze des Lebens, so verbürgt nach Sokrates diese Mäßigung auf das Maß dessen, was dem Menschen jeweils offenkundig ist, den Stand in der Welt nicht. Das ist am Beispiel der Tapferkeit leicht zu zeigen. Tapferkeit besagt, in der Gefahr gegenüber der fortreißenden Furcht standzuhalten. Ihr Gegenteil liegt dann darin, sich davonzumachen oder zurückzuweichen. Der Tapfere stellt sich der Gefahr. Aber kann nicht auch ein umsichtiger Rückzug vor einem überlegenen Feind oder ein hinhaltender Widerstand Tapferkeit sein? Hier zeigt die Tapferkeit das entgegengesetzte Aussehen. Man sieht den Tapferen zurückweichen. Ja, es gibt auch einen Antrieb der Furcht, der den Menschen sich blindlings in die Gefahr stürzen läßt. Es gibt ein Standhalten um jeden Preis, aus Furcht, sein Ansehen zu verlieren. Der Tapfere erscheint also bald so, bald so. Dasselbe zeigt ein gegenteiliges Aussehen. Wenn man sich an diese Erscheinungen hält, an die Dok^onta, wie Parmenides sagte, dann läßt sich nicht erkennen, was Tapferkeit oder ihr Gegenteil ist. Der Mensch in der Doxa kann gar nicht sehen, was das Gute jeweils ist. Lehren also die Sophisten die Beschränkung auf das jeweils Offenkundige, belassen sie den einzelnen in der Doxa, dann können sie nicht beanspruchen, Lehrer der Arete zu sein. Sokrates weiß daher zunächst nur das eine, daß er nicht weiß, was die Arete ist. Damit w i r d aber auch die weitertreibende Frage gestellt: Wohin muß der Mensch sehen, um die Arete selbst zu erschauen? Idea nennt diese maßgebliche Hinsicht, in die man schauen muß. U m die Idee der Tapferkeit zu erblicken, muß demnach der Mensch gerade von dem wegsehen, wie sich Tapferkeit zunächst jeweils zeigt. Dieses Wegsehen kann dann nicht mehr eine neue sinnliche Wahrnehmung zur Folge haben, sondern muß zu einem unsinnlichen Schauen führen. Bei jedem gilt es also zu fragen, was es in Wahrheit sei. Bei allem muß zuvor die Idee als das, was es in Wahrheit ist, geschaut worden sein. Tapfer kann ein Mensch nur sein, wenn er in dieses Wissen um das, was Tapferkeit ist, gelangt. Sonst w i r d er vielleicht zufällig tapfer, aber er ist es nicht von sich aus, aus der klaren Einsicht in ihr „Wesen". Man muß an dieser Stelle sogleich einem Mißverständnis wehren. Diesem sokratischen Gedankengang hat man „Intellektualismus" vorgeworfen und darauf hingewiesen, daß doch eine offensichtliche Diskrepanz zwischen Einsicht und Tun immer wieder auftritt. Dem muß man folgendes entgegenhalten. Ein Wollen, das sich nicht in der Entschiedenheit der gedanklichen Helle hielte, würde sich selbst aufgeben und von dunklen, ihm unbekannt bleibenden Mächten treiben
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lassen. Wer nicht die Einsicht maßgeblich und richtungweisend sein läßt, wer ihr nicht entspricht, der handelt gar nicht selbst, sondern läßt sich „geschehen". Auch den Griechen war durchaus bekannt, daß man das Gute wissen und das Böse tun kann 3 4 . Ja, das Bewußtsein des verfehlten Guten kann durchaus die böse Tat begleiten. Die Menge, so sagt Piaton im „Protagoras", hält die Erkenntnis für einen elenden Wicht, der sich von den Begierden umherzerren läßt. „Die meisten Erfolge", sagt Demosthenes zu den Athenern, „sind euch dadurch entgangen, daß ihr eure Pflicht nicht tun wolltet, nicht dadurch, daß ihr sie nicht einsaht". U n d für Euripides ist das Unterliegen der Einsicht im Kampf mit der Leidenschaft ein quälendes Problem. Doch gerade diese Beurteilungen zeigen ebensosehr, daß schon immer der Bezug zu jenem Wissen vorliegt und zugleich das Handeln als der Menschlichkeit unangemessen erscheint: Das, was vom Menschen zu erwarten ist, liegt gerade in der Erfüllung des Eingesehenen, er mag noch so oft dagegen verstoßen. Zur Paideia des Menschen gehört daher die Überwindung des alltäglichen Meinens und Anscheins, die sich zu Unrecht den Namen des Wissens und des Seins anmaßen. Piaton w i r d nicht müde, durch den Mund des Sokrates seinen Mitmenschen diese Situation des Nichtwissens klarzumachen. Das „Höhlengleichnis" bedeutet die großartige Veranschaulichung des Ganzen der Paideia, des Weges zu Einsicht und Wissen 35 . I n ihm deutet Piaton zugleich sein eigenes Werk. Nicht nur von seinem Lehrer Sokrates spricht er in diesem Gleichnis, sondern vor allem von sich selbst. I n der Enthüllung der Dreieinigkeit von Paideia, Sophia und Politeia — von Pädagogik, Philosophie und Politik — enthüllt sich Piatons eigenstes Anliegen. I n ihr liegt sein Leben beschlossen. Das „Höhlengleichnis" gibt die unüberholbare Exposition der Tragödie der Paideia: der unaufhebbare Anspruch der Paideia an die Menschen und das unabänderliche Scheitern der Paideia in den Menschen. Gerade hierin spricht Piaton, um sein Lebensschicksal wissend, von sich und seinem Vorhaben. Das „Höhlengleichnis" besagt daher ein Ereignis von „weltgeschichtlichem Ausmaß". Denn in ihm entschied sich der Sinn von Sein, unter 34
Vgl. Helmut Kuhn: Sokrates. München 1959. S. *8 f. Vgl. zum Folgenden Th. Ballauff: Die Idee der Paideia. Dort auch Literaturhinweise; ferner Wilhelm Luther: Wahrheit, Licht, Sehen und Erkennen im Sonnengleichnis von Piatos Politeia. Stud. Gen. 18 (1965). S. 479 bis 496. 35
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welchem das Abendland seine Geschichte antrat. U n d sofern Paideia in diesen Sinn einführt, stellt sie in diesen Logos wie in diese Krisis des Seins — heut' wie ehedem. — Liegt der Kairos unserer Zeit in der Erinnerung des Seins inmitten seiner Vergessenheit über dem Seienden in seiner schrankenlosen Verfügbarkeit und berechenbaren Fügbarkeit, dann gilt es, sich auch der Grundlegung der Paideia im „Höhlengleichnis" zu entsinnen. Logos und Krisis des Seins geschehen als Paideia, als „Bildung", in der der Mensch sich in seine Menschlichkeit bringen läßt oder sich ihr entzieht. I n dieser Besinnung werden w i r des Sinnes unserer Tage inne und lernen den Abstand zum Ursprung ermessen, den w i r in unserer mißverstandenen Menschlichkeit — in unserem den Menschen zum Ziel machenden „Humanismus" — erreicht haben, wie w i r uns bilden lernen zum Menschen, der im Aufleuchtenlassen des Agathon erlischt. Jede wohlverstandene Interpretation des „Höhlengleichnisses" ist der Bildungsvorgang des Menschen zu diesem seinem positiven Nicht. a) Das „Höhlengleichnis" „Danach nun, sagte ich, vergleiche, wie unsere Physis zu Paideia und Apaideusfa steht, mit einem Zustand solcher A r t : Bringe dir nämlich dieses in den Blick: Menschen halten sich unter der Erde in einer höhlenartigen Behausung auf. Nach oben gegen das Tageslicht eignet dieser der langhin sich erstreckende Eingang gemäß der Ausdehnung der Höhle. I n dieser Behausung haben die Menschen, gefesselt an den Schenkeln und den Nacken, von Kindheit her ihren Verbleib. Deshalb verharren sie auch an derselben Stelle, so daß ihnen nur dies Eine bleibt, auf das hinzusehen, was ihnen von vorne ins A n gesicht begegnet. Ringsherum jedoch die Köpfe zu führen, sind sie, weil gefesselt, außerstande. Ein Lichtschein freilich ist ihnen gewährt, von einem Feuer nämlich, das ihnen, allerdings von rückwärts, oben und fernher, glüht. Zwischen dem Feuer und den Gefesselten läuft obenhin ein Weg; dem längs, so stelle dir das vor, ist eine niedere Mauer gebaut gleich den Schranken, die sich die Gaukler vor den Leuten aufrichten, um über sie weg die Schaustücke zu zeigen. Ich sehe, sagte er. Fasse nun demgemäß in den Blick, wie entlang diesem Mäuerchen Menschen allerlei Zeug vorbeitragen, das hierbei über das Mäuerchen hinwegragt, Standbilder sowohl als auch andere steinere und hölzerne Bildwerke und sonst mannigfach von Menschen Gefertigtes. Wie nicht
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anders zu erwarten, unterhalten sich die einen der Vorübertragenden, die anderen schweigen. Ein außergewöhnliches Bild führst du da vor, sagte er, und außergewöhnliche Gefangene. Sie gleichen aber ganz uns Menschen, erwiderte ich. Denn was glaubst du wohl? Solcherart Menschen haben doch von Anfang an, sei es von sich selbst, sei es voneinander, nie etwas anderes in den Blick bekommen als die Schatten, die der Feuerschein auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft. Wie anders denn soll es sein, sagte er, wenn sie gezwungen sind, den K o p f unbeweglich zu halten und das zeit ihres Lebens? Was jedoch sehen sie von den vorbeigetragenen Dingen? Sehen sie nicht eben dieses (nämlich die Schatten)? I n der Tat. Wenn sie nun imstande wären, miteinander das Erblickte an- und durchzusprechen, glaubst du nicht, sie würden das, was sie da sehen, für das Seiende halten? Dazu wären sie genötigt. Wie aber nun, wenn dies Gefängnis auch noch von der ihnen gegenüberstehenden Wand her einen Widerhall hätte? Sooft dann einer von denen, die hinter den Gefesselten vorbeigehen, sich verlauten ließe, glaubst du wohl, daß sie etwas anderes für das Sprechende hielten als den vor ihnen vorbeiziehenden Schatten? Nichts anderes, beim Zeus! sagte er. Ganz und gar, entgegnete ich, würden dann auch die also Gefesselten nichts anderes als die Schatten der Gerätschaften für das Unverborgene halten. Dies wäre durchaus nötig, sagte er. Verfolge demnach jetzt, erwiderte ich, mit deinem Blick den Vorgang, wie die Gefangenen von den Fesseln gelöst und in eins damit geheilt werden von der Einsichtslosigkeit, und bedenke dabei, welcher A r t dann dieser Vorgang sein müßte, wenn den Gefesselten auf natürliche Weise folgendes zustieße. Sooft einer entfesselt und gezwungen würde, plötzlich aufzustehen, den Hals umzuwenden, sich auf den Weg zu machen und gegen das Licht hinaufzublicken, dann vermöchte er dies alles nuf unter Schmerzen, auch wäre er nicht imstande, durch das
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Geflimmer hindurch auf jene Dinge hinzusehen, davon er vormals die Schatten sah. Was, glaubst du wohl, würde er sagen, wenn einer ihm eröffnete, daß er vormals Nichtigkeiten gesehen habe, jetzt aber dem Seienden um mehreres näher sei und, also dem Seienderen zugewendet, demzufolge auch richtiger blicke? U n d wenn einer ihm auch noch jedes der vorüberziehenden Dinge zeigte und ihn zwänge, auf die Frage, was es sei, zu antworten, glaubst du nicht, daß er da weder ein noch aus wüßte und überdies dafür hielte, das vormals Gesehene sei unverborgener als das jetzt Gezeigte? Durchaus freilich, sagte er. U n d wenn ihn gar einer nötigte, in den Feuerschein hineinzusehen, würden ihm dann nicht die Augen schmerzen, und möchte er sich da nicht abwenden und zu jenem flüchten, was anzusehen in seinen Kräften steht und sich dafür entscheiden, das sei in der Tat klarer als das, was ihm jetzt gezeigt werde? So ist es, sagte er. Wenn aber nun, erwiderte ich, einer ihn von da weg mit Gewalt durch den holperigen und steilen Aufgang der Höhle hindurchzöge und nicht von ihm abließe, bis er ihn an das Licht der Sonne hinausgezogen hätte, empfände der also Gezogene dabei nicht Schmerz und Empörung? U n d bekäme er, ins Sonnenlicht gelangt, nicht die Augen v o l l des Glanzes, und wäre er so nicht außerstande, auch nur etwas von dem zu sehen, was ihm jetzt als das Unverborgene eröffnet wird? Keineswegs wäre er dazu imstande, sagte er, wenigstens nicht plötzlich. Einer Gewöhnung offenbar, glaube ich, bedürfte es, wenn es darauf ankommen soll, das, was oben steht, ins Auge zu fassen. U n d zunächst würde er am leichtesten auf die Schatten hinsehen können und hernach auf den im Wasser widerspiegelnden Anblick der Menschen und der übrigen Dinge, später aber würde er dann diese selbst erblicken. Aus dem Umkreis dieser Dinge aber dürfte er wohl das, was am Himmelsgewölbe ist und dieses selbst, und zwar bei Nacht leichter beschauen, indem er hinblickt auf das Licht der Sterne und des Mondes, als bei Tag die Sonne und ihren Schein. Gewiß! A m Ende aber, glaube ich, dürfte er in den Stand kommen, auf die Sonne selbst zu blicken, nicht nur auf ihren Widerschein im Wasser und
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I. Erziehung als Hinführung zur Wahrheit
wo er sonst auftauchen mag, auf die Sonne selbst, wie sie von ihr selbst her an dem ihr eigenen O r t ist, um sie zu betrachten, wie beschaffen sie sei. Notwendig dürfte es so kommen, sagte er. U n d nachdem er all dieses hinter sich gebracht hat, dürfte er auch bereits über sie dieses zusammenbringen können, daß nämlich sie es ist, die sonst sowohl Jahreszeiten gewährt als auch Jahre und alles durchwaltet, was ist in dem gesichteten Bezirk (des Sonnenlichtes), ja daß sie (die Sonne) sogar auch von jenem allen die Ursache ist, was jene (unten in der Höhle) in einer gewissen Weise vor sich haben. Offenbar, sagte er, würde er zu diesem gelangen, nachdem er über jenes (die Schatten) hinausgegangen. Was nun? Wenn er sich wieder der ersten Behausung erinnerte und des dort maßgebenden ,Wissens' und der damals mit ihm Gefesselten, glaubst du nicht, er würde sich selbst zwar glücklich preisen ob des Umschlags, jene dagegen bedauern? Gar sehr. Wenn nun aber am vormaligen Aufenthaltsort (in der Höhle nämlich) gewisse Ehrungen, Lobsprüche und Auszeichnungen festgesetzt wären für den, der am schärfsten das Vorübergehende ins Auge faßt und dazu am meisten das im Gedächtnis behält, was davon zuerst, was nachher und was gleichzeitig vorbeigebracht zu werden pflegt, und der hieraus das vorherzusagen vermöchte, was am ehesten künftig eintreten könnte, glaubst du, ihn (den Herausgeführten) würde es nach jenen verlangen, um mit denen zu wetteifern, die bei jenen in Ansehen und Macht stehen, oder w i r d er nicht gar sehr das auf sich nehmen wollen, wovon Homer sagt: ,einem fremden unbegüterten Manne um Lohn zu dienen', und w i r d er nicht überhaupt was immer sonst eher ertragen wollen, als in jenen Ansichten sich herumzutreiben und auf jene Weise ein Mensch zu sein? Ich glaube, sagte er, alles würde er eher über sich ergehen lassen, als auf jene Weise ein Mensch zu sein. U n d nun also bedenke dieses, erwiderte ich: wenn der solcherart aus der Höhle Herausgekommene wiederum hinabstiege und an denselben Platz sich niedersetzte, füllten sich ihm da nicht, wo er plötzlich aus der Sonne kommt, die Augen mit Finsternissen? Gar sehr allerdings, sagt er.
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Wenn er nun wieder mit den ständig dort Gefesselten sich abgeben müßte im Aufstellen und Behaupten von Ansichten über die Schatten, während ihm noch die Augen blöd sind, bevor er sie wieder angepaßt hat, was nicht geringe Zeit der Eingewöhnung verlangte, würde er dann dort unten nicht der Lächerlichkeit preisgegeben sein, und würde man ihm nicht zu verstehen geben, daß er ja nur hinaufgestiegen sei, um mit verdorbenen Augen zurückzukehren, daß es also auch ganz und gar nicht lohne, sich auf den Weg nach oben zu machen? U n d werden sie denjenigen, der H a n d anlegte, sie von den Fesseln zu lösen und hinaufzuführen, wenn sie seiner habhaft werden und ihn töten könnten, nicht wirklich töten? Sicherlich wohl, antwortete er. Dies Bild nun, sagte ich, mußt du, mein lieber Glaukon, in vollem Umfang mit dem früher Gesagten in Verbindung bringen: den durch das Umherblicken sich zeigenden Aufenthaltsort (unsere Umwelt) setze der Wohnstätte im Gefängnis (der Höhle) gleich, den Lichtschein des Feuers darin aber der Kraft der Sonne; den Aufstieg nach oben dann und die Schau des oberen Bereiches mußt du dem Aufweg der Seele zu dem O r t des Denkbaren (des unsinnlich Vernehmbaren) ververgleichen. So wirst du das nicht verfehlen, was ich erhoffe, da du ja den Drang hast, es zu hören. Gott mag wissen, ob meine Hoffnung die Wahrheit trifft. Das, was sich mir gezeigt hat, zeigt sich so: im Kennbaren ist zuletzt und zuäußerst nur mit Mühe die Idee des Agathon zu sehen. Einmal erblickt, läßt sich aus ihr gesammelt entnehmen, daß sie für alle das ist, was alles Rechte und Schöne ausmacht, im Sichtbaren Licht und dessen Herrn zeugend, im Denkbaren (unsinnlich Vernehmbaren) aber selbst als Herrin Unverborgenheit und Vernunft gewährend, und daß sie erblicken muß, wer einsichtig handeln w i l l , in eigener oder öffentlicher Angelegenheit. Derselben Meinung bin auch ich, erwiderte er, soweit ich darüber mitreden kann. So stimme denn auch darin, sagte ich, mit mir überein und wundere dich nicht, daß die, die dorthin gelangt sind, nicht gewillt sind, die Geschäfte der Menschen zu betreiben, sondern dort oben sich aufzuhalten, dazu drängt es immer ihre Seelen. Denn so ist es wohl natürlich, wenn anders es dem vorher vorgeführten Bild entsprechen soll. So ist es allerdings natürlich, bestätigte er. Wie nun? Hältst du es etwa für verwunderlich, fuhr ich fort, wenn einer, der von den göttlichen Anschauungen zu dem menschlichen
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Elend zurückkommt, sich ungeschickt benimmt und sich recht lächerlich ausnimmt, wenn er, noch getrübten Blickes und bevor er sich hinlänglich wieder an die gegenwärtige Finsternis gewöhnt hat, gezwungen ist, an Gerichtshöfen und anderswo um die Schatten des Gerechten zu streiten oder um ihre Prunkbilder, deren Schatten nämlich, und sich in einen Wettkampf darüber einzulassen, wo doch dort diese Dinge von solchen angefaßt werden, die überhaupt noch niemals die Gerechtigkeit selbst zu Gesicht bekommen haben. Nicht im geringsten verwunderlich, entgegnete er. Nun, sagte ich, wenn einer bei Vernunft ist, der würde sich erinnern, daß auf zwiefache Weise und aus zwiefacher Ursache Verwirrungen den Augen entstehen, einmal wenn man aus dem Licht in die Finsternis versetzt w i r d und dann, wenn aus der Finsternis ins Licht. Wenn er dafür hält, daß dies genauso auch bei der Seele geschieht, so w i r d er, wenn er eine Seele in Verwirrung und unfähig, etwas zu erblicken, sieht, nicht unbedacht lachen, sondern prüfen, ob sie aus einem erleuchteteren Leben gekommen ist und infolge der Ungewohntheit mit Finsternis geschlagen oder ob sie aus größerer Unkenntnis ins Erhelltere geht und von diesem helleren Glanz geblendet ist; und so w i r d er wohl die eine glücklich preisen ob ihres Widerfahrnisses und ihres Lebens, die andere dagegen bemitleiden, und wenn er über sie lachen wollte, so würde sein Lachen hier weniger lächerlich sein als das über die, welche von oben her aus dem Licht kommt. Treffend gesagt, bemerkte er. W i r müssen also, fuhr ich fort, folgendes über die Dinge anerkennen, wenn dies (das Gesagte) wahr ist: die Paideia ist nicht das, wofür sie gewisse Leute verheißungsvoll ausgeben. Sie sagen etwa so, Wissen, das nicht in der Seele ursprünglich sei, setzten sie ihr ein, etwa wie wenn sie blinden Augen das Sehen einfügten. So sagen sie nun allerdings, bestätigte er. Der jetzige Logos zeigt aber, betonte ich, daß man diese in der Seele eines jeden liegende Möglichkeit und das Organ, durch welches ein jeder Erkenntnis gewinnt, ähnlich wie wenn man das Auge nicht anders als mitsamt dem ganzen Körper zum Hellen aus dem Dunkel umwenden könnte, so mitsamt der ganzen Seele sie umwenden muß von dem Werdenden ab, bis sie fähig geworden ist, das Seiende und das Hellste unter dem Seienden schauend auszuhalten. Dies, sagten wir, sei das Agathon. War's nicht so?
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Ja. Es wäre also die Paideia eine Kunst, die sich eben darauf versteht, nämlich auf die Umwendung, wie sie am leichtesten und wirksamsten durchgeführt wird, nicht aber eine Kunst, dem Organ das Sehen erst beizubringen, sondern ihm, das schon dies (das Sehen) besitzt, aber nicht der richtigen Seite zugewandt ist und nicht dahin blickt, wohin es sollte, dies zu bewerkstelligen 38 ."
b) D i e D e u t u n g des
„Höhlengleichnisses"
1. Bei einer ersten Ubersicht fällt eine Zweiteilung der Darstellung auf: zunächst gibt sie ein Bild und dann in einem kürzeren Abschnitt die Deutung. W i r handeln also im Sinne Piatons, wenn w i r diese Deutung durchzuführen suchen. 2. A m Bild selbst tritt eine Dreiteilung hervor: zunächst w i r d der primäre Aufenthalt der Menschen geschildert, ihr alltägliches Leben in der Welt, dann der Ubergang in eine andere Sphäre, in den Aufenthalt in der Aletheia, und schließlich der Abstieg oder die Rückkehr in den primären Aufenthalt. 3. So stellt sich als allgemeines Kennzeichen die Bewegung heraus: das Hinauf und Hinab, das Hinausgeführtwerden und das Zurückgesandtwerden. 4. U n d schließlich gilt es zu beachten: Die gesamte Darstellung geschieht vom Blickpunkt des in der Aletheia Befindlichen aus. N u r er kann den primären Aufenthalt der Menschen als Höhle schildern. Es hebt sich dann aber gerade die andere Sichtweise ab: die der Menschen in der Höhle, der Menschen in der Doxa. Diese wissen nicht um ihren Aufenthalt als eine Höhle, nicht um den Gegensatz zur Aletheia. Sie müssen daher alles anders sehen. — N u r von dem Aufenthalt in der Aletheia aus zeigt sich der primäre Aufenthalt in seiner Eigenart. Die Aletheia ist seine Enthüllung wie die Unverborgenheit der zunächst herrschenden Selbstverborgenheit. Es ist die „Wahrheit über uns", im bildlichen, nicht i m „logischen" Sinne: die Sphäre des Lichtes, die sich und ihr Gegenteil erhellt. I n diese sind w i r hineingestellt vom ersten Wort der Darstellung an. 36
Nach M. Heidegger: Piatons Lehre von der Wahrheit. Bern 1947; vgl. W. Bröcker: Piatos Gespräche. S. 278 ff.
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/.
Der primäre
Aufenthalt
1. Das In-Sein Der primäre Aufenthalt der Menschen enthüllt sich als Höhle, in ihr hausen sie. Damit w i r d gesagt: 1. Zum menschlichen Leben gehört das Hausen und die Behausung, das Wohnen und das Sich-Aufhalten i n . . . Denn in dieser Höhle hat sich der Mensch eingerichtet, in ihr weiß er sich zu Hause, d. h. mit allem vertraut. Hier fühlt er sich wohl — Kennzeichen, die besonders bei der Rückkehr des Befreiten in die Höhle auffällig werden. Die Höhle zeigt sich so als das Bild für die Welt, die des Menschen ist, die er sich vertraut macht, indem er sich in ihr einrichtet, deren Umriß wie Grundriß ihm vorweg bekannt sind, sosehr auch ein ständiges Kommen und Gehen herrscht. Die Menschen aber wissen in ihrem primären Sich-Aufhalten in der Welt nicht um diese als solche. Sie sind ganz gebannt vom Kommen und Gehen des Weltlichen und seiner Bedeutung für sie. Die Höhle bleibt verborgen, sie birgt die Menschen, wie diese sich in ihr geborgen wissen als in einer sichtbaren, vorausschaubaren und verfügbaren Welt, nach der sich die Menschen zu richten und in die sie sich einzurichten haben. 2. Das w i r d an einem zweiten Charakteristikum deutlich: Die Höhle besagt den primären Aufenthalt als geschlossenen, umschließenden wie umschlossenen Raum. Die Menschen befinden sich in der Höhle. Dies Befinden-in enthält das Sich-finden-in: Die Menschen finden sich in der Welt als einem geschlossenen Zusammenhang von Kommendem und Gehendem, darin Sich-darbietendem und Verfügbarwerdendem. U n d sie halten sich darin auf: Sie halten sich darin als die Bleibenden, sie verhalten sich zu dem Ankommenden wie zueinander als die Redenden und Handelnden, und sie halten aus und durch in all dem. Sie gewinnen darin ein Verhältnis wie eine Stellung, sie werden ihrer Welt mächtig, sie leben von dem Weltlichen her wie auf es hin. So fristen sie ihr Leben. Sie haben an der Welt ihren Halt wie ihre Sicherheit, gerade darin, daß Welt ihnen den Lebensunterhalt bietet. Die Welt umschließt als bergender, schützender Raum wie als versichernder, Macht gewährender Zusammenhang des Weltlichen. — Die Höhle ist umschließender, aber auch umschlossener Raum des Aufenthaltes: Die Wände umschließen sie. So w i r d sie selbst abgeschlossen. Es gibt nur die eine Welt. Das Umschließende kommt dabei nicht selbst in den Blick, sondern nur in Gestalt der Einheit und Ganzheit der Welt läßt sich diese Umschlossenheit sehen. Ihre Offenheit bleibt daher ungesichtet. Die Menschen in der Höhle wissen nicht um dieses In-
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sein und seinen Aufbruch zu einem Offensein. — Sie enthüllen so aber wieder einen „Charakter" ihrer Menschlichkeit: Die Menschen wissen um die Notwendigkeit der Geborgenheit und des bergenden Aufenthaltes. D a ihnen aber der „Weg ins Freie" verborgen bleibt, nehmen sie den primären Aufenthalt für ihre genuine Heimat und gewahren an ihm „Bestimmungen", die ihm für den Wissenden nicht eignen. — Die Welt der Menschen bleibt verschlossen. Sie bedeutet den Verschluß ihrer selbst wie des Menschen in seiner Menschlichkeit. U n d so erschlossen das Weltliche in ihr erscheint — dieses Erscheinen w i r d zum verdunkelnden Schein, weil das Worin dieser Erschlossenheit verschlossen bleibt. 3. Für den Wissenden aber enthüllt sich die Welt der Menschen als Höhle, d. h. sie besitzt eine Öffnung. Der primäre Aufenthalt muß also gerade charakterisiert werden durch sein einseitiges Geöffnetsein in Gestalt eines Ein- und Ausganges. Damit w i r d Bedeutsames genannt. Die Welt ist schon immer geöffnet, und nur deshalb ist sie als die Welt, die sie ist — in Wahrheit —, nämlich höhlenartig, weil sie Ein- und Ausgang, also Zugang besitzt. Die Vorgängigkeit der Offenheit ist für sie konstitutiv. — Diese Offenheit aber ist einseitig, nicht allseitig. Es besteht nur in einer Richtung solche Eröffnung. Diese aber besteht, d. h. hat Bestand. Sie öffnet und schließt sich nicht, sondern bietet ständig Ausweg und Eingang. N u r ein Weg führt in die andere „Sphäre", in die „Wahrheit". — Die Eröffnung geschieht dann auch nur an einer Stelle, nicht überall. Sie muß erreicht werden, um in die Offenheit zu gelangen. In dieser Öffnung ist das Tor erreicht, das verbindet: Die eröffnende Öffnung der Welt als einer Höhle stellt die Verbindung zwischen zwei Bereichen dar, die nur in ihr sich einander öffnen und Zugang bieten. — Das Tor ist dann ebensosehr das Trennende. I n dieser Eröffnung werden beide Bereiche geschieden und als solche sichtbar. I n ihr w i r d Ausblick und Rückblick gewonnen. So haben in diesem „ T o r " beide Bereiche ebenso ihre wesentliche Identität wie ihre wesentliche Differenz. V o m allgemeinen Charakteristikum der Bewegung aus gesehen: Diese Eröffnung geschieht als Übergang. Darin sind Ausgang und Eingang identisch. — Sie eröffnet also nicht nur den anderen Bereich, sondern in eins damit gerade den primären Aufenthalt der Menschen, die „ W e l t " . Der Weg hinaus ist der Weg hinein, der Weg hinauf der Weg hinab. Die Bewegung im eröffnenden Ubergang läuft demnach sich selbst entgegen. Das Verlassen der Welt vollzieht gerade ein eigentliches Hineinfinden in sie. Diese „Palintropie" macht die Eröffnung so „aufschluß-reich". — Die Eröffnung w i r d zur Erschließung des Verschlossenen. Sie erschließt es, indem sie ihm ein Tor öffnet, das allerdings das einzige Tor bleibt, und sie erschließt zugleich die 5 Ballauff
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Verschlossenheit als solche. — U n d ferner zeigt sich das Tor in diesem seinem Charakter selbst, nämlich als das schon immer geöffnete. Als das Erschließende erschließt es sich als das schon immer Erschlossene. Es besitzt keine Torflügel. Für die Menschen bleibt es „verschlossen". Nicht weil ihnen die Formel fehlt, durch die sein Schloß aufspringt, sondern weil sie den Weg nicht wissen und finden, der zu ihm führt. Sie sehen den Weg nicht und daher nicht das Tor auf ihm. Es bleibt unsichtbar. — Es führt aber zu ihm ein Weg. Er ist nicht so sehr das Erschließende, denn jenes ist schon immer aufgetan; vielmehr bedarf es einer Führung und Hinlenkung auf ihn. Dann aber zeigt sich das Tor als das, was es ist. 4. Die Öffnung der Höhle ist das Tor des Hauses von Tag und Nacht. Die Menschen in der Höhle leben i m Dunkel, das aber als solches nicht gesehen wird, weil das Licht, die Helle nicht gesehen wird. So besteht an diesem Charakter der Welt der Menschen schon immer die Verweisung an die Helle. N u r für den Wissenden enthüllt sich die Dunkelheit an ihr selbst. Die Nächtlichkeit des primären Aufenthaltes zeigt sich im Lichte des unwandelbaren Tages der Aletheia. Der Mensch w i r d hineingestellt in den genuinen Gegensatz von Tag und Nacht, Helle und Dunkel. a) Die Menschen Die bisher genannten Spezifika betreffen das In-sein als solches. Die zweite Gruppe von Spezifika dagegen geht auf das In-seiende als solches, einmal auf den Menschen in seiner primären Verfassung, dann auf das Seiende, das in der Welt erscheint, und seine primäre Verfassung. 1. Das Gefesseltsein der Menschen muß zuerst hervorgehoben werden. — Der Gefesselte ist in seiner Bewegung behindert. D a Paideia Bewegung zum allgemeinen Kennzeichen hat, w i r d dieses Spezifikum fundamental. Der Gefesselte kann sich nicht so bewegen, wie er w i l l . Hier aber w i r d das zum Gewichtigen, daß die Menschen sich nicht gefesselt wissen und sich auch gar nicht anders bewegen wollen, als ihnen die Fesselung gestattet. Sie haben sich schon immer in ihr eingerichtet und in sie hineingefunden, nicht als in etwas, mit dem sie sich abzufinden haben, sondern als die positive Bewegungsfreiheit ihres Lebens. Für den Wissenden aber ist sie gerade negative Bewegungsfreiheit. Fesselung besagt Unfreiheit. Die Menschen sind gerade in dem gefesselt, worin allein ihre Freiheit besteht: im Sichbewegen-Können, und zwar auf dem einen Weg durch das eine Tor ins „Freie". Sie sind also schlechthin behindert, das von sich aus zu tun, was sie in die Aletheia bringt und sie erst sie selbst sein läßt. Sie sind dieser ihrer eigensten Möglichkeit beraubt. Sollen sie diese wieder zurückerhal-
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ten, so nie in einer von ihnen ausgehenden Tat, sondern in einem von anderer Seite sie ergreifenden Geschehen. Diese Rückgabe der Bewegungsfreiheit als eigenster Möglichkeit des Menschen kann sich nur ereignen, nie aber kann sie vom einzelnen Menschen an sich selbst vollzogen werden. Das Können ist dem einzelnen sich selbst gegenüber genommen und einer Instanz überantwortet, die nicht in der Macht des einzelnen steht. Wohl aber zeigt die Fesselung an, daß die Bewegungsfreiheit zum Menschen gehört. N u r in den Augen des Wissenden zeigt sich die Gefesseltheit der Menschen. Sie selbst hält sie dagegen schon von K i n d an in Banden; sobald der Mensch selbständig, als Erwachsener auftritt, bewegt er sich schon in Fesseln, die ihm nicht mehr als solche verständlich werden, da er die Ungefesseltheit nicht kennenlernte. Die Menschen in der Doxa verstehen sehr wohl ihre eigenste Möglichkeit, die Freiheit der Bewegung, aber sie müssen sie mißverstehen und ihre Fesselung mit ihrer „Freiheit" identifizieren. — Wieder ist die Vorgängigkeit der Negativität der menschlichen Verfassung zu beachten — hier in der Weise der Privation — : Der Mensch bewegt sich schon immer im Gegenteil bzw. in der Verkehrung seiner Menschlichkeit, so aber, daß er diese in einem versteht und mißverstehen muß. Dies wieder, weil ihm das fehlt, was alle Negativa als solche erhellt. Ja, man geht wohl nicht fehl, wenn man hierin den sokratischen Grundgedanken wiedererkennt: Das Nichtwissen des Nichtwissens ist die fundamentale Negativität des menschlichen In-seins in Welt. 2. Das Gefesseltsein zeigt sich für den Wissenden in Gestalt des Haftens an der einmal zugewiesenen Stelle. Die Menschen kommen nicht von der Stelle. Alle Bewegung, aller „Fortschritt" ist zur Scheinbarkeit verurteilt; er scheint zu sein, was er in Wahrheit nicht ist. So verharren die Menschen an ihrem O r t , d. h. sie bleiben immer dieselben, als welche sie in die Welt gesetzt wurden. Sie gelangen nicht an den Ort, wo sie ihre eigentliche „Aufgabe" erfüllen können. — „Bildung" ist so ausgeschlossen. Alle Bildung im Horizont der Doxa muß Scheinbildung bleiben: nicht Bildung durch Erkenntnis, sondern Bildung durch Kenntnisreichtum, ja, als Kenntnisreichtum, im endlos vermehrbaren Kennenlernen des Kommenden und Gehenden. — Die Aktivität, in der die Menschen zu stehen meinen, enthüllt sich als Passivität. Es geschieht nichts mit ihnen, aber auch nichts durch sie. Alles erstarrt in dieser Ereignislosigkeit trotz aller Vorkommnisse, in dieser Ergebnislosigkeit trotz aller Leistungen. 3. Die scheinbare A k t i v i t ä t enthüllt sich in ihrer Passivität vor allem in dem Ausgeliefertsein an das jeweils Begegnende und Vorkommende. Die Menschen können den Blick nicht von ihm wenden, sie müssen wie gebannt 5«
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dem Schauspiel der Welt mitzusehen und sich mitspielen lassen. Der Basiliskenblick des Entgegentretenden läßt sie nicht los. Sie sind hilflos in dieses Starren gebannt. So muß die eigentliche, weil sich eigene A k t i v i t ä t auf Seiten jener Bewegung liegen, in die der Mensch hineingeführt wird, sobald er in der Paideia von seinen Fesseln befreit ist. — Die Menschen leben vor sich hin in starr geradeaus gebanntem Blick. Unverwandt haftet ihr Blick. Das verweist auf ein weiteres Spezifikum. 4. Es liegt im Fehlen jeder Umsicht, Rücksicht und Übersicht. Der geradeaus gehaltene Blick hindert jedes Herumblicken. Die Menschen können nicht Umschau halten, geschweige denn den Blick abwenden. Sie haben keine Möglichkeit, hinter sich zu schauen. Sie bleiben am jeweils Auftretenden und Vorkommenden hängen und können sein Gehen und Kommen nicht in Woher und Wohin verfolgen bzw. durchschauen. Die Menschen haben daher immer Ansichten, und über sie liegen sie im Streit. Sie suchen sie zu behaupten und darin sich selbst. Daher stehen sie immer auf einem Standpunkt und suchen ihn zu vertreten. Sie haben eine gewisse Voraussicht und lassen infolgedessen eine gewisse Vorsicht in allem walten. Sie lernen, dem Vorübergehenden, vergleichend und festhaltend, so etwas wie Regeln zu entnehmen und mit H i l f e dieser komparativen Allgemeinheit ihrer „Erfahrung" ihre Wissenschaft zu etablieren, die ihnen untereinander Ansehen und Macht, das Vorübergehende aber in ihre Gewalt und Verfügbarkeit bringen soll. — Für den Wissenden enthüllt sich diese primäre Sicht in ihrer Sichtlosigkeit: Die Menschen sehen immer nur an, aber sie sehen nicht ein. I n dieser Negativität west aber immer noch das Ursprüngliche. Zu Sicht kommt es nur da, wo Licht erhellt. So w i r d die Sicht in der Höhle ermöglicht durch das in der Ferne leuchtende Licht. I n all den alltäglichen Meinungen und Ansichten lichtet sich immer noch das Seiende, so aber, daß im Unsichtbarbleiben des Lichtes in seinem Ursprung dies Lichten in der Höhle als Welt nicht in seiner Abhängigkeit sichtbar wird. b) Das Innerweltliche Damit gelangen w i r zur Kennzeichnung weltlichen.
des Seienden als des Inner-
1. Das erste, was sich für den Wissenden einsehen läßt, ist, daß die Menschen nur den bloßen Widerschein sichten und den bloßen Widerhall hören. Die Menschen leben im bloßen Widerschein und Widerhall. Dieser ist nicht nichts. Er ist vielmehr die Sichtbarkeit des primär Unsichtbaren. Das „Seiende in der W e l t " w i r d zwar nur sichtbar durch das Licht, das
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von außen in die Welt eindringt, es scheint also durchaus das Innerweltliche das Seiende selbst wider; aber das Innerweltliche geht auch völlig auf in diesem seinem Widerschein- und Widerhallcharakter. Es besteht strenggenommen für den Wissenden gar keine zweite selbständige Welt neben einer „wahren Welt", sondern die menschliche Welt ist allein in diesem Charakter sie selbst: die Ersieht liebkeit des darin sich gerade Verbergenden. Der Verbergungscharakter liegt in dem Widerschein- und Widerhallcharakter: Das Sichtbare und Hörbare als solches kehrt den Sichtenden und Hörenden von seinem Ursprung ab, hält ihn in Bann, so daß gerade der Verweisungscharakter des Widerscheins nicht mit in den Blick kommt. — Der primäre Aufenthalt des Menschen w i r d Enthüllung und Verbergung in eins, so aber, daß das zweite das erste verschlingt. 2. Das Seiende in der Welt muß daher, vom Wissenden aus, durch seine Schattenhaftigkeit gekennzeichnet werden. Der Schatten ist unabhebbar an seinen Träger gebunden, und er ist nur an ihm und durch ihn, was er ist. I n dieser Gebundenheit gibt er aber durchaus wieder, er bedeutet so etwas wie Anblick dessen, was darin nicht ist. U n d nicht nur vom Seienden selbst, dessen Schatten er ist, bleibt er abhängig, sondern ebenso vom Licht. Licht und Seiendes in ihrer Gegenseitigkeit stellen sich selbst im Schatten und als Schatten dar. Wer diesen als solchen schaut, schaut damit die Verweisung am das entspringenlassende Gegenüber von Licht und Seiendem. Die Schattenhaftigkeit der Schatten hat eine außerordentliche, erschließende Bedeutsamkeit. Das Innerweltliche w i r d so und nur so die Enthüllung des Seienden selbst in dem ihm zugehörigen Licht. Denn wäre nicht schon immer das Seiende selbst beleuchtet wie gelichtet, — die Welt der Menschen wäre nimmermehr. Dann aber muß es sie geben, wie es den Schatten geben muß, wenn ein Ding ins Licht tritt. D a es die Welt der Menschen gibt, ist sie die Enthüllung, daß das Seiende selbst das Unverborgene, immer schon Lichte ist, daß Aletheia und Sein des Seienden dasselbe sind. — Der Schatten wird aber nur als er selbst genommen, d. h. in seiner Positivität verstanden, wenn über ihn hinausgegangen wird. Diese Positivität ist zunächst verborgen. Ja, von dieser Verborgenheit können sich die Menschen nicht selber befreien. Wie sollten sie auch von sich aus die innere Kehre, die im Widerschein vollzogen wird, ersehen. Diese Kehre muß mit ihnen vollzogen werden, besser: an ihnen geschehen; sie selbst können sie nicht von dem Widerscheinenden und Widerhallenden her zu Gesicht bekommen. Sie haben immer schon die Kehre als Abkehr vom Ursprung mitgemacht. Ja, der Ursprung hat sie bereits in die Abkehr hineingezwungen. Von Jugend auf bannt er ihre Blicke, ihre Sinne auf das Innerweltliche.
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3. Die Menschen leben daher in der Identifikation des Seienden mit seinem Widerschein. Die Menschen nehmen das Verbergend-Entbergende als das Unverborgene, als das Seiende in Wahrheit. Das aber setzt voraus, daß sie schon immer und immer noch im Wissen um das Seiende schlechthin und die Wahrheit stehen. Die Abkehr aber zeigt sich gerade darin, daß sie dieses ihr Wissen schon immer vergessen haben. Sie denken zwar ständig das Seiende — eben als das Innerweltliche —, aber sie gedenken nicht des Ursprungs ihres Wissens selbst. Die Menschen sind dem Ursprung ständig voraus, sie haben ihn hinter sich gelassen. Es besagt geradezu das fundamentale Apriori ihrer Erkenntnis, sich selbst und damit ihrem Ursprung in sein Gegenteil voraus zu sein. I n dieser Abwendung vom U r sprünglichen besteht alle Apriorität. Die Menschen bewegen sich nicht in der Unvergessenheit des Seins des Seienden, nicht also in der Aletheia, sondern in seiner Vergessenheit. U n d trotzdem zeigt sich die Aletheia als die Unvergeßlichkeit des Seins. Denn darin, daß die Menschen ständig auf das Seiende aus sind und seinen Schatten als es selbst ansprechen, zeigt sich für den Wissenden jene Unvergeßlichkeit. Sie sprechen von dem Erblickten und Wahrgenommenen als von dem Seienden selbst. Sie sprechen es daraufhin schon immer an, sie sprechen es in diesem Sinne aus und durch. Ihre Sprache verrät den Ursprung, die Unvergeßlichkeit des Seins, auch in dieser verhüllenden, verkehrenden Identifikation. Ihre Sprache wäre unmöglich, wenn sie nicht noch aus dieser Ursprünglichkeit her aufginge. — Die Menschen halten das Wahrnehmbare für das Seiende und halten es als solches fest. So ist es bei ihnen N6mos, Brauch, Gesetz. Das ist das Selbstverständlichste vom Selbstverständlichen bei ihnen. Hier stellt niemand eine Frage oder gar in Frage. Diese „doxische Generalthesis" macht das Fundament des primären Aufenthaltes aus. Darin prägt sich am schärfsten dieses Leben in der Abkehr vom Ursprung aus: in der fraglosen Verständlichkeit des Wahrnehmbaren als des Seienden in Unverborgenheit. 4. U n d schließlich: Das Wahrnehmbare zeigt sich als das Kommende und Gehende, es ist das Vorübergehende. Dieses Vorüberziehende w i r d als das Seiende angesehen. Dann müssen die Menschen sich bemühen, das Kommende und Gehende zum Stehen zu bringen, sie müssen es festsetzen und festhalten, sie müssen es in Gesetz und Regel zu verwahren und sich seiner zu versichern suchen. Sie können also gerade die Vergänglichkeit nicht in ihrem Verweisungscharakter wahren und das Vorüberziehende deshalb gerade als das Vergängliche, Vorübergehende verstehen, sondern in der Identifikation von Vergänglichem und Seiendem müssen sie dessen sicher
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werden: in der Ausmerzung der reinen Vergänglichkeit durch unabänderliche Gesetze, Normen und Fakten. II.
Die Ubergänge
1. Der erste Ubergang Die zweite Phase der Paideia, der Ubergang in die Sphäre der Aletheia, gliedert sich, genaugenommen, in zwei Ubergänge. Der erste bleibt im A n satz stecken und ergebnislos. Erst im zweiten w i r d ein Mensch in die Aletheia gezwungen. 1. Den Ubergang als solchen kennzeichnet erstens das Geschehen der Entfesselung, das aber besagt ja eine Befreiung. Die Fesseln und damit die Starre, die primäre Unbeweglichkeit werden gelöst — hinein in eine neue, bis dahin völlig unbekannte Bewegung. Der Mensch w i r d auf seine eigenste Möglichkeit freigegeben, und diese gerade kommt ihm fremd und ungewohnt vor. Fremd und ungewohnt sind dabei ebenso das InBewegung-versetzt-werden wie das Sich-finden auf einem Weg und das in beiden geschehende Umwenden-müssen. 2. Das zweite Kennzeichen verweist an das früher Gesagte zurück und ist doch als solches neu. Der Mensch w i r d geheilt. Die Menschen in der Doxa werden also Kranken verglichen, die aber von dieser ihrer Krankheit nichts wissen. Ihre Krankheit ist die Aphrosyne, die Sichtlosigkeit in aller Ansicht und Beobachtung des Innerweltlichen. Es fehlt ihnen die Einsicht in das Verhältnis, in welchem sie selbst primär sich aufhalten. Sie erschauen nicht das Ersichtliche in aller Sichtbarkeit. Sie nehmen ständig wahr, aber werden des Seienden selbst und damit der „ H ö h l e " nicht gewahr. So fehlt ihnen die Gesundheit als das rechte Verhältnis zu dem Seienden selbst, wie damit zu sich selbst. Von diesem Mißverhältnis sollen sie geheilt werden. — Es soll aber diese Krankheit der Aphrosyne in ihrer Physis sichtbar werden, und zwar gerade im Ereignis der Befreiung. Die Freigabe des Menschen gibt seine menschliche, d. h. doxische Verkehrtheit selbst frei und enthüllt ihre Physis, ihre Herkunft und ihre Entfaltung. Denn in der Befreiung als einer Periagoge, einer Umwendung, w i r d die primäre Abkehr als Verkehrung des ursprünglichen Verhältnisses ersichtlich. 3. Das dritte, was es zu beachten gilt, liegt in einem hier erst hervortretenden Gegensatz: Mußten w i r bisher vom Menschen im Plural sprechen, so jetzt von ihm im Singular. Es w i r d jeweils einer der Menschen entfesselt. Das schließt zwar nicht aus, daß grundsätzlich alle Menschen be-
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freit werden könnten. Es schließt auch nicht ein, daß nur bestimmte, in irgendeiner Weise designierte Menschen aus ihren Fesseln gelöst werden. Aber das Ereignis der Befreiung geschieht immer nur einem. I n diesem Ereignis w i r d er sozusagen vereinzelt, als einzelner — so können w i r wohl auch sagen — angesprochen und ergriffen. Das Geschehen der Freigabe kommt nicht zugleich und sofort über alle Menschen — nicht also wie eine „Erweckungsbewegung" —, sondern es stößt einem unter ihnen zu. Dieses kann dann immer wieder einem von ihnen zustoßen, aber immer nur einem als dem einzelnen und Ausgezeichneten. Dagegen geschieht das „Hausen in der Höhle" immer schon allen, von K i n d an. Darin sind die Menschen die vielen und alle; darin sind sie sich gleich: Bewohner einer Welt von Jugend auf zu sein, ja sein zu müssen. Auch dies geschieht ihnen, ob sie wollen oder nicht. Ein Für und Wider ist ihnen schon immer abgenommen. Darum brauchen sie sich nicht zu mühen. Die Menschen in dieser ihrer Pluralität sind also die Voraussetzung des Geschehens der Paideia als das, was ihnen als je einzelnen — in Singularität — zustößt. — Auch in dieser Sicht auf den Menschen sieht Piaton von dem Blickpunkt eines Parmenides und Heraklit aus, die dieses Gegenüber immer wieder betonen, im Wissen um die eigene „Berufung", die sie aus den vielen herausruft. — Daher spricht auch das Gleichnis im weiteren Verlauf seiner Darstellung von dem Wege eines einzelnen. Die Rückkehr in die Höhle läßt dann ja auch den Gegensatz zwischen den Menschen und dem einzelnen in aller Schärfe aufbrechen. 4. Der einzelne wird befreit, er wird gezwungen, sich umzuwenden. Dies Passiv gehört wesentlich mit zum Ereignis der Paideia. I m zweiten Übergang w i r d der einzelne sogar mit nicht ablassender Gewalt aus der Höhle hinausgezogen. Nicht nur kann also der Mensch nicht von sich aus die Befreiung durchführen, — sie kommt auch über ihn mit außerordentlicher Gewalt. Ein Mensch w i r d gepackt, ergriffen, er wird gezogen. Überall waltet hier Anänkey Zwang und Nötigung. Die Instanz, die Lösung und Lenkung übernommen hat, stellt sich nicht dar als ein sanftes Bei-der-Hand-Nehmen und gibt nicht ein hilfreiches, freundliches Geleit, sondern ergreift mit harter H a n d und zieht auf den holprigen und steilen Weg, der also keineswegs angenehm und bequem zu beschreiten ist. Hierauf aber nimmt jene Instanz keine Rücksicht. Sie ist unerbittlich, sie läßt nicht wieder los. Die Befreiung hat demnach die Paradoxic an sich, nun erst recht in eine Bindung, ja Knechtung hineinzubringen. Der aus den Fesseln gelöste einzelne w i r d nicht sich selbst überlassen und damit einer absoluten W i l l k ü r überantwortet; sondern sein Befreitwerden heißt: in eine neue, härtere Bindung hineingestellt werden — härter w i r d sie,
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weil ja jetzt diese neue Bindung als solche verstanden wird. A m Gegensatz zum bisherigen Sich-verhalten muß der Mensch das Geschehen, das über ihn kommt, nicht als Befreiung, sondern als Vergewaltigung verstehen, seinen primären Aufenthalt dann sogar als „Freiheit", weil ihm dort die Fesseln dieser seiner „Freiheit" verborgen bleiben. Diese Befreiung bleibt paradox: wider jeden in der Doxa verständlichen Sinn von Freiheit. — Es handelt sich also nicht um eine Befreiung v o n . . . , sondern um eine Freigabe z u . . . Dann aber bedarf es der harten, unablässigen Führung, wenn anders der Entfesselte nicht einer sinnlosen und ihn vernichtenden Ungebundenheit ausgeliefert werden soll. Die Instanz, die die Bande löst, muß also die Verantwortung für den Entfesselten übernehmen, d. h. seine Befreiung als zwingende Bindung und Lenkung durchführen. Diese Instanz darf nicht eher vom freigegebenen einzelnen ablassen, bis sie ihn ins Ziel gebracht hat, wo nun wiederum wohl die Befreiung von dem Zwang der ins Ziel führenden Macht eintritt, aber nur um der letzten, unaufhebbaren Bindung und Leitung durch die Aletheia selbst Platz zu machen. Den ungebundenen Menschen gibt es nicht und darf es nicht geben. 5. Dem ordnet sich das Moment der Plötzlichkeit und Schmerzlichkeit des Beginns der Paideia zu. Ein Mensch w i r d plötzlich gepackt und emporgerissen. Das zeigt, daß in den eben genannten Spezifika auch das der Unvorbereitetheit steckt. Die Menschen können ja auch in keiner Weise darauf vorbereitet sein. Bereit sind sie nur für das Kommen und Gehen des Innerweltlichen, bereit sind sie zu seiner Beobachtung und Sammlung, zu seiner Durchsprache, kurz zum Leben in der Höhle. Vorbereitet sind sie nur durch ihre Fesselung. Paideia setzt ja gerade diese Gebundenheit voraus, auf daß sie selbst als Freigabe geschehe. Sie muß dann selbst plötzlich und unerwartet einsetzen. Sie muß schmerzlich werden, weil sie in das Unerwartete hineinzwingt. Sie bringt ins Ungewohnte und Ungewöhnliche. — Der primäre Aufenthalt, das alltägliche Ethos der Menschen — wie w i r jetzt auch von der ursprünglichen Bedeutung dieses Wortes aus sagen können —, enthält als Konstitutivum die Gewöhnung und die Gewöhnlichkeit. Die Menschen hausen in der Höhle besagt ja: Sie sind mit allem vertraut, es ist ihnen gewohnt als das, worin und womit sie wohnen, es ist das Gewöhnliche, dessen sie ständig gewärtig sind, und das Verständliche, das immer schon im voraus verstanden ist. Darin fühlen die Menschen sich wohl. — So muß der Einsatz der Paideia schmerzvoll sein und anstrengend. Er muß in Schrecken und Pein versetzen, er muß stören und verstören. Das, was jetzt ersichtlich wird, ist das Gegensätzliche zu all dem Gewohnten und Erwarteten. Darin aber zeigt es sich
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von derartiger Übermacht, enthüllt das Gewöhnliche so in seiner ganzen Schwäche und Abhängigkeit, daß es zunächst nicht zu ertragen ist. Der Unvorbereitete sieht nun gar nichts mehr, höchstens die bloße Negation des bisher „Erfahrenen". So also muß er nur diese Negativität „erfahren" und recht daran tun, sich von ihr abzukehren, aus einem vorgängigen Verständnis von negativ und positiv. Das Positive hält er für das, was sein alltägliches Leben ermöglicht. Das aber ist das Gewohnte. Das dazu Gegensätzliche muß ihm „lebensfeindlich" erscheinen, er muß sich dagegen empören, dorthin verschleppt zu werden, wö dieses sein Leben, sein alltägliches Ethos unmöglich gemacht wird. Den größten Schmerz muß ihm aber der über ihn kommende Zwang, die zugemutete Passivität bereiten. Denn hier sieht er sich seiner bisherigen „Freiheit" beraubt und zu etwas „Lebensfremdem", ja „Lebensfeindlichem" veranlaßt, zur reinen „Theoria". Bis dahin erschien ihm sein Leben ungezwungen, nur angewiesen auf die „Schatten"; er selbst aber sah sich dadurch nur aufgefordert, sich diese verfügbar zu machen. Sprache und Wissenschaft, Ämter und Würden, Lehren und Lernen traten gleichermaßen in diesen Dienst. Aber in dieser Abhängigkeit erfährt der Mensch seine „Freiheit", Herr der „Schatten" sein zu können und zu werden. — Dies alles w i r d wie mit einem Schlag aus der H a n d geschlagen. Nichts bleibt, alles verschwindet im maßlosen Licht. Diese Nichtung der Welt in ihrer absoluten Erhellung muß daher von der Welt aus als das Negative schlechthin erscheinen, als das pure Nichts und absolute Dunkel. 6. Es ist die große Verwirrung und Blendung, die über den Menschen kommt. Das Ungewohnte zeigt sich dergestalt. Der Mensch w i r d gerade dessen beraubt, was er im primären Aufenthalt für sein lebensnotwendiges Können halten mußte: das Sehen und Sich-orientieren. Der Mensch, der sich immer schon in die Welt hineingefunden hat und durch sie hindurchfindet, beides mittels der Sicht, findet sich nicht mehr zurecht. Er findet sich entmachtet und seines Mittels entblößt, durch das er sich ermächtigte. So weiß er zunächst weder ein noch aus; nur noch das eine bewegt ihn: so schnell wie möglich zum Ausgangspunkt, zur Höhle zurückzukehren. Verwirrung und Blendung sind also die ersten Anzeichen der neuen Sicht und damit der begonnenen Befreiung des Menschen. Anders kann sie nicht vor sich gehen. So verschlägt es ihm auch die Sprache, und er kann auf die Frage nach dem Sinn des Gesehenen keine A n t w o r t geben. Es ist ihm ja alles genommen, wodurch er bis dahin A n t wort zu finden pflegte. Er kann daher mit der Antwort, die ihm zugesprochen wird, daß er auf dem Wege zum Seienden in seiner Aletheia sei und
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daher in einer Annäherung befindlich, gar nichts anfangen. A u d i diese Rede bleibt ihm unverständlich, weil aus dem bislang Verstandenen in keiner Weise ableitbar. Jetzt allerdings trifft ihn der antwortende Ruf wie aus einer anderen Welt, nämlich aus einem anderen „Sinnhorizont". Denn jetzt w i r d in einem ganz gewandelten Sinne von Seiendem gesprochen. Die Menschen haben ja auch schon das Seiende verstanden, indem sie das Wahrnehmbare als das Seiende auslegten. N u n aber w i r d von etwas anderem als dem Seienden gesprochen, von dem bis dahin als das Seiende Ausgelegten und Genannten aber als von „Nicht-seiendem". I n diesem Sinnwandel w i r d die Welt der Menschen als solche enthüllt und entkräftet und eine neue an ihre Stelle gesetzt. Dieser Sinnwandel ist dann aber zunächst nicht mitzuvollziehen. Er verwirrt nur. Andererseits zeigt sich doch auch das Gemeinsame, mit Hilfe dessen die Uberführung aus dem einen in das andere Verständnis möglich zu werden verspricht. Die Menschen stehen in einem vorgängigen Verständnis von Seiendem. N u r das Wie und Was des darin Verstandenen ist verkehrt. Hier gilt es Wandel zu schaffen. Dazu muß dann allerdings das Verständnis selbst in U r sprung und Ausbildung gewandelt werden. Immer aber bleibt als Anknüpfung die Vorgängigkeit des „Seinsverständnisses". 7. Damit trennt sich die Darstellung des ersten und des zweiten Überganges. W i r verfolgen zunächst den ersten. Denn in ihm resultiert aus dem Einsatz der Paideia nicht so sehr Empörung, als vielmehr Flucht zurück ins schützende Dunkel der Höhle. So kommt es zu einer abwehrenden Rückwendung. Der Vorgang der Paideia als einer Umwendung w i r d rückgängig gemacht. Der Mensch aber muß das „Erlebte" als Trug und Traum hinstellen, als Irrweg und als Gefahr und daher sich mit allen zu Gebote stehenden Kräften gegen Paideia wehren. Ja, er sieht sich durch dieses ihn kurz ergreifende Ereignis nur in seiner primären Ansicht bestätigt. Paideia verführt. Sie nimmt den gesunden Menschenverstand und w i l l die Welt aufheben oder relativieren zugunsten eines „Nichts". Sie macht den Menschen zum Leben unfähig, sie beraubt ihn seiner „natürlichen Kräfte". Sie verwirrt und blendet. Sie läßt den Menschen sich über seine Mitmenschen erheben und gaukelt ihm etwas vor, was er den anderen voraushabe, worin er ihnen überlegen sei. Paideia ist eitel Blendwerk. So dient der mißglückte Versuch der Paideia zur Rechtfertigung der primären Verkehrung. Das in ihm neu zu Gesicht Bekommene gilt hinfort als das Nichtseiende, das für den Wissenden Nichtseiende jedoch als das Seiende. Es ist allein die Welt des primären Aufenthaltes und alle Sicht
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nur Mittel seiner Einrichtung und Bewältigung. So muß Paideia als Störung des üblichen Verhaltens und gängigen Meinens „empfunden" werden™. Sie bringt in Gefahr, alles zu verlieren, was der Mensch sich eroberte. Er droht in ihr sich selbst als „freier Mensch", als „ H e r r " zu verlieren. Sie bricht in den gewohnten Gang ein und bringt alles durcheinander, die Menschen aber auseinander. Es kann daher nur darum gehen, hier zu entstören und die Paideia gefahrlos zu machen. Ihr Maß kann nur das Welt- und Selbstverständnis des primären Aufenthaltes werden, sie selbst also allein als Ausbildung für die immer schon vorgezeichnete Lebensbewältigung ins Ganze eingebaut und eingerichtet werden. 8. I n all dem Eingesehenen schenkt sich dem Wissenden die Einsicht in das „Wesen der Paideia", in ihr wesentliches Zentrum, von dem her alles von ihr Auszusagende sichtbar wird. Paideia bedeutet Periagoge des ganzen Menschen, nämlich in seiner Menschlichkeit. Sie ereignet sich als eine Umwendung. Damit w i r d folgendes gesagt: a) Die Umwendung vollzieht sich als Abwendung von allem, dem der Mensch bis dahin zugewendet war. Gerade das, was die Menschen nicht konnten, den Blick vom jeweils Erblickten abwenden, sich von ihm lösen, das ereignet sich in der Paideia. b) Die Umwendung als Abwendung vollzieht sich als Hinwendung. Nicht werden die Augen geschlossen, nicht w i r d eine „Versenkung" eingeleitet — nicht Mystik, nicht Ekstase, keine Mysterien, kein K u l t — , sondern der Blick soll frei und offen zum Licht, zur Offenheit der Welt sich hinwenden. U n d nur deshalb kann die Paideia einen ersten negativen Effekt erzielen, die Flucht aus ihr. c) Die Umwendung als Hinwendung schließt damit in sich eine Richtungsänderung der Sicht. Es w i r d nun in entgegengesetzter Richtung geschaut. Das bis dahin Erblickte schwindet ganz aus dem Blick. Von ihm w i r d abgesehen. Das aber besagt gerade: Von seiner Sicht — von der primären Sicht der „Erscheinungen" — muß immer ausgegangen werden. N u r so kann ja von ihm abgesehen werden. N u r so kann von ihm auf den Ursprung zurückgeschaut werden. Alle Einsicht vollzieht also immer Rückschau auf den Ursprung, niemals Vorschau des Kommenden. I n der Aletheia aber stellt sich die innere Umkehr dieses Verhältnisses heraus: Die Rückschau in den Ursprung ist identisch mit der Vorschau des Kommenden. Denn immer w i r d nur der Ursprung ankommen. Alles Kommende und Gehende w i r d nur verstanden als es selbst, wenn es aus dem U r 37
Heidegger, a. a. O. S. 21.
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sprung als dem in Wahrheit allein Ankommenden gesichtet wird. — Paideia befreit von der starren, unverwandten Schau des Kommenden und Gehenden und läßt es doch in dieser Ablösung von ihm v o l l in den Blick kommen. So erst w i r d die positive Nichtigkeit des Vorübergehenden selbst gelichtet. Diese Änderung der Blickrichtung hat darin ihre Befremdlichkeit und Unverständlichkeit, weil sie das zunächst Verstandene und Verstehbare versinken läßt und nur das leere „Dunkel" der übergroßen Helle bietet. Dem Blick wird genommen, was ihn his dahin zum Blick machte: das umrissene Erblickbare. Diese ersichtliche Negation macht das Abstoßende und Empörende aus, denn sie beansprucht, die „wahre Sicht" zu gewähren. — Paideia läßt in ihrem Einsatz alles unverständlich werden. d) Die Umwendung führt zu einer radikalen Änderung des Bisherigen und damit zu einer Auf hebung der Ver kehrung, die den primären Aufenthalt trägt. Immer müssen es die Menschen mit dem Widerschein und Widerhall zuerst zu tun haben. Immer müssen sie diese mit dem Seienden selbst identifizieren. Immer muß daher Paideia diese Umkehr der primären Abkehr auf Grund der genuinen Kehre im Erscheinenden geschehen lassen. Sie ist also Abkehr von der Abkehr, Negation des primären Verhaltens und Verhältnisses der Menschen, also Negation der Negation, ein großes Nein. Das macht sie so schwer und unerträglich. 9. Periagoge aber besagt ja auch, daß sie geführtes, veranlaßtes Geschehen ist. Es bleibt demnach die Frage nach der befreienden Instanz. — Vom Ende des Gleichnisses ergibt sich eine einfache Antwort. Diese Instanz t r i t t an einen Menschen heran in Gestalt eines anderen, des großen Pädagogen, — für Piaton in Sokrates beispielhaft geschehen. Der große Erzieher zieht den anderen heran und heraus aus dem primären Aufenthalt, dem alltäglichen Verhalten und Meinen. Er spricht den anderen eines Tages an und läßt nicht eher wieder locker, bis er ihn ins Ziel gebracht hat. Darin zeigt er sich von unerbittlicher Strenge und von unermüdlichem Eifer. Die pädagogische Enttäuschung, die der erste mißglückte Übergang darstellt, läßt ihn nicht an seiner Aufgabe irre werden oder aufgeben, sondern immer erneut die Menschen als einzelne ansprechen und zur Periagoge aufrufen. Der Erzieher führt so und bleibt ständiger Weggenosse, bis er den anderen in der Aletheia weiß und damit bei einer Macht, die nicht mehr des Beistandes eines Menschen bedarf, — bei der Göttin, wie es Parmenides schildert, die den also Herangeführten bei der H a n d nimmt. Der Erzieher ist es, der Fragen stellt und A n t w o r t gibt, der immer erneut seine Mitmenschen und ihre Welt in Frage stellt. — Dann aber muß die Frage auftauchen, wie Paideia überhaupt ihren Anfang
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nimmt, sozusagen im ersten, der da in die neue Sicht gelangt, im ersten „Philosophen", der dann notwendig Pädagoge und Erzieher werden muß. Darüber gibt uns das Gleichnis keine bestimmte Auskunft. Es ist „göttliche Fügung", die hier einsetzt, wie schon in Parmenides' Bild es die Moira dem Menschen zuteil werden läßt, zu der Göttin geleitet zu werden. Es muß also letztlich Aletheia selbst sein, die den Menschen überkommt, ihn herumreißt und ins „Freie" emporhebt. Sehr zu beachten bleibt dabei, daß der Mensch diesem mächtigen Schicksal gegenüber doch die „Freiheit" der Flucht behält, bzw. gewinnt. Er kann sich diesem Schicksal entziehen. Er kann sich vor ihm bergen im Alltag, in der Welt, in der Gewöhnlichkeit des Verständlichen. Er kann um so fester an dieser Welt festhalten. Allerdings kann auch der Fall eintreten, daß alles Sträuben, alles Bergen vergeblich ist und er so seinem Schicksal nicht entgeht. Die Herrschaft der Aletheia bleibt immer souverän, und wenn sie den Menschen zurück ins Gewohnte fliehen läßt, dann nicht, weil dies der Mensch von sich aus vermag, sondern weil sie es zuläßt. Sie versucht es mit ihm und erprobt ihn. Der Mensch aber zeigt sich unerprobt und des Versuches unwürdig. Sie läßt ihn fallen und in dieser seiner Unerprobtheit und Unerfahrenheit enden. — So muß es wohl der Wissende einsehen lernen, dem selbst das Schicksal der Paideia zuteil wurde. 10. Man kann noch nach der Zeitlichkeit des Einsatzes der Paideia fragen. Zweierlei w i r d deutlich herausgestellt: Die Paideia setzt mitten im alltäglichen Leben ein, nun gesehen als zeitlicher Ablauf. Plötzlich w i r d einer der vielen entfesselt und auf den Weg gebracht. U n d zum anderen: Dieses Ereignis ist wiederholbar. Es kann sich immer wieder ereignen. — Betrachtet man nun den primären Aufenthalt auf seine Zeitlichkeit hin, so bemerkt man, daß diese gerade in ihrem Unerwähntbleiben sich in ihrer Unauffälligkeit und Belanglosigkeit zeigt, ja in ihrer Fraglosigkeit einerseits wie in ihrer Endlosigkeit andererseits. Die Menschen suchen das Kommende und Gehende vorauszusehen. So w i r d von ihnen die Zeit als das fraglose Voraus dieses Schauens angesetzt. Von Kindheit an halten sie sich an ihrer Stelle in der Welt auf, welche Stelle sie gar nicht sehen, sondern nur im Schatten wahrnehmen, d. h. im Kommenden und Gehenden in einer relativen Konstanz. Eines Tages w i r d dieser Schatten verschwinden und ein Mensch gestorben sein. Uber die Stelle, an der er eine Zeitlang zu sehen war, werden andere dahingehen. Die Schatten in ihrem Wandel sind immer; die Zeit ist das endlose Kontinuum ihres Wandels. Die Schatten können sich in ihr wiederholen und an derselben Stelle zu späterer Zeit wieder auftreten. Schatten lassen sich so in ihrer relativen Dauer ermessen und berechnen. — Die Paideia ist aber das Unberechen-
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bare, gar nicht eigentlich in dieser Welt der Schatten Vor-sich-Gehende. Sie geschieht sozusagen aus ihr heraus. Sie berührt gar nicht eigentlich die Welt der Schatten. Der Befreite w i r d höchstens eine Zeitlang aus der Welt des primären Aufenthaltes verschwinden. Er w i r d eine Zeitlang nicht in Erscheinung treten und nicht mitreden. Er erscheint wie gestorben. Er w i r d daher die Paideia selbst gar nicht der Zeitlichkeit der alltäglichen Welt einordnen können. Sie geschieht immer unzeitgemäß, vielleicht sogar vom Alltag aus zur Unzeit. Sie entfremdet und entzieht der Zeit. Sie führt dabei selbst ins Zeitlose und erhellt die Zeitlichkeit der Doxa. Von dem primären Aufenthalt aus gesehen geschieht also die Paideia irgendwann und kann immer wieder geschehen. Von ihr selbst her gesehen ist sie der Übergang ins Zeitlose und Unzeitgemäße, sie ist unmeßbar. So hat die Paideia als Übergang die zwei Seiten von Zeit und Unzeit. Von der Welt her gesehen geschieht sie und hat damit scheinbar ihre ermeßbare Dauer. Von der Aletheia aus ist sie die Übereignung ans Zeitlose, an das Immerseiende, an die Unverborgenheit des verbergenden Wandels und damit an die Unverborgenheit der verhüllenden Zeitlichkeit. 2. Der zweite Übergang Während der erste Ubergang ergebnislos endet, führt der zweite ins Ziel, in die Aletheia. 1. Hier tritt zwar auch in der plötzlichen übergroßen Lichtung die Blendung ein. Aber der Gezogene w i r d nicht wieder zurückgelassen, und so geht er den Weg weiter und bis zu Ende. Die Paideia zeigt sich damit an ihr selbst als Weg, und zwar als holpriger und steiler Weg; sie stellt Anund Aufstieg dar. Damit w i r d von ihr her das menschliche Dasein in die Dimension von oben und unten eingewiesen. Die urtümliche Gleichsetzung des Positiven mit dem Oberen, des Negativen mit dem Unteren tritt hier hervor. Der primäre Aufenthalt stellt die untere Sphäre gegenüber einer höheren und oberen dar. Deshalb muß sich der Ubergang selbst als stufenweiser Aufstieg vollziehen. Die Steilheit des Anstieges macht ihn beschwerlich, das seltene Begangenwerden und Ungepflegte des Weges läßt ihn holprig bleiben, der Aufstieg w i r d anstrengend. Wenn der Mensch nicht gezogen würde und fremde Kraft ihn unterstützte, würde er wohl kaum diesen Anstieg bewältigen. Hier zeigt sich so recht der Sinn der „Passivität": der Mensch als Wesen des Bemächtigens und Bewältigens — wie er sich in der Doxa interpretiert — wird ausgeschaltet. Die Paideia steht nicht in seiner Macht. M i t Macht ist nichts getan und nichts in die Gewalt zu bekommen. Er muß einsehen, daß er von einer „Macht" empfangen und um-
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fangen wird, die mit menschlicher Mächtigkeit nichts gemein hat. Vielmehr muß er dieser „Macht" dankbar werden, die ihn diese Hindernisse des Weges überwinden läßt. Dieser Dankbarkeit hat die anfängliche Empörung zu weichen. — Die Eröffnung der Welt geht also immer von oben aus, alles Licht hat seine Region oben gegenüber der Tiefe als dem Dunkel. Dieses Verhältnis bleibt durch das ganze Gleichnis gewahrt. Paideia weist nach oben; Paideia erhebt, wie sie enthebt; sie reißt empor. Wenn aber der Mensch primär in der Tiefe und ihrem Dunkel haust, dann ist es klar, weshalb ihm das Licht so schwer zugänglich wird. 2. Der Weg in die Wahrheit muß beschritten werden. So plötzlich auch auf ihn gestellt wird, so allmählich und schrittweise geht der Aufstieg vor sich. Der Emporgezogene muß sich an Licht und Gelichtetes gewöhnen. Die Lichtfülle kann ihm nicht verringert werden, aber er selbst kann seine Uneinsichtigkeit, seine Blindheit und seinen Abstand verringern. So wie er im primären Aufenthalt sich schon immer gewöhnt und in diesem Ethos seine alltägliche Haltung gefunden hatte, so gilt es jetzt, das neue Ethos zu gewinnen im Sich-gewöhnen an das Neue, auf daß der Mensch diesen Bereich der Aletheia zur neuen Heimat und Wohnstätte nehme. Das Gelichtete zeigt sich darin nicht als das Gewöhnliche, sondern als das Ursprüngliche, der neue Bereich als der genuine Aufenthalt des Menschen, seine Heimat, in der er wahrhaft zu Hause ist. — Der Weg der Eingewöhnung in das Licht der Aletheia geht dabei vom Gelichteten aus. Der Blick w i r d auf das Gelichtete gelenkt, so daß im Weitervorgehen immer größere Nähe zum Licht selbst erreicht wird. Das Licht, die Unverborgenheit, die absolute Offenheit der Welt, w i r d selbst sichtbar an dem jeweils Unverborgenen. So w i r d der Mensch in die volle Ersichtlichkeit des Sich-zeigenden gebracht, die Welt eröffnet sich ihm. Erst am Ende des Weges entbirgt sich die Unverborgenheit selbst: die Sonne. — A u f jeder Stufe w i r d also je anderes als das Unverborgene angesprochen. Erst im Anblick der Sonne kann diese Unverborgenheit des jeweils Unverborgenen in ihrer Abkunft sich entbergen und ihr Stufen- wie Näherungscharakter eingesehen werden. 3. I m Licht der Sonne liegt alles offen zutage. Der Anblick dessen, was das Seiende ist, erscheint jetzt nicht mehr im künstlichen und verwirrenden Licht des Feuers innerhalb der Höhle. Das Seiende selbst steht da in der Bündigkeit und Verbindlichkeit seines eignen Aussehens. Das Freie, in das der Befreite versetzt wird, meint nicht das Unbegrenzte einer bloßen Weite, sondern die begrenzende Bindung des Hellen, das im Licht der miterblickten Sonne erstrahlt. Die Anblicke dessen, was das Seiende
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selbst ist, die Ideen, machen das Wesen aus, in dessen Licht sich jedes einzelne Seiende als dieses oder jenes sehen läßt 3 8 . — Der Mensch hält sich jetzt in der Sicht des Seienden in seiner Ursprünglichkeit auf. Darin aber w i r d ihm auch die Ordnung des Seienden hell. Einmal die Ordnung der Ideen selbst, dann aber auch das ordnende Verhältnis der Ideen zu dem Innerweltlichen. 4. Der so in die Aletheia hinaufgezogene Mensch — der Erzogene — w i r d damit in den vergleichenden Rückblick hineingestellt. Der primäre Aufenthalt offenbart sich an ihm selbst als das Sich-befinden im Scheinbaren, das primäre Wissen als Nichtwissen. Der Erzogene weiß um die Leere jenes Tuns und Treibens in der Höhle. Es enthüllt sich in seiner reinen Betriebsamkeit und Wesenlosigkeit, da ihm das Worumwillen und die Helle des Wissens fehlen. Damit wandelt sich das Ethos des Erzogenen als Haltung gegenüber den beiden Aufenthalten. Sein anfängliches Nein zu dem neuen Aufenthalt wandelt sich in ein Nein zum primären Aufenthalt, weil er den neuen als ursprünglichen einsieht, in dem sein eigenes Menschsein anhebt. Das Nein wandelt sich zum großen Ja gegenüber der Theoria. Er sieht den ersten Aufenthalt als das zu Verlassende und zu Übersteigende ein, in dem nicht seines Bleibens mehr ist; und dies schlechthin und damit allgemein: als für alle Menschen verbindliche Aufgabe. Die Periagoge, die umwendende Herausführung aus der Höhle, offenbart sich ihm als das „eigentliche Leben" des Menschen. Der Pädagoge wird geboren — als „Periagoge". 3. Der dritte Ubergang oder die Rückkehr Damit kommen w i r zum dritten Ubergang, zur Rückkehr in die Höhle. 1. I n diesem Ubergang muß sich zunächst das gleiche ereignen wie im ersten Übergang, die Verdunkelung jeder Sicht. Darin w i r d erst so recht die Finsternis der Welt sichtbar. 2. Das zweite Kennzeichen dieser Rückkehr ist die offensichtliche Diskrepanz zu den Mitmenschen. Es ergeht dem Menschen wieder wie im ersten Ubergang. Der Zurückgekehrte findet sich nicht mehr zurecht. Er hat gerade das alles verloren, was die Menschen in der Welt auszeichnet und untereinander mächtig werden läßt. A l l das ist ihm fremd und ungewohnt geworden. So erscheint er unklug und unbeholfen. Er ist der 3
8 a. a. O. S. 29.
6 Ballauff
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Lächerlichkeit preisgegeben. Die Menschen und der „Gebildete" — wie w i r nun auch sagen können, — verstehen sich nicht mehr. 3. Er muß sich also wieder umgewöhnen, wenn er überhaupt in der Welt der Menschen bestehen w i l l . Das fällt ihm schwer. Der Wechsel des Ethos ist auch deshalb fast undurchführbar, weil der Gebildete gar nicht mehr das Ethos der Aletheia aufgeben kann — es läßt ihn nicht mehr los — noch aufgeben w i l l , denn dem Wollen ist er enthoben. I n diese Spannung w i r d der Gebildete zurückversetzt. 4. Der „Gebildete" muß damit selbst von aller Paideia abschrecken. Ihre „Lebensfeindlichkeit" kommt in seiner Gestalt nur zu offensichtlich vor aller Augen. A m Maßstab des primären Aufenthaltes gemessen macht Paideia „lebensuntüchtig" und beraubt den Menschen all dessen, was er notwendig zur Lebensbewältigung braucht. Paideia erscheint als zwecklos und ergebnislos, die für sie aufzuwendende Mühe als vergeudet. Paideia macht also die Menschen nicht tauglich, sondern zu Taugenichtsen. Wenn das Agathon das ist, was tauglich macht und so den Menschen auch zum Leben „ertüchtigen" muß, dann kann das Agathon, von dem in der Paideia die Rede ist und zu dem in ihr hingeführt werden soll, nicht das „wahre Gute" sein. Das Tauglichmachende und Ertüchtigende muß in etwas anderem liegen als in diesem „Wissen des Agathon". — Für den Wissenden aber nennt das Agathon gar nicht mehr das irgendwie Tauglichmachende, etwa zum Leben in der Welt, — wie das Agathon im „Seinsverständnis" des primären Aufenthaltes interpretiert werden muß, wo alles nur um Ermächtigung und Bewältigung geht —, es nennt vielmehr Maß und Ordnung in ihrer Einsichtigkeit, in ihrer Wahrheit, durch die ein jedes ist, was es ist. 5. U n d doch weiß der „Gebildete" als der Wissende sich berufen, alle auf den Weg in die Aletheia zu bringen. Er muß versuchen, sie frei zu machen. Er darf ihnen die Wahrheit nicht vorenthalten. Er muß Pädagoge geworden sein. — Philosophie und Pädagogik, Wissen und Lehren sind ein und dasselbe, die zwei Seiten des Geschehens der Paideia. — Aber es ist ihm inmitten der Welt weder möglich, sich verständlich zu machen, noch einen sichtbaren Erfolg aufzuweisen. Die Fesselung selbst kann er nicht in den Blick bringen. Er muß als der „Verrückte" erscheinen, der aus aller Ordnung und damit aus der ihm zukommenden Stellung völlig herausgerückt ist. Es ist also nur zu berechtigt, wenn die M i t w e l t die „Befreiungsversuche", die der Gebildete an ihnen durchzuführen sucht, scharf abwehrt und sie als einen Angriff auf Sitte und Recht, Ordnung und Aufbau der Welt hinstellt, ja anklagt. — Sokrates muß von der Welt aus mit
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vollem Recht verurteilt werden. U n d zwar zum Tode, da er als „Gebildeter" eine Quelle ständiger Störung und Beunruhigung darstellt. Die Welt der Menschen sichert sich aber durch ständige Entstörung und beruht auf ihr. Der dritte Übergang, die Rückkehr, steht demnach in strenger Parallele zu dem ersten. Denn auch in der Rückkehr könnte der Wissende empört sein über die Unbildung der anderen, darüber, daß er verurteilt ist, wieder in diesem Unwissen des Nichtwissens sich aufhalten zu müssen, nicht zuletzt empört über die Unbelehrbarkeit der anderen, ihr krampfhaftes und krankhaftes Festhalten an ihrem primären Ethos, von dem sie sich nicht heilen lassen wollen. Aber der Wissende entschlägt sich dieser Empörung. — Sokrates geht nicht nur gefaßt in den Tod, sondern ordnet sich seiner M i t w e l t unter, sie verstehend. — Der Wissende läßt sich durch keinen Widerstand und kein Hindernis abschrecken, immer wieder in die Paideia vorzurufen. Er bleibt unermüdlich der Sprecher und Hüter der Aletheia. — Sokrates spricht es unumwunden aus. Keine richterliche Drohung w i r d ihn von dieser seiner Pädagogie abbringen. Die platonische Paideia lehrt, wenn w i r noch einmal das Gesagte bedenken, etwas sehr Einfaches. Erziehung weist den für den Menschen allein gangbaren Weg des Denkens und versetzt auf ihn. Sie ruft den Menschen zu seiner eigentlichen Tätigkeit auf, nämlich sich einem Gedankengang zu überlassen. Sie geht aus vom anfänglich Wahrgenommenen, als dem Bedenkbaren und Bedenklichen, das schon immer in einer gewissen Vorgedachtheit — etwa im Sinne der Uberlieferung oder des Brauchs und der Sitte — hingenommen wird, und führt hinüber und hinaus zu dem Bedenkenswerten, den Ursprüngen, Voraussetzungen, Maßgaben und Richtpunkten. Dann aber weist sie zurück in die Ausgangsposition. Ja, ihre Hinführung zur Wahrheit setzt erst in die Welt voll ein. Der aus der Welt hinausführende Weg ist doch gerade der Weg in die Welt. N u n weilt der Erzogene beim Innerweltlichen als dem Bedachten, nicht bloß Wahrgenommenen oder Hingenommenen. Er weiß, daß die Dinge in ihrer Wirklichkeit erst auf ihre Wahrheit hin zu beurteilen sind. Von Heraklit an hören w i r von der eigentümlichen Verkehrung, in der sich die Menschlichkeit als Logoszugehörigkeit befindet. Erziehung soll dem abhelfen und der Menschlichkeit zu H i l f e eilen, was gegenüber dem einzelnen Menschen unter Umständen zu hartem Vorgehen werden kann. 6*
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I . Erziehung als Hinführung zur Wahrheit
Die Antike und die Neuzeit haben diesen Gedanken festgehalten und weiterverfolgt. Erziehung hat diese Aufgabe, aus der primären Verkehrtheit zu befreien und der Menschlichkeit die Bahn zu bereiten. Der Gedanke der Logoszugehörigkeit hält sich zwar durch, aber nicht mehr in streng platonischem, geschweige denn in herakliteisch-parmenideischem Sinn, sondern nun als „Vernünftigkeit", als „Natürlichkeit", als „Sittlichkeit". Pestalozzi w i r d diesem Begründungszusammenhang eine eigene Wendung geben, die w i r wohl erst in unseren Tagen recht verstehen lernen.
II. Erziehung als Überwindung der Verkehrung der Menschlichkeit 1. Die Verkehrung der Menschlichkeit und ihre Überwindung nach der Lehre der Stoa Die Stoiker richten den Blick schärfer und eindringender auf die M i t menschen und ihre faktische Lebensführung als alle ihre Vorgänger. Sie sehen sehr genau, daß ihre Mitmenschen keineswegs vernünftig leben oder Vernunft annehmen. So gelangen sie zu einer ausführlichen Lehre von der menschlichen Verkehrtheit oder Diastrophe, der primären Abkehr von der Vernunft, von dem Logos. Diese Lehre bemüht sich, die zwischen Logoszugehörigkeit und faktischem Verhalten der Menschen bestehende Spannung in ihren Weisen und ihrer Genesis aufzuzeigen. Sie wurde immer wieder zur Begründung und Rechtfertigung der Erziehung herangezogen. Für die Menschen bedeutet Arete die höchste Aufgabe. Sie w i r d ihnen nicht geschenkt, sie haben sie selbst zu vollbringen. Dieser Gedanke führt ein Leistungsmoment in die Lehre von der Arete ein und gibt die eigene Vollendung, die eigene „Bildung", dem Menschen in die Hand. Sie zu erreichen w i r d aber dem einzelnen von frühester Jugend an schwer gemacht: „ G o t t schenkt dem Menschen die Tugend nicht; er muß sie selbst wählen. U n d das ist nicht leicht. Denn von Geburt an machen sich schlechte Einflüsse geltend, die zu einer ,Verderbnis', zu einer ,Verkehrung' der Vernunftnatur führen 1 ." Der Mensch ist also von N a t u r gut. Seine faktische, so unvernünftige oder vernunftwidrige Lebensführung muß Resultat einer nachträglichen Verkehrung sein. Zwei Bedingungen hierfür liegen auf der Hand: „Die Vernunft w i r d in ihrem Wesen verdorben teils durch die verführerische Macht der Außendinge, teils durch die schlechte Unterwei1
Fragmente zitiert nach: Stoa und Stoiker. Eingel. u. übertr. v. Max Pohlenz. Zürich 1950. S. 121.
8 6 I I .
Erziehung als Uberwindung der Verkehrung der Menschlichkeit
sung seitens der Mitmenschen. Denn die Natur gibt unverdorbene ,Anlagen' 2 ." Dinge und Mitmenschen verkehren die Heranbildung des Jugendlichen. Aber wie kommt es zu dieser negativen Folge? Die Diastrophe erwächst zunächst aus einer Verlagerung der menschlichen Zielgerichtetheit. Die ursprüngliche Richtung, die dem Menschen von N a t u r vorgezeichnet ist, wandelt sich schon von der Geburt an in eine andersgeartete Zielsetzung. Das ursprüngliche Gute als Maß und Ziel der „Bildung" w i r d durch die Lust verdeckt und entstellt. Diese t r i t t an die Stelle von jenem. So ergibt sich aus dem anfänglichen Verhältnis zu der Umgebung, aus den ersten „Umwelteinflüssen", wie w i r heute sagen würden, eine Verkehrung. „Die Lust ist zwar nicht Gegenstand des ersten Naturtriebes, wohl aber eine Begleiterscheinung, die das Neugeborene sofort kennenlernt. Der Austritt aus dem warmen, feuchten Mutterleib in die kalte, trockene Luft ist mit einem unangenehmen, einem Schmerzgefühl verbunden; das warme Bad, das die Hebamme dem K i n d bereitet, weckt wohliges Behagen. Daher erwächst aus dem doppelten Erlebnis, dem des Schmerzes und dem der Lust, von selbst die Vorstellung, alles Angenehme und Erfreuliche sei ein Gut, was dagegen Schmerz bringe, sei ein Übel und zu meiden 8 ." Kommt dergestalt die Verkehrung durch eine Verlagerung und Verstellung des ursprünglichen menschlichen Zieles zustande, so liegt die nicht minder gewichtige andere Bedingung der Verkehrung in der Mitwelt, in der Gesellschaft. Denn hier w i r d der Mensch seiner ursprünglichen Logoszugehörigkeit entzogen, also der Wahrheit. Die irrige Meinung, die Doxa ergreift und beherrscht ihn. Gerade der Anschein, als führe man ihn dem Logos zu, verschleiert dem einzelnen den Entzug des eigenen Seins. Denn anscheinend w i r d ihm ja die Wahrheit über die Dinge und Verhältnisse gesagt, von Eltern, Lehrern, Erwachsenen. Neben ihnen tauchen die Dichter und schließlich das V o l k auf, die vielen, die alle insgeheim den einzelnen Menschen seiner wahren Bestimmung entziehen. Sie alle sagen nicht die Wahrheit, sie alle sind undurchdachten und ungeprüften Ansichten und Meinungen hörig, sie alle haben nicht die Wahrheit zum Maß ihres Redens und Tuns, sondern nur ihren eigenen Vorteil im Auge oder sind der Tradition verhaftet, so daß sie gar nicht mehr in der Lage sind, Wahres und Unwahres zu scheiden. 2 8
a.a.O. a. a. O.
1. Die Verkehrung der Menschlichkeit und ihre Überwindung
87
„ N u r schwache Fünkchen der Erkenntnis gab uns die Natur, die w i r schnell, durch schlechte Gewohnheiten und Meinungen verderbt, so ersticken, daß nirgends das Licht der N a t u r mehr hervordringt. Es sind nämlich in unseren Seelen angeborene Samen der Tugenden vorhanden, und wenn diese sich ungestört entwickeln könnten, würde die N a t u r selbst uns zur Glückseligkeit führen. N u n aber bewegen w i r uns, sobald w i r das Licht erblickt haben, und vom Vater anerkannt sind, sofort in einer Welt von Schlechtigkeit und größter Verkehrtheit der Anschauungen, so daß w i r sozusagen mit der Ammenmilch den I r r t u m einsaugen. Sind w i r dann den Eltern überantwortet, weiter den Lehrern anvertraut, dann werden w i r so tief in die mannigfachsten Irrtümer eingetaucht, daß dem Wahn die Wahrheit und der festgewordenen Meinung die N a tur selbst den Platz räumt. H i n z u kommen die Dichter, die, von dem Schimmer der Gelehrsamkeit und Weisheit verklärt, gehört, gelesen, auswendig gelernt werden und tief in unserem Herzen Wurzel schlagen. Wenn dann noch als der oberste Lehrmeister das V o l k hinzukommt und die von allen Seiten einmütig zum Schlechten drängende Masse, dann werden w i r vollends von den verkehrten Meinungen angesteckt und fallen von der N a t u r ab 4 ." Aus diesen Worten hören w i r sowohl Piatons Abwehr der Dichtung als auch Heraklits Ablehnung der „vielen" heraus. Hier w i r d eine „Gesellschaftskritik" ausgesprochen, die mehr als einmal den Hintergrund für eine Erziehungslehre abgeben sollte. I n der Tat w i r d in diesen Ausführungen ein Problem der Bildung aufgezeigt, das sich immer wieder in ihr stellt. Die Überrumplung eines selbständigen, durchdachten Bildungsgangs durch starre Tradition, durch das Versagen des Elternhauses und der Lehrer, durch die Gasse und die jeweils vorherrschenden „Trends", um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen, — das alles w i r d hier schon sichtbar. Die Stoa ist nicht bei dem Aufweis dieser beiden Grundbedingungen der Verkehrung stehengeblieben. Sie ist diesen Erscheinungen genauer nachgegangen und hat eine gründliche Analyse vorgelegt, um dadurch die nach ihrer Einsicht wahre und ursprüngliche Haltung des Menschen herausstellen zu können. Was kennzeichnet dieses Leben der vielen, diese Gesellschaft, wenn man sie vom Standort wahrer Paideia betrachtet? Besonders Seneca und Epiktet haben ausführliche Hinweise gegeben. 4
a. a. O. S. 121 f.
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Die M i t w e l t verleitet den einzelnen dazu, sich den anderen anzupassen und ihnen nach dem Munde zu reden. Der einzelne nimmt also nicht das Maß seines Handelns aus eigener Einsicht, sondern unterwirft sich dem der anderen, ja er läuft Gefahr, einer „Egalisierung" zu verfallen, weil er wie die anderen sein möchte. „Wisse: wenn es dir einmal widerfährt, in den Strudel der Außenwelt gezogen zu werden, so daß du einem anderen gefallen willst, dann bist du von deinen Grundsätzen abgefallen. Es muß dir deshalb in allen Verhältnissen genügen, ein Philosoph zu sein. Willst du außerdem als solcher angesehen werden, so sieh dich selbst als solchen an und sei zufrieden 5 ." Der in Wahrheit Wissende, der Philosoph, der nur dem Logos zugehören möchte, muß sich also distanzieren und unbekümmert seines Weges gehen. Daß im übrigen in diesen Worten Epiktets die umgekehrte Gefahr lauert, nämlich die der Arroganz, der anmaßenden Selbsteinschätzung, bedarf keiner weiteren Worte. Kennzeichnend für die alltägliche Lebensführung ist die Zeitvergeudung. „ W i r haben nicht zu wenig Zeit, sondern w i r vergeuden zuviel. Das Leben ist lang genug und reicht audi zur Vollendung der größten Aufgaben aus, wenn es im ganzen recht angewendet wird. Lassen w i r aber das Leben in Luxus und Nachlässigkeit sinnlos dahinfließen, und setzen w i r es für keine wertvolle Aufgabe ein, dann spüren w i r erst unter dem Zwang der letzten Notwendigkeit, daß es vorübergegangen ist, während w i r den Ablauf selbst nicht bemerkten. Es ist schon so: w i r bekommen nicht ein kurzes Leben zugeteilt, sondern w i r machen es selbst kurz 6 ." „Engherzig halten die Menschen ihr Vermögen zusammen, wenn es aber um Zeitverlust geht, sind sie äußerst verschwenderisch, wo doch hier allein Geiz sittlich berechtigt wäre." „Wieviel Zeit hast du selbst vertan, wieviel hat dir törichter Schmerz, alberne Lustigkeit, häßliche Begierde, leeres Geschwätz weggenommen? 5
Epiktet: Handbüchlein der Moral und Auslese aus seinen Gesprächen. Eingel. u. übers, v. W. Capelle. Jena 1925. S. 34. 6 Lucius Annaeus Seneca: Mächtiger als das Schicksal. (Werk. Ausz. dt.) Übertr. u. hrsg. v. Wolf gang Schumacher. Bremen 1958. (Sammlung Dieterich Bd 53) S. 1 f.
1. Die Verkehrung der Menschlichkeit und ihre
berwindung
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Bedenke, wie wenig dir von deinem Leben bleibt! . . . Woran liegt das alles? I h r lebt, als ob ihr immer leben würdet 7 ." Einer der tiefsten Gedanken der Stoa! So ist er auch immer wieder von der Nachwelt aufgegriffen worden. Auch hier w i r d uns erklärt, daß die Zeitlichkeit des Menschen ursprünglich gut ist. Sie genügt in ihrem Ausmaß für die Vollendung der Menschlichkeit. Aber die Menschen wissen nicht Maß zu halten, sie finden nicht das rechte Verhältnis zur Zeit. Darin begegnet uns wieder jene Einsicht, die w i r von den Sophisten an verfolgt haben: Es kommt auf das Ermessen an, und dies ist dem Menschen zugemutet. Für die einen bedeutet die Lebenszeit einen Schatz, den es recht zu verwalten und zu verwenden gilt, für die anderen ein Vermögen, das sie verschwenden. Die Zeit macht keine unbegrenzt verfügbare Habe aus, sondern eine Gabe und ein Maß, in das w i r uns zu fügen haben. Alles kommt daher auf das Ermessen an, alles darauf, die Zeit zu erkennen als das, was sie ist, und unser Maß in ihr zu finden. Sicher hat die Stoa die Zeitlichkeit des menschlichen Seins nicht in ihrem fundamentalen Charakter bis ins letzte durchdacht, besonders für den Vorgang der Erziehung. Aber das Gewicht der Zeit für den Menschen — es w i r d unvergeßlich spürbar. Die weiteren Kennzeichen der Diastrophe erscheinen alle auf dem Hintergrund dieser Maßlosigkeit des Menschen der Zeit gegenüber. Da wäre zu nennen: die alltägliche Ziellosigkeit. „Die meisten aber verfolgen kein bestimmtes Ziel. Ein unsteter Leichtsinn, verbunden mit innerer Unzufriedenheit, treibt sie immer wieder zu neuen Plänen 8 ." Ferner die Flucht vor sich selbst, aus dem eigenen Aufgabenbereich. „Als du deine Dienste anbotest, wolltest du nicht für einen anderen da sein, sondern konntest es mit dir selbst nicht mehr aushalten 9 ." Das klingt wie tiefenpsychologische Erkenntnis, geht aber weit über alles Psychologische hinaus. Denn all das steht ja unter der ernsten Frage, ob w i r unserer Menschlichkeit nachkommen oder nicht. U n d man kann verstehen, daß zu allen Zeiten solche Worte und Rückfragen an den Menschen erschrecken mußten und zur Besinnung brachten. 7
a. a. O. S. 3 f. a. a. O. S. 2. • a. a. O. S. 3. 8
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berwindung der Verkehrung der Menschlichkeit
A n dieser Stelle muß man sich auch das harte Wort von der Hörigkeit und Abhängigkeit sagen lassen, die die Menschen primär gar nicht ablehnen, sondern vielmehr suchen. „ N u r wenige Menschen sind ein Opfer der Knechtschaft, die meisten halten die Knechtschaft selbst fest 10 ." Die Menschen sind froh, wenn ihnen die Selbständigkeit im Ermessen und in der Verantwortung abgenommen wird. Sie sind froh, wenn man ihnen sagt, was zu tun, zu sagen und zu lassen sei. Aber das verkehrt wiederum ihre Menschlichkeit im tiefsten Grund, denn sie lassen sich dem Logos auf diese Weise entziehen. Auch die innere Ruhelosigkeit w i r d ein Anzeichen für die Unerfülltheit der eigenen Menschlichkeit und das Unbehagen an der eigenen Lebensführung. Lärm und Unruhe erfüllen daher die Öffentlichkeit. „Der Schlag soll mich treffen, wenn äußere Ruhe für wissenschaftliche Studien von solcher Wichtigkeit ist, wie man gewöhnlich annimmt. Hier tönt von allen Seiten verschiedenartiger Lärm an mein Ohr. Ich wohne oberhalb des Bades. Stelle dir alle Arten von Geräuschen vor, die einen dazu bringen können, daß man seine Ohren verwünscht. Wenn die kräftigeren Leute sich üben und Gewichte stemmen, wenn sie sich anstrengen oder so tun, als ob sie sich anstrengen, dann höre ich Gestöhn; wenn sie aber die zurückgehaltene Atemluft wieder ausstoßen, höre ich Zischen und scharfes Atemgeräusch. Wenn nun gar ein Ballspieler hinzukommt und anfängt, seine Bälle zu zählen, dann ist es ganz aus. Denke dir hierzu noch die Zänkereien und das Geschrei um die Ergreifung eines Diebes und einen Badegast, der sich beim Baden gern singen hört. Stelle dir weiter die Badenden vor, die ins Badebassin springen und sich dabei mit lautem Klatschen aufs Wasser aufschlagen lassen. Vergegenwärtige dir auch noch die verschiedenen Rufe des Getränkeverkäufers, den Wursthändler, den Kuchenverkäufer und die Kellner aus den Speisehäusern, die ihre Ware jeweils in einem bestimmten, auffallenden Tonfall anpreisen." „Die menschliche Stimme scheint stärker ablenkend zu wirken als das einfache Geräusch. Die Stimme fesselt unsere Aufmerksamkeit, das Geräusch erfüllt nur unsere Ohren mit unangenehmer Empfindung. Aber gegen alle diese Geräusche habe ich mich schon . . . unempfindlich gemacht . . . Mag da draußen Lärm herrschen — wenn nur hier innen 10
a. a. O. S. 50.
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keine Unruhe ist, wenn hier nicht Begierde und Furcht miteinander streiten, wenn hier nicht Geldgier und Verschwendungssucht miteinander im Kampf stehen und eine Neigung die andere quält. Denn was nützt die Ruhe der Umgebung, wenn sich die Leidenschaften in Aufruhr befinden? N u r die Ruhe ist heiter, die uns die Vernunft schenkt 11 ." U n d weiterhin muß gesagt werden: die Menge ist neugierig. Daran zeigt sich ihre Ungebildetheit. „ A n Dingen, die offen daliegen, gehen die meisten Menschen vorüber, alles Versteckte und Verborgene aber wollen sie neugierig untersuchen. . . . Dasselbe Verhalten zeigt die Menge, zeigt der Ungebildete: in alles Geheimnisvolle suchen sie sich hineinzudrängen 12 ." Dafür sind aber die vielen desto gleichgültiger gegen alles, was in Wahrheit der Anteilnahme würdig ist und was in Wahrheit zur Lebensführung heranbildet. „Das Theater ist nämlich gestopft voll, und mit begeisterter Anteilnahme stellt man dort fest, wer ein guter Flötenspieler ist. Auch der griechische Trompeter und der Ausrufer haben Zulauf. Hingegen dort, wo man Untersuchungen über das sittliche Verhalten des Menschen anstellt, wo man lernt, wie man ein sittlich guter Mensch wird, sitzen nur ganz wenige, und die meisten von ihnen scheinen keine vernünftige Beschäftigung zu haben. Es sind Narren und Nichtstuer 18 ." Das sind bittere Worte. Seneca übt hier eine Zeitkritik, die nur zu verständlich ist. Denn die philosophische Bildung war weit entfernt, das ganze V o l k zu durchdringen. „ D i e breite Masse hielt es mit Trimalchio, von dem noch die Grabschrift rühmen sollte, er habe klein angefangen, 30 Millionen Sesterzen hinterlassen und niemals einen Philosophen gehört. I n den Landstädten Italiens höhnten die alten Subalternoffiziere, die dort den Ton angaben, über jeden, der sich mit Philosophie und griechischer Bildung abgab, und die Rhetoren benützten jede Gelegenheit, um gegen die überflüssigen, anmaßenden Philosophen zu wettern, deren Lebenswandel zu ihren Worten in schreiendem Widerspruch stehe." Aber die Leidenschaftlichkeit ihrer Abwehr läßt erkennen, wie gefährlich ihnen der Wettbewerb erschien. Tatsächlich wurde denn auch die Philosophie für die Kaiserzeit ein notwendiger Bestandteil der Erziehung 14 . 11
Lucius Annaeus Seneca: Mächtiger als das Schicksal. S. 86 ff. " a. a. O. S. 107. 18 a.a.O. S. 117. 14 Vgl. Max Pohlenz: Die Stoa. 2 Bde. Göttingen 1948. Bd. I. S. 279.
9 2 I I .
Erziehung als
berwindung der Verkehrung der Menschlichkeit
Seneca wendet sich auch gegen die Selbstzufriedenheit, die mit einer ständigen K r i t i k an den anderen verbunden ist. Diese Selbstzufriedenheit ist das stärkste Hindernis für die menschliche Heranbildung und Vollendung. Seneca weiß sehr wohl, daß seine Zeitkritik keineswegs auf seine Zeit beschränkt bleibt. Die K r i t i k , die die Stoa übt, versteht sich nicht geschichtlich, sondern als eine K r i t i k der reinen Menschlichkeit, wenn man einmal so sagen darf. Daher gelten ihre Analysen der Diastrophe für jede Zeit. U n d man kann das der Stoa nur bestätigen. „ D u irrst, mein Lucilius, wenn du meinst, Verschwendungssucht, Mißachtung guter Sitte und andere Laster, die jeder gerade der Zeit zum V o r w u r f macht, in der er selbst lebt, seien Fehler unseres Jahrhunderts. Der Fehler liegt vielmehr im Wesen des Menschen, nicht im Wesen der Zeit. Kein Zeitalter ist von Schuld frei 1 5 ." Worin liegt dann aber der Ausweg, der Weg, auf dem jene primäre, immer schon eingetretene Verkehrung überwunden werden kann? Wie findet der einzelne zur Ursprünglichkeit zurück? Man muß die Apathie erlernen. I n ihr verhält sich der einzelne gemäß dem Logos inmitten aller Verführung und aller verkehrenden Einflüsse. N u r der Mensch ist in Wahrheit Mensch, der unerschütterliche, unversehrbare Sicherheit erlangt. Entscheidend blieb dabei auch für Seneca die gedankliche Beeinflussung, die den jungen Menschen von den Irrtümern der vulgären Ansichten befreit, ihm das Wissen vom Guten einsichtig werden läßt und dadurch dem Logos die Kraft gibt, sich gegenüber allen andrängenden Vorstellungen die Freiheit zu wahren und das Aufkommen von Erregung und Leidenschaft zu verhindern. N u r auf dem Wege über Erziehung, Lehre und Übung erreichen w i r die innere Geschlossenheit, die zenonische Homologie, die tranquillitas animi, oder wie Seneca sagt, die securitas. Das Wort bezeichnet im Sprachgebrauch der Zeit zunächst die äußere Sicherheit. Seneca sucht die tiefere Herkunft des Wortes in der Versicherung des Seins, die dem Menschen eine unerschütterliche feste Haltung gewährleistet. Schon seit längerem benutzte die Stoa den Ausdruck „Ataraxie" anstelle des von vielen Seiten angegriffenen Wortes „Apathie". Jeder unkontrollierte Antrieb, jede gefühlsmäßige Zustimmung muß von dieser Haltung ausgeschlossen werden. N u r der Logos kann in ihr maßgeblich sein, so sehr 15
Seneca: a. a. O. S. 157.
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jeder Einsichtige auch versuchen muß, die anderen in Güte auf den rechten Weg zurückzuführen 16 . U m diese Ataraxie, diese Unerschütterlichkeit inmitten aller verkehrenden Einflüsse, die das Denken außer Kraft setzen, zu erringen und zu bewahren, bedarf es also der Uberwindung der „Pathe", der „Affekte", der Erregungen und Leidenschaften. Das Wesen des Pathos, der Leidenschaft, w i r d in folgendem gesehen. „ E r (der Logos) wendet sich von sich selbst ab und von jeder vernünftigen Überlegung. Gerade diese bewußte Abwendung vom ruhigen Uberlegen und vom Logos selber ist das Wesensmerkmal des Affektes 17 ." Daher bedarf es der radikalen Umkehr: Der Mensch läßt sich nicht mehr dem Logos entziehen, sondern wendet sich von den Pathe ab. Nicht zurechtstutzen und beschneiden soll man sie, sondern mit Stumpf und Stil ausrotten. Dergestalt besteht durchaus die Möglichkeit, die Apathie zu erreichen. „Das beste M i t t e l gegen die Pathe hat der Stoiker in der festen Erkenntnis, daß diese als Urteile von unserer eigenen Entscheidung abhängig sind und w i r uns von ihnen freihalten können, wenn w i r nur wollen 1 8 ." Der Grundzug der Verkehrung liegt nach allem, was w i r hörten, in der Aufhebung und Überrumplung des selbständigen Denkens. Die stoische Apathie bedeutet aber nicht, wie Epikurs Ataraxie, den Verzicht auf A k t i v i t ä t , soll sie doch im Gegenteil erst die vollkommene Tätigkeit des Logos ermöglichen. Die stoische Apathie ist sicher nicht so stur und starr, wie sie von Gegnern oft hingestellt worden ist. Aber sie trägt doch einen verneinenden, abwehrenden Charakter, der wenig oder gar keine heitere Lebensfreude aufkommen läßt. Die Geringschätzung von Leib und Sinnlichkeit, die die Schulgründer zu erkennen gaben, stieß allerdings bei den Griechen auf Widerspruch. Ein bis dahin unbekanntes Moment war in das Denken eingedrungen 19 . Eng mit diesem Kampf gegen die Leidenschaften hängt eine eigentümliche Wendung zusammen, die Ethik und Pädagogik in der Stoa nehmen. Sie besteht in der Inthronisation des äußersten „Gegenteils" der Pathe, 16 17 18 19
Vgl. M. Pohlenz a. a. O. S. 309 f. Pohlenz: Stoa u. Stoiker, S. 153. a. a. O. S. 161. M. Pohlenz: Die Stoa. Bd. I. S. 152 f.
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das doch nur ist, was es ist, durch die Entgegensetzung. Es ist der Wille, der nun im Denken aufsteigt 20 . I n der späteren Stoa, beim Übergang der griechischen Philosophie an die römischen Rhetoren, Politiker und Denker taucht eine neue Kennzeichnung, ein neues Selbstverständnis des menschlichen Verhaltens auf: der Wille. Die griechische Antike kennt den Willen in dem Sinn, wie er im späten Altertum heraufgeführt und vor allem in der Neuzeit beherrschend wird, nicht. Auch der Grieche kennt das Begehren und das Aussein auf etwas, aber nur so, daß hier immer die gegenständliche Bestimmung und Richtung kennzeichnend bleibt. Schon wenn Homer schildern möchte, wie ein Mensch zu einer Tat schreitet, spricht er nicht von einem Willen, sondern er sagt formelhaft, daß dieser „einen anderen Gedanken erfaßte", der ihm ein Ziel weist. Daraus entspringt für ihn unmittelbar die Tat. Einer besonderen „Willensfunktion" in neuzeitlichem Sinne bedarf es nicht. Piaton untersucht sorgfältig das Begehren und scheidet nach den verschiedenen Gegenständen die seelischen Vermögen. Aber gelenkt werden diese nicht durch einen einheitlichen Willen, sondern durch die Erkenntnis des Guten seitens des Nous. Dieser zeigt dem Menschen, worauf er in Wahrheit aus zu sein hat; er weist dem Streben seine Richtung. Auch für Aristoteles ist die Arete keine ,Willensbeschaffenheit', sondern eine Haltung auf Grund eines Vorsatzes, eine hexis prohairetike. Das Begehren ist zwar mit der Einsicht und dem Denken nicht identisch, aber Form und Richtung des Begehrens werden von der Überlegung gewährt. Ihren prägnantesten Ausdruck hat diese griechische Auffassung in Sokrates' Satz gefunden, daß die Arete ein Wissen um das Gute sei. Ohne dies Wissen um das Agathon ist keine Lebensführung möglich. Wo aber der Mensch in dieses Wissen gelangt ist, da kann er gar nicht anders, als das Gute tun. Niemand geht aus eigenem Antrieb in die Irre. Daß dem Widerstände in uns und um uns entgegentreten, war ihm so gut bekannt wie der Phaidra des Euripides. Aber er appelliert als Grieche nicht an den Willen, sondern an die Erkenntnis, an die Einsicht. Bei Piaton und Aristoteles erscheint daher das Begehren als ein unvernünftiges „Seelenvermögen", das aber gerade, soll es sich nicht selbst vernichten, der Vernunft, der Einsicht bedarf. Auch Zenon erkennt ein gesondertes „Triebleben" an. Aber auch für ihn steht fest, daß der Logos zu herrschen hat und ebenso Ausmaß wie Richtung des Begehrens, der Antriebe bestimmt. Chrysipp zog sogar die 20 Das Folgende im Anschluß an M. Pohlenz: a. a. O. S. 124 ff., vgl. Otto Regenbogen: Seneca als Denker römischer Willenshaltung. In: Regenbogen: Kleine Schriften, München 1961. S. 387—408.
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Konsequenz, die Triebe seien gar nichts anderes als Urteile des Logos, die ein Streben und ein Wirken auslösen. Ein „ W i l l e " als gesondertes „Vermögen" hat in dieser Auffassung keinen Platz. Zwar begann man in der Stoa, eine seelische Stärke neben die Einsicht zu stellen; diese Stärke gewährt dem Menschen, bei der Erfüllung seiner Aufgaben auszuhalten und nicht müde zu werden. Der Tonos der Seele gibt die Kraft, sich gegen alle Ablenkung und Beirrung durchzuhalten gemäß dem Logos. Man erkennt auch eine gewisse Übung der Seele an, eine Einübung im Aushalten; aber der Wille als solcher tritt nirgends als selbständiger Akteur auf. Das w i r d nun anders, als die Römer die Gedanken der Stoa mitzudenken suchen. Da bildet sich immer mehr das Wollen als selbständige und eigenartige Instanz heraus. Zwar bleibt immer noch dem Logos die Maßgabe vorbehalten, aber er sieht sich dem Willen gegenüber, der diese Maßgabe übernehmen kann oder ihr selbständig entgegentritt. Als Seneca „De beneficiis" verfaßte, setzte er für die Dianoia, die rechte Besonnenheit des Gebers und Empfängers, das Wollen, voluntas, ein. Diese Formulierung fand überall Eingang. Wer da fragt, was nötig sei, um gut zu sein, den muß man an den Willen verweisen. Wollen ist nicht Sache des Denkens. Der gute Wille kommt aus den Tiefen der Seele, und es bedarf großer Mühe der Selbsterziehung, daraus eine gefestigte Gesinnung werden zu lassen. Dazu bedarf es dann allerdings des Wissens um das Gute. Den Vorrang hat das Wollen. „ M a g dem Toren lieber das Wissen als das Wollen fehlen", ruft Seneca aus. A n die Stelle des Gegensatzes von Weisen und Nichtwissenden tritt so der des guten und des bösen Willens. „ E i n großer Teil des Fortschritts ist, daß man den Willen zum Fortschritt hat. Dessen bin ich mir bewußt: Ich w i l l , und ich w i l l aus ganzem Herzen." Immer das gleiche zu wollen, darin liegt nach Seneca die „Homologie", der Einklang mit dem Logos. A n die Stelle der Logoszugehörigkeit t r i t t die Selbstbestimmung des Wollens gemäß dem Logos oder aus dem Logos 21 . Diese Wende innerhalb der Stoa entscheidet mit über das Schicksal, über die Geschichte des Abendlandes. Denn der Wille w i r d von nun an immer mehr den Vorrang und die Oberhand gewinnen, und zwar gerade im Denken, in der Selbstverständigung des Menschen, schließlich i m Bedenken 21
Nach M. Pohlenz: a.a.O. S. 319 f.
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dessen, was in Wahrheit ist, — bis eines Tages die Metaphysiker den W i l len zum Urgrund alles Seienden deklarieren und Techniker ebenso wie Politiker seine unermüdlichen Akteure werden. Bevor w i r unsere Frage — die Begründung der Erziehung in der menschlichen Verkehrtheit — in charakteristischen Antworten der Neuzeit weiterverfolgen, muß im Rückblick noch eine Grundeinsicht der Stoa festgehalten werden. Die Vorsokratik findet den Sinn der Paideia in der Besonnenheit, Piaton und Aristoteles übernehmen diesen Gedanken, für beide w i r d Besonnenheit durch Gemessenheit gekennzeichnet. Die Stoa betont ein drittes Moment, das in jenen sicher schon enthalten war, die Gelassenheit. Erziehung bedeutet in der Vorsokratik wie bei Piaton und Aristoteles Einführung in die Wahrheit. Die Stoa verlagert den Akzent: Erziehung muß die Echtheit, die Eigentlichkeit der Lebensführung gewähren. Das ist zwar nur auf dem Umweg über die Wahrheit möglich, aber das Worumwillen bleibt die Echtheit menschlichen Verhaltens, zu der ein jeder angeleitet werden muß. Diesem Gedanken konnte sich das Christentum verwandt wissen und daran anknüpfen. Heraklit undParmenides sprechen von einer Zugehörigkeit des Menschen zum Logos. Die meisten Menschen leben allerdings in einer Hörigkeit gegenüber Dingen und Mitmenschen, Einrichtungen und Überlieferungen, durch die sie dem Logos entfremdet sind. Die Zugehörigkeit zum Logos besagt keineswegs einen Besitz, über den man verfügen könnte, sondern ein Hören der Wahrheit und eine entsprechende Haltung, eben die Besonnenheit. Nicht um Gesinnung handelt es sich, sondern um Besinnung. I n ihr vernimmt der einzelne den Sinn, das Verhältnis und die Einigkeit des Ganzen und kann daher ein jedes, mit dem er es zu tun bekommt, im Ganzen, d. h. an gehörigem O r t und zu angemessener Zeit, als das, was es ist, sehen und nennen. Unser deutsches Wort „Besonnenheit" gibt diesen Zusammenhang gewiß treffend wieder. Der Apaideusia entzogen, also erzogen, ist derjenige, der in der Offenbarkeit des Ganzen steht und damit um das, was Wahrheit als solche ausmacht, weiß. So weiß er auch um den Unterschied von Sein und Schein. I n dieser Sophia darf er den Namen „Mensch" beanspruchen. Piaton entdeckt das Sein des Seienden in den Ideen. N u r wer sie einsehen lernt, kann als Wissender bezeichnet werden. Daß er aus diesem Wissen ans Werk geht und sein Leben zu führen sucht, ist dann nur eine Selbstverständlichkeit. Aus welchem Wissen sollte er denn sonst sein T u n und Lassen herleiten? Wer die Ideen eingesehen hat, der hat die Maße der
2. Die Erziehung zur Natürlichkeit bei Rousseau
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Dinge und menschlichen Verhältnisse erkannt. Er allein kann tapfer und gerecht sein, weil er um sie in ihrer Ermessenheit weiß und damit um ihre Güte. Er ist dem Unmaß und der Maßlosigkeit entzogen. Aristoteles findet im Gedanken des Mesötes den Sinn erfüllter und beglückender Menschlichkeit. Diese liegt nicht nur im Wissen um das, was immer ist in seiner Unwandelbarkeit, sondern ebenso im Ermessen der rechten Mitte von allem, was dem Menschen zur Aufgabe werden kann. Das Angemessene gilt es innerhalb der grenzenlosen Erstreckung von Übertreibung und Ungenüge zu treffen. Wem dies gelingt, dem w i r d selbst Gemessenheit als Kennzeichen geglückter Menschlichkeit zuteil. Die Stoa sieht den Menschen ebenfalls im Ganzen des Seienden, sie schaut dieses Ganze in seiner maßvollen Harmonie, sie erwartet vom Menschen Besonnenheit, nämlich, daß er um das Ganze weiß und ihm sich zugehören läßt; sie erwartet nicht minder Gemessenheit, nämlich daß der Mensch ein jedes, auch sein eigenes Leben, in den menschlich zugänglichen Maßen wahrt und gewähren läßt, — sie fordert aber auch, daß der Mensch sich den Maßen und der Ordnung des Ganzen, also dem Kosmos, fügt, daß er sich dem Schicksal als Vorsehung und Verhängnis überläßt, da dem Schicksal schon immer die Fügung des Ganzen überlassen bleibt. Gelassenheit bezeichnet im Deutschen am besten diese Haltung. Nicht U n tätigkeit ergibt sich aus der stoischen Forderung, sondern das Wissen, in allem Tun in eine unverfügbare Fügung eingelassen zu sein. N u r in dieser Haltung eignet sich der Mensch selbst, nur so ist er eigentlich Mensch. Der Schwerpunkt auch der Paideia verlagert sich von der Wahrheit auf die Eigentlichkeit, bei der alles auf Einstellung, Vorsatz, Haltung ankommt. Die Stoa stellt die große Tradition des Gedankens der Besonnenheit, Gemessenheit und Gelassenheit her, die in der Folgezeit Fortsetzung und Umgestaltung erfahren wird. Die römische Stoa hat im wesentlichen der abendländischen K u l t u r ihr Gepräge gegeben, gerade dadurch, daß sie den griechischen Menschen für klassisch erklärte und sich selbst als Lehrmeisterin einsetzte, die zu diesem Menschentum erziehen möchte 22 . 2. Die Erziehung zur Natürlichkeit bei Rousseau Rousseau w i r d für unseren Gedankengang in dreifacher Hinsicht grundlegend und richtungweisend: durch die A r t und Weise, wie er das K u l t u r problem, das Echtheitsproblem des menschlichen Lebens und dasErziehungs22
Vgl. Ernst Hoff mann: Pädagogischer Humanismus. Zürich u. Stuttgart 1955. S. 184. 7 Ballauff
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problem stellt und eine mögliche Lösung umreißt. Rousseau ist nicht ein originärer Philosoph. Seine Metaphysik übernimmt er aus vielen Quellen. Auch er bewegt sich ganz im Rahmen der neuzeitlichen Reflexivität und ihrer Subjektivität. Aber wie er in diesem Zusammenhang die Probleme sieht und aufrollt, das ist sein eigener Weg. Dabei widerspricht er in vielem der überlieferten Theologie und der gängigen Konzeption der Aufklärung 23 . Die Stellung des Kulturproblems erwächst aus der Einsicht in den Konflikt zwischen Natur und Kultur. Rousseau durchdenkt den neuzeitlichen Begriff der N a t u r in radikaler Weise. Sicher kamen ihm hierbei stoische Uberlieferungen und Montaignes Ansatz zu Hilfe. Aber er wagt auch, die letzten Folgerungen auszusprechen. Der Mensch der Zivilisation ist in seiner Vermitteltheit und Verkehrtheit dem eigenen Ursprung und seinem Maß entzogen, er hat seine Menschlichkeit verloren. So ergibt sich die Frage nach dem Weg des einzelnen in der bestehenden Zivilisation und nach einer Umwertung der anerkannten Wertungen der geschichtlichen Kultur. Das alles trägt Rousseau nicht im Sinne einer zeitgenössischen „ K u l t u r k r i t i k " vor, — er ruft vielmehr auf zu einer grundsätzlichen Besinnung auf das Menschliche. Es geht um die Echtheit, die Eigentlichkeit menschlicher Lebensführung. Die grundsätzliche Infragestellung des Menschen in seinem Sein w i r d in Rousseaus Werken mit allem Ernst und Nachdruck vollzogen. Es ist nicht so sehr das philosophische Problem der Wahrheit, ihre Auffindung und Sicherung, als vielmehr die Fragwürdigkeit des Menschlichen, was Rousseau ergreift. Er schreibt daher nicht in erster Linie eine K u l t u r k r i t i k nieder, sondern seine Schriften bedeuten den ersten großartigen Versuch einer „ K r i t i k der reinen Menschlichkeit". Sie verläßt den traditionellen theologischen Umkreis, sie ist nicht mehr in dem strengen und damit konfessionellen Sinn christlich. Dieser Entwurf einer „ K r i t i k der reinen Menschlichkeit" fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit von Menschsein überhaupt — K a n t verstand sehr wohl diese Intention des Rousseauschen Beginnens, und sein eigenes Werk nahm diese Absicht und H i n sicht in sich auf. Auch Rousseau findet schon den Grundgedanken seiner A n t w o r t in einem kritischen Restriktionsprinzip des Menschseins, etwa in der Beschränkung des menschlichen Seins auf die Erfüllung seines individuellen Könnens. 23 Zu Rousseau vgl. vor allem Martin Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen. Göttingen 1959, 2. Aufl. 1965; ferner Hermann Röhrs: Jean-Jacques Rousseau. Vision u. Wirklichkeit. Heidelberg 1957.
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Diese K r i t i k der Menschlichkeit ist dabei auf die eigene geschichtliche Situation bezogen. Sie hat das heraufkommende technische und w i r t schaftliche Zeitalter vor Augen mit seiner Rationalisierung und Spezialisierung des Menschlichen. Rousseau bleibt die A n t w o r t auf seine Infragestellung nicht schuldig. Ihre schärfste und eindringlichste Darstellung findet sie in „Emile". Die Erziehung bedeutet den Weg, durch den der einzelne in den Stand gesetzt wird, inmitten einer Zivilisation, die den Menschen sich selbst entzieht und der Gesellschaft ausliefert, zu sich und d. h. zu seiner reinen Menschlichkeit zurückzufinden und ihren ursprünglichen Sinn erfahren zu können. Dazu bedarf es nicht nur eines Neubeginns, sondern ebensosehr auch einer Freilegung jener Ursprünglichkeit, deren der Mensch in der Gesellschaft immer schon beraubt wird. Man muß die Natürlichkeit erst einmal wieder sichtbar machen. Diese „Theoria", diese ursprüngliche Sicht, bringt Rousseau zur Sprache. Die Natürlichkeit nennt das Sein und Werden alles Seienden, so auch des Menschen. Daher bemüht sich Rousseau, nicht bloß diesen oder jenen Ubelstand aufzuweisen, nicht bloß einen Urständ des Menschen oder der Menschheit nachzuweisen, sondern vielmehr das Da-Sein des Menschen sichtbar und vollziehbar werden zu lassen. Wann ist ein Mensch in Wahrheit da? Wann ist seine Erscheinung nicht nur Schein? Wie kann die Menschlichkeit in einem Menschen zur vollen, in sich ruhenden Anwesenheit gelangen? Hier geht es nicht mehr um die Beseitigung und Uberwindung von M i ß ständen und Irrwegen. Hier w i r d keine Reform des Erziehungs- und Schulwesens vorgeschlagen. Hier handelt es sich um H e i l und Unheil der Menschlichkeit, die sich in jedem einzelnen Menschen ereignen können. Das H e i l w i r d nicht mehr durch eine sakramentale Heilsanstalt, wie etwa die Kirche, gewährleistet. Es ist dem Menschen selbst überantwortet und damit der Erziehung. Rousseau beginnt seinen Erziehungsroman mit der fundamentalen These von der menschlichen Verkehrtheit. Der Text spricht zunächst von einer Degeneration, die unter den Händen des Menschen eintritt. Daß dies seinem verkehrten Wesen entspringt, w i r d sich zeigen. „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Urhebers der Dinge hervorgeht; alles entartet unter den Händen des Menschen. Er zwingt den heimischen Boden, die Erzeugnisse eines fremden hervorzubringen, einen Baum, die Frucht eines anderen zu tragen. Er vermischt und vermengt Klima, Elemente und Jahreszeiten. Er verstümmelt seinen H u n d , sein Pferd, seinen Sklaven; alles bringt er in Verwirrung; alles stürzt er T
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um; er liebt das Mißgestaltete, das Ungeheuerliche; nichts w i l l er so lassen, wie es die N a t u r geschaffen hat, selbst den Menschen nicht. Es soll eben alles in ähnlicher Weise für ihn abgerichtet werden wie ein zugerittenes Schulpferd, alles zugestutzt werden wie die Bäume seines Gartens 24 ." Diese Fundamentalthese setzt das A x i o m von der Güte des Seienden voraus. Das Seiende ist gut in seiner Ursprünglichkeit, das kann nur besagen, es steht in einer Ordnung, die es als das, was es ist, anwesen läßt. Diese Ordnung gewährt jedem, ein bestimmtes Seiendes zu sein, und sie gewährleistet ihm, das eigene Wesen erreichen und erfüllen zu können. Darin liegt seine Natürlichkeit beschlossen. Was in Gestalt des Menschen in diese Welt als ein geordnetes Ganzes einbricht, bedeutet eine Entfremdung: Jedes Seiende, auch der Mensch selbst, w i r d seinem Wesen entzogen, damit dem ihm ursprünglich zukommenden O r t ; jedwedes w i r d gezwungen, etwas ihm Fremdes zu werden und zu sein. Das aber führt nach Rousseau nicht zur Stiftung einer neuen Ordnung, nicht zu einer Freisetzung des Seienden auf etwas Neues hin, das ihm bis jetzt vorenthalten blieb. Das Prometheische menschlichen W i r kens w i r d hier gar nicht gesehen, wie w i r es etwa bei Erasmus und Paracelsus antreffen. Für Rousseau bedeutet Eingriff und Verwandlung des Anfänglichen durch den Menschen den Ursprung des Bösen, die Störung und Zerstörung jenes geordneten Ganzen und seines schon gesicherten, ordnungsgemäßen Selbstvollzugs. Jedes Seiende ist also in seinem und durch sein Wesen gut, d. h. das, was es allein sein kann und muß, dem es nur entzogen oder überlassen bleiben kann. Das metaphysisch-ontologische A x i o m der prästabilierten Harmonie, wie es Leibniz ausspricht und wie es dem 18. Jahrhundert selbstverständlich wird, steht hinter dieser ersten Aussage Rousseaus, die schon über alles weitere entscheidet. Die Theorie der Natürlichkeit ist damit im Grundriß vorgezeichnet. Die Degeneration, die Verkehrung, die durch den Menschen in die Welt kommt, besteht vorzüglich in der Aufhebung der natürlichen Maße und Grenzen, die schließlich zu einem gewaltsamen Umsturz jener Ordnung führt. Die für Rousseaus Pädagogik wichtigste Folgerung ist nun sicher die These, daß der Mensch selbst von Natur gut sein muß, sofern er jener Ordnung ursprünglich angehört und in ihr einen ihm wesensgemäßen O r t 24
Emil I. Buch. Übers, v. E. v. Sallwürck, Langensalza 1907. S. 9, § 1.
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innehat. Die Herkunft dieses Gedankengangs hat gewiß eine lange Geschichte, bis er in Rousseau eine für die Neuzeit so entscheidende Wendung nimmt. W i r können uns zunächst an die Lehre des Aristoteles von dem natürlichen O r t eines jeden Seienden im Ganzen erinnern, ferner an die mittelalterliche Transzendentalienlehre: ens et bonum convertuntur. Jedes Seiende ist in seinem Sein bzw. Wesen gut, nämlich in seiner Geschöpflichkeit. Sofern es ist, kann dieses Sein keine Negation, kein „ N i c h t " enthalten oder ausmachen. Das Böse liegt daher im Mangel oder Entzug des Seins. Auch für das 18. Jahrhundert w i r d die Vollkommenheit, in der ein Seiendes in die Fülle seines Wesens gelangt, das höchste Ziel. — Ebenso begegnen w i r der stoischen Diastrophe-Lehre in Rousseaus Ansatz und seinen weiteren Ausführungen wieder. Hier mag die anthropologische K r i t i k Montaignes die Brücke geschlagen haben. I m übrigen waren aber die Lehren der Stoa, vor allem der römischen Stoa, im 18. Jahrhundert allgemein bekannt. — Nicht zuletzt geraten w i r mit Rousseaus Fundamentalthese in engste Nähe zur christlichen Lehre vom Sündenfall. Gerade in dieser Beziehung zeigt sich die Eigenart der Rousseauschen Wendung deutlich. Rousseau nimmt für sich in Anspruch, nicht nur die Übelstände aufzuweisen, sondern ihre Ursachen aufzudecken. Er radikalisiert das Problem der Entartung im Sinne der genetischen Methode. Er entwirft sozusagen eine „Genealogie der Laster". Das Böse verstehen, heißt, es in seiner Entstehung begreifen. Die Geschichte vom Sündenfall in der „Genesis" erklärt nach Rousseau aber gerade gar nichts. Warum sündigt Adam? Warum sündigen wir? „Die Erbsünde erklärt alles, ausgenommen ihr Prinzip", schreibt er an den Erzbischof von Paris, „aber das Prinzip zu erklären, darum handelt es sich ja gerade." — „Der Mensch wurde gut geschaffen, darin stimmen wir, glaube ich, beide überein. Aber Sie sagen, daß er böse ist, weil er böse geworden ist, und ich zeige, wie er böse geworden ist 2 5 ." I n Widerspruch zum kirchlichen Erbsündendogma gerät dann Rousseau mit seiner pädagogischen These: Das K i n d hat in sich nur natürlich-gute Anlagen und Neigungen. Das Böse entsteht in ihm durch Fehlerziehung. M i t diesem Widerspruch befand sich Rousseau übrigens in Übereinstimmung mit vielen Theologen und wohl allen Philosophen seiner Zeit. 25
Vgl. M. Rang: a. a. O. S. 108.
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Gerade auch die christliche Apologetik des 18. Jahrhunderts hütete sich wohl, das Schwergewicht auf solche damals anstößigen Lehren zu legen. Sie war vielmehr bemüht, den christlichen Glauben nicht als Widerpart, sondern als Stütze und Krönung des natürlichen Selbstverständnisses des Menschen zu empfehlen. Auch der Streit zwischen den Jansenisten und den Jesuiten spielt hier eine Rolle, der Gegensatz des 18. Jahrhunderts zu Augustinus und Pascal. Gemeinsam ist der christlichen Lehre und Rousseaus Auffassung der Schöpfungsglaube, ferner die Überzeugung, daß das Böse keine eigene Substantialität besitzt, also nicht von sich aus und durch eigene Kraft existiert. — Die Unterschiede liegen wohl vor allem in folgendem: Rousseau sieht im Sündenfall des Menschengeschlechts nicht einen A k t des Ungehorsams gegen das gottgegebene Moralgesetz, sondern eine Entartung des vormoralischen Naturzustandes. Das moralische Gesetz ist erst die A n t w o r t auf diese Entartung. Daher soll ja auch das K i n d bis zur Pubertät durch die „negative Erziehung" vor allem Bösen bewahrt werden, statt in ihm von früh an das sittliche Bewußtsein zu wecken. Auch die unbekümmerte Anerkennung der „Selbstliebe" widerspricht etwa der reformatorischen Theologie, die darin gerade das Wesensmerkmal des sündigen Menschen erkannte. Indem Luther als die Hauptsünde die Abwendung von Gott und die Zuwendung des Menschen zu sich selbst hinstellte, hatte er schärfer noch als Augustin und Thomas, bei denen von einer „geordneten" Selbstliebe die Rede ist, das Wesen der Sünde in die Umkehrung des Denkens, Fühlens und Wollens verlegt. „Cor incurvatum in se" ist die eindrucksvolle Formel Luthers. Ein zweiter Unterschied: Rousseau meint, wenn er von Entartung, Verkehrung spricht, einen geschichtlichen Vorgang. Der Sündenfall Adams ist sicher als ein Ereignis aufgefaßt, das die ganze Menschheit betrifft. Adam ist das „ H a u p t " der sündigen Menschheit, wie Christus das „ H a u p t " der erlösten Menschheit ist. Oder anders gesagt: Der vorgeschichtliche Abfall von Gott begründet die geschichtliche Verderbnis 28 . Rousseau aber kennt eine solche Solidarität aller menschlichen Generationen mit dem ersten Menschen nicht. Seine Hypothese eines schuldlosen Naturzustandes hat nichts zu tun mit dem biblischen Bericht vom Paradies, seine Schilderung der Entartung nichts mit dem biblischen Bericht vom adamitischen Sündenfall 27 . 26 27
a. a. O. S. 448 ff. a. a. O. S. 450.
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Schließlich darf man noch einen Gedanken nicht unbedacht lassen, der in Rousseaus Ansatz steckt: die Selbstermächtigung des Menschen, in der er sich zum Beherrscher der N a t u r macht und sich selbst zu einem Wesen der Zivilisation umzuschaffen trachtet. Darin kommt also nicht nur eine Auseinandersetzung mit dem neuzeitlichen Selbstverständnis des abendländischen Menschen zustande, sondern darin ist auch eine Antithetik zur humanistischen Grundkonzeption enthalten: der Mensch das Werk seiner selbst, das nicht durch N a t u r zustande kommt und auch nicht durch eine „Rückkehr zur N a t u r " sich wiedergewinnt. Der Mensch als Wesen und Geschöpf der K u l t u r — so hat ihn der Humanismus gesehen, so w i r d ihn Herder beschreiben und nach ihm W. v. Humboldt. W i r müssen nun die menschliche Verkehrtheit selbst genauer verfolgen, in der durch menschliches Tun und Verhalten die N a t u r in ihr Gegenteil verkehrt wird. Der Mensch w i r d sozusagen aus seiner eigenen Lebensmitte herausgeworfen. Der Schwerpunkt seiner Lebensführung liegt nicht mehr in ihm selbst, in seinem ursprünglich gewährten Wesen. Strenggenommen liegt die Perversion der Ursprünglichkeit, wie sich zeigen wird, in den Meinungen, in den Gedanken der Menschen über sie. Sie führen zu einem unnatürlichen Handeln. „ W i r kommen mit Empfindungen zur Welt, und von unserer Geburt an wirken die umgebenden Gegenstände auf verschiedene Arten auf uns ein. Sobald unsere Empfindungen uns sozusagen zum Bewußtsein kommen, fühlen w i r uns geneigt, die Gegenstände, wodurch sie hervorgerufen werden, zu erstreben und zu meiden, zunächst je nachdem sie uns angenehm oder widerlich sind, dann aber auch nach Maßgabe der Angemessenheit, die w i r zwischen uns und den Gegenständen finden, und endlich je nach dem Urteil, das w i r nach der von der Vernunft uns eingegebenen Idee von Glück oder Vollkommenheit über sie fallen. Diese Beziehungen erweitern und befestigen sich mit dem Wachsen unserer Empfindsamkeit und unserer Aufklärung; aber da sie selbst unter dem Druck unserer Gewohnheiten stehen, erfahren sie durch unsere Meinungen eine größere oder geringere Veränderung. Vor dieser sind sie, was ich die N a t u r i n uns nenne 28 ." Bei diesen Worten möchte man geneigt sein, die ältere Stoa zu zitieren, denn hier liegen wohl die Wurzeln dieser Ausführungen Rousseaus. Die „ N a t u r in uns" ist also dasjenige, was sich in uns abspielt, unabhängig 28
Rousseau: Emil. Übers, v. E. v. Sallwürck. 4. Aufl. Langensalza 1911. Bd. I. S. 13.
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von den Gewohnheiten und bevor diese übermächtig werden. Dazu gehört die Vorstellung vom Glück und die teleologische Bezugnahme auf diese Vorstellung. A u f diese ersten Beziehungen, so betont denn auch Rousseau, müßte alles zurückgeführt werden, wenn man jeden Menschen sich selbst und damit seinem Glück zuführen möchte. Aber dem widerstreitet die Gesellschaft, die Zivilisation. Denn in ihnen w i r d der Mensch immer für andere erzogen und auf anderes bezogen. Daher w i r d man, wenn w i r nun die Weisen der Abänderung des Natürlichen durchgehen, mit dem „Außer-sich-Sein" des Menschen innerhalb der Zivilisation beginnen müssen, oder um es mit einem auch in unseren Tagen wieder aufgenommenen Terminus auszudrücken: mit der Sorge-Struktur des menschlichen Lebens. — Rousseau kann durchaus als Vorläufer der von Heidegger dargelegten Analytik des menschlichen In-der-Welt-Seins angesehen werden. Der Mensch verlagert das eigene Sein aus sich heraus. Er identifiziert dann das Sein mit dem Haben, das Können mit dem Gelten, das Wissen mit dem Meinen. Zunächst das Außer-sich-Sein in der Umwelt, der Aufweis des verkehrten Verhältnisses des einzelnen zum Seienden um ihn. Der einzelne eilt sich ständig voraus. Sein Leben w i r d durchherrscht von der Bindung an eine verkehrt verstandene Zukunft. „Die Menschen sagen, das Leben ist kurz, und ich sehe ein, daß sie bemüht sind, es so zu machen. Da sie es nicht anzuwenden wissen, beklagen sie sich über die Flüchtigkeit der Zeit, und ich sehe, daß sie immer zu langsam für ihren Geschmack verstreicht. Stets erfüllt von dem Gegenstand, den sie erstreben, sehen sie immer mit Bedauern den Zwischenraum, der sie davon trennt; der eine möchte, es wäre morgen, der andere der nächste Monat, der dritte zehn Jahre später; keiner w i l l heute leben; keiner ist mit der gegenwärtigen Stunde zufrieden, allen verstreicht sie zu langsam. Wenn sie sich beklagen, daß die Zeit zu rasch entflieht, so lügen sie, sie würden viel für die Macht geben, sie beschleunigen zu können 29 ." Der Vorgriff in die Zukunft, der den Menschen seiner Anwesenheit in erfüllter Gegenwart entzieht, ist nicht gebunden an Alter und Lebenslage. Diese Weise zu sein durchgreift das ganze Leben. 29
Rousseau: Kulturideale. Eine Zusammenstellung aus seinen Werken m. Einführung v. Eduard Spranger. Jena 1922. S. 326 = Oeuvres completes. Ed. par V. D. Musset-Pathey. Geneve 1830. Bd. 8. S. 6 = Emile Buch 5. § 190 (S. 301 f.).
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„So wechselt die Szenerie des Lebens: jedes Alter hat seine Triebfedern, die es in Bewegung setzen; aber der Mensch ist immer derselbe. M i t zehn Jahren w i r d er durch Zuckerwerk geleitet, mit zwanzig durch eine Geliebte, mit dreißig durch die Vergnügungen, mit vierzig durch den Ehrgeiz, mit fünfzig durch den Geiz. Läuft er nicht allem nach, nur nicht der Weisheit? Glücklich der, den man gegen seinen Willen zu ihr führt! Was kommt es auf den Führer an, dessen man sich bedient, wenn er nur zum Ziel führt! Die Helden, die Weisen selbst, haben den menschlichen Schwächen ihren Tribut gezahlt; und einer, dessen Hände die Spindeln gehandhabt, war darum nicht minder ein großer Mann 8 0 ." Verlegt der Mensch die Erfüllung seines Selbstseins dergestalt in das, was ihm doch immer wieder eine vorauseilende Zukunft vorenthält, so verlegt er auch das, was er ist, in die Dinge um ihn, in ihren Erwerb und ihren Besitz. Das Sein wandelt sich zum Haben. Ein Mensch ist, was er hat, und nur sofern er es hat. „Wieviel Unglückliche sind bei diesem Unglück umgekommen, weil der eine seine Kleidungsstücke, der andere seine Papiere, der andere sein Geld mitnehmen wollte! Weiß man nicht, daß die Person jedes Menschen zum geringsten Teil seiner selbst geworden ist und daß es kaum der Mühe lohnt, diese zu retten, wenn man alles übrige verloren hat 31 ?" Der Verlust des Menschlichen könnte nicht schärfer gekennzeichnet werden: W o das Selbstsein, die eigene Innerlichkeit fehlt, bleibt nur Leere und Belanglosigkeit. Der wahre Mensch w i r d das ihm Wesentliche nicht im Besitz von Dingen und Beständen suchen, sondern in Empfindung und Gefühl, in Gedanke und Tat. I n der Zivilisation ist dem aber nicht so. I n ihr w i r d die unablässige Vorsorge zur Quelle aller Mühen und Plagen. „Die Vorsorge! Die Vorsorge, die uns fortwährend über uns hinausträgt und uns zuweilen an Stellen bringt, wo w i r nie hinkommen werden, sie ist die wahre Quelle unserer Kümmernisse. Es ist eine wahre Manie für ein so vergängliches Wesen, wie den Menschen, immer in eine fernere Zukunft zu blicken, die so selten kommt, und die Gegenwart zu vernachlässigen, deren man sicher ist! Eine um so verhängnisvollere Manie, weil sie mit dem Alter unaufhörlich zunimmt und mißtrauische, vorsorgliche und geizige Greise sich lieber heute das Notwendigste 30
a. a. O. S. 325 = a. a. O. Bd. 8. S. 50 = Emile, Buch 5. § 266 (S. 331). a. a. O. S. 295 = Bd. 35. S. 33 = Brief an Voltaire über den Optimismus. 31
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versagen, um in 100 Jahren Überfluß zu haben. So halten w i r an allem fest, hängen uns an alles; die Zeiten, die Orte, die Menschen, die Dinge, alles was ist, alles was sein wird, ist für jeden von uns wichtig, unsere Person ist nur noch der geringste Teil von uns selbst. Jeder dehnt sich, sozusagen, über die ganze Erde aus und empfindet alles, was auf dieser großen Oberfläche vor sich geht. Ist es zu verwundern, daß unsere Leiden sich durch all die Stellen vervielfachen, an denen man uns verletzen kann? Wie viele Fürsten betrüben sich nicht durch den Verlust eines Landes, das sie nie gesehen haben! Bei wie vielen Kaufleuten genügt es, sie in Indien anzufassen, um sie in Paris schreien zu lassen 82 !" Zweierlei ergibt sich schon an dieser Stelle als Ausblick auf das eigentliche Sein des Menschen. Die echte Haltung ist in einer uneingeschränkten Hingabe an die Gegenwart, treffender: an den Augenblick zu suchen und an seine sich schenkende Erfüllung. N u r dann ist der Mensch in Wahrheit da. U n d andererseits zeigt sich deutlich: I n Frage steht das Selbstsein des Menschen. Unter welchen Bedingungen und auf welche Weise ist der Mensch in Wahrheit „er selbst"? Dieses Selbstsein enthüllt sich schon auf seine Unabhängigkeit hin, deren Möglichkeit allerdings noch verborgen bleibt. Dem Außer-sich-sein in der Umwelt korrespondiert dasselbe Verhältnis zur Mitwelt. Der einzelne lebt gebunden an die N o r m der Gesellschaft, an den Kanon des Normalen und Herkömmlichen, unter der Diktatur des „ M a n " . Er läßt sich das eigene Wesen von den anderen zuweisen. „Heute, wo viele gesuchtere Spitzfindigkeiten und ein viel feinerer Geschmack die Kunst zu gefallen auf Prinzipien gebracht haben, herrscht in unseren Sitten eine niedrige und trügerische Einförmigkeit, und alle Geister scheinen ein gleiches Gepräge, zu.tragen; unaufhörlich heißt es: die Höflichkeit verlangt, die Schicklichkeit befiehlt; unaufhörlich folgt man dem Herkömmlichen, niemals seinem eigenen Genius. Man wagt nicht mehr zu. scheinen, was man ist, unter diesem beständigen Zwang werden die Menschen, welche diese als Gesellschaft bezeichnete Herde bilden, alle dasselbe tun, wenn man sie in die gleichen Verhältnisse bringt, vorausgesetzt, daß nicht mächtigere Beweggründe sie davon ablenken 33 ." 32 33
a. a. O. S. 185 = Bd. 5. S. 113 = Emile. Buch 2. § 26 (S. 80).
a.a.O. S. 109 f. = Bd. 1. S. 41; Rousseau: Über Kunst und Wissenschaft. Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (Discours
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Die Zivilisation ist durch ihre Reflektiertheit bestimmt. Man lebt in ständiger Veräußerlichung, indem man nur noch den anderen nach dem äußeren Habitus beurteilt. Man lebt in einem ständigen Sich-Vergleichen: Jeder schaut auf den anderen, auf sein Haben, seinen Gewinn, sein Tun und Lassen. Von daher läßt sich ein jeder das eigene Verhalten vorschreiben. Die Lebensführung des einzelnen ist sozusagen gebrochen durch die Spiegelung im anderen. Findet der wirkliche Mensch seine Müßgaben außer sich, so w i r d sie der wahre Mensch in sich selbst, in seinem natürlichen Wesen zu entdecken suchen. I n den aufgewiesenen Phänomenen stellt sich eine Selbstentfremdung des Menschen ein. Der Mensch w i r d sich selbst fern und fremd. Seine wahre Menschlichkeit bleibt ihm unbekannt und unzugänglich. Das zeigt auch der Wandel des menschlichen Seins zum bloßen Schein in Gestalt der gesellschaftlichen Maskierung. „Der Wilde lebt in sich selbst; der stets außer sich selbst befindliche gesellige Mensch weiß nur noch in der Absicht der anderen zu leben, und nur aus ihrem Urteil entnimmt er sozusagen das Gefühl seiner eigenen Existenz 84 ." „Der Mensch in der Gesellschaft steckt ganz hinter seiner Maske. Fast nie lebt er in sich selbst, er ist sich immer fremd und fühlt sich unbehaglich, wenn er in sich zurückkehren muß. Was er ist, ist ein Nichts; was er scheint, ist ihm alles 85 ." Aus diesen Worten Rousseaus w i r d deutlich, daß die Unnatürlichkeit und Verkehrung des Menschlichen im Grunde ein Vorgang der Selbstverständigung des Menschen ist. Das eigene „Selbst" w i r d durch die „Interpretation" konstituiert, die der einzelne in der M i t w e l t erfährt. Aber ebenso versteht der einzelne das, was er selbst ist und kann, aus dem Können und Haben der anderen. So verkehrt sich das menschliche Sein in Schein durch seine „Vermeintlichkeit": Es erwächst aus der Meinung über das eigene Sein, nicht aus dem Vollzug des eigenen Könnens und einer Einsicht in das eigene Wesen, die dieser Vollzug selbst gewährt. Man kann darin eine Wiederkehr der stoischen Diastrophe-Lehre erblicken; denn auch die Stoa hatte das menschliche Unwesen aus dem verkehrten Selbstsur les sciences . . . Discours sur Torigine . . . Dt.). Mit Einl., Ubers, und Anmerkgn. v. Kurt Weigand. Hamburg 1955. (Philos. Bibliothek.) S, 11. 34
Kulturideale S. 166 = Oeuvres compl. Bd. 2. S. 126 == Über den Ursprung der Ungleichheit (Philos. Bibliothek). S. 265 ff. 35
Rousseau: Emile. Hrsg. v. E. v. Sallwürck Bd. II. Buch 4. § 78. S. 29.
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Verständnis der Menschen hergeleitet. Letztlich geht dieser Gedanke auf die antike Lehre von der Doxa zurück, wie sie die Vorsokratik und Piaton durchdacht hatten. Die Menschen befinden sich primär in der Doxa, in der sie einander etwas zu sein scheinen, was sie in Wahrheit nicht sind, und in der sie sich auch über die Welt täuschen. Der Mensch w i r d hier also immer als ein Seiendes vorausgesetzt, dessen Sein von seinem Denken, seinem Verstehen, seinen Vorstellungen über sich bestimmt wird. Sein Denken, sein Verstehen kommen nicht nachträglich zustande, sondern machen ihn zum Menschen, zu einem Menschen in Wahrheit oder einem Menschen in der Selbstverborgenheit. Er ist und sucht zu sein, als was er sich erschlossen ist. N u r unter dieser Voraussetzung kann Erziehung sinnvoll werden, nämlich als Enthüllung des Menschen vor sich selbst und Einweisung in die Wahrheit. Bei einem Wesen, dessen Sein und Stand in der Welt nicht im Denken, nicht in seiner Erschlossenheit gründen, hätte Erziehung gar keinen Ansatzpunkt. N u r Dressur durch empfindlichen körperlichen Zwang könnte erreicht werden. Die Verkehrung des Verhältnisses des einzelnen zu sich selbst muß aber auch in seinem Verhältnis zur Gesellschaft auffindbar sein. A n erster Stelle ist hier die soziale Sklaverei des zivilisierten Menschen zu nennen. „Unsere ganze Weisheit besteht in knechtischen Vorurteilen; unsere ganze Lebensart besteht aus Unterwürfigkeit, Zwang und Zurückhaltung. Der bürgerliche Mensch w i r d geboren, lebt und stirbt in der Sklaverei; bei seiner Geburt zwängt man ihn in das Wickelbett, nach seinem Tode verschließt man ihn in einen Sarg; solange er die menschliche Gestalt an sich trägt, ist er durch unsere Einrichtungen gefesselt88." Die Quelle des gesellschaftlichen Unheils ist in der Ungleichheit zu suchen. „Aus der Ungleichheit sind die Reichtümer entstanden, denn die Worte arm und reich sind relativ, und überall, wo die Menschen gleich sind, w i r d es weder Reiche noch Arme geben. Aus den Reichtümern sind der Luxus und der Müßiggang entstanden, aus dem Luxus sind die schönen Künste, und aus dem Müßiggang die Wissenschaften hervorgegangen87." 36
a. a. O. Bd. I. Buch 1. § 33, vgl. Ernst Mushake: J.-J. Rousseau. Horb a. N. 1948. S. 74. 87 Kulturideale S. 164 = Oeuvres compl. Bd. 1. S. 147 = Au roi de Pologne.
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Die Künste sind aus dem Uberfluß entsprungen, die Wissenschaften setzen die Muße voraus — das, was geschichtlich immer als positiv angesehen wurde, sieht Rousseau im ersten Discours gerade als Verkehrung des Eigentlichen und Ursprünglichen an. Die Ungleichheit w i r d außerdem von der Gesellschaft noch durch die Auszeichnung der Talente gefördert, der eine Herabsetzung und Abwertung der Tugenden entspricht. Denn das besondere Können w i r d gesucht und ausgezeichnet, nicht die Erfüllung schlichter, sich selbst genügender Tugenden wie Treue und Edelmut. „Das ist der offensichtlichste Erfolg all unserer Studien und ihre gefährlichste Konsequenz. Bei einem Menschen fragt man nicht mehr, ob er rechtschaffen ist, sondern ob er Talent hat; bei einem Buch nicht mehr, ob es nützlich ist, sondern ob es gut geschrieben ist. Die Belohnungen werden über den Schöngeist ausgeschüttet und die Tugend bleibt ohne Ehrung. Es gibt tausend Preise für schöne Diskurse, aber keinen für schöne Handlungen 3 8 ." So w i r d die Gesellschaft auch mehr und mehr von der beruflichen Spezialisierung beherrscht. I n Verbindung mit der Arbeitsteilung führt das zur Trennung und Verengung des menschlichen Könnens, der einzelne verkümmert in seiner Totalität 3 9 . Wenn w i r uns der oben durchgeführten Analyse der Verkehrung des Seins ins Haben erinnern, so ist es verständlich, daß die alles beherrschenden Mächte innerhalb der Gesellschaft der Handel und das Geld werden müssen, also das berechenbare Haben und die universale Verfügbarkeit. H a t das Wirtschaftliche den Vorrang, so ist der oberste Maßstab die Verwendbarkeit der Dinge, der Wesen und Menschen zum Ge- und Verbrauch. Alles w i r d berechenbar. „Die alten Politiker sprechen unausgesetzt von Sitte und Tugend; die unsrigen reden nur von Handel und Geld. Einer w i r d Euch sagen, ein Mensch sei in einer bestimmten Gegend die Summe wert, für die man ihn in Algier verkaufen würde; ein anderer w i r d dieser Berechnung nach Länder ausfindig machen, wo ein Mensch nichts wert ist, und andere, wo er weniger als nichts gilt. Sie schätzen die Menschen wie Viehherden ab. Nach ihrer Ansicht ist ein Mensch für den Staat nur das wert, was er verbraucht; ein Sybarit würde also reichlich 30 Lakedämonier aufgewogen haben. Man schließe hieraus, welche von den beiden 38 39
Rousseau: Uber Kunst u. Wiss. usw. S. 47. a.a.O. S. 47 ff.; Kulturideale S. 129.
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Republiken, Sparta oder Sybaris, von einer Handvoll Bauern unterworfen wurde, und welche Asien erzittern ließ 4 0 ." Die Rousseausche Analytik des menschlichen Lebens führt also zur Aufdeckung einer Verkehrung der ursprünglichen Güte des Menschen. Das Verkehrende liegt auch darin, daß die Dinge selbst in ihrem Wesen vergewaltigt werden. Die Zivilisation stellt zwischen Mensch und Ursprung ihre Institutionen und Organisationen und enthebt dergestalt den Menschen seines Ursprungs, diesen durch jene verhüllend und verstellend. Die resultierenden Phänomene, die am einzelnen in der Gesellschaft hervortreten, sind dann folgende. 1. Die Selbstsucht. Der soziale Egoismus w i r d das unvermeidliche Ergebnis der gesellschaftlichen Lebensführung: die Liebe zu sich selbst, die Selbstsucht, in Wunsch und Begierde nach dem Haben und Können der anderen. Der Mensch liebt sich selbst als einen „ W e r t " , dessen Höhe er aber der Schätzung durch andere entnimmt. Er sucht dieses „Selbstsein" als einen Wert um so mehr, je mehr ihn die anderen schätzen und ehren. Die Selbstsucht w i r d also getragen von der rivalisierenden Reflexion auf die anderen: jeder w i l l die anderen übertreffen. Wo ihm dies nicht gelingt, hilft er sich und seiner Selbstschätzung durch Abwerten und Unterbewerten des Könnens und Habens der anderen. Hier liegt der Ansatz zu einer Theorie des Ressentiments41. 2. Die Schwäche des zivilisierten Menschen, denn er w i l l stets das, was nicht sein eigenes Können ausmacht, sondern das der anderen oder des „ M a n " . Nicht aus dem Ermessen dessen, was er ursprünglich ist bzw. ihm zuteil geworden ist, entnimmt er seine Maßstäbe, sondern aus fremden Normen und Leistungen. Es verkehrt sich das Verhältnis von Bedürfnis und Vermögen, von Wollen und Können: die Bedürfnisse des zivilisierten Menschen übersteigen um vieles sein Können. So aber w i r d und bleibt er schwach, da er seinem Wollen nicht nachkommen, seine Begierden nicht stillen kann. Der Mensch verzehrt sich in ohnmächtigen Wünschen. Hier weist Rousseau so etwas wie eine Wunsch-Struktur des menschlichen Lebens auf, als Pendant zu der oben behandelten Sorge-Struktur: das ständige Aussein auf das Unerreichbare, auf das jeweils nicht zu Verwirklichende. Das Leben des Menschen ist dann durch seine Unerfülltheit und 40
a. a. O. S. 35 ff. = Kulturideale S. 122.
41
Hermann Gehrig: J.-J. Rousseau. Bd. 1. Halle 1911. S. 474 f.
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Friedlosigkeit gekennzeichnet. Als Kompensation setzt der phantastische Uberschwang der eigenen Möglichkeit ein: Die Phantasie überschreitet alle Grenzen eines individuell beschränkten Könnens 42 . Sie führt den einzelnen die ganze Welt zu und läßt mit allem Umgang pflegen, ohne doch an Welt, an Dinge und Mitmenschen zu binden oder besondere Leistungen zu verlangen. 3. Die Verweichlichung. Die Zivilisation bringt eine Zunahme an Bequemlichkeit und Annehmlichkeit mit sich, der eine Abnahme des Mutes entspricht. Die Folgen sind Luxus, Zügellosigkeit und eine Hörigkeit gegenüber Dingen und Menschen in den überall vorherrschenden Leidenschaften 43 . 4. Die Unvernünftigkeit. Die meisten Kenntnisse und Erkenntnisse bleiben ethisch bedeutungslos. Wissen und Einsicht werden in die Unverbindlichkeit abgedrängt. Das Ergebnis ist ein Leben, das nicht mehr der Vernunft gemäß ist. Erkenntnis und Wissenschaft bleiben für das Glück der Menschen belanglos, sie tragen nichts mehr zu einer glücklicheren Lebensführung bei. Daher suchen die Menschen auf anderen Wegen glücklich zu werden. 5. Schließlich die Unaufrichtigkeit des menschlichen Miteinander. „Keine aufrichtigen Freundschaften mehr; keine wahrhaftige Achtung, kein begründetes Vertrauen. Argwohn, Mißtrauen, Furcht, Kälte, Zurückhaltung, Haß und Verrat werden sich unausgesetzt unter dieser gleichförmigen und hinterlistigen Hülle der Höflichkeit verbergen, unter dieser so gerühmten Liebenswürdigkeit, die w i r der Aufklärung unseres Jahrhunderts verdanken 44 ." Diese phänomenologische Analytik bietet Rousseau die Grundlage, um die positive Systematik seiner Lehre aufzubauen. Denn die geschilderten Negativ-Phänomene sind gerade das Erschließende für die Echtheit des menschlichen Seins. Ja, diese Phänomenologie steht schon in einer ersten, wenn auch vorläufigen Erschlossenheit des Eigentlichen, sonst ließe sie sich selbst gar nicht aufstellen. Die Phänomene der Zivilisation enthüllen sich auf ihre Negativität und Privativität, auf das Fehlen und den Verlust des Ursprünglichen hin, weil der Betrachter schon so etwas wie das Echte und Wahre im Blick hat. Die Wahrheit liegt in ihnen verborgen, es bedarf 42 43 44
Emile. Buch 2. S. 77 f. Rousseau: Uber Kunst u. Wiss. usw. S. 41. a. a. O. S. 13. Kulturideale S. 110.
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strenggenommen nur der Freilegung der Negativität als solcher, um das, was der Mensch in Wahrheit ist, unverhüllt zu Gesicht zu bekommen. Der Mensch muß sich in die echte Lebensführung als seine ursprüngliche Aufgabe zurückfinden. Der Angehörige der Gesellschaft ist diesem Leben entfremdet. Er läßt sich in seiner Lebensführung völlig von der Zivilisation bestimmen, er wird gelebt. Die Menschen verfehlen zunächst und zumeist das Leben, weil es ihnen nicht gelingt, Können und Selbstverständnis zur Deckung zu bringen. Sie gelangen nicht zu einem wahren Verständnis der eigenen Lebensaufgabe und damit auch nicht zu einem rechten Gebrauch der Begabung. „Wie schnell gehen w i r doch über diese Erde dahin! Das erste Viertel des Lebens ist verflossen, bevor man es zu gebrauchen gelernt; auch das letzte verrinnt, nachdem der Genuß desselben für uns verloren ist. Zuerst verstehen w i r nicht zu leben, bald können w i r es nicht mehr; und in der Zeit, die zwischen diesen beiden wertlosen äußersten Enden liegt, werden drei Viertel der uns übrigbleibenden Frist durch Schlaf, Arbeit, Schmerzen, Zwang und N o t aller A r t aufgezehrt. Das Leben ist kurz, weniger durch seine geringe Dauer, als deswegen, weil w i r von dieser kurzen Zeit kaum genug besitzen, um es genießen zu können. Mag auch der Augenblick des Todes von dem der Geburt weit entfernt sein, das Leben ist immer zu kurz, wenn diese Frist schlecht ausgefüllt ist 4 5 ." U n d doch liegt hier die Lösung dieser Diskrepanz, dieses Problems der rechten Lebensführung auf der Hand. Rousseau entdeckt das kritische Prinzip der praktischen Reichweite menschlichen Daseins. W i r müssen an Rousseaus Begriff des Bedürfnisses anknüpfen. I n den phänomenologischen Analysen tauchte dieser Begriff schon auf. Rousseau bezeichnet damit sowohl die sachlichen Bedürfnisse des Menschen, das, was er braucht, als auch die subjektiven Bedürfnisgefühle, das, was er entbehrt. Diese Gefühle sind die Quelle des menschlichen Wünschens und Wollens, ja der Leidenschaften der Menschen. Natürlich ist nur das notwendige Bedürfnis, welches der unmittelbaren Lebenserhaltung dient. I h m steht das künstliche oder Phantasiebedürfnis gegenüber. Diese Bedürfnisse scheinen ihren Ursprung allein in der Seele des Individuums zu haben. Aber Rousseau findet auch hier einen äußeren Faktor, der nicht mehr in der Ökonomie des Lebens, sondern in einer sozialen Gebundenheit liegt. Phantasiebedürfnisse können in der Seele des einzelnen nur entstehen, 45
Rousseau: Emile. Bd. I I . Buch 4. § 1. S. 1.
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weil sie durch Vorurteile und Wetteifer innerhalb der Gesellschaft gezüchtet werden. Nie könnte ein Robinson andere Bedürfnisse empfinden, als solche, die der Erhaltung und Bequemlichkeit seines leiblichen Lebens dienen. Je mehr ein Mensch für sich selber lebt, desto bedürfnisloser w i r d er. I n der Gesellschaft w i r d die Zahl und Größe seiner Bedürfnisse unermeßlich. Die Gesellschaft, die diese Bedürfnisse schafft, ist aber zugleich so konstruiert, daß sie von deren Befriedigung lebt. Der Künstlichkeit der ökonomischen Struktur der Gesellschaft entspricht die Künstlichkeit der „psychischen Struktur" der Individuen 4 6 . Demgegenüber ist dem einzelnen Menschen immer schon vom Ursprung her, von Natur das gewährt, was die Befriedigung seiner Bedürfnisse herbeiführen kann, nämlich seine Begabung, seine Kräfte, sein menschliches individuelles Können. I n ihnen liegt schon ein Entwurf dessen vor, was ein Mensch zu erfüllen vermag und wo seine Grenzen gezogen sind. M i t dieser vorgängigen Ermessenheit ist also das Prinzip der natürlichen Lebensführung gegeben. Jeder Mensch muß nur lernen, nicht nur diesen Lebenskreis zu erkennen, sondern ihn auch einzuhalten. Das kritische Prinzip liegt also in der praktischen Restriktion des einzelnen auf seine „ N a t u r " , d. h. auf jenes Ganze vorgegebener Möglichkeit, in deren Bereich ihn Erziehung geleiten soll und in welchem er sich sein ganzes Leben über halten muß. Uber der alltäglichen Lebensführung muß das praktische Postulat stehen, das Wollen in Ubereinstimmung mit dem Können zu bringen und streng auf den individuellen Möglichkeitsbereich einzugrenzen. Wollen und Können müssen zur Deckung gebracht werden. Rousseau formuliert diesen obersten Grundsatz der Menschlichkeit daher folgendermaßen: „Der in Wahrheit freie Mann w i l l nur, was er kann, und tut, was ihm gefällt 4 7 ." Glück und Unglück bestehen in nichts anderem als dem Gleichgewicht oder dem Mißverhältnis unseres Begehrens und unseres Vermögens. Wer kann, was er w i l l , und wer w i l l , was er kann, ist glücklich. Dieses Gleichgewicht besitzt der „ W i l d e " von Natur, seine Wünsche übersteigen nicht seine leiblichen Bedürfnisse. N u r das kleine K i n d macht eine Ausnahme. Es ist natürlicherweise schwach, und die Erwachsenen müssen mit ihren Kräften seine Schwäche ausgleichen. Aber das ist nur ein kurzer Ubergangszustand: Sobald das K i n d sich frei bewegen kann, ist es auch 46 47
Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen, S. 105 f. Emile. Buch 2. § 30.
8 Ballauff
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in der Lage, seine wesentlichen Bedürfnisse selbst zu befriedigen. Allerdings droht hier die Gefahr, daß die Erwachsenen Phantasiebedürfnisse wecken, die letztlich unstillbar sind. So muß die Erziehung alles ausschließen, was durch Vergleich und Ehrgeiz dem jungen Menschen Bedürfnisse beibringt, denen er von sich aus niemals nachkommen kann. Durch solche künstlichen Bedürfnisse w i r d der Mensch wiederum schwach, er bleibt der Gesellschaft ausgeliefert; denn von ihr her erwartet er die Erfüllung seiner ohnmächtigen und immer neuen Wünsche48. I n der anfänglichen Schwäche des Kindes lauert allerdings noch eine weitere Gefahr für seine Menschwerdung, wenn nämlich die Erwachsenen in unangemessener Weise seinen Bedürfnissen entgegenzukommen suchen. „Das erste Weinen des Kindes ist eine Bitte. Gibt man nicht acht, so w i r d daraus alsbald ein Befehl. Anfangs lassen sich die Kinder helfen, schließlich lassen sie sich bedienen. So erwächst aus ihrer eigenen Schwäche, aus der zunächst das Gefühl der Abhängigkeit stammt, schließlich die Vorstellung ihrer Macht und Herrschaft 49 ." Daher bedarf es einer Erziehung, die behutsam jenes Maß zu finden sucht, das dem K i n d von N a t u r eigen ist. Das kann nur dadurch erreicht werden, daß die Begabung des Kindes sich unbeeinflußt offenbart. Die Erfüllung des Restriktionsprinzips läßt den Menschen die ihm gemäße Freiheit erringen. Die menschliche Weisheit und das menschliche Lebensglück beruhen auf der Einschränkung aller Wünsche, die unsere Fähigkeiten überschreiten, in dem notwendigen Ausgleich zwischen unserem Können und Wollen 5 0 . Daraus ergibt sich eine Überwindung der menschlichen Schwäche, indem man sie nämlich anerkennt und auf sich nimmt. „Was w i l l man mit der Behauptung sagen: ,der Mensch ist ein schwaches Geschöpf'? Das Wort Schwäche deutet auf eine Beziehung zu dem Wesen, auf das es angewendet wird. Derjenige, dessen Kraft die eigenen Bedürfnisse übertrifft, ist ein starkes Wesen, sei es nun ein W u r m oder ein Insekt. Ubertreffen aber die Bedürfnisse die Kraft, so ist das Geschöpf schwach, gleichviel ob es ein Elefant, ein Löwe, ein Eroberer, ein H e l d oder ein Gott ist. Der abtrünnige Engel, der seine N a t u r verkannte, war schwächer, als der glückliche Sterbliche, der seiner N a t u r 48 49 50
Rang: a. a. O. S. 271 f. a. a. O. S. 272. Emile. Buch 2. § 17.
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gemäß in Frieden lebte. Der Mensch ist immer stark, sobald er sich begnügt, nur das zu sein, was er ist. Er ist schwach, sobald er sich über die Menschen erhaben dünkt. Man bilde sich nicht ein, daß Ausbildung der Fähigkeiten auch zugleich Steigerung der Kraft bedeutet. Diese w i r d im Gegenteil vermindert, je höhere Ziele der Ehrgeiz sich steckt. Daher beobachte man genau die Grenzen des uns zugewiesenen Wirkungskreises und bleibe, wie die Spinne in ihrem Netze, im Mittelpunkt desselben. Dann werden w i r unseren Aufgaben gewachsen sein und brauchen über unsere Schwäche nicht zu klagen; denn w i r werden uns ihrer nie bewußt 5 1 ." Was besagt das anderes, als sich in die natürliche Ordnung zu fügen und damit an dem Platz zu bleiben, der jedem ursprünglich zugewiesen ist! — Darin kehren sicher stoische Gedanken wieder, wie sie uns schon bei Montaigne begegnen. „ O Mensch! Suche dein Lebensglück in dir selbst, dann wirst du niemals unglücklich sein. Fülle den Platz aus, den die N a t u r dir in der Kette der Lebewesen angewiesen hat; nichts w i r d dich daraus verdrängen. Lehne dich nicht auf gegen das harte Gesetz der Notwendigkeit. Erschöpfe nicht durch nutzlosen Widerstand die Kräfte, die der H i m mel dir nicht zur Erweiterung oder Verlängerung deines Daseins gegeben hat, sondern nur, um es nach seinem Ermessen zu erhalten. Dein freier Wille und deine Macht reichen nicht über die Grenzen deiner natürlichen Kräfte hinaus. Alles Übrige ist nur Zwang, Täuschung, Blendwerk 5 2 !" Auch in seinem Alter, als er sich von allen Seiten mißverstanden und bedrängt sieht, tröstet sich Rousseau mit diesem Gedanken. „Ich habe gelernt, das Joch der Notwendigkeit ohne Murren zu tragen. Ehedem zwang ich mich noch immer, an hundert Dingen teilzunehmen; aber da jeder Griff daran sich mir nach und nach entzog, fand ich endlich meine Ruhelage. Von allen Seiten bedrängt, verharre ich im Gleichgewicht, weil ich mich nur noch auf mich selber stütze 53 ." Diese Einstellung setzt allerdings die schon besprochene These von der prästabilierten Harmonie voraus. Diese Harmonie muß nicht nur zwischen dem gegenseitig zugeordneten Können der einzelnen Menschen bestehen, 51 62 53
8»
Emile. Buch 2. § 21. a. a. O. § 29. (Sallwürck S. 81). Rousseau: Träumereien eines einsamen Spaziergängers. Basel 1943. S. 175.
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sondern auch zwischen individuellem Können und sachlicher Aufgabe. Jedes individuelle Können findet Aufgaben, die ihm gemäß sind, die es zu lösen in der Lage ist. Wer sich im Umkreis seiner Begabung zu halten weiß, kann nicht versagen. Der Mensch muß es nur über sich bringen, sich den Dingen und Aufgaben zu versagen, die nicht in jenem Umkreis liegen. Es ist der tiefe Gedanke, daß sich für jeden Menschen ein Platz im Ganzen finden läßt, sofern man sich an jenes Restriktionsprinzip bindet. Die Möglichkeit, daß eine sachliche Aufgabe von sich aus in Bereiche führt, die der einzelne mit seinen Kräften nicht zu durchschreiten vermag, obwohl die gestellte Aufgabe noch keineswegs als gelöst angesehen werden kann — diese Möglichkeit taucht im Zusammenhang der Rousseauschen Metaphysik nicht auf. I n seiner Metaphysik besteht fraglos eine vorgängige Harmonie zwischen Begabung und „Berufung". Rousseau hat diesen tiefsten seiner Grundgedanken audi in religiöser Formulierung dargestellt. So, wenn er im Bekenntnis des savoyischen Vikars schreibt: „Ich fühle mich nur noch als Werk und Werkzeug des großen Wesens, welches das Gute w i l l und tut und auch mein H e i l verwirklichen wird, dadurch, daß mein Wille mit dem seinen zusammenarbeitet." Damit ist weniger eine Zusammenarbeit von Mensch und Gott gemeint, als eine Einfügung des kleinen Menschenwillens in den großen Gotteswillen, eine Abstimmung der Ordnung des menschlichen Lebens auf die des Weltalls. Der Mensch, urgeschichtlich wie alltäglich aus der ursprünglichen Ordnung des Ganzen herausgefallen, verfügt sich, betend wie handelnd, wieder in die göttliche Ordnung 5 4 . Die menschliche Lebensführung, die sich die Restriktion des Wollens auf das Können zum Postulat macht, vollzieht sich in Freiheit. Sie ist für Rousseau das „höchste Gut", nicht etwa die Macht. — Die phänomenologische Analytik wies ja die Unfreiheit der Menschen auf. — Unvereinbar sind Herrschaft und Freiheit. Emil antwortet auf die Frage des Erziehers, wozu er sich nun am Ende ihres gemeinsamen Weges entschließe: „ — zu bleiben, was du aus mir gemacht hast, und aus freien Stükken zu den Ketten, die Natur und Gesetze mir anlegen, keine anderen auf mich zu nehmen. Je mehr ich das Werk der Menschen in ihren Einrichtungen erforsche, desto klarer w i r d es mir, daß sie im Bestreben, 54
Rang: a. a. O. S. 557.
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unabhängig zu sein, sich zu Sklaven machen und selbst ihre Freiheit in nutzlosen Versuchen, sie zu sichern, aufbrauchen. U m dem Drang der Dinge nicht zu weichen, knüpfen sie tausend Bande an; sobald sie dann einen Schritt tun wollen, können sie nicht und wundern sich, daß sie überall festgebunden sind. Mich dünkt, um sich frei zu machen, hat man gar nichts zu tun; es genügt, den Willen, es zu sein, nie aufzugeben. Du, mein Lehrer, hast mich frei gemacht, da du mich gelehrt hast, der Notwendigkeit mich zu fügen. Komme sie denn, wenn es ihr gefällt, ich lasse mich fortnehmen ohne Zwang, und da ich nicht gegen sie ankämpfen w i l l , binde ich mich an nichts, um mich zu halten. Ich habe auf unseren Reisen mich umgesehen, ob ich irgendeinen Winkel der Erde fände, wo ich ganz nur mir selbst gehören könnte; aber an welchem O r t unter den Menschen ist man nicht mehr abhängig von ihren Leidenschaften? Alles wohl erwogen, habe ich gefunden, daß in meinem Wunsche selbst ein Widerspruch lag; denn, wäre ich auch an gar nichts anderes gebunden, so würde ich doch an dem Lande hängen, wo ich mich niedergelassen hätte: mein Leben wäre an dieses Land gebunden wie das der Dryaden an ihre Bäume; ich habe gefunden, daß Herrschaft und Freiheit zwei so unvereinbare Begriffe sind, daß ich nicht einmal Herr einer Hütte sein könnte, wenn ich nicht darauf verzichtete, mein eigener Herr zu sein 55 ." U n d etwas später heißt es: „Die Freiheit findet sich unter keiner Staatsform, sie wohnt im Herzen des freien Menschen; er trägt sie überall mit sich. Der gemeine Mensch trägt überall die Knechtschaft mit sich 58 ." I n Rousseaus Darlegungen, soweit w i r sie bisher durchlaufen haben, steckt eine metaphysische Deduktion der menschlichen Selbstbildung, die wir noch einmal explizit rekonstruieren müssen, um ihrer Tragweite bewußt zu werden. Der ontologische Horizont, in dem w i r uns bewegen, läßt sich durch folgende Sätze umreißen: Alles Seiende ist, was es ist, durch das ihm von N a t u r als Ursprung zugemessene Wesen im Sinne von Dynamis und Telos. Alles Seiende muß sich, um es selbst zu sein, gemäß seiner N a t u r verhalten und vollziehen. 55 58
Emil. Hrsg. v. Sallwürck. Bd. I I . Buch 5. § 462. S. 388. a. a. O. § 466. S. 390.
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Jedem Seienden ist Gesetz und Bahn seines Vollzuges mitgegeben: Es ist nur als Vollzug dieses seines Wesens nach dessen Gesetz und Bahn. Kein Seiendes darf seinem Wesen entzogen werden durch andere Gesetze und aufgezwungene wesensfremde Bahnen. Diese Thesen ermöglichen die anthropologische Deduktion; sie begründen das, was unter der Menschlichkeit des Menschen zu verstehen ist. Der Mensch ist ein Seiendes wie alles andere Seiende; daher gilt für ihn dasselbe, was oben für jedes Seiende abgeleitet wurde. Der Mensch w i r d damit auf sein Wesen als einen Vollzug, der sein Ziel in sich trägt, eingeschränkt. Jeder Mensch soll daher sein Wesen erfüllen. Das schließt die Identifikation von Sollen und Können ein. Der Mensch soll, was er kann, er muß es nur auch wollen. Der Mensch hat alles Seiende dem ihm eigenen Wesen zu überlassen und die Natürlichkeit des Seienden nicht anzutasten. Demgemäß hat er auch sich selbst und seine Mitmenschen auf ihr Wesen hin freizugeben und zur Erfüllung ihres individuellen Wesens gelangen zu lassen. N u r in dieser Identifikation von Wesen und erfüllendem Vollzug ist ein Mensch in Wahrheit da. Wahrheit besagt hier Angemessenheit von Vollzug und Wesen. Jener läßt dieses unverstellt und unvergessen in die Erscheinung treten. Die Freigabe der Dinge und Mitmenschen auf ihr Wesen hin darf aber niemals den sich um sie mühenden Menschen seinem eigenen Wesen entfremden; denn dann handelt es sich in solchen Bemühungen gar nicht um Freigabe, sondern um Entstellung und Verderb der Dinge und Mitmenschen. Diese Verkehrung ursprünglicher Wesensfreigabe ist allerdings schon in Gestalt der Zivilisation eingetreten. Sie erweckt nur den Anschein der Wahrheit und Eigentlichkeit; denn das Seiende, auch die Menschen, werden ihres Wesens enteignet. N u r wenn jeder Mensch sein eigenes Können als Ziel und Maß festhält, kann er auch die Dinge und Mitmenschen, mit denen er es zu tun bekommt, in ihrer natürlichen Ordnung belassen, in der ein jedes es selbst wird. M i t anderen Worten, das, was einem Menschen an Seiendem zur Aufgabe wird, kann ihm nur soweit Aufgabe werden, als es im Bereich seines Könnens liegt. Die Wesensfreigabe der Dinge und Mitmenschen muß zugleich die eigene Wesenserfüllung des freigebenden Menschen ausmachen. Das Wesen des Seienden in seiner Fülle muß also partiell identisch sein mit dem Wesen des Menschen, sonst wäre der Mensch nie in der Lage,
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eine sachliche Aufgabe zu erfüllen. Erkennbarkeit besagt dann z. B.: Dem Menschen ist es gegeben, die Dinge in ihrem Sein, so wie sie sich von sich her zeigen, zu sehen und einzusehen, darin aber zugleich das Erkennen als sein eigenes Können zu vollziehen. Handeln besagt dann, im Be-Handeln der Dinge die eigene A k t i v i t ä t und Spontaneität als menschliche Wesenszüge zu verwirklichen. I m Gefühl w i r d der Mensch nicht nur des Seins der Dinge und Mitmenschen inne, sondern er vollzieht sich selbst als fühlendes Wesen. Das Sein des Seienden ist damit, wenigstens teilweise, zum Sein des Menschen geworden, ihm überantwortet als sein eigenes Können, sein „Vermögen". Daraus folgt der oberste Grundsatz der menschlichen Selbstbildung: Des Menschen einzige Aufgabe ist er selbst. Er trägt, wie alles Seiende, sein Telos in sich; in diesem Sinne ist er Entelechie. Alle sachlichen A u f gaben werden nicht als sachliche wesentlich, sondern sie werden für den Menschen nur insoweit wichtig, als sie dem Vollzug des individuellen Könnens dienen. Der Mensch ist daher auch En-ergeia: er ist nur, sofern und soweit er sich, also seine „Vermögen", zu seinem eigenen Werk macht. Wie alles Seiende, so muß auch der Mensch zuerst und zuletzt für sich selbst aufkommen. N u r soweit dies das K i n d noch nicht vermag, dürfen und müssen ihm die erwachsenen Mitmenschen beistehen. Der Mensch w i r d also auf Seiendes restringiert, das ihm nach Maßgabe seines Könnens Aufgabe werden und Verwirklichung seiner Vermögen bieten kann. Jeder hat es in allen Dingen immer nur mit sich selbst zu tun, mit seinen Vermögen oder Kräften. Alles, was nicht seinem individuellen Können gemäß ist und was nicht seiner Selbstverwirklichung dient, muß er auf sich beruhen lassen. Ja, er muß sich ihm versagen. So kann man abschließend jenen Grundsatz der Selbstbildung formulieren: Die Selbstbildung des Menschen steht a priori unter dem Prinzip der ihrer selbst mächtigen Synthesis der menschlichen Kräfte in der Erfüllung sachlicher und mitmenschlicher Aufgaben um der totalen Verwirklichung des eigenen Wesens willen. Diese „anthropologische Deduktion" wahrt nicht nur das metaphysische Axiom vom Menschen als einem Seienden inmitten von Seiendem, als einer Monade unter Monaden. Sie führt auch den Gedanken der prästabilierten Harmonie konsequent durch. Denn nur unter dieser Voraussetzung kann die These von der Selbstverwirklichung des Menschen aufrechterhalten werden. N a t u r als vorgegebene Ordnung und N a t u r als
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vorgegebenes Wesen in ihrer inneren Zuordnung und Ubereinstimmung gewährleisten allein ein sinnvolles Bemühen um Wesensverwirklichung des Menschen. W i r müssen uns darüber klar sein, daß w i r bis auf den heutigen Tag dieser Metaphysik treu geblieben sind. Allerdings findet sie erst in der Zeit nach Rousseau ihre eindringlichste Darstellung. Sie ist ja auch nicht Rousseaus eigene Konzeption, sondern Grundgedanke der Neuzeit. Sie gelangt aber in seinem Werk zu ihrer ersten großen pädagogischen Konsequenz. So ist die erste, die natürlichste und vornehmste Aufgabe der Erziehung, ein K i n d Mensch werden zu lassen. Diese Aussage ist kein selbstverständlicher Allgemeinplatz, sondern eine umschriebene und ausschließende These. Nicht zu einem Beruf, nicht zu einem Spezialisten, nicht zu einem Staatsbürger darf das K i n d zuerst und vor allem erzogen werden, sondern zu einem Menschen. „ I n der natürlichen Ordnung, nach der alle Menschen gleich sind, verlangt der allen gemeinsame Beruf zunächst, ,Mensch' zu sein. Wer für diesen gut erzogen ist, w i r d schwerlich die damit verbundenen Pflichten noch ein damit verknüpftes A m t schlecht ausfüllen. Möge man einen Zögling für das Militär, die Kirche oder die Advokatur bestimmen: es kümmert mich wenig. Ehe die Eltern ihn zu einem Beruf bestimmten, hat die N a t u r ihn berufen, als Mensch zu leben, und ,Leben' heißt die Kunst, die ich ihn lehren w i l l . Wenn er aus meinen Händen hervorgeht, w i r d er weder Beamter noch M i l i t ä r noch Geistlicher, sondern in erster Linie ,Mensch' sein. Alles, was ein Mensch sein soll, w i r d er ebensogut wie jeder andere sein. Mag das Schicksal ihn veranlassen, seine Laufbahn zu wechseln, so w i r d er doch immer seinen Platz in der Welt ausfüllen 57 ." Menschlichkeit bedeutet demnach die Voraussetzung für jeden Beruf. Berufe sind das Veränderliche, Vertauschbare. Die Menschlichkeit ist aber das Unerläßliche und Unersetzliche. Darin liegt die tiefste Gemeinsamkeit der Menschen. Einen Menschen zu einem Menschen zu erziehen, besagt, diesen Heranwachsenden das werden und sein zu lassen, was er von N a t u r ist. Erziehung hat ihn für seine Individualität freizugeben. M i t anderen Worten, der heranwachsende Mensch darf seiner Individualität nicht frühzeitig entfremdet und unter typisierende Normen gestellt werden. Das Gewicht 57
Emile. Buch 1. § 29. (S. 17 f.).
3. Die Wahrung der Menschlichkeit bei Pestalozzi
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dieser These w i r d spürbar, wenn man sich klarmacht, daß fast alle Erziehungssysteme, die die Geschichte kennt, eine Erziehung zu Typen und normiertem Verhalten nach Vorbildern und festen Maßstäben fordern und vorzeichnen. Ob es sich um den spartanischen Krieger, den stoischen Weisen, den Mönch, den Edelmann oder Gentleman, um den Mandarin oder den kastengebundenen Inder handelt — immer w i r d ein normativer Typus für Erziehung verbindlich. Rousseaus These stellt sich hierzu in strikten Gegensatz. Nicht das Typische, sondern das Individuelle ist verbindlich. Es w i r d also nicht eine abstrakte, generelle Menschlichkeit zur Aufgabe gemacht, sondern das inhaltsreichste Ziel w i r d ins Auge gefaßt, das sich nur denken läßt, die Individualität. Damit bleibt dann allerdings die Aufstellung eines sog. Bildungsideals ausgeschlossen. Für Rousseau ist jede generalisierende oder typisierende Erziehung zum Scheitern verurteilt, weil die Individualität dem Menschen ursprünglich eigen ist und ihm nur gewaltsam entzogen werden kann. Von dieser A r t ist die Zivilisation und ihre Erziehung. So muß es denn darum gehen, den einzelnen ihn selbst sein zu lassen. Dann w i r d er sich zu einem angemessenen Beruf ebenso hinfinden, wie er auch eines Tages als Mitmensch und Bürger in Erscheinung treten wird. 3. Die Wahrung der Menschlichkeit bei Pestalozzi Pestalozzis langer Lebensweg belehrte ihn über Liebe und Glaube als das Eigenste des Menschen; er lehrte ihn aber auch einsehen, daß der Mensch primär das Gegenteil lebt 58 . Der „wirkliche Mensch", der jeder von uns ist, mit dem jeder es täglich zu tun hat, ist ein anderer als der „wahre Mensch", als der Mensch in seiner Wahrheit. A m wirklichen Menschen erscheint zunächst alles Menschliche in sein Gegenteil verkehrt. I n diesem gewirkten und wirksamen Leben des Menschen ist alles in Frage gestellt. Nicht im Sinne einer nachträglichen, etwa von einer Wissenschaft, gestellten Frage! Das Leben geschieht selbst als solche absolute Infragestellung. Durch sie w i r d daher der Mensch nicht so sehr in die Entsprechung gerufen als vielmehr in die Verantwortung, nämlich „Rede und A n t w o r t zu stehen", damit die Ursprünglichkeit wieder hervortrete. Diesen Gedanken des Menschen als Wesen der Verkehrtheit hat Pestalozzi in seinen späteren Schriften immer erneut behandelt. 58
Vgl. zum Folgenden Th. Ballauff: Vernünftiger Wille und gläubige Liebe. Meisenheim/Glan 1957; dort ausführliches Literaturverzeichnis.
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I I . Erziehung als Uberwindung der Verkehrung der Menschlichkeit
I n aller Weltlichkeit waltet die Sorge und in ihr die Selbstsucht. Die Selbstsucht ist dabei das Ergebnis der natürlichen Kraft, als welche der Mensch seinen Lauf antritt, und zwar durch ihre Anwendung. Sie läßt den Menschen aber in der Gesellschaftlichkeit scheitern. Der Selbstsucht korrespondiert das Wohlwollen, auch dieses ein Ergebnis der Natürlichkeit: Der Mensch in der „harmlosen Behaglichkeit seiner befriedigten N a t u r " räumt dem anderen einen Platz neben sich ein. Er nimmt das Wohl des anderen in seinen Willen auf: Er ist bereit, dem anderen eine eigene Sphäre zuzugestehen, soweit dadurch die satte Fülle des eigenen „Könnens und Habens" nicht beeinträchtigt wird. Die behagliche Wonne ist das allgemeine Ziel des tierischen wie des gesellschaftlichen „Daseins". Diese „Teleologik" der Natürlichkeit — die Erfüllung des eigenen Wesens in der Befriedigung des eigenen Seinkönnens — strukturiert alles menschliche Miteinander. Der Erwerb des Eigentums erwächst ebenso aus diesem Streben, die Behaglichkeit auf einen Fleck zusammenzubringen, wie es der Sinn der Staatskunst ist, also aller Politik, das größtmögliche Wohlbefinden für die größtmögliche A n zahl Menschen herzustellen. Dadurch w i r d auch das größtmögliche „Wohlwollen" hervorgelockt. Wer satt ist, der ist eher geneigt, auch einem anderen Anteil an den Gütern der Erde zu geben, als der, der Hunger hat. Aber wie in der Selbstsucht, so hat auch im Wohlwollen das Telos des „satten Behagens" die Direktion. „Diese Neigung zur Behaglichkeit ist die allgemeine Triebfeder unsers thierischen Daseyns. D u dankest ihr deine Betriebsamkeit, aber wenn du aus Unbetriebsamkeit verfaulest, so geschiehet es aus gleicher Neigung. U m ihretwillen bist du barmherzig, aber auch um ihretwillen zerfleischest du unser Geschlecht. U m ihretwillen frohnest du der Meinung des Volks, aber auch um ihretwillen höhnest du das Urtheil deines Geschlechts. U m ihretwillen bauest du der Ehre Altäre, und um ihretwillen gründest du den Siz der Thronen auf die Ehrlosigkeit des Menschengeschlechts. U m ihretwillen erscheinst du unter deinem Geschlecht gern als gepriesene Mutter der Gnaden; aber auch um ihretwillen zertritst du das Recht deines Geschlechts. Sie ist es, die zum Heldensinn der Freiheit erhebt, aber sie ist es auch, was dich jedes Joch der Knechtschaft zu ertragen gewöhnt." („Nachforschungen") 59 . 59
Pestalozzi: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Artur Buchenau, Eduard Spränger, Hans Stettbacher. Bde I ff. Berlin 1927 ff. Bd. X I I . S. 36.
3. Die Wahrung der Menschlichkeit bei Pestalozzi
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Selbstsucht und Wohlwollen sind sozusagen die auf den K o p f gestellten Spiegelbilder des eigentlich Menschlichen: des Glaubens und der Liebe. Wie der Glaube das wahre Selbst des Menschen finden, weil vernehmen läßt, so bedeutet die Liebe das echte „Wohlwollen". I n ihm aber w i r d nicht mehr „gewollt" wie in aller Selbstsucht der Weltlichkeit, in der sich der Mensch in der Welt sucht und der Welt abverlangt, sondern „mein Sein" besteht gerade genuin in der Freigabe des „Wohls" des andern. Dieses Wohl meint nun nicht mehr Behaglichkeit, sondern ein Frieden schenkendes Am-Werk-Sein im Sinne einer Erfüllung der Aufgaben, zu denen wir, ich und du, berufen sind. I n der Welt ist diese Liebe selten, ja Weltlichkeit besagt faktische Lieblosigkeit. I n der Identifikation von Liebe und Wohlwollen w i r d die Liebe vom kraftvollen Willen als Schwäche gedeutet. So muß auch die Religion von hier aus als das kühne Wagnis der menschlichen Natur erscheinen, einen letzten Versuch zur Sicherung dieser Behaglichkeit zu machen. Gesellschaftliche Religiosität w i r d „Gottesdienst", äußerliche Religionsausübung, Kultus. Auch in Gestalt der Religion kann innerhalb der Gesellschaft das eigentlich Menschliche hervortreten, Religion kann aber auch das Aussehen echter Religiosität annehmen und doch maskierte Selbstsucht bedeuten. Strenggenommen ist der Mensch Selbstsucht oder Liebe. Naturgemäß ist er dieses Suchen eines Selbstes; die N a t u r zwingt ihn dazu, sofern sie ihn anfänglich als „Seinkönnen", als Kraft hervorgehen läßt. Als diese Selbstsucht gerät nun aber der Mensch in den Selbstverlust des Weltgewinns. I m Glauben w i r d er hervorgerufen aus diesem Selbstverlust. Er w i r d hervorgerufen in den absoluten „Selbstgewinn", nämlich als Liebe; das aber besagt: Er gewinnt sein Selbst, indem er es gerade dahingibt. Erst wenn er sich als Selbstsucht aufgibt, also das Suchen und das Finden eines Selbst verliert, w i r d ihm seine Menschlichkeit gewährt, die nicht mehr in einem Selbst liegt, das ich „besitze", sondern in der „selbstlosen Liebe", als die ich bin. Pestalozzi gibt eine summarische Charakteristik menschlicher Verkehrung schon in „Lienhard und Gertrud" — i m 4 . Teil, der 1787 erschien: „Der Mensch... ist von Natur, wenn er sich selbst überlassen, w i l d aufwächst, trag, unwissend, unvorsichtig, unbedachtsam, leichtsinnig, leichtgläubig, furchtsam und ohne Grenzen gierig, und w i r d dann noch durch die Gefahren, die seiner Schwäche, und die Hindernisse, die seiner Gierigkeit aufstoßen, krumm, verschlagen, heimtückisch, mißtrauisch, gewaltsam, verwegen, rachgierig und grausam. — Das ist der Mensch, wie er von Natur, wenn er sich selbst überlassen, w i l d auf-
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wächst, werden muß; er raubet wie er ißt, und mordet wie er schläft. Das Recht seiner N a t u r ist sein Bedürfniß, der Grund seines Rechts ist sein Gelüst, die Gränzen seiner Ansprüche ist seine Trägheit und die Unmöglichkeit, weiters zu gelangen 60 ." Nicht minder aber findet sich eine sehr differenzierte Charakteristik der Verkehrtheit. 1. Die Künstlichkeit in ihrer Unechtheit nennen w i r zuerst. So kann Pestalozzi von der „künstlichen Bahn der Schule" sprechen und von dem „tausendfachen Gewirre von Wortlehren und Meinungen", von dem „künstlichen Schimmer, der den Mangel innerer Naturkraft bedeckt" und zu dem das Jahrhundert den Menschen verbildet 61 . 2. Die Verstümmelung der Menschlichkeit und ihrer natürlichen Begabung kennzeichnet ein weites Feld der Verkehrtheit. Vor allem wäre da zu nennen die Einschränkung und Verhärtung, zu denen die gesellschaftliche K u l t u r zwingt, die künstlichen Mittel, die tierische N a t u r beim Mangel tierischer Freiheit dennoch zu befriedigen, die Weckung von Bedürfnissen, die nicht befriedigt werden können, von Neigungen, die erstickt werden, das so resultierende ständige Harren und Hoffen gegenüber dem einfachen Genuß im Naturstand. — U n d dann die Spezialisierung: Die Individuen werden nicht auf ihre Individualität hin genommen, sondern als „ K o p f , Nummer, Gewehr" — kurz, als ein totes Verhältnis eines nur als Masse existierenden Wesens angesehen62. Das alles kennzeichnet die Gesellschaft in ihrer surrogativen Befriedigung als Sphäre bloßer Repräsentation. „Es kann nicht anders seyn, die ganze Stellung des gesellschaftlichen Lebens ruhet auf Vorstellungen von Sachen, die im Grund eigentlich nicht da sind, das ist, sie ist Representation, Eigenthum, Erwerb, Beruf, Obrigkeit, Gesezze, sind alles künstliche Mittel, meine thierische Natur beim Mangel thierischer Freiheit, dennoch zu befriedigen. Eigenthum ist Repräsentation meiner Naturkraft zu meiner Erhaltung. Gesez, Obrigkeit, Repräsentation meiner Naturkraft, zu meiner Beschüzzung. Was dem Wilden seine Keule, das ist dem Schneider seine Nadel, dem Schreiber seine Feder, dem Kaufmann seine Kniffe, dem Bauer 80 61 62
a. a. O. Bd. I I I . S. 330 f. a a. O. Bd. I. S. 267. a. a. O. Bd. X I I . S. 84.
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seine Heerde, dem Edelmann sein Land, dem König seine Krone." („ Nachforschungen " ) 6 S . 3. Die Gezwungenheit kennzeichnet die Verkehrtheit der Weltlichkeit, das „ M u ß " w i r d das Charakteristikum der Gesellschaft. Dahin gehört die Mühsal und die Verwickeltheit des gesellschaftlichen Lebens, sein „Lastcharakter" 64 . 4. Ferner die Verstocktheit und Ruhelosigkeit des menschlichen Verhaltens und die Unsinnigkeit aller gesellschaftlichen Einrichtungen — die Friedlosigkeit: der Kampf zwischen Besitzenden und Habenichtsen, der Kampf zwischen Naturfreiheit und gesellschaftlichem Recht, der Kampf aller gegen alle. „Der gesellschaftliche Zustand ist in seinem Wesen eine Fortsezzung des Kriegs aller gegen alle, der im Verderben des Naturstandes anfängt, und im gesellschaftlichen nur die Form ändert, aber um deswillen nicht mit weniger Leidenschaft geführt wird, im Gegentheil der Mensch führt ihn in diesem Zustand mit der ganzen Schiefheit und Härte seiner verstümmelten und unbefriedigten Natur." („Nachforschungen") 65 . 5. Ruchlosigkeit und Erschlaffung werden zwei resultierende Extreme — und w i r denken an Schillers gleichlautende Charakteristik des „Jahrhunderts" oder auch an Fichte 66 . 6. Uberall stoßen w i r auf die Verkehrtheit der echten Ordnung: auf die Uberordnung von Trieb und Sinnengenuß über die „Vernunft" — und w i r werden an Kants Lehre vom „Bösen" als der verkehrten Ordnung der „Motivation" erinnert 67 . 7. Nicht zuletzt muß — wieder mit Rousseau — die Ungleichheit als charakterisierendes Phänomen der Verkehrtheit genannt werden. „Der Mensch ist schon in seiner Höhle nicht gleich; unter dem Dach, hinter Riegel und Wänden wächst diese Ungleichheit mächtig, und wenn er zu hunderten und tausenden zusammen steht, so ist er gezwungen ob er w i l l oder nicht w i l l , er muß zu dem Starken sagen, sei 63
a. a. O. S. 77.
M
a. a. O. S. 70. a. a. O. S. 79.
85 66 67
a. a. O. S. 30. Pestalozzi: Mutter und Kind. Zürich u. Leipzig 1924. S. 71.
1 2 6 I I .
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du mein Schild, zu dem Listigen, sei du mein Führer, und zu dem Reichen, sei du mein Erhalter." („Nachforschungen") 68 . Als Integral der gesellschaftlichen Verkehrtheit läßt sich die Kollektivität — Masse und Vermassung — auffassen. Umriß der bisher nachvollzogene Gedankengang schon eine großartige „ K u l t u r k r i t i k " , deren Tragweite erst auf dem Hintergrund der Pestalozzischen „Lösung" recht ermeßbar wird, so trifft die Unterscheidung von „kollektiver und individueller Existenz" in einer für uns heute verblüffenden Weise ins Zentrum gerade der neuzeitlichen Kulturgestaltung. Erst heute t r i t t das Ausmaß solcher Unterscheidung zutage. „Die erste, die kollektive Existenz unseres Geschlechtes nimmt an sich und als solche vorzüglich diejenigen Kräfte und Anlagen unserer Natur in Anspruch, die w i r mit den Tieren des Feldes gemein haben. Deshalb hat auch die Bildung zur Zivilisation wesentlich und vorzüglich die Ausbildung eben dieser Kräfte und Anlagen zum Gegenstand, woraus dann folgt, daß diese Bildung, wie sie an sich und isoliert in ihrer Beschränkung dasteht, nichts anderes anspricht und ansprechen kann als gesellschaftliche Ausbildung des tierischen Sinnes und der tierischen Kraft unserer N a t u r ; und hinwieder, daß tierische Beschränkung im menschlichen Streben eine unausweichliche Folge dieser Bildung sein müßte, wenn sie isoliert sich selbst überlassen auf die menschliche N a t u r einwirkte." — „ D i e zweite, die individuelle Existenz unseres Geschlechts nimmt im Gegensatz gegen die kollektive den ganzen Umfang unserer Kräfte und Anlagen und besonders diejenigen in Anspruch, die w i r mit keinen Geschöpfen der Welt, die nicht Menschen sind, gemein haben. Daher ist denn auch die aus dem Bedürfnis dieser Existenz hervorgehende K u l t u r geeignet, den eingeschränkten und die Menschennatur nicht befriedigenden Erfolg der Z i vilisationsbildung menschlich auszudehnen, zu erheben und zu veredeln. Sie ist geeignet, der sinnlich-tierischen Kraftentfaltung, die die bloße Zivilisationsbildung begünstigt, ein Gegengewicht zu verschaffen, durch welches die Fortdauer des innern Geistes und des innern Strebens des wilden Naturlebens im gesellschaftlichen Zustand gehemmt, seine tierisch-gewaltsame Denk- und Handlungsweise gemildert und selbst der Kunstkraft, mit der es in diesem Zustand den Trug seiner Selbstsucht in Rechts- und Gerechtigkeitsformen umwandelt, ein Ziel gesetzt werden kann. Dadurch, nur dadurch allein kann aber 68
Pestalozzi: Sämtliche Werke. Bd. X I I . S. 49.
3. Die Wahrung der Menschlichkeit bei Pestalozzi
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audi der Geist des wilden Naturlebens dem verfänglichen Raffinement, mit welchem i m bürgerlichen Zustande so oft das Übermaß der Niederträchtigkeit und der Unwürdigkeit bürgerlich bedeckt und als rechtsförmlich durchschlüpfen macht, sein gefährlichster Stachel benommen werden." ( „ A n die Unschuld") 69 . Die individuelle Existenz besagt also das Existieren als Mensch, in der prinzipiellen, ja absoluten Differenz zum Tier, die kollektive Existenz das Existieren als gesellschaftliches Wesen, in gradueller Differenz zum Tier. Individuelle Existenz w i r d zur Gegeninstanz gegen kollektive Existenz, jene stellt in echte K u l t u r hinein, diese in die T y p i k der „Vermassung". — Individuelle Existenz schenkt Freiheit und Weite, kollektive Existenz steht unter Zwang, in Enge und Einseitigkeit. — Gehen w i r diesen Unterschieden nach! 1. Jede Gruppenbildung trägt die Gefahr in sich, zu entmenschlichen, zu „demoralisieren". „Je größer das Corps, die Gemeinde — die Innung oder Faktion, von der sich mein Recht und meine Pflicht herschreibt, ie größer ist auch die Gefahr meiner Entmenschlichung, das ist, meiner gesellschaftlichen Verhärtung gegen alle Ansprüche der Sittlichkeit auf diese Pflicht und auf dieses Recht." („Nachforschungen") 70 . U n d Pestalozzi fügt in einer Anmerkung hinzu: „Entmenschlichet, ich sollte sagen entsittlichet, da aber dieses Wort ganz ungewöhnlich ist, bediene ich mich des andern, und w i l l damit sagen, es verhärtet mich gegen das Wesen meiner wirklichen Menschlichkeit, meiner sittlichen Veredlung 71 ." I n einem Brief formuliert Pestalozzi diese Einsicht so: „Es ist die Eigenheit der Masse, in welcher Gestalt sie auch erscheint, daß sie nirgends keinen reinen, menschlichen Sinn zeigt; dieser Sinn bleibt ewig das Theil der Individuen. Aber die armen Individuen, die dem Geiste der Masse entgegenstehend erscheinen, kommen immer übel davon, wenn sie an den Geist der Masse einigen Glauben haben, und ich respecktire immer mehr Lavaters Wort: Alles, was wesentlich Gutes geschieht, muß durch Individuen geschehen, und geschieht nicht selten dann am besten, wenn unter denen, die für den gleichen Zweck 69
Pestalozzi: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Emilie Bosshart u.a. Zürich 1944—47. Bd. 6. S. 314 ff. 70 Pestalozzi: Sämtliche Werke. Bd. X I I . S. 114, Anm. 71
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arbeiten, keiner von dem andern nicht weiß; wenn meine linke H a n d nicht weiß, was die rechte thut." ( „ A n H i m l y . 4. Jan. 1805") 7 2 . 2. Teilnahmslosigkeit, Rücksichtslosigkeit und Ungerechtigkeit kennzeichnen den Massenmenschen. Er lebt in egoistischen Ansprüchen dahin. „Der gesellschaftliche Mensch als solcher, ist weder theilnehmend noch gerecht." „Es ist auch nicht möglich diesen sich millionenfach durchkreuzenden individuellen Egoism in irgend ein Gleichgewicht zu bringen." („Nachforschungen") 73 . 3. Gesellschaft führt zur „allgemeinen Volksverdummung": Sie läßt jeden das Ganze nur noch in der Perspektive seines Berufs, seiner gesellschaftlichen Stellung zu Gesicht bekommen, sie bringt jeden dazu, jeden anderen nur noch nach seiner Bedeutung in der Gesellschaft zu beurteilen, seine Individualität aber zu übersehen. „Diese Menschen müssen notwendig das ganze menschliche Dasein mit der Brille ihrer Bürgerlichkeit oder ihrer Stellung im Staat ins Auge fassen. Sie tragen auch alle das Malzeichen ihrer Stellung unauslöschlich an ihrer Stirne, und dieses ist oft gleichsam der Gegenschein aller höheren und rein menschlichen Ansichten und Gefühle des Lebens. Ein solcher Massamensch achtet auch gewöhnlich das Individuum unseres Geschlechtes als solches soviel als der Strom den Wassertropfen . . . " ( „ A n die Unschuld") 74 . 4. Kollektive Existenz führt immer zu „Wohnstubenraub", zur Zerstörung der Familie: „Aber die Welt, wie sie ist, steht dieser reinen Basis des Menschenglücks und der Menschenbildung mit täglich größerer Gewaltsamkeit entgegen; sie nimmt täglich mehr Teil an dem Wohnstubenraub, der wider Gott und die Menschennatur ist, indem er das reine menschliche Gemüt verhärtet und gegen sein Unrecht und gegen sein menschlichkeits-, lieb- und anmutloses, tierisch-sinnliches Sein und Treiben in allen Privat- und öffentlichen Verhältnissen des Lebens unempfindlich macht." ( „ A n die Unschuld") 75 . Die Familie w i r d selbst der Anfang von kollektiver Existenz, in ihr beginnen auch die Antriebe und „Egoismen" zu herrschen, die die Gesell72 73 74 75
Pestalozzi: Sämtliche Briefe. Bd. I ff. Zürich 1946 ff. Bd. IV. S. 270 f. Pestalozzi: Sämtliche Werke. Bd. X I I . S. 100, 103. Pestalozzi: Gesammelte Werke. Bd. 6. S. 298. a. a. O. S. 232 f.
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schaft bestimmen, die Gesellschaft entzieht sich ihr Fundament, indem sie es in sich aufsaugt. 5. Damit ist eng verbunden die Entmiitterlichung. H i e r zeigt sich die Verkehrtheit in aller, zugleich tragischen Härte. Die Frau w i r d ihrer Mütterlichkeit entfremdet, sie w i r d aus dem Zentrum ihres Seins, der Mütterlichkeit, herausgerissen in das exzentrische „mittelpunktlose" M i t einander der Gesellschaftlichkeit. Alles w i r d ihr geboten, nur sie selbst w i r d sich entzogen. U n d wo soll sie H i l f e suchen als bei dem, das ihr gerade nahm, was sie sucht? So gerät sie immer mehr in die Macht der Kollektivität und muß noch dankbar sein für das, was man sie dann jeweils sein läßt. Die Frau ist noch in ganz anderem Ausmaß der ihr schlechthin fremden Kollektivität ausgeliefert als der Mann, der letztlich ja der Inaugurator der „Gesellschaftlichkeit" ist 76 . 6. Das Wesen der Kollektivität findet seine historische Erhellung durch das Ereignis des großen Tyrannen, der ja selbst ein „Exponent" der K o l lektivität wird. Für Pestalozzi ist Napoleon das große erhellende Beispiel. A n der Macht des Tyrannen zeigt sich, wie leicht der Mensch in die Kollektivität und ihre „Unmenschlichkeit" zu verführen ist. Diese liegt ja auf der Linie des tierischen Lebens, ist daher eingängig und leicht; Individualität ist schwer zugänglich, da sie auf die Verantwortung des einzelnen gestellt bleibt. „ E r (der Tyrann), der die Schicksale der Menschen leitet, hat uns in der Kraft des, ich möchte sagen, in der Unmenschlichkeit fast noch erhabenen Mannes die ganze Nichtigkeit und die ganze Schrecklichkeit des gesellschaftlichen Zustandes, wenn er nur als Zustand der kollektiven und nicht als der Zustand der individuellen Existenz unseres Geschlechtes ins Auge gefaßt wird, auf eine Weise fühlen gemacht, wie sie die Welt noch nie gefühlt hat. Er, der die Schicksale der Menschen leitet, hat uns in dem allgemeinen Zeitanhang, den die böse Kunst seiner einseitigen Ansicht unseres Geschlechtes auf dem ganzen Umfang des Weltteils, in Staaten wie bei Individuen, bei Fürsten und Regierungen wie beim Volke gefunden, ebenso wie es die Welt noch nie gesehen, gezeigt, wie leicht unser Geschlecht beim Hochgenuß der tierischen Befriedigung im kollektiven Leben sich gegen die ersten, heiligsten Bedürfnisse und Ansprüche des individuellen Seins unseres Geschlechtes tierisch verhärtet. Er hat uns gezeigt, wie unser Geschlecht leicht dahin kommt, alles, was die Lust des kollektiven Lebens, was auch der höch™ a. a. O. S. 233. 9 Ballauff
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ste Mutwille seines Verderbens und seiner Verworfenheit anspricht, als wahres Menschenrecht und als ein mit den reinen Ansprüchen unserer Natur übereinstimmendes und ihr wirklich genugtuendes Staatsrecht anzusehen." ( „ A n die Unschuld") 77 . 7. Die Kollektivität erscheint als das „ M a n " , als die Alltäglichkeit. Das hat Pestalozzi in der Fabel „Die frierenden Kinder" anschaulich karikiert, und zwar im Verhalten jener Gouvernante, welche, „ u m Grundsätze zu erhalten, die für das Menschengeschlecht die einzigen guten sind", dem Kind, das neben ihr in der Kirchenbank schlottert und sich dabei eine tödliche Erkältung holt, jeden wärmenden Schutz verweigert mit den Worten: „Was denkst du auch? I n der Kirche dich auf den Schoß nehmen? Ich müßte mich ja schämen. Dulde dich, andere Leute müssen ja auch frieren 77 *." Die Kollektivität nimmt als anonymes „ M a n " dem einzelnen die Verantwortlichkeit ab, indem es alles Urteilen und Entscheiden vorausgibt. Trotz dieses Wissens um den wirklichen Menschen in all seiner Verkehrtheit hat Pestalozzi nie der Glaube an die Möglichkeit einer „Veredlung des Menschengeschlechts" verlassen. Immer wieder erfährt er als seine eigene Aufgabe, den Menschen zu ihrer Menschlichkeit zu verhelfen. „ M i t einem Worte, ich bin durch den Eindruck des Ganzen und durch die ununterbrochene Gleichheit meiner Erfahrungen dahin gekommen: den Glauben wieder in mir herzustellen, den ich im Anfange meiner pädagogischen Laufbahn mit so vieler Wärme in mir selbst nährte, aber im Fortgange derselben, unter der Last ihrer Zeitkunst und ihrer Zeithülfsmittel beynahe verlor — den Glauben an die Möglichkeit einer Veredlung des Menschengeschlechts78." Die Erziehung bedeutet für Pestalozzi die einzig mögliche Rettung des Volkes, der Menschheit: „Es ist für den sittlich, geistig und bürgerlich gesunkenen Weltteil keine Rettung möglich als durch die Erziehung, als durch die Bildung zur Menschlichkeit, als durch die Menschenbildung 79 !" Worin diese Menschenbildung besteht, werden w i r in den Analysen des nächsten Kapitels erfahren. 77
a. a. O. S. 325. Vgl. Werner Bachmann: Die anthropologischen Grundlagen zu Pestalozzis Soziallehre. Bern: Frandke 1947. S. 117 f. 78 Pestalozzi: Sämtliche Werke. Bd. X I I I . S. 229. 79 Pestalozzi: Gesammelte Werke. Bd. 6. S. 394. 7?a
III. Die Notwendigkeit der Erziehung infolge der menschlichen Unvollkommenheit Ich wende mich der dritten Begründung der Erziehung zu. Bisher wurde die Notwendigkeit der Erziehung aus der Hinführung zur Wahrheit begründet. Zur Wahrheit muß der junge Mensch immer erst auf den Weg gebracht werden. Die primäre Fernstellung des Menschen seiner Menschlichkeit gegenüber zwingt zu dieser Maßnahme. So gelangten w i r zu Gedankengängen, die in der Erziehung jenes Geschehen sehen, das den einzelnen in seine Menschlichkeit wieder einsetzt. Von einem anderen Ansatz aus entfaltet sich ein dritter Begründungszusammenhang. Auch er wurzelt in der Antike, w i r d aber extensiv erst in der Neuzeit, vom Humanismus an, verfolgt. Er versucht nachzuweisen, daß der Mensch als das von der N a t u r verlassene Wesen unumgänglich der Erziehung bedarf, wenn anders er nicht seiner Menschlichkeit verlustig gehen soll. Ich wähle als zwei verschiedene Ausgestaltungen dieses Begründungszusammenhangs Herders und Pestalozzis Darlegungen. Moderne Fortsetzungen sollen uns jetzt nicht weiter fesseln. Sosehr Herders Ansatz Nachfolge in unseren Tagen gefunden hat, sowenig dürften Pestalozzis Analysen in ihren Konsequenzen aufgegriffen worden sein. Daher soll ihm auch in diesem Kapitel das Schlußwort erteilt werden; erst nach Kenntnis eines weiteren Begründungsgangs können w i r die Bedeutsamkeit seiner Aussagen recht würdigen.
1. Der Mensch als Wesen der Bildung bei Herder Der Mensch ist nach Herder durch seine natürliche Unvollkommenheit zu kennzeichnen. Er ist also keineswegs wie alle anderen Lebewesen mit dem Notwendigen ausgestattet. „Nackt und bloß, schwach und dürftig, schüchtern und unbewaffnet: und was die Summe seines Elendes ausmacht, aller Leiterinnen des Lebens beraubt. M i t einer so zerstreuten, geschwächten Sinnlichkeit, 9*
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mit so unbestimmten, schlafenden Fähigkeiten, mit so geteilten und ermatteten Trieben geboren, offenbar auf tausend Bedürfnisse verwiesen, zu einem großen Kreise bestimmt — und doch so verwaist und verlassen, daß es selbst nicht mit einer Sprache begabt ist, seine Mängel zu äußern —, nein, ein solcher Widerspruch ist nicht die Haushaltung der Natur. Es müssen statt der Instinkte andre verborgne Kräfte in ihm schlafen! Stumm geboren; aber —"* Dies „Aber" w i r d Herder bald zu ergänzen wissen. Zunächst verfolgen w i r die negative Seite der menschlichen Verfassung. Zur Mangelhaftigkeit der menschlichen Organe und dem Verlust der Instinkte tritt die Unterlegenheit. Der Mensch w i r d hineingeboren in eine mit Lebewesen überfüllte Welt. Jedes Lebewesen besitzt die ihm spezifische Umwelt, der Mensch allein findet sich nicht an eine solche verwiesen. Er muß sich vielmehr erst seinen Platz in der Welt erobern, er muß sich in ihr durchsetzen und Raum schaffen. Z u der aufgewiesenen Mangelhaftigkeit und Ortlosigkeit t r i t t die „Teilhaftigkeit" des Menschen. Alles, was das Tier besitzt und ihm das Leben sichert, kehrt im Menschen nur in Auswahl wieder. I h m kommt nur ein Teil davon zu. „ M a n hat unserm Geschlecht ein sehr unwahres Lob gemacht, wenn man behauptete, daß sich jede Kraft und Fähigkeit aller andern Geschlechter dem höchsten Grad nach in ihm finde. Das Lob ist unerweislich und sich selbst widersprechend: denn offenbar hübe sodann eine Kraft die andere auf und das Geschöpf hätte ganz und gar keinen Genuß seines Wesens. Wie besteht es zusammen, daß der Mensch wie die Blume blühen, wie die Spinne tasten, wie die Biene bauen, wie der Schmetterling saugen könnte; und zugleich die Muskelkraft des Löwen, den Rüssel des Elefanten, die Kunst des Bibers besäße? U n d besitzt, ja begreift er nur eine dieser Kräfte mit der Innigkeit, mit der sie das Geschöpf genießt und übt? 2 " So läßt sich der Mensch als das von der Natur verlassene Wesen hinstellen. „Als nacktes, instinktloses Tier betrachtet, ist der Mensch das elendeste der Wesen. D a ist kein dunkler, angeborner Trieb, der ihn in sein Element und in seinen Wirkungskreis, zu seinem Unterhalt und 1 Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Bernh. Suphan. Bd. 1—33. Berlin 1877—1913. Bd. 5. S. 26. 2 a.a.O. Bd. 13. S. 109.
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an sein Geschäfte zeucht. Kein Geruch und keine Witterung, die ihn auf die Kräuter hinreiße, damit er seinen Hunger stille! Kein blinder, mechanischer Lehrmeister, der für ihn sein Nest baue! Schwach und unterliegend, dem Zwist der Elemente, dem Hunger, allen Gefahren, den Klauen aller stärkern Tiere, einem tausendfachen Tode überlassen, steht er da, einsam und einzeln, ohne den unmittelbaren Unterricht seiner Schöpferin und ohne die sichere Leitung ihrer Hand, von allen Seiten also verloren 8 ." Das kann nicht das letzte Wort über den Menschen sein. W i r müssen nach der Fortsetzung jenes Satzes fragen, der im oben gegebenen Zitat nach einem „Aber" unvollendet blieb. U m überhaupt lebensfähig zu werden, muß es der Mensch verstanden haben, seine Mängel, seine Unterlegenheit ins Positive, Tragende, ihn Auszeichnende zu wenden. So erscheint der Mensch als ein Wesen der Kompensation. Es ist auch gar nicht schwer, die Positivität jener „Verlassenheit" von der Natur aufzufinden. Setzen w i r bei der zuerst gefundenen Mangelhaftigkeit ein! Der Mensch w i r d nicht wie das Tier durch seine Organe fest an Erde und Umwelt gebunden. Seine aufrechte Haltung zeigt diese Erdentbundenheit. So w i r d er ein über sich, weit um sich schauendes Geschöpf. „Blick auf gen Himmel, o Mensch, und erfreue dich schaudernd deines unermeßlichen Vorzugs, den der Schöpfer der Welt an ein so einfaches Prinzipium, deine aufrechte Gestalt knüpfte! Gingst du wie ein Tier gebückt, wäre dein Haupt in eben der gefräßigen Richtung für M u n d und Nase geformt und danach der Gliederbau geordnet: wo bliebe deine höhere Geisteskraft, das Bild der Gottheit, unsichtbar in dich gesenkt? Selbst die Elenden, die unter die Tiere gerieten, verloren es; wie sich ihr Haupt mißbildete, verwilderten auch die inneren Kräfte: gröbere Sinne zogen das Geschöpf zur Erde nieder. N u n aber durch die Bildung deiner Glieder zum aufrechten Gange bekam das Haupt seine schöne Stellung und Richtung; mithin gewann das H i r n , dies zarte ätherische Himmelsgewächs, völligen Raum, sich umher zu breiten und seine Zweige abwärts zu versenden. Gedankenreich wölbte sich die Stirn, die tierischen Organe traten zurück, es ward eine menschliche Bildung 4 ." 3
Herder: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Fritz Schultz. Potsdam 1939 ff. Bd. I. S. 314 = a. a. O. Bd. 5. S. 93 f. 4 Sämtlidie Werke. Bd. 13. S. 129 f.
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Das Positive liegt gerade in der Entbundenheit der Kräfte von ihrer instinktiven und umweltmäßigen Fesselung5. Daher läßt sich auch jene Unterlegenheit, von der w i r oben sprachen, ins Lebenerhaltende und Lebensteigernde wenden. Das Tier bleibt gebunden an die Direktiven der Instinkte, die sein Leben sichern, und an seine Umwelt. Es kann diese Grenzen niemals überschreiten. Der Reichtum der Welt bleibt ihm durch die Selektion seiner Umwelt verborgen. Nicht so der Mensch! I n seiner Umweltlosigkeit w i r d ihm gerade Welt aufgetan. Er büßt zwar jene Lebenssicherung durch enge Anpassung an eine Umwelt ein, dafür aber w i r d ihm die immer zunehmende Weite der Welt geschenkt. Lebenssicherheit und Weltweite stehen in einem reziproken Verhältnis 6 . Ebenso positiv ist jene obengenannte Teilhaftigkeit zu wenden. Der Mensch erscheint als das reichste Geschöpf, weil ihm in seinen Anlagen, seiner Begabung von allem zuteil wurde. Er stellt sozusagen eine universale Komposition des in der Welt Möglichen dar. Er erscheint wie die Mitte aller Geschöpfe. „Der Mensch endlich scheint unter den Erdtieren das feine Mittelgeschöpf zu sein, in dem sich, soviel es die Einzelheit seiner Bestimmung zuließ, die meisten und feinsten Strahlen ihm ähnlicher Gestalten sammeln. Alles in gleichem Maß konnte er nicht in sich fassen: er mußte also diesem Geschöpf an Feinheit eines Sinnes, jenem an Muskelkraft, einem dritten an Elastizität der Fibern nachstehen; soviel sich aber vereinigen ließ, ward in ihm vereinigt. M i t allen Landtieren hat er Teile, Triebe, Sinne, Fähigkeiten, Künste gemein, wo nicht ererbt, so doch erlernt, wo nicht ausgebildet, so doch in der Anlage. Man könnte, wenn man die ihm nahen Tierarten m i t ihm vergleicht, beinahe kühn werden zu sagen: sie seien gebrochene und durch katoptrische Spiegel auseinandergeworfne Strahlen seines Bildes. U n d so können w i r den vierten Satz annehmen: daß der Mensch ein Mittelgeschöpf unter den Tieren, d. i. die ausgearbeitete Form sei, in der sich die Züge aller Gattungen um ihn her im feinsten Inbegriff sammeln 7 ." 5
Herder: Mensch und Welt (Werke. Ausz.). Hrsg. v. Erich Ruprecht. Jena 1942. S. 96; Sämtl. Werke. Bd. 13. S. 128 f. 6
Friedrich Berger: Menschenbild und Menschenbildung. Stuttgart 1933. S. 19. 7
Sämtliche Werke. Bd. 13. S. 68.
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Der Mensch darf auf Grund seiner Teilhaftigkeit als einziges Geschöpf an allem teilhaben und teilnehmen. Der Mensch der „Lehrling der ganzen W e l t " 8 ! Das Sein des Menschen zeigt eine Doppelseitigkeit, wenn w i r das Gesagte zusammenfassen. Denn der Mensch lebt in der Spannung zwischen tierischer Lebensfristung und menschlicher Lebensgestaltung. „Als Tier dient er der Erde und hängt an ihr als an seiner Wohnstätte; als Mensch hat er den Samen der Unsterblichkeit in sich, der einen andern Pflanzgarten fordert. Als Tier kann er seine Bedürfnisse befriedigen, und Menschen, die mit ihnen zufrieden sind, befinden sich sehr wohl hienieden. Sobald er irgendeine edlere Anlage verfolgt, findet er überall UnVollkommenheiten und Stückwerk; das Edelste ist auf der Erde nie ausgeführt worden, das Reinste hat selten Bestand und Dauer gewonnen: für die Kräfte unsres Geistes und Herzens ist dieser Schauplatz immer nur eine Ubungs- und Prüfungsstätte 9 ." So lebt der Mensch als das gewagte Mittelgeschöpf zwischen Engel und Tier 1 0 . I n ihm treffen sich zwei Welten: Er ist das letzte Geschöpf der tierisch-pflanzlichen Welt und das erste Geschöpf für ein höheres Dasein in einer anderen Welt. „Der Mensch allein ist im Widerspruch mit sich und mit der Erde: denn das ausgebildetste Geschöpf unter allen ihren Organisationen ist zugleich das unausgebildetste in seiner eignen neuen Anlage, auch wenn er lebenssatt aus der Welt wandert. Die Ursache ist offenbar die, daß sein Zustand, der letzte für diese Erde, zugleich der erste für ein andres Dasein ist, gegen den er wie ein K i n d in den ersten Übungen hier erscheint. Er stellt also zwei Welten auf einmal dar; und das macht die anscheinende Duplizität seines Wesens11." So steht der Mensch im Ubergang von der Schwachheit zur Kraft, von der Armut zum Reichtum, vom Dunkel ins Licht. „ W i l l ich mir die Menschheit hienieden als lauter Licht, Wahrheit, leidenschaftslose Güte u. dgl. denken: so ist's ein falsches Ideal; das Licht kann nur aus überwundnen Schatten, die Wahrheit aus besiegtem Vorurteil, die Leidenschaft für Gott und das Gute nur aus besieg8
Gesammelte Werke. Bd. I. S. 322. Sämtliche Werke. Bd. 13. S. 195. 10 Sämtliche Werke. Bd. 31. S. 216. 11 Sämtliche Werke. Bd. 13. S. 195 f. 9
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ten und gebändigten Leidenschaften der Sinnlichkeit (die den Stoff dazu geben müssen) werden. N u r aus Schwachheit w i r d Kraft, nur im Gefühl der A r m u t kann und wollte sich Gott offenbaren... Eben die Kontrarietät im Menschen ist das Siegel Gottes in unsrer Natur, der Baum, der Erkenntnis Gutes und Böses in einen ewigen Baum des Lebens verwandelt 1 2 ." U n d so münden w i r in den Leibnizschen Gedankengang ein, wenn Herder den Menschen zum Inbegriff der ganzen Welt erklärt, „der sichtbaren und unsichtbaren, selbst Gottes. Er könnte von keiner Eigenschaft, Geistes und Körpers im Universum einen Begriff, noch weniger ein Gefühl haben, wenn er nicht ein Analogon in sich besäße . . . Jeder Mensch hat die Unendlichkeit in sich mit jeder seiner Kräfte, nur unter Hüllen, im dunkeln, schweren vielleicht ängstlichen und mühsamen Schlafe 18 ." Der für die Pädagogik wichtigste Gedanke Herders ist nun sicher die eben hergeleitete These, daß der Mensch sich selbst zur Aufgabe gestellt sei. W i r können an früher Erkanntes anknüpfen. W i r Menschen erfahren uns als Wesen der Freiheit, als Wesen, die bei Wegfall der Instinkte zur Selbständigkeit freigegeben werden. „Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er steht aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen. Wie die N a t u r ihm zwei freie Hände zu Werkzeugen gab, und ein überblickendes Auge, seinen Gang zu leiten: so hat er auch in sich die Macht, nicht nur die Gewichte zu stellen, sondern auch, wenn ich so sagen darf, selbst Gewicht zu sein auf der Waage. Er kann dem trüglichsten I r r t u m Schein geben und ein freiw i l l i g Betrogener werden: er kann die Ketten, die ihn, seiner N a t u r entgegen, fesseln, mit der Zeit liebenlernen und sie mit mancherlei Blumen bekränzen. Wie es also mit der getäuschten Vernunft ging, geht's auch mit der mißbrauchten oder gefesselten Freiheit; sie ist bei den meisten das Verhältnis der Kräfte und Triebe, wie Bequemlichkeit oder Gewohnheit sie festgestellt haben. Selten blickt der Mensch über diese hinaus und kann oft, wenn niedrige Triebe ihn fesseln und abscheuliche Gewohnheiten ihn binden, ärger als ein Tier werden. I n dessen ist er, auch seiner Freiheit nach, selbst im ärgsten Mißbrauch 12
Sämtliche Werke. Bd. 9. S. 540. Mensch u. Welt. S. 111.
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derselben, ein König. Er darf doch wählen, wenn er auch das Schlechteste wählte: er kann über sich gebieten, wenn er sich auch zum Niedrigsten aus eigner Wahl bestimmte. Vor dem Allsehenden, der diese Kräfte in ihn legte, ist freilich sowohl seine Vernunft als Freiheit begrenzt, und sie ist glücklich begrenzt, weil der die Quelle schuf, auch jeden Ausfluß derselben kennen, vorhersehen und so zu lenken wissen mußte, daß der ausschweifendste Bach seinen Händen nimmer entrann; in der Sache selbst aber und in der N a t u r des Menschen w i r d dadurch nichts geändert. Er ist und bleibt für sich ein freies Geschöpf, obwohl die allumfassende Güte ihn auch in seinen Torheiten umfaßt und diese zu seinem und dem allgemeinen Besten lenkt. Wie kein getriebenes Geschoß der Atmosphäre entfliehen kann, aber auch, wenn es zurückfällt, nach einen und denselben Naturgesetzen w i r k t : so ist der Mensch im I r r t u m und in der Wahrheit, im Fallen und Wiederaufstehen Mensch, zwar ein schwaches Kind, aber doch ein Freigeborener: wenn noch nicht vernünftig, so doch einer bessern Vernunft fähig, wenn noch nicht zur Humanität gebildet, so doch zu ihr bildbar 1 4 ." Der Mensch ist also nicht von Geburt an er selbst, vollkommen und fertig, sondern bildbar. Seine Perfektion ist ihm vorgezeichnet und zur eigenen Aufgabe gemacht. Er steht zwischen Tierheit (Animalität) und Humanität. Dem Versuch, seine Humanität zu erreichen, droht allerdings die Gefahr, sie zu verfehlen, vom anfänglichen Tierischen übermannt zu werden. Ein solcher Mensch sinkt aber nicht auf die Stufe der Tierheit hinab, sondern w i r d brutal. Brutalität nennt die Verkehrung der Humanität. Humanität macht den „Charakter unseres Geschlechts" aus. Sie ist die Kunst der Menschheit. Der Mensch, dergestalt sich selbst überantwortet, w i r d zum Kunstgeschöpf. „Der Mensch ist seiner Gattung nach ein Kunstgeschöpf. A u f den Gebrauch tätiger Vernunft mittels sinnlicher Organe, mithin auf Kunst ist das Sein und Wohlsein seines Geschlechts gebaut; nur durch Kunst ist er, was er ist, geworden. Seine Bedürfnisse zwangen ihn; seine Fähigkeiten und Kräfte luden ihn dazu ein; Kunst ist ihm als Menschen natürlich 15 ." I n diesen Worten hören w i r nicht nur die paradoxe Formel von der Natürlichkeit der Kunst und Kultur, sondern auch eine Antithese zu 14
Sämtliche Werke. Bd. 13. S. 146 f. » a. a. O. Bd. 22. S. 140.
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Rousseau. Zugleich legt sich die Grundformulierung des klassischen Humanismus nahe: der Mensch — Werk seiner selbst! So gibt es für Herder — wie schon für Rousseau, nur in einem veränderten Begründungszusammenhang — eine zweite Genesis des Menschen, und zwar durch die Erziehung in Geschichte und Gesellschaft im Rahmen der zeitgenössischen Kultur. Soll nun aber Humanität nicht ein leeres Wort bleiben, so muß man sich um eine genauere Kennzeichnung bemühen. Herder hat sie — entgegen der Auffassung mancher seiner Kritiker — sehr wohl gegeben. Zunächst: Herder nennt das Lebensziel der Menschheit und jedes einzelnen in ihr mit dem Begriff der Humanität. Sie besagt die Entfaltung aller Anlagen im Menschen zur Vollkommenheit. Diese ist immer durch ihre nationale, säkulare und individuelle Bestimmtheit festgelegt. „Die menschliche N a t u r ist keine im Guten selbständige Gottheit; sie muß alles lernen, durch Fortgänge gebildet werden i m allmählichen Kampf immer weiter schreiten; natürlich w i r d sie also von den Seiten am meisten, oder allein gebildet, wo sie dergleichen Anlässe zur Tugend, zum Kampf, zum Fortgange hat. — I n gewissem Betracht ist also jede menschliche Vollkommenheit national, säkular und, am genauesten betrachtet, individuell. Man bildet nichts aus, als wozu Zeit, Klima, Bedürfnis, Welt, Schicksal Anlaß gibt: vom übrigen abgekehrt: die Neigungen oder Fähigkeiten, im Herzen schlummernd, können nimmer Fertigkeiten werden; die Nation kann also bei Tugenden der erhabensten Gattung von einer Seite, von einer andern Mängel haben, Ausnahmen machen, Widersprüche und Ungewißheiten zeigen, die in Erstaunen setzen; aber niemand, als der sein idealisch Schattenbild von Tugend aus dem Kompendium seines Jahrhunderts mitbringt und Philosophie genug hat, um auf einem Erdenfleck die ganze Erde finden zu wollen, sonst keinen! Für jeden, der menschliches Herz aus dem Elemente seiner Lebensumstände erkennen w i l l , sind dergleichen Ausnahmen und Widersprüche vollkommen menschlich: Proportion von Kräften und Neigungen zu einem gewissen Zwecke, der ohne jene nimmer erreicht werden könnte: also gar keine Ausnahme, sondern Regel 16 ." Herder wehrt sich gegen das Mißverständnis der „Menschheit" als eines Querschnitts durch alle Zeiten und Völker, also gegen die Auflösung der Humanität in ein „Abstraktum". 16
a. a. O. Bd. 5. S. 505 f.
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„Soll ich nun noch dem Götzen meine Knie beugen, auf den unsre Zeit so stolz ist, vor dem sie niederfällt unter Trompeten, Pauken und Zimbeln und unsrer hundert Ehrenholde Geschrei? Sie nennt ihn Geschichte der Menschheit, ein nicht zusammengesetzt, sondern gegossen Bild aus Gold, Silber, Erz, Stein und Ton, aus allen Sprachen, Zeiten, Völkern, Sitten, Nationen, wo alles wahr ist und nichts wahr, nichts hält, nichts klebt: man schwimmt im Dufte aller Wesen und hat kein Wesen, als den unbekannten Gott, Menschheit, das Abstraktum eines Idols und das Idol eines Abstraktums, Ungeheuer aller Bilder und kein Bild mehr 1 7 ." Real ist nur die Individualität, der einzelne in seiner Einzigartigkeit und Einmaligkeit. — Das ist streng im Leibnizschen Sinn gedacht. — Individualität besagt unvertauschbare, unwählbare Bestimmung. „Ähnlichkeiten, Klassen, Ordnungen und Stufen sind daher nur bretterne Wände des Bedürfnisses oder Kartenhäuser des Spiels. Der Schöpfer aller Dinge sieht nicht, wie ein Mensch sieht: er kennt keine Klassen; jedes Ding ist nur sich selbst gleich. — Indes sind w i r nicht die Wesen mit göttlichem Blicke. W i r sehen von außen, ordnen nach Ähnlichkeiten und begreifen nichts ganz 18 ." Humanität kann daher nicht in genereller Angleichung gefunden werden, sondern fordert die Ausbildung und Pflege individueller Eigenart im nationalen Rahmen des Jahrhunderts 19 . Humanität umschreibt als Bestimmung des Menschen sowohl Aufgabe und Ziel als auch das Maß des Menschlichen. Sie nennt Schatz und Ausbeute der Geschichte der Menschheit, ebenso die jeweils erreichte Vorstufe zu höherem Dasein 20 . Die Entwicklung, die Ausbildung der Humanität ist in sich selbst Zweck, telos eschaton, niemals M i t t e l zu etwas anderem. Daß sich der Mensch in der Unendlichkeit seiner Bestimmungen, seiner Gaben herausstelle und sichtbare, greifbare Wirklichkeit werde — das umfaßt ihr Sinn. Ist der Mensch aber zugleich Spiegel der Schöpfung, so ist seine Bildung zugleich Weltdarstellung, menschlich begrenzte, ständig sich überholende Wiedergabe und Darstellung seiner Welt. 17
a.a.O. Bd. 7. S. 170 f. a.a.O. Bd. 8. S. 315. 19 Friedrich Knorr: J. G. Herder. Neue Jahrbücher f. Wiss. u. Jugendbildung 11 (1935). S. 122. 20 Vgl. Mensch u. Welt. S. 498—505. 18
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Die Geschichte w i r d zur „Schule des Weltlaufs zur H u m a n i t ä t " 2 1 . Das Bild des Menschen bleibt in ihr unvollendbar: Der Mensch ist geradezu das Wesen, das sich in seinem „Seinkönnen" noch nie v o l l ermessen hat. Die Geschichte stellt den Versuch dar, immer von neuem in jedem Menschen die Bildbarkeit der Menschheit zu ermessen, indem sie in jedem einzelnen das, was er sein kann, herauszubringen sucht 22 . Als Ethos der Humanität kann man das Postulat des humanen Menschen verstehen, des Menschen, der der unermeßlichen Bildbarkeit seines eigenen Seins im ständigen Sich-Bilden nachkommt. Zur Humanität gehört nicht zuletzt Wahrheitssuche. „Nach Wahrheit forschen, reizt; Wahrheit haben macht vielleicht satt und träge. Der N a t u r nachzugehen, ihre hohen Gesetze zu ahnen, zu bemerken, zu prüfen, sich darüber zu vergewissern, jetzt sie tausendfach bestätigt zu finden und neu anzuwenden; allenthalben endlich dieselbe weise Regel, dieselbe heilige Notwendigkeit wahrzunehmen, liebzugewinnen, sich selbst auszubilden; das macht den Wert eines Menschenlebens23." Lessing wünschte dasselbe. Alles Forschen nach Wahrheit dient letztlich der Entwicklung höheren Menschentums. Humanität, so können w i r nun auch folgern, nennt die absolute Selbstbeziehung des Menschen und der Menschheit. „ V o m Anfang des Lebens an scheint unsre Seele nur Ein Werk zu haben, inwendige Gestalt, Form der Humanität zu gewinnen 24 ." Der humane Mensch, von innerer Kraft bewegt, hat Totalität, ist ein Ganzes, ein Kunstwerk. Darin ist Shaftesbury Herders Lehrer, W . v. Humboldt nimmt diesen Gedanken in seine Bildungslehre auf. Harmonie, Symmetrie, Proportion — diese Begriffe der Kunst werden auf den Menschen übertragen. N u r was schön im ästhetischen Sinn ist, kann gut seih. Ausgeglichenheit w i r d zum Kennzeichen der erreichten Humanität; in ihr hat der Mensch die wahre M i t t e seiner selbst gefunden. M i t t e ist „der geheimnisvolle Punkt des Lebens, wo die Gegensätze sich die 21 Vgl. Rudolf Lehmann: Die deutschen Klassiker Herder-Schiller-Goethe. Leipzig 1921. S. 150. 22 Friedr. Berger a. a. O. S. 44. 23 W. Dobbek: J. G. Herders Humanitätsidee als Ausdruck seines Weltbildes und seiner Persönlichkeit. Braunschweig 1949. S. 58. Sämtliche Werke. Bd. 16. S. 560. 24 Sämtliche Werke. Bd. 13. S. 187.
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Waage halten, Gewicht und Gegengewicht in der Schwebe bleiben. Wo Mitte ist, kann nie Einseitigkeit, nie tote Sprache sein" 25 . Preisgegeben w i r d von Herder bald das Bild gradlinigen Fortschritts im Ringen um Humanität. Auch der Gedanke eines Kreislaufs organischen Geschehens befriedigt ihn nicht auf die Dauer. A n die Stelle des Kreisbildes t r i t t schließlich das der sich verjüngenden Spirale, die auch in sich noch Wendungen und Winkel enthält. Alles bewegt sich auf ein Reich der Humanität zu und steigt zu ihm empor. Die Völker schließen sich immer mehr im Wettkampf zusammen, Ubereinstimmungen und gemeinsame Produktionen kommen zustande 26 . Über diesem allen dürfen w i r nicht vergessen: Humanität ist göttliche Bestimmung, nämlich dazu, die Ebenbildlichkeit in weltlicher Immanenz zu gestalten und zu verwirklichen. Der Mensch als geistiges Wesen bedeutet den höchsten Gedanken Gottes 27 . Wiederum w i r d Leibniz' Deutung der Imago-Dei-Lehre aufgegriffen und der Humanitätsidee eingefügt.
2. Der Mensch als das sich in Liebe und Glauben geschenkte Wesen bei Pestalozzi Pestalozzi bietet uns ein einzigartiges Kernstück seiner Pädagogik in der Kennzeichnung des Menschen als des ohnmächtigen, sich selbst erst durch Liebe und Glauben geschenkten Wesens. Der tiefe Sinn von „ K r a f t " , „Vermögen", „Anlage", „Begabung" w i r d damit auffindbar und aussagbar. Nicht zuletzt von hier aus dürfte es gelingen, Pestalozzis Gedanken der „Menschenbildung" zu verstehen. Blicken w i r auf Mensch und Tier, so erscheinen sie beide als Wesen der einen Natur. Verfolgen w i r aber ihre Entwicklung, dann macht ein Vergleich sehr schnell Unterschiede sichtbar. 1. Die Unbildsamkeit des Tierischen muß an erster Stelle genannt werden. Das Tier weist keine Bildsamkeit auf wie der Mensch, es zeigt sich immer in gleicher Gestalt. Der Fuchs vor tausend Jahren war der gleiche wie der Fuchs in unseren Wäldern heute. Sein Entwicklungsgang ist daher kurz und stellt das Tier schnell auf die Höhe seiner Kraft und Artung. 25
W. Dobbek: a. a. O. S. 90. a. a. O. S. 135. 27 H. Kuhfus: Gott und Welt in Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit". Emsdetten 1938. S. 23 ff. 2fl
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Sein Entwicklungsprozeß zeichnet sich durch invariante Abgeschlossenheit aus. „Das Tier w i r d immer auf dieser Stufe körperlicher Stärke und Sinnenschärfe, zu der sein Trieb es so rasch geführt hat, stehenbleiben. Denn die ganze Dauer seines Lebens, seiner Genüsse und Anstrengungen und, wenn w i r so sagen können, seiner Fertigkeiten, weist keine Entwicklung mehr auf. Es kann durch Alter oder ungünstige Umstände beeinträchtigt werden, aber es w i r d nie über jene Grenze physischer Vollkommenheit vorrücken, die seinem ganzen Wachstum wesentlich ist. Die Naturgeschichte der animalischen Schöpfung weiß nichts von einem Hinzukommen neuer Fähigkeiten oder Funktionsweisen zu den bereits bestehenden." („Mutter u. K i n d " ) 2 8 . I m Tierischen fehlt jede schöpferische Bereicherung und Vervollkommnung. W i r würden heute sagen, es fehlt die „Geschichtlichkeit" im Sinne einer unerschöpflichen variablen Überholung. 2. Diese Entwicklung w i r d gelenkt vom „ I n s t i n k t " , ja, das ganze Leben des Tieres unterliegt dieser „unmittelbaren" Führung durch die Natur. Wie „vermittelt" zeigt sich demgegenüber diese natürliche Führung beim Menschen! 3. Die schnelle Entwicklung des tierischen Wesens fällt als weitere Unterscheidung in die Augen. Wie bald erreicht das Tier seine natürliche Wesensfülle, wie „verlangsamt" erscheint demgegenüber die Entwicklung des Menschen! „Es ist dem menschlichen Geiste fast unbegreiflich, wie das junge Tier so schnell alles werden und alles sein kann, was es sein soll, um so mehr, da die menschliche Entfaltung in dem Grad langsam und von fremder Hilfe, von fremdem Einfluß und von fremder Kunst abhängig, als das Tier davon unabhängig ist." ( „ A n die Unschuld") 29 . So zeichnet sich das Leben des Tieres durch frühe Selbständigkeit aus, gegenüber der „Hilflosigkeit" des sich entwickelnden Menschen. 4. Das Tier lebt vom ersten Tag seiner Geburt an in eigener Gier und Kraft, nicht wie das K i n d in der Kraft der Mutter und ihrer Hilfe. „So groß ist der Unterschied in der Richtung der Triebe zwischen dem menschlichen Säugling und dem tierischen. Dieser letztere lebt von der Stunde seiner Geburt an in sich selber im Gefühl seiner Kraft, 28 29
Pestalozzi: Mutter u. Kind. S. 48. Pestalozzi: Gesammelte Werke. Bd. 6. S. 208.
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und er lebt durchaus nicht wie der menschliche in der Kraft der Mutter und durch sie, er lebt durchaus nicht im Glauben an sie, sondern in einer von der Stunde seiner Geburt an sich äußernden lebendigen Gierigkeit nach dem Gebrauch seiner eigenen Kraft." ( „ A n die Unschuld") 30 . Damit sind wichtige Spezifika des Tierischen umrissen. U n d man w i r d sich hierbei ebenso an Herders „Anthropologie" mit ihrem Aufweis der Differenz von Mensch und Tier erinnern wie auch an die modernen Versuche, von hier aus eine „Anthropologie" aufzubauen. W i r denken an das von Bolk aufgewiesene „Retardationsphänomen", an die „Instinktdefizienzen" und die „Eingepaßtheit in eine U m w e l t " , an die „Vollkommenheit" der tierischen Organisation und die „organische Mangelhaftigkeit" des Menschlichen, wie sie in dem großen Entwurf einer Anthropologie von Arnold Gehlen zur Grundlage gemacht worden sind. Das für Pestalozzis Gedankengang Kennzeichnende ist nun gerade die Wendung zum Positiven hin, die er diesen Unterschieden zu geben weiß und die seinen Gedankengang scharf abhebt von der Herder-Gehlenschen Wendung. Pestalozzi gelangt zu anderen Ergebnissen als jene 31 . Der Mensch erscheint vom Tier aus gesehen als das Wesen der „zwei Naturen". Zunächst: I n ihm müssen sich jene Negativa bzw. jene „Privationen" zu etwas Positivem, den Menschen gerade Ermöglichendem gewandelt haben, sonst wäre ein Wesen „Mensch" gar nicht lebensfähig geworden. 1. Die Positivität der langsamen Entwicklung liegt gerade darin, daß der Mensch seiner Menschlichkeit inne wird. Sie ist ihm „natürlich", d. h. die N a t u r gewährt ihm solche „Retardation", auf daß er „Zeit habe", das Wesentliche seiner selbst, das nicht im Tierischen zu suchen ist, zu erfahren. Wäre seine Entwicklung zu schnell beendet, so würde er sozusagen vom Tierischen abgefangen und in ihm hängenbleiben, bevor er Mensch geworden ist. Die verlangsamte Entwicklung ist positiv, weil sie ihn freigibt für das Vernehmen eines „Anspruchs", von dem das Tier in seiner Kraft und Gier nie erreicht werden kann. „Daß doch unser Geschlecht die Stimme der Schöpfung, die die Stimme Gottes ist, hierin erkennen und tief fühlen lernte, daß, wenn der tierische Säugling innert Jahresfrist in allen seinen Kräften gereift ist und der Mensch hingegen so langsam zur Reifung seiner physischen und tierischen Kraft gelangt, diese Zurücksetzung seiner tierischen 30 31
a.a.O. S. 211. Vgl. Arnold Gehlen: Der Mensch. 4. verb. Aufl. Bonn 1950.
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Kraft hinter die menschliche nur darum stattfindet, daß er durch den einfachen, natürlichen Gang der Entfaltung seiner Kräfte gleichsam von selbst zur Uberzeugung gelange, daß seine tierische sinnliche Kraft nicht die wesentliche seiner N a t u r ist, daß er vielmehr bestimmt ist, gegen dieselbe Herr über sich selbst zu werden, gegen alle Gewalt seiner tierischen Gelüste und gegen alle Macht seiner durch das menschliche und bürgerliche Verderben tierisch auf ihn wirkenden U m gebungen. Dieses Ziel, die Ansprüche unserer tierischen Natur dem höhern menschlichen Willen unseres Geistes und unseres Herzens zu unterwerfen, ist deshalb offenbar der Mittelpunkt und das Wesen der Sorge und der Kunst der menschlichen Erziehung, und das Erste, Einzige, was darin not tut." ( „ A n die Unschuld") 3 2 . Der Mensch vernimmt dann aber auch ein „Rangverhältnis", eine natürliche Ordnung, für die er freigegeben ist, die er aber selbst zu vollziehen hat: die Unterordnung des Tierischen unter jenen Anspruch, von dem her er Mensch wird. — U n d damit begegnet uns allerdings zunächst der Grundgedanke der Kantischen Ethik und Pädagogik wieder: Das Ethos, in dem sich der Mensch zu halten hat, liegt in der Unterordnung des Sinnlich-Tierischen unter das Vernünftig-Menschliche. Dem Menschen w i r d es durch die Langsamkeit seiner Entwicklung möglich gemacht, nicht nur durch das Hören auf Mutter und Familienangehörige sich in Anspruch nehmen zu lassen, sondern darüber hinaus sich in der Unterstellung unter diesen Anspruch als lebendiges Wesen „ v o n Grund aus" zu bestimmen, also auch als „physisches Wesen". Die tierische Natur w i r d nicht unwesentlich, aber sie w i r d auch nicht einfach überbaut von neuen „Vermögen"; sie w i r d vielmehr aufgehoben und bewahrt, indem sie zur Menschlichkeit „veredelt" wird. Die tierische K r a f t muß daher zunächst „stillgestellt", sie muß niedergehalten werden, damit der Mensch nicht von sich selbst fortgerissen werde, d. h. vom Vernehmen des Anspruchs, mit anderen Worten, damit die Natur in Gestalt der M i t menschen, zuerst der Mutter, ihn in seine Menschlichkeit hervorrufen könne. Sprache muß das ureigene Medium menschlicher „Entwicklung" werden. 2. Die Menschlichkeit bedeutet daher in ihrer Freigabe des Menschen vom Tier Geschenk. Die erste Verfassung, in die seine spezifische Entwicklung den Menschen bringt, läßt sich als „Gemütlichkeit" bezeichnen. Die menschliche Entwicklung wiederholt in gewisser Weise die organische 32
Pestalozzi: Gesammelte Werke. Bd. 6. S. 211 f.
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Entwicklung überhaupt, aber so, daß doch schon von Anfang an das Neue, das die N a t u r mit dem Menschen vorhat, ermöglicht wird. Die menschliche Entfaltung „ist in ihrer ersten Erscheinung mehr die vegetabilische Entfaltung eines seines Lebens unbewußten Pflanzenkeims als die Entfaltung eines seines tierischen Daseins bewußten lebendigen Wesens. V o n diesem Zustand, der wochenlang dauert, geht das K i n d durchaus nicht unmittelbar zum Bewußtsein seiner geistigen und physischen Kraft hinüber; das erste Entfalten seines menschlichen Seins ist die Erscheinung seiner Gemütlichkeit. Diese geht unmittelbar aus der Ruhe und der fast völligen Bewußtlosigkeit seines Seins hervor. I n dieser vor allen andern Kräften erwachenden Gemütlichkeit des Kindes liegt dann aber auch der heilige Keim der reinen Entfaltung des ganzen Umfanges aller sittlichen, geistigen und physischen Kräfte seiner Natur. Das erste Leben des Säuglings ist durch die heilige Ruhe seiner ersten Tage gleichsam eine geweihte Fortsetzung seines von der äußern Erscheinung der Welt geschiedenen und sich selbst unbewußten Lebens im Mutterleib; seine Bedeutung als diejenige des Anfangszustandes des ganzen Lebens des Kindes ist unermeßlich. Der Mensch muß sich nicht tierisch lebendig, er muß sich gemütlich, er muß sich menschlich beruhigt entfalten, und diese Gemütsruhe und selbst ihr sinnlicher Anfangspunkt, das ungestörte Vegetieren in dieser Ruhe, ist die erste Grundlage der naturgemäßen progressiven Entfaltung aller unserer Kräfte." ( „ A n die Unschuld") 33 . Diese Verfassung der Gemütlichkeit in ihrer heiligen Ruhe des A n fangs entspricht also der tierischen Entfaltungsstufe, ist aber schon menschlich umgebildet. Pestalozzi gewinnt hier den genuinen Sinn von „Gemüt" als eines Insichruhens und Insichfühlens wieder und kennzeichnet darin die Ruhe und Bereitschaft zu empfangen und zu hören. Hier darf nichts den Menschen fortreißen, hier dürfen nicht Drang und Trieb erregen und bewegen. N u r der Mensch hat von Natur „Gemüt". 3. So muß auch bereits das erste Zeichen, das das Kleinkind seinen M i t menschen gibt, von seiner Menschlichkeit zeugen. Es muß spezifisch menschlich geartet sein. U n d Pestalozzi hat es in tiefstem Verständnis des Kindlichen mehr als einmal genannt: Es ist das Lächeln — kein Tier lacht. „Ich sehe lange, lange keine tierische Kraftäußerung in ihm und auch nicht einmal ein lebendiges Streben darnach, ich sehe keine Spur » a. a. O. S. 208 f. 10 Ballauff
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des Gewaltsinnes, der alle tierische Jugend zur schnellen Entfaltung ihrer Kräfte hintreibt. I m Gegenteil, das erste Zeichen des innern Lebens des Kindes ist sein himmlisches Lächeln. Es ist die erste Regung eines über allen Tiersinn erhabenen und ihm ganz entgegenstehenden menschlichen Sinnes, es ist der Ausdruck des Frohsinns der innern Befriedigung der menschlichen Erheiterung des Gemüts durch den Genuß der menschlichen Sorgfalt und Liebe, es ist die erste Spur der im Kinde entkeimenden Erkenntnis der Liebe. Dieses Lächeln geht dann bald in Anmut und in ein allgemeines liebliches Wesen hinüber ( „ A n die Unschuld") 34 . U n d nicht nur das Lächeln, auch die „Träne des Mitgefühls" w i r d von der aufkommenden, der eintretenden Menschlichkeit zeugen und der M u t ter ihre Mühen lohnen. A u f diese Weise eröffnet sich die Menschlichkeit; erreicht aber w i r d sie in Glauben und Liebe, in Wahrheit, Recht und Gewissen. „Offenbar ist die Basis der menschlichen Entfaltung und die Quelle, woraus alle menschliche Kraft hervorgeht, Unschuld, Liebe und Glauben, und hinwieder die Basis der tierischen und die Quelle, woraus aller Trieb derselben und zu derselben hervorgeht, ein mit der Unschuld, dem Glauben und der Liebe unvereinbares Mißtrauen unseres tierischen Verderbens. Die menschliche Kraft entfaltet sich im Kinde gleichsam durch das Verschwinden des Bewußtseins seiner Kraftlosigkeit im Glauben an die Mutter, die tierische hingegen durch das rege Bewußtsein seiner eigenen sinnlichen Kraft in Mißtrauen und Lieblosigkeit. Die menschliche Kraft entfaltet sich aus der Menschlichkeit selber, die tierische hingegen... aus dem Mangel an Menschlichkeit und an menschlichem Glauben selber. Welch ein hohes Geheimnis liegt in dieser ersten Quelle der menschlichen Entfaltung 3 5 !" N u n erscheint das Tier als „Mängelwesen". Die physische Hilflosigkeit und Langsamkeit gewährt das Glauben- und Liebenlernen als das rein Menschliche, das dem Tier gerade vorenthalten bleibt. Der Mensch erscheint als das sich geschenkte Wesen, das sich nicht selbst erhält und hervorbringt, wie es bis zu einem gewissen Grad das Tier tut. Das Wesentliche des Menschen liegt in seiner Kraftlosigkeit, in seiner Schwäche, die das K i n d schon in seiner Angewiesenheit auf mütterliche Pflege und mütterlichen Zuspruch erfährt. Seine Kraft w i r d ihm durch die Liebe 34 35
a. a. O. S. 210. a. a. O. S. 212 f.
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der Mutter zuteil. I n dieser Liebe lernt das K i n d an die Mutter glauben und auf sie vertrauen. Glaube, Liebe, Vertrauen, Dankbarkeit stehen hier in spezifischer Differenz dem Mißtrauen und der Lieblosigkeit gegenüber. Daher bleiben auch im menschlichen Leben Undankbarkeit, Lieblosigkeit und Mißtrauen die Anzeichen für das „Tierische im Menschen". Ein ebensolches Anzeichen w i r d die Gewissenlosigkeit. N u r im Menschen meldet sich das Gewissen und ruft ihn auf, der Liebe und der Wahrheit zu folgen. I n der Masse verliert der einzelne das Gewissen. I n der Masse fühlt er sich nicht mehr menschlich, sondern nur tierisch kraftvoll. Pestalozzi bemüht sich, den Gegensatz von Tierischem und Menschlichem noch eindeutiger herauszuarbeiten; dabei kommt ihm die neutestamentlich-paulinische Antithese von Sarx und Pneuma, Finsternis und Licht zu Hilfe. Sprachen w i r bisher von einer spezifischen Differenz zwischen Tier und Mensch, so müssen wir, strenggenommen, von einer absoluten Differenz sprechen, wenn w i r mit Pestalozzi folgendes bedenken: „Es besteht eine ewige Scheidewand zwischen dem Licht und der Finsternis, zwischen der Menschlichkeit und der Tierheit, zwischen dem Sinn des Geistes und zwischen dem Sinn des Fleisches. Die Menschheit vermag es nicht, Gott und dem Mammon zugleich zu dienen, sie vermag es nicht, geteilt im tierischen und geistigen Leben sich in sich selbst im Gleichgewicht zu erhalten. I m Streit des Geistes und des Fleisches, im Streit des menschlichen und des tierischen Sinns ist immer einer vorherrschend und der andere unterliegend." ( „ A n die Unschuld") 36 . Der Mensch ist entweder ganz Mensch oder ganz Tier, hier gibt es keinen Ausgleich, die Unterordnung muß eine umfassende, alles durchdringende und umwandelnde sein. Alle Kräfte, die die N a t u r gewährt, müssen menschlich vollzogen werden. Sie geben von sich aus noch nicht das Menschliche her. „Dieser Unterschied der menschlichen und tierischen Kunstkraft und überhaupt des menschlichen und tierischen geistigen Seins sowie die Größe des Ubergewichts des Niedersten in der menschlichen gegen das Höchste in der tierischen N a t u r ist so auffallend, daß sich bei mir bei der Ansicht dieses Übergewichts mit dem Worte Davids: ,Du hast uns ein wenig minder gemacht als die Engel', allemal der gefühlvoll be36
10Ä
a. a. O . S. 3 5 7 f.
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lebte Gedanke verbindet: ,Du hast uns über alles Fleisch und Blut, das auf Erden wandelt, unendlich erhoben, du hast uns unendlich höher gestaltet als alle Tiere der Erde/ Alle, auch die höchsten Resultate des tierischen Denkens und der tierischen Kunst sind durchaus keine Beweise der menschlichen Denkkraft. Das Denken unsers Geschlechts, als m e n s c h l i c h e s Denken, geht durchaus, auch im kleinsten Produkt seiner Wahrheit, nicht aus irgendeiner Kraft hervor, die sich an die zartesten Fasern unsers Fleisches und unsers Bluts anschließt. Unser Denken, insofern es wahrhaft menschlich ist, geht aus der göttlichen Kraft hervor, unsern Geist über unser Fleisch herrschen zu machen, und ist und wird nur dadurch ein wahrhaft menschliches Denken, das mit allem tierischen Denken in vollkommenem Widerspruche steht. Alles tierische Denken ist mit allem menschlichen Denken, wie die Finsternis mit dem Lichte, i m Widerspruche und führt in seinen Vorschritten und Endpunkten immer zur Unmenschlichkeit." („Schwangengesang") 37 . Damit ist die entscheidende Einsicht ausgesprochen. Der Mensch erscheint zwar auch hier noch als „Wesen der M i t t e " , aber nicht durch den Grad seiner „Ausstattung", der ihn zwischen Tier und Engel bzw. Gott einweist, sondern durch die Weise des Gesamtvollzuges des Natürlichen, des „Tierischen". Nicht ein Unterschied der Anzahl der „Anlagen", etwa durch das Hinzukommen des „Logos", des Denkens, der Ratio liegt vor, sondern eine in ihrem eigenen Grund gewandelte Übernahme des Natürlichen im Sinne eines Vernehmens des „Göttlichen" und eines Verstehens aller „Begabung" als Auftrag der Liebe. N u r so mache ich meine eigene Begabung, meine „Veranlagung" frei, die ja nichts anderes enthält als die Kraft, der vernommenen Berufung zu entsprechen, die mir in Gestalt der Begabung Dinge und Mitmenschen zur Aufgabe macht. Das menschliche Sein liegt also allein in dieser Haltung, in dieser „Geistigkeit" und ihrer absoluten „ A r m u t " . M i r gehört gar nichts, aber ich gehöre allem zu, mit dem ich „begabt" wurde. Pestalozzis Leben möchte die eindringlichste Demonstration dieser zuteil gewordenen Einsicht sein. Es möchte nur diese „Wahrheit" darleben. So sind w i r durch diesen Gedankengang bei dem tiefsten Einblick ins Wesentliche angelangt. Die anderen Aspekte der Natürlichkeit und Sittlichkeit werden darin i m Hegeischen Sinn dreifach aufgehoben, nämlich auch erhoben und bewahrt. — Aber auch Kants Gedankengang ist darin noch einmal überschritten, in so großer Nähe w i r uns auch zu ihm be37
a. a. O. Bd. 10. S. 411 f.
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wegen. Der Mensch ist hier nicht mehr das sich selbst in Gestalt des Willens überantwortete Wesen, sondern die im Glauben gewährte Liebe; der Mensch ist also das große Nicht des Ich-Selbst, dem als Begabung und Berufung alles zuteil wird. — U n d w i r verstehen jetzt auch systematisch die Worte Pestalozzis: „Was ich w i l l , was ich eigentlich suche, was der Zweck meines Lebens an sich, was das Heilige, das Unveränderliche und Ewige in meinem Streben ist, das ist nicht meine, das ist Gottes Sache, das ist der Menschheit Sache. U n d was bin ich, was sind w i r alle in diesem Streben? Ein Nichts, das vorübergeht in einer Stunde, wie ein Wurm, dessen Leben nur einen Tag dauert." 38 . Der Mensch gewinnt sich also auch nicht, sozusagen auf höherer Ebene, als ein Wesen wieder, das alles, was ihm gegenüber dem Tier mangelt, durch Handeln, Sprache und Denken kompensatorisch erwirbt, um nun, „wie das Tier", sich einer Welt zu bemächtigen und dadurch sich zu sich selbst zu ermächtigen. Hier in Pestalozzis Gedanken sind w i r sozusagen am Gegenpol zu aller modernen „Anthropologie". I n Liebe und Glauben w i r d die Reflexivität der Sittlichkeit aufgehoben und die Unmittelbarkeit der Natürlichkeit wieder erreicht. Aus dem „Sichselbst-Sein" der Sittlichkeit w i r d das „Sich" eliminiert. I n der Sittlichkeit ringt sich der Mensch als ein „Ich-Selbst" oder zu einem „Ich-Selbst" von der Menge los, in der Liebe w i r d er von „sich selbst" freigemacht zu Mitsein und Sachlichkeit. I n seinen Gedanken über Liebe und Glauben hat Pestalozzi die Einsicht in die Sittlichkeit überholt und trotzdem überall seine Grundintention weiterverfolgt. Der Mensch w i r d nun von ihm verstanden als das Wesen, das, aus der N a t u r erwachsen, diese doch übersteigt, besser: dieser so überhoben ist, daß in ihm die N a t u r sie selbst werden, aber auch in sich selbst verlorengehen kann. Diese „Göttlichkeit" des Menschen — so müßte man jetzt sagen — überhebt ihn nicht nur seiner Natürlichkeit, sondern auch seiner Weltlichkeit. Nicht als Wesen der „ K u l t u r " , der „Gesellschaft" ist er der Natur überhoben oder dem Tierischen gegenüber ausgezeichnet, sosehr er sich hier auch bemüht, der Vergänglichkeit und des Wirrwarrs des natürlichen Treibens Herr zu werden und ein „ N o v u m " zu schaffen, ja das Sein in Gestalt von Seiendem, von geschaffenen Werken zu bewahren, sondern sein Eigenstes, in dem er dem Sein zugehört, liegt allein in der 38
Pestalozzi: Sämtliche Werke. Hrsg. v. L. Seyffarth. Bd. 1—12. Liegnitz 1899—1902. Bd. 10. S. 519.
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I I I . Erziehung infolge der menschlichen Unvollkommenheit
Haltung des Hörens und Folgens, der Entsprechung, die gerade vom Seienden her gesehen ein Ungreifbares, Unfeststellbares bedeutet. I n dieser Haltung — und hier bewegen w i r uns in größter Nähe wie in größter Ferne zu Kant — liegt die „Teilhabe" am Göttlichen, hier kommt der Mensch nicht vom Seienden her zustande, sondern ereignet sich vom Sein her, nicht als „etwas", sondern als „gläubige Liebe". Vom Seienden aus muß er dann ein „nichts" bedeuten. Pestalozzi führt das in folgenden Worten seiner „Rede" von 1811 aus: „ I n ihm allein lebt ein Drang, ewig zu bleiben im Kreis der göttlichen, aber vergänglichen Schöpfung. Er w i l l selber seine vergängliche Hülle verewigt wissen. Er baut Pyramiden über seinen Staub; er verschafft dem nichtigen Schall seines Lebens ihm ewig scheinendes Leben. Er ist überall Schöpfer ewiger Werke. Er gibt der Vergänglichkeit allenthalben ewige Dauer. Er ändert sein Geschlecht durch den ewigen Wechsel der Kunst, deren Ausdehnung und Wachstum kein Ende hat. Sie hat noch keinen Grenzstein gesehen, auf dem geschrieben stand: steh hier still, du kannst, du darfst nicht weiter! Dennoch ist alles Streben der sinnlichen Menschennatur und aller ihrer Kunst nicht anders als das verirrende Herabsinken des unaufhaltsamen Triebs unserer innern Natur nach dem Unsterblichen und Ewigen in den Wirrwarr des niedern Treibens unsers tierischen Daseins. Der Mensch als Geschlecht strebt nur als Sinnenwesen nach ewiger Dauer. Darum ist auch der Wert seines diesfälligen Strebens nur der Schein und Schatten des menschlichen Werts, und so ist auch die Ewigkeit, die er im Taumel seiner Sinnenkraft anspricht, und die Kunst, mit der er diesem taumelnden Anspruch dient und den Ton seiner Hülle mit dem Kleister der Farbe des Lebens bedeckt, nur ein nichtiges Streben seines irdischen Seins. Es ändert kein Haar an dem Fortgang der Fäulnis seines notwendigen Sterbens. Der Mensch lebt nur im Heiligen, Göttlichen, das in seiner Natur liegt, ewig, und er ist nur in diesem und nur durch dieses unsterblich." („Rede 1811") 8 9 . Damit hat sich das Wesen der menschlichen „Natürlichkeit" endgültig offenbart. Es ist in seiner Ursprünglichkeit identisch mit dem Göttlichen. Das soll die Rede vom „göttlichen Funken" ausdrücken — sicher übernommen aus mystischer Sprachfindung, aber kein Terminus mehr in ihrem Sinn: „Dieses Göttliche und Ewige aber ist in seinem Wesen die Menschennatur selbst. Es ist in seinem Wesen das einzige wahre Menschliche in 39
Pestalozzi: Gesammelte Werke. Bd. 8. S. 303 f.
2. Der Mensch bei Pestalozzi
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unsrer Natur, und die Naturgemäßheit der Bildungsmittel unsers Geschlechts . . . ist in ihrem Wesen ebenso nichts anders als die Übereinstimmung dieser Mittel mit den unauslöschlichen Fundamenten des ewigen, göttlichen Funkens, der in unserer N a t u r liegt, der aber auch ewig mit dem sinnlichen Wesen unsrer tierischen Natur im Widerspruch und im Kampf steht." („Schwanengesang") 40 . Das „Sein" in seiner Göttlichkeit, d. h. Unverletzlichkeit, Unverfügbarkeit, Ursprünglichkeit w i r d ausgemacht von entspringenlassender Liebe, die in Welt als Menschlichkeit des Menschen sich ereignet — oder enteignet. So ergibt sich die Identifikation von „göttlicher Gnade" und menschlichem Tun im Werk der Liebe: „Ich lebe dann nicht mehr mir selbst; ich verliere mich dann im Kreise meiner Brüder, der Kinder meines Gottes. Ich lebe nicht mehr mir selbst, ich lebe dem, der mich in Mutterarme genommen und mich mit Vaterhand über den Staub meiner irdischen H ü l l e zu seiner Liebe erhoben. U n d je mehr ich ihn liebe, den Ewigen, je mehr ich seine Gebote verehre, je mehr ich an ihm hange, je mehr ich mich selbst verliere und sein bin, desto mehr w i r d auch meine N a t u r ein göttliches Wesen, desto mehr fühle ich mich selbst übereinstimmend m i t meinem Wesen und mit meinem ganzen Geschlechte." („Wie Gertrud") 4 1 . N u r das der Sorge um sein eigenes eingeschränktes Dasein entstiegene Herz kennt Gott 4 2 . Das alles hebt die „Selbständigkeit" des Menschen nicht auf', sondern setzt sie nun erst recht voraus, aber nicht mehr in der Interpretation der Sittlichkeit verstanden, sondern als ein Sichzugehörenlassen zur Liebe und ihren „Wohltaten": „ H i e r wie allenthalben ist die Benuzung der göttlichen Wohlthaten dem freyen Thun des Menschengeschlechts anheimgestellt, — und an diesem ist es allein, woran es in unserm Geschlecht m a n g e l t . . . " („Uber den Sinn des Gehörs") 43 .
40 41 42 43
a.a.O. Bd. 10. S. 310. a. a. O. Bd. 9. S. 315, a. a. O. S. 316. Sämtliche Werke. Bd. X V I . S. 333.
IV. Die Begründung von Erziehung und Bildung im Grundverhältnis von Mensch und Welt Die endgültige Struktur der neuzeitlichen Bildung, wie sie sich besonders durch den Neuhumanismus festigt und klärt, müssen w i r ausführlich untersuchen, wenn w i r Ursprung und Maß unseres modernen Bildungsgedankens erkennen möchten. Diese Struktur ist nicht immer zentrales Thema der Bildungslehre gewesen, ja, sie hat eine ihrer gewichtigsten Begründungen dort gefunden, wo zunächst gar nicht von Bildung die Rede ist, nämlich in Kants kritischem Gedankengang. Vor allem bleibt der Zusammenhang der verschiedenen Darstellungen dieser „Grundstruktur" meist verborgen, besonders, wie verständlich, je größer der geschichtliche Abstand zum Ausgangspunkt wird. Bei näherem Zusehen aber t r i t t die aufweisbare Linie des Gedankengangs hervor, in deren Verfolg der gesamte Umfang dieser Struktur ermeßbar wird. Diese Linie führt von Leibniz über Herder und K a n t zu W. v. Humboldt und Schleiermacher, Herbart und Fröbel 1 . W i r sind Ansätzen und Hinweisen zu dieser Bildungskonzeption in dem bisher Erörterten schon vielfach begegnet. Die geschichtlichen Wurzeln dieses Strukturgedankens sind sicher in der Stoa und dem Neuplatonismus zu suchen. Er w i r d auch von anderen Dichtern und Philosophen der Neuzeit durchdacht, von Goethe und Schiller, von Fichte und Hegel, um nur einige zu nennen. W i r müssen uns im engeren Rahmen des Pädagogischen halten. Dieser Gedankengang w i r d zugleich das große Gegenstück zu der in Pestalozzis Grundlegung der Pädagogik erreichten Wendung. Die Antithetik, die sich zwischen beiden schließlich herausstellt, bedeutet die Ausgangssituation einer modernen Pädagogik. 1 Vgl. Th. Ballauff: Die Grundstruktur der Bildung. Weinheim/Bergstr. 1953; Hermann Holstein: Bildungsweg und Bildungsgeschehen. Der Bildungsprozeß bei Kant, Herbart und Fröbel. Ratingen 1965. (Pädagog. Taschenbücher. 8); Günther Dohmen: Bildung und Schule. Bd. 1. Weinheim 1964; Walter Schulz: Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. Stuttgart 1955, vor allem S. 271 ff.
1. Die Grundlegung der modernen Bildungslehre durch Leibniz
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1. Die Grundlegung der modernen Bildungslehre durch Leibniz Leibniz gibt in großartiger Synthese seinem Jahrhundert die erste Klärung der die Neuzeit bewegenden Gedanken. Es dürfte nicht übertrieben sein, wenn w i r behaupten, daß auch die Pädagogik des 18. und 19. Jahrhunderts auf seinen Gedankengängen aufruht, sie beibehält und immer wieder durchdenkt. Ja, w i r sind Leibniz bis heute in vielen „Prinzipien" und „Wertungen" treu geblieben, oft gerade dort, wo w i r meinen, eigene Einsichten gewonnen zu haben 2 . I. „1. Die Monade, von der hier die Rede sein soll, ist nichts anderes als eine einfache Substanz, die als Element in das Zusammengesetzte eingeht. Sie ist einfach, d. h. sie hat keine Teile. 2
Der folgende Abschnitt wurde zum erstenmal in der Festschrift für Josef Dolch „Pädagogisches Denken in Geschichte und Gegenwart", Ratingen: Henn 1964, veröffentlicht. Zu Leibniz vgl.: Die philosophischen Schriften. Hrsg. von C. J. Gerhardt. Bd. 1—7. Berlin 1875—90; Die Hauptwerke (Teilsammlung, deutsch), zusammengefaßt und übertragen von Gerhard Krüger. 3. Aufl. Stuttgart 1949 (Kröners Taschenausgabe, Bd. 112); Metaphysische Abhandlung (Discours de Metaphysique, französisch und deutsch). Hrsg. von Herbert Herring. Hamburg 1958 (Philos. Bibl., Bd. 260); Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade, Monadologie (französisch und deutsch). Hrsg. von Herbert Herring. Hamburg 1956 (Philos. Bibl., Bd. 253); ferner: Th. Ballauff: Die Wissenschaft vom Leben. Bd. I. Freiburg/München 1954 (Orbis academicus, II/8); J. O. Fleckenstein: Gottfried Wilhelm Leibniz. München 1958 (Plinius-Bücher. Bd. 2); N. Hartmann: Leibniz als Metaphysiken Berlin 1946; H. Herring: Leibniz' Principium identitatis indiscernibilium und die Leibniz-Kritik Kants. Kantstudien 49 (1957/58). S. 389—400; K. Hildebrandt: Leibniz und das Reich der Gnade. Haag 1953; Josef König: Das System von Leibniz, in: G . W . Leibniz. Hamburg 1946. S. 17—45; G. Martin: Der Begriff der Realität bei Leibniz. Kantstudien 49 (1957/58). S. 82—94; ders.: Leibniz* Logik und Metaphysik, Köln 1960; ders.: Die Objektivität und die Realität der Wahrheit in der Philosophie von Leibniz, in: Sinn und Sein. Tübingen 1960. S. 245—254; Rudolf Walter Meyer: Leibniz und die europäische Ordnungskrise. Hamburg 1948; Otto Saame: Der Satz vom Grund bei Leibniz. Tübingen. Phil. Diss. 1961; J. Vernay: Essai sur la pedagogie de Leibniz. Heidelberg 1914; Hans M. Wolff: Leibniz, Allbeseelung und Skepsis. Bern/München 1961; M. Heidegger: Nietzsche. 1961. Bd. I I . S. 436 ff. — Die neueste Darstellung von Wolf gang Janke: Leibniz. Die Emendation der Metaphysik (Frankfurt: Klostermann 1963). 259 S. verfolgt die grundlegenden Gedanken von Leibniz in der beim heutigen Stand der Forschung wohl angemessensten Weise.
154
I V . Die Begründung von Erziehung und Bildung
2. Einfache Substanzen muß es aber geben, da es zusammengesetzte gibt; denn das Zusammengesetzte ist nichts anderes als eine Anhäufung, ein Aggregat der einfachen. 3. N u n kann es da, wo gar keine Teile vorhanden sind, weder Ausdehnung noch Gestalt, noch auch Teilbarkeit geben. Die Monaden sind also die wahrhaften Atome der Natur und, mit einem Wort, die Elemente der Dinge. 4. Bei ihnen braucht man daher auch keine Auflösung zu fürchten, und es ist auf keine Weise verständlich, wie eine einfache Substanz auf natürlichem Weg vergehen könnte. 5. Ebenso unbegreiflich ist es, daß eine einfache Substanz auf natürlichem Weg entstehen könnte, da sie sich ja nicht durch Zusammensetzung bilden kann. 6. Man kann demnach sagen, daß die Monaden nur mit einem Schlag entstehen oder vergehen können, d. h. sie können nur durch Schöpfung entstehen und durch Vernichtung vergehen, während das Zusammengesetzte aus Teilen entsteht und in solche vergeht" 3 . Die Tätigkeit der Monade liegt im Selbstvollzug, den sie von sich her aufbringt. Die Monade hat nicht Kräfte, sondern sie ist Kraft. I n diesem strengen Sinn ist sie Substanz, ein Seiendes, dessen Sein den eigenen Grund umschließt. Selbsttätigkeit und unteilbare Einheit machen die wesentlichen Kennzeichen der Monade aus. Von welcher A r t muß aber dann die Tätigkeit der Monade sein? Es kann sich nur um das „Vorstellen" handeln, um die „geistige" Tätigkeit, da alles Gestalthafte, alles Räumliche, Materielle für das Sein der Monade entfällt. Vorstellung besagt: repraesentatio multitudinis in unitate. Jede Monade repräsentiert alle anderen, d.h. also die „ W e l t " , in sich. Ist sie reiner Selbstvollzug, ihre Tätigkeit ein Vorstellen des Alls, dann ist jede Monade, was sie ist, durch alles das, was sie nicht ist. I n jeder werden alle anderen in einzigartiger und einmaliger Weise, also individuell, gespiegelt. Dadurch w i r d zugleich die gewichtige Frage beantwortet, wodurch sich denn die Monaden voneinander unterscheiden. Raum und Zeit können ja metaphysisch keine „principia individuationis" erstellen4. Das aber besagt noch mehr: Wenn sie sich 3
Leibniz: Werke. Ausgabe Gerhardt. Bd. 7: Monadologie. Ferner Philos. Bibl., Bd. 253. 4
Vgl. H. Herring, in: Kantst. 49. R. W. Meyer, a.a.O. S. 186 ff. W. Janke, a. a. O. S. 23 ff. G. Krüger, a. a. O. S. X X I I I ff.
1. Die Grundlegung der modernen Bildungslehre durch Leibniz
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unterscheiden sollen, so müssen sie sich immer individuell unterscheiden, nie bloß typisch. Zwei Monaden, die sich nicht unterscheiden würden, müßten dieselben sein. Hätten Raum und Zeit ontologisch für sie Bedeutung, so könnten zwei gleiche Monaden sich doch noch an verschiedenen Raumund Zeitpunkten befinden und dadurch unterschieden sein. Die Monaden können sich daher allein durch die A r t und Weise ihrer Repräsentation des Ganzen unterscheiden. Die Weisen, das Ganze „vorzustellen", können dann nur graduell verschieden sein, sie bilden somit ein Kontinuum 5 . Die weitere Folgerung aus der Grundeinsicht muß lauten: Die Differenzierung dieser Vorstellungsweisen bedeutet „Evolution". Das „Was" der Repräsentation bleibt in jeder Monade dasselbe: der totale Zusammenhang der Monaden; aber die „Vorstellung" dieses Ganzen kann sowohl restlos verborgen bleiben als auch in sich selbst absolut hell werden. Dazwischen liegen alle Abstufungen der „Bewußtheit" des Ganzen, also ihrer inneren „Aufklärung". Selbsttätigkeit besagt nichts anderes als „Vorstellen" und damit einen Übergang von Vorstellung zu Vorstellung. Dieses „Streben", dieser „appetitus", gehört also zum „Vorstellen" unaufhebbar hinzu; es macht Vorgang und Bewegung der Repräsentation aus; nur so kann diese als Tätigkeit gekennzeichnet werden. Zunächst als Trieb und Drang aufkommend, wandelt sich dieser „appetitus" zum Willen, wo die Vorstellungen um sich selbst wissen, wo sie zur Apperzeption gelangen, zum Selbstbewußtsein. Alle Monaden sind selbsttätig, sie handeln spontan, doch nur die selbstbewußten sind frei. Freiheit ist die Spontaneität der „Geister". Sie besteht nicht in W i l l k ü r , sondern darin, ohne Zwang von außen gemäß dem Gesetz des eigenen Wesens und damit gemäß der individuellen Einordnung ins Ganze zu handeln 8 . Leibniz' Theorie läßt uns die Dinge und Wesen in einem neuen Ordo sichten: Alles ist, was es ist, durch das, was es nicht ist, also trägt ein jedes alles, was es nicht ist, dergestalt an oder in sich, daß dieses Zusammen der totalen Bezugnahme das „Sein" des Individuums ausmacht. Diese „repraesentatio" leistet jedes Seiende durch sich als Kraft. N u r dadurch ist es. Die Repräsentation braucht noch nicht auf sich selbst zurückbezogen zu sein, sie braucht sich noch nicht apperzipiert zu haben. So baut sich ein Konti5
Vgl. meine Darstellung in: Die Wissenschaft vom Leben. Freiburg/München 1954. S. 227 f. 6 Vgl. O. Saame, a. a. O. S. 55 ff.
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I V . Die Begründung von Erziehung und Bildung
nuum auf, das von den materiellen Dingen bis zur göttlichen Monade reicht. Das Sein des Seienden liegt in der „repraesentatio" und dem in ihr waltenden „appetitus", darin unterscheidet sich kein Seiendes von einem anderen. N u r durch die unterschiedliche Erhellung der Monade in sich, und das besagt ja zugleich: der Welt, differenzieren sich die Monaden. Prinzipiell könnte jedes Seiende in die Klarheit und Deutlichkeit seiner selbst und damit der Welt gelangen. Jede Monade vollzieht in sich Repräsentation und Perzeption, aus eigener Kraft und selbsttätiger Entwicklung. Halten w i r also fest: Das Sein aller Wesen liegt im Vorstellen. Der Mensch als Monade w i r d dadurch zum Menschen, daß in ihm das Vorstellen um sich selbst weiß, also sich selbst vorstellt. Durch die Reflexivität übersteigt der Mensch die Phasen des Pflanzlichen und Tierischen. Aus all dem folgt: I n universaler Selbsterhellung des Menschen zu einem weltumspannenden Bewußtsein liegt die Bildung des Menschen zu ihm selbst. Durch den Grad seiner Aufgeklärtheit unterscheidet er sich von allen anderen Wesen, aber auch jeder Mensch von jedem anderen. Denn die gradweise Abstufung solcher Aufgeklärtheit ist unbeschränkt und zeichnet eine unendliche Skala vor. Bildung des Menschen geschieht also in solchem Stufengang der vorstellenden Reflexion. Wenn nun aber, wie w i r oben erkannten, die räumliche und mechanische Einheit der Dinge zum „Phänomen" geworden ist 7 , dann gibt es zwischen den individuellen Substanzen überhaupt keinen „physischen" oder „realen" Einfluß mehr. Jede Monade ist mit ihren Ideen allein 8 . „Sie ist mit ihrer Weltanschauung eine Welt für sich, eine kleine Welt im großen Universum unzähliger anderer solcher Welten. Jede spiegelt das Universum aller übrigen, aber von ihrem einzigartigen ,Standpunkt' oder Gesichtspunkt' (,point de vue') aus." Die Monade ist jedoch kein empfangender, passiver, sondern ein „lebendiger", aktiver Spiegel, denn sie entwickelt die Perzeptionen aus ihrem eigenen, individuellen Grund heraus, indem sie dabei sich selbst in ihrem individuellen Wesen zur Zweckursache hat 9 . Leibniz formuliert diesen „Individualismus" als universales Seinsprinzip. Er kann eine solche äußerste Zuspitzung wagen, weil er gegen die An7
Im Anschluß an G. Krüger, a. a. O. S. X X I V f. Vgl. J. König, a. a. O. S. 25 ff. 8 Vgl. R. W. Meyer, a. a. O. S. 261. G. Krüger, a. a. O. S. X X I V . Ferner: W. Janke, a. a. O. S. 85 ff. 9 G. Krüger, a. a. O.
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archie, die darin droht, durch seine theologische Lehre von der prästabilierten Harmonie geschützt ist: Die Einheit des Ganzen bleibt durch die vorausbestimmte Ubereinstimmung und Zuordnung der Monaden erhalten. I n der Erfüllung der Einheit mit äußerster und unendlicher Mannigfaltigkeit findet er gerade die „höchste Vollkommenheit" der Welt, die für die unendliche Güte und Weisheit des Urhebers zeugt 10 . Durch diesen Gedankengang hat Leibniz den modernen Begriff des „Standpunktes" oder „Gesichtspunktes" eingeführt. Er vergleicht die Weltanschauungen der Monaden mit der verschiedenen perspektivischen Ansicht von einer Stadt — als die eine, wirkliche Stadt, die sie ist, w i r d sie in den vielen Gesamtbildern von ihr doch gleichsam vervielfacht. II. Darin sind weitere Konsequenzen enthalten: 1. Die positive Wertung der individuellen Mannigfaltigkeit von Ansichten und Einsichten; 2. Die universale Reflexivität, die die unbeschränkte Mannigfaltigkeit von weltanschauenden Standpunkten freigibt und die totale Beteiligung eines jeden an allem gewährleistet; 3. Die materiale oder inhaltliche Identität von Selbst- und Weltbewußtsein; 4. Die absolute Angewiesenheit aller Menschen aufeinander und ihre gegenseitige Seinsgewährung. Z u 1. Leibniz spricht es mit Nachdruck aus, was seitdem Leitgedanke geblieben ist: Nicht eine einheitliche, für alle Menschen gleichermaßen verbindliche Lehre oder Weltanschauung ist positiv zu beurteilen und daher zu suchen oder durchzusetzen, sondern die Pluralität der Konzepte, A n schauungen, Gedankengänge und Zielsetzungen macht den Sinn des menschlichen Lebens im Kosmos aus. Diese Pluralität ist freizugeben. Sie soll nicht überwunden werden, sondern in ihrer Mannigfaltigkeit, Gegenseitigkeit und Gegensätzlichkeit zum Austrag kommen 11 . „Dergestalt w i r d das Universum gewissermaßen so oft vervielfältigt, wie es Substanzen gibt, und ebenso w i r d die Herrlichkeit Gottes durch die entsprechende Anzahl von ganz verschiedenen Darstellungen seines Werkes gesteigert" (Metaphys. Abhandlung, § 9). " G. Krüger, a. a. O. S. X X I V f. Vgl. R. W. Meyer, a. a. O. S. 124. G. Krüger, a. a. O. S. X X X V I I .
11
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I V . Die Begründung von Erziehung und Bildung
N u r so besteht die Gewähr, daß der Reichtum der weltlichen Perspektiven erhalten bleibt und entfaltet wird. N u r so können ältere Einsichten durch neue in Frage gestellt und überschritten werden, ohne daß jemals eine Einsicht oder Vorstellung des Ganzen absoluten Charakter für sich beanspruchen kann. Ein sinnvoller Begriff des Fortschritts ist damit umrissen. Das Denken schreitet fort in der zunehmenden Erhellung der Welt, ohne daß abzusehen ist, wohin das führen wird. Darin ist zugleich eine ständige Selbstkontrolle dieses Fortschrittes enthalten, denn nur durch die ständige Auseinandersetzung des Denkens mit seinen eigenen Gedanken, Anschauungen, Lehren, Einsichten w i r d jener Prozeß in Gang gehalten. Das moderne Selbstverständnis einer vielheitlichen Welt in den vielen Menschen ist dergestalt im positiven Sinn eröffnet und gefordert. Zu 2. Jeder Mensch ist, der Möglichkeit nach, an allem beteiligt 11 . Denn als Monade repräsentiert jeder das Ganze. Es muß ihm daher auch die wirkliche Beteiligung gewährt werden. Wieweit er es dann in seiner Einsicht ins Ganze, also in der Apperzeption seines repräsentativen Weltbewußtseins bringt, das hängt von ihm, von seinem Einsatz, seiner Ausdauer, seiner Kraft ab. Niemandem darf es verwehrt sein, führender Staatsmann, maßgeblicher Denker und Forscher, schließlich Priester und Theologe zu werden, der eine Anschauung des Ganzen, also Gottes, verkündet. W i r heben diese drei hervor, weil sie Leibniz selbst schon in frühen Entwürfen auszeichnet13. Niemand darf wegen seines weltanschaulichen Standpunktes verurteilt oder ausgeschlossen werden. Allerdings muß er eine Bedingung erfüllen, nämlich keine Endgültigkeit und Unüberholbarkeit seiner Anschauung, seines Standpunktes zu behaupten. Dadurch würde er sich selbst von der pluralistischen Gesellschaft der in Gedanken und für Gedanken freien Menschen ausschließen und sich seiner Menschlichkeit begeben. Diese liegt ja in der unabschließbaren Kette der sich ergänzenden und überschreitenden Einsichten in Worten und Werken, die zu vollziehen der Mensch im Kosmos gewürdigt wird. Z u 3. Die inhaltliche Identität von Selbst- und Weltbewußtsein macht den Angelpunkt der ganzen Monadologie aus. Alles Erkennen und Streben des Menschen, all sein Tun und Lassen erstrecken sich auf Dinge, Wesen und Mitmenschen in der Welt. Sie sucht er zu erkennen, nach ihnen strebt er, um sie müht er sich in Wort und Tat. Aber dabei hat er es doch immer 12 13
Vgl. R. W. Meyer, a. a. O. S. 160. Vgl. G. Krüger: Leibniz-Auswahl. S. 9.
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nur mit sich zu tun, m i t dem ihm in seinem Selbst zuteil gewordenen Reichtum. I n all dem entfaltet er sein eigenes Können, und in all dem geht es ihm nur um Entfaltung, Beteiligung und Erhaltung seines eigenen Seins. Die vorstellende und selbstbewußte Aneignung des Weltlichen beschäftigt ihn doch allein mit dem, was er immer schon ist. Der Weg in die Welt ist ebensosehr der Weg in die eigene Individualität. Niemand kann dem Individuum diesen Weg abnehmen, niemand darf ihn dem einzelnen normat i v aufzwingen. Dann würde der einzelne, als der andere, überwältigt werden; die Welt aber würde um diese Individualität betrogen. Jeder Mensch ist zugleich außen und innen, bei der Welt und bei sich. Je intensiver und extensiver er Welt vorstellt, darin aber auch dar- und herstellt, desto mehr hat er es mit sich zu tun, w i r d er sich gewinnen. Alles menschliche Vorstellen, jedes menschliche Wort, jedes Werk w i r d dergestalt immer Ausdruck der Welt im menschlichen Medium. Jede Veränderung im Kosmos findet ihren Ausdruck, und d. h. ihre individuelle Wiedergabe, in allen Monaden. Alles, was in einem und mit einem Menschen geschieht, betrifft alle anderen. Niemand kann sich dieser Verflochtenheit mit dem Ganzen, aber auch der Verantwortlichkeit für das Ganze, selbst im kleinsten, entziehen. Hierin ist nicht nur der alte Gedanke der Stoa von der kosmischen Sympathie aufgenommen, der dann bis ins 19. Jahrhundert, etwa bei Schelling und den Naturphilosophen, eine bedeutende Rolle spielen sollte, sondern auch die Zuordnung aller Einheiten aufeinander in einzigartiger Weise „akausal" gedacht. Keine Monade w i r k t auf die andere im Sinne eines linearen Kausalnexus ein, sondern jede Veränderung in der einen w i r d begleitet von einer parallelen, spontanen Änderung der Konstellation in allen anderen. I n jedem Augenblick ändert sich daher die Gesamtkonstellation, ohne daß doch eins auf das andere wirkte. Jede Monade ist Ausdruck dessen, woran es mit dem Ganzen ist. Jeder Mensch vertritt das Ganze, an jedem ist die Konstellation, die Verfassung des Ganzen bzw. der Gesellschaft zu ersehen. Niemand kann dieser repräsentativen Ausdrucksfunktion entgehen. Jeder ist an allem, was in der Welt geschieht, so beteiligt, daß es an ihm seinen Ausdruck findet, er mag es wollen oder nicht, er mag es wissen oder nicht. „Indessen ist es durchaus wahr, daß die Perzeptionen oder Ausdrücke aller Substanzen einander entsprechen, und zwar so, daß ein jeder, der gewissen Gründen oder Gesetzen, die er beobachtet hat, folgt, dem anderen, der es ebenso macht, begegnet, so, wie mehrere Leute, die sich für einen vorherbestimmten Tag für einen O r t verabredet haben, sich ja in der Tat, falls sie es wollen, treffen können. Obwohl nun alle die-
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I V . Die Begründung von Erziehung und Bildung
selben Phänomene ausdrücken, sind sich ihre Ausdrücke deshalb doch nicht vollkommen ähnlich, aber es genügt, daß sie einander entsprechen; so vermeinen mehrere Beobachter dasselbe zu sehen und verständigen sich in der Tat darüber, wiewohl jeder nach Maßgabe seines Blickpunktes sieht und spricht. N u n kann nur Gott . . . die Ursache dieser wechselseitigen Entsprechung ihrer Phänomene sein und bewirken, daß das, was einem einzelnen für sich gehört, allen gemeinsam ist; anderenfalls gäbe es keinerlei Verknüpfung. Man könnte also in gewisser, sinnvoller, obgleich nicht üblicher Ausdrucksweise sagen, daß eine Einzelsubstanz niemals auf eine andere Einzelsubstanz einwirkt und ebensowenig etwas von ihr erleidet, wenn man bedenkt, daß alles, was einer jeden geschieht, nichts als die Folge ihrer Idee bzw. ihres vollständigen Begriffes ist, weil diese Idee schon sämtliche Prädikate oder Ereignisse enthält und das Universum insgesamt ausdrückt" (Metaphys. Abhandlung, §14). Eine Monade w i r d aber zur menschlichen Monade, wenn sie mehr oder minder um ihr Vorstellen weiß. Ihr Spezifikum ist das Selbstbewußtsein, die Reflexion, in der alles um sich weiß oder wissen kann. Damit ist die Stufenfolge des Ganzen, von der w i r oben sprachen, aufgezeigt. Alle Monaden unterscheiden sich durch den Grad der Bewußtwerdung, der Selbsterhellung, der Aufgeklärtheit. Die Stufenfolge, die sich von der in sich dunklen, monadischen Materie bis zu Gott erstreckt, kehrt im Menschlichen wieder. Auch innerhalb der Gesellschaft kommt es zu der unendlichen Skala der faktischen Aufgeklärtheit, des Selbstbewußtseins oder der gedanklichen Helle, in die jeder über die Welt gelangt. Dieser Gedanke beleuchtet übrigens ein für uns sehr wichtiges Problem. Denn in dieser monadologischen Sicht erscheint Begabung als Weite und Tiefe des Wissens um Welt. Sie w i r d gemessen an der Gründlichkeit und Eindringlichkeit, mit der ein Mensch das Geschehen der Welt in seinem Tun und Reden bewußt mitvollzieht, also daran, wieweit er alles in die gedankliche Helle seines Bewußtseins, seines Vorstellens einzubeziehen in der Lage ist. Jeder ist mit dem Ganzen begabt, das besagt ja die Grundthese von der „repraesentatio mundi" in jeder Monade. Aber wieweit er das Ganze zu erhellen und zu durchschauen und dementsprechend verantwortlich zu handeln weiß, das ist verschieden und aus der Konstellation des Ganzen vorgezeichnet. Allerdings nicht im Sinne eines blinden Schicksals, das die einzelnen Monaden entzündete oder verlöschen ließe wie Lichter in einem unabsehbaren Dunkel, sondern i m Sinne eines spontanen, also selbsttätigen Vollzuges, der nicht von außen gegängelt wird,
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der sich vielmehr von Anfang an in Harmonie mit allen anderen abspielt. Zu 4. Wenn alle Monaden ihr eigenes Sein dadurch gewinnen, daß sie das, was die anderen sind, repräsentieren, so besagt das doch, jeder Mensch gewinnt sein eigenes Sein und Wesen durch die Freigabe aller anderen auf das hin, was diesen wesentlich ist. Es darf ihm gerade nicht um sich gehen, sondern um die anderen. Er ist absolut an sie verwiesen. Freier umschrieben: für die Mitmenschen hat er sich einzusetzen; sie zu erschauen und sichtbar zu machen, ist seine vornehmste Aufgabe. Sein „Selbst" w i r d ihm zuteil in der restlosen Hingabe an all das, was er nicht ist. Der Mensch ist das Wesen, das nie ohne Welt ist, aber nur dann Mensch wird, wenn er alles andere auf das hin denkt und offen zutage treten läßt, was dies andere an sich selbst ist. Da diese Freigabe jedem von allen anderen her zuteil werden muß, so gewähren alle einander, Mensch zu sein. Das bedeutet eine grundsätzliche Konzeption des Sinnes der Erziehung. Jedem w i r d das eigene Selbst gewährt, indem er das des anderen ans Licht des Gedankens hervorzieht und dergestalt dem anderen einen Spiegel seines eigenen Wesens vor Augen hält. So w i r d Erziehung selbstlose Freigabe der anderen auf deren eigenes Selbst hin. W i r erkennen auf diese Weise leicht, wie sich hier die Wege scheiden. Entweder sieht man allein auf die Seite des Selbstgewinns. Dann dient alles dem Gewinn des eigenen Seins. Sache und Mitmensch sind die Mittel, durch die ich mich in mir selbst finde. Oder man sieht auf die andere Seite. Dann bin ich der Ort, an dem Sache und Mitmensch in ihre gedankliche Klarheit und Wahrheit eingehen und sich selbst zu Gesicht bekommen. M i r dagegen w i r d nur durch selbstloses Tun eigene Wesentlichkeit und selbständiges Dasein gewährt. Freiheit und Selbständigkeit zeichnen die Monaden aus oder, in einer anderen Terminologie formuliert, Autonomie und Autarkie 1 4 . Der Monade gehört in der universalen Beteiligung alles, dessen sie zur Existenz bedarf. Sie ist Substanz. Sie ist frei, weil „ v o n außen" nichts in ihre eigene Entwicklung eingreifen kann. Sie ist aber auch frei, weil ihre Selbstbestimmung allein aus ihr und ihrem Gesetz erfolgt. Gott hat zwar diese freien Entscheidungen vorausgesehen, aber vor aller Zeit, und zwar als freie, aus der Monade allein begründete Entscheidungen in der Zeit. 14
U
Vgl. O. Saame, a. a. O. S. 64 ff. Ferner: W. Janke, a. a. O. S. 167 ff.
Ballauf f
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Autonomie besagt also: Der Mensch ist von äußerer Beeinflussung und Gängelung unabhängig, er bestimmt sich selbst. Er ist aber keineswegs zunächst unbestimmt. Die Freiheit der W i l l k ü r besitzt er nicht, sondern die wahre Freiheit, nämlich unbeirrbar seinen Weg zu gehen und allein dem Gesetz, nach dem er angetreten ist, d. h. seiner Individualität zu folgen und sie zu erfüllen. Überall wo w i r Wesen treffen, die diese Freiheit weder besitzen noch kennen, haben w i r es nicht, noch nicht oder nicht mehr mit Menschen zu tun. Die Freiheit, von der hier die Rede ist, kann also nicht in einer Unabhängigkeit der W i l l k ü r gesehen werden, sondern in der unaufhebbaren Gebundenheit an das, woraufhin der einzelne von der Konstellation des Ganzen in Anspruch genommen ist, und in einer unumgänglichen Entsprechung, die nicht abgenommen werden kann, sondern auf sich selbst beruht und für sich selbst einsteht. Jeder Mensch existiert daher als Mensch nur, sofern er sich in dieser absoluten Spontaneität vollzieht und diese durchhält. Er ist nur in diesem Selbsttun, in dieser Kraft er selbst.
III. I n Leibniz' Lehre w i r d die neuzeitliche Pädagogik der menschlichen Selbst-Bildung begründet. 1. Der Mensch w i r d gedacht als ein Wesen, das sich apperzeptiv, d. h. durch Selbstbewußtsein zu einem um sich wissenden B i l d des Universums zu bilden hat. Der Mensch als „ B i l d " — ein Grundbegriff der neuzeitlichen Bildungslehre! Der Mensch ist Bild im Sinne von Ebenbild Gottes, aber auch Bild der Welt in der universalen Repräsentation aller Dinge. U n d er denkt, d. h. nach Leibniz spricht und handelt immer gemäß diesem Bild des Ganzen, dieser „Idee" des Ganzen, wie Spätere sagen werden, z.B. Fichte oder W. v. Humboldt. Die spezifische Aufgabe des Menschen, als Monade, besteht in der Reflexion der Welt. Darin liegt das Eigene des „Geistes", wie man später statt „Apperzeption" und „Vernunft" sagen wird. N u r wenn der Mensch selbstbewußt das Ganze in sich vorzustellen und durch sich darzustellen sucht, erfüllt er seine Menschlichkeit. Totalität und Individualität, Reflexivität und grenzenloses Streben nach der Fülle kennzeichnen ihn. N u r wenn es ihm gelingt, das Universum als Ganzes in einmaliger, einzigartiger Gestalt zusammenzufassen und zu wiederholen, w i r d er zu einem „gebildeten Menschen".
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2. Eine weitere Einsicht von größter Tragweite enthält die oben aufgewiesene „entelechiale Struktur" der Entwicklung. Jeder Mensch muß sich frei zu der Vollkommenheit entfalten, mit der er vom Ganzen her begabt wurde. Niemanden darf seine Individualisierung verwehrt werden. Denn seine Individualität zu erreichen, das ist der Sinn seiner Bildung. Wer w i r d hier nicht an Rousseaus Erziehungslehre denken, aber ebenso auch an die Bildungslehre des Neuhumanismus, ferner an die „Pädagogik vom Kinde aus", um nur an einiges zu erinnern! Dadurch, daß jedem Menschen Individualität zugesprochen wird, w i r d jede Erziehung zum Typus ausgeschlossen, ebenso jede Massenerziehung, durch die jeder allen anderen angeglichen würde. Jeder hat vielmehr zu lernen, sich von allen anderen zu unterscheiden. Die Folgezeit brachte allerdings die innere Verkehrung des Prinzips der Individualität mit sich. Denn durch die Berücksichtigung und Beachtung eines jeden rückt erst die Masse der Menschen in den Blick und zwingt dazu, diesen Massen Bildung angedeihen zu lassen, weil kein einziger ausgeschlossen werden darf. Jeder hat Anspruch auf sich selbst. Die Erziehung muß so eingerichtet werden, daß jeder seinen individuellen O r t i m Ganzen bzw. in der Gesellschaft einnehmen kann. Niemand darf durch generelle oder typisierende Methoden vergewaltigt werden. Alle erscheinen auf dem Plan. D a alle ein Recht auf Bildung und individuelles Menschsein haben, erscheint nun die Summe der vielen als Masse auf der Weltbühne. 3. Wichtig w i r d ferner die Identifikation von Bildung und Entwicklung. Die Leibnizsche Philosophie sieht ja den Menschen im Zuge der Entwicklung aller Monaden. Der Mensch unterscheidet sich graduell von Tier und Pflanze, nämlich durch seine „Aufgeklärtheit", nicht aber prinzipiell. Daher sprechen w i r von einer Entwicklung des Menschen und schließen in sie den Bildungs- und Erziehungsvorgang mit ein. So kamen Entwicklungspsychologie, aber auch die biologische und soziologische Betrachtung einer Entwicklung des Menschengeschlechts auf. Es ist jedoch sehr die Frage, ob w i r mit solcher Einordnung dem Phänomen „Mensch" gerecht werden. Das führt allerdings über den Horizont der Leibnizschen Philosophie hinaus. 4. Von großer Bedeutung wurde die Lehre, Bildung geschehe als selbsttätige Reflexion der Welt im Menschen. Des Menschen Bemühen um Welt habe letztlich den Sinn, das eigene Selbst zu bilden und Besitz zu ergreifen von seiner eigenen Individualität. So hat es der Mensch immer nur mit ix*
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sich zu tun. Alle Beschäftigung mit der Welt läßt ihn immer nur zu sich selbst finden. Sein Telos ist er selbst. „ M a n sieht ferner, daß jede Substanz eine vollkommene Spontaneität hat (die bei den verstehenden Substanzen zur Freiheit wird), daß alles, was ihr begegnet, eine Folge ihrer Idee oder ihres Wesens ist und daß nichts sie bestimmt, einzig Gott ausgenommen. Daher pflegte eine Person, deren Geist sehr entrückt war und die um ihrer Heiligkeit willen verehrt wird, zu sagen, die Seele müsse oft denken, es gäbe nur Gott und sie auf der Welt" (gemeint ist die heilige Teresa, die spanische Mystikerin, 1515—1582, Metaphys. Abhandlung, §32). Bildung umschließt diese Entelechie. So haben Leibniz bald schon die nachfolgenden Denker und Pädagogen verstanden. Nicht zuletzt w i r d das Streben nach dieser Selbsterfüllung und der Aufruf zu ihm eine Maßgabe aller Erziehung. 5. Gott, Welt, Mensch einigen sich in dem geschilderten Bildungsgang in einzigartiger Weise 15 . Je mehr der Mensch sich mit Welt einläßt und beschäftigt, desto mehr w i r d er seiner selbst inne, desto mehr gelingt es ihm, den Reichtum seiner Begabung in Gestalt der eigenen Innerlichkeit zu entfalten. Denn der extensive Weg in Welt hinaus und durch Welt hindurch ist in Wahrheit der intensive Weg in die Innerlichkeit, die die Welt in sich umschließt. Der Mensch bleibt in sich, obwohl er ständig mit einer Welt außer sich umgeht. N u n spiegeln aber alle Monaden, die in ihrer Gesamtheit die Welt ausmachen, nur die Gedanken der „monas monadum", also Gottes, wider. Gott seinerseits denkt die Welt, also die Gesamtheit der Monaden, in der absoluten Klarheit und Deutlichkeit seines Selbstbewußtseins. N u r durch die gradweise Abstufung der inneren Klarheit unterscheiden sich die Monaden von Gott. Etwas anderes als Gott können sie nicht vorstellen. Je klarer jede die Welt vorstellt, desto klarer denkt sie Gott, desto näher kommt sie ihm. W i r haben also eine Dreieinigkeit von Gott, Welt und Mensch vor uns. So sehr sie unterschieden bleiben, so sehr sind sie doch einig, ja eins in und durch Gott. Weltlichkeit, universelle Hingabe an Welt macht höchste Religiosität aus, vollzieht doch nur so jeder Mensch die Gedanken Gottes nach. U n d je intensiver er sich um seine Bildung müht, desto näher und inniger läßt er sich Gott zugehören. Welt, Mensch, Gott — ein Geschehen in dreifacher Wiederkehr! Die Welt vor- und darzustellen, ein jedes in ihr durch gedankliche Er15
Vgl. O. Saame, a.a.O. S. 83 f. R. W. Meyer, a.a.O. S. 182 f. W. Janke, a. a. O. S. 204 ff.
2. Die Begründung der P e r s ö n l i k e i t s b i l d n g bei Kant
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hellung in seinem Wesen herauszustellen, darin aber gerade sich selbst zu bilden, das ist wahrer „Gottesdienst" 19 .
2. Die Begründung der Persönlichkeitsbildung bei Kant Es ist erstaunlich, daß die weitere Erhellung der Struktur der Bildung den Umweg über Kants kritische Philosophie nimmt, und zwar über Gedankengänge, die keineswegs von Haus aus „bildungstheoretische" Erörterungen darstellen, nämlich vom Gedanken der Synthesis als dem Grundgeschehen des Denkens aus. Es ist diesen Gedankengängen auch nicht ohne weiteres anzusehen, daß sie die Einsicht in eine „Bildungsstruktur" enthalten. Das w i r d erst aus der Übernahme bei den Zeitgenossen und Nachfolgern Kants ersichtlich. Kant führt die „Synthesis" mit folgenden Worten ein: „Raum und Zeit enthalten nun ein Mannigfaltiges der reinen Anschauung a priori, gehören aber gleichwohl zu den Bedingungen der Rezeptivität unseres Gemüts, unter denen es allein Vorstellungen von Gegenständen empfangen kann, die mithin auch den Begriff derselben jederzeit affizieren müssen. Allein die Spontaneität unseres Denkens erfordert es, daß dieses Mannigfaltige zuerst auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen und verbunden werde, um daraus eine Erkenntnis zu machen. Diese Handlung nenne ich Synthesis. — Ich verstehe aber unter Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung die Handlung, verschiedene Vorstellungen zueinander hinzuzutun und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen 17 ." Die drei Momente der Synthesis umschreiben ihre innere Fügung: das Durchlaufen, Aufnehmen und Verbinden. Eine anfängliche Bewegung führt zu Seiendem hin und läßt es so durchlaufen, wie es offenkundig wird, nämlich als räumlich-zeitliche Vorstellung. I n dieser Weise des Vorstellens und nur in ihr bewegt sich der Mensch unter Seiendem. Als Vorstellung w i r d es gesammelt im Durchlaufen, aufgenommen vom Durchlaufenden und schließlich verbunden zu dem, was dann in ein Gegenüber vor die durchlaufende „Instanz" gestellt wird. I n diesem Dreischritt kommt die Vorstellung des Gegenstandes zustande. I n dieser Bewegung muß sich dann aber auch notwendig das Vorstellende selbst herausstellen, sofern es die andere Seite des „Gegenüber" ausmacht. 16 17
Vgl. Theodizee, Vorwort; Krüger: Leibniz-Auswahl. S. 159 f. Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 102 f.
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Neben die drei Grundmomente der Struktur t r i t t ihr allgemeines Kennzeichen: die Spontaneität in der Bewegung. Diese Bewegung nimmt ihren Ursprung im „Menschen", sie beruht auf „Selbsttätigkeit". Kant stellt damit den Gedanken der Spontaneität, den Rousseau und Herder in die Pädagogik, Leibniz in die Philosophie eingeführt hatten, an den systematischen Ort, den er bis heute behauptet hat. Die Grundstruktur der Bildung ist eine Fügung der Selbsttätigkeit des Menschen. Die „Rezeptivität" w i r d die anfängliche Weise der Spontaneität. Denn auch die „Empfindung", der „Eindruck" sind nur empfunden, wenn sie „aufgenommen" werden. Kant betont, daß es sich um „unser Gemüt" handelt, um die Spontaneität „unseres Denkens". Er spricht also von „uns Menschen". Damit grenzt er den Menschen gegen Gott ab, für den es keine Rezeptivität gibt. Indem Gott die Dinge denkt, schafft er sie. D u m Deus calculat, fit mundus, formuliert Leibniz. Gottes Denken macht ein „Hinstellen" des Seienden selbst aus. W i r Menschen aber sind auf die Rezeptivität angewiesen. W i r haben das Erschaffene schon um uns. Die Rezeptivität w i r d das Kennzeichen der Endlichkeit des Menschen. Das Mannigfaltige, das zur Einheit gebracht werden muß, macht also selbst keine Einheit aus. Das w i r d verständlich, wenn w i r uns klarmachen, daß alles, was uns begegnet, in sehr verschiedener Weise offenkundig wird. W i r sehen z. B. eine Glocke, w i r hören sie, w i r können ihr Gewicht empfinden, wenn w i r sie anheben, w i r fühlen bei ihrem Klang Freude. Der einzelne Eindruck kann dabei durchaus einheitlich sein; daß aber die verschiedenen Weisen, in denen uns die Glocke als diese eine und selbe erscheint, zu diesem einen Gegenstand bzw. Begriff zusammengefaßt werden, das liegt in keinem der einzelnen Eindrücke, das liegt in keiner der Weisen, in denen sich die Glocke vor uns stellt. Eine weitere Voraussetzung ist, daß die Mannigfaltigkeit zu einer Einheit zusammengefaßt werden kann. Diese Vereinbarkeit muß also a priori, von Anfang an, vorausgesetzt werden, soll nicht Synthesis überhaupt an dem zu Erfahrenden scheitern. Die Gestalt der Vereinigung hängt dann weitgehend von den Eindrücken ab. Synthesis selbst als die ursprüngliche Einigkeit der drei Momente könnte aber niemals vollzogen werden, wenn nicht in Hingabe, Aufnahme und Verbindung die einigende Einheit selbst im Licht der Synthesis hervortreten würde. I n der Rückkunft aus der Mannigfaltigkeit muß sich der Vollzug der Synthesis selbst begegnen und „apperzipieren". Sonst ließe sich auch das „Perzipierte", das Vorgestellte nicht wahren. Die Bewe-
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gung würde sich selbst entgleiten. Ja, eine Einigung wäre ausgeschlossen, wenn nicht eine Einheit vorgängig den Vereinigungspunkt gewährte und bewahrte. Diese Einheit, die auf sich selbst zurückkommt, kann sich daher nur als „Ich" an- und aussprechen. „Die mannigfaltigen Vorstellungen, die in einer gewissen Anschauung gegeben werden, würden nicht insgesamt meine Vorstellungen sein, wenn sie nicht insgesamt zu einem Selbstbewußtsein gehörten, d. i. als meine Vorstellungen, (ob ich mich ihrer gleich nicht als solcher bewußt bin), müssen sie doch der Bedingung notwendig gemäß sein, unter der sie allein in einem allgemeinen Selbstbewußtsein zusammenstehen können, weil sie sonst nicht durchgängig mir angehören würden." „Synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Anschauungen, als a priori gegeben, ist also der Grund der Identität der Apperzeption selbst, die a priori allem meinem bestimmten Denken vorhergeht 18 ." Diese Einheit muß als tranzendentale Einheit der Apperzeption bezeichnet werden, weil sie sowohl die Bewegung des „ H i n - z u " und des „Zurückauf" im Sinne der Grundstruktur allererst möglich macht, als auch sich selbst erst zum Vorschein bringt. Sie ermöglicht die Offenkundigkeit von allem, was sich nicht selbst offenbart, und ihrer selbst, nämlich als „Ich". Sie ist das Licht, das sich selbst und ihr anderes, die Dinge, Wesen und Menschen, erscheinen läßt. Noch ein weiteres Kennzeichen der Grundstruktur kommt in den oben angeführten Sätzen zur Sprache. I n seinem Vorgestelltsein gehört das Seiende einem Selbstbewußtsein an. Das Vorstellen eines Seienden als Gegenstand besagt ein Zugehören-lassen des Seienden zu einem Ich und stellt das Seiende hinein in die Weisen dieser Zugehörigkeit, nämlich der Anschauung in Raum und Zeit. Der Vollzug der Grundstruktur als Synthesis besagt Aneignung des Seienden durch das Ich in den Weisen, in denen es sich mir übereignet. Kant wehrt hier zugleich das Mißverständnis ab, das in einer Identifikation der Sphäre des Ich und des „Bewußtseins" liegt. Bewußtsein i m Sinne von Bewußtheit ist nur die mitauftretende mögliche Helle der Angehörigkeit und damit auch die des Ich. Das Selbstbewußtsein und die Sphäre der Zugehörigkeit können von dieser Bewußtheit begleitet sein, sind sie aber nicht selbst. Das Wesentliche liegt in dem polar sich gliedernden Verhältnis der Synthesis, nicht in der Bewußtheit. Diese w i r d erst durch jene ermöglicht. 18
a. a. O . B 132 ff.
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Versuchen wir, uns das bisher Gesagte an einem Beispiel klarzumachen! Ein Besucher, der einen „Begriff" von der Universität bekommen soll, w i r d zu diesem Zweck durch viele Räume und Institute geführt. Er empfängt bei diesem Rundgang die mannigfachsten Eindrücke, die aus unterschiedlichen Weisen der Eröffnung stammen. Er sieht vielerlei, er hört die erklärenden Worte, aber auch die Geräusche von Apparaten und Vorgängen, er riecht mancherlei Gerüche, sei es im chemischen Institut, sei es in der Mensa. Er empfindet nicht zuletzt das Ersteigen der Treppen als ermüdend oder beschwerlich. Ziemlich erschöpft, findet er sich schließlich im Zimmer des Rektors bei einer Tasse Kaffee. Dadurch, daß er diese Mannigfaltigkeit durchläuft und aufnimmt, bekommt er aber noch keinen Begriff der Universität. Er muß die Vielheit, die als solche noch keine Einheit aufweist, erst zu einer Einheit verbinden. I n diesem Prozeß sind Mannigfaltigkeit und Einheit voneinander abhängig; denn die Mannigfaltigkeit bliebe sinnlos ohne die Einheit, und die Einheit ginge leer aus ohne jene Mannigfaltigkeit. Dieser Prozeß, den Kant als Synthesis bezeichnet, geht als Denken vor sich. Derjenige, der diese Einheit dem Mannigfaltigen zu gewähren weiß, muß selbst eine Einheit sein, er darf nicht am Ende des Prozesses ein anderer sein als am Anfang. Diese seine Einheit muß mit sich identisch bleiben. Sie spricht sich als Ich aus und ist sich ihrer selbst bewußt. So bedanke ich mich als der Gast für jene Führung. Diese Einheit samt ihrem Selbstbewußtsein kann verlorengehen. So sagen w i r etwa: ich vergaß mich, ich verlor mich in dem A n blick, ich war „völlig weg". Sie kann dann wiedergefunden werden, sie kann sich selbst wiederfinden. So sagen w i r ja auch: als ich mich wiedergefunden hatte, als ich wieder zu mir kam. Sie kann endgültig verlorengehen, w i r bezeichnen einen solchen Menschen als geisteskrank. U n d denjenigen, der niemals in seine Erfahrung Einheit hineinzubringen weiß, beurteilen w i r als ungebildet. I n manchen dieser Fälle ergreift das Mannigfaltige den Menschen so, daß er davon überwältigt w i r d und selbst darin gar nicht als Einheit tätig werden, ja sich als Einheit gar nicht erst konstituieren kann. U n d noch etwas gilt es zu beachten» Die Einheit, die in unserem Beispiel ersteht, macht ja eine sachliche Einheit aus. Die transzendental vorgängige Einheit des Selbstbewußtseins verleiht die Einheit an die Mannigfaltigkeit des Erfahrenen, des Durchlaufenen. Diese sachliche Einheit, die Universität, wo ist sie? Keiner der gesehenen Räume und keines ihrer Institute oder Gebäude macht die Universität als solche aus. Auch der Rektor ist sie nicht, er repräsentiert sie nur. Auch keiner ihrer Dozenten
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und Studenten! Ebenso nicht ihre Summe; sondern ihre Synthesis! Diese ist in der Weise des Denkens. Sie ist allerdings auch nicht „ i m Denken" wie in einem Behälter oder Aufbewahrungsraum. Die Universität w i r d also nur durch das Denken offenbar. Für K a n t ist die Universität als synthetische Vorstellung bzw. als Begriff „ i m Bewußtsein", sie gehört der Sphäre des Subjekts an. Das „ D i n g an sich", die „Universität an sich" bleibt hier ganz aus dem Spiel. Zugleich aber bleibt das Denken als transzendentale Synthesis „meinem" und „deinem" Bewußtsein entzogen, meinem oder deinem Vorstellen und Wünschen. Denn diese Synthesis ist nicht in unser Belieben und unsere W i l l k ü r gestellt, sondern gebunden an das, was es da zu sehen und zu hören gibt, und an Regeln, die eine allgemein verbindliche Vorstellung von der Universität gewährleisten. — Davon w i r d gleich zu reden sein. — Dieses Denken ist also keineswegs eines Menschen Eigentum, sondern macht vielmehr erst durch sein Ereignis diesen zu einem denkenden Wesen, zu einem Menschen. Seine Transzendentalität besagt, daß es Ding und Mensch erscheinen läßt, ohne doch zur Ausstattung von Ding oder Mensch zu werden. Die Universität ist in Gestalt des Gedankens; er erwächst aus der Synthesis mannigfaltiger Eindrücke nach a priori verbindlichen Regeln. Umgekehrt erscheinen uns in seinem Licht die mannigfaltigen Eindrücke und Gegenstände, die sich uns präsentieren, als Teile der einen Universität. N u r wer sich zu diesem Gedanken und seiner Synthesis zu erheben vermag oder sich erheben läßt, bekommt die Universität zu Gesicht. Dieses Denken, von dem hier die Rede ist, macht also in seiner Transzendentalität die Weise aus, wie die Universität in Gestalt von immer wieder anderem Seienden — Dingen, Apparaten, Gebäuden, Menschen — sichtbar, hörbar, fühlbar, kurz: erfahrbar wird. Das, was all dieses der Universität zugehören und sie als solche anwesen läßt, kommt allein in jenem Denken als ihr „Sein" zum Vorschein. Doch damit haben w i r schon den engeren Gedankengang Kants überschritten. Kehren w i r zu ihm zurück! U m die Einigung der Eindrücke, Empfindungen, Vorstellungen zu immer höheren Einheiten vollziehen zu können, muß die einigende Einheit der Synthesis über Mittel und Regeln verfügen. Diese Mittel und Regeln können nicht den Eindrücken entnommen sein und damit auch nicht dem sich auf diese Weise darbietendem Seienden, da sie umgekehrt erst die Dimension bereiten, in der sich Seiendes darbieten kann. Sie sind daher auch nicht an ein einzelnes jeweils sich Darbietendes gebunden, sondern machen sein Erscheinen als Gegenstand möglich. Sie umgreifen
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schon immer das Ganze alles dessen, was sich in ihnen darbieten kann. Daher sind sie nicht so sehr „Begriffe", als vielmehr „Umgriffe". Sie rufen das Seiende hervor als Gegenstand. Jede Aussage in Alltag, Wissenschaft, Philosophie, Dichtung w i r d so „Hervorruf" von Seiendem in die Gegenständlichkeit. Machen w i r uns das am Beispiel der Kausalität klar: Sie läßt alles Seiende als Ursache oder Wirkung erscheinen. Kein Seiendes kann erscheinen, das nicht kausal verständlich ist. So denkt der „Umgriff" der Kausalität — die „Kategorie" der Kausalität, sagt Kant — das „ A l l der Sinnendinge", d. h. das Ganze der möglichen Gegenstände als kausalen Konnex voraus. Das Ganze ist so aber nur vorgängig umgriffen, nicht jedoch begriffen. Denn begriffen w i r d immer nur das einzelne Seiende als Gegenstand, nämlich als Wirkung oder als Ursache eines anderen. Die Kategorie der Kausalität umgreift und entwirft im voraus alles, was erscheinen kann, als den einen Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Sie läßt aber nicht selbst bestimmte Gegenstände hervortreten. Begreifbar w i r d Kausalität nur am einzelnen Fall. Umgekehrt erscheint daher eine bestimmte Ursache nur als „ F a l l " von Ursächlichkeit überhaupt. A m einzelnen w i r d der Gesamtzusammenhang vorausgesetzt und vernehmlich. K a n t sagt, er w i r d daran als „Idee" vernehmlich. I n der Aufnahme und Vereinigung des Mannigfaltigen dient der Umgriff als „Kategorie": Er macht die Vergegenständlichung eines Seienden als „Ursache" oder „ W i r kung" möglich, so daß w i r dieses oder jenes als Ursache oder Wirkung ansprechen und aussagen. Dabei w i r d aber zugleich das derart Ausgesagte in den vorausgesetzten Gesamtzusammenhang des einen Kausalnexus erhoben. A u f diesem Rückweg w i r d das Ganze vernehmlich als „Idee", damit aber auch der Unterschied zwischen dem Ganzen und dem einzelnen Gegenstand: Kein Gegenstand erschöpft das Ganze, so sehr er zu seiner Erfüllung beiträgt. Das Ganze w i r d am einzelnen offenbar, indem es dadurch zugleich verborgen bleibt. Denn der Blick und die Vorstellung haften an diesem hier und jetzt. Die Kategorien entwerfen den Umfang des Ganzen aller möglichen Gegenstände. Jede Synthesis eines bestimmten Gegenstandes, also jede Vorstellung und jeder Begriff, geht daher von einer vorauszusetzenden „totalen Synthesis" aus, in der die Totalität aller möglichen Gegenstände schon in bestimmter Hinsicht vereinigt ist. K a n t zählt zwölf Kategorien auf. Das soll uns hier nicht weiter beschäftigen. Wichtig bleibt: Keine Aussage ist möglich, die nicht von jener totalen Synthesis ausginge und zu ihr zurückführte. Erkennen heißt: von der totalen Synthesis zurückkommen auf jeweiliges Seiendes in seiner Offenkundigkeit als sinnlich gegebener Gegenstand in Raum und Zeit. Jede Synthesis erfüllt die totale Synthesis, ohne sie jemals zu erschöpfen. M i t an-
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deren Worten, Seiendes w i r d immer nur in Welt offenkundig und erkennbar, denn Welt nennt das in der totalen Synthesis vorweg umgriffene und entworfene Ganze des Seienden in seiner möglichen Gegenständlichkeit. Man muß sich also ein für allemal klarmachen: Das Denken, von dem hier die Rede ist, läßt Seiendes als bestimmten Gegenstand, z. B. den gestürzten Baum als Wirkung eines Unwetters, vor einem Ich erscheinen. Das Denken kann das nur deshalb, weil es schon immer ein Ganzes entworfen hat und im Blick hält, hier den Zusammenhang von Ursache und W i r kung, der alles, was jemals erschienen ist, aber auch erscheinen wird, umgreift. So bewegen w i r uns vom ersten Gedanken an, ja, vom ersten verständigen Augenöffnen und von der ersten verständlichen Aussage an, in einem Zusammenhang bzw. in einem Ganzen von Zusammenhängen, das w i r Welt nennen. Als denkendes Wesen ist der Mensch von Anfang an in der Welt. Alles, womit er es zu tun bekommt, steht für ihn in einem Zusammenhang, ohne welchen es gar nicht denkbar und einsichtig werden könnte. Dieses Denken gehört nicht mir oder dir, sondern auch w i r erscheinen als Menschen erst in ihm und durch es. Der Mensch w i r d seiner selbst als Einheit und als Individualität erst durch das Vor-Denken des Ganzen inne und ansichtig. Die Welt z. B. als totalen Kausalzusammenhang zu erkennen und dementsprechend zu handeln, ist nicht meine Eigentümlichkeit, nicht die Eigenart des individuellen Vorstellens, sondern das Charakteristikum des Denkens, das uns allen zuteil wird. Verfolgt man diesen Gedankengang etwas weiter, so steht ursprünglich keineswegs ein Subjekt einem Objekt gegenüber, die beide dann aneinander vermittelt werden müßten. Vielmehr macht jenes „In-der-WeltSein" gerade das Eigene des Denkens und damit des Menschen als denkenden Wesens aus. Das besagt nicht, das Denken, von dem hier die Rede ist, sei der Schöpfer der Welt und des Menschen. K a n t betont, daß das Seiende von sich selbst her ist, was es ist. Aber die Offenkundigkeit, das gegenständliche Erscheinen, verdankt das Seiende dem Denken in seinem Vorstellen, Erkennen, Anschauen. Das behauptet wiederum nicht, Seiendes verdanke sein Erscheinen dem menschlichen Denken. Nicht der Mensch als Lebewesen bringt das Denken auf, etwa als psychische Fähigkeit, sondern das Denken w i r d ihm zuteil und läßt ihn seiner selbst als eines Ichs inne werden, wie auch die einzelnen Gegenstände, die vor ihm erscheinen. Das Denken, von dem hier die Rede ist, steht daher dem Menschen nicht zur Verfügung wie ein Vermögen, eine Anlage, eine Habe, sondern es w i r d ihm gewährt. Er kann nicht eine beliebige Welt denken oder vor sich stellen, sondern allein die substanzial-kausale Welt, die von N o t -
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wendigkeit und Möglichkeit durchwaltet ist. U n d selbst die modernen Versuche, das Substanziale durch das Funktionale und Prozessuale, das Kausale durch das Statistische zu ersetzen, werden immer nur als Grenzen des Erkennens und der Einsicht erreichbar. Das Denken w i r d dem Menschen gewährt und verlangt von ihm Selbsttätigkeit. So kann der Mensch, der solchem Denken überantwortet wurde, nun sehr wohl dieses Denken als sein ureigenes Können ansprechen und als eigene Leistung beanspruchen. Hier liegt die Peripetie der von uns erörterten Grundstruktur. Der Mensch usurpiert nämlich die Spontaneität des Denkens, als ob sie selbst aufgebrachte, nicht aber gewährte Selbsttätigkeit sei. I n der Reflexion kommt er auf sich zurück als auf ein Wesen, das des Denkens mächtig und damit zum Herrn der Welt berufen ist. Der Kantische Gedankengang steht in dieser Wende, auf diesem Umschlagpunkt. Er weist in beide Richtungen, auf das Denken als Gabe und Gewähr, aber auch auf das Denken als Habe und Macht. U n d w i r alle wissen heute, daß die Neuzeit schon vor Kant dieser zweiten Richtung gefolgt war und bis auf den heutigen Tag ihr folgt. Die Wissenschaft z. B. erscheint so als Naturbeherrschung, der Verstand als des Menschen allerhöchste Kraft. Auch die Nachfolger Kants haben in ihrer Bildungslehre weithin diesen Weg eingeschlagen. — Die Grundstruktur der Bildung wurde in unserem bisherigen Gedankengang als „Weltbildung" verständlich. Jede Synthesis umgreift das Ganze und läßt das Seiende als Ganzes „ersichtlich", wenn auch nicht „sichtbar" werden. Sie macht das Ganze an konkreten Gegenständen vernehmbar, z.B. an dieser konkreten Ursache den Kausalzusammenhang der Welt überhaupt. Sie stellt aber immer nur einzelne Gegenstände dem Ich vor Augen. Welt kommt im Umweg über transzendentale Einheit und Synthesis zustande. Sie erscheint an jedem wahrnehmbaren Gegenstand mit als das umgreifende Ganze. Die Dynamik der Grundstruktur läßt ihre Einheit auf sich zurückkommen: als Ich gegenüber dem Gegenstand. Das Ich weiß um sich als transzendentale Einheit, durch die Seiendes als Gegenstand zur Erscheinung kommt. Es weiß aber auch um den Erscheinungscharakter des Gegenstandes. Denn das Seiende erscheint nicht als es selbst, sondern in bestimmten Formen und Weisen, durch die es allererst gegenständlich werden kann. Es ist nach K a n t das Eigentümliche dieser Formen, nämlich des Raumes und der Zeit, daß sie zwar das Seiende erscheinen lassen, aber es dadurch zugleich umhüllen wie verhüllen. U n d zwar aus folgendem Grund: Diese
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Formen können nicht dem Seienden selbst, den Dingen an sich, zugehören, sonst bedürfte es wiederum der „ M i t t e l " , um diese dem Seienden selbst zugehörigen Formen „erscheinen" zu lassen. Wären also Raum und Zeit, — ebenso die Kategorien —, dem Seienden selbst zu eigen, so müßten der transzendentalen Einheit andere Mittel zu Gebote stehen, um Raum und Zeit gegenständlich werden zu lassen. So kämen w i r zu einem regressus in infinitum. Oder mit anderen Worten, jene M i t t e l können als Vermittlungen nicht dem Seienden angehören. K a n t weist nun nach, daß uns in Raum und Zeit immer schon, also a priori, solche M i t t e l der Vergegenständlichung gewährt sind. Sie gehören daher nicht dem Seienden selbst an, sondern der Struktur, die w i r hier analysieren. Raum und Zeit werden deshalb nicht „subjektiv", sie sind nicht in den „Köpfen" irgendwelcher Subjekte beheimatet, sondern sie besitzen, wie K a n t formuliert, „transzendentale Idealität": Sie ermöglichen die Vorstellbarkeit von Seiendem überhaupt. Ohne sie bliebe Seiendes unanschaulich und verschlossen. Sie gehören dem Denken als die fundamentalen Weisen der Anschaulichkeit von Seiendem an, sind also in keiner Weise von „ d i r oder m i r " abhängig. Ebenso verhält es sich mit den Kategorien, z. B. der Dinglichkeit, der Ursächlichkeit, der Möglichkeit, Notwendigkeit usw. Sie gehören nicht dem Seienden selbst an, aber sie erschließen es. Ohne sie bliebe die Welt für uns nicht nur unvorstellbar, sondern auch unbegreiflich. N u r wenn w i r jedes, mit dem w i r es zu tun bekommen, mit dem w i r umgehen, das uns angeht und betrifft, in einem ursächlichen Zusammenhang als ein Ding auf seine Möglichkeit und Notwendigkeit hin begreifen können, erschließt sich die Welt, d. h. erschließt sich ein jedes als Teil eines gefügten Ganzen. Die transzendentale Einheit, die Kategorien und die Anschauungsformen gehören also nicht dem Seienden an sich an, sondern sind ihm gerade enthoben. Sie machen eine „Sphäre des Nichtseienden" aus, nämlich die Sphäre, die alles Seiende offenbar und hell werden läßt. U n d sie lassen alles Seiende dadurch erscheinen, daß sie selbst in das Erscheinende mit eingehen und an bzw. in ihm erscheinen. W i r sehen räumliche Gestalten vor uns, w i r leben in der Zeit, w i r haben es mit Dingen zu tun und erkennen in ihnen die Ursachen von anderweitigem Geschehen. So erwecken diese Formen den Eindruck, als gehörten sie dem Seienden selbst an, — die transzendentale Reflexion aber weist sie in ihrer Abgehobenheit von allem Seienden nach. — Man hat diese „Sphäre" als die des „transzendentalen Bewußtseins" bezeichnet; näher liegt es, sie als die Vollzüge eines ursprünglichen Denkens zu kennzeichnen. Kehren w i r nun aber zur Lehre von der Synthesis zurück!
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I n diesem Zusammenhang ergibt sich nämlich auch, daß der Mensch nicht als Mensch, sondern als Lebewesen geboren wird. Er muß erst in das Denken gelangen, um Mensch zu sein. Dieser Vorgang vollzieht sich in der Erziehung. Die Erziehung muß gleichsam ins Denken als Synthesis hineinziehen. Erwachsen ist der Mensch dann, wenn er gelernt hat, sachlich und verbindlich zu denken, d. h. wenn er zu urteilen gelernt hat. Ins Denken hineinzubringen, heißt bei Kant: im Menschen die Spontaneität des Denkens wecken, anregen, üben. I m Menschen muß gleichsam das Denken hervorgerufen und zu seiner Selbsttätigkeit freigegeben werden. I m Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit bemühte man sich demgegenüber, das verbindliche Denken in den Menschen hineinzubringen, etwa im Sinne einer Wissensvermittlung. Damit wurde dem jungen Menschen eine Mannigfaltigkeit von Begriffen und Lehren dargeboten, die schon durchdacht und auf eine tradierbare Einheit gebracht war. Hier wurde zunächst keine spontane Synthesis im strengen Sinn erwartet, sondern nur das Nachdenken der vorgedachten Einheit. I m Gegensatz dazu hebt die neuere Pädagogik klar hervor, daß echte Synthesis nur da erreicht werden kann, wo von der Mannigfaltigkeit eigener Erlebnisse, Eindrücke, Wahrnehmungen ausgegangen wird, die noch nicht zur Einheit verbunden sind. Von der Anschauung, von der Selbstbegegnung mit den Dingen ist auszugehen, um über den Begriff zur A n schauungseinheit zu gelangen. N u r so kommt der junge Mensch zu einer eigenen Anschauung des Mannigfaltigen als eines Ganzen, d. h. als Welt. Bildung kann nur eintreten, wenn der junge Mensch ohne Beeinflussung in die Fülle der Eindrücke gestellt und so selbst als einigende Einheit auf den Plan gerufen wird. Bildung bleibt Aufgabe des einzelnen, der erst in diesem Vorgang zu sich selbst als maßgeblich urteilendem Denker gelangen kann. Niemand darf ihm diese Synthesis abnehmen, wenn man ihn nicht um sich selbst, um seine Menschlichkeit betrügen w i l l . Die Grundstruktur der Weltbildung ist damit wohl vollständig durchmessen. Sie enthüllt das Verhältnis von transzendentaler Einheit, transzendentalen „Formen" und Seiendem, von Ich, Synthesis und Gegenstand dergestalt, daß sie diese voneinander abhebt, zugleich aber auch die paradoxe Identität ihrer Gegensätzlichkeit aufweist. Das Seiende ist der Gegenstand, gerade indem es als Erscheinung nicht der Gegenstand ist. Die Einheit ist die des Gegenstandes, gerade indem sie diese Einheit nicht ist, sondern ursprünglich die des Ich, bzw. der Synthesis. Die „Formen" sind das Sein des Seienden, gerade indem sie es nicht sind, denn sie verhüllen ja das Seiende in seinem Ansichsein. Das mehrfach ausgesprochene „ N i c h t " trägt also das ganze Verhältnis und den Gesamtvollzug der Syn-
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thesis in der paradoxen Negation seiner selbst zur eben aufgewiesenen Identität des Unterschiedenen. U n d nur so w i r d das synthetische Denken das „Licht" des Seienden, durch das sich das Seiende überhaupt zu einer Welt aufhellt. — Haben w i r bisher die „Weltbildung" einsehen gelernt, so ist darin aber auch schon Einsicht in die „Selbstbildung" des Menschen gewonnen. Der Mensch w i r d sich selbst als ursprüngliche Einheit offenbar, die in jeder Synthesis ständig auf sich als Ursprung zurückkommt, und zwar nur auf dem Umweg über Welt. Aber der Mensch kommt nicht nur als einigende Einheit auf sich zurück, sondern w i r d seiner auch ansichtig als einzelnes Ich, von allen anderen unterschieden, und als individueller Mensch, der sich nicht nur durch seine Raum- und Zeitstelle von anderen unterscheidet. Wie haben w i r dieses Phänomen zu verstehen? N u n , jene Einheit w i r d von immer wieder anderem Seienden aus, das durch sie und für sie ansichtig und einsichtig wird, repulsiv erreicht. Sie w i r d immer von einem bestimmten gegenständlichen Umkreis von Seiendem auf sich selbst eingekreist und zurückgeworfen. Von diesem Umkreis her erscheint sie sich selbst als dieser Mensch, der so und so begabt ist, dem dies und das zur Verfügung steht, der dies oder jenes geworden ist. Vieles bleibt der auf sich zurückkommenden Einheit verborgen. Viele kommen ihr Leben lang nicht über einen engen Umkreis hinaus und verstehen daher sich selbst nur in sehr engen Grenzen auf ihre Individualität hin. Ja, sie werden Individualität nur in bescheidenem Ausmaß erreichen. V o n dem Umkreis rein handwerklicher Tätigkeit und ihren Gegenständen aus kommt der Mensch auf sich als Handwerker zurück, spricht sich als solcher an und gelangt vielleicht nie dazu, durch Erschließung des künstlerischen Bereichs sich selbst ein individuelles Künstlertum möglich zu machen. Die pädagogische Folgerung ist klar: Es bedarf einer ungemeinen Weite des Umkreises für den Menschen, damit er aus diesem in immer wieder anderer Weise auf sich zurückkommen und sich dergestalt „bilden" kann — im wahrsten Sinne des Wortes. Jede Synthesis schenkt der Einheit als Ich die Einheit als „konkreter, individueller Mensch". Sie läßt mit Seiendem „zusammenwachsen", sei dies eine Sache und eine Aufgabe oder der eigene Leib in allen seinen Organen und Funktionen. Gerade das letzte kann ja so schmerzliche und problemgeladene Rückbezüge mit sich bringen. Jede Synthesis macht dem Ich seine „Begabung" offenkundig, nämlich das, was ihm von Seiendem gewährt, aber auch, was ihm verweigert wird.
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Sie zeigt ihm, woran es mit ihm ist — wie wir treffend zu sagen pflegen. Der Mensch läßt sich in dieser ständig neuen Reflexion ein „Selbst" zugehören; auf dieses „Selbst" kommt er von dem Ganzen, das ihm einsichtig wurde, jeweils zurück. Er spricht von sich selbst als Professor, als Tischler, als Student, als Angestellter. Er w i r d sich erschlossen als Mensch unter Menschen. Von jedem Gegenstand her kommt er über sich ins klare, bestimmt er sich selbst als Seiendes gegenüber Seiendem und inmitten von Seiendem. So erfährt sich der Mensch nicht nur als Gabe und Habe, sondern ebenso als Aufgabe und als einen Vollzug, durch den er sich allererst bildet. Bildung besagt also nicht ein Geschehen, das sich auch ohne unsere M i t wirkung einstellte und abspielte, auch nicht eine Tätigkeit, die ins Belieben gestellt wäre und unterbleiben könnte, — sie erweist sich vielmehr als unerläßliche Aufgabe des Menschen, ohne deren Lösung er gar nicht als Mensch in Erscheinung tritt. Der Mensch darf sich dem Denken nicht verschließen, — er muß es sich zur eigensten Sache machen. Synthesis kommt ja nur durch Selbsttätigkeit zum Zuge. Indem das ursprüngliche Denken sich durch den Menschen ereignet, w i r d der Mensch er selbst und ist seiner mächtig. H i e r taucht übrigens wiederum die Leibnizsche Position in der inneren Bewegung der Bildungsstruktur auf. Der Weg in die Welt ist identisch mit dem Weg zu mir und in mich. Dieses Heraklitische Paradox der in sich selbst entgegengesetzt verlaufenden Bewegung macht also das Bildungsgeschehen des Menschen aus. Je mehr „ W e l t " er sich verständlich macht, desto reicher und tiefer w i r d er in sich selbst, desto mehr kommt er seiner Begabung nach und erfüllt sie. — Welt- und Selbstbildung sind gleich ursprünglich. Das, was den Menschen zum Menschen macht, ist in dem bisher Gesagten sichtbar geworden: Es liegt in der ihrer selbst mächtigen Leistung der spontanen Apperzeption, mit anderen Worten: Der Mensch ist vernehmende Aneignung. Er macht sich zu sich selbst i m Vollzug der Grundstruktur. Er bemächtigt sich darin des Seienden in den „Formen", die das Denken gewährt, und ermächtigt sich zu sich selbst kraft der ihm zuteil gewordenen Selbsttätigkeit. Welt, aber auch der Mensch in Welt sind das Werk des Menschen als transzendentaler Einheit, denn diese läßt das Seiende gegenständlich werden in einer vorgängig entworfenen Welt und ordnet den Menschen als Konkretum in diese ein. Der Mensch in Welt als Werk seiner selbst — das spricht die Grundformel der modernen Bildungstheorie aus19.
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Zwei Aufgaben sind damit nach K a n t vorgezeichnet, die als Gaben, als „Begabungen" zugleich vorausgesetzt sind, nämlich die Individualität und die Personalität. Individualität nennt das, was jedem als einem Individuum zuteil wurde im Ganzen des Seienden. Dies muß jeder sich in seiner Weltgestaltung aneignen als eigenes Selbst. Personalität besagt Freiheit und Autonomie des Selbstvollzuges, der sog. Spontaneität des Menschen, die nicht von äußeren Instanzen abhängig gemacht werden kann. Individualität und Personalität, Selbstsein und Selbständigkeit, sind deswegen nicht nur Gaben, sondern ebensosehr Aufgaben, weil jeder sie vollziehen muß, jeder sie als sein Werk übernehmen und vollbringen muß. M i t anderen Worten, der Mensch muß wollen. Die Freiheit des menschlichen Willens kann nicht W i l l k ü r und Maßlosigkeit bedeuten. Jeder Mensch hat zu wollen und sich zu bilden nach Maßgabe einer Vielheit von Menschen und ihrer Selbstbildung. Die Pluralität der „Monaden" — um an Leibniz zu erinnern — darf nicht beeinträchtigt werden durch die maßlose W i l l k ü r eines Willens. Jeder Wille muß sich daher unter das Gesetz der Freiheit stellen. Dies Gesetz kann keinen anderen Inhalt haben, als die Freiheit selbst zu bewahren und unangetastet zu lassen. I n dieser Unversehrbarkeit gründet ihre „Heiligkeit". Dann aber darf kein Mensch sie für sich allein beanspruchen, sondern muß sie so vollziehen, daß ihre Wiederholung in anderen möglich bleibt. Der freie Bildungsprozeß aller Menschen muß jeden Menschen unter den Imperativ stellen, seine Freiheit so zu vollziehen, daß sie auch allen anderen gewährleistet bleibt. Wenn auch jeder sich in seiner Individualität von jedem anderen unterscheidet, so sind doch alle in ihrer Personalität einander gleich. Alle müssen sich in ihrem individuellen Wollen die Freiheit und Selbständigkeit gegenseitig gewähren. Das Gesetz des Willens, die Freiheit zu wahren, kann daher dem einzelnen keine inhaltlichen Bestimmungen vorschreiben. Das würde ihn gerade seiner Freiheit berauben. Er soll ja aus sich selbst, aus seiner Selbstbestimmung zu handeln und sich zu bilden in der Lage sein. Jenes Gesetz darf nur die Rücksicht auf die Selbstbildung aller Menschen formulieren und dem einzelnen auferlegen, gemäß dieser Rücksicht zu handeln. Der „kategorische Imperativ" w i r d daher von Kant als ein solches „formales Gesetz" ausgesprochen. Die eigenen Maximen müssen immer das M i t einander freier Menschen gewährleisten. U n d noch eins! I n dieser Freiheit seiner Spontaneität, seines Willens ist jeder Mensch bei sich selbst, absolute Monade, unbeeinflußbar und der 19 Kant: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Preuß. Akad. d. Wiss. Bd. 1 ff. Berlin 1910 ff. Bd. 8. S. 19 f.
12 Ballautt
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Welt in ihrer kausalen Verknüpfung enthoben. Wäre er, als spontan Wollender, nicht der Welt enthoben, — die Freiheit wäre nicht. Sie würde zur Funktion von Umwelt und Mitwelt, zu einer abhängigen Größe — sie wäre jederzeit von einzelnen über die Köpfe der anderen hinweg zu usurpieren. Kant hat sich in schwierigen Gedankengängen bemüht, die Möglichkeit und Wirklichkeit der Freiheit aufzuweisen. W i r können in unserem Zusammenhang Begründung und Aufweis nicht verfolgen. Wichtig bleibt für uns das Ergebnis: der Mensch ein Wesen, das zwar in der Welt der Erscheinungen auftritt, als ein Seiendes unter Seienden, aber zugleich als freies Wesen außerhalb des Kausalnexus der Erscheinungswelt steht. Die Größe und Eigenart seiner Lage besteht darin, in der Welt doch seine Freiheit zu wahren, sich also zugleich außerhalb der Welt zu halten. Unterläßt er diese stete Rücknahme, so w i r d er Werk der Welt, Werk der Gesellschaft. In der Welt doch zugleich seine Position außerhalb zu wahren, — das ist das Paradox der menschlichen Lage 20 . A u f diese Weise gelingt es Kant, das neue Ethos der Persönlichkeit auszusprechen und das für die moderne Bildungslehre verbindliche Persönlichkeitsideal vorzuzeichnen. Es bedeutet die Erklärung der Autonomie des Menschen als Person. Findet er in seine Ursprünglichkeit, in seine Freiheit zurück, so w i r d er in ihr ganz auf sich gestellt und seiner eigenen Verantwortung anheimgegeben. Sein Wesen liegt im Gebrauch der Freiheit, nicht einfach in ihrem Besitz. Die Freiheit w i r d sogar ständig durch sich selbst in Frage gestellt, in jedem Augenblick kann sie sich an die Unfreiheit verlieren. Damit w i r d aber auch eine „Teleologie" entworfen: Der Mensch w i r d sich als Persönlichkeit „Endzweck". Es hat dem Menschen immer um seine Menschlichkeit zu gehen, um die Wahrung seiner selbst als eines vernünftigen Willens. „ I n der ganzen Schöpfung kann alles, was man w i l l , und worüber man etwas vermag, auch bloß als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf ist Zweck an sich selbst. Er ist nämlich das Subjekt des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit. Eben um dieser willen ist jeder Wille, selbst jeder Person ihr eigener, auf sie selbst gerichteter Wille auf die Bedingung der Einstimmung mit der Autonomie des vernünftigen Wesens eingeschränkt, es nämlich keiner Absicht zu unterwerfen, die nicht nach einem Gesetze, welches aus dem Willen des leidenden Subjekts selbst entspringen könnte, möglich ist; also dieses 20
Vgl. Th. Ballauff: Vernünftiger Wille u. gläubige Liebe, S. 28 fF.
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niemals bloß als Mittel, sondern zugleich selbst als Zweck zu gebrauchen. Diese Bedingung legen w i r mit Recht sogar dem göttlichen Willen in Ansehung der vernünftigen Wesen in der Welt als seiner Geschöpfe bei, indem sie auf der Persönlichkeit derselben beruht, dadurch allein sie Zwecke an sich selbst sind. — Diese Achtung erweckende Idee der Persönlichkeit, welche uns die Erhabenheit unserer Natur (ihrer Bestimmung nach) vor Augen stellt, indem sie uns zugleich den Mangel der Angemessenheit unseres Verhaltens in Ansehung derselben bemerken läßt und dadurch den Eigendünkel niederschlägt, ist selbst der gemeinsten Menschenvernunft natürlich und leicht bemerklich." 21 Denken w i r noch einmal zurück! Kants Gedankengang kreist um eine eigentümliche Spannung, die zugleich das Wesen des Menschen, das, was ihn zum Menschen macht, dimensioniert. Die Kategorien und Ideen stehen den Eindrücken, den „Empfindungen" gegenüber. Jene sind das Unsinnliche, diese das Sinnliche. Die Freiheit als das Ubersinnliche steht der N a t u r als dem Sinnlichen gegenüber. Die Vernunft vernimmt das Ubersinnliche, der Verstand begreift das Sinnliche. So treten sich Vernunft und Verstand gegenüber. Denken w i r die Ideen und die Freiheit, so sind w i r vernünftig; begreifen w i r das Sinnliche mittels der Kategorien, so sind w i r verständig. Ideen und Kategorien treten so auseinander. Jene lassen diese in ihrer Totalität vernehmen bzw. denken. — I n dieser Spannung tut sich eine Kluft auf, die überbrückt werden muß, soll die Synthesis nicht in sich auseinanderbrechen und unmöglich sein. Einbildungskraft und Urteilskraft vermitteln hier. Sie ermöglichen den unerläßlichen Übergang. Wenn der Mensch im Vollzug der Synthesis allein Mensch wird, wenn diese Synthesis aber nur im Übergang vom Sinnlichen zum Ubersinnlichen und vom Ubersinnlichen zum Sinnlichen möglich ist, dann liegt das Wesentliche der Menschen in Einbildung und Urteil. Die Vermittlung zwischen Kategorie und Empfindung gewinnt nämlich die Synthesis in den transzendentalen Schemata, die die Einbildungskraft ursprünglich herausbildet mit H i l f e der Anschauungsform der Zeit. Den Ubergang zwischen Vernunft und Verstand, zwischen Natur und Freiheit vollzieht die Urteilskraft. Enthalten die Kategorien und Ideen das Sein des Seienden in seiner Einheitlichkeit und Vorgängigkeit, in seiner Maßgeblichkeit und alles umgreifenden Totalität, so w i r d der Mensch selbst zu der „Copula", zu dem „ K o n n e k t i v " zwischen Sinnlichem und Uber sinnlichem 22 . 21
Kant: Werke. Hrsg. v. Ernst Cassirer. Bd. 1—11. Berlin 1922/23. Bd. 5. S. 96 (Kr. d. pr. V.). 22 Vgl. zum Folgenden H . Holstein, a. a. O. S. 26 ff. 12
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I n der Synthesis vollzieht sich daher einmal die Einbildung: Die unsinnlichen Kategorien finden i m transzendentalen Schema ihre Versinnlichung. So w i r d etwa die unumkehrbare Zeitfolge das anschauliche Schema der unanschaulichen Kausalität. Dadurch w i r d überhaupt erst die Beurteilung der sinnlichen Eindrücke auf Verursachung hin möglich; das Urteil ist bestimmend, sofern es unter den Begriff der Kausalität subsumiert. Umgekehrt w i r d das Urteil erst auf den Plan gerufen, weil die Einbildung solchen Übergang vorgängig ermöglichte. Daß die Synthesis zu einem Begriff gelangt, geschieht mit H i l f e der Einbildung, die nämlich in dem oben nachgewiesenen Dreischritt des Durchlaufens, Aufnehmens und Verbindens das Aufnehmen in der Weise der Reproduktion der Vorstellungen i m Gedächtnis behält und dergestalt den Ubergang zur einigenden Einheit des Begriffs zustande kommen läßt. Der Begriff umgreift das versammelte Wesen der durchlaufenden Mannigfaltigkeit. — W i r erinnern uns des oben gegebenen Beispiels. — Diesem Vorgang entspricht der umgekehrte, der doch derselbe ist, nämlich die Beurteilung der Mannigfaltigkeit unter einem Begriff. W i r sprechen dann das Urteil aus, die erfahrene Mannigfaltigkeit sei z.B. die Universität. Dieser Prozeß geschieht in der Zeit. U m das Urteil fällen zu können, mußte also umgekehrt schon die Zuordnung der unanschaulichen Kategorien zu der Ordnung der Zeit, die das Durchlaufen und Aufnehmen möglich macht, vorgängig eingetreten sein, denn sonst würde sich gar keine zeitliche Synthesis ergeben haben. Alle Eindrücke würden auseinanderfallen und nicht beisammen bleiben in einem begreifbaren Gefüge, jeder Eindruck würde in der Zeit geboren und sogleich von ihr verschlungen. Die Zeitlichkeit würde sich dergestalt selbst vernichten und würde nicht in ihrem konstitutiven Sinn apperzipiert. Einbildung und Urteil, Anschaulichkeit in der Zeit und Einordnung in ein kategorial bestimmtes Begriffsgefüge geschehen also in einem in sich gegenläufigen Übergang. Derselbe Ubergang vollzieht sich auch zum Ubersinnlichen der Vernunft, nun aber als reflektierende Urteilskraft. Urteilen heißt jemanden oder einer Sache etwas zuteilen i m Sinne von zusprechen. Die Urteilskraft spricht einer Sache etwas zu oder ab, was ihr zukommt oder nicht zukommt im Ganzen des Seienden. Sie spricht jedem Seienden das zu, was ihm zukommt, indem sie es unter allgemeinen Prinzipien subsumiert. Sie kann nun unter Verstandesregeln, die bekannt sind, subsumieren, dann ist sie bestimmend, d. h. anwendend. Sie kann aber auch unter allgemeine Prinzipien subsumieren, die sie gerade erst durch die Subsumtion finden muß, dann ist sie reflektierend. Da es beim Ubergang vom Sinnlichen zum Unsinnlichen an einem objektiven Gesetz mangelt, kann für diesen
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Übergang nur die reflektierende Urteilskraft aufkommen. Die Funktion der Urteilskraft besteht also im Aufbringen und Anwenden von Begriffen und Regeln. Sie kann deshalb nicht gelernt und gelehrt werden, wie es sonst z.B. die Schule leisten könnte. Die Urteilskraft steht nicht unter Regeln, sie muß ihre Regeln jeweils erst mit ihrem Gegenstand aufbringen. Ihre Entscheidung, ob etwas, was uns entgegentritt, unter einen bestimmten Begriff gehört oder nicht, kann nicht unter eine Regel gebracht werden, weil zu jedem Seienden andere „Eigenschaften" gehören und sich das Urteilen von Fall zu Fall anders vollzieht. Dem einen D i n g muß dies, dem anderen jenes zu- oder abgesprochen werden. Damit ist ihr „subjektiver" Charakter gekennzeichnet, der darin liegt, sich im Vollzug selbst erst für diesen Fall die „Regel" zu geben. Daß dagegen alles, was begegnet, z. B. unter der objektiven Regel der Kausalität steht und demgemäß zu beurteilen ist, das macht den „objektiven" Charakter der bestimmenden Urteilskraft aus. — Ob dieses Gebäude, um noch einmal an unser Beispiel anzuknüpfen, zur Universität gehört oder nicht, das kann nur die reflektierende Urteilskraft ausmachen, welche die Vorstellung dieses Gebäudes auf die „Idee" der Universität zurückbezieht und dann ermessen muß, ob wir es mit einem Hörsaalgebäude oder etwas anderem zu tun haben. I m reflektierenden Urteil vermittelt also der Mensch zwischen den Gebieten des Sinnlichen und Ubersinnlichen. Dabei vergleicht er das Sinnliche des Seienden in der Erscheinung mit der Idee in der Vernunft und bezieht beides aufeinander. Er geht hin und her zwischen dem A l l gemeinen und dem Besonderen. Zu diesem Übergang muß der Mensch gebildet werden. Mensch werden heißt urteilen lernen, entweder in der Weise der Determination von objektiven Gesetzen her oder in der Weise der Reflexion aus eigener Überlegung. Das allgemeine Prinzip, das dabei die reflektierende Urteilskraft für sich aufbringt, um überhaupt in Gang zu kommen, ist dann das der „formalen Zweckmäßigkeit", d.h. der Übereinstimmung, der Harmonie eines Gegenstandes mit der Vernunftidee. Unter dieser Voraussetzung kann sie zu sinnvollen Übergängen zwischen beiden kommen. Das Wie und Was gilt es dann von Fall zu Fall zu finden, denn jenes Prinzip ist ja nur „formal", es nimmt nichts Inhaltliches vorweg. Bevor w i r Kants Gedankengänge verlassen, müssen w i r noch einige Linien verfolgen, die von seiner Synthesis-Lehre zu der Theorie des bei den Zeitgenossen und Nachfolgern Kants führen. Denn SiGeistes" dabei w i r d auch für den Bildungsgedanken Entscheidendes sichtbar. Die „Empfindungen", — so hörten w i r oben — müssen erst nach vorgängigen Gesichtspunkten der Einheit geordnet und zusammengestellt
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werden, um als Gegenstände in Erscheinung zu treten. Diese Gesichtspunkte erwachsen aus dem apriorischen Wissen. Dies w i r d aber gerade nicht von dem Seienden selbst dargeboten, sondern, wie Kant sagt, „epigenetisch" vorgebildet und als der Horizont von Gegenständlichkeit überhaupt vorausgesetzt. Die „Empfindungen", die „Eindrücke" sind ebenfalls nicht das Seiende selbst, sondern sind den Weisen ihrer Darbietung, durch die „Sinne" entsprechend abgewandelt und in ein unterschiedliches, unverbundenes Nebeneinander aufgelöst. Sie können außerdem nur in Raum und Zeit als den „Anschauungsformen a priori" zum Vorschein kommen. So w i r d für das „In-der-Welt-Sein" eines Subjektes die geschilderte Struktur der Synthesis unumgänglich. Also bleibt in diesem „ Z i r k e l " das Seiende selbst völlig ausgespart. Es w i r d zwar offenbar, aber als das Verborgene, als „ D i n g an sich". W i r haben es immer nur mit uns zu tun, mit Empfindungen und Kategorien, mit Anschauungsformen und Ideen. Durch das aufeinander Angewiesen-sein von Anschauung und Denken bleibt menschliches Wissen immer ein Wissen um das Seiende als Erscheinung. W i r Menschen wissen um das Seiende nur in den Weisen seiner apriorischen und aposteriorischen Offenkundigkeit, nie um es selbst in unvermittelter Weise. Aber das heißt doch: Das Wissen selbst ist die Offenkundigkeit des Seienden. Das Wissen kann zwar außerdem noch um sich selbst wissen — die Philosophie macht dieses Wissen aus, aber es bleibt um sich selbst wissendes Wissen des verborgenen Seienden. Denn auch w i r Menschen wissen um uns selbst nur in diesem Wissen, w i r sind „Menschen" nur in diesem Wissen. Wenn w i r uns als Menschen in die Darstellung einführen, dann doch immer nur als denkend-anschauende Einheiten. Darin unterscheiden w i r uns gar nicht voneinander. Diese Einheit, die da wahrnimmt, denkt, Gegenstände anschaut und sich als Ich anspricht, ist eine in allen Menschen, wie die Kategorien und die Anschauungsformen Raum und Zeit identisch sind für alle Menschen bzw. für alle Subjekte. W i r Menschen sind also verschwunden und tauchen erst wieder als Gegenstände der Anschauung und der Wissenschaft auf. N u n aber w i r d in den Kategorien ein Ganzes ausgesagt und umgriffen. Das Ganze verstehen w i r als Welt, etwa als totalen Kausalnexus, um in unserem Beispiel zu bleiben. Die Synthesis stiftet Einheit in der Mannigfaltigkeit des „Gegebenen". Diese Einheit kehrt gegenständlich als Ganzheit wieder. Jeder Gegenstand erscheint als Einheit, aber so, daß daran die Einheit der Welt als kategorial vorgedachtes Ganzes haftet. Anders kann Seiendes für uns nie offenkundig werden. Was aber heißt hier noch „für uns"? W i r sind ja nur dieses Wissen, das sich selbst weiß. W i r vollziehen zwar die Vergegenständlichung des Seienden, aber das besagt doch:
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W i r sind in solchem Tun nichts anderes als die Urtätigkeit, in der das Seiende sich in seine Offenkundigkeit bringt und dadurch vor ein anschauendes Subjekt stellt. U n d diese Tätigkeit der Selbstoffenbarung muß immer Offenbarung des Ganzen sein. Diese Offenbarkeit des Ganzen an jeder Erscheinung hatte K a n t die „Idee" genannt. Wissenschaft muß daher ihre „Wahrheit" dadurch ausweisen, daß sie jedes einzelne unter der „Idee" sichtbar werden läßt. Die Darstellung des einzelnen ist immer nur in einem Zusammenhang möglich. Das Denken kommt stets von einem Ganzen auf das einzelne zurück. Der „Verständige" bleibt am einzelnen hängen und weiß nicht um seine Voraussetzungen. Der „Vernünftige" aber vernimmt an jedem einzelnen das Ganze. Daher muß der Verstand zur Vernunft gebracht werden. Kant hat die Weisen der Offenkundigkeit des Seienden freigelegt. Er selbst w i r d damit dieses „Wissen des Wissens". Stellen w i r diese Offenkundigkeit als Ganzes in einem deduktiven System dar, — und anders als in einem „System" läßt sich nicht „denken" —, so ereignet sich in uns nichts anderes als die Aussprache des Deus absconditus. Dieses Ganze als Offenbarung Gottes spricht sich nicht mehr als „Ich" an, sondern als „Geist". Der Geist macht diese Urtätigkeit der Offenbarung aus, in der das „Absolute" sich als Welt „anschauen" läßt. I n der „ N a t u r " als dem nach den Kategorien in Raum und Zeit geordneten und geregelten Ganzen der Erscheinungen hat es also der Geist, strenggenommen, immer nur mit sich selbst zu tun, mit seinen Grundgedanken, den „Ideen". Er erscheint sich in seinem „anderen", das ihm zunächst das Fremde bedeutet, bis er zu sich zurückfindet im „absoluten Wissen" um Ursprung und Aufbau von Welt. Er kehrt von seinem Außer-sich-Sein zu sich zurück. Wurde er zunächst sich selbst entfremdet, in Wahrnehmung und Vorstellung, in seiner Beschäftigung mit den D i n gen, in seinem Haften an den Erscheinungen der Natur, so weiß er in der absoluten Reflexion auf sich, daß all das seine Welt, sein anderes ist. Die „ W e l t " w i r d der große Umweg des Geistes zu sich selbst. Fichte, Schelling und Hegel haben die Grundgedanken Kants in dieser Richtung fortgesetzt und zu einem Abschluß geführt. Die Zeitgenossen und Späteren haben diese Linie auf ihre Weise weiterverfolgt, in unterschiedlicher Orientierung an jenen Philosophen. Vor allem dem Problem der Bildung wurde von hier aus eine grundlegende Klärung zuteil, besonders in den Werken W. v. Humboldts, Schleiermachers und Herbarts.
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I m übrigen hat schon Kant versucht, in der angedeuteten Richtung weiterzudenken. I n dem sog. Opus postumum 23 w i r d die Grundstruktur der „transzendentalen Subjektivität" — wie w i r wohl jetzt sagen dürfen — noch einmal in ihrem tiefsten Sinn durchdacht. Die Menschlichkeit des Menschen liegt darin, die „Copula" zwischen Gott und Welt auszumachen. Der Mensch als transzendentale Subjektivität, die sich als „Ich denke" ausspricht, läßt das Seiende in seiner Verborgenheit erscheinen als Welt. Indem der Mensch denkt und spricht, sagt er Gott als Welt aus. I n diesem „Zur-Sprache-Bringen" liegt seine Einzigartigkeit beschlossen. Die „Copula", die Aussage des „ I s t " , w i r d das ihm Wesentliche. Denn durch diese Aussage des „ I s t " stellt er Welt, Mensch und Gott als solche heraus und hebt sie voneinander ab. Sie sind nur, als was sie erscheinen, in diesem Bezug der „Copula". I m Opus postumum lesen w i r : „ G o t t u. die Welt sind die beyde Objecte der Trane. Philos. und (Subject, Praed. u. copula) ist der denkende Mensch. Das Subject der sie in einem Satze verbindet. — Dieses sind logische Verhältnisse in einem Satze nicht die Existenz der Objecte betreffend sondern blos das Formale der Verhältnisse diese Objecte zur synthetischen Einheit zu bringen Gott, die Welt, und Ich der Mensch ein Weltwesen selbst, beide verbindend" 2 4 . Die Menschlichkeit macht nur das „Formale der Verhältnisse" aus, das besagt: Der Mensch schafft nicht das Seiende selbst, sondern in ihm ereignet sich allein die Offenbarkeit von Gott und Welt in der Paradoxie ihrer Identität und Differenz. Gott und Welt machen nur zwei Seiten dieser Offenbarkeit aus. Sie „sind ein Maximum, das eine dem Grade nach (qualitativ) das andere dem Umfange Räume nach (quantitativ) bestirnt das Eine als Gegenstand der reinen Vernunft das andere als Sinengegenstand. Beyde unendlich; der erste als Größe der Erscheinung im Raum und der Zeit der zweyte dem Grad nach (virtualiter) als grenzenlose Thätigkeit in Ansehung der Kräfte (mathematische oder dynamische Größe der Sinengegenstände) — Eines als D i n g an sich oder Erscheinung" 25 . I n Gott und Welt nennt also der Mensch als Subjekt das Seiende als noumenales oder als phänomenales Ganzes. Die transzendentale Subjek23 24 25
Kant: Opus postumum. Hrsg. v. Artur Buchenau. Berlin 1936/38. a. a. O. Bd. I. S. 37. a.a.O. S. 11.
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tivität als totale Synthesis macht daher die „Copula" zwischen beiden aus, denn in jeder Aussage eines „Es ist" w i r d das Noumenale im Phänomenalen zur Erscheinung gebracht und damit zur vollen Anwesenheit in offenbarer Verborgenheit: I n der Erscheinung zeigt sich das Seiende selbst, indem es sich zugleich als Erscheinung verhüllt. Synthesis und Copula, die Zusammenfassung der Mannigfaltigkeit zur Einheit der gegenständlichen Erscheinung und die Aussage des „ I s t " , in deren Licht sich etwas in seiner Anwesenheit herausstellt, — sie bedeuten das Geschehen oder Ereignis, in dem der Mensch in seine Menschlichkeit eingesetzt wird. „Gott, die Welt, und was beyde in realem Verhältnis gegen einander denkt, das Subject als vernünftiges Weltwesen. Der medius terminus (copula) im Urtheile ist hier das Urtheilende Subject (das denkende Weltwesen, der Mensch, in der Welt.) Subiect, Praedicat, Copula 2 8 ." Schauen w i r noch einmal zurück, so können w i r zwei Kreisbewegungen voneinander abheben, die in der Grundstruktur der Bildung gegeneinander verlaufen. Die eine führt von transzendentaler Einheit über Welt zu Ich und Person, die andere kreist zwischen Gott, Mensch und Welt. Der Mensch denkt alle Dinge in Gott und ebenso sich selbst in Gott, gerade indem im Menschen sich alle Dinge als Welt erblicken lassen. Das ist der Sinn der totalen Synthesis und ihrer Struktur: ein großer „Bildungszusammenhang", nämlich der Welt, der Menschen und Gottes. Keiner vermag die anderen zu lassen, ohne sich selbst preiszugeben. Gott gibt es nur durch den Menschen und seine Selbstbildung, nämlich als die „Idee" des Anderen der Welt, so wie es ja die Welt nur durch die transzendentale Subjektivität gibt. I m Menschen hält sich das eine Ganze die Maske der Welt vor und läßt sich so erblicken als „deus absconditus". Das „Ereignis" dieser Maskierung ist die „Bildungsstruktur". Durch die transzendentale Subjektivität sind w i r Menschen immer auf dem Weg und auf der Suche nach „ G o t t " , und doch bleiben w i r gerade durch jene „Gefangene" der Welt.
3. Die Grundstruktur der Bildung bei Wilhelm von Humboldt W i r mußten uns auf Kants Lehre einlassen und ihr ein Stück folgen, um für die weiteren Gedankengänge die Grundlage zu gewinnen. W i r können diese Gedanken, die w i r bei Kant kennenlernten, nicht in Richtung auf ihre philosophische Ausarbeitung verfolgen, etwa bei K a r l a. a. O . S.
2 .
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Leonhard Reinhold. I n seinem „Satz des Bewußtseins" kehrt die erörterte „Struktur" wieder. Vor allem aber in Fichtes Philosophie! W i r müssen uns auf die andere Hauptlinie beschränken, die zu Humboldt und Schleiermacher, zu Herbart und Fröbel führt. Wie Herders Anthropologie, so erwächst auch die Anthropologie W . v. Humboldts aus den Gedankengängen von Leibniz. Nach Humboldt w i r k t in jedem Menschen eine Grundkraft. Ja, man muß wohl angemessener formulieren: Der Mensch ist Kraft. Die „ontische Differenz" zwischen den Menschen, ihre Verschiedenheit beruht allein auf der Verschiedenheit von Verhältnis und Bewegung dieser Kraft. Wesensgemäß muß diese Kraft Tätigkeit werden, sie muß sich zu bilden suchen, um Gestalt anzunehmen. So spielt sich im universalen Bildungsprozeß ein Ubergang von Unbestimmtheit zu Bestimmtheit, von Bestimmbarkeit zu Bestimmung ab. Auch hier w i r d schon durch die Wahl des Terminus „Bestimmung" die Willentlichkeit der Kraft gekennzeichnet. Darin w i r d die Nähe zu Kant, aber auch zu Fichte und Schiller ersichtlich. Die Kraft muß ihrer Selbstbetätigung einen Entwurf vorgeben, ein Bild, woraufhin sie sich bildet. Sofern es ihr immer um sich selbst gehen muß, zeichnet sie sich das vor, was sie in Welt werden w i l l . Humboldt nennt ähnlich wie Fichte solchen Bildentwurf eine „Idee". Kants Gedanke der Idee als des Korrelates der totalen Synthesis w i r d hier also mit H i l f e der Leibnizschen Anthropologie als „Bildungsziel" übernommen. Die Idee umfaßt immer ein Ganzes, letztlich das Ganze. So bildet sich jeder Mensch nach der Idee als der Form seiner Selbstbestimmung. Gemäß der Unerschöpflichkeit der totalen Synthesis durch eine anschauliche Erfüllung, die das unendliche Ganze in endlicher Gestalt vernehmlich werden läßt, ergeben sich unzählig viele „Ideen", nach denen sich die Kraft in immer wieder anderen Menschen bestimmt. I n der Vorzeichnung eines solchen zielgerichteten Bildungsprozesses walten überall Ideen in ihrer Teleologie. Wie aber vollzieht nun die Kraft eines Menschen die Selbstbestimmung im Sinne eines ideellen Entwurfs und seiner Verwirklichung? A u f diese Frage antwortet Humboldt mit der Darstellung einer Grundstruktur, in der sich menschliche Bildung vollzieht. Drei Momente oder Schritte dieses Bildungsweges lassen sich hervorheben. Einmal die „Weltlichkeit" , dann die Reflexivität und schließlich die Integralität. Auszugehen ist von der Weltlichkeit des Menschen. Sie resultiert aus der N o t wendigkeit der Selbstbestimmung. Sie muß von etwas Vorgegebenem, von schon Seiendem ausgehen. Die Kraft hat ja zunächst keine Bestimmung
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in sich, infolgedessen muß sie einen Bereich aufsuchen, von dem her sie M i t t e l ihrer Selbstbestimmung gewinnen kann. Von dem Ganzen des schon Bestehenden und sie Umgebenden her muß die Kraft sich bestimmen. Vom Bestehenden aus versteht sich daher der Mensch zunächst als ein „Seinkönnen", das allerdings seiner selbst mächtig ist. Diese Mächtigkeit erweist sich im Bildungsprozeß. Die erste Phase der Selbstbildung muß das Ganze des Seienden als „ W e l t " sichtbar machen, um sich von Welt her und in Welt individuelle Gestalt verleihen zu können. Daher liegt die anfängliche Seinsweise des Menschen in dieser „Weltlichkeit", in der Hingabe an das Seiende im Ganzen und in seiner Aneignung zu menschlichem Selbstsein. „ I m Mittelpunkt aller besonderen Arten der Tätigkeit nämlich steht der Mensch, der ohne alle, auf irgend etwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte seiner N a t u r stärken und erhöhen, seinem Wesen Wert und Dauer verschaffen w i l l . Da jedoch die bloße Kraft einen Gegenstand braucht, an dem sie sich üben, und die bloße Form, der reine Gedanke, einen Stoff, in dem sie, sich darin ausprägend, fortdauern könne, so bedarf auch der Mensch einer Welt außer sich. Daher entspringt sein Streben, den Kreis seiner Erkenntnis und seiner W i r k samkeit zu erweitern, und ohne daß er sich selbst deutlich dessen bewußt ist, liegt es ihm nicht eigentlich an dem, was er von jener erwirbt, oder vermöge dieser außer sich hervorbringt, sondern nur an seiner inneren Verbesserung und Veredlung, oder wenigstens an der Befriedigung der innern Unruhe, die ihn verzehrt. Rein und in seiner Endabsicht betrachtet, ist sein Denken immer nur ein Versuch seines Geistes, vor sich selbst verständlich, sein Handeln ein Versuch seines Willens, in sich frei und unabhängig zu werden, seine ganze äußre Geschäftigkeit überhaupt aber nur ein Streben, nicht in sich müßig zu bleiben. Bloß weil beides, sein Denken und sein Handeln nicht anders, als nur vermöge eines Dritten, nur vermöge des Vorstellens und des Bearbeitens von etwas möglich ist, dessen eigentlich unterscheidendes Merkmal es ist, Nicht-Mensch, d. i. Welt zu sein, sucht er, soviel Welt als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden 27 ." I n diesen Worten w i r d der uns schon bekannte Gedankengang Kants aufgenommen und im Sinne einer „Bildungslehre" fortgeführt. Besonders der letzte Satz gibt die Grundformel der „Weltlichkeit" der Bil27
W. v. Humboldt: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Preuß. Akad. d. Wiss. Bd. 1—15. Berlin 1903—1918. Bd. 1. S. 283.
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dungsstruktur wieder: soviel Welt als möglich zu ergreifen und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden. Die noch unbestimmte Kraft setzt den Reichtum der Welt voraus, aus dessen Aneignung ihre Individualität als einmaliges Integral hervorgeht. Alles dient als M i t t e l ihres Selbstvollzuges. Heute erst kann man die Tragweite dieser These ermessen. Daß es in allem um den Menschen geht, um seine erfüllte Humanität, das ist uns heute selbstverständlich geworden. Dementsprechend bieten sich immer wieder neue „Humanismen" an. W i r bezeichnen ja darum üblicherweise auch W. v. Humboldt als einen hervorragenden Vertreter des „Neuhumanismus". Die Kraft w i r d durch ihre Unruhe charakterisiert. Sie kann nur sie selbst sein im Vollzug dessen, was sie zunächst nicht ist, eben der Welt. Diese wiederum w i r d in ihren einzelnen „Gehalten" nur so weit wichtig, als sie der Kraft zu ihrer Übung und Stärkung dient. Die Kraft darf nicht zur Ruhe kommen, sonst wäre sie nicht mehr Kraft, die allein im Wirken sich ihrer selbst versichert. So bewegt sie sich in der ständigen Befriedigung ihrer eigenen Unruhe, um sich doch immer erneut in dieser zu finden. Die Kraft w i r d zu einem Streben, das darauf gerichtet ist, in die totale Fülle des eigenen Könnens zu kommen. Hier stehen w i r nicht nur in der Tradition der Lehre eines Leibniz: Die Monade ist durch ihr Streben, durch den appetitus bestimmt, sondern w i r haben auch die Verbindung zu den Zeitgenossen Humboldts und ihrer Bildungskonzeption gefunden, zu Goethes im zweiten Teil des „Faust" ausgesprochenen Gedanken, zu Fichtes Lehre vom „unendlichen Streben" und manchen anderen. — Weiter fällt die Korrespondenz zwischen der Totalität des Menschen und der des Seienden, auf. „Was also der Mensch notwendig braucht, ist bloß ein Gegenstand, der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbsttägigkeit möglich mache. Allein wenn dieser Gegenstand genügen soll, sein ganzes Wesen in seiner vollen Stärke und seiner Einheit zu beschäftigen; so muß er der Gegenstand schlechthin, die Welt sein, oder doch (denn dies ist eigentlich allein richtig) als solcher betrachtet werden. N u r um der zerstreuenden und verwirrenden Vielheit zu entfliehen, sucht man Allheit; um sich nicht auf eine leere und unfruchtbare Weise ins Unendliche hin zu verlieren, bildet man einen, in jedem Punkt leicht übersehbaren Kreis; um an jeden Schritt, den man vorrückt, auch die Vorstellung des letzten Zwecks anzuknüpfen, sucht man das zerstreute Wissen und Handeln in ein geschlossenes, die bloße
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Gelehrsamkeit in eine gelehrte Bildung, das bloß unruhige Streben in eine weise Tätigkeit zu verwandeln 28 ." I n diesen Sätzen w i r d ausdrücklich festgestellt, daß der Kraft, die der Mensch darstellt, allein die Welt als der Gegenstand schlechthin korrespondiert. Allerdings fügt Humboldt hinzu, er müsse jedenfalls als solcher betrachtet werden. Es handelt sich also gar nicht um die „ W e l t an sich", um das Reich der „Dinge an sich", sondern es muß das Seiende als Welt betrachtet werden. N u r so können die Dinge dem Menschen etwas bedeuten, nur so kann er sich an ihnen als Medien bilden, nämlich zu einer Einheit und Ganzheit in der Mannigfaltigkeit. Der Mensch muß immer schon jedes im Ganzen und vom Ganzen her auffassen, von einer wirren Vielheit her wäre ihm Selbstbestimmung unmöglich. Auch hier begegnet uns der Kantische Grundgedanke der Korrespondenz von Mensch und Welt, von transzendentalem Subjekt und transzendental konstituierter Welt, in seiner bildungstheoretischen Wendung wieder. U n d Humboldt führt die Tendenzen an, aus denen die Umwandlung der bloßen Mannigfaltigkeit zu „ W e l t " und damit zum allein angemessenen „Bildungsmedium" geschieht: verwirrende Vielheit in Allheit, die Unendlichkeit des „Möglichen" in überschaubare Kreise, zerstreutes Wissen und Handeln in Geschlossenheit, Gelehrsamkeit in gelehrte Bildung, das unruhige Streben in maßvolle, selbstbewußte Tätigkeit. Immer bemühen w i r uns, die Mannigfaltigkeit zur geschlossenen Einheit, zur Ganzheit umzugestalten und dadurch uns selbst Geschlossenheit und umrissene Einheit zu verleihen. Der Grundgedanke der „Bildungsstruktur" läßt sich jetzt mit H u m boldts eigenen Worten aussprechen: Das Ziel der Bildung liegt für den Menschen darin, „die ganze Masse des Stoffs, welchen ihm die Welt um ihn her und sein inneres Selbst darbietet, mit allen Werkzeugen seiner Empfänglichkeit in sich aufzunehmen und mit allen Kräften seiner Selbsttätigkeit umzugestalten und sich anzueignen und dadurch sein Ich mit der Natur in die allgemeinste, regste und übereinstimmendste Wechselwirkung zu bringen" 2 ". Man hört in diesen Worten die Darstellung Kants vom Zustandekommen der Synthesis heraus, nun allerdings eindeutig auf die Teleologie der Selbstbildung des Menschen bezogen. — Denken w i r an den Aus28
a. a. O. S. 285. Eduard Spranger: W. v. Humboldt und die Humanitätsidee. Berlin 1909. 2. Aufl. 1928. S. 438; Gesammelte Schriften. Bd. 2. S. 117. 29
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gang unserer Betrachtung zurück! Die Weltlichkeit sollte dazu dienen, die Idee des eigenen Sein-könnens zu entwerfen. I n ihr w i r d es dem einzelnen klar, woran es mit ihm als Kraft ist, wozu er sich selbst und dadurch auch die Welt gestalten kann. So schließt sich der Kreis der Grundstruktur: „Alles geistige Leben des Menschen besteht im Ansichreißen der Welt, Umgestalten zur Idee, und Verwirklichen der Idee in derselben Welt, der ihr Stoff angehört, und die Kraft und die A r t , wie dies geschieht, werden durch die äußeren Lagen nur anders bestimmt, nicht geschaffen und festgesetzt30." Z u beachten ist hier der Ausdruck „ansichreißen", denn er betont den Vorgang der Aneignung in besonderem Maß. Die Dynamik der geschilderten „Weltlichkeit" enthüllt in sich eine doppelte innere Wendung, eine doppelte Konversion. Der Mensch lebt auf das zu verstehende Seiende im Ganzen hin, weil er umgekehrt von ihm her leben muß als von einer Welt, die verstehbar ist und deren er sich bemächtigen kann. Wiederum taucht eine paradoxe Identität der gegensätzlichen Bewegung auf. Der Weg in die Welt ist der Weg zu mir selbst. Weltgestaltung und Selbstbildung identifizieren sich. Der Mensch versteht jedes Seiende i m Ganzen, in „ W e l t " , und gibt sie damit frei als Feld seines eigenen Könnens. Die Bildungsstruktur entfaltet also eine Teleologie der Humanität, — es geht immer um den Menschen, um die volle Verwirklichung seines individuellen Könnens, — und eine „Ideologie": Es geht immer um die Bewältigung der Welt gemäß einer Idee, in der der einzelne der Welt mächtig w i r d und sie sich als seine Möglichkeit verfügbar macht. Zugleich steckt in dieser Exposition der Bildungsstruktur noch eine andere Kehre des inneren Verlaufs. Dieser hebt an vom Ich als einem aneignenden, seiner selbst mächtigen Vollzug und endet nach dem Umweg über Welt wiederum beim Ich, nun als einer individuellen Person. Es gilt aber auch die Umkehrung. Die Welt kommt in diesem Verlauf zu sich selbst. I m Umweg über den Menschen, über Ich und Person, gelangt das Seiende im Ganzen zu Welt, w i r d es zu einem geordneten, gegliederten Ganzen gebildet. Das Seiende w i r d durch den Menschen zu dieser „Offenbarkeit" gebracht. 80
Humboldt: Gesammelte Schriften. Bd. 3. S. 165; E. Spranger, a. a. O. S. 449.
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Für Humboldt steht eindeutig die erste Kreisbewegung im Vordergrund: die Welt als Bildungsmedium des Menschen und als Bestätigungsfeld seiner Selbstverwirklichung, die Welt als das Mittel, sich des eigenen Könnens zu versichern und es sich zu bestätigen. Das zweite Moment nannten w i r oben die Reflexivität. Es resultiert aus dem strukturgemäßen Sich-zurücknehmen des Menschen auf sich selbst aus aller Weltlichkeit. I n der „Aneignung" bildet sich das Ich zur Person. Ihre Dynamik w i r d zur Verinnerlichung. I n der Rücknahme konstituiert sich ein Innen und ein Außen. Von der Welt her bildet sich der Mensch selbst zu einer Totalität. Der Bildungsweg des Menschen kann also niemals die Reflexivität auslassen, denn so erst w i r d der Sinn aller Weltlichkeit gewahrt, nämlich dem Menschen als M i t t e l seiner Selbstbestimmung zu dienen. Welt w i r d als Reichtum der individuellen Kraft angeeignet, die der Mensch darstellt. „Der Mensch kann wohl vielleicht in einzelnen Fällen und Perioden seines Lebens, nie aber im ganzen Stoff genug sammeln. Je mehr Stoff er in Form, je mehr Mannigfaltigkeit in Einheit verwandelt, desto reicher, lebendiger, kraftvoller, fruchtbarer ist er. Eine solche Mannigfaltigkeit aber gibt ihm der Einfluß vielfältiger Verhältnisse. Je mehr er sich demselben öffnet, desto mehr neue Seiten werden in ihm angespielt, desto reger muß seine innere Tätigkeit sein, dieselben einzeln auszubilden, und zusammen zu einem Ganzen zu verbinden. Das Zweckwidrige und Verderbliche ist bloß das untätige Hingeben an einen einzelnen. Daraus entstehen die plumpen National- und Familiencharaktere, die uns in der Wirklichkeit unaufhörlich begegnen; daran aber ist die innere Schlaffheit und Trägheit, nicht die äußere Mannigfaltigkeit Schuld. Nach der Anleitung einer richtigen Bildungstheorie w i r d kein Mitglied einer Nation dem andern so auffallend ähnlich sehen; der Nationalcharakter w i r d sich in allen einzelnen spiegeln, aber gerade weil er in jedem durch den Einfluß aller übrigen Verhältnisse, und vorzüglich durch die prüfende und richtende Vernunft gemildert wird, so w i r d er im ganzen nicht so plump und handgreiflich, dagegen reiner, eigentümlicher, feiner und vielseitiger erscheinen31." Durch einen solchen Bildungsgang erlangt ein Mensch „subjektive Originalität", wie Humboldt sagt 32 , selbstbewußte Eigenart und Ursprünglichkeit, so könnten w i r heute sagen. Sie steht unter steter Selbstkritik und 81
Gesammelte Schriften. Bd. 1. S. 385.
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läßt sich niemals vom Typischen und Generellen überrumpeln. Jede Einseitigkeit w i r d in diesem Zitat abgewehrt, aber ebenso auch jede Flatterhaftigkeit, um einen Ausdruck schon Herbarts zu gebraudien. Bildung geht schrittweise vor sich. Der nächste Schritt hängt stets davon ab, ob die vorhergehenden zur Einheit zusammengefügt wurden. Der Flatterhafte eilt von Gegenstand zu Gegenstand, ohne Einheit unter ihnen zu stiften. So geht ihm die eigene Einheit verloren. Denn Bildung besagt immer: Selbstgestaltung durch Gestaltung einer Welt. Mannigfaltigkeit zu einem Ganzen zu einen, darin liegt das bildende Geschehen, daraus ergibt sich menschliche Individualität in ihrer Universalität und Totalität. Das Individuum gibt sich schrittweise einer immer umfassenderen Mannigfaltigkeit hin. Das macht seine Universalität aus. Es faßt diese zur Totalität zusammen, indem es jener Mannigfaltigkeit die eigene menschliche Einheit verleiht. Dadurch gewinnt nicht nur das Individuum an der Mannigfaltigkeit die eigene Einheit erst recht, sondern auch das individuelle „Selbst" w i r d zu einem Ganzen all dessen, was es sich auf seine Weise anschauend, begreifend, vorstellend aneignet. Jeder Mensch muß unter all dem, womit er es zu tun bekommt, erst Einheit stiften, niemand kann ihm das abnehmen, wie niemand zuvor ausmachen kann, was jenem zustoßen und aufgegeben wird. I n dieser Unübertragbarkeit, aber auch Unvorhersehbarkeit des Bildungsganges steckt die Individualität. Wer den Bildungsgang so, wie oben geschildert, durchläuft, der erreicht Originalität. Denn nun begegnet ihm nicht nur viel Unvorhersehbares, nun geschieht nicht nur anderes und immer anderes mit ihm, sondern nun nimmt er all dies an und gestaltet es zur Einheit eines Ganzen. Er w i r d Ursprung dieser Totalität in Welt und in sich selbst. Man kann die Verinnerlichung, die in der bildenden Aneignung vor sich geht, als „Einbildung" beschreiben. Wahrnehmend, vorstellend, begreifend, fühlend und handelnd bildet sich jeder Mensch eine Mannigfaltigkeit ein, die ihm innerer Reichtum wird. Aber ebenso bildet er zugleich seine Kräfte aus, die in der Aneignung und Gestaltung von Welt zur Verwirklichung gelangen. Die Grundstruktur der Bildung bringt allerdings den Menschen ständig in die Gefahr, den Rückweg aus Welt zu unterlassen, sich zu verlieren und dergestalt der Unbildung und dem Selbstverlust zu verfallen. „Beschränken sich indess auch alle diese Forderungen nur auf das innere Wesen des Menschen, so dringt ihn doch seine N a t u r beständig von sich aus zu den Gegenständen außer ihm überzugehen, und hier kommt es nun darauf an, daß er in dieser Entfremdung nicht sich selbst
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verliere, sondern vielmehr von allem, was er außer sich vornimmt, immer das erhellende Licht und die wohltätige Wärme in sein Inneres zurückstrahle. Zu dieser Absicht aber muß er die Masse der Gegenstände sich selbst näher bringen, diesem Stoff die Gestalt seines Geistes aufdrücken und beide einander ähnlicher machen. I n ihm ist vollkommene Einheit und durchgängige Wechselwirkung, beide muß er also auch auf die Natur übertragen; in ihm sind mehrere Fähigkeiten, ihm denselben Gegenstand in verschiedenen Gestalten, bald als Begriff des Verstandes, bald als Bild der Einbildungskraft, bald als Anschauung der Sinne vor seine Betrachtung zu führen. M i t allen diesen, wie mit ebensoviel verschiedenen Werkzeugen, muß er die N a t u r aufzufassen versuchen, nicht sowohl um sie von allen Seiten kennenzulernen, als vielmehr um durch diese Mannigfaltigkeit der Ansichten die eigene innwohnende Kraft zu stärken, von der sie nur anders und anders gestaltete Wirkungen sind 33 ." Das in der Moderne immer wieder erörterte „Phänomen" der Selbstentfremdung w i r d in diesen Worten von Humboldt ausdrücklich genannt und in seinen Wurzeln wie in seinen Gefahren aufgewiesen. Soll der Mensch sich nicht an die Dinge verlieren, so dürfen nicht diese bestimmend werden; vielmehr muß umgekehrt alles durch den Geist, durch menschliches Denken, menschliches Auffassen gestaltet werden. Es geht nicht so sehr darum, die Dinge selbst sichtbar und begreifbar werden zu lassen, nicht so sehr darum, sie von allen Seiten kennenzulernen, wie Humboldt sagt. Es geht vielmehr darum, durch die Mannigfaltigkeit der Auffassungen, der Ansichten menschliche Kräfte zu stärken. Nicht daß die Dinge eine eigene Offenkundigkeit durch den Verstand im Begriff, durch die Sinne in der Anschauung oder als Bild in der Phantasie erlangen, ist das Wichtige, sondern daß der Mensch Anschauung, Begriff, Phantasie als eigene Kräfte entfalte. Niemals darf er diese Reflexivität verlassen, niemals vergessen, daß es um seine Selbstbildung geht. So stehen sich für Humboldt echte Vertiefung, in der sich der Mensch nicht vergißt, und unechte Benommenheit gegenüber. I n jener vertieft sich der Mensch letztlich in sich selbst, weil er bei allem Eindringen in Welt nie die Rücknahme und die Selbstwahrung versäumt. I n der Benommenheit läßt er sich enteignen von Seiendem. — So w i r d Kants Gedanke der „Heteronomie" bildungstheoretisch ausgeführt. — Dann aber geht der Mensch sich und dem Seienden verloren; denn auch dieses verliert die M a. a. O. S. 284. 13 Ballaoff
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Möglichkeit seiner weltlichen Offenbarkeit. Daher bleibt Vertiefung echtes Moment der Bildungsstruktur, wenn sie in der Besinnung Entsprechung findet. — Herbart w i r d in dieser Gestalt die Grundstruktur schildern. Reflexivität geschieht dann als „Selbstgenuß". Der Mensch eignet sich das eigene Sein zu und versichert sich seiner in der totalen Aneignung der Fülle des Seienden. „Ich" eigne mir alles Seiende an als mein eigenes Sein und genieße so immer wieder nur „mich selbst" in allem Seienden, das ich nicht bin. Der Mensch ist „Sapiens" als der universal Beteiligte und „Schmeckende", der darin sich zuteil wird. Das macht die Eigentlichkeit des Menschen aus: das Sich-zu-eigenSein. Innerlichkeit w i r d absoluter Selbstzweck. „Sie glauben immer, das Leben müsse einen andern Zweck haben als das Leben selbst, da es doch nichts sein sollte als eine ewige Sehnsucht, sich tiefer und tiefer in das Schicksal der Menschheit zu versenken, von dem man nie anders etwas ergründet, dem man nie etwas ablernt, als dadurch, daß man sich selber, in seinem ganzen Sein und Wesen, mehr und tiefer ihm gemäß stimmt. Wer nicht diese innere Existenz mit Sorgfalt hegt, wer nicht schon eine unwiderstehliche Begierde in sich trägt, die ganze Menschheit rein durch sich selbst auszumessen, wer gar dies höchste Dasein äußeren, auch noch so guten Zwecken unterordnet, der ist immer von der wahren Ansicht entfernt 34 ." Eine großartige abschließende Formel für das Moment der Reflexivität: Das Resultat der erfüllten Bildungsstruktur besteht in der vollendeten „Monade", die die Überführung des Seienden in die erhellte Gestalt von Welt und Selbst bedeutet. Das dritte Moment der Integration liegt schon im synthetischen Charakter der Bildungsstruktur beschlossen. Die Grundstruktur der Bildung läßt sich ja zwanglos als Dynamik von Integration und Differentiation schildern, in der beide wieder paradox identisch sind. Die Analogie zum Organismus in seiner Dynamik von Vermannigfaltigung und Zusammenfassung bietet sich von selbst an 85 . So geht der Prozeß als Bereicherung in der steten Erweiterung und Steigerung vor sich und als Reifung in der Bindung von „Stoff" — von Seiendem — durch „ F o r m " — durch verstehende Zueignung —. Auch als Dynamik von Genuß und Sammlung in 34 35
E. Spranger: a. a. O. S. 447 f. a. a. O. S. 433.
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der Bewahrung vor der Gefahr der Selbstverschwendung läßt sich die wesentliche Bewegung der Bildungsstruktur schildern 36 . U n d schließlich als Dynamik von Beharrung und Wechsel. M i t Notwendigkeit w i r d der Mensch allem Seienden untreu, keinem kann er sich allein und für immer zugehören lassen, so sehr er es sich zugehören läßt. Darin aber hält er ausschließlich sich selbst die Treue 37 . Die Grundstruktur der Bildung weist nach allem Gesagten „ D i a l e k t i k " auf: in der Fügung zur paradoxen Identität. a) Die Dialektik von Freiheit und Bindung bezeichnet die Notwendigkeit der Wahrung der inneren Freiheit in der alleinigen Bindung des Menschen an sich selbst. So „lebt" der Mensch in der freien Selbstbindung an Seiendes und zugleich in der steten inneren Unabhängigkeit von dem Zugeeigneten. Das besagt die Identität von Geschiedenheit und Geeintheit: Ich einige mich mit Seiendem in seiner Aneignung und halte mich doch darin in dem für mich selbst konstitutiven Unterschied, also in der Geschiedenheit38. M i t anderen Worten: Der Gebildete läßt sich Welt zugehören, er ist ein „ M a n n von Welt", aber das nur, weil und sofern er sich selbst in der Distanz zu „aller W e l t " wahrt. b) Die Dialektik, bei sich zu sein und zugleich außer sich zu sein, schildert dasselbe: die totale Hingabe an das, was ich nicht bin, und die darin gerade geschehende Selbstsetzung in der bewahrenden Rücknahme. Der Gebildete weiß stets den Selbstverlust an Ding und Mitmensch zu vermeiden. c) Die Dialektik, in der Welt zu sein und dort zugleich außer ihr zu sein: Das Ich ist in aller Weltlichkeit stets außer der Welt. Es stellt sich gerade durch seine Weltlichkeit und ihre Reflexivität aus der Welt heraus in das große Nicht zu ihr. — U n d das Ich ist über alles Seiende hinaus, indem es das Sein vernimmt als das Eine, Ganze, Unendliche, Unerfüllbare, also als Idee. — So kommt die „Transzendentalität" der Menschlichkeit in ihrer Grundstruktur voll zum Austrag, ihre Momente der Vorgängigkeit, des Vor-, U m - und Ubergriffs des Seienden wie der Ermöglichung von Welt und Selbst — nämlich als transzendentale Einheit des Ich außer der Welt und als individuelle Personalität in Welt 3 9 . 30
Siegfried Kähler: W. v. Humboldt und der Staat. München u. Berlin 1927. S. 27. 37 a. a. O. S. 54. 38 a. a. O. S. 106. 39 Humboldt: Philosophische Anthropologie und Theorie der Menschenkenntnis. Hrsg. v. Fritz Heinemann. Halle 1929. S. X X X V I . 13«
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Dann aber vollzieht sich die Bildungsstruktur faktisch in Kreisbewegungen, in die sich die spannende Dialektik auflöst. a) Die Bewegung von Welt- und Selbstgestaltung ist deutlich hervorgetreten und damit die „Palintropie" ihres Verlaufs: Welt- und Selbstgestaltung laufen ständig auf derselben Bahn gegeneinander und lassen so den „ruhenden Kreislauf" des menschlichen „Lebens" als Bildungsprozeß zustande kommen: Was ich zu Welt mache, mache ich zu mir. b) Die Kreisbewegung von Bildung und K u l t u r erwähnten w i r ebenfalls schon: Alle innere Selbstbildung findet ihre Darstellung im Äußeren der Kultur, eins ist das Bild des anderen 40 . c) U n d schließlich muß noch die Bewegung von Individuum und Menschheit hervorgehoben werden: Jeder gestaltet in sich die Menschheit, wie die Menschheit ihn gestaltet 41 . Einsamkeit und Einzigkeit sind die sich ergebenden Kennzeichen der Bildung: der vollendeten Humanität. — Einzigkeit besagt Individualität in ihrer Universalität und Totalität, in ihrer Weltlichkeit und Innerlichkeit. — Einsamkeit besagt innere Abgeschlossenheit des menschlichen Selbst in seiner reifen Individualität. Das letzte Ereignis der Bildungsstruktur muß ja die abschließende Rückkehr in das absolute Bei-sich-Sein ausmachen. Das Einsiedlertum des reifen Lebens zeigt sich in der Fremdheit und Unnahbarkeit des „älteren" Menschen42. — Darin hält der Gedankengang Leibniz die Treue. W i r gelangen dorthin, von wo w i r ausgingen: zu einer anthropologischen „Monadologie". Jeder Mensch, der im Perfekt der Bildung angelangt ist, hat „alle Welt" in sich und bleibt daher bei sich in absoluter Abgeschlossenheit. Seine Einsamkeit ist höchste Gemeinsamkeit im Zugeeigneten. Daß aus der Einsicht in die Grundstruktur der Bildung Humboldt — wie Herder — den Zugang zur „Sprache" findet, kann hier nur erwähnt werden, der Umfang der Humboldtschen Sprachtheorie verbietet ihre Explikation. — Die Sprache w i r d der beredte Ausdruck der Bildungsstruktur, Dichtung ihre ersichtliche Vollendung: Der Dichter „hört damit auf, das grosseste und schwerste Geschäft, was dem Menschen als seine letzte Bestimmung aufgegeben ist, sich und die Außen40
Kurt Grube: W. v. Humboldt und die weltanschauliche Entscheidung. Halle 1937. S. 13 ff. 41 a. a. O. S. 24; S. Kaehler, a. a. O. S. 45. 42 Werner Schultz: Das Erlebnis der Individualität bei W. v. Humboldt. Dt. Viert.j.schr. f. Lit. wiss. u. Geistesgesch. 8 (1929). S. 672 ff.
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weit um ihn her auf das innigste miteinander zu verknüpfen, diese erst als einen fremden Gegenstand in sich aufzunehmen, dann aber als einen freien und selbst organisierten wieder zurückzugeben, auf seine Weise und mit den ihm angewiesenen Organen auszuführen 43 ."
4. Die Grundstruktur der Bildung bei Schleiermacher Schleiermachers Gedankengang geht von dem großen Gegensatz aus, der seit Kant alle denkenden Zeitgenossen beschäftigte, dem Gegensatz von Natur und Geist, also des Seienden auf der einen Seite, des Denkens, der Vernunft auf der anderen Seite. Diese beiden, Natur und Vernunft, wie Schleiermacher sagt, sind umgriffen von ihrer ursprünglichen Einheit, dem Sein. Sie machen alles aus, was ist, und haben daher ihre Identität wie ihren Ursprung darin, zu sein. A m Menschen zeigt sich dieser Gegensatz von N a t u r und Vernunft, aber ebenso auch ihre Einigung, in der es um Wiederherstellung und Wahrung ihrer ursprünglichen Einheit geht. Die Welt bedeutet den Schauplatz dieser Gegensätzlichkeit in ihrer ständig angestrebten Einigung. Daß alles Seiende vernünftig werde, also Gedanke, Vorstellung, Einsicht, w i r d dadurch ebenso die große kosmische Aufgabe wie der umgekehrte Vorgang, daß jede Einsicht sich in reale Gestaltung und Erfüllung umsetze. Daß Vernunft N a t u r werde, und Natur vernünftig, ruft die Dynamik jenes Einigungsprozesses auf den Plan. W i r erkennen unschwer die Herkunft dieser Konzeption aus Leibniz' und Kants Philosophie. Daß alles Seiende ans Licht der Vernunft, des Denkens gebracht werde, in diesem Licht aber erst sich selbst am rechten O r t im Ganzen gewinnen könne, das war der Grundgedanke der Leibnizschen Philosophie. Aber auch Kant sah ja in der Verbindung und dem Ubergang zweier Welten, der N a t u r und der Freiheit, die dem Menschen zur Aufgabe gemacht sind, den letzten Sinn von Welt und Mensch. Für Schleiermacher gibt es daher nur zwei Wissenschaften, die diesen gegenläufigen Prozeß des Übergangs darstellen, die Ethik und die Physik. „Die Ethik ist also Darstellung des endlichen Seins unter der Potenz der Vernunft, d. h. von der Seite, wie in dem Ineinandersein der Gegen43 Gesammelte Schriften. Bd. 2. S. 143; Philosophische Anthropologie (Hrsg. v. Heinemann) S. X V I I Anm. — Zum Ganzen meiner Darstellung vgl. Clemens Menze: Wilhelm von Humboldts Lehre und Bild vom Menschen. Ratingen u. Düsseldorf: Henn 1965, besonders S. 94—174, die die oben gegebene Darstellung bestätigen und ergänzen.
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sätze die Vernunft das Handelnde ist, und das Reale das Behandelte, und die Physik Darstellung (des endlichen Seins) unter der Potenz der Natur, d. h. wie das Reale das Handelnde ist, und das Ideale das Behandelte 44 ." Die Ethik ist also der Ausdruck eines immer schon angefangenen und nie vollendeten Handelns der Vernunft auf die Natur. Sie stellt das Weltwerden von der Vernunft aus dar als eine Einigung von Vernunft und Natur, die der Stärke nach fortschreitet, dem Umfange nach sich ausbreitet 45 . Die Einigung von Vernunft und Natur haben w i r im Menschen vor uns, sofern er „Organismus" ist. I n ihm handelt schon immer die Vernunft in und durch den Leib, wie umgekehrt die N a t u r in Gestalt des Leibes auf Vernunft einwirkt 4 6 . Hier leben w i r täglich dieses wirkliche Ineinander der Gegensätze. Das Ziel des Übergangs muß darin liegen, daß die Vernunft ganz Natur und die N a t u r ganz Vernunft werde. So gibt es eine Zunahme der Einigung. K u l t u r und Bildung sind als dieser Prozeß vorgezeichnet. Wieder begegnen w i r dem Gedanken eines asymptotischen Fortschritts als der Bewegung auf ein nie vollständig zu erreichendes Ziel hin, auf eine nie zu vollendende Identifikation von N a t u r und Vernunft 47 . Die Geschichte stellt nichts anderes dar als diesen zunehmenden Einigungsprozeß 48 . Der Kreisgang von Vernunft und N a t u r läßt sich nach Schleiermacher als das Ineinander von Organisation und Symbolisation schildern 49 . Alles Seiende muß letztlich „Organ der Vernunft" werden. Jede menschliche Tat, jedes menschliche Unternehmen w i r k t mit Hilfe der N a t u r auf N a t u r ein, um diese gemäß der Vernunft, gemäß ihrer Einsicht und ihrem Wissen um die Natur, erkennbar und gestaltbar zu machen. Es muß also vorausgesetzt werden, daß die Natur, das Seiende im Ganzen, für die Vernunft, für Erkenntnis und Wissen organisiert ist. Die N a t u r darf von sich solche Erkennbarkeit und Gestaltung nicht abweisen oder ausschließen. Sie muß 44
Schleiermacher: Werke. Auswahl in 4 Bänden. Hrsg. u. eingeh v. Otto Braun u. Joh. Bauer. 2. Aufl. Leipzig 1927/28 (Philos. Bibliothek. 136—39). Bd. I I . S. 248. 45 a a. O. S. 500. 46 a. a. O. S. 501. 47 a. a. O. 48 a. a. O. S. 251, ferner S. 423. 49 a. a. O. S. 561 ff.
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für die Vernunft organisierbar sein. Diese Voraussetzung hatte übrigens schon Kant in der „ K r i t i k der teleologischen Urteilskraft" eingehend beschäftigt. Wäre diese Bedingung nicht erfüllt, so würde alles Denken in Einsicht und Werk zum Scheitern verurteilt. Der schon von Kant dargestellte „Ubergang", mit dem w i r es hier wieder zu tun haben, käme nie zustande. Sich um ihn zu mühen, wäre sinnlos. Diese Voraussetzung können w i r aber — so hatte schon Kant zu erweisen versucht — als erfüllt ansehen. Die Natur läßt sich organisieren, das Handeln der Vernunft läßt sich als „organisierend" beschreiben. Die Vernunft setzt das Seiende ins Werk, indem sie jedes Seiende zu einem Organ, zu einem Instrument der fortschreitenden Entdeckung und Gestaltung von Seiendem macht. So prägt das einsichtige Handeln alles Natürliche zu etwas Vernünftigem um. Die K u l t u r ist die Erscheinung dieser Wandlung des Natürlichen zu durchdachtem, durch Einsicht gestaltetem Seienden. Das Sein, das auf diese Weise Dinge und Wesen erreichen, ergibt sich aus diesem Umweg über das Wissen. A n allem, was Inhalt der K u l t u r wird, muß daher die „Vernunft" selbst ersichtlich sein. Alles trägt dann soz. das „Siegel" der Vernünftigkeit. Oder, wie Schleiermacher sagt: Das „Handeln der Vernunft ist ein symbolisierendes" 50 . Jedes natürliche Ding, das in die Vernünftigkeit überführt wird, bedeutet Symbol. Jedes Seiende, das durchdacht und einsichtig behandelt wurde, ist aber auch zum Organ der Vernunft geworden, zu einem Mittel, um weitere Einsicht und ihre tätige Erfüllung möglich zu machen. „ D a die Vernunft durch alle mit ihr geeinigte N a t u r handelt, so ist jedes Symbol derselben auch ihr Organ. U n d da sie nur durch mit ihr geeinigte N a t u r handeln kann, so ist jedes Organ derselben auch ihr Symbol." „Symbol ist jedes Ineinander von Vernunft und Natur, sofern darin ein Gehandelthaben auf die Natur, Organ jedes, sofern darin ein Handelnwerden mit der N a t u r gesetzt ist; jedes also beides auf ungleiche Weise 51 ." Die Unterscheidung liegt demnach in der Herkunft der Bewegung. Wendet man sich von der N a t u r zur Vernunft, so w i r d alles Seiende Symbol der Vernunft; wendet man sich von der Vernunft zur Natur, dann w i r d alles Organ der Vernunft. Aber auch die Zeit steckt in diesem Verhältnis. Das Handeln der Vernunft hat alles Seiende als mögliches Instrument 50 51
a. a. O. S. 563. a. a. O. S. 564 f.
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bzw. M i t t e l vor sich, es nutzt die Dinge sodann als Organe und hinterläßt sie als Symbole 52 . Durch diesen Gedankengang sind Wissenschaft und Technik, menschliches Denken und vorausgesetzte Natur in einzigartiger Weise als K u l t u r verbunden. Alle Dinge erhebt die Wissenschaft ins Wissen, in die gedankliche Wahrheit, und läßt dadurch alle Dinge zu Organen eines Progresses werden, der die Natur weiter und weiter erschließt. So läßt das Denken alles im Lichte des Wissens hervortreten, es wandelt durch seinen Prozeß die Natur zur tradierbaren Kultur. Die N a t u r w i r d sich in dieser gewandelten Gestalt wieder geschenkt. W i r sind gewohnt, diesen Prozeß mit den Ausdrücken: objektiver, objektivierter und subjektiver „Geist" zu schildern. Die Vernunft, der objektive Geist objektiviert sich durch den subjektiven Geist des Menschen zur Gestalt der Kultur. Die N a t u r dient hierbei als Stoff und Mittel. Diese Terminologie geht auf Hegel zurück. Es ist nicht angebracht, Schleiermachers Gedankengang in jene Begriff e zu übertragen. Das Besondere ginge uns verloren. Noch eine dialektische Spannung taucht in diesem Zusammenhang auf. Es ist der Gegensatz von Individualität und Universalität, der am einzelnen Seienden begegnet. Darin steckt die alte Frage nach der Wirklichkeit des „Allgemeinen" 5 8 . Jede Handlung geschieht als einzelne durch einzelne Menschen. M i t anderen Worten, sie ist schon immer durch Raum und Zeit eingeschränkt, nämlich auf O r t und Zeitpunkt. N u n sollte aber die N a t u r vernünftig werden, das aber fordert, in jeder einzelnen Handlung, an jedem einzelnen Seienden etwas Allgemeines, etwas Gemeinsames wirklich werden zu lassen. Jedes Seiende hat Organ und Symbol der Vernunft zu werden. Die Vernunft, das Denken, ist aber nicht singulär, sondern gemeinsam, d. h. unbegrenzt wiederholbar, mitteilbar, übertragbar. Ein kulturelles Gebilde muß von jedem Denkenden zu verstehen und mitzudenken, auch nachzugestalten sein. Die einzelne vernünftige Handlung muß daher zwar als Handlung in raum-zeitlicher Vereinzelung geschehen, aber doch zugleich den Charakter des Allgemeinen an sich tragen, sonst wäre sie nicht vernünftig. Wie soll das zugehen? Nicht nur Singularität und Universalität geraten dergestalt in der einzelnen Handlung eines Menschen in Konflikt, sondern dieser Gegensatz " a. a. O. S. 564. M Vgl. a. a. O. S. 426, 566.
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spitzt sich noch zu: nämlich zu der Spannung zwischen Universalität und Individualität. Denn jede Handlung hat auf einzigartige Weise das Natürliche zum Gegenstand. Sie soll es in einzigartiger, einmaliger Weise organisieren und symbolisieren. Die bloße Rekapitulation einer Handlung würde ja die Verwandlung von N a t u r in Vernunft und umgekehrt nicht weitertreiben. Sie würde nichts entdecken, nichts erschließen, nichts neu gestalten, also kein „kulturelles Gut" schaffen. Die vernünftige Handlung muß den Charakter der Eigentümlichkeit mit dem der Gemeinsamkeit verbinden. Denn sie darf auch nicht an den einzelnen Menschen, an die einzelne Handlung geknüpft bleiben. Wäre sie nicht nachvollziehbar, — ein anderer Mensch könnte sie nicht übernehmen und von ihr aus zu neuem Schaffen aufbrechen. Wie ist diese Vereinigung von Eigentümlichkeit und Allgemeinheit zu bewerkstelligen? Immer müssen das Ganze der Vernunft und das der N a t u r in ihrer Gegenseitigkeit gewahrt bleiben. Ein singuläres und rein individuelles Geschehen würde sich dem ganzen Progreß entziehen, fiele so aus der Vernunft heraus und würde damit sinnlos, denn es kommt ja auf vernünftige Handlungen an. — Der Irre, so könnte man hier ergänzen, ist gerade ein solcher Mensch, dessen Handlungen sich im bloß Singulären und I n d i v i duellen erschöpfen. — Diese Spannungen und ihre möglichen einigenden Lösungen spielen sich in der menschlichen Person ab. Sie ist vernünftig, sie ist der Schauplatz der Vernunft, die in allen Personen eine ist; sie, die Person, ist aber auch natürlich, ein einzelner Mensch, der sich von allen anderen unterscheidet, ja unterscheiden soll. Denn nur ein individuelles Verhalten gewährleistet, daß der Einigungsprozeß von Vernunft und Natur vorangeht. Schleiermacher findet die Lösung der aufgezeigten Spannungen in einer Bewegung, die er treffend als Oszillation bezeichnet. Der resultierende Oszillationsprozeß beschreibt den Bildungsgang des Menschen, der zugleich Natur in K u l t u r überführt 54 . Für Schleiermacher beginnt der Bildungsprozeß des Menschen zunächst mit der Aneignung des Seienden als eines einzelnen und einzigartigen. Das Ich gibt sich dem „Gegenstand" hin und nimmt ihn in seiner Singularität und Individualität auf. Das Ich versteht sich selbst darin als einzelner Mensch, der Gemeinsamkeit von sich ausschließt. Würde es dabei sein Bewenden haben, so höbe der Mensch seine Vernünftigkeit auf". Ver54
a. a. O . S. 2 6 0 f.
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nunft besagt, jedes einzelne auf ein Ganzes als das Gemeinsame, Umgreifende hin durch einsichtiges Denken freizugeben. Der zuerst geschilderte Vorgang muß demnach rückgängig gemacht werden. Das Individuelle muß als Universelles offenkundig werden. Das ist nun gar nicht so schwer zu bewerkstelligen, wie es zunächst den Anschein hat. Das angeeignete einzelne muß aus der Sphäre der Person wieder herausgestellt und allgemein zugänglich werden. Es muß dargestellt werden. So w i r d das Individuelle der Gemeinsamkeit zurückgegeben, weil es in Gemeinschaft gebracht w i r d und nicht der Vereinzelung einbehalten bleibt 5 5 . Das geschieht nicht mit einem Schlage, sondern erfordert eine Bewegung, die in einem H i n - und Hergang verläuft. Daher w i r d von Schleiermacher der Terminus Oszillation gewählt. „ D a die Persönlichkeit abstrahiert von der Eigentümlichkeit nur räumliche und zeitliche Beschränktheit enthält und diese das Urwesen der Vernunft aufheben würde, so muß in ihren Aktionen die Persönlichkeit zugleich gesetzt und aufgehoben werden." „Dies kann nur geschehen in der Form der Zeit durch Oszillation, und diese findet statt in dem oben aufgezeigten Übergehen des Erkennens in Darstellen und des Organs in Symbol 5 6 ." Die erste Oszillation vollzieht sich demgemäß zwischen rezeptivem Erkennen und produktivem Darstellen. Schleiermacher kann von hier aus eine umfassende Analyse der Oszillationen des Bildungsvorgangs erbringen. Gehen w i r aus von der H i n - und Herbewegung zwischen Selbstbewahrung und Hingabe. „Das Aufgehen des Gegenstandes im Selbstbewußtsein ist der ursprüngliche, sich immer erneuernde A k t der Freiheit, das Aufgehen des Selbstbewußtseins im Gegenstande der der Hingebung 5 7 ." Die Grundstruktur der Bildung ist erst erfüllt, wenn sie sich in Ausdruck, Darstellung und Rückgabe beschließt. Daher vollendet sie sich in der Oszillation der Person zwischen Besitznahme und Entsagung. „Das Einnehmen in die Persönlichkeit ist Besitznahme, das Herausstellen ist Entsagung." 55
a a. O. S. 259. « a. a. O. S. 260 f. 57 a. a. O. S. 264. 5
. Die Grundstruktur der Bildung bei
h l m
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„ I m Wadisen der Persönlichkeit vom Anfang des Kulturprozesses an gerechnet ist ein Übergewicht der Besitznahme gesetzt, weil die persönlichen Sphären sich wenig berühren." — „ I m erwachsenen Zustande ist ein Gleichgewicht gesetzt durch das Maß der möglichen Tätigkeit bestimmt, wodurch jede Persönlichkeit in der identischen Integrität ihres Kreises erhalten w i r d 5 8 . " Dieses bildende Geschehen läßt sich auch als die Oszillation der Persönlichkeit zwischen Aneignung und Mitteilung schildern. „Wenn Aneignung nur in der Identität mit Mitteilung sittlich ist, so muß auch in jeder einzelnen Handlung diese Identität sein, welches jener Duplizität der Momente entspricht, indem durch Aneignung die Persönlichkeit gesetzt, nämlich erweitert wird, durch Mitteilung aber in die Vernunft an sich aufgenommen, und also relativ aufgehoben, so daß diese als Entsagung anzusehen ist 5 9 ." Hier gilt ähnlich wie bei Besitznahme und Entsagung: I n der Jugend überwiegt die Aneignung, im Alter dagegen hat die Mitteilung den Vorrang. Die „Bildsamkeit", d. h. die Aufnahmefähigkeit nimmt ab. Die Kulmination des Lebens liegt also im Gleichgewicht und im raschen Wechsel von Aneignung und Mitteilung. Das echte Gespräch zeigt das am deutlichsten. I n diesen Oszillationen bildet der Mensch den Reichtum seiner Personalität aus. Das gemeinsame Gebiet von Aneignung und Mitteilung w i r d die Sprache. I n der Sprache w i r d alles in die Identität von Eigentümlichkeit und Allgemeinheit, Singularität und Totalität erhoben, sie w i r d mein Besitz und wahrt doch zugleich die Gemeinsamkeit. Auch hier kulminiert der Bildungsprozeß im Gleichgewicht des Empfangs aus der Sprache und des Niederlegens in Gestalt der Sprache, der Mitteilung. N u r als Sprechender ist der einzelne Mensch, weil er sich in der Sprache allein ebenso als einzelner wahrt und kundgibt, wie er sich in die Gemeinsamkeit erheben läßt. Der einzelne entsagt dem alleinigen Besitz, er stellt ihn allen anderen in der Mitteilung zur Verfügung. Schließlich kann man noch ein solches Gegenüber in der Dynamik von Gefühl und Darstellung finden. Das Gefühl bedeutet Aneignung in Singularität und Individualität, die Darstellung teilt mit und überführt in Gemeinsamkeit. Sie erhebt dadurch wiederum die N a t u r zur Vernunft 60 . 58 59
a. a. O. S. 283. a. a. O. S. 290. a. a. O. S. 319.
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I V . Die Begründung von Erziehung und Bildung
Aus alldem resultiert nach Schleiermacher die Persönlichkeit. Sie setzt sich einerseits als etwas Vernünftiges, ihre Gedanken, ihre Aussagen gehören dem Allgemeinen an; und sie setzt sich andererseits in ihrer Individualität durch Aneignung und Gefühl, in ihrer Innerlichkeit. Alle Gemütsbildung ist dann darstellend und alle Darstellung gemütsbewegend. Auch hier wieder die Identifikation der Bewegungen 81 ! Die Dynamik der Bildungsstruktur ist nicht auf eine bestimmte Bildungszeit, etwa die Jugend, zu beschränken. Sie spielt sich nicht nur in bestimmten Erziehungsmaßnahmen ab, etwa im Unterricht. Sie umgreift einen Vorgang, der sich über das ganze Leben erstreckt, allerdings mit der geschilderten Verlagerung des Vorranges jeweils einer Seite. Die Bildungsstruktur entfaltet sich in der zeitlichen Aufhebung entgegengesetzter Bewegungen, die darin aber nicht ergebnislos verlaufen, sondern im Gegenteil den Menschen in seine Menschlichkeit in ihrer Reife und Fülle, in ihrer Gemeinsamkeit und Einzigkeit aufsteigen lassen.
81 a. a. O. S. 271, ferner S. 604. Zu Schleiermachers Pädagogik vgl. Pädagogische Schriften. Unter Mitw. v. Theodor Schulze, hrsg. v. Erich Weniger. Bd. 1. u. 2. Düsseldorf u. Mdin. 1957, Ausgewählte pädagogische Schriften. Besorgt v. Ernst Lichtenstein. Paderborn 1959; ferner Horst Friebel: Die Bedeutung des Bösen für die Entwicklung der Pädagogik Schleiermachers. Ratingen 1961.
V. Philosophische Konsequenzen für einen neuen Ansatz der Pädagogik Aus unserer Darstellung der „vierfachen Wurzel" der Erziehung erwächst uns selbst die Aufgabe, ihre Schlüssigkeit für unsere Zukunft zu bedenken. Die begründenden Gedankengänge sind keineswegs so konvergent und eindeutig, daß Rückfragen sich ausschlössen. Ja, w i r haben sogar von Anfang an immer wieder Wendungen kennengelernt, die Vorhergehendes in Frage stellen. Z u einer ersten entscheidenden Wendung kommt es in der Auffassung der Erziehung als Hinführung zur Wahrheit: Die platonische Paideia bleibt nicht mehr die unmittelbar erfahrene Erschließung der Wahrheit, sondern sie w i r d Periagoge, gedankliche Umwendung zu dem Wahren. Erziehung weist zwar bei Parmenides und Piaton über die alltägliche Welt hinaus; sie läßt die Wahrheit erfahren, sie lehrt hierzu Wege und Mittel. Aber das anfängliche Denken des Seins w i r d Erkennen von Seiendem, das in Wahrheit ist. Während jenes Denken „nichts" erkennt, gerade weil es allein und ausschließlich Sein denkt, weiß der Zögling platonischer Paideia die seienden Ideen, die unwandelbaren Anblicke und Urgestalten des Seienden, sofern es ist. W i r geraten in den heillosen Dualismus der „zwei Welten", der bis auf den heutigen Tag unser Bildungswesen insgeheim durchwaltet. Die platonische Paideia kann dazu verführen, nicht mehr nur zu lehren, das Seiende in Wahrheit zu wissen, also die Dinge nur anders als bisher zu sehen, sondern vielmehr anderes, das Wahre, zu sehen. W i r haben versucht zu zeigen, daß die platonische Intention und Konzeption durchaus im ersten Sinn verstanden werden kann. Die Tradition verstand sie im zweiten Sinn. Über die vielen Ideen und die oberste, das Agathon, war das Denken des Seins längst in Vergessenheit geraten, obwohl die Ideen als das im Parmenideischen Sinn Seiende jenes Denken des Seins zu ihrer eigenen Erhellung voraussetzten. Das Mittelalter ist dieser Wendung gefolgt. Gott als das in strengem Sinn von Ewigkeit zu Ewigkeit Seiende umfaßt auch die Ideen als seine Gedanken. Erziehung muß an diesem Seienden Anteil geben; nur die Kirche vermag das.
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V . Philosophische Konsequenzen für einen neuen Ansatz der Pädagogik
Die große Lehre von der menschlichen Verkehrtheit konnte das Abendland auch in seine christliche Tradition übernehmen. Aus dem Wissen um Sein und Seiendes w i r d aber die Gewißheit und die Versicherung des Seins für ein Seiendes, eben den Menschen, durch die Zugehörigkeit zum absolut Seienden. Die späte Stoa bildet zu dieser Wendung den Ubergang. Erziehung gewährleistet solche Seinsversicherung. Die Neuzeit überantwortet die Seinsversicherung der Selbsttätigkeit des Menschen. Der tiefe Gedanke der Gewährung, wie ihn die Antike zu durchdenken suchte, der Gnade, wie ihn das Christentum in den Mittelpunkt seiner Verkündigung rückte, w i r d der Spontaneität des Menschen in ihrer Autonomie anheimgestellt. Erziehung w i r d Anleitung zur Selbstbildung. Der Mensch das Werk seiner selbst! Er gewährleistet sich selbst zu sein. Erziehung hat diese Bewegung in Gang zu bringen, im Medium der Welt sich selbst zu bestimmen und des Seins zu versichern. W i r lernten aber auch die Gegenwendungen kennen, etwa in Pestalozzis Gedanken über Liebe und Glauben. W i r konnten an verschiedenen Stellen deutlich machen, in welcher Weise jeweils eine „Peripetie" eintritt, so in der Stoa und in Leibniz' Monadologie, in Kantischen Wendungen und bei manchem anderen. Es dürfte daher an der Zeit sein, jenem ursprünglichen Gedanken der Logoszugehörigkeit nachzusinnen und sich zu fragen, ob die Wendungen, die er nahm, nicht heute in anderer Richtung zu verfolgen sind. I m Grunde ist diese Einsicht nie verlorengegangen, denn auch der moderne Mensch hält sich noch für „vernünftig". Die Frage ist nur, ob sich solche „Vernünftigkeit" angemessen bedenkt und ins rechte Licht rückt, wenn sie sich als Vermögen und Leistung eines Lebewesens, genannt Mensch, erklärt. Bei dieser Besinnung kommt uns wiederum die Philosophie zu Hilfe. Denn die innere „Kehre", die der bisher verfolgte Gedankengang in Martin Heideggers Philosophieren erfährt, führt uns nicht nur auf unseren Ausgangspunkt zurück, sondern bietet auch einen neuen Ansatz moderner Pädagogik, gerade dadurch, daß noch einmal die Uberlieferung auf ihre eigene Herkunft durchdacht wird. 1. Die Wendung der pädagogischen Fragestellung durch die Philosophie Martin Heideggers Die Schwierigkeit in Heideggers Gedankengang, schon in seinem ersten großen Werk, erwächst erstens aus dem Zurückdenken unseres alltäglichen Welt- und Selbstverständnisses auf seine Bedingungen, zweitens aus dem
1. Die Wendung der pädagogischen Fragestellung
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Umdenken der jenem Verständnis zugrunde liegenden metaphysischen Voraussetzungen, schärfer gesagt, der Voraussetzungen, die Heidegger als metaphysisch kennzeichnet. Denkt jenes Welt- und Selbstverständnis und die in ihnen waltende Metaphysik vom Seienden her, etwa vom Ding oder der Substanz oder dem Subjekt, so besagt jenes Umdenken, vom Sein auszugehen und damit von einem Unterschied, der schon immer übersehen, nicht beachtet, vergessen w i r d — in Alltag und Metaphysik. 1. Heidegger geht daher nicht vom Menschen aus, etwa als Lebewesen, als animal rationale, sondern von der Menschlichkeit als dem Sein des Menschen. Von diesem Sein her versucht sein Denken, das Menschliche sichtbar werden zu lassen, also den Menschen als ein Seiendes aufzuweisen, das von einem so und so zu kennzeichnenden Sein her ist, was und wie es ist. Begann die Metaphysik in ihrer Anthropologie mit der These, der Mensch sei ein Lebewesen, das mit Vernunft ausgestattet wurde, geht sie also von einem Seienden aus, an dem sie so etwas wie Verstehen und Vernehmen feststellt, so fragt Heidegger nach jenem „ist". Was heißt es, der Mensch ist vernünftig? Wie kann man von einem Lebewesen als einem Seienden ausgehen, wenn nicht schon ein umfassender Zusammenhang offenbar ist, aus dem nicht nur so etwas wie Lebewesen festzustellen sind, sondern vielmehr und vorgängig der Sinn des „ist" und der „Feststellung als etwas" klar ist? Wie kann der Mensch seine eigene Vernünftigkeit an sich selbst feststellen? Diese Rückfragen beantworten sich selbst. Seiendes muß als seiend ebenso vorgängig erschlossen sein wie ein umgreifendes Ganzes, in dem das einzelne zum Vorschein kommt. N u n leben w i r alle nicht wie das Tier vor uns hin, durch Instinkte und Antriebe gelenkt und gefesselt, sondern w i r leben aus einer solchen Erschlossenheit des Ganzen, das w i r als Welt kennen, und verstehen uns selbst als Menschen und als diese Menschen, ebenso die Lebewesen, ja alles, womit w i r es zu tun bekommen, aus dieser Erschlossenheit. Seiendes, als was es auch immer betrachtet, genannt und in seinem Sein bestimmt werden mag, ist dieses aus solcher Erschlossenheit. Das Eigentümliche ist jedoch, daß der Mensch sich durch sie ausgezeichnet weiß. Was er auch immer mit allem anderen gemeinsam haben mag, als was er sich zu bestimmen und zu leben sucht, immer geschieht das aus jener Erschlossenheit. Sie ist nicht etwas, worauf der Mensch unter anderem und eines Tages kommt oder was er sich beilegen kann, sondern umgekehrt kommt er durch sie auf sich selbst als Seiendes zurück und be-
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müht sich, unter Dingen, Wesen und Mitmenschen in der Welt als dieser Mensch zu bestehen. Wenn w i r also fragen, worin das Sein des Menschen liege, was seine Menschlichkeit ausmache, so müssen w i r jene Erschlossenheit als vorgängiges In-der-Welt-Sein nennen. Der Terminus „In-der-Welt-Sein" nennt nicht einfach den allbekannten Sachverhalt des „Bewußtseins". Seiner selbst und der Dinge kann sich der Mensch erst bewußt sein auf Grund jenes In-der-Welt-Seins, denn er w i r d sich all dessen in der Welt bewußt, nicht aber werden bloße Umstände, Zustände und Widerstände bewußt. Es ist gerade die Frage, wieweit sich ein Mensch des In-der-Welt-Seins bewußt wird, wieweit er überhaupt darum weiß und nicht vielmehr nicht darum weiß, so daß ihm dieses „Sein" verborgen bleibt. Wenn w i r also nach der Menschlichkeit fragen, so müssen w i r von jenem In-der-Welt-Sein ausgehen, das erst den Menschen als ein seiner selbst bewußtes Wesen möglich macht. I m übrigen auch all unsere Erörterungen über Mensch und Menschlichkeit! W i r leben alle täglich aus dieser Erschlossenheit, i n der Welt zu sein. N u r so konnte man sich darüber lustig machen, daß Heidegger die banale Weisheit lehre, der Mensch komme als ein Seiendes in der Welt vor. Gerade dieses Vorkommen und seine Feststellung können ja nur unter jener Voraussetzung sinnvoll sein. Sonst würde solche Aussagen niemand verstehen. 2. Zweierlei steckt in jenem In-der-Welt-Sein. Einmal findet sich von ihm her der Mensch als in der Welt seiend. Er findet und befindet sich schon immer bei Seiendem in der Welt. Ebenso versteht er, daß er in der Welt zu sein hat, also nicht nur die Gabe zu sein, sondern auch diese als Aufgabe übernehmen muß. In-der-Welt-Sein umschließt dieses Da-Sein, nämlich die Offenkundigkeit, in Welt sich zu befinden an einem Ort, an einem Platz, der jeweils mein O r t im Ganzen ist, unvertretbar und unvertauschbar, und in eins damit auch die Eröffnung, für dieses In-sein aufkommen zu müssen. Wäre nicht „Sein" in dieser Weise erschlossen, kein Wesen wäre je auf den Gedanken gekommen, über ein tierisches Vegetieren hinauszugehen. Ja, ein Mensch wäre nie geboren. Menschlichkeit ist dadurch gekennzeichnet, sich selbst ereignen und bewahren zu müssen. Dem Unmenschlichen bleiben Sein und Zeit verschlossen. In-der-Welt-Sein w i r d sein eigenes Worumwillen, sein eigenes Telos. Es geht in ihm darum, in der Welt zu sein. Was dies besagt, w i r d zur großen Lebensfrage und -aufgabe des Menschen, zum Antrieb seiner Menschlichkeit.
1. Die Wendung der pädagogischen Fragestellung
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Das faktische Leben des Menschen muß dann vor sich gehen als inständiges Sich-Sorgen und Sich-Ängstigen um das In-der-Welt-Sein. U m in der Welt zu sein, muß dieses Sein als Seinkönnen erschlossen sein. Das In-der-Welt-Sein umschließt daher nicht nur das befindliche Sein bei Seiendem in der Welt, sondern auch das Vorwegsein zu Seiendem, das in der Zukunft liegt. Vorgängig hat sich das In-der-Welt-Sein als zukünftiges entworfen, mit anderen Worten, auf das Seinkönnen. Aus solcher Erschlossenheit von Seinkönnen überhaupt und schlechthin verstehen w i r uns deshalb im Alltag auf etwas, was w i r sein können, nicht im Sinne einer Möglichkeit, die w i r jeweils verwirklichen, so daß sie damit erledigt und vergangen wäre, sondern im Sinne eines ständigen Seinkönnens, aus dem ein jeder ist, was und wie er ist. Dieses Seinkönnen bestimmt sich jeweils anders als Lebensaufgabe, als Beruf, als Berufung. Mein Seinkönnen liegt u. a. in dem Professorsein. Dies verwirkliche ich nicht als Potenz meiner Person; ich verwirkliche es nicht als eine frei schwebende Möglichkeit, die ich auch durch eine andere ersetzen könnte und die, einmal verwirklicht, dann für mich ausgestanden und verwirkt wäre; ich übernehme sie auch nicht als ein Ideal, bei dessen Verwirklichung ich mehr oder minder versage; auch nicht wie eine Norm, die mein In-derWelt-Sein in feste Formen und Regeln bannte, sondern als das, was als stetes Seinkönnen auf mich zukommt, mir zukommt, von woher ich bin, was ich bin, und woraufhin ich lebe. Insofern bleibt das In-der-Welt-Sein als Professor Zukunft, der ich mich zugehören lasse und in der ich mir zukomme. 3. Menschlichkeit als Aufgabe nennt solches Sein bei Schon-Seiendem unter einem ständigen Sich-Vorwegsein zum Seinkönnen. Diese Aufgabe enthält in sich die Möglichkeit, übernommen und so mir zugeeignet zu werden, als meine Aufgabe. Das In-der-Welt-Sein w i r d sich darin selbst zu eigen. Ebenso ist aber auch die andere Möglichkeit vorgegeben. Das In-derWelt-Sein kann sich selbst abgenommen werden. Es vollzieht sich nicht als sich selbst aufbringend und für sich einstehend. Das „ I s t " des In-der-WeltSeins geht nicht als Selbstvollzug vor sich. M i t anderen Worten: Der Mensch ist dann nicht in der Welt in der Erschlossenheit seines Inseins als Gabe und Aufgabe, in deren Unvertretbarkeit, in deren Einmaligkeit. Das In-der-Welt-Sein geht nicht als es selbst vor sich, sondern w i r d einem „Manselbst" überantwortet. Wie kommt es zu diesem „Man"? 1
Ballaff
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V . Philosophische Konsequenzen für einen neuen Ansatz der Pädagogik
Das vorgängig sich erschlossene In-der-Welt-Sein hat nicht solipsistischen Charakter; die Welt ist immer unsere Welt. Das Mitsein mit anderen, die ebenso ihr Insein zu leben haben, ist dem Insein miterschlossen, gleichgültig ob andere hier und jetzt anwesend sind oder nicht. In-derWelt-Sein ermöglicht das Mitsein gleichursprünglich mit dem Selbstsein als dem sich selbst zu eigenen Insein. Umschließt In-der-Welt-Sein sich selbst als Aufgabe, haben w i r zu sein in der Welt, so kann diese Aufgabe nur gelöst werden von dem her, was schon ist, das also entweder sozusagen Sein zu vergeben hat oder die Lösung der Aufgabe „zu sein" schon anzubieten vermag. So leben w i r in der Tat immer im Besorgen und Beschaffen von etwas, das uns „Sein" zu gewähren und zu gewährleisten scheint. Es geht uns daher um Eigentum und Konsum. Ebenso halten w i r uns aber auch an die anderen, die als M i t seiende in der Sorge um ihr Insein in Welt stehen und daher maßgeblich werden können, weil jedermann in dieser Sorge lebt. I m Mitsein muß das Sein von allen für jeden maßgeblich werden. Nicht dieser oder jener gibt dem anderen die Maße seines Inseins, sondern das Mitsein selbst, das über alle hin schon immer die Weisen, da zu sein, vorausgibt, die Lösung der Aufgabe, in der Welt zu sein, schon bereitstellt. Dieses Mitsein bleibt namenlos. Wer hier maßgeblich wird, ist das „ M a n " . Unterscheidender Vergleich, Durchschnittlichkeit, Einebnung des Menschenmöglichen machen die Seinsweise des Man aus1. Es gibt Maßstäbe und Entscheidungen vor und nimmt die Verantwortlichkeit ab, denn „man" ist nicht zur Verantwortung zu ziehen. I n seiner Alltäglichkeit w i r d so das jeweilige Insein, dem es darum geht, in der Welt Stand und Stellung zu erlangen, entlastet, und zwar von der eigenen Verantwortung. Das Was und Wie des In-der-Welt-Seins w i r d vorausgegeben und „ m i r selbst" das eigene Sein in Welt als zu lösende Aufgabe erspart. So gibt es also die beiden Möglichkeiten des eigentlichen und uneigentlichen Da-Seins für jeden Entwurf auf das Seinkönnen in Welt, mit anderen Worten für jeden Beruf, jede Tätigkeit, jedes Werk und jedes Wort 1 . 4. In-der-Welt-Sein verweist an Welt als das, von woher gelebt werden und auf das deshalb hingelebt werden muß. 1 2
M. Heidegger: Sein und Zeit. 1. Hälfte. 5. Aufl. Halle 1941. S. 127. a. a. O. S. 179.
1. Die Wendung der pädagogischen Fragestellung
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So sind w i r da, d. h. in der erschlossenen Welt an unserem O r t und in unserem Stand, indem w i r zunächst und zumeist bei der besorgten Welt sind und im Besorgen von Seiendem aufgehen. Das „Aufgehen bei" hat meist den Charakter des Verlorenseins in die Öffentlichkeit des Man. Da-Sein ist von sich selbst als eigentliches Seinkönnen abgefallen und der Welt verfallen. Es läßt sich schon immer durch Gerede, Neugier und Zweideutigkeit führen. Diese Bindung und Auslieferung an Welt kommt nicht von außen in unser Sein hinein, sondern ist aus dem In-der-Welt-Sein selbst herzuleiten. N u r Menschlichkeit kann verfallen, weil es in ihr um das verstehend-befindliche In-der-Welt-Sein geht und die Weltlichkeit der Welt vom Man schon vorgegeben wird. A u f Seiendes angewiesen, das nur in Welt entdeckbar und besorgbar wird, muß die primäre Verfassung des Inseins diese Verfallenheit ausmachen, in der jeder von uns sich vorschreiben und vormachen läßt, wie er bei Seiendem zu sein hat, wie es zu besorgen ist und als was es zu verstehen ist. Insein ist schon vorweg geregelt und verfügbar. Das In-der-Welt-Sein kann sich auf das Man verlassen, das ihm Ordnung und Chance seines Inseins als Seiendem, als dieser oder jener Mensch, bietet. Solches Insein beruhigt und gewährt Sicherheit. So jedoch w i r d Insein sich selbst entfremdet. Denn sein eigenes Seinkönnen, nämlich aus der Erschlossenheit je selbst in der Welt zu sein, nicht aber sich das Selbstsein abnehmen zu lassen, bleibt ihm fremd. Das Insein verfängt sich in sich selbst, sofern es zwar ein eigenes Worumwillen bleibt, aber die Aufgabe „zu sein" durch die Übernahme eines vorweggenommenen Inseins löst. Dieses vorgegebene Sein erscheint vom Man aus als Angebot von „Aufstieg", „Chance", „Erfolg". 5. I m Versuch einer Zusammenfassung läßt sich sagen: In-der-WeltSein geht als Sorge vor sich und w i r d durchherrscht von der Angst. Es besagt ein Sich-Vorwegsein zum eigenen Seinkönnen in allem Sorgen und Bemühen um Dinge, Wesen und Mitmenschen, die ihm als schon seiend offenkundig sind, und es ängstigt sich um sich selbst, um das In-derWelt-Sein, nämlich als Seiendes in Welt zu bestehen und dem, was jeweils sich als Möglichkeit, als Zukunft auftut, nachzukommen. Angst umschließt beides: die Erschlossenheit des Inseins als Gabe und als Aufgabe, als das Gewährte und doch nie Gewährleistete, als das Bevorstehende und immer noch zu Bestehende. I n der Angst ängstigen w i r uns vor dem In-der-Welt-Sein um eben dieses. U n d nur deshalb fürchten w i r uns vor diesem oder jenem als dem u*
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V . Philosophische Konsequenzen für einen neuen Ansatz der Pädagogik
möglichen Entzug und der Gefährdung des Inseins. Angst meint nicht ein Gefühl unter anderen, sondern die Erschlossenheit unseres In-derWelt-Seins, in seiner Gewährung und Gewähr, aber auch in Gefährdung und Entzug. N u r auf dem Grund solcher Angst w i r d alle Geborgenheit offenkundig. Die moderne Gesellschaft erhält sich ihren Frieden auf diesem Grund — und sie weiß sehr wohl darum. Das deutet auf ein weiteres Kennzeichen der Menschlichkeit hin: W i r leben alle aus der Erschlossenheit des Seins. N u r so können w i r ja etwas als seiend sichten in Einsicht und Vorausschau, erkennend und entdeckend. N u r so kann es uns darum gehen, unter Seiendem zu sein. I n der Verfallenheit an Welt befinden w i r uns schon immer bei Seiendem — bei etwas, das uns als seiend offenkundig ist — und w i r sind darauf aus, uns von ihm her des Seins zu versichern. Das In-der-Welt-Sein, sich selbst überantwortet, überantwortet sich dem Seienden, so wie man es ihm zunächst darbietet, überläßt und gewährleistet. Die Garantie der öffentlichen Sicherheit für unser Da-Sein ist ebenso vorausgesetzt wie gefordert. N u n kann man einwenden, daß w i r uns solcher Sorge und Angst doch keineswegs „bewußt" sind, geschweige denn des Seins. Dieser Einwand macht auf eine wichtige Wendung aufmerksam. Denn jenes alltägliche Aufgehen bei innerweltlich zu Besorgendem, zu Beschaffendem, Herzustellendem, in Fürsorge und Arbeit, geht allerdings in dieser für es charakteristischen Vergessenheit und Verborgenheit des Seins vor sich, die nur gelegentlich, dann aber hart und unausweichlich durchbrochen w i r d ; so z.B. bei Gelegenheit eines Todesfalles. Auch bei diesem kann freilich das M a n und seine Öffentlichkeit dieses Vorkommnis in seinem erschließenden Charakter abfangen, dadurch daß auch dieser „ F a l l " besorgt und erledigt wird. Wie aber steht es um meinen Tod? Genügt es zu sagen, daß ich ja lebe und, wenn ich einstmals tot bin, das In-derWelt-Sein nicht mehr meine Sorge ist. Diese Auskunft kann doch wohl kaum ernst genommen werden. Gewiß, das Sich-Vorwegsein, das Sich-Sorgen kommt nie an sein Ende. Als zum In-der-Welt-Sein gehörig können sie nur mit diesem aufgehoben werden. Immer steht noch so vieles unter dem Horizont des Seinkönnens aus3. A u f diese Weise bleibt das Insein unabgeschlossen. Dieses Nochnicht gehört unaufhebbar zum Insein, in der Paradoxie nämlich, als Noch8
a. a. O. S. 236.
1. Die Wendung der pädagogischen Fragestellung
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nicht schon immer das menschliche Sein in Welt, das Da-Sein, offenkundig zu durchherrschen4. So gehört auch der Tod ins Da-Sein hinein. Er bedeutet nicht bloß das Zu-Ende-Sein des Da-Seins, sondern so wie das Insein sein Noch-nicht ist, das Seinkönnen schon in sein jeweiliges Insein einbezogen hat, so muß es auch zu seinem Ende sich vorwegsein und es ins Da-Sein übernommen haben5. Insein umschließt solches Vorwegsein zum Tod als zu seiner eigensten, unbezüglichen, gewissen und als solcher unbestimmten, unüberholbaren Möglichkeit 8 . Das Vorwegsein zum Tod vereinzelt das Insein. Der Tod ist dem Inseienden, dem Menschen seine unvertretbare, nur von ihm selbst zu bestehende Möglichkeit. Er verweist das Insein in seine Eigentlichkeit. Weil das „Vorlaufen" in die unüberholbare Möglichkeit alle ihr vorgelagerten Möglichkeiten mit erschließt, liegt in ihr die einzigartige Möglichkeit einer Vorwegnahme des ganzen Da-Seins, d.h. die Möglichkeit, das Seinkönnen als ganzes zu übernehmen und damit vor Augen zu haben 7 . Das Sich-Vorwegsein muß also dann die Weise des Vorlaufens annehmen. M i t anderen Worten, dem einzelnen Menschen w i r d in solchem Vorlaufen das Ausmaß und die Aufgabe des Inseins in Welt klar; diese Einsicht ruft ihn auf, er selbst zu sein, d. h. sein Leben in dessen Unwiederbringlichkeit selbst zu verantworten 8 . Daher enthüllt das Vorlaufen dem Insein die Verlorenheit in das Manselbst und bringt es vor die Möglichkeit, ungestützt durch die Fürsorge der anderen, es selbst zu sein. Sich aus dem Man-selbst lösen und sich zurückholen auf solches Selbstsein ereignet sich als Gewissen. Der Ruf des Gewissens erschließt das Insein auf sein Selbstsein9. Da zu sein an meinem von Welt her offenkundigen Platz und diesen auszufüllen in einzigartiger, einmaliger Weise, — das enthüllt sich als Aufgabe, die weder abgenommen noch zur Verfügung gestellt werden kann, sondern meine Schuldigkeit ist und bleibt. Wo solche Klarheit des Inseins eintritt, dort erst ist der einzelne selbst da und ist in Wahrheit in Welt. 4
a. a. O. a. a. O. • a. a. O. 7 a. a. O. 8 a. a. O. • a. a. O. 5
S. 243. S. 245. S. 258. S. 264. S. 266. S. 275.
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Solches Insein besagt Entschlossenheit, — nicht den Entschluß zu diesem oder jenem, sondern zu diesem Selbstsein1®. Wozu ich mich jeweils entschließe, das entspringt aus der Entschlossenheit, das Da-Sein als Ganzes zu übernehmen und selbst zu sein, nicht unter dem Man-selbst sich vor dem Da-Sein zu verbergen und zu drücken. Solche Entschlossenheit breitet den Umkreis, in dem mein Leben unverhüllt vor mir liegt. Sie macht es erst möglich, die mitseienden Anderen als sie selbst sein zu lassen und ihr Seinkönnen in befreiender Fürsorge mitzuerschließen. Die Entschlossenheit bringt das Insein vor seine Zeitlichkeit, nämlich vor seine Zukunft als endliche 11 , und offenbart den Zeitraum, in Voraussicht und Umsicht die Dinge recht ins Werk zu setzen. „Selbstsein" besagt nicht das Sich-Einsetzen eines Ich in seine Selbständigkeit und das Insistieren auf solchen Selbststand, den zu gewährleisten alles dienen müßte, sondern das Sein bei U m - und Mitseiendem, das ich in mein Seinkönnen übernehme und mir zur Aufgabe mache. 6. A l l das, was w i r über das In-der-Welt-Sein bisher ausmachen konnten, war nur unter der stillschweigenden Voraussetzung der Zeit bzw. der Zeitlichkeit des Inseins zu durchdenken; das hat wohl jeder Leser des Erörterten unmittelbar mitvollzogen. W i r alle haben demnach Zeit schon verstanden. Niemand findet daran etwas Befremdliches oder U n verständliches. Trotzdem müssen w i r das Gesagte noch einmal auf diese Zeitlichkeit hin bedenken. Wenn w i r einen eigentlichen Modus des In-derWelt-Seins von einem uneigentlichen abhoben, dann muß diese Unterscheidung nochmals ausdrücklich auf die Zeitlichkeit hin untersucht werden. Als Sorge ist das Da-Sein sich vorweg. Zunächst und zumeist versteht sich das besorgende In-der-Welt-Sein aus dem, was es besorgt. Das uneigentliche Verstehen entwirft sich auf das Besorgbare, Tunliche, Dringliche der Geschäfte des Alltags. Das Besorgte aber ist, wie es ist, umwillen des sorgenden Seinkönnens. Dieses läßt das Da-Sein im besorgenden Sein beim Besorgten auf sich zukommen. Das Da-Sein kommt nicht primär in seinem eigensten, unbezüglichen Seinkönnen auf sich zu, sondern es ist besorgend seiner gewärtig aus dem, was das Besorgte ergibt oder versagt. Die uneigentliche Zukunft hat den Charakter des Gewärtigens. N u r deshalb leben w i r Menschen in Erwartung und im Warten a u f . . . Das Gewärtigen muß schon den Umkreis erschlossen haben, aus 10 11
a. a. O. S. 298. a. a. O. S. 329.
1 Die Wendung der pädagogischen Fragestellung
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dem etwas erwartet werden kann. Das Erwarten ist ein im Gewärtigen fundierter Modus der Zukunft 1 2 . Letztlich erwarten w i r das Was und Wie unseres Inseins vom Seienden her. I m Vorlaufen zum Tode nimmt dagegen der einzelne das Was und Wie und Wer des Inseins von diesem selbst in seiner offenbaren Endlichkeit vor und stellt ein jedes unter den Entwurf des ganzen Lebens14. Beachtet werden muß, daß die Zeitlichkeit als eine sich zeitigt. Die Zukunft ist nicht später als die Gewesenheit und diese nicht früher als die Gegenwart 15 . Eine Zukunft, die als solche noch nicht wäre, bliebe außerhalb des In-der-Welt-Seins; das besagt ja gerade die Erschlossenheit von Welt, nun in ihrer Zeitlichkeit als eine und ganze. Das Nochnicht zeitigt sich als solches in eins mit dem Nicht-mehr und Nie-wieder. N u r so besagt In-der Welt-Sein, in der Zeit zu sein. Sorge nennt die Einheit des In-der-Welt-Seins in seiner Zeitlichkeit. Der besorgende U m gang und die Fürsorge gründen in dieser Zeitlichkeit. Unverwendbares, z. B. ein versagendes Werkzeug kann nur auffallen in einem und für einen hantierenden Umgang. Selbst das schärfste und anhaltendste „Wahrnehmen" und „Vorstellen" vermöchte als solches nie so etwas wie eine Beschädigung des Werkzeugs zu entdecken18. Das Handhaben muß gestört werden können, damit Unhandliches gesehen w i r d und auffällt. Das Gegenwärtigen des Werkzeugs, das des Wozu gewärtig ist — des Hammers, um einen Nagel einzuschlagen — , kann nur Unverwendbarkeit und Ungeeignetheit feststellen, wenn es die Bewandtnis des Werkzeugs behalten hat und diese ihm gegenwärtig ist. Bei der Unverwendbarkeit w i r d der Gebrauch, auf den hin das Werkzeug schon verstanden ist, in seiner Gegenwärtigung — daß ich jetzt hier einen Nagel einschlagen möchte — aufgehalten, gehemmt, so daß nun das Um-zu und das Wo-zu ausdrücklich gegenwärtig werden: U m einen Nagel einzuschlagen, wozu ein Hammer eigentlich dienen sollte, ist dieser Hammer ungeeignet, weil der Griff abgebrochen ist. Die Bewandtnis, die es mit dem Hammer hat und die im Hantieren und Umgehen mit dem Werkzeug unauffällig und unbeachtet bleibt, w i r d gegenwärtig. So kann der besorgende Umgang nur vor sich gehen, weil in ihm behalten wird, was es mit 12 13 14 15 16
a. a. O. S. 337. Vgl. Peter Fürstenau: Heidegger. Frankfurt 1958. S. 30. Heidegger: Sein u. Zeit. S. 347. a. a. O. S. 350. a. a. O. S. 354 f.
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V. Philosophische Konsequenzen für einen neuen Ansatz der Pädagogik
dem Werkzeug auf sich hat, und er der Verfügbarkeit und Brauchbarkeit gewärtig ist. Vermissen und Überraschtwerden gehören ebenfalls in diese Zeitlichkeit, ferner das Sich-Abfinden mit etwas und das Rechnen auf oder mit etwas 17 . Zeitlichkeit macht die Möglichkeit des In-der-Welt-Seins aus, besser den Horizont, in welchem die Erschlossenheit, in der Welt zu sein und sein zu müssen, eintritt. Liegt das Worumwillen des Inseins in diesem selbst, so ist es auf Zukunft entworfen, kommt allererst auf sich zu. Findet sich ein Mensch immer schon als Seiendes bei Schon-Seiendem, sich selbst überlassen, so enthüllt sich darin Gewesenheit: immer schon zu sein und nicht vergangen zu sein. Als Sein bei Seiendem gegenwärtigt es dieses in seinem Um-zu 1 8 . M i t dem faktischen Sein im Da ist im Horizont der Zukunft das Seinkönnen entworfen, im Horizont der Gewesenheit das Schon-sein enthüllt und im Horizont der Gegenwart Besorgtes (zu Besorgendes) entdeckt. A u f diese Weise ist das Insein auf seine Erstreckung hin erschlossen. Es währt von der Geburt bis zum Tod und muß ebenso seine Geburt als das Versetztsein in Welt übernehmen — als Gewesenheit — wie in der vorlaufenden Entschlossenheit seine Bahn beschreiten, seinen „Lebensweg" gehen1®. 7. Woher werden überhaupt die Möglichkeiten geschöpft, auf die sich das Da-Sein faktisch entwirft 20 ? Das vorlaufende Sichentwerfen auf die unüberholbare Möglichkeit des Inseins, den Tod, verbürgt nur die Ganzheit und Eigentlichkeit der Entschlossenheit. Die faktisch erschlossenen Möglichkeiten, da zu sein, sind aber doch nicht dem Tod zu entnehmen. Zunächst und zumeist ist das Selbst in das Man verloren. Es versteht sich aus dem, was als Beruf, Chance, Stellung in der jeweils heutigen durchschnittlichen Öffentlichkeit kursiert. Das eigentliche Verstehen entzieht sich diesem überkommenen Verständnis keineswegs, vielmehr ergreift es jeweils aus ihm und gegen es, aber doch wieder für es die gewählte Möglichkeit im Entschluß. Die Entschlossenheit erschließt das für den einzelnen faktisch Mögliche aus dem Erbe, in das sie sich versetzt sieht als in das zu Übernehmende. Sie 17 18 19 20
a. a. O. a. a. O. a. a. O. a. a. O.
S. S. S. S.
356. 365. 375. 383 ff.
1. Die Wendung der pädagogischen Fragestellung
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stellt in die Uberlieferung. Die aus dem Vorlaufen zum Tod ergriffene Endlichkeit des Inseins reißt aus der endlosen Mannigfaltigkeit zurück, die sich als Möglichkeit des Behagens, Leichtnehmens, Sichdrückens anbietet, und sie bringt in die Einfachheit des Inseins als Schicksal. Die Entschlossenheit überliefert das Insein an eine ererbte, aber gleichwohl gewählte Möglichkeit. Anders ausgedrückt, nur wer sich aus seiner Uberlieferung, aus seiner geschichtlichen Situation eine Lebensaufgabe wählt, seinen Beruf findet, seine Berufung erfährt, kann Schicksal als Vereitelung und Glück, als Gewährung und Entzug, als Zufall und Mißgeschick erfahren. Schicksal macht hier Geschichtlichkeit aus: aus der Gewesenheit sich Zukunft eröffnen lassen und aus ihr jeweils die eigene Aufgabe, da zu sein, ein für allemal übernehmen. Die Zeitlichkeit des Inseins bietet die Möglichkeit, das Seinkönnen aus dem überlieferten Dasein zu holen. I m Rückgang in Möglichkeiten des dagewesenen Daseins geschieht die Wiederholung. I n ihr w i r d nicht einfach „vergangenes Leben" wiederholt, sondern im wählenden Entschluß eigentliches Da-Sein in seiner Eigentlichkeit wiederholt. Zugleich holt sie jenes gewesene „Leben" in das faktische (heutige) Da-Sein wieder. Sie w i r d zur Erwiderung auf die Uberlieferung 11 . M i t anderen Worten, w i r haben nicht die Alten zu imitieren, sondern ihr Leben bietet uns die Beispiele, die uns zeigen, daß man eigentliches In-der-Welt-Sein suchen und erfüllen kann. Nicht aber können w i r aus solchem Rückgang in die Tradition entnehmen, wie w i r heute zu leben haben. Es ist vielmehr unsere Aufgabe, der Überlieferung eine A n t w o r t zu geben und hinzuzufügen, unser Leben also selbst zu verantworten. Damit überholen w i r das, was war, zu unserem eigenen erfüllten Da-Sein, das doch zugleich die Uberlieferung wiederholt. N u r weil Da-Sein gezwungen ist, in der vorlaufenden Entschlossenheit zum Tod sich auf seine Möglichkeiten zurückzufinden, w i r d In-der-WeltSein geschichtlich, d. h. erhält die Gewesenheit in Überlieferung und Wiederholung ihre Maßgeblichkeit. I n der vorlaufenden Entschlossenheit überliefert sich das Insein an das Da des Augenblicks. N u r in der Erschlossenheit der Zeitlichkeit und ihrer Endlichkeit — zwischen Geburt und Tod — kann das Da seine Geschichtlichkeit gewinnen, ist jeder Augenblick unvertretbare Wiederholung des Gewesenen. „ I n der uneigentlichen Geschichtlichkeit dagegen ist die ursprüngliche Erstrecktheit des Schicksals verborgen. Unständig als Man-selbst " a. a. O. S. 386.
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gegenwärtigt das Dasein sein ,Heute'. Gewärtig des nächsten Neuen hat es auch schon das Alte vergessen. Das Man weicht der Wahl aus. Blind für Möglichkeiten vermag es nicht, Gewesenes zu wiederholen, sondern es behält nur und erhält das übriggebliebene ,Wirkliche' des gewesenen Welt-Geschichtlichen, die Überbleibsel und die vorhandene Kunde darüber. I n die Gegenwärtigung des Heute verloren, versteht es die ,Vergangenheit' aus der »Gegenwart4. Die Zeitlichkeit der eigentlichen Geschichtlichkeit dagegen ist als vorlaufend-wiederholender Augenblick eine Entgegenwärtigung des Heute und eine Entwöhnung von den Ublichkeiten des Man. Die uneigentlich geschichtliche Existenz dagegen sucht, beladen mit der ihr selbst unkenntlich gewordenen Hinterlassenschaft der ,Vergangenheit', das Moderne. Die eigentliche Geschichtlichkeit versteht die Geschichte als die ,Wiederkehr' des Möglichen und weiß darum, daß die Möglichkeit nur wiederkehrt, wenn die Existenz schicksalhaft-augenblicklich für sie in der entschlossenen Wiederholung offen ist 2 2 ." A n das Besorgte vielgeschäftig sich verlierend, verliert der Unentschlos^ sene an es seine Zeit. Daher denn die für ihn charakteristische Rede: „Ich habe keine Zeit". So wie der uneigentlich lebende Mensch ständig Zeit verliert und nie solche „ h a t " , so bleibt es die Auszeichnung der Eigentlichkeit, daß sie in der Entschlossenheit nie Zeit verliert und „immer Zeit hat". Solchem Insein ist die schicksalhaft ganze Erstreckung des eigenen Seins gegenwärtig. Ihr D a ist als geschichtliche Situation in ihrer Einzigkeit, in ihrer wiederholenden Unwiederholbarkeit offenkundig. Solches Insein hat daher ständig Zeit für das, was die Situation verlangt 25 . Jeder, der sich schon einmal und dann immer von neuem auf seine Menschlichkeit besonnen hat, w i r d den bisher vorgetragenen Analysen seine Zustimmung nicht versagen. Heidegger ist bei ihnen bekanntlich nicht stehengeblieben. Er konnte bei ihnen nicht stehenbleiben, wenn er sie noch einmal durchdachte. Denn da ergibt sich manches Merkwürdige. 1. Die A n a l y t i k des In-der-Welt-Seins stellt den ersten Versuch einer detheologisierten Phänomenologie der Menschlichkeit dar. Nicht im H o r i zont einer Theologie und auch nicht durch ihre „Säkularisation", ihre Übersetzung in Innerweltliches unter Ausmerzung des Unpassenden, w i r d in dieser Phänomenologie Menschlichkeit durchsichtig, sondern durch einen Ansatz an Phänomenen, für welchen Theologie selbst höch22 23
a. a. O. S. 391 f. a. a. O. S. 410.
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stens ein Phänomen oder einen phänomenalen Zug am Menschen ausmachen kann. W i r bewegen uns noch vor der theologischen Metaphysik. Menschlichkeit w i r d als In-der-Welt-Sein aufgewiesen. Es ist sein eigenes Worumwillen. I n der Welt sein zu müssen und zu können, das ist dem Menschen erschlossen. Diese Erschlossenheit läßt ihn überhaupt erst menschlich in Welt in Erscheinung treten und handeln. Immer geht es darum, sich aus der Erschlossenheit eines umgreifenden Ganzen Platz und Dauer, Herkunft und Zukunft, Bestand und Sicherheit, Gewinn und Fortkommen zu gewährleisten. Menschlichkeit nennt diese Unverborgenheit des Seins als In-der-WeltSein, in dessen Licht sich der Mensch selbst als Seiendes unter Seiendem offenkundig ist und in dem er zu wohnen und zu bleiben trachtet. Menschlichkeit muß durch diese „Intentionalität" gekennzeichnet werden. Diese besagt nicht, ein Subjekt habe es immer mit Objekten zu tun, menschliches Bewußtsein sei immer Bewußtsein v o n . . . , sondern es w i r d vielmehr klargestellt, daß durch seine Menschlichkeit, durch die vorgängige Erschlossenheit, in der Welt zu sein und sein zu müssen, der Mensch immer auf ein Heimischwerden in der Welt und zunächst in der Heimat aus ist. Zu sein erschließt sich also zunächst auf seine Weltlichkeit und Zeitlichkeit, als Gabe und Aufgabe, in seiner Endlichkeit und Geschichtlichkeit. Die Religion entspringt sicher auch der Erschlossenheit des Seins als In-der-Welt-Sein. Auch sie argumentiert in ihren Theologien mit Sein und Zeit, mit Endlichkeit und Tod. Aber sie gewährleistet zu sein gerade dadurch, daß sie der Welt entzieht, daß sie Menschlichkeit der Weltlichkeit und Zeitlichkeit entfremdet. Nach jenen Theologien ist der Mensch nicht in der Welt beheimatet — das In-der-Welt-Sein umschließt nicht seine Menschlichkeit —, sondern in einem Jenseits der Welt, mag dies nun als Reich Gottes oder als Nirwana, mag es als Paradies oder Walhalla gedacht bzw. vorgestellt sein. Gerade die urtümlicheren Vorstellungen zeigen die große Nähe zum Ursprung, nämlich dem In-der-Welt-Sein und seiner Ausgelegtheit auf Innerweltliches. I m Paradies oder in Walhalla, im Jenseits leben w i r so wie in der Welt weiter, mit Waffen und Dienern, mit Jagd und Gesang, mit Genüssen aller A r t . N u r Bedrängnis und Zwang, Angst und Sorge um das Sein sind uns abgenommen. Das primäre Inder-Welt-Sein w i r d das zu Uberwindende, die Welt der große Ubergang oder die Prüfung für die Ewigkeit, der Tod das Tor zur Eigentlichkeit.
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Das alles kann unter Menschen nur denkbar und verständlich werden, wenn jenes In-der-Welt-Sein als das die Menschlichkeit Auszeichnende vorausgesetzt wird, und zwar in jener Uneigentlichkeit, in der sich ein Seiendes, auf Grund des In-der-Welt-Seins, um das je eigene Sein — von Seiendem her — ängstigt und sorgt. Der Grundgedanke der Eigentlichkeit besteht also darin zu fragen: Was ist zu tun und was muß geschehen, um in Wahrheit in der Welt zu sein? M i t anderen Worten: um dieses In-der-Welt-Sein zu erfüllen, ihm gerecht zu werden, ihm sich nicht zu entziehen und nicht auf einen Ersatz aus zu sein, worauf kommt es dabei an, was ist dem Menschen damit aufgegeben? Wie kann das In-der-Welt-Sein sich zu eigen werden als ein Sein in der Welt, in welchem Welt und Zeit ernst, nämlich als sie selbst genommen werden, also nicht zur Nichtigkeit verurteilt sind? Die von Heidegger umschriebene Eigentlichkeit möchte auf diese Fragen eine A n t w o r t geben. 2. Es stecken Rätsel in dem durchlaufenen Gedankengang. Wenn Menschlichkeit durch jenes In-der-Welt-Sein gekennzeichnet wird, durch jene „Sorge-Struktur" und die „Grundbefindlichkeit der Angst", dann ist es doch erstaunlich, daß w i r Menschen uns all dessen kaum bewußt sind, ja daß es uns fremd und unverständlich klingt, sosehr uns jene Analysen recht Alltägliches immer wieder durchsichtig werden lassen. W i r reden im Alltag nicht so; unsere Sprache läßt sich selbst durch ihre Subjekt-Prädikat-Relation, durch ihre Verbal- und Copula-Konstruktionen kennzeichnen. Sie macht es schwierig, anders zu denken. Unsere Philosophie, unsere Metaphysik denken ebenfalls weithin nicht so, wie es in jener Phänomenologie geschieht. Metaphysik geht vom Seienden in seinem Sein aus, von Substanz und Akzidenz, von Ding und Eigenschaft, von Subjekt und Objekt, wobei sie schlicht die Wahrnehmungssituation des Menschen voraussetzt, die umgrenzte Gestalten sich gegenüber wahrnehmen, gewisser Zustände innewerden und Widerstände erfahren läßt. Erst die Transzendentalphilosophie bedeutet in diesem Zusammenhang einen Vorstoß in die umgekehrte Richtung auf das hin, was da vorauszusetzen ist; diese Philosophie wurde deshalb auch sehr schwierig, und der gesunde Menschenverstand wehrt sich gegen sie. N u n ist es gerade das Neue des mit Heidegger aufkommenden Nachdenkens, jener Abwehr und jenem Selbstverständnis, damit auch ihrer Metaphysik und schließlich jener Transzendentalphilosophie noch einmal nachzugehen und auf ihre Ursprünge zu kommen, vielleicht auch auf ihre
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Sprünge und Schliche. Der Gedankengang muß dann allerdings immer wieder bei jenem Selbstverständnis anlangen, nun aber in der Durchsichtigkeit seines Zustandekommens. Das gelingt für das alltägliche Selbstverständnis und seine Metaphysik weitgehend schon in Heideggers erstem großem Werk. Der gesamte bis dahin erörterte Fragenkreis beginnt aber noch einmal zu kreisen, wenn w i r nach dem durch das In-der-Welt-Sein erschlossenen Sein fragen. Ja, die ganze Problematik wirft sich noch einmal auf, wenn w i r nach uns als den Nachdenkenden fragen, nach dem Philosophen, der all solches bedenkt, in Frage stellt, darstellt, aussagt. M i t anderen Worten, das Denken selbst w i r d Problem und bleibt zu bedenken, in dem jenes Inder-Welt-Sein sich aus seiner Unbedachtheit, Verborgenheit und Vergessenheit vor sich selbst bringt, sich selbst klar wird, sich selbst nachdenkt. Das alles erweist doch wohl eins: In-der-Welt-Sein hat selbst eine Geschichte und ist heute an einen Punkt gelangt, an dem es seiner in neuer Weise ansichtig wird, aber auch seiner eingedenk bleiben möchte. Sonst brauchte es gar nicht ausgesprochen zu werden, sonst wäre es „Privatsache". Denken und Sein umschreiben die neuen Themata, die nicht länger zu umgehen und zu verschweigen sind. Jenes In-der-Welt-Sein umschließt nun schon beide: Denken und Sein. Denn es war ja mit dieser Aussage nicht die simple Feststellung gemeint, daß der Mensch, etwa als animal rationale, in der Welt ist, vorhanden und zu beobachten ist. Sondern dies w i r d ja erst durch das In-der-WeltSein, nämlich als Erschlossenheit, möglich. N u r ein Wesen, dem Sein und Welt erschlossen sind, kann sich selbst unter Seiendem und im Unterschied zu unterschiedlichem Seienden als dies oder jenes feststellen, erkennen und einordnen. Denken muß also jener Erschlossenheit angehören, nicht der Welt und auch nicht dem Sein. Das In-der-Welt-Sein charakterisiert Denken von der Erschlossenheit her. Der Mensch ist also sehr wohl das denkende Wesen; nur heißt das jetzt nicht, w i r stellen uns als Lebewesen in dem Ganzen, genannt Welt, fest und entdecken an uns eine Fähigkeit oder Ausstattung, genannt Denken. Vielmehr bleibt jenes Erkennen und Definieren eine Folge jener Erschlossenheit, ist von ihr gewährt und in sie einbehalten.
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Nicht w i r bringen uns jene Erschlossenheit bei oder machen uns daran, auch einmal zu denken; vielmehr werden w i r unser als Menschen in ihr ansichtig und werden von solchem Denken allererst aufgebracht. Das alles ist nicht Leistung eines Lebewesens, sondern seine Sichtbarkeit als Lebewesen, seine Einordnung in ein Ganzes entstammt einem Denken, das als Erschlossenheit, in der Welt zu sein, eintritt, sich ereignet, Ereignis wird. Damit w i r d diesem Denken sehr viel anheimgestellt, nämlich das In-der-Welt-Sein schlechthin mit seinen „Komponenten": Sein, Insein, Welt. Umgekehrt ist solches Denken selbst nur, wenn es die Erschlossenheit, die Erhellung des Inseins in Welt ausmacht. Es denkt nicht sich — was sollte das besagen? — , sondern es enthüllt, in einem Ganzen zu sein. Es bringt also wiederum nicht Sein und Welt auf, auch nicht das Insein und das Inseiende; es erhellt sie nur. Es ist als ihre Helle, als ihr Licht, so daß sie als Sein, Welt, Inseiendes unverborgen sind und nicht im Dunkel bleiben. So tritt der Mensch ans Licht der Welt. I n diesem „ I s t " des Denkens liegt für Sein und Welt ihr ureigenes „Sein". N u r wenn Denken sich ereignet, kommt Sein in die Erhellung. I n der Welt aber kommt gerade nicht Sein zum Vorschein im Licht des Denkens, sondern Seiendes in Unterschied und Gemeinsamkeit, in Untergang und Jeweiligkeit. Damit werden w i r auf einen weiteren Zusammenhang aufmerksam. U m Seiendes als seiend zu erschließen, muß immer schon Sein gedacht sein. Aber solches Denken umschließt zugleich die Erschlossenheit eines Ganzen, der Welt. Denken enthüllt Seiendes im Ganzen. Ohne den Zusammenhang des Ganzen bliebe es unsagbar, unnennbar, bloß wahrnehmbare Gestalt, aber auch als Gestalt wäre es nicht zu sichten. Durch solches Nachdenken werden uns also Denken und Sein in ihrer Vorgängigkeit und Gegenseitigkeit klar. Sagen w i r besser: W i r kommen ins klare über Denken und Sein. Auch hier bringen w i r nicht diese Klarheit auf, sondern w i r gelangen in sie. Das ändert nichts daran, daß uns vieles unklar bleibt oder wird, neue Fragen sich aufdrängen und A n t w o r t schwer wird. Es ist doch sonderbar, daß w i r einsehen: Das Denken des Seins macht es erst möglich, uns selbst und anderes als seiend auszusprechen und anzugehen; Welt macht es erst möglich, Seiendes zu unterscheiden, zu beschreiben, zu behandeln. Dieses Denken des Seins entzieht sich aber darin gerade wieder in eine Verborgenheit, die es uns immer schon hat vergessen lassen; w i r sind bei Seiendem, gehen mit ihm um, besorgen
1. D i e Wendung der pädagogischen Fragestellung
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und umsorgen es, w i r sorgen uns um uns selbst als Seiende unter Seiendem im Ganzen. Solches Denken des Seins verweist also immer schon an Seiendes und ruft uns selbst als sorgendes In-der-Welt-Sein hervor. Dadurch geraten w i r in eine neue Aporie. Beim Bedenken des In-derWelt-Seins hatten sich in ihm die Modifikationen der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit herausgestellt. Die Eigentlichkeit zeigte sich in der entschlossenen Übernahme des In-der-Welt-Seins als endliches Sein zum Tod und dem Rückwurf auf das eigene Seinkönnen. Die Zeitlichkeit dieser Entschlossenheit erwies sich als der Augenblick in seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit, in seiner Geschichtlichkeit. Die Erschlossenheit, in der Welt zu sein, ist uns gewährt; w i r finden uns schon immer in Welt bei Seiendem. Die Eigentlichkeit sollte in einem „Selbstsein" des In-der-Welt-Seins liegen. Damit erhebt sich die Frage, was nach unserem bisherigen Gedankengang „Selbstsein" besagt. Daß ich bin und zu sein habe — diese „Faktizität" ist keine nachträglich und von außen getroffene Feststellung, sondern erschließt sich in der Befindlichkeit 24 . Die Erschlossenheit des Inseins bringt zugleich das Verstehen mit sich, dem es um das Insein selbst geht. Das Verstehen v o n . . . überschreitet sich zu einem Sich-Verstehen a u f . . . So bewegt sich all unser Besorgen und Beschaffen, unser Reden und Handeln in der Vorwegnahme von Welt als Bereich der Erschlossenheit und damit als Feld des Menschenmöglichen. N u r in solchem vorgängig umgreifenden Entwurf von Möglichkeit überhaupt kann der einzelne Mensch nun planen, wählen, auf etwas aus sein und um etwas herumkommen 25 . Durch diesen Entwurf schlechthin lernen w i r nicht nur etwas als etwas verstehen und aussagen, sondern viel eher uns auf etwas als unsere Möglichkeit verstehen. Daß dieser Entwurf sich bei seinem sachhaltigen Entwerfen der jeweils eigenen Möglichkeit durch die geschichtliche Vorbestimmtheit seines Inseins eingeschränkt sieht, war uns schon deutlich geworden. I n all dem Gesagten ist nicht die Rede von irgendwelchen „Vermögen" des Menschen. Der Mensch, wie auch immer er sich in Welt umschreiben und von Welt her bestimmen mag, schafft weder die Erschlossenheit noch die Welt als Möglichkeit überhaupt noch die ihm zugänglichen Möglichkeiten, also auch nicht jenen Entwurf, der die Welt als den erschlossenen, 24 Vgl. Friedrich Wilhelm v. Herrmann: Die Selbstinterpretation Martin Heideggers. Meisenheim/Glan 1964. S. 69. 25 a. a. O. S. 72.
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zu erschließenden Bereich von Möglichkeit überhaupt vorausgibt und von dem her die jeweils individuelle Aufgabe entschlossen übernommen werden kann. Vom Denken her w i r d diese Menschlichkeit gewährt und der Mensch als Mensch ins Leben gerufen. Denken gehört aber dem Sein zu als dessen Klarheit und Wahrheit. Also besagt Menschlichkeit, vom Sein her in dessen Wahrheit enthoben zu sein, so aber, daß darin, im Licht des Denkens, das Seiende als seiend und als das, was es ist, erscheinen kann 2 8 . Denn das, was w i r als Möglichkeit überhaupt bisher dachten, ist die Welt als die unendliche Ermöglichung der Unverborgenheit des Seienden als solchen. Denken w i r jetzt vom Sein her und nicht mehr von unserem sich um sich selbst sorgenden Insein, dann ist die Welt nicht mehr erschlossen als das Feld des Menschenmöglichen, auf dem ein jeder aus seiner geschichtlichen Situation heraus sich das ihm Mögliche zugänglich und zu eigen macht, sondern als ein Ganzes, in dem Seiendes als es selbst ans Licht der Welt treten kann. Was immer ich als meine Möglichkeit ansehe und mir vornehme, darf gerade nicht als mein Eigentum und meine verfügbare Habe behauptet werden; vielmehr bin ich nur Mensch dank jener aus der Einheit von Sein und Denken entspringenden Menschlichkeit. I h r bleibe ich nur treu, wenn ich jenes Denken walten lasse, nämlich alles und jedes in seine Wahrheit, in seine Unverborgenheit und Unentstelltheit eintreten zu lassen, d. h. sein zu lassen. Anders gesagt, des Menschen eigentliche Sorge muß darin bestehen, ein jedes in Welt es selbst sein zu lassen, die Welt aber als den Bereich überhaupt, der solche unverhüllte und unverstellte Anwesenheit und Weile von allem und jedem ermöglicht. I n diese Sorge um das Sein in jedem Seienden w i r d der Mensch seit eh und je durch das Denken gestellt, seit es ihn seiner Animalität entzog. Die Verkehrung liegt darin, daß er sich selbst als Seiendes in die Sorge nimmt, sofern es ihm um sein Insein in Welt geht. Menschlichkeit zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, daß sie das Insein in der Sorge um das Sein der Sachen, Wesen und Mitmenschen aufgehen läßt. Dies umschließt die Eigentlichkeit des Inseins. Die Sorge-Struktur des Alltags schlägt um in die Sorge um das Sein in jedem Seienden, das damit dem Denkenden zur Aufgabe gemacht wird. U n d nur so denkt der Mensch, wenn er sich vom Denken des Seins in Anspruch nehmen und sich von ihm her in seinen Aufgabenbereich einweisen läßt. Der alte Terminus der „Berufung" umschreibt dieses 2
a. a. O. S.
.
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Ereignis, in welchem ein Mensch seiner Menschlichkeit zugeeignet wird, sie also nicht mehr mißbraucht als Mittel, sich selbst als Seiendes in Welt sein zu lassen. I n diesem Mißbrauch erscheint Denken als Intelligenz, die es dem einzelnen in verschiedenem Ausmaß möglich macht, sich in die Welt einzupassen und in ihr durchzusetzen. Erziehung lehrt dann den werdenden Menschen, sich auf das In-der-Welt-Sein durch intelligente Orientierung und geschickte Anpassung zu verstehen. Die Wendung liegt also darin, die Menschlichkeit nicht mehr in den Dienst des Menschen zu stellen, sondern ihn von sich weg zur Menschlichkeit zu führen. Man darf nicht sagen, ihn in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen, denn so würde diese wie eine herrschende Instanz erscheinen. Der Mensch bleibt nicht mehr ein auf sich insistierendes Wesen, dessen Insistenz als Eigenwille nur zugunsten eines übergeordneten W i l lens gebrochen würde, sondern w i r d gewandelt zum Sprecher und Vollbringer des Seins in jedem, mit dem er es schicksalhaft zu tun bekommt. Es ist nun nicht so, daß diese Menschlichkeit im Sinne der Selbstlosigkeit und reinen Verantwortlichkeit noch niemals zum Durchbruch gekommen wäre. Die Menschen wissen sehr wohl um die Uberwindung der anfänglichen Verkehrung. Nächstenliebe kann hier ebenso genannt werden wie die moderne Sorge um eine der Menschheit gerecht werdende Weltordnung, die der Selbstsucht und Dummheit steuert. Die großen Selbstlosen haben vielleicht bis auf den heutigen Tag dafür gesorgt, daß die Menschheit nicht an ihrer Verkehrung zugrunde gegangen ist. Jede Mutter und jeder Vater, die dies in Wahrheit sind, können als Beispiele für die tragende und bewahrende Selbstlosigkeit angeführt werden. Aber die Geschichte lehrt uns auch die großen und die zahllosen kleinen Beispiele des Gegenteils. Kehren w i r zu unserem Gedankengang zurück! Bei der Sorge um das Sein in jedem Seienden stellt sich heraus, daß jenes gewährte Denken weder unmittelbar noch fraglos zu denken gibt, was „zu sein" heißt; das Seiende selbst ist in ihm nicht etwa mit einem Schlag auf eine Ordnung hin enthüllt, die jedem seinen Platz im Ganzen einräumte und seinen „Zeitraum" gewährleistete. Der Tod taucht in solchem Denken wiederum auf als die unabsehbare, unüberschreitbare Verdunkelung des Ganzen, wie die gegenseitige Vernichtung und die Selbstzerstörung des Seienden immer wieder zu fragen zwingt, was „Sein" heißt. W i r meinen an dieser Stelle nicht so sehr menschlichen Widerstreit, Krieg und Mord, sondern viel eher die zerstörende Unordnung des Natürlichen, 15 Ballaoff
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die Gewalt von W i n d und Wasser, von Hitze und Kälte, die gegenseitige Vernichtung der Lebewesen, in der nicht nur eins den Tod des anderen lebt, sondern eins den Tod des anderen mit sich bringt, von den Bazillen und Bakterien angefangen. Von einem „biotischen Gleichgewicht" ist da gar keine Rede. Ich erinnere an Pest und Karzinom, an den Untergang ganzer Faunen durch die eigene Monstrosität. Denken hat es an sich, in eins zu enthüllen und zu verhüllen; und zwar in mehrfacher Hinsicht. 1. Denken, in dem Sein und Zeit erschlossen sind, macht zwar Seiendes als seiend offenkundig, Seiendes ist aber nicht „Sein". Das Haus und der H u n d sind zwar, aber weder erschöpfen sie „Sein" noch sind sie mit ihm zu identifizieren. Sie treten i m Licht seines Gedankens als seiend zutage. Wenn es vordem hieß, in der Verfallenheit gehen w i r im Besorgen von Seiendem auf und vergessen Denken und Sein, so müssen w i r nun sagen, in solcher Erhellung des Seienden — im Licht des Seinsgedankens — verbirgt sich Sein wiederum in Seiendem. Es läßt dies zwar hervortreten und ermöglicht den Umgang mit ihm als Seiendem in Vorsorge und Fürsorge; es verschwindet aber selbst in solcher Offenkundigkeit. W i r werden deshalb so erstaunt und verständnislos, wenn von „Sein" die Rede aufkommt und nicht von Seiendem gesprochen wird. 2. So verbirgt sich Sein durch immer anderes Seiendes in seiner Mannigfaltigkeit und Fülle hinter dem unendlichen Verweisungs- und Bewandtniszusammenhang des Ganzen, den w i r Welt nennen. Welt als die Entbergung des Seienden macht die Verbergung des Seins aus und läßt das Denken des Seins als ihren Ursprung vergessen. Welt läßt Sein als Seiendes erscheinen. 3. Schließlich bleibt Sein verborgen hinter Tod und Verneinung, in Untergang und Nichtsein, in Zerstörung und Vernichtung. U n d trotzdem bleibt das Denken des Seins in all dem „lebendig", denn sonst könnten Tod und Verneinung nicht als sie selbst in ihrer Negativität erfahren werden. I n allem In-der-Welt-Sein waltet dieser Unterschied zwischen Sein und Seiendem. N u r in der Erschlossenheit von jenem w i r d dieses erschlossen, erschließbar, auffindbar und entdeckbar. Verfallen besagt nun: Vergessen der Wahrheit des Seins zugunsten des Andrangs des im Wesen unbedachten Seienden27. Ja, w i r müssen sogar 27
a. a. O. S. 100.
1. Die Wendung der pädagogischen Fragestellung
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sagen: Nicht nur die Wahrheit des Seins bleibt vergessen, sondern diese Vergessenheit und die darin beschlossene Verborgenheit des Seins bleiben selbst verborgen. Es verbirgt sich nicht nur Sein, wenn in seinem Licht — als Denken — Seiendes offenkundig wird, sofern Sein kein Seiendes ausmacht; es bleibt auch dieser Unterschied und das Entbergen des Seienden durch das Denken des Seins verborgen und vergessen, weil immer wieder Seiendes mit Hilfe von anderem Seienden vorgestellt wird. I m alltäglichen Vorstellen und in der Metaphysik sind wir, so könnte man sagen, über jenen Unterschied von Sein und Seiendem und jene Verborgenheit in all ihren Weisen schon hinaus; w i r haben sie übersprungen, obwohl unser Denken in all seinen Worten, Werken und Taten in jenem Licht vor sich geht und zunächst unter dem Worumwillen des Inseins steht. So denken w i r und denken doch nicht. W i r sind uns des Seins gewiß mit H i l f e des Seienden und suchen es uns verfügbar zu machen durch die Herstellung des Seienden. Dahinter steht also immer noch das ursprüngliche Denken des Seins, ohne welches w i r nie auf den Gedanken gekommen wären, Wirtschaft und Technik, Staat und Versicherungswesen einzurichten und zu betreiben; aber zugleich schwebt über all dem die Verstellung des eigentlichen Inseins, der Menschlichkeit in Wahrheit, in der Vergessenheit der Fragwürdigkeit des Seins. M i t anderen Worten, unbedenklich nutzen w i r alles, was ist und uns vorkommt, als Mittel der menschlichen Daseinsfristung, der Ermächtigung über alles aus und sehen Wissen und Wissenschaft als M i t t e l und Medium der Technik an, die daher primär als die große menschliche Möglichkeit entworfen ist, in der Welt zu sein in dem Sinne, sie zu beherrschen, der Umwelt wie der M i t welt Herr zu werden. Jene Metaphysik erwächst aus der Seinsvergessenheit, indem sie immer wieder Sein durch Seiendes zu ersetzen, einzufangen und begreifbar zu machen sucht. Auch in ihr waltet der genannte Unterschied, so aber, daß er zugunsten des Seienden verkehrt wird. Daher geht sie von Seiendem aus, dessen Offenkundigkeit sie als Wahrnehmung umschreibt, und zwar für ein Subjekt, das wiederum als Seiendes angesetzt wird. Dieses eignet sich dann das Sein des Seienden in Vorstellung und Begriff an. Entweder erscheint Sein als Sosein, Essenz oder als Bestimmungen, die von Seiendem abstrahiert oder vorgängig an einem überhimmlischen O r t erschaut werden, aber wiederum gerade als Seiendes, als Ideen, als Gedanken eines zuhöchst Seienden. Die seienden Ideen werden als das schlechthin Enthüllte gedacht, das in seinem 15
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eigenen Licht wahr, d. h. unverborgen und unverstellt von Ewigkeit zu Ewigkeit ist. Dann erhebt sich allerdings von neuem die Frage nach diesem „ I s t " , und die metaphysische A n t w o r t auf die Frage nach dem Sein des Seienden erweist sich als keine Antwort, sondern als ein Überspringen der Frage, so daß sie am Ende des metaphysischen Gedankengangs wieder unverändert zutage tritt. So bleibt der Gedanke des Seins der geheime Ursprung und Antrieb der Metaphysik und doch zugleich durch sie verborgen. W i r Menschen leben daher immer zunächst und zumeist in der Irre — wie Heidegger sagt 28 — . W i r vermeinen am enthüllten Seienden die Wahrheit, die Unverborgenheit des Seins zu haben. W i r insistieren, w i r bestehen auf der Entdeckung und Offenkundigkeit von Dingen, Wesen und Menschen als der uns erreichbaren und verfügbaren Wahrheit und wehren uns gegen eine erneute Infragestellung. Solches Verfügen und Verfügbarmachen von Beständigem nennen w i r Wahrnehmen und Denken, Erkennen und Wissen und sehen unser Bestehen in Welt durch Technik bestätigt. Die Fragen nach Sein und Zeit, nach Sein und Seiendem, nach Tod und Verneinung haben sich uns entzogen, sind ins Fraglose entschwunden. I n solchem Denken insistieren w i r auf uns selbst und setzen uns in unsere Subjektivität ein 29 . W i r nehmen uns selbst — mittels des Denkens — als jeweils Seiendes wahr, von dem Denken und Handeln auszugehen scheinen und das durch diese beiden sein Leben in der Welt zu bestimmen vermag. W i r verweigern uns damit der absoluten Infragestellung durch die Frage nach dieser Subjektivität und ihrer Herkunft. W i r lassen nicht nur das Denken des Seins auf sich beruhen; w i r leben vielmehr geradezu aus der Vergessenheit der vielfachen Verborgenheit des Seins — und doch gehen w i r ständig von jenem entbergenden Denken des Seins aus und gehen mit der Offenkundigkeit des Seienden ebenso fraglos um wie mit dem offenkundigen Seienden. Die Frage nach der Möglichkeit des Inder-Welt-Seins und damit nach seiner Ursprünglichkeit kommt gar nicht mehr auf. Das Geheimnis des Seins, in Gestalt von Seiendem zugleich enthüllt und verborgen zu werden, weicht der Habe des entdeckten, wahrgenommenen, hergestellten Seienden in seiner Greifbarkeit und Vorhandenheit, in seiner Berechenbarkeit und Herstellbarkeit. Die schlichte Aufgabe, die mit dem Titel „Denken des Seins" umschrieben 28 20
a.a.O. S. 119. a. a. O. S. 122.
1. Die Wendung der pädagogischen Fragestellung
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wird, nämlich ein jedes Seiende daraufhin zu bedenken, wieweit ihm zuteil wurde, in angemessener Weise da zu sein, immer wieder sich in Anspruch nehmen zu lassen von solchen Fragen und sich ihrer Verantwortung nicht zu entziehen — diese Aufgabe bleibt hinter unserer Subjektivität verhüllt, hinter unserem primären In-der-Welt-Sein in seiner Verfallenheit und Selbstverborgenheit. Von diesem Gedanken aus läßt sich die Entschlossenheit noch einmal bedenken. Sie besagt nun, von sich in der alltäglichen Verfallenheit und Verlorenheit an die Mannigfaltigkeit des Seienden zu lassen und sich dem Denken zu überlassen im Wissen um sein enthüllendes Verbergen. Solches Denken hält es in sich und damit in der Fragwürdigkeit des Seins aus. N u r dann ist der Mensch „er selbst", wenn er dieses „Selbst" nicht als ein Seiendes, als „sein Selbst" im Sinne von Substanz und Subjekt zu gewinnen sucht, sondern wenn er ganz in dem Ereignis, die Wahrheit zu sagen, sie ins Werk zu setzen und zu tun, aufgeht. Das „Aufgehen bei . . . " der Verfallenheit und Verlorenheit kehrt scheinbar wieder, in Wahrheit aber vielmehr in seiner Eigentlichkeit. Ging es in jenem ersten „Aufgehen bei . . . " darum, das Insein als Seiendes in Welt, also als Mensch, durch das Besorgen und Beschaffen von offenkundigem Seienden zu gewährleisten, so geht es nun darum, das „Insein" von Seiendem in der Wahrheit zu gewährleisten. Solche Zugehörigkeit zur Wahrheit kann dann niemals des Seins absolut versichern, sondern nennt die Wahrheit als geschichtliche Aufgabe, Sein in Seiendem zu entbergen, und doch seiner damit eintretenden Verborgenheit eingedenk zu bleiben. Sein w i r d durch solches Denken ebensowenig verfügbar, wie es auch nicht als das große X hinter allem unerreichbar verborgen steht. Jedes Wort, jede Tat können Seiendes sein lassen, aber immer so, daß es darin der Fragwürdigkeit des Seins einbehalten bleibt. Diese Aufgegebenheit einer nicht aufzuhebenden Verantwortlichkeit umschließt und erschließt die Zukunft dieses Denkens, seinen Forschritt. Es ist immer wieder zu betonen: Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit unterscheiden sich nicht dadurch, daß ein Mensch in jener etwas anderes täte als in dieser; er tut nur alles anders als in dieser, wenn w i r es einmal etwas salopp ausdrücken dürfen. Es handelt sich ja um Denken, nicht um Dinge. Es ist eine „Revolution der Denkungsart", von der z.B. K a n t spricht, nun aber nicht mehr als eine völlige Umkehrung der Gesinnung, sondern als ein Denken, das nicht „meine" Gesinnung w i r d und so wieder mir unterstellt wäre, sondern das ich werde als sein Denker in der Befrei-
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ung von „meiner" Subjektivität zur unvertretbaren, unaufhebbaren Verantwortlichkeit der Wahrheit des Seins. Ein dem Denken anvertrauter Mensch schafft und w i r k t wie alle anderen, nur auf seine Weise. Auch er paßt sich an und leistet Widerstand, aber nicht mehr aus einem Gedankengang, der dem je eigenen Insein hörig bleibt. Vor allem w i r d er nicht auf der einmal erreichten Erschlossenheit und Offenkundigkeit von Seiendem beharren, sondern sich ständig in den Fortschritt der erneuten Infragestellung ziehen lassen. Die Ungesichertheit des Denkens muß er aushalten 30 . Die von Heidegger erreichte Durchdachtheit der Menschlichkeit hebt sich eindeutig von den überlieferten Konzeptionen und Definitionen ab. Schon dies, daß hier von Menschlichkeit die Rede ist, nicht vom Menschen, daß vom Sein her gedacht wird, nicht von einem Seienden, bedeutet die entscheidende Wendung. Der so sichtbar werdende Mensch in seiner Menschlichkeit ist aber ebenfalls von seinen bisherigen Kennzeichnungen abzuheben. Der Mensch erscheint nicht als imago Dei. Denn in dem durchlaufenen Gedankengang kann von Gott gar nicht die Rede sein, auch nicht im Sinne des Deus absconditus. Wenn von „Sein" die Rede ist, dann zielt diese auf Sein im Unterschied zu Seiendem oder auf den Infinitiv „sein". Dem Sein gehört Denken als seine verhüllende Erschlossenheit zu. Unsere Frage, was „sein" besagt, bleibt das unaufhebbare Kennzeichen des Denkens; nur wo „Sein" in Frage steht, w i r d gedacht. „Sein" nennt keine Instanz im Sinne von Schöpfer oder Geber aller Gaben. W i r reden hier nicht in gottloser Weise von Gott. Der Mensch erscheint demnach auch nicht als larva Dei. Er ist nicht Maske und Verhüllung des unbekannten Gottes, so wie alle Dinge und Geschehnisse das verborgene Angesicht Gottes sind; Tag für Tag t r i t t — nach Luther — Gott m i t neuem Angesicht hervor, indem er sich hinter immer gewandelter Maske verbirgt. Der Mensch w i r d auch nicht Medium und Instrument des Seins, nicht sein Funktionär oder sein Diener. Das würde aus „Sein" wiederum eine 80
Zu Heidegger vgl. außer den genannten Werken: Werner Marx: Heidegger und die Tradition. Stuttgart 1961; Otto Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers. Pfullingen 1963; Walter Schulz a. a. O.; Fridolin Wiplinger: Wahrheit und Geschichtlichkeit. Freiburg/München 1961; vor allem KarlHeinz Volkmann-Schluck: Einführung in das philosophische Denken. Frankfurt 1965; Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. 2. Aufl. Tübingen 1965.
1. Die Wendung der pädagogischen Fragestellung
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seiende Instanz machen, die im Denken als Dirigent und Instrukteur auftauchte. Sein würde als Herr seiner Diener erscheinen, die seinen Anweisungen zu folgen hätten. So aber würde das Geheimnis der Fragwürdigkeit des Denkens in sich selbst und seiner unermeßlichen Verantwortlichkeit zugunsten von endgültiger Anweisung und offenbarem Gesetz aufgegeben. W i r haben es hier also auch nicht mit der Anthropologie des späten Fichte zu tun. Der Mensch erscheint ebenfalls nicht als der Mitstreiter Gottes, wie etwa in Schelerschen Gedankengängen der Mensch als Mitstreiter auftritt, der Gott zu sich selbst verhilft, indem er für ihn, natürlich auch wider ihn, streiten kann. Die Welt w i r d zum Kriegsschauplatz des werdenden Gottes. — Auch die Konzeption des Zoroastrismus ist damit ausgeschlossen. Nicht als Schauspieler erscheint der Mensch auf der Weltbühne, der seine ihm von Gott zugedachte Rolle mit mehr oder minder Geschick spielt bzw. sein Leben verspielt. I n all dem wäre der Mensch als Subjekt vorausgesetzt, der als Akteur eingesetzt wird. Er erscheint auch nicht als Marionette, die ohnmächtig in den Händen Gottes oder des Schicksals vor eben diesen Instanzen nur scheinbar den selbständigen Operateur abgäbe. Der Mensch ist nicht der stoische Weise, der sich sein bißchen Freiheit dadurch bewahrt, daß er dem im übrigen völlig unabänderlichen Weltenlauf zustimmend oder ablehnend gegenübertreten könnte. Nicht als Person ist er anzusehen, die, in ihrer Freiheit absolut auf sich gestellt, Werte in der Welt verwirklicht, die ohne den Menschen zur I r realität, zu purer Idealität verdammt blieben. Nach dieser Lehre rufen die Werte ihn zwar zu ihrer sittlichen Verantwortung in Wort, Werk und Tat auf; es steht aber bei ihm als Person, diesem Ruf nachzukommen oder durch das Gegenteil Werte zu verwirken. — I n unserem Gedankengang ist der Mensch nicht jene auf nichts gestellte Instanz, die als causa sui, zu solcher Selbständigkeit verurteilt, unbedingt zu entscheiden hat, was ist bzw. was sein soll. Weder die Anthropologie eines Nicolai Hartmann noch die eines Jean-Paul Sartre werden übernommen. Der Mensch w i r d nicht zum Maß alles Seienden eingesetzt in dem Sinne, daß alles in dem, was und wie und warum es ist, von seinen Gnaden abhängig bleibt, ist oder nicht ist nach Maßgabe einer letzten Instanz in Welt, genannt Mensch.
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Er ist nicht das vom Seienden im Ganzen bzw. von der N a t u r ausgesetzte und freigestellte Wesen, das sich in Gestalt der Kultur und ihrer Technik erst den angemessenen Lebensraum erwirkt. Kein animal, das, mit Vernunft ausgestattet, sich zum Herrn der Welt macht! Auch Kants Copula-Theorie der Menschlichkeit kehrt in unserem Gedankengang nicht einfach wieder. Nach jener Theorie macht der Mensch das Bindeglied zwischen Gott und Welt aus. Durch den Menschen bzw. das menschliche Bewußtsein t r i t t das verborgene An-sich-Seiende in Erscheinung. Das menschliche Bewußtsein stellt diese Umwandlung dar, so jedoch daß das An-sich-Seiende selbst verborgen bleibt, sosehr es auch andererseits erscheint. Die Welt w i r d zur Maske des Seienden selbst, letztlich Gottes. Der Mensch als diese Copula zwischen Erscheinungswelt und An-sich-Seiendem spricht in jedem Urteil diese Umwandlung aus, indem er „ist" sagt. I n jeder Verbindung von Subjekt und Prädikat durch die Aussage der Copula kommt Seiendes als seiend in dieser oder jener Hinsicht zutage. I m menschlichen Denken treten dergestalt An-sichSeiendes und Erscheinung auseinander und doch zugleich in diese Gegenseitigkeit der Identität. Eins ist das andere und doch zugleich nicht. Das Seiende erscheint und verhüllt sich durch solches Erscheinen. Auch in diesem Gedankengang w i r d noch von Seiendem ausgegangen. Das „ist" waltet zwischen Ding an sich und Erscheinung. Das Bewußtsein macht zwar den O r t aus, wo sich die identifizierende und differenzierende Copula vollzieht und ausspricht, aber das „ist" bleibt unbedacht. A l l diese metaphysischen Konzeptionen werden in unserem kritischen Bedenken durch die einfache Wendung außer Kraft gesetzt, daß Menschlichkeit in Sein und Denken gewährt ist, daß aber, was mit ihnen genannt wird, nicht wiederum als Seiendes in der Welt vorausgesetzt werden darf. Denken nennt nicht den „Geist", der als Substanz sich durch sich selbst zum Subjekt wandelt und im Umweg des Außer-sich-Seins sich selbst findet. Denken geht nicht von sich aus, um dann bei sich zu sein als absoluter Geist, als das in der Idee um sich wissende Absolute. — W i r Menschen denken, nicht der Geist. Denken macht nur das Ereignis aus, daß Seiendes ist in der verborgenen Offenbarkeit des Seins. A l l unser Tun und Lassen, unser Reden und Schaffen w i r d von dieser Fragwürdigkeit in Atem gehalten, nämlich Sein in Gestalt von Seiendem in Welt eintreten und anwesen zu lassen. Nie wissen w i r absolut, ob sich dies in unseren Werken und Taten, Worten und Lehren in Wahrheit ereignet hat oder nicht.
2. Die resultierenden Grundgedanken einer neuen Pädagogik
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2. Die resultierenden Grundgedanken einer neuen Pädagogik I n einer durchdachten Pädagogik kann nicht von Mensch und Welt, Person und Sache, Ich und Welt ausgegangen werden. In-der-Welt-Sein besagt umgekehrt, daß der Mensch erst von dieser Erschlossenheit her in die Sicht kommt und sich als dieser oder jener versteht, sich distanziert und identifiziert. Die Welt bricht nicht in den Menschen wie in ein isoliertes Subjekt ein; er bringt sich nicht erst mit Welt in Verbindung oder w i r d mit ihr in Verbindung gebracht — das alles kann sich erst abspielen und einspielen, wenn schon vorgängig die Erschlossenheit des Ganzen und die in ihr mögliche Freigabe des Seienden selbst waltet. Ein Gegenüber von „Welt und Person" ist Phase des In-der-Welt-Seins, nicht Ursprung und Ausgang. Auch jede „Bewußtseinsimmanenz der Welt" bedeutet schon eine metaphysische Subreption, sofern aus dem vorgängigen In-der-Welt-Sein nachträglich das erschlossene Seiende im Ganzen einem Seienden, genannt „Bewußtsein" oder res cogitans, einverleibt wird. Das „Bewußtsein von" schlägt um zu einem „ i m Bewußtsein". Die unendliche Aufgliederung des Seienden, darunter der Mensch — als animal rationale, als animal sociale, als Person — im Ereignis des Denkens w i r d von diesem selbst als sein immanenter Besitz vereinnahmt, wenn es zum „Selbstbewußtsein" gelangt. Die Helle des Denkens, die immer die des Seienden im Ganzen ausmacht, w i r d usurpiert von dem dadurch seiner selbst bewußt werdenden Denkenden als das seinem Denken Immanente. Demgegenüber muß betont werden: N u r deshalb kann ein Mensch sachlich und mitmenschlich werden, weil das Denken ihn als Denkenden schon in den offenen H o r i zont der Sachlichkeit und Mitmenschlichkeit gezogen hat, weil schon nichtmenschliches und mitmenschliches Seiendes auf Wahrheit hin freigestellt ist. N u r deshalb kommen w i r Menschen darauf, nach Wahrheit zu suchen. Von den Tieren hat man das noch nicht vernommen. N u r deshalb kann ich dazu gelangen, als Sachwalter und Mitmensch selbst zu sein, also in einem Horizont, in dem du und w i r gleichermaßen erschlossen sind, auf dich und mich und damit auf unsere sachlichen Aufgaben zurückzukommen. Andernfalls blieben w i r Lebewesen, die sich ausschließlich um ihren Stand und Bestand unter anderen Seienden und wie diese sorgten und ängstigten. Eine solche Pädagogik w i r d nicht umhin können, inmitten einer nur sich selbst intendierenden Gesellschaft des Wohlstands, der Sicherheit und Versicherung, der Verfügbarkeit und Planung, der Machbarkeit von allem, was als „real", als „seiend" anerkannt werden soll, auf die Unver-
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fügbarkeit und Unversicherbarkeit, auf die Unplanbarkeit hinzuweisen, und zwar nicht so sehr die der Dinge und Menschen als vielmehr die ihres Seins und unseres Denkens. Sie muß an dem Unbedachten und Bedenklichen unseres alltäglichen Inseins in Welt ansetzen. Sie hat die überlieferten Bildungslehren und ihre geschichtlichen Begründungen auf die in ihnen immer wieder durchschlagenden, wenn auch verhüllten Selbstermächtigungsintentionen des Menschen zu destruieren. Sie bringen den Menschen um sein Bestes, nämlich in selbstloser Verantwortung der Wahrheit Sprecher und Mittler aller Dinge und Wesen zu werden, um sie in die Fülle dessen, was ihnen zu sein möglich ist, durch sein Wort, sein Werk und seine Tat freizugeben. M i t anderen Worten, sie w i r d alles tun, um die Kinder und Jugendlichen zum Denken anzuhalten, und damit dem ursprünglichsten und tiefsten Gedanken der Tradition des Abendlandes allein gehorchen. Eine Folgerung aus jener Tradition w i r d für sie grundlegend: Der Mensch ist durch seine Armut ausgezeichnet. Ihm gehört gar nichts; er ist Mensch vielmehr nur in der „Nichtigkeit", durch die er das Ereignis des Denkens in Worten und Werken werden kann. Seine Armut besteht nicht darin, daß ihm dies oder jenes fehlte, was ihm dann beigebracht werden müßte, sondern in einer solchen „Nichtigkeit", in der der Mensch sich selbst entzogen bleibt, solange er sich zu haben und zu erstellen glaubt. Er geht jedoch in sie hervor, wenn er sich dem Denken überläßt ohne reflexive Usurpation zur Erlangung eines „Selbstseins" und seines „Heils". Das vom Ganzen her in der ontologischen Differenz von Sein und Seiendem aufgehende Denken läßt es zu der allein wünschenswerten Einsichtigkeit und Tüchtigkeit — zu Logos und Arete — kommen und läßt der eigenen Verkehrung zu Wille und Selbst entkommen. Der Gedanke, den w i r in unserem kritischen Bedenken bisher verfolgt haben, weist uns über die „Selbstsuche" hinaus. Der Mensch hat nicht ein „Selbst" zu suchen wie ein Seiendes, sondern ist „er selbst", wenn er sich dem Denken und der Wahrheit zugehören läßt. Diese Zugehörigkeit verschafft ihm nicht Bestimmungen oder Ausstattungen, die nun sein verfügbares Eigentum wären. Sie erhebt ihn in die Selbstlosigkeit und läßt ihn zum Anwalt des Seins von Sachen, Wesen und Mitmenschen werden. Dieses „Sein" hat er sich nicht anzueignen — als „Stoff" zur eigenen „Bildung" —, sondern es Dingen, Wesen und Mitmenschen zukommen zu lassen. Erziehung besagt die Freigabe des Menschen auf seine Menschlichkeit. Sie befreit zum Denken, sie ermöglicht Einsicht und ihre Erfüllung in
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Rede, Werk und Tat. Die Einsicht selbst und ihren Gedankengang kann Erziehung nicht „beibringen". W i r müssen uns streng an das früher Gesagte halten. Wenn jetzt von Denken die Rede ist, so steht diesem nicht etwa das Handeln oder das Fühlen gegenüber. Unter Denken ist hier nicht „Intelligenz" oder „Theorie" zu verstehen. Einsicht muß sich aussprechen, d. h. in Sprache vollziehen; wer in einer Einsicht steht, der entspricht ihr auch in Werken und Taten. Andernfalls hat man nur Kenntnisse und Fähigkeiten. Diese „besitzt" man; die Einsicht aber ergreift mich und leitet mich — wenn ich auch nicht von ihr „besessen" bin; eine solche Formulierung würde das hier Bedachte wieder verkehren. Deshalb wendet sich Erziehung gegen das Geschwätz und die gedankenlose Betriebsamkeit. Erfahrung machen w i r nur denkend; und nur im Denken erfahren wir, was es heißt, zu sein, vor allem ein Mensch zu sein. Die Befreiung zum „Denken des Seins" befreit zum wahren Wort und wahren Werk. Gemäß der Einsicht zu sagen, was ist und wie es sich verhält, und es ins Werk zu setzen, darin liegt das Freiwerden von allem selbstischen Wollen, von jedem Bemächtigen und Verfügbarmachen. Ganz dem Wort und Werk überlassen, will der Mensch nicht mehr, sondern spricht allein das Seiende auf das Sein hin aus und vollbringt es. Er hat sich als Selbst und Wille vergessen; nie aber vergißt er, des „Seins" zu gedenken, indem er einfach tut, was nötig und an der Zeit ist für die Sachen und für die Mitmenschen. M i t anderen Worten, der Inanspruchnahme durch die Wahrheit in ihrer Geschichtlichkeit, nämlich ein jedes nach dem Maß des Ganzen, dem es angehört, unverstellt in Erscheinung treten und anwesen zu lassen, muß der wollende junge Mensch ausgesetzt werden, nicht der Beanspruchung seines Willens durch Normen oder durch die „Freiheit" als Gesetz des Willens. Er braucht nicht wollen zu lernen, darin bewegt er sich schon „von selbst". Er braucht auch nicht seine Freiheit anwenden zu lernen, das hieße, ihn immer noch dem Wollen ausgeliefert sein zu lassen und ihn darin zu bestärken. Seine „Freiheit" gebrauchen zu lernen, kann nur heißen: sich ihr als Wille und Selbst, als Wahl und Entscheidung zu entziehen und schlechthin der Aufgabe nachzukommen, alles es selbst sein zu lassen in einem schlichten Wirken und Sprechen unter Dingen und Menschen. Jeder tüchtige Lehrer erwartet nichts anderes von seinen Schülern als eben dieses. Ist der Schüler ganz bei der Sache und spricht er alles, mit dem
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er es zu tun bekommt, im wesentlichen aus, vollbringt er es, so hat er gelernt, was hier erziehend zu erreichen ist. Sein Lehrer w i r d zufrieden sein. Er w i r d nicht mehr nötig haben, zu mahnen und aufzurufen. Das Sein der Sache hat den jungen Menschen gepackt und läßt ihn als Denkenden nicht mehr los. Nicht um die Sache als Bestand geht es, sondern um das, was ihr wesentlich ist, nicht darum, diese Sache herzustellen und zur Verfügung zu haben, sondern um ihren Hervorgang im Ganzen. Von da her fällt wiederum Licht auf die Grundlage der hier vorgetragenen Pädagogik. Alles als es selbst zu betrachten, ins Werk zu setzen und mitmenschlich zu handeln, besagt, ein jedes unabhängig von „Weltanschauung", vorgängiger Moral und normensetzenden Institutionen zu sehen und freizustellen, im Wissen um das jedes Ermessen umgreifende und überholende Ganze in seiner Unermeßlichkeit. N u r so besteht überhaupt die Gewähr, geschichtliche Maße für ein jedes hier und jetzt zu treffen und nicht alles in Uberzeitlichkeit erstarren zu lassen. Das Maß des Seienden ist nicht im voraus und über alles hinweg festlegbar. Diese Unvordenklichkeit führt ja gerade Geschichte herauf; aus diesem Verhältnis kommen Größe und Wagnis des Menschlichen zustande. Strenggenommen haben w i r den traditionellen Zusammenhang der Bildung durch unseren Gedankengang verlassen. Bildung besagt nicht mehr die reflexive Einheit von Gesinnung, Wissen und Können in Gestalt einer individuellen Persönlichkeit, sondern besonnene Sachlichkeit und Mitmenschlichkeit machen sie aus. Dies schließt aus, daß ein Mensch sich ein Selbst erwirbt. Bildung nennt also sehr wohl Hervorruf und Hervorgang eines Menschen, aber nicht mehr im Sinne der reflexiven Selbstgestaltung eines Seienden, sondern im Sinne des Hervorrufs als Denker und Sprecher des Seins von Seiendem, als Sachwalter und Mitmensch. Auch in diesem Zusammenhang bleiben viele Momente der klassischen Bildung erhalten. Sprachlichkeit, ein verbindliches Wissensganzes, Geschichtlichkeit und individueller Vollzug wären vor allem zu nennen. Allerdings w i r d man das, was damit gesagt ist, erneut zu durchdenken haben. Besonders ein Moment verbindet den neuen Gedanken der Bildung m i t der alten Konzeption. Das, was hier als Sinn von Sachlichkeit und Mitmenschlichkeit einsichtig wird, läuft unserem primären Selbstverständnis strikt zuwider. So gerade verhalten w i r uns nicht, gegen solches Verhalten sträuben w i r uns, bewußt oder unbewußt. Schon die Bildung im humanistischen Sinn erschwerte die Erziehung und Lebensführung des einzelnen durch die Forderung des geduldigen Hörens, Lesens und stets wachen Mitgehens, weiter durch die Forderung der Universalität so sehr,
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daß der einzelne sich überfordert fühlte und drei Jahrhunderte nicht ruhten, um dies Maß der Bildung außer Kraft zu setzen. Immerhin lag diese Bildung noch im Zuge der primären Reflexivität des Menschen, sofern sie ihn als das höchste Telos anerkannte. Aber auch mit den Leitgedanken der „ E t h i k " und des Christentums verbindet uns das genannte Moment. Die Kantische Lehre von der Sittlichkeit unterstellt den menschlichen Willen einem Gebot, dem er zunächst und zumeist nicht entspricht. Diese Lehre kennt daher ein eigenes Kapitel vom „radikal Bösen" im Menschen. — Das Christentum ist immer wieder an der Radikalität und Totalität seiner neuen Haltung der absoluten Liebe gescheitert. Allerdings ist hier die Sünde von Anfang an vorausgesetzt als das primäre Verhalten der Menschen, das in seiner Lieblosigkeit den einzelnen auf sich als Seiendes zurückbezieht, ihn daher von Gott abwendet. Die in unserem Gedankengang auftauchende Sachlichkeit und M i t menschlichkeit ist ebenfalls durch ihren eindeutigen Widerspruch und Gegensatz zum primären Verhalten der Menschen ausgezeichnet. Man kann geradezu sagen: W i r haben an diesem Widerspruch ein Indizium, daß w i r es in unserem Gedankengang mit Aufweis und Einsicht von Ursprünglichem und Wesentlichem zu tun haben, denn die primäre Menschlichkeit läuft immer der genuinen zuwider. Zur Verdeutlichung des Gesagten ziehen w i r noch einige Folgerungen. 1. Es ist ein großer Unterschied, ob man sich übt, bestimmte Leistungen zu erreichen und sie mit Ausdauer in täglichen Übungen steigert, oder ob man sich ans Denken hält und sich dort aufhält, ja dort aushält, wo es einen erreichen kann. Der Leistung muß aus Besinnung und Einsicht das Maß und die Richtung vorgezeichnet werden. Dort, wo Leistung besinnungslos erfolgt und übersteigert wird, so wissen w i r heute alle, wächst sie nicht nur zu vernichtendem Ausmaß heran, sondern schließt auch jede Möglichkeit der „Bildung" aus. Es ist ein Unterschied, ob mir eines Tages die Einsicht in ein philosophisches Werk oder ein Gedicht aufgeht, nachdem ich es mir immer wieder vorgenommen habe, oder ob ich es einmal schaffe, alle in diesen Werken vorkommenden Wörter statistisch zu erfassen. — Es ist ein Unterschied, ob ich den „Prediger Salomonis" auswendig kann oder ob ich die in diesem Buch enthaltene Lebensweisheit mit Sinn und Verstand am rechten O r t nachzuvollziehen und auszusprechen weiß. — I m Lesen muß sich ein K i n d üben, und zunächst bleibt diese Übung Arbeit und Plage. Gelingt sie mehr und mehr, so bedeutet dies dem K i n d , aber auch den Erwachse-
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nen eine Leistung. Erst langsam wandelt sich das Lesen von einer Leistung der Artikulation zu dem, was es in Wahrheit ist: die Aussprache einer immer wieder in Texten antreffbaren Erschließung von Zusammenhängen in der Welt. Ihr jetzt teilhaftig zu werden, das macht Freude. Das „ K ö n nen" selbst bleibt nicht Leistung, sondern w i r d zur beglückenden Gabe. — Für manchen ist allerdings das Lesen sein Leben lang ein mühsames Geschäft, zu dessen Leistung er sich nur hin und wieder aufrafft. W i r sagen dann wohl, er sei nicht begabt genug dafür, w i r müßten wohl treffender formulieren: Er w i r d nicht damit begabt. Es braucht kaum noch einmal betont zu werden, daß Bildung und Wille sich gegenseitig ausschließen. Bildung ist nicht zu wollen. Denken kann man nicht wollen. Einsicht kann nicht willentlich erzwungen werden. Begabung ist nicht dem Willen unterstellt. Wille ist ja gekennzeichnet durch ein selbständiges Bestimmen und Verfügen. Er geht von einem Individuum aus und bleibt immer reflexiv. Letztlich geht es ihm um sich selbst, darum, sich durchzusetzen und zu bestätigen. Der Wille dringt auf Leistung und Erfolg. A n die Stelle des Willens, an die Stelle der Leistung und des Könnens t r i t t das In-der-Lage-Sein. Ich komme in die Lage, ich bin in der Lage, ich bin imstande — das sind alles Formulierungen, die besagen: M i r ist es gegeben, ich bin in die Lage versetzt, ich bin dort hingestellt, wo ich dies oder jenes übernehmen und verantworten kann. Nicht ich w i l l , sondern ich möchte einsehen, wissen, entsprechen, sachlich und mitmenschlich ans Werk gehen. Ob ich in die Lage komme, einzusehen und der Einsicht nachzukommen, dazu hilft mir kein guter Wille, sondern nur die selbstlose Bereitschaft, zu hören und zu folgen. Ein Moment gehört dann unaufhebbar zur Bildung: Der Gebildete weiß nicht nur um Sinn und Ausmaß der Bildung — er weiß auch um den Abstand seiner Lage und des ihm Gewährten zu jenem Maß. Dieses Ermessen von Abstand, Nähe und Ferne seines Denkens, seines Erfüllens und Unterlassens zu dem ihm bewußten Maß der heute notwendigen Bildung schenkt ihm eine Gemessenheit, ohne welche seine Besonnenheit sich selbst verfehlte. Der Ungebildete ist ja dadurch so auffällig, daß er weder jenes Maß kennt noch seinen Abstand einzuschätzen weiß. Er redet über alles und jedes, er weiß alles besser, er reißt alles an sich und sieht in allen seinen Taten vollendete Werke. — Es gibt nicht die halb oder teilweise Gebildeten, sondern nur die Gebildeten, die um das Maß der Bildung wissen und um die Differenz ihres Bildungsstandes zu diesem Maß, und ihnen gegenüber die — Maßlosen.
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Ein jeder kann in diese Gemessenheit und Besonnenheit hineinfinden, wenn ihm Einsicht in Sinn und Maß der Bildung eröffnet wird. Alle Erziehung muß sich bemühen, in die Lage zu versetzen, dieser Einsicht gewürdigt zu werden. So lösen sich Rangunterschiede der Bildung auf. Der jeweilige Bildungsweg der einzelnen, das Ausmaß der ihnen zumutbaren Verantwortung und die Schwierigkeit ihrer Aufgabenbereiche werden unterschiedlich bleiben; aber das begründet keine Rangstufen sozialer Ästimation, sondern nur unterschiedliche Maßgeblichkeit der einzelnen. 2. I m Mittelalter gab es keine Bildung im neuzeitlichen Sinn, weil der immanente reflexive Zirkel der Bildung fehlte. Der Mensch möchte zu Gott gelangen durch das Verlassen der Welt. Je mehr er sich der Welt entzog, sich aus ihren immer wieder eintretenden Verstrickungen befreite, sich ihrem Ziehen und Drängen entgegenstellte, desto mehr näherte er sich Gott, desto eher war er bei ihm, ja in ihm. Darin ging es allerdings um das Seelenheil des einzelnen. Der reflexive Zirkel liegt aber hier zwischen Gott und Seele. Das Verhältnis zur Welt bleibt negativ. Sie dient nicht der Bildung des Selbst oder der Individualität eines Menschen. Das Wirken in der Welt ist nur insofern positiv, als es zu Gott führt. I n der Neuzeit w i r d dagegen die Welt positiv in den Lebensgang des Menschen eingebaut. Die Welt w i r d der Raum der Bildung des Menschen zu seiner Individualität. Die Bildungslehre der Neuzeit bedeutet die schärfste Absage an das mönchische Ideal des Christentums. Jetzt führt der Weg immer wieder zur Welt zurück, nicht von ihr fort zu Gott. Daher kommt in diesem humanistischen Zirkel, wenn er sich streng einhält, Gott nicht vor. I n unserem Gedankengang dagegen w i r d der Zirkel als solcher ausgesetzt. Hier gewinnt sich der Mensch nicht als ein individuelles Selbst, sondern er w i r d ein Mensch, indem er schlechthin selbstlos bleibt. Hier würde jede Reflexion auf Selbstsein und willentliche Selbständigkeit die Zerstörung von Sachlichkeit und Mitmenschlichkeit zur Folge haben. Ich bin nur Mensch, wenn ich Sache und Mitmensch sie selbst sein lasse. Einen Mitmenschen ihn selbst werden und sein lassen, kann dann nicht besagen, ihm ein Selbst zu verschaffen oder ihn zur Persönlichkeit zu prägen — also seinen Willen dem Sittengesetz zu unterstellen. Es kann allein besagen, ihn den Aufgabenkreis finden zu lassen, in dessen Mitte er allererst als Sprecher und Vollbringer der ihm zugewiesenen Aufgaben hervorgerufen wird. M i t ihnen und mit ihrer Lösung ist er begabt. I h n diesen individuellen Hervorruf erfahren zu lassen, das heißt nun „ B i l -
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dung". Das Individuelle liegt in der A r t der Aufgaben, die sich ihm stellen, und in der Weise der Lösungen, die ihm möglich werden. 3. Es ist klar, daß jene oben durchlaufene K r i t i k der Menschlichkeit weder eine große verwerfende Anklage bedeuten kann, ein Anathema über den alltäglichen und durchschnittlichen Menschen, noch eine simple Schwarzweißmalerei des Guten und Bösen. Der alltägliche Mensch, sowohl in seinen großen Individuen wie in seinen vielen Mitmenschen, untersteht allerdings zumeist der aufgewiesenen Willentlichkeit in ihrer Selbstsucht und ihrem Wohlwollen. Der alltägliche Mensch hat sich aber auch ebensosehr, sowohl in einzelnen als auch in vielen, ja unzähligen Ungenannten seiner langen Geschichte, immer wieder hervorrufen lassen in jene Ursprünglichkeit sachlicher und mitmenschlicher Entsprechung und Verantwortung, in der Wille und Selbst wesenlos werden. Man muß dabei folgendes bedenken: a) Der Mensch, ursprünglich vom Denken her ereignet, kommt zu sich selbst durch die Bewegung des Denkens, die nicht er veranlassen kann, weil er in ihr gerade erst als Mensch hervorgeht. Er geht hervor als dieses Denken und erscheint sich als Seiendes, wie er von diesem Denken ans Seiende verwiesen w i r d und von ihm her zu leben beginnt. U n d ebenso veranlaßt nicht er die Reflexivität des Denkens, sondern diese veranlaßt sein Zustandekommen als Ich, als Wille, als Selbst. Von hier aus bedacht, verführt also ursprünglich das Denken durch sich selbst, indem es den Menschen „sich selbst", d. h. aber nun dem Denken, entführt. Erst die Insistenz von Ich und Wille, in der sie nicht von sich als Selbst lassen wollen, bringt zum eigentlichen Abfall vom Denken, gerade weil in solcher Insistenz zwar der genuine Anspruch wieder vernehmlich, aber abgelehnt wird. — Jetzt erst kann der Mensch etwas dafür, nicht vordem. b) Der Mensch erfährt Inanspruchnahme und erneuten Hervorruf aus Wille und Selbst jeweils im Horizont der geschichtlich eingetretenen Offenbarkeit des Seienden im Ganzen — im Horizont seines „Weltverständnisses", wie er zunächst von sich als Ich her sagen muß. Denn ihm erscheint ja jene Offenbarkeit, die er selbst als Denker und Sprecher ist, als ein A k t und Konzept des Ich, in denen es sich Welt vorgängig aufgehellt hat. So geschehen jene Inanspruchnahme und ihre Entsprechung aus der jeweils eingetretenen gedanklichen Helle und ihrer Maßgabe heraus, sofern darin immer schon das Sein gewährt und an Seiendem gedacht wird. — Wenn demnach etwa im Mittelalter jener Inanspruchnahme, Sprecher und Denker des Sein zu werden, als Mönch und Ritter entsprochen wurde, so waren das legitime Weisen der verantwortlichen
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Entsprechung, in deren Rahmen nun allerdings die Verkehrung ihr U n wesen treiben konnte. Jene Entsprechungen bleiben der geschichtlichen Offenbarkeit des Seienden in seinem Sein als „Substanz" und „Potenz", als Selbstand und Vermögen angehörig, sie denken sich aus dem Gegenüber von befehlender Instanz und gehorchendem Willen. Der junge Mensch, um ein anderes Beispiel zu wählen, durchläuft die Phasen der willentlichen Substantialität und Potentialität in Gehorsam und Trotz unausweichlich. Es kommt nur darauf an, ob er in der Vernehmlichkeit der Inanspruchnahme bleibt und eines Tages in die selbstlose, nur dem Denken und d. h. der Wahrheit verantwortliche Entsprechung gelangt. Deshalb w i r d ihn das Unwesen nicht verlassen, sondern geradezu die Herkunft seines Wesens bleiben, sofern er aus ihm sich immer erneut hervorrufen lassen muß — wie die Wahrheit in der Unwahrheit ihre Herkunft hat, d.h. als Unverborgenheit und Unvergessenheit aus der Verborgenheit hervorgeht. Auch dafür kann wieder der Mensch nichts, nur dann w i r d er schuldig, wenn er dieser Schuldigkeit zu antworten und in zeitgemäßen Worten, Taten und Werken zu entsprechen, nicht nachkommt, sondern an sich selbst festhält. c) Viele Momente des aufgewiesenen Unwesens, so muß man sich klar werden lassen, sind gar nicht zu umgehen, da das Denken in Begabung und Berufung immer wieder so beschränkt geschenkt wird, daß die heute vom Denken her geforderte Erfüllung mancher Aufgaben für viele ausgeschlossen bleibt. Der Mensch ist durchschnittlich überfordert. Auch die humanistische Theorie der Neuzeit eröffnet die Menschlichkeit in Dimensionen, die zu erfüllen ihre Begabung vielen verweigert. Von den großen humanistischen Zielsetzungen eines Valla und Erasmus oder auch Melanchthons bis hin zu Humboldts und Herbarts Bildungslehren reicht diese Uberforderung, die als solche um so deutlicher wird, je mehr die Moderne sich bemüht, diesen Anspruch zurückzuweisen oder ihn doch einzuschränken. — Gehen w i r ins Zentrum unserer Gegenwart, so ist schon oft die Demokratie als eine solche Uberforderung des alltäglichen Menschen aufgewiesen worden, setzt sie doch eine Einsicht und Tüchtigkeit aller einzelnen voraus, die gerade nur von wenigen erwartet werden kann. U n d doch muß die faktische Demokratie so tun, als ob jeder ein solcher einsichtiger Mitmensch geworden sei. Daher w i r d der einzelne nicht nur versagen und jener Inanspruchnahme nicht nachkommen können, sondern er w i r d immer wieder Maßnahmen wünschen und Traditionen vorziehen, die ihm jene Uberforderung in ihrem Übermaß abnehmen. 16 Ballauff
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Das Geheimnis der Menschlichkeit liegt darin, daß der Mensch zunächst gedacht und gezogen, aber auch getrieben wird. Zum Denker und Vollbringer berufen zu werden, macht nicht seinen angeborenen und verfügbaren Besitz aus. Diese Einsicht ist es ja gerade, die w i r in der Verkehrung des Denkens von Anfang an ideologisch zu eliminieren suchen. — U n d hier w i r d wiederum der Erziehung die richtungweisende Aufgabe gestellt, in diese Wahrheit zu ziehen. Der Mensch als Usurpator des Denkens muß daher die Beschränktheit des Denkens, das ihm an seinem O r t und zu seiner Zeit zugemessen ist, sich selbst als Begabung zusprechen, die um so größer erscheint, je geringer ihr gewährter Umfang ist. Die Tragik der Begabung als Beschränktheit liegt gerade darin, daß sie sich desto mehr in ihren Ausmaßen verborgen bleibt, je mehr sie ursprüngliche Beschränktheit ausmacht. Die Menschen werden also primär aus der Vermessenheit ihrer Begabung heraus zu leben suchen. M i t anderen Worten, solche Dummheit w i r d in der Alltäglichkeit weithin maßgeblich. Denn die Dummheit besteht in dieser Vermessenheit der Begabung. Die Menschen beanspruchen daher zunächst und zumeist weit mehr, als ihnen in der Begabung gewährt ist. Je mehr das Denken sich einstellt, desto offensichtlicher w i r d die Beschränktheit der Begabung. Die Diskrepanz zwischen gewagter Entsprechung und erreichter Erfüllung w i r d in solchem Denken klar und drängt in die ständige Überholung zu neuer Erfüllung. Je mehr der Mensch über die Ausmaße seiner Begabung ins klare kommt, desto bedachter w i r d er antworten und verantworten, desto behutsamer w i r d er ans Werk gehen. Der Dummheit gilt es zu wehren, nicht der Unbegabtheit und Beschränktheit. U n d es w i r d ein langer Weg für jeden bis dahin sein, die eigene Dummheit ermessen zu lernen und sie als unaufhebbare Beschränktheit auf sich zu nehmen. Man könnte also sagen, alle menschliche Verkehrtheit enthüllt sich letzlich als Insistenz des Wollens in der unablässigen Suche eines Selbstes und als Konsistenz der Dummheit in der unbeirrbaren Anmaßung eines eigenen, schlechthin zureichenden Denkens. Solche Reduktion der menschlichen Verkehrtheit auf Selbstsucht und Dummheit hat aber immer das Mißliche an sich, die phänomenale Fülle des Menschlichen wieder zu verstellen und zu simplifizieren. Man muß die geschilderte Mannigfaltigkeit im Auge behalten, wenn solche Formel nicht leeres Schlagwort werden soll. Überschauen w i r noch einmal im Rückblick die vorliegende Darstellung, so werden w i r zu dem Ergebnis kommen, daß auch heute noch die Pädagogik aus den erörterten Sachverhalten Erziehung zu begründen hat. Sie muß allerdings die besprochene „Wendung" mitvollziehen.
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I. Die Menschlichkeit des Menschen liegt in der Logoszugehörigkeit, das besagt: Ein Wesen w i r d mit Denken und Aussagen der Wahrheit begabt und dazu berufen. Diese Zugehörigkeit zeichnet es vor allen anderen Wesen aus. Die Demonstration dieser These geschieht 1. durch den Nachweis der Differenz zwischen Mensch und Tier: der Mensch der „erste Freigelassene der Schöpfung". Hierbei w i r d die moderne Naturwissenschaft Hilfestellung leisten; 2. durch den historischen Aufweis der menschlichen Selbstbeurteilung und -Verurteilung; 3. durch den Hinweis auf die „ K u l t u r " als das aus einsichtigem Ermessen hervorgebrachte Ganze an Werken und Taten, in denen die Menschen ihrer Menschlichkeit als Aufgabe nachkommen. Erziehung erfolgt als die Vermittlung der Menschlichkeit an sich selbst. I I . Die weitere Begründung liegt in der Überwindung der schon immer eingetretenen Verkehrung der Menschlichkeit: Die Erziehung w i r d verstanden als eine Vermittlung des Menschen an sich selbst als Seiendes unter Seiendem; Menschlichkeit verwandelt sich in die Selbstermächtigung eines Wesens durch aneignende und verfügende Bemächtigung des Seienden im Ganzen, der Welt. Die Demonstration geschieht durch den Aufweis des ständigen U m schlags der Vermittlung alles Seienden an das ihm mögliche Sein zu einer Benutzung alles Seienden als Mittel der Selbstsetzung und Weltbeherrschung. W i r Menschen verkehren unsere Menschlichkeit, die jeden von uns zum Kosmotheoros und Kosmopoliten beruft, zur Selbstherrlichkeit eines Wesens inmitten des Ganzen und über das Ganze. W i r werden zu Usurpatoren der Menschlichkeit. Die einfache Umkehr des Egoismus zu Altruismus ist in diesem Zusammenhang ebensowenig zulässig wie die Forderung, der Mensch habe, anstatt alles zu beherrschen, allem zu dienen. Wo von Dienst die Rede ist, gibt es immer noch einen Herrn. Die Dinge, Wesen und Mitmenschen sind aber nicht „meine" Herren. Man bewegt sich auf diese Weise immer nur in der simplen Umkehr eines Verhältnisses von Mensch zu Mensch oder von Ding und Mensch. Die Menschlichkeit w i r d in einem solchen Gedankengang weder erreicht noch maßgeblich; sie bleibt vergessen und unbedacht. 16
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I I I . Die Argumentation muß daher drittens beweisen, daß es sich in alledem überhaupt nicht um „ontische", sondern um „onto-logische" Verhältnisse handelt, um den Logos des Seins, insbesondere des menschlichen. Wir, die w i r zu Denkern der Wahrheit berufen sind, interpretieren uns mittels des Denkens zunächst und zumeist als Seiende unter Seiendem, denen es um das eigene Sein geht. Denken w i r d in den Dienst unserer Selbstbehauptung gestellt. Vermittelt Erziehung an die Menschlichkeit, so hat sie den in solcher Auslegung sich immer schon mißverstehenden Menschen ins Denken hervorzurufen als die Voraussetzung, durch die er ist, was und wie er ist. Unter der Maßgabe der Wahrheit ist das Denken gerade nicht ein uns verfügbares Instrument, sondern die Gewährung der Wahrheit. Seit alters spricht Erziehung den einzelnen Heranwachsenden auf Einsicht hin an und sucht ihn der Hörigkeit gegenüber seiner primären Selbstinterpretation zu entziehen. Besteht Menschlichkeit in der Logoszugehörigkeit, so steht ihr kein anderer Weg offen. Darin liegt die „Ohnmacht" der Erziehung beschlossen. I V . Erziehung selbst erwächst demnach aus einem sie begründenden Gedankengang — oder sie ist bloße Aufzucht und Dressur. Sie geht nicht nur aus einer K r i t i k der reinen Menschlichkeit hervor, sondern bleibt auch Selbstkritik. Ihre Begründung liegt also in dieser „Reflexion" auf ihren Sinn und ihr Maß. Sie führt heute in der Demonstration der Grundlagen der humanistischen Bildungstheorie zu deren Infragestellung, durch den Aufweis der selbstlosen Verantwortung der Wahrheit als Maß der Erziehung zur Aufhebung der Persönlichkeitsbildung in deren reflexiven Zirkel. Bei der Exposition der Grundstruktur der neuzeitlichen Bildung konnte der innere Umschlag im Zirkel der Reflexivität aufgewiesen werden. Entweder hält der Mensch die Nichtigkeit seiner selbst aus und bleibt Mittler und Vollbringer des möglichen Seins von Seiendem; oder er sucht jene Nichtigkeit zu überwinden durch die Aneignung von Seiendem als M i t t e l zur Selbstbestimmung seiner selbst als eines Seienden, sei dies nun als Seele oder Person oder Individuum verstanden. Er gewährt nicht durch Gedanke und Tat allem Seiendem zu sein, sondern versichert sich von immer anderem Seienden her des Seins seiner selbst. Daraus resultiert Erziehung als Unterweisung in der Selbstkritik des Menschen, Hüter der Menschlichkeit zu bleiben und sie davor zu bewahren, in den Dienst des Menschen gestellt zu werden. Das ist keine Erziehung zu
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irgendeiner Moral, sondern der Versuch, den Jugendlichen ständig von neuem an den Punkt zu ziehen, wo ihm Verantwortung in strengem Sinn, nämlich für die Wahrheit der Dinge und Wesen, aufgeht. Viele Mittel kennen w i r alle für diesen Versuch, von der Anleitung zu selbständigem Tun über Mahnung und Strafe bis zur Übertragung immer verantwortungsreicherer Aufgaben, von der Lebensführung der Eltern bis hin zur politischen Bildung 3 1 . Das alles hat die Pädagogik zu bedenken; sie w i r d aus jenem umgreifenden Maß der Erziehung pädagogische Maßgaben und Maßnahmen herleiten. N u r so bleibt sie Wissenschaft, d.h. ein Gedankengang, der sich zu begründen weiß. Vor allen Dingen geht es darum, sich auf der gedanklichen Höhe unserer Geschichte, unserer Tradition zu halten. Zu diesem Wissen möchte auch die vorliegende Darstellung gelangen. Der wachsende Geschichtsverlust des heutigen Selbstbewußtseins trägt die Gefahr in sich, uns Erziehungstheorien nahezulegen und zur Annahme zu empfehlen, die die zwar schwierigen, aber unaufhebbaren Gedankengänge der Jahrtausende bedeutungslos werden lassen. Dem muß eine moderne Pädagogik entgegentreten. W i r können heute weder aus der Metaphysik eines Christian Wolff her denken — mit ihrer Lehre von Vermögen und Kräften, von Dingen und Eigenschaften, von Potenzen und Substanzen — noch so tun, als sei mit einer humanistischen oder pragmatistischen Bildungskonzeption jene gedankliche Höhe eingehalten. W i r müssen sie vielmehr immer wieder durch die Besinnung auf ihre geschichtliche Herkunft zu erreichen und zu ermessen suchen. Das ganze Beweisverfahren beruht auf der fundamentalen Unterscheidung zwischen Mensch und Menschlichkeit. Diese Voraussetzung leitet sich aus der ontologischen Differenz von Sein und Seiendem her, die undurchdacht die abendländische Metaphysik durchwaltet. Unser Einblick in die Geschichte konnte jene Differenz an vielen Stellen aufzeigen, zugleich aber ihre immer wieder eingetretene Umwandlung in ein Verhältnis von Seienden. Sie w i r d besonders in „Anthropologie" und Pädagogik auffällig; z. B. wenn man Mensch und Welt, Person und Sache, Ich und Nicht-ich, Individuum und Gemeinschaft gegenüberstellt. Eine Pädagogik, die ihrer Geschichte eingedenk bleibt, w i r d also von der Menschlichkeit ausgehen, damit vom Denken und der Zugehörigkeit zur Wahrheit. Von der Kindererziehung bis zur Erwachsenenbildung t r i t t in 31
1964.
Vgl. Paul Röhrig: Politische Bildung — Herkunft und Aufgabe. Stuttgart
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den Mittelpunkt aller Erziehung die Uberwindung eines sich selbst entfremdeten Denkens, das als Nachkomme der alten Substantialitätsmetaphysik immer nur seiende, als „real" behauptete Größen zueinander ins Verhältnis setzt. Dann erscheint Erziehung entweder als Kompensation der natürlichen Mangelhaftigkeit des Menschen: Erziehung ermöglicht es ihm, auf „kultureller Ebene" die gleiche Lebenssicherheit zu gewinnen, wie sie das Tier auf „natürlicher Ebene" besitzt; oder sie erscheint als Anpassung an bestehende und zu tradierende Situationen und Institutionen oder als Selbstbildung des Menschen zur Persönlichkeit im Umweg über die Welt oder als die Wahrung und Entfaltung des Selbstseins in der Sicherung seines Heils inmitten einer bedrohlichen Welt. Nach der von uns erreichten pädagogischen Einsicht geht es nicht mehr darum, die genannten Größen ins Verhältnis zu setzen, sondern im Ausgang von ursprünglichen Verhältnissen deren Komponenten freizusetzen. Sein und Seiendes, Menschlichkeit und Mensch, Sein und Selbstsein gehören dem Verhältnis des „ u n d " als solchem an und werden erst aus diesem als relativ selbständige „Größen" entlassen. Nicht der Mensch bringt seine Menschlichkeit von sich aus auf; nicht nennt Sein eine Macht, die Seiendes aus sich hervorbrächte. Erziehung selbst beruht auf diesem Verhältnis von Mensch und Menschlichkeit und macht eine seiner Gestaltungen aus. Sie lehrt den Jugendlichen, der Wahrheit auf allen Lebensgebieten nachzugehen; sie möchte ihn erfahren lassen, daß nur solche Sachlichkeit und Mitmenschlichkeit ihn als diesen Menschen — in Unvertretbarkeit und Unwiederholbarkeit — freigibt. U m es noch einmal mit Schleiermachers Worten zu sagen: I n diesen Verhältnissen ist er zugleich gesetzt und aufgehoben: als der unersetzliche Sprecher und Vollbringer der Wahrheit, der doch zugleich in diesem Logos einem angemaßten Selbstsein enthoben ist 32 .
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Die systematische Ausführung dieser Ergebnisse unseres Gedankengangs findet der Leser in Th. Ballauff: Systematische Pädagogik. Heidelberg 1962, 2. Aufl. 1966; ders.: Schule der Zukunft. 2. Aufl. Essen 1965. (Kamps pädagog. Taschenbücher. Nr. 19).