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German Pages xi, 598 [616] Year 2010
ERNST CASSIRER
Philosophie der symbolischen Formen Dritter Teil Phänomenologie der Erkenntnis
Text und Anmerkungen bearbeitet von
julia clemens
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 609
Dieser Band ist text- und seitenidentisch mit Band 13 der Ausgabe Ernst Cassirer, Gesammelte Werke (ECW), herausgegeben von Birgit Recki.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-1955-8
www.meiner.de © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2010. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platte und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. – Satz: KCS GmbH, Buchholz. Druck und Bindung: C. H. Beck, Nördlingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem, säurefreiem Werkdruckpapier. Printed in Germany.
INHALT
Vorrede.............................................................................................. VII Einleitung .........................................................................................
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1. Materie und Form der Erkenntnis ......................................... 2. Die symbolische Erkenntnis und ihre Bedeutung für den Aufbau der Gegenstandswelt ................................................. 3. Das »Unmittelbare« der inneren Erfahrung – Der Gegenstand der Psychologie .......................................... 4. Intuitive und symbolische Erkenntnis in der modernen Metaphysik ..............................................................................
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Erster Teil. Ausdrucksfunktion und Ausdruckswelt
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kapitel i. Subjektive und objektive Analyse ................................ 49 kapitel ii. Das Ausdrucksphänomen als Grundmoment des Wahrnehmungsbewußtseins ....................................................... 64 kapitel iii. Die Ausdrucksfunktion und das Leib-SeelenProblem ........................................................................................ 104 Zweiter Teil. Das Problem der Repräsentation und der Aufbau der anschaulichen Welt
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kapitel i. Der Begriff und das Problem der Repräsentation....... 119 kapitel ii. Ding und Eigenschaft ................................................... 131 kapitel iii. Der Raum..................................................................... 159 kapitel iv. Die Zeitanschauung ..................................................... 183 kapitel v. Symbolische Prägnanz .................................................. 218 kapitel vi. Zur Pathologie des Symbolbewußtseins .................... 234 I. Das Symbolproblem in der Geschichte der Aphasielehre ........................................................................ 234 II. Die Veränderung der Wahrnehmungswelt im Krankheitsbild der Aphasie .................................................................. 253 III. Zur Pathologie der Dingwahrnehmung ............................ 268 IV. Raum, Zeit und Zahl ........................................................... 279 V. Die pathologischen Störungen des Handelns ................... 302
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Inhalt
Dritter Teil. Die Bedeutungsfunktion und der Aufbau der wissenschaftlichen Erkenntnis
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kapitel i. Zur Theorie des Begriffs ............................................... 1. Die Grenzen des »natürlichen Weltbegriffs« ........................ 2. Begriff und Gesetz – Die Stellung des Begriffs in der mathematischen Logik – Klassenbegriff und Relationsbegriff – Der Begriff als Satzfunktion – Begriff und Vorstellung ............................................................................... kapitel ii. Begriff und Gegenstand ............................................... kapitel iii. Sprache und Wissenschaft. Dingzeichen und Ordnungszeichen ........................................................................ kapitel iv. Der Gegenstand der Mathematik ............................... I. Formalistische und intuitionistische Begründung der Mathematik.......................................................................... II. Der Aufbau der Mengenlehre und die »Grundlagenkrise« der Mathematik ........................................................ III. Die Stellung des »Zeichens« in der Theorie der Mathematik………………………….................................. IV. Die »idealen Elemente« und ihre Bedeutung für den Aufbau der Mathematik ..................................................... kapitel v. Die Grundlagen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis .................................................................................... I. Empirische und konstruktive Mannigfaltigkeiten............ II. Prinzip und Methode der physikalischen Reihenbildung ................................................................................. III. »Symbol« und »Schema« im System der modernen Physik...................................................................................
323 323
Editorischer Bericht ........................................................................ Abkürzungen ................................................................................... Schriftenregister................................................................................ Personenregister ............................................................................... Seitenkonkordanz ............................................................................
557 561 563 584 589
328 362 377 411 411 422 435 448 468 468 490 518
Die Hamburger Ausgabe................................................................. 599
V–VI
VII
VORREDE
Der dritte Band der »Philosophie der symbolischen Formen« kehrt zu den Untersuchungen zurück, mit denen ich vor zwei Jahrzehnten meine systematische philosophische Arbeit begonnen habe. Wiederum ist es das Problem der Erkenntnis, ist es der Aufbau und die Gliederung des »theoretischen Weltbildes«, das im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Aber die Frage nach der Grundform der Erkenntnis wird jetzt in einem weiteren und allgemeineren Sinne gestellt. Die Untersuchungen meiner Schrift »Substanzbegriff und Funktionsbegriff« (1910) gingen davon aus, daß die Grundverfassung der Erkenntnis und ihr konstitutives Gesetz sich am klarsten und schärfsten dort aufweisen lassen, wo sie die höchste Stufe ihrer »Notwendigkeit« und »Allgemeinheit« erreicht haben. Im Gebiet der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaft, in der Begründung der mathematisch-physikalischen »Gegenständlichkeit« wurde daher dieses Gesetz aufgesucht. Die Form der Erkenntnis, wie sie hier bestimmt wurde, fiel demgemäß im wesentlichen mit der Form der exakten Wissenschaft zusammen. Die »Philosophie der symbolischen Formen« ist über diese anfängliche Problemstellung im inhaltlichen wie im methodischen Sinne hinausgeschritten. Sie hat den Grundbegriff der »Theorie« selber erweitert, indem sie zu erweisen versuchte, daß es echte theoretische Formmomente und Formmotive sind, die nicht nur in der Gestaltung des wissenschaftlichen, sondern schon in der Gestaltung des »natürlichen Weltbildes«, des Weltbildes der Wahrnehmung und Anschauung, obwalten. Und sie wurde schließlich auch über diese Grenze des »natürlichen« Weltbildes, des Weltbildes der Erfahrung und Beobachtung, weitergetrieben, indem sich ihr in der mythischen Welt ein Zusammenhang erschloß, der, wenngleich er auf die Gesetze des empirischen Denkens nicht reduzierbar ist, doch darum keineswegs gesetzlos ist, sondern eine Strukturform von eigentümlicher und selbständiger Prägung aufweist. Aus den hier gewonnenen Ergebnissen, wie sie | im ersten und zweiten Band dieser Schrift dargelegt wurden, sucht der dritte Band nunmehr die systematische Konsequenz zu ziehen. Was er erstrebt, ist, den neu gewonnenen Begriff der »Theorie« in seiner ganzen Ausdehnung und in dem gesamten Reichtum der Gestaltungsmöglichkeiten, die er in sich birgt, sichtbar werden zu lassen. Der Schicht der begrifflichen, der »diskursiven« Erkenntnis werden jetzt jene anderen geistigen Schichten, die die Analyse der Spra-
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Vorrede
VI–VII
che und des Mythos aufgedeckt hat, unterbreitet und unterbaut: Und im ständigen Hinblick und Rückblick auf diesen Unterbau wird die Eigenart, die Gliederung und Architektonik des »Oberbaus« der Wissenschaft zu bestimmen gesucht. So zieht die »Philosophie der symbolischen Formen« das Weltbild der exakten Erkenntnis wiederum in ihren Problemkreis ein – aber sie nähert sich ihm jetzt auf einem anderen Wege und erblickt es demgemäß unter einer veränderten Perspektive. Statt es lediglich in seinem Bestand zu betrachten, sucht sie es in seinen notwendigen gedanklichen Vermittlungen zu erfassen. Von dem relativen »Ende«, das der Gedanke hier erreicht hat, fragt sie nach der Mitte und den Anfängen zurück, um durch diese Rückschau ebendieses Ende selbst als das, was es ist und bedeutet, zu verstehen. Die allgemeinen Gesichtspunkte, unter denen diese Problemstellung steht, habe ich in der Einleitung näher dargelegt – hier bleibt nur noch übrig, eine kurze Erklärung und Rechtfertigung des Titels zu geben, den ich für die Untersuchungen dieses Bandes gewählt habe. Wenn ich von einer »Phänomenologie der Erkenntnis« spreche, so knüpfe ich hierin nicht an den modernen Sprachgebrauch an, sondern ich gehe auf jene Grundbedeutung der »Phänomenologie« zurück, wie Hegel sie festgestellt und wie er sie systematisch begründet und gerechtfertigt hat. Für Hegel wird die Phänomenologie zur Grundvoraussetzung der philosophischen Erkenntnis, weil er an diese letztere die Forderung stellt, die Totalität der geistigen Formen zu umspannen, und weil diese Totalität nach ihm nicht anders als im Übergang von der einen zur andern Form sichtbar werden kann. Die Wahrheit ist das »Ganze« – aber dieses Ganze kann nicht auf einmal hingegeben, sondern es muß vom Gedanken, in seiner eigenen Selbstbewegung und gemäß dem Rhythmus derselben, fortschreitend entfaltet werden. Diese Entfaltung macht erst das Sein und das Wesen der Wissenschaft selbst aus. Das Element des Gedankens, in welchem die Wissenschaft ist und lebt, erhält daher seine Vollendung und Durchsichtigkeit selbst nur durch die Bewegung seines Werdens. »Die Wissenschaft verlangt von ihrer Seite an das Selbstbewußtseyn, daß es | in diesen Aether sich erhoben habe, um mit ihr und in ihr leben zu können und zu leben. Umgekehrt hat das Individuum das Recht zu fordern, daß die Wissenschaft ihm die Leiter wenigstens zu diesem Standpunkte reiche, ihm in ihm selbst denselben aufzeige. Sein Recht gründet sich auf seine absolute Selbstständigkeit, die es in jeder Gestalt seines Wissens zu besitzen weiß, denn in jeder, sey sie von der Wissenschaft anerkannt oder nicht und der Inhalt sey welcher er wolle, ist es die absolute Form, d. h. es ist die unmittelbare Gewißheit seiner selbst; und, wenn dieser Ausdruck vorgezogen
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Vorrede
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würde, damit unbedingtes Seyn.«1 Schärfer kann es nicht ausgesprochen werden, daß das Ende, das »Telos« des Geistes nicht erfaßt und nicht ausgesprochen werden kann, wenn man dasselbe als ein für sich bestehendes, wenn man es losgelöst und abgesondert von Anfang und Mitte nimmt. Die philosophische Reflexion setzt nicht in dieser Weise das Ende gegen Mitte und Anfang ab, sondern nimmt alle drei als integrierende Momente einer einheitlichen Gesamtbewegung. In diesem Grundprinzip der Betrachtung stimmt die »Philosophie der symbolischen Formen« mit dem Hegelschen Ansatz überein – sosehr sie in der Begründung wie in der Durchführung desselben andere Wege gehen muß. Auch sie will dem Individuum »die Leiter reichen«, die es von den primären Gestaltungen, wie sie sich in der Welt des »unmittelbaren« Bewußtseins finden, zur Welt der »reinen Erkenntnis« hinführt. Keine Sprosse dieser Leiter ist, sub specie der philosophischen Betrachtung, entbehrlich; jede darf und muß den Anspruch erheben, berücksichtigt, gewürdigt, »gewußt« zu werden, wenn es sich darum handelt, die Erkenntnis nicht sowohl in ihrem Ergebnis, in ihrem bloßen Produkt, sondern in ihrem reinen Prozeßcharakter, in der Art und Form des »Procedere« selbst, zu verstehen. Was die Durchführung des Themas im einzelnen betrifft, so knüpft der dritte Abschnitt dieses Bandes, der vom Aufbau der mathematisch-physikalischen Gegenstandswelt handelt, an die Ergebnisse früherer Analysen an. An dem Prinzip, das diese Analysen leitete und bestimmte, an dem Gedanken des erkenntniskritischen »Primats« des Gesetzesbegriffs vor dem Dingbegriff, wurde hier durchgängig festgehalten: Dagegen galt es nunmehr, diesen Gedanken dadurch zu festigen, zu klären und zu bewähren, daß er an der gewaltigen gedanklichen Entwicklung gemessen wurde, die die Mathematik und die exakte Naturwissenschaft in diesen beiden letzten Jahrzehnten durchlaufen hat. Es sollte gezeigt werden, wie durch all die radikalen Wandlungen, die der Gehalt und die Gestalt der exakten Wissenschaft in rein inhaltlicher Hinsicht erfahren hat, die rein metho | dische Kontinuität nicht unterbrochen und nicht preisgegeben worden ist – ja daß es ebendiese inhaltlichen Umgestaltungen sind, die diese Kontinuität aufs neue bewährt und in helles Licht gerückt haben. Wenn ich in der Darlegung dieses Sachverhalts auf frühere Untersuchungen
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes (Vorrede), hrsg. v. Johann Schulze (Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, Bd. II), Berlin 21841, S. 20, vgl. Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, Berlin 1925, S. X [ECW 12, S. XI f.]. 1
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Vorrede
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zurückgreifen und mich auf sie stützen konnte,2 so standen dagegen die beiden ersten Abschnitte dieses Bandes von Anfang an vor einer schwierigeren Aufgabe. Sie konnten sich nicht innerhalb eines zuvor bezeichneten und abgesteckten Rahmens bewegen, sondern sie mußten ihr Gebiet erst selbst zu gewinnen und zu umgrenzen versuchen. Zwar behandeln auch diese Teile, die es im wesentlichen mit der Grundform der Ausdruckswahrnehmung und mit der der Dingwahrnehmung zu tun haben, bekannte Probleme – Probleme, die von seiten der Psychologie wie von seiten der Erkenntniskritik, von der Phänomenologie wie von der Metaphysik seit alters her gestellt worden sind. Aber alle diese Fragen gewinnen eine neue Gestalt und eine veränderte Bedeutung, sobald man sie in dem Zusammenhang erblickt, den sie durch die Beziehung auf die systematische Grundfrage der »Philosophie der symbolischen Formen« gewinnen. Hier ergibt sich für sie eine eigene Weise der Zusammenschau, durch welche ihre gesamte intellektuelle »Orientierung« verändert wird. Um diese Art der geistigen »Synopsis« deutlich hervortreten zu lassen, mußte der Versuch unternommen werden, das Material, das die Phänomenologie, die Psychologie und schließlich die Pathologie der Wahrnehmung darbietet, in seiner Mannigfaltigkeit und in seiner konkreten Fülle zu überblicken, zugleich aber an ebendiesem Material eine neue Problematik sichtbar werden zu lassen. Daß dieser Versuch nicht mehr als einen ersten Anfang und Ansatz bedeuten kann, habe ich mir nicht verhehlt; wenn ich ihn unternehme, so geschieht es in der Hoffnung, daß er von der philosophischen Forschung wie von der Einzelforschung aufgenommen und weitergeführt werden wird. Wie in meinen früheren Arbeiten, so habe ich auch in dieser die systematische Betrachtung nicht von der historischen abzulösen versucht, sondern nach einem engen Zusammenschluß beider gestrebt. Nur in einer solchen ständigen Rückbeziehung aufeinander können beide sich wechselseitig erhellen und wechselseitig fördern. Doch konnte ich, ohne den Rahmen dieser Schrift zu überschreiten, nicht nach irgendeiner Art von »Vollständigkeit« innerhalb der rein historischen Erörterungen streben. Ich habe die Fäden dieser Erörterung aufgenommen und wieder | fallengelassen, je nachdem es die sachliche Klärung und Herausarbeitung bestimmter systematischer Grundprobleme jeweilig verlangte. Auch in bezug auf die moderne Philosophie bin ich nicht anders verfahren. Sowenig ich kritischen Ausein2 Vgl. meine Schrift »Zur Einstein’schen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen«, Berlin 1921 [ECW 10].
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Vorrede
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andersetzungen mit ihr, wo sie geeignet waren, die eigene Problemstellung zu verdeutlichen und zu vertiefen, aus dem Wege gegangen bin, so durften doch solche Auseinandersetzungen hier niemals zum Selbstzweck werden. In dem ursprünglichen Plane dieses Buches war ein besonderer Schlußabschnitt vorgesehen, in welchem das Verhältnis der Grundgedanken der »Philosophie der symbolischen Formen« zur Gesamtarbeit der Philosophie der Gegenwart eingehend dargelegt und kritisch begründet und gerechtfertigt werden sollte. Wenn ich auf diesen Abschnitt schließlich verzichtet habe, so geschah es nur, um den vorliegenden Band nicht noch weiter, als es im Verlauf der Ausarbeitung geschehen war, in seinem Umfang anwachsen zu lassen und um ihn nicht mit Diskussionen zu belasten, die zuletzt doch außerhalb seines eigenen, durch sein sachliches Problem vorgeschriebenen Weges lagen. Ich gedenke jedoch auf diese Diskussion als solche nicht zu verzichten: Denn der jetzt wieder so vielfach beliebte Brauch, die eigenen Gedanken sozusagen in den leeren Raum hineinzustellen, ohne nach ihrer Beziehung und Verknüpfung mit der Gesamtarbeit der wissenschaftlichen Philosophie zu fragen, ist mir niemals förderlich und fruchtbar erschienen. So soll der kritische Teil, der anfangs diesen Band abschließen sollte, einer eigenen künftigen Veröffentlichung vorbehalten werden, die ich unter dem Titel: »›Leben‹ und ›Geist‹ – zur Kritik der Philosophie der Gegenwart« demnächst vorlegen zu können hoffe. Was die philosophische und wissenschaftliche Literatur betrifft, auf die sich die Darstellung bezieht, so sei bemerkt, daß das Manuskript dieses Bandes bereits zu Ende des Jahres 1927 abgeschlossen war; die Veröffentlichung wurde nur deshalb hinausgeschoben, weil damals noch die Angliederung des letzten »kritischen« Teiles geplant war. Die Werke der beiden letzten Jahre konnte ich daher nur noch in Einzelfällen nachträglich berücksichtigen. Hamburg, im Juli 1929
Ernst Cassirer
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1
EINLEITUNG |
1. [Materie und Form der Erkenntnis] Wenn man die Sprache, den Mythos, die Kunst als »symbolische Formen« bezeichnet, so scheint in diesem Ausdruck die Voraussetzung zu liegen, daß sie alle, als bestimmte geistige Gestaltungsweisen, auf eine letzte Urschicht des Wirklichen zurückgehen, die in ihnen nur wie durch ein fremdes Medium erblickt wird. Die Wirklichkeit scheint für uns nicht anders als in der Eigenart dieser Formen faßbar zu werden; aber darin liegt zugleich, daß sie sich in ihnen ebensowohl verhüllt wie offenbart. Dieselben Grundfunktionen, die der Welt des Geistes ihre Bestimmtheit, ihre Prägung, ihren Charakter geben, erscheinen andererseits als ebensoviele Brechungen, die das in sich einheitliche und einzigartige Sein erfährt, sobald es vom »Subjekt« her aufgefaßt und angeeignet wird. Die Philosophie der symbolischen Formen ist, unter diesem Gesichtspunkt gesehen, nichts anderes als der Versuch, für jede von ihnen gewissermaßen den bestimmten Brechungsindex anzugeben, der ihr spezifisch und eigentümlich zukommt. Sie will die besondere Natur der verschiedenen brechenden Medien erkennen; sie will jedes von ihnen nach seiner Beschaffenheit und nach den Gesetzen seiner Struktur durchschauen. Aber wenngleich sie sich bewußt in dieses Zwischenreich, in dieses Reich der bloßen Mittelbarkeit begibt, so scheint doch die Philosophie als Ganzes, als Lehre von der Totalität des Seins, nicht in ihm verharren zu können. Immer von neuem regt sich vielmehr der Grundtrieb des Wissens: der Trieb, das verschleierte Bild von Saïs zu enthüllen und die Wahrheit nackt und hüllenlos vor sich zu sehen. Vor dem philosophischen Blick, der die Welt als absolute Einheit erfassen will, soll zuletzt, wie alle Mannigfaltigkeit überhaupt, so insbesondere die Mannigfaltigkeit der Symbole zergehen: Die letzte Wirklichkeit, die Wirklichkeit des Seins an sich selbst, soll sichtbar werden. Die Metaphysik aller Zeiten stand immer wieder vor diesem Grundproblem. Sie setzte das Sein als einheitlich und einfach, weil und sofern die Wahrheit nur als einige und einfache gedacht werden kann. Das ν τ σοφ ν des Heraklit ist in diesem Sinne zum Leitspruch der Philosophie | geworden: Es war wie ein Mahn- und Weckruf, hinter der bunten Farbenpracht der Sinne, hinter der Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Denkformen das eine ungebrochene Licht der reinen
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Einleitung
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Erkenntnis zu suchen. Wie es, nach dem Worte Spinozas, zum Wesen des Lichtes gehört, daß es sich selbst und das Dunkel erleuchtet – so muß es an irgendeinem Punkte eine unmittelbare Selbstbezeugung der Wahrheit und der Wirklichkeit geben. Denn Gedanke und Wirklichkeit sollen einander nicht nur in irgendeinem Sinne »entsprechen«, sondern sie sollen einander durchdringen. Die Funktion des Denkens soll nicht darin aufgehen, das Sein »auszudrücken«, d. h., es sub specie seiner eigenen sinngebenden Kategorien zu erfassen und zu bezeichnen. Das Denken fühlt sich vielmehr der Wirklichkeit gewachsen: Es trägt in sich die Überzeugung und es glaubt in sich die Gewähr dafür zu besitzen, daß es ihren Gehalt ausschöpfen kann. Hier soll und hier kann zuletzt keine unaufhebliche Schranke bestehenbleiben: Denn der Gedanke und der Gegenstand, auf den er sich richtet, sind eins. Indem Parmenides diesen Satz zuerst in klassischer Prägnanz und Schärfe ausspricht, wird er damit zum Begründer alles »Rationalismus« in der Philosophie. Aber der Anspruch, der hier erhoben wird, bleibt keineswegs auf den Kreis des Rationalismus beschränkt. Die Identität von »Subjekt« und »Objekt«, das Aufgehen des einen im andern, gilt auch dann noch als das eigentliche Ziel der Erkenntnis, wenn die Auffassung über das Mittel, mit dem dieses Ziel erreichbar ist, sich völlig ändert. Die Grundauffassung wandelt sich zwar, aber sie erfährt keineswegs eine prinzipielle Umbildung, wenn man, statt dem reinen Denken, vielmehr der sinnlichen Empfindung die Aufgabe stellt und die Kraft zutraut, von einem Reich zum andern die Brücke zu schlagen. Der Schwerpunkt erscheint jetzt von einer bestimmten theoretischen Auffassungsweise nach einer anderen verschoben – er ist von der Seite des »Begriffs« nach der der »Wahrnehmung« hinübergerückt; aber für diese letztere selbst bleibt die gleiche methodische Voraussetzung und Forderung bestehen. Der Begriff als solcher – so scheint es nunmehr – vermag aus eigener Kraft den Durchbruch in die Wirklichkeit niemals zu vollziehen: Denn er bleibt in seinen eigenen Bildungen und Schöpfungen, in seinen Benennungen und Bedeutungen hängen. Die Empfindung aber ist nicht mehr bloß signifikativ oder symbolisch, ist kein bloßes »Zeichen« des Seins, sondern gibt und enthält es selber in seiner unmittelbaren Fülle. Denn an irgendeiner Stelle muß es doch einmal zu dieser direkten Berührung zwischen dem Wissen und der Wirklichkeit kommen, wenn die Erkenntnis nicht für immer festgebannt in ihrem eigenen Kreis verharren soll. So tritt bei Berkeley an Stelle des | Parmenideischen Satzes von der Identität von Denken und Sein die erkenntnistheoretische und metaphysische Grundgleichung: esse = percipi. Der inhaltliche Sinn der Gleichung ist damit, so scheint es, in sein Gegenteil verkehrt: Aber ihre Form ist,
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Materie und Form der Erkenntnis
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rein als solche, unverändert und unangetastet geblieben. Denn wieder gilt jetzt die Forderung, eine Urschicht der Wirklichkeit bloßzulegen, in der sie selbst, vor aller symbolischen Deutung und Bedeutung, erfaßbar wird. Gelingt es uns, uns von all diesen Deutungen freizumachen – gelingt es vor allem, den Schleier der Worte wegzuziehen, der uns die wahre Wesenheit der Dinge verhüllt, dann stehen wir mit einem Mal den Urwahrnehmungen, und in ihnen den letzten Gewißheiten der Erkenntnis, Auge in Auge gegenüber. In dieser Sphäre hat der Gegensatz von Wahrheit und Irrtum, von Wirklichkeit und Schein keine Stätte mehr. Denn das einfache Dasein der Sinneseindrücke bleibt von jeder Möglichkeit der Täuschung frei. Ein Sinneseindruck kann bestehen oder nicht bestehen, kann gegeben oder nicht gegeben, aber er kann nicht »wahr« oder »falsch« sein. In den Bereich dieses Gegensatzes gelangen wir vielmehr erst, wenn sich der unmittelbaren Gegenwart des Eindrucks ein anderes mittelbares Verhältnis, wenn sich der »Präsentation«, dem direkten »Haben« einer Empfindung, eine repräsentative Bestimmung unterschiebt. Wo ein Inhalt des Bewußtseins nicht nur für sich selbst, sondern für einen andern steht, wo er den Versuch macht, ihn, den nicht unmittelbar gegenwärtigen, zu »vertreten« – da erst tritt jenes Wechselverhältnis zwischen Gliedern des Bewußtseinsganzen ein, das, in seinen weiteren mittelbaren Folgen, dazu führen kann, das eine Glied fälschlich für das andere zu nehmen, es mit dem anderen zu »verwechseln«. Dieses Phänomen gehört somit nicht dem Kreis der bloßen Empfindung, sondern es gehört dem Kreise des Urteils an. Und das Urteil freilich – auch in seiner einfachsten Form, in der es sich mit der bloßen Bejahung und Bekräftigung eines sinnlich Gegebenen zu begnügen scheint – unterscheidet sich von diesem letzteren eben dadurch, daß es sich nicht mehr im Reich des einfachen Daseins, sondern in dem der Zeichen bewegt. In dem Augenblick, in dem wir uns ihm anvertrauen, stehen wir wieder im Banne jenes »abstrakten« Denkens, das, statt mit den Dingen selbst, mit ihren stellvertretenden Symbolen operiert. Wenn die »Wissenschaft« der Natur, je weiter sie auf ihrem Wege fortschreitet, sich um so mehr im Gestrüpp dieser Symbole verliert, so ist es nach Berkeley die Grundaufgabe aller wahrhaft philosophischen Selbstbesinnung, diese Illusion zu zerstören. Die Philosophie erreicht, was die bloße Wissenschaft, die unzertrennlich an | das Medium der Sprache und an das Vehikel der Sprachbegriffe gebunden bleibt, nie erreichen kann: Sie stellt die Welt der reinen Erfahrung in ihrem unmittelbaren Dasein und in ihrem unmittelbaren Sosein, frei von aller Vermischung mit fremdartigen Bestandteilen und von aller Verdunkelung und Trübung durch willkürliche signifikative Zutaten, vor uns hin.
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Einleitung
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An diesem Punkte scheint somit die gesamte Geschichte der Philosophie, ungeachtet aller inneren systematischen Gegensätze und unbeirrt durch allen Streit der Schulen, die gleiche Richtung einzuschlagen. Die Philosophie konstituiert sich erst in diesem Akt ihrer Selbstbejahung – in dem Vertrauen, das sie zu sich selbst als dem eigentlichen Organ der Wirklichkeitserkenntnis faßt. Die Behauptung der »adaequatio rei et intellectus« bleibt in diesem Sinne ihr natürlicher Ausgangspunkt. Aber freilich schließt andererseits ebendieser Grundakt seinen eigenen dialektischen Gegensatz in sich. Je schärfer die Philosophie ihren Gegenstand zu bestimmen sucht, um so mehr wird ihr, in ebendieser Bestimmung selbst, der Gegenstand zum Problem. Indem sie ihr Ziel vor sich hinstellt und es sich bewußt formuliert, erhebt sich sogleich in ihr selbst und kraft der immanenten Notwendigkeit ihrer eigenen Methodik die Frage nach seiner Erreichbarkeit, nach seiner inneren »Möglichkeit«. So folgt der positiven Antwort, die der Rationalismus wie der Sensualismus auf das Problem der Wirklichkeitserkenntnis gibt, die Skepsis wie ihr Schatten. Die behauptete Identität zwischen dem Wissen als solchem und seinem objektiven Inhalt wird aufgegeben; und an ihre Stelle tritt vielmehr die Differenz, die sich immer schärfer ausprägt, die sich bis zur polaren Spannung steigert. Selbst die »Gleichung« der Erkenntnis – mag sie nun rationalistisch oder sensualistisch gefaßt werden – hebt diese Differenz nicht auf: Denn Gleichheit ist – nach einer Definition, die in die Logik der Mathematik durch Bolzano eingeführt worden ist – nichts anderes als ein Spezialfall der Verschiedenheit. Die Verknüpfung, die Synthesis, die durch das Gleichheitszeichen behauptet und ausgesprochen wird, bringt somit den Unterschied der Glieder, die auf beiden Seiten stehen, nicht zum Verschwinden, sondern bekräftigt vielmehr diesen Unterschied. In dieser Hinsicht enthält schon der Ansatz der Gleichung der Erkenntnis einen Keim der Zerstörung in sich, den die Skepsis nur zu entfalten und zur Reife zu bringen braucht. Je mehr das Selbstbewußtsein der Erkenntnis erstarkt, je deutlicher sie sich selbst durchschaut und um ihre Form weiß – um so mehr erscheint ihr diese ihre eigene Form auch als die notwendige Grenze, die sie nie und nimmer zu überschreiten | vermag. Der absolute Gegenstand, den sie anfänglich in diese Form aufnehmen und einfangen zu können glaubte, rückt mehr und mehr in eine unerreichbare Ferne – statt ihn zu erfassen, scheint es der Erkenntnis nur noch vergönnt zu sein, sich selbst, in all ihrer Bedingtheit und Relativität, wie im Spiegel zu betrachten. Erst die Revolution der Denkart, die sich in Kants Fragestellung vollzieht, verspricht einen Ausweg aus diesem Dilemma. Überdrüssig
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Materie und Form der Erkenntnis
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des Dogmatismus, der uns nichts lehrt, und des Skeptizismus, der uns gar überall nichts verspricht, stellt Kant die kritische Grundfrage, die Frage: »Ist überall Metaphysik möglich?«1 Jetzt wird die Erkenntnis aus der Gefahr der skeptischen Auflösung errettet; aber diese ihre Rettung und Befreiung erweist sich nur dadurch als möglich, daß ihr Ziel an eine andere Stelle gerückt wird. Statt eines statischen Verhältnisses zwischen Erkenntnis und Gegenstand – wie es sich durch den geometrischen Ausdruck der Kongruenz, der »Deckung« zwischen beiden bezeichnen läßt – wird ein dynamisches Verhältnis zwischen beiden gesucht und festgestellt. Nicht mehr greift die Erkenntnis, sei es als Ganzes, sei es mit einem bestimmten Teil ihrer selbst, in die transzendente Gegenstandswelt »über« – noch vermag diese in sie »hineinzuwandern«. Alle diese räumlichen Bilder werden vielmehr jetzt als Bilder erkannt. Das Wissen wird weder als ein Teil des Seins noch als seine Abbildung beschrieben – und doch wird ihm andrerseits die Beziehung auf dieses Sein so wenig genommen, daß sie vielmehr unter einem neuen Gesichtspunkt begründet wird. Denn die Funktion des Wissens ist es, die jetzt den Gegenstand, nicht als absoluten, sondern als durch ebendiese Funktion bedingten, als »Gegenstand in der Erscheinung«2 aufbaut und konstituiert. Was wir das »objektive« Sein, was wir den Gegenstand der Erfahrung nennen: das ist selbst nur möglich unter Voraussetzung des Verstandes und seiner apriorischen Einheitsfunktionen. »Alsdenn sagen wir: wir erkennen den Gegenstand, wenn wir in dem Mannigfaltigen der Anschauung synthetische Einheit bewirkt haben.«3 Diesen Vollzug als Ganzes zu verstehen und ihn in seinen einzelnen Bedingungen zu durchschauen: das wird jetzt zur Grundaufgabe der »Analytik des Verstandes«. Sie will zeigen, wie die verschiedenen Grundformen der Erkenntnis, wie die sinnliche Empfindung und die reine Anschauung, wie die Kategorien des reinen Verstandes und die Ideen der reinen Vernunft ineinandergreifen – und wie sie in dieser ihrer Wechselbeziehung und Wechselbestimmung die theoretische Gestalt der Wirklichkeit bestimmen. Diese Bestimmung | ist nicht vom Gegenstand übernommen, sondern 1 Vgl. Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können (§ 4), in: Werke, in Gemeinschaft mit Hermann Cohen u. a. hrsg. v. Ernst Cassirer, 11 Bde., Berlin 1912–1921, Bd. IV, hrsg. v. Artur Buchenau u. Ernst Cassirer, Berlin 1913, S. 1–139: S. 22 f. [Zitat S. 23 (Akad.-Ausg. IV, 274)]. 2 [Ders., Die Metaphysik der Sitten in zwei Teilen, in: Werke, Bd. VII, hrsg. v. Benzion Kellermann, Berlin 1916, S. 1–309: S. 179 (Akad.-Ausg. VI, 371).] 3 [Ders., Kritik der reinen Vernunft, hrsg. v. Albert Görland (Werke, Bd. III), Berlin 1913, S. 615 (A 105).]
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Einleitung
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sie schließt einen Akt der »Spontaneität« des Verstandes in sich. Es ist eine spezifische Art und Richtung der Formung, die zum Weltbild der theoretischen Erkenntnis hinführt. Dieses erscheint somit in seinen Grundzügen nicht als »gegeben«, nicht als fertiges Produkt, das uns durch die Natur der Dinge irgendwie aufgedrängt wird, sondern als ein Resultat freien Bildens, das nichtsdestoweniger an keinem Punkte willkürlich, sondern durch und durch gesetzlich ist. Wie diese Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit, von rein immanenter Selbstbestimmung des Denkens und objektiver Gültigkeit möglich ist – diese Frage bildet das Problem der gesamten Kantischen Vernunftkritik. Aus dieser umfassenden Fragestellung greifen wir hier nur jenes Moment heraus, in dem sie sich mit der Grundfrage, die die Philosophie der symbolischen Formen sich stellt, unmittelbar berührt. Wo die vorkritische Metaphysik eine letzte Antwort gefunden zu haben glaubte – da entdeckt Kant die neue und die vielleicht schwierigste Aufgabe aller philosophischen Erkenntnis. Ihm gilt es, die theoretische Sinngebung, wie sie sich in der Wissenschaft und in der Philosophie darstellt, nicht nur zu vollziehen, sondern sie auch als das, was sie ist, zu begreifen. Solange wir diese Sinngebung lediglich in ihrem Ertrage betrachten, solange wir sie in ihrem Resultat aufgehen lassen, geht sie in gewissem Sinne auch immer wieder in diesem Resultat unter. Statt auf das Ergebnis soll daher der Blick auf die Funktion der theoretischen Erkenntnis und auf deren eigentümliche Gesetzlichkeit zurückgewendet werden. Sie allein ist der Schlüssel, der uns die »Wahrheit der Dinge« aufschließen kann. Die Betrachtung richtet sich fortan nicht mehr ausschließlich auf das Erschlossene, sondern auf den Akt, auf die Art und Weise des Erschließens selbst. Der Schlüssel, der dazu bestimmt ist, die Tore der Erkenntnis zu öffnen, soll zugleich selbst in seinem Bau, das theoretische Wissen soll in seiner »Bedeutungsstruktur« verstanden werden. Zu jenem Verhältnis der »unmittelbaren« Deckung und Entsprechung, wie es der Dogmatismus zwischen dem Wissen und seinem Gegenstand annahm, führt jetzt kein Weg mehr zurück. Die kritische Rechtfertigung und Begründung der Erkenntnis besteht vielmehr von nun ab eben darin, daß sie sich als vermittelt und vermittelnd, als ein geistiges Organon weiß, welches im Aufbau der Gesamtwelt des Geistes seine bestimmte Stelle hat und seine bestimmte Leistung vollzieht. Eine solche Rückwendung der Erkenntnis gegen sich selbst scheint freilich erst dann möglich zu sein, wenn sie ihren gesamten Lauf durch | messen hat und an ihrem höchsten Punkte angelangt ist. Nur die »Transzendentalphilosophie« ist einer solchen Umkehr fähig:
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Materie und Form der Erkenntnis
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Denn sie allein ist es, die es nicht sowohl mit Gegenständen als vielmehr mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen überhaupt zu tun hat, sofern diese a priori möglich sein soll. Nur sie will nicht sowohl ein Wissen von bestimmten Objekten als vielmehr ein »Wissen vom Wissen« sein. Aus diesem Sachverhalt ergibt sich sofort die Erklärung dafür, daß Kant sein zentrales Problem, indem er es zu dieser Höhe der »transzendentalen« Betrachtung hinaufhebt, auch dauernd in ihr festzuhalten sucht. Wo er nach der »Form« der theoretischen Erkenntnis fragt – da glaubt er sie nur dadurch wahrhaft adäquat erfassen und sie in klarem und scharfem Umriß vor uns hinstellen zu können, daß er auf das eigentliche Telos der Erkenntnis, auf ihr Ende und ihre Vollendung, hinblickt. Nur an diesem Ende kann die logische Struktur des Wissens als solche, kann sie, unvermischt mit allen zufälligen Bestimmungen, in ihrer Notwendigkeit und in ihrer Reinheit hervortreten. Es müßte wie ein Herabsinken von diesem mühsam erkämpften Niveau der philosophischen Fragestellung erscheinen, wenn der eigentümliche Sinn des theoretischen »Logos« an einer anderen Stelle gesucht würde als dort, wo er in seiner charakteristischen Vollendung, in seiner eigentlichen Bestimmtheit und Exaktheit, hervortritt. Solche Exaktheit, solche reine und vollständige Selbstverwirklichung der theoretischen Form aber ist nach Kant der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaft vorbehalten. An sie muß daher die Frage in erster Linie ergehen – und an ihnen muß sie dauernd orientiert bleiben. Alles Empirische, sofern es nicht bereits durch das Medium der mathematischen Begriffsbildung hindurchgegangen ist, sofern es nicht durch die reinen Anschauungen von Raum und Zeit sowie durch die Begriffe der Zahl, der extensiven oder intensiven Größe, bestimmt ist, zählt demgemäß nicht zur Form der Erkenntnis, sondern bleibt ihr gegenüber lediglich Stoff, bleibt bloße »Materie«. Das Problem, ob diese Materie der sinnlichen Empfindung nicht vielleicht nur relativ als solche zu bezeichnen sei – ob sie nicht in sich selbst wieder eine bestimmte Gestaltung aufweise und ihre eigenen »konkreteren« Formungen in sich berge: dies Problem wird – zum mindesten zu Beginn von Kants kritischer Untersuchung – nicht gestellt. Hier erscheint die Empfindung als das schlechthin »Gegebene« – und nur dies bildet die Frage, wie dieses Gegebene sich den apriorischen Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes fügt, ohne daß diese Formen in ihrer Bedeutung und Gültigkeit aus ihm entspringen oder auf | ihm beruhen. Wenn wir hingegen nach dem »Ursprung« der Empfindung selbst fragen, so erhalten wir hierauf zunächst nur eine rätselhafte Antwort. Denn dieser Ursprung kann – so scheint es – nicht anders begriffen werden als dadurch, daß er ins
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schlechthin Unerkennbare zurückgeschoben, daß er durch eine »Affektion« des Gemüts durch die »Dinge an sich« erklärt wird. Die unlösbaren dialektischen Schwierigkeiten, in die uns diese Erklärung verstrickt, sind in der Geschichte der Kantischen Philosophie und in ihrer Fortbildung durch die Nachfolger alsbald zutage getreten.4 Sie begreifen sich daraus, daß es Kant an dieser Stelle nicht sowohl darum zu tun war, ein Problem zu lösen, als vielmehr ein Problem abzubrechen. Rein historisch gesehen, erscheint dieses Abbrechen verständlich, ja notwendig: Denn nur so konnte der Weg für Kants eigenste positive Leistung gebahnt und freigemacht werden. Aber nachdem dieser Weg einmal erkämpft worden war, mußte freilich die theoretische Selbstbesinnung wieder zu seinem Anfangspunkt zurückkehren, mußte sie den Ausgang, der in der dualistischen Entgegensetzung eines »bloßen« Stoffes und einer »reinen« Form lag, selbst wieder zum Problem machen. Es sind keineswegs erst die nachkantischen Systeme, an denen dieser Fortgang des Gedankens sich aufweisen und verfolgen läßt, sondern schon die eigene innere Entwicklung der Kantischen Lehre ist in hohem Maße durch ihn bestimmt. Man braucht nicht bis zur Entstehung der »Kritik der Urteilskraft« fortzuschreiten, um dieser eigentümlichen Bewegung des Kantischen Denkens innezuwerden – um zu spüren, wie dieses Denken fort und fort um den anfänglich aufgestellten Dualismus von Stoff und Form kreist und wie es damit den Sinn dieses Gegensatzes allmählich verändert und vertieft. Die »Materie der Empfindung« scheint für die kritische Erkenntnislehre zunächst nichts anderes als ein schlechthin Vorhandenes zu bedeuten – als ein festes Substrat, an dem die formenden Kräfte des Geistes angreifen, das sie aber nicht verändern noch in seiner Wesenheit durchschauen können. Sie bleibt der undurchdrungene und undurchdringliche Rest der Erkenntnis. Aber schon die Analytik des reinen Verstandes geht hier einen Schritt weiter. Denn sie schließt, außer dem Problem der »objektiven« Deduktion der Kategorien, das Problem der »subjektiven« Deduktion in sich – und beide Richtungen der Frage ergänzen und fordern einander wechselseitig. Wenn die erstere sich wesentlich an die Form der Gegenstandserkenntnis wendet, wie sie in der | mathematischen Naturwissenschaft vorliegt, wenn sie auf die Grundsätze abzielt, durch welche die bloße »Rhapsodie« der Wahrnehmungen zu einer fest geschlossenen Einheit, zum System der Er4 Näheres hierüber in der Einleitung zum dritten Band meiner Schrift über »Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit«, Berlin 1920, bes. S. 5 ff. [ECW 4, S. 4 ff.].
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fahrungserkenntnis, wird – so versenkt sich die subjektive Deduktion vielmehr in die Bedingungen und in die Eigenart des Wahrnehmungsbewußtseins selbst. Und ihr Ergebnis besteht darin, daß das, was wir die Welt der Wahrnehmung zu nennen pflegen, weit entfernt, eine bloße formlose Masse von Eindrücken zu sein, schon bestimmte Grund- und Urformen der »Synthesis« in sich schließt. Ohne diese, ohne die Synthesis der Apprehension, der Reproduktion und der Rekognition gäbe es für uns sowenig ein wahrnehmendes wie ein denkendes Ich – gäbe es sowenig einen rein gedachten wie einen empirisch wahrgenommenen »Gegenstand«. Zu Beginn der »Kritik der reinen Vernunft« waren Sinnlichkeit und Verstand als die beiden Stämme der menschlichen Erkenntnis unterschieden worden, die nichtsdestoweniger aus einer gemeinsamen, aber uns unbekannten Wurzel entsprungen sein könnten. Hier scheint daher der Gegensatz zwischen beiden wie ihre etwaige Gemeinschaft noch ganz im realistischen Sinne verstanden zu werden: Sinnlichkeit und Verstand gehören verschiedenen Schichten des Daseins an, wenngleich beide in einer für uns nicht weiter faßbaren und bestimmbaren Urschicht alles Seins, die allen empirischen Trennungen vorausliegt, gemeinsam verankert sein mögen. Die Analytik des reinen Verstandes aber faßt das Verhältnis unter einem durchaus veränderten Gesichtspunkt und rückt den Punkt der Vereinigung von Sinnlichkeit und Verstand wie den Punkt ihrer Trennung an eine völlig andere Stelle. Denn die Einheit zwischen beiden wird jetzt nicht mehr in einem unbekannten Grund der Dinge, sondern sie wird gewissermaßen im Schoße der Erkenntnis selbst gesucht. Sie muß, falls sie überhaupt entdeckbar sein soll, nicht sowohl im Wesen des absoluten Seins als vielmehr in einer Urfunktion des theoretischen Wissens gegründet und aus ihr heraus verständlich sein. Indem Kant diese Urfunktion als die Funktion der »synthetischen Einheit der Apperzeption« bezeichnet, wird ihm diese damit zu dem höchsten Punkt, an den man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik und nach ihr die Transzendentalphilosophie anheften muß. Und dieser »höchste Punkt«, dieser Fokus der geistigen Tätigkeit selbst, ist ein und derselbe für alle »Vermögen« des Geistes: derselbe also auch für »Verstand« und »Sinnlichkeit«. Das »Ich denke«, der Ausdruck der reinen Apperzeption, muß alle meine Vorstellungen begleiten können: »denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht | werden könnte, welches ebenso viel heißt, als: die Vorstellung würde entweder unmöglich oder wenigstens für mich nichts sein«. Hier ist somit eine ganz allgemeine Bedingung aufgestellt, die ebensowohl für die sinnlichen Vorstellungen wie für die rein intellektuellen gilt. In der transzendentalen Apperzeption
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ist ein »Radikalvermögen aller unsrer Erkenntnis« gefunden, auf das beide in gleicher Weise bezogen und in dem sie unlöslich verknüpft sind. Damit ist ausgesprochen, daß es ein isoliertes »bloß sinnliches« Bewußtsein, d. h. ein Bewußtsein, das sich ganz außerhalb der Bestimmung durch alle theoretischen Bedeutungsfunktionen hielte und das als selbständiges Datum ihnen allen voraufginge, nicht geben kann. Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist keineswegs ausschließlich auf die Logik des wissenschaftlichen Denkens bezogen und auf sie eingeschränkt. Sie ist nicht nur die Bedingung für dieses Denken und für die Setzung und Bestimmung seines Gegenstandes, sondern die Bedingung »auch jeder möglichen Wahrnehmung«. So wahr die letztere selbst irgend etwas »bedeuten«, so wahr sie Wahrnehmung für ein Ich und Wahrnehmung von etwas sein will: so wahr muß sie an bestimmten theoretischen Geltungscharakteren teilhaben. Und es erscheint nunmehr als eine besondere Aufgabe der Erkenntniskritik, ebendiese Charaktere, die die Form des Wahrnehmungsbewußtseins als solchen ausmachen, aufzuzeigen und bloßzulegen. Der schematische Gegensatz zwischen »Wahrnehmungsurteil« und »Erfahrungsurteil«, wie ihn noch die »Prolegomena« – freilich mehr aus Gründen der Darstellung als aus solchen der Systematik – festhalten, ist damit im Prinzip überwunden. Denn die Vereinigung sinnlicher Wahrnehmungen oder Vorstellungen in einem Bewußtsein sowie ihre Beziehung auf einen Gegenstand ist niemals Sache der bloßen sinnlichen Rezeptivität, sondern es liegt ihr jederzeit ein »Aktus der Spontaneität« zugrunde.5 Und es zeigt sich nunmehr, daß es, ebenso wie eine Spontaneität des reinen Verstandes, des logisch-wissenschaftlichen Denkens und Konstruierens, so auch eine Spontaneität der reinen Einbildungskraft gibt. Auch sie ist keineswegs lediglich reproduktiv, sondern ursprünglich-produktiv. Von der bloßen »Affektion« der Sinne, mit welcher die Vernunftkritik beginnt, bis zu den Formen der reinen Anschauung – von diesen wieder zur produktiven Einbildungskraft und zu jener Einheit der Handlung, die sich im Urteil des reinen Verstandes ausdrückt, führt jetzt ein stetiger Weg. Sinnlichkeit, Anschauung, Verstand bilden keineswegs bloß sukzessive Phasen der Erkenntnis, die in ihrem einfachen Nacheinander zu ergreifen sind, sondern sie stellen sich als ein strenges Ineinander, als ihre konstitutiven Momente, dar. | Und damit ist nun erst das Verhältnis von »Materie« und »Form« der Erkenntnis auf denjenigen Ausdruck gebracht, der der neuen Grundeinsicht Kants, der seiner »kopernikanischen Drehung« ent5
[Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 114–117 u. 620 (B 131–136 u. A 114).]
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spricht. Denn beide sind jetzt keine absoluten Seinspotenzen mehr, sondern sie dienen der Bezeichnung bestimmter Bedeutungsdifferenzen und Bedeutungsstrukturen. Der »Stoff« der Empfindung, wie er anfangs von Kant gefaßt war, konnte zunächst noch als eine Art erkenntnistheoretischen Gegenstücks zur πCτη
λη des Aristoteles erscheinen. Gleich dieser wird er als das schlechthin Bestimmungslose vor aller Bestimmung genommen – gleich ihr muß er alle Bestimmtheit von der Form, die zu ihm hinzutritt und die sich ihm einprägt, erwarten. Anders dagegen stellt sich der Sachverhalt dar, nachdem Kant selber die Idee seiner »transzendentalen Topik« vollständig entwickelt – und nachdem er innerhalb dieser Topik dem Gegensatz von »Stoff« und »Form« seine feste Stelle angewiesen hat. Denn jetzt sind beide aus Urbestimmungen des Seins, aus ontischen Wesenheiten, zu reinen Reflexionsbegriffen geworden, die in dem Abschnitt über die »Amphibolie der Reflexionsbegriffe« mit Einstimmung und Widerstreit, mit Einerleiheit und Verschiedenheit auf ein und derselben Linie behandelt werden. Sie sind nicht mehr zwei Pole des Seins, die in einer unaufheblichen Realopposition einander gegenüberstehen, sondern sie sind die Glieder einer methodischen Opposition, die zugleich methodische Korrelation ist. Jetzt ist es daher auch nicht mehr widersprechend, sondern geradezu notwendig, daß ebendas, was unter einem bestimmten Gesichtspunkt als die »Materie« der Erkenntnis bezeichnet werden kann, in einer anderen Hinsicht wieder als etwas Geformtes oder doch Formhaltiges erkannt wird. Die methodische Relativierung des Gegensatzes hat zur Folge, daß sich die Bedeutung der beiden Gegenglieder je nach dem geistigen Bezugssystem, das wir zugrunde legen, wandelt. Auf das Wahrnehmungsproblem angewandt, besagt dies, daß wir dort, wo es sich darum handelt, die Welt, in der sich das vorwissenschaftliche Bewußtsein hält, von den konstruktiven Bestimmungen der wissenschaftlichen Erkenntnis zu unterscheiden, die Wahrnehmung selber als ein relativ Einfaches und relativ »Unmittelbares« ansehen und ansetzen dürfen. Sie mag, in bezug auf diese konstruktiven Bestimmungen, als ein schlichtes Datum, als ein »Vorgegebenes«, erscheinen. Aber dies benimmt uns in keiner Weise die Möglichkeit, noch überhebt es uns der Verpflichtung, sie in einem anderen Problemzusammenhang als etwas durchaus Vermitteltes und Bedingtes zu erkennen. Es zeigt sich hierin nur, daß die Analysis der theoreti | schen »Form« der Erkenntnis nicht in einer einzelnen Erkenntnisschicht verharren und sich in ihr gleichsam festlegen kann, sondern daß sie stets die Gesamtheit der Momente, aus denen die Erkenntnis sich aufbaut, ins Auge fassen muß. Denn nicht erst die Region der wissenschaftlichen, der »abstrak-
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ten« Begriffe, sondern bereits die der »gemeinen« Erfahrung ist mit theoretischen Deutungen und Bedeutungen durchdrungen. Und die transzendentale Kritik darf sich, wenn sie die Struktur der Gegenstandserkenntnis aufdecken will, nicht auf jene intellektuelle »Sublimierung« der Erfahrung, nicht auf den Oberbau der theoretischen Wissenschaft beschränken, sondern sie muß ebensowohl den Unterbau, sie muß die Welt der »sinnlichen« Wahrnehmung als ein spezifisch bestimmtes und spezifisch gegliedertes Gefüge, als einen geistigen Kosmos sui generis, verstehen lernen. Die »Kritik der reinen Vernunft« hat sich, wie wir sahen, dieser Forderung keineswegs verschlossen; aber sie hat den Problemkreis, den sie von ihren eigenen Voraussetzungen aus so deutlich bezeichnet hat, nicht mehr nach allen Seiten hin umschritten. Denn ihre methodische Grundaufgabe wies sie von Anfang an in eine andere Richtung. Die »subjektive« Deduktion ordnet sich hier der »objektiven« unter: Die Analyse des Wahrnehmungsbewußtseins dient nur als Vorbereitung und zugleich als Gegenstück und Korollar für die eigentlich entscheidende Frage; für die Frage nach den Voraussetzungen und Prinzipien, auf denen die Erfahrung als Wissenschaft beruht. Erfahrung als Wissenschaft ist nur durch eine notwendige Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich. Auf diese notwendige Verknüpfung und ihre Möglichkeit muß sich demnach das Problem in erster Linie richten. Die Sinnstruktur, ohne welche auch die Wahrnehmung nicht gedacht werden kann, wird daher wesentlich als reine Gesetzesstruktur gedacht: Sie besagt, daß die einzelnen Wahrnehmungen nicht isoliert stehen, daß sie kein bloßes Aggregat bilden dürfen, sondern daß sie sich zu einem gedanklichen Gefüge, zu einem »Kontext der Erfahrung« zusammenfassen müssen. »Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zusammenhängt«, so formuliert es das zweite der »Postulate des empirischen Denkens überhaupt«, »ist wirklich . « 6 Dieser Zusammenhang aber wird hergestellt und wird in seiner Eigenart, in seinem Formcharakter, bestimmt durch die allgemeinen Verstandesgesetze, von denen alle besonderen Naturgesetze nur Spezifikationen sind. Es ist demnach ein und dieselbe rein intellektuelle Synthesis, die nach Kant den Gegenstand der empirischen Anschauung wie das Objekt der mathematischen Naturwissenschaft bedingt und ermög | licht – und ebendiese Einerleiheit schließt erst die Lösung der erkenntniskritischen Grundfrage nach der Anwendbarkeit der reinen mathematischen Begriffe auf sinnliche Erscheinungen in sich. Dieselbe Handlung, wel6
[A. a. O., S. 195 (B 266).]
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che den verschiedenen Vorstellungen in einem logischen Urteil Einheit gibt, gibt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche allgemein ausgedrückt der reine Verstandesbegriff heißt. Die Kategorien, die das System der mathematisch-physikalischen Erkenntnis fundieren, sind demgemäß die gleichen wie diejenigen, auf denen unser »natürlicher Weltbegriff« beruht. Hier darf – so scheint es – nirgends eine Differenz oder gar ein prinzipieller Bruch anerkannt werden: Denn wäre dies der Fall, so schiene damit die gesamte Beweisführung, auf der die transzendentale Deduktion der Kategorien beruht, entwurzelt – so wäre die Frage nach dem »quid juris« der Kategorien, nach dem Recht ihrer Anwendung auf empirisch-sinnliche Erscheinungen nicht mehr zu beantworten. Dieses Recht gründet sich darauf, daß alle Synthesis – auch diejenige, durch die die Wahrnehmung als objektive Wahrnehmung, als Wahrnehmung von »etwas« erst möglich wird – unter den reinen Verstandesbegriffen steht. »Wenn ich […] z. B. die empirische Anschauung eines Hauses durch Apprehension des Mannigfaltigen derselben zur Wahrnehmung mache, so liegt mir die notwendige Einheit des Raumes und der äußeren sinnlichen Anschauung überhaupt zum Grunde, und ich zeichne gleichsam seine Gestalt dieser synthetischen Einheit des Mannigfaltigen im Raume gemäß. Ebendieselbe synthetische Einheit aber, wenn ich von der Form des Raumes abstrahiere, hat im Verstande ihren Sitz und ist die Kategorie der Synthesis des Gleichartigen in einer Anschauung überhaupt, d. i. die Kategorie der Größe, welcher also jene Synthesis der Apprehension, d. i. die Wahrnehmung durchaus gemäß sein muß.«7 Und im gleichen Sinne ist selbst das reine »Was« der Empfindung, ihre einfache Qualität, verstandesmäßig bestimmt und daher in einer gewissen Hinsicht antizipierbar: Denn der Grundsatz der Kontinuität, der Grundsatz der intensiven Größe, unterwirft die Veränderung dieser Qualität einer bestimmten Bedingung und schreibt ihr eine gewisse Form vor. Auf diese Weise wird bewiesen, »daß die Synthesis der Apprehension, welche empirisch ist, der Synthesis der Apperzeption, welche intellektuell und gänzlich a priori in der Kategorie enthalten ist, notwendig gemäß sein müsse«.8 »[D]aß ebendieselbe bildende Synthesis, wodurch | wir in der Einbildungskraft einen Triangel konstruieren, mit derjenigen gänzlich einerlei sei, welche wir in der Apprehension einer Erscheinung ausüben, um uns davon einen Erfahrungsbegriff zu machen: das ist es allein, was mit diesem Begriffe die 7 8
A. a. O., S. 132 f. [B 162]. A. a. O., S. 133 Anm. [B 162 Anm.].
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Vorstellung von der Möglichkeit eines solchen Dinges verknüpft.«9 So wird der Gedanke einer ursprünglichen intellektuellen »Form« der Wahrnehmungswelt von Kant in aller Strenge und nach allen Richtungen hin durchgeführt: Aber ebendiese Form fällt für ihn mit der der mathematischen Begriffe im wesentlichen zusammen. Beide unterscheiden sich voneinander allenfalls nach der Deutlichkeit der Ausprägung, aber nicht dem Wesen und der Struktur nach. In den Bedingungen des mathematisch-physikalischen Gegenstandsbegriffs, in den Begriffen von Zahl und Maß, erschöpft sich all das, was die Wahrnehmung an theoretischem Gehalt und an theoretischer Bedeutsamkeit in sich faßt. Immer bedarf es für sie des Durchgangs durch diese allgemeinsten mathematischen Bestimmungen, wenn sie sich für uns in irgendeiner Weise fixieren und formen soll. Die Frage nach ihrem »Was« und nach ihrem »Wie« läßt sich in wirklicher Strenge nur beantworten, wenn es gelingt, sie in die Frage nach einem »Wieviel« zu verwandeln. Denn alles, wodurch die eine Wahrnehmung sich von der andern unterscheidet, läßt sich objektiv und theoretisch zuletzt durch nichts anderes als durch die Angabe einer Stelle in einem bestimmten Maßsystem, in irgendeiner Größenskala, bezeichnen. Die kritische Analyse des Wahrnehmungsbewußtseins und die Analyse des theoretischen Grundsystems der exakten Wissenschaft gelangt also zum gleichen Ergebnis: Es ist dieselbe Urschicht des Intellekts, der apriorischen Begriffe, auf die wir uns hier wie dort als festes Fundament zurückgewiesen sehen. Indes so notwendig und so folgerecht dieses Resultat im Rahmen von Kants allgemeiner Fragestellung erscheint: so können wir dennoch nicht bei ihm stehenbleiben, nachdem sich uns einmal dieser Rahmen erweitert hat, nachdem wir versucht haben, die »transzendentale Frage« selbst in einem umfassenderen Sinne zu stellen. Die Philosophie der symbolischen Formen richtet ihren Blick nicht ausschließlich und nicht in erster Linie auf das rein wissenschaftliche, exakte Weltbegreifen, sondern auf alle Richtungen des Weltverstehens. Sie sucht dieses letztere in seiner Vielgestaltigkeit, in der Gesamtheit und in der inneren Unterschiedenheit seiner Äußerungen zu erfassen. Und immer zeigt sich dabei, daß das »Verstehen« der Welt kein bloßes Aufnehmen, keine Wiederholung eines gegebenen Gefüges der Wirklichkeit ist, sondern daß es eine | freie Aktivität des Geistes in sich schließt. Es gibt kein echtes Weltverständnis, das nicht in dieser Weise auf bestimmten Grundrichtungen, nicht sowohl der Betrachtung als vielmehr der geistigen Formung, beruht. Um die Gesetze dieser For9
A. a. O., S. 198 [B 271].
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mung zu erfassen, mußten wir vor allem ihre verschiedenen Dimensionen scharf voneinander unterscheiden. Bestimmte Begriffe – wie der Begriff der Zahl, der Zeit, des Raumes – stellen gewissermaßen Urformen der Synthesis dar, die unumgänglich sind, wofern überhaupt eine »Vielheit« zur »Einheit« zusammengenommen, ein Mannigfaltiges nach bestimmten Gestalten abgeteilt und gegliedert werden soll. Aber diese Gliederung vollzieht sich, wie wir gesehen haben, keineswegs gleichartig in allen Gebieten: Sondern ihre Art hängt wesentlich von dem besonderen Strukturprinzip ab, das in jedem Sondergebiet wirksam und herrschend ist. So zeigen insbesondere die Sprache und der Mythos je eine besondere »Modalität«, die ihnen spezifisch zukommt und die allen ihren Einzelgebilden gewissermaßen eine gemeinsame Tönung verleiht.10 Halten wir an dieser Einsicht in die »Mehrdimensionalität« der geistigen Welt fest, so gewinnt damit auch die Frage nach dem Verhältnis von »Begriff« und »Anschauung« alsbald eine wesentlich komplexere Gestalt. Solange wir, im Umkreis der rein erkenntniskritischen Frage stehend, lediglich die Voraussetzungen und die Gültigkeit der wissenschaftlichen Grundbegriffe untersuchen, solange wird auch die Welt der sinnlichen Anschauung und der sinnlichen Wahrnehmung immer nur im Hinblick auf ebendiese Begriffe bestimmt und als Vorstufe für sie gewertet. Sie ist der Keim, aus dem sich die theoretischen Gebilde der Wissenschaft entfalten sollen – aber in die Beschreibung dieses Keimes werden unversehens eben diejenigen Gestaltungen, die aus ihm dereinst hervorgehen werden, schon hineingelegt. Die Struktur des Wahrgenommenen und Angeschauten wird von vornherein sub specie des einen Zieles: des Zieles der wissenschaftlichen Objektivierung, des theoretischen Einheitsbegriffs der »Natur«, gesehen. Und so findet sich jetzt in der scheinbaren »Rezeptivität« der Anschauung die Spontaneität des »Verstandes« wieder – ebenjenes Verstandes, der kraft seiner eigenen Gesetzlichkeit die Bedingung der reinen Naturerkenntnis, der Gesetzlichkeit der wissenschaftlichen Erfahrung und ihres Gegenstandes, ist. Aber so wesentlich diese Richtung auf die Systematik der »Erfahrung«, auf das universelle System der Naturerkenntnis, für die sinnliche Anschauung ist, so ist sie doch nicht die einzige Bedeutungsintention, die in ihr beschlossen liegt. Denn den »Gedankenformen«, in die das exakt-wissen | schaftliche Begreifen die Welt der Phänomene einspannt, stehen Formen von anderer Prägung und anderer Sinn10 Näheres hierüber s. in der allgemeinen Einleitung, bes. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, Berlin 1923, S. 9 ff. u. 29 ff. [ECW 11, S. 7 ff. u. 27 ff.].
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richtung gegenüber. Eine solche Form der geistigen Schau fanden wir in den Sprachbegriffen wie in den mythischen Begriffen wirksam. Die Sprachbegriffe mögen, gemessen an den Begriffen der strengen Wissenschaft, als bloße Vorbegriffe, als provisorische Bildungen und Ansätze des Denkens, die mythischen Begriffe mögen schlechthin als Pseudobegriffe erscheinen. Aber dies hindert nicht, daß ihnen ein ganz bestimmter Charakter und eine bestimmte Bedeutsamkeit innewohnt. Auch sie sind Weisen der geistigen »Sicht«; auch sie teilen die fließend immer gleiche Reihe der Phänomene belebend ab und lassen sie zu festen Gestalten zusammengehen. Die Sprache lebt in einer Welt von Benennungen, von Lautsymbolen, mit denen sie eine bestimmte Bedeutung verknüpft – und indem sie an der Einheit und Bestimmtheit dieser Benennungen festhält, kommt damit die Mannigfaltigkeit der sinnlichen Erlebnisse, die durch sie befaßt und getroffen werden sollen, selbst erst zu einer relativen Festigkeit, zu einer Art von Stillstand. Der Name ist es, der das erste Moment der Konstanz und Dauer in diese Mannigfaltigkeit einführt – die Identität des Namens ist die Vorstufe und die Antizipation der Identität des logischen Begriffs. Anders vollzieht sich die Gestaltung im Gebiet des Mythos: Denn die »objektive« Welt, die sich auch hier aufbaut, die als ein Beständiges und Gleichbleibendes hinter der unendlichen Vielgestalt der Phänomene der äußeren und inneren Wahrnehmung erblickt wird, ist eine Welt dämonischer und göttlicher Kräfte, ein Pantheon belebter und handelnder Wesen. Aber in beiden Fällen zeigt sich nun das gleiche Verhältnis, das uns in der Betrachtung und Analyse der theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnis entgegentrat. Sowenig es in dieser gelang, den »Stoff« und die »Form« als trennbare Bestandteile aufzuzeigen, die unabhängig voneinander existieren und die sich nur nachträglich und äußerlich aneinanderfügen, sowenig kann auch der Rückgang in die Urschichten von Sprache und Mythos je zu einer derartigen Trennung gelangen. Wir finden niemals die »nackte« Empfindung, als materia nuda, zu der dann irgendeine Formgebung hinzutritt – sondern was uns faßbar und zugänglich ist, ist immer nur die konkrete Bestimmtheit, die lebendige Vielgestalt einer Wahrnehmungswelt, die von bestimmten Weisen der Formung durch und durch beherrscht und von ihnen völlig durchdrungen ist. Die sorgsamsten und genauesten Analysen jenes »primitiven Denkens«, auf dem der Mythos beruht, haben immer wieder in unzweideutiger Schärfe das eine Ergebnis klargestellt: daß der Art dieses primitiven Denkens auch | eine eigene Weise und Richtung der Wahrnehmung entspricht. Die mythischen Gebilde gleichen nicht einem bunten Schleier, der sich, immer dichter und dichter, um die empirische Vorstellung der
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Dinge legt, die demungeachtet als ein fester, unangreifbarer Kern hinter diesem Schleier bestehenbleibt. Sondern dies vielmehr macht die Kraft dieser Gebilde aus, daß in ihnen eine eigene und eigentümliche Weise der Anschauung und der Wahrnehmung von »Wirklichkeit« gegeben ist, die unter ganz anderen Bedingungen steht als jener Modus der Wirklichkeitserfassung, der zu dem Phänomen der »Natur«, als einem Ganzen, das unter durchgängigen empirischen Gesetzen steht, hinführt. Die mythische Wahrnehmung weiß nichts von einer sol chen »Natur« – wenngleich es ihr an innerer Verknüpfung, an Zusammenhängen, die das zeitlich und räumlich Getrennte als Momente, als Ausdrücke und Prägungen ein und desselben mythischen »Sinnes« erscheinen lassen, keineswegs fehlt. Das Analoge gilt von der Sprache – denn auch hier ist es einseitig und unzureichend, wenn man das, was sie leistet, lediglich in der Richtung ihres Einflusses auf das Denken verfolgt, statt, als gleich wesentlich und ursprünglich, ihren Einfluß auf den Aufbau und auf die Gestaltung der Wahrnehmungswelt ins Auge zu fassen. Nicht erst die Fügung und Gliederung der Begriffswelt, sondern die phänomenale Struktur der Wahrnehmung selbst ist es, worin sich die Kraft der sprachlichen Formung vielleicht am deutlichsten und am schlagendsten erweist. Humboldt sieht die echte »genetische« Definition der Sprache darin, daß sie die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes sei, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen. Aber er läßt andererseits keinen Zweifel daran bestehen, daß diese Arbeit des Gedankens mit der Arbeit an der Welt der Anschauung und an der der Vorstellung aufs innigste verwoben ist. Durch denselben geistigen Akt, vermöge dessen der Mensch die Sprache aus sich herausspinnt, spinnt er sich auch in dieselbe ein: so daß er zuletzt mit den anschaulichen Gegenständen nicht anders verkehrt und nicht anders lebt als in der Art, wie das Medium der Sprache sie ihm zeigt.11 Hat man sich einmal mit dieser Grundansicht durchdrungen, so steigt damit eine Welt versunkener oder verdunkelter Formprobleme auf, die jenen Problemen, die der Aufbau der wissenschaftlichen Erkenntnis stellt, an Bedeutung nichts nachgeben, die ihnen philosophisch ebenbürtig sind. Erst wenn man die Totalität dieser Probleme überschaut, blickt man in jene immanente Dynamik des Geistes hinein, die über all die starren Grenzen, die wir 11 Wilhelm von Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (Gesammelte Schriften, hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Abt. 1: Werke, hrsg. v. Albert Leitzmann, Bd. VII/1), Berlin 1907, S. 46, 60 u. ö.
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zwischen seinen einzelnen »Vermögen« zu ziehen pflegen, hinausgeht. In dieser | Dynamik, in der kontinuierlichen Bewegtheit des Geistes geht, gemäß einem Worte Goethes, alles Sehen alsbald in ein Betrachten, alles Betrachten in ein Sinnen, alles Sinnen in ein Verknüpfen über, so daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren. In den folgenden Betrachtungen und Untersuchungen wird es sich darum handeln, den Begriff der »Theorie« in der ganzen Weite zu nehmen, die diese Goethischen Sätze aus der Vorrede zur »Farbenlehre« ihm geben. Die Theorie kann und soll uns nicht auf die wissenschaftliche Erkenntnis der Welt, geschweige auf einen einzelnen logisch ausgezeichneten Kulminationspunkt derselben, eingeschränkt bleiben, sondern wir müssen sie überall dort aufsuchen, wo überhaupt eine spezifische Weise der Gestaltung, der Erhebung zu einer bestimmten Einheit des »Sinnes«, am Werke ist.
2. [Die symbolische Erkenntnis und ihre Bedeutung für den Aufbau der Gegenstandswelt] Daß die Philosophie die Gesamtheit der Formprobleme, die der Mythos und die Sprache in sich bergen, erst relativ spät in den Umkreis ihrer Betrachtung gezogen hat, daß sie diese Probleme lange Zeit eher gemieden und von ihrer Schwelle gewiesen hat, als daß sie sie aufgesucht hätte – dies ist aus der Eigenart ihres Begriffs und aus den geschichtlichen Bedingungen ihrer Entstehung durchaus verständlich. Denn der Begriff der Philosophie gelangt erst dort zu voller Kraft und Reinheit, wo die Weltauffassung, die sich in den sprachlichen und mythischen Begriffen ausdrückt, verlassen, wo sie prinzipiell überwunden wird. Die »Logik der Philosophie« konstituiert sich erst in diesem Akt der Überwindung. Sie verlangt, um zu ihrer eigenen Reife zu gelangen, vor allem die Auseinandersetzung mit der sprachlichen und der mythischen Welt und die dialektische Entgegensetzung zu beiden. Nur auf diesem Wege ist der Philosophie die Bestimmung und die Behauptung ihres Wesensbegriffs und ihres Wahrheitsbegriffs gelungen. Auch dort, wo sie, wie bei Platon, den Mythos selbst noch als Ausdrucksform benutzt und als Ausdrucksform meistert, muß sie außerhalb dieser Form und über ihr stehen: muß sie den reinen Logos scharf und unzweideutig von ihr unterscheiden. Der Mythos bleibt der Welt des Werdens und damit der Welt des Scheins verhaftet, während die Wahrheit des Seienden, die λεια τ3ν ντων allein im reinen Begriff erfaßt wird. Die philosophische Erkenntnis muß sich erst vom Zwang der Sprache und des
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Mythos lösen, sie muß gleichsam diese Zeugen menschlicher Bedürftigkeit ausstoßen, ehe sie sich in den reinen Äther des Gedankens erheben kann. | Und auf einem ähnlichen Wege wie die reine Philosophie dringt auch die wissenschaftliche Naturerkenntnis zur Erfassung ihrer eigentümlichen Aufgabe durch. Auch sie muß, um sich selbst zu finden, zuvor die große geistige Scheidung, die gedankliche κCσις vollzogen haben, durch die sie sich vom Mythos und von der Sprache abtrennt. Der Akt dieser Trennung bezeichnet die Geburtsstunde der Philosophie, wie er den Ausgangspunkt der empirischen Erforschung und der mathematischen Bestimmung der Natur bildet. In den Anfängen der griechischen Philosophie fallen beide Probleme noch unmittelbar ineinander. Die ionischen Naturphilosophen werden von Aristoteles als die ältesten »Physiologen« bezeichnet: Sie sind es, die am Begriff der Physis den Begriff des Logos entdecken. Und auch dort, wo der Logos selbständig wird, wo er, wie bei den Pythagoreern, als reines Zahlverhältnis gefaßt und insofern vom Stoff der sinnlichen Wahrnehmung abgelöst wird, bleibt er auf die Physis bezogen. Die Zahl ist Grund und Quell aller Wahrheit: Aber ihre Wahrheit selbst ist nur dadurch, daß sie sich verkörpert, daß sie in den Sinnendingen selber als deren Harmonie, als ihr Maß und ihre Ordnung erscheint. Wieder springt diese begriffliche »Wesenheit«, diese οσα und λεια der Zahl, nicht unvermittelt heraus, sondern sie muß sich erst, wie aus einer fremden Welt, langsam und allmählich emporringen. Die Pythagoreische Zahl, die Zahl der Mathematik und der Naturwissenschaft, wird erst entdeckt, indem sie, in stetigem gedanklichem Fortgang, dem Bereich der mythisch-magischen Zahl abgewonnen wird. Und den gleichen Kampf wie mit den mythischen Begriffen hat die wissenschaftliche Naturerkenntnis auch mit den sprachlichen Begriffen zu bestehen. Sie kann sich den Trennungen und Scheidungen sowie den Verknüpfungen und Zusammenfassungen, wie sie in der Sprache vorliegen, nicht einfach überlassen, sondern muß sie durch Unterschiede und Einheiten von ganz anderer Art und von anderer intellektueller Prägung ersetzen. Wo die Sprache sich mit der Benennung begnügt, da sucht sie die Bestimmung; wo jene bei der Vieldeutigkeit des Namens stehenbleibt, da sucht sie die Eindeutigkeit des Begriffs. Aber indem die Naturerkenntnis von ihren ersten wissenschaftlichen Anfängen an diese Forderung stellt, hat sich damit ein noch schärferer Bruch mit dem Weltbild der »gemeinen Erfahrung« vollzogen. Der Schnitt, der hier geführt wird, trennt nicht nur die Welt der Worte, sondern er trennt auch die Welt der unmittelbaren Wahrnehmung von der Welt der naturwissenschaftlichen »Gegenstände« ab. Um zur
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Sphäre dieser Gegenstände durchzudringen, um die Natur in ihrem | objektiven Sein und in ihrer objektiven Bestimmtheit zu erfassen, muß der Gedanke nicht nur das Gebiet der Namen, sondern auch das der sinnlichen Empfindung und der sinnlichen Anschauung hinter sich lassen. Es ist einer der originellsten und fruchtbarsten Züge des griechischen Denkens, der freilich nur selten beachtet und nach seiner ganzen Bedeutung gewürdigt worden ist, daß es beide Leistungen in einem vollzieht. Dies wird dadurch möglich, daß, in einer auf den ersten Blick höchst befremdlichen und paradoxen Gleichsetzung, die sinnliche Wirklichkeit selber in eine bloß sprachliche Wirklichkeit, in ein Sein von Namen, umgedeutet wird. Worin die gemeine Weltansicht die sicherste und fragloseste, die schlechthin unbezweifelbare und unangreifbare Realität erblickt, darin erkennt die philosophische Ansicht den Wechsel und Wandel, den Unbestand und die Willkür einer bloßen Namengebung. »Name ist alles«, so heißt es in dem Lehrgedicht des Parmenides, »was die Sterblichen festgesetzt haben, im Vertrauen darauf, daß es die Wahrheit sei: Entstehen und Vergehen, Sein und Nicht-Sein, Wechsel des Ortes und Wandel der leuchtenden Farbe.«12 Und wie hier von seiten des reinen Denkens, von seiten des echten philosophischen Logos der Scheinlogos der Sprache bekämpft wird, so bezeichnet ebendieser Kampf auch den Anfang und Auftakt des wissenschaftlichen Naturbegriffs. Demokrit knüpft hier unmittelbar an Parmenides an: Er weist am Sein der Natur, am Sein der Physis, das gleiche Moment auf, das Parmenides am rein gedachten, am logischen Sein aufgewiesen hatte. Auch die Wahrheit der Natur liegt uns nicht unmittelbar vor Augen, sondern sie wird erst entdeckt, wenn es uns gelingt, die Welt der Sachen von der der Worte, das Beständige und Notwendige vom Zufälligen und Konventionellen zu scheiden. Und zufällig und konventionell sind nicht nur unsere sprachlichen Bezeichnungen, sondern auch die ganze Region unserer sinnlichen Empfindungen. Nur »der Satzung nach« existiert Süßes und Bitteres, Farbiges und Tönendes: In Wahrheit aber sind nur die Atome und der leere Raum. Und diese Gleichordnung der Sinnesqualitäten mit den Sprachzeichen, diese Herabsetzung ihrer Wirklichkeit zur Wirklichkeit des Namens, ist kein bloß vereinzelter, historisch bedingter Zug in der Entstehung des wissenschaftlichen Naturbegriffs. Es ist nicht 12 [Parmenides, Fragm. 8, V. 38–41, zit. nach: Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch, Berlin 1903, S. 124: »τ3ι πντ’ νοµ(α) σται / "σσα βCοτο$ κατ%εντο πεποι τες ε6ναι λη0, / γγνεσα τε κα$ λλυσαι, ε6να τε κα$ οχ, / κα$ τ πον λλσσειν δι τε χC α φανν µεβειν.«]
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zufällig, daß uns genau die gleiche Wendung dort begegnet, wo dieser Begriff in der Philosophie und Wissenschaft der Renaissance aufs neue entdeckt und wo er unter anderen methodischen Voraussetzungen begründet wird. Abermals trennt jetzt Galilei die »objektiven« Bestimmungen von den bloß »subjektiven«, | die »primären« von den »sekundären« Qualitäten, indem er die letzteren zu bloßen Namen degradiert. All das, was wir dem Körper als seine sinnlichen Eigenschaften beizulegen pflegen, alle Gerüche, Geschmäcke und Farben, sind in bezug auf den Gegenstand, dem wir sie inhärierend denken, nichts als Worte, mit denen wir nicht die Natur des Gegenstandes selber, sondern nur seine Wirkung auf uns, auf den empfindenden Organismus, bezeichnen. Der Gedanke muß, sofern er sich überhaupt auf ein physisches Sein richtet, dieses notwendig mit bestimmten Merkmalen der Größe, der Gestalt, der Zahl versehen; er muß es als eines oder vieles, als groß oder klein, als mit dieser oder jener räumlichen Ausdehnung und Figur behaftet denken. Nicht dagegen gehört es zu diesem Sein, daß es als rot oder weiß, als bitter oder süß, als wohl- oder übelriechend erfaßt wird; denn alle diese Benennungen sind nur Zeichen, die wir für wechselnde Zustände des Seins brauchen, die aber ihm selbst äußerlich und akzidentell sind.13 Ebendieser methodische Anfang der wissenschaftlichen Naturerkenntnis scheint, einmal erreicht, im gewissen Sinne auch ihr methodisches Ende bedeuten zu müssen. Über dieses Ziel scheint sie nicht weiter hinausschreiten noch auch nur hinausfragen zu können. Denn täte sie es – würde sie auch den hier gewonnenen Objektbegriff noch überschreiten, so sähe sie sich damit, wie es scheint, rettungslos dem regressus in infinitum preisgegeben. Hinter jedem Sein, das sich als wahres und objektives gibt, würde jetzt ein anderes auftauchen, ohne daß diesem Fortgang jemals Einhalt geboten und damit eine schlechthin feste, unangreifbare »Grundlage« der Erkenntnis sichergestellt werden könnte. Für den Physiker zum mindesten besteht keine Notwendigkeit, ja für ihn scheint kein Recht zu bestehen, sich diesem Fortgang ins Unbestimmte zu überlassen. Er fordert an irgendeinem Punkte Bestimmtheit und Endgültigkeit – und er findet sie, wo er den festen Boden des Mathematischen berührt. Ist er einmal, von der bloßen Zeichen- und Scheinwelt der sinnlichen Empfindung ausgehend, zu dieser Schicht zurückgelangt, so hat er damit für sich das Galileo Galilei, Il saggiatore, in: Le opere. Prima edizione completa condotta sugli autentici manoscritti Palatini, hrsg. v. der Società editrice Fiorentina, Bd. IV, Florenz 1844, S. 145–369: S. 333 f.; Näheres s. Erkenntnisproblem, Bd. I, Berlin 31922, S. 390 ff. [ECW 2, S. 325 ff.]. 13
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Recht erlangt, in ihr zu verweilen und in ihr gleichsam auszuruhen. Auch der moderne Physiker pflegt jeden »erkenntnistheoretischen« Zweifel an der Endgültigkeit seines Wirklichkeitsbegriffs von sich zu weisen. Er findet für das Wirkliche eine klare und abschließende Definition, indem er, mit Planck, das Wirkliche als das Meßbare definiert. Dieses Gebiet des Meßbaren ist und besteht an sich: Es | trägt sich selbst, und es erläutert sich selbst. Die Objektivität des Mathematischen, das feste Fundament von Größe und Zahl, darf nicht selbst wieder erschüttert, darf nicht durch die Reflexion gleichsam unterwaschen und unterwühlt werden. Aus der Scheu vor einer solchen Unterwühlung erklärt es sich, daß die Naturwissenschaft den Weg des »dialektischen« Denkens verschmäht; daß die ihr natürliche und gemäße Richtung darin besteht, von den beobachteten Erscheinungen zu den Prinzipien zurückzugehen, um von diesen letzteren wiederum zu den mathematisch aus ihnen ableitbaren Folgerungen fortzuschreiten – nicht aber darin, diese Prinzipien selbst weiter legitimieren und begründen zu wollen. Wo sie sich dieser ihrer ersten Tendenz überläßt, da gibt es für sie keinen scharfen Trennungsstrich zwischen Prinzipien und Objekten. Die Prinzipien, als das objektiv Gültige, sie bilden zugleich das im eigentlichen Sinne Wirkliche. Die Wissenschaft vermag zunächst ihre Grundbestimmungen nicht anders zu setzen als dadurch, daß sie sie in dinglicher Verkörperung vor sich hinstellt. Hier waltet sozusagen ein methodischer »Materialismus«, der sich keineswegs am Begriff der Materie allein, sondern auch an den anderen physikalischen Grundbegriffen, insbesondere an dem der »Energie«, nachweisen läßt. Immer von neuem zeigt sich in der Geschichte des naturwissenschaftlichen Denkens die Macht dieser Grundtendenz – zeigt sich ein Bestreben, Funktionales in Substantielles, Relatives in Absolutes, Maßbegriffe in Dingbegriffe zu verwandeln. Aber die theoretische Entwicklung, die die Physik in den letzten Jahrzehnten genommen hat, zeigt freilich, daß sich auch hier ein Umschwung vorzubereiten beginnt: Ja dieser Umschwung ist vielleicht dasjenige Motiv, das der gesamten modernen Physik ihr methodisches Gepräge gibt. Solange das »klassische« System der Naturwissenschaft, das System der Galilei-Newtonischen Dynamik, in unangefochtener Geltung stand, solange erschienen die Prinzipien, auf denen es beruht, als die Grundgesetze der Natur schlechthin. In den Begriffen von Raum und Zeit, von Masse und Kraft, von Aktion und Reaktion, wie sie bei Newton definiert wurden, schien das Grundgerüst für alle physikalische Wirklichkeit ein für allemal festgelegt. Heute hat der immanente Fortgang der naturwissenschaftlichen Erkenntnis selbst dieser Anschauung mehr und mehr den Boden
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entzogen. An Stelle eines einzigen, gleichsam starren Natursystems sind gewissermaßen offene und bewegliche Systeme getreten. Die tiefen Wandlungen, die hierbei insbesondere der Substanzbegriff erfahren hat, der Fortgang von der Physik der materiellen Massen zur Feldphysik: dies alles wies jetzt auch der kritischen Selbstbesinnung | der physikalischen Erkenntnis einen neuen Weg. Es verdient als eine denkwürdige Tatsache verzeichnet zu werden, daß derselbe Denker, der rein inhaltlich das neue »elektrodynamische Weltbild« durch seine Entdeckungen erst ermöglicht und vorbereitet hat, auch zum Urheber einer »Revolution der Denkart«14 innerhalb der physikalischen Theorie geworden ist. Heinrich Hertz ist derjenige moderne Forscher, der in seinen »Prinzipien der Mechanik« (1894) die Wendung von der »Abbildtheorie« der physikalischen Erkenntnis zu einer reinen »Symboltheorie« am frühesten und am entschiedensten vollzogen hat. Die Grundbegriffe der Naturwissenschaft erscheinen jetzt nicht mehr als Kopien und Nachbilder eines unmittelbar dinglich Gegebenen; sondern sie werden als konstruktive Entwürfe des physikalischen Denkens eingeführt – als Entwürfe, deren theoretische Geltung und Bedeutsamkeit an keine andere Bedingung geknüpft ist als daran, daß ihre denknotwendigen Folgen stets wieder mit dem in der Erfahrung Beobachtbaren übereinstimmen.15 In diesem Sinne läßt sich jetzt die gesamte Welt der physikalischen Begriffe, wie es Helmholtz in seiner Erkenntnistheorie tat, als eine Welt reiner »Zeichen« definieren. Vergleicht man diese Wendung mit den erkenntnistheoretischen Grundvoraussetzungen der »klassischen« Naturtheorie, so tritt ein eigentümlicher Gegensatz hervor. Indem Galilei die sinnlichen Qualitäten als »bloße Zeichen« (puri nomi) faßt,16 reißt er sie eben damit aus dem objektiven Weltbild der Naturwissenschaft heraus. Sie tragen einen Charakter des Konventionellen, des Zufälligen und Willkürlichen, der der objektiven Notwendigkeit der Natur widerspricht. Die Erkenntnis muß alles bloß Signifikative überwinden und abstreifen, um zum Wirklichen, zum eigentlich Realen durchzudringen. Jetzt aber wird der Schnitt, der die »subjektive« Erscheinung von der objektiv-gegenständlichen Wirklichkeit trennt, in einem anderen und neuen Sinne geführt. Denn beide: die Empfindung wie der mathematisch-physikalische Begriff, erheben nicht mehr den Anspruch, sich unmittelbar mit dem Sein der Dinge, im [Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 15 (B XI).] Näheres s. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 5 ff. [ECW 11, S. 3 ff.]. 16 [Galilei, Il saggiatore, S. 334.] 14 15
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absoluten Sinne, zu decken. Beide haben rein anzeigenden Charakter, sind lediglich »Indizes« der Wirklichkeit – und nur darin besteht ihr Unterschied, daß der Anzeige, die sie enthalten, ein verschiedener Wert, eine verschiedene theoretische Bedeutsamkeit und theoretische Allgemeingültigkeit innewohnt. Damit aber ist der Symbolbegriff geradezu zu einem Mittel- und Brennpunkt der gesamten physikalischen Erkenntnislehre geworden. Als solcher ist er insbesondere in den Untersuchungen Duhems über den Gegenstand und die Struktur der Physik | erkannt und ausgezeichnet worden. Für Duhem ist es dieser Begriff, der die eigentliche Grenzscheide zwischen der bloßen Empirie und der strengen physikalischen Theorie bildet. Die Empirie scheint sich damit begnügen zu können, einzelne Fakta, wie sie sich der sinnlichen Beobachtung darbieten, zu erfassen und sie rein beschreibend aneinanderzureihen. Aber keine solche Beschreibung konkreter sinnlicher Phänomene reicht auch nur an die einfachste Form eines physikalischen Begriffs, geschweige an die Form eines physikalischen Gesetzes heran. Denn Gesetze sind nie und nimmer bloße Zusammenfassungen wahrnehmbarer Tatbestände, durch die die Einzelerscheinungen nur wie an einer Schnur aufgereiht würden. Jedes Gesetz schließt vielmehr, verglichen mit der unmittelbaren Wahrnehmung, eine µετβασις ε+ς ,λλο γ%νος – einen Übergang in eine neue Form der Betrachtung ein. Es kommt nur dadurch zustande, daß an Stelle der konkreten Data, die die Beobachtung liefert, symbolische Vorstellungen gesetzt werden, die ihnen auf Grund bestimmter theoretischer Voraussetzungen, die der Beobachter als wahr und gültig annimmt, entsprechen sollen. Jedes physikalische Urteil bewegt sich notwendig in diesem Kreise: Es ist keineswegs die bloße Konstatierung einer Mannigfaltigkeit beobachtbarer Einzeltatsachen, sondern es spricht eine Beziehung zwischen abstrakten und symbolischen Begriffen aus. Die Bedeutung dieser Begriffe liegt nicht der unmittelbaren Empfindung offen, sondern kann erst durch einen höchst komplexen intellektuellen Deutungsprozeß bestimmt und sichergestellt werden: Und ebendieser Prozeß, ebendiese gedankliche Interpretation ist es, die das Wesen der physikalischen Theorie ausmacht. Immer bleibt somit zwischen der Welt der Tatsachen und der der physikalischen Begriffe eine Kluft, eine Art Hiatus, zurück. Von einer Gleichheit oder Ähnlichkeit zwischen den Inhalten dieser beiden Welten zu sprechen, hat keinen verständlichen Sinn. Vielmehr besteht stets eine Disparatheit zwischen der »praktischen« Tatsache, die sich wirklich beobachten läßt, und der theoretischen Tatsache, d. h. der Formel, in welcher der Physiker seine Beobachtung aus spricht. Denn zwischen beiden steht ebenjene gesamte, höchst
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komplexe gedankliche Arbeit, kraft deren an Stelle einer Erzählung über konkrete Vorgänge und Geschehnisse ein Urteil gesetzt wird, das als solches eine rein abstrakte Bedeutung hat und sich nicht anders als durch Anwendung bestimmter symbolischer Zeichen überhaupt formulieren läßt.17 Natürlich besagt dies nicht, daß die moderne Erkenntnis | lehre der Physik, im Gegensatz zur klassischen, den Realitätsanspruch der physikalischen Begriffe aufgegeben hat – wohl aber, daß sie ihn anders als diese definiert und daß sie ihn in einer weit komplexeren Weise vermitteln muß. Die Erkenntnis des Symbolcharakters dieser Begriffe streitet nicht mit ihrer objektiven Gültigkeit; sie bildet vielmehr ein Moment ebendieser Gültigkeit selbst und ihrer theoretischen Begründung. Hier eröffnet sich eine Fülle neuer Probleme, auf deren Lösung wir zunächst nicht eingehen;18 für unsere einleitenden Betrachtungen genügt es, vorerst die Frage selbst festzuhalten und ihr im Ganzen unserer Untersuchung ihre systematische Stelle zuzuweisen.
3. [Das »Unmittelbare« der inneren Erfahrung – Der Gegenstand der Psychologie] Jetzt aber drängt sich der Einwand auf, daß unsere Betrachtung ihr Ziel notwendig verfehlen mußte, weil dieses Ziel ganz außerhalb des Weges liegt, den wir bisher eingeschlagen haben. Wenn wir fragen, ob für das Denken irgendeine Möglichkeit besteht, die Schicht des bloß Symbolischen und Signifikativen zu durchstoßen, um hinter ihr die »unmittelbare«, die entschleierte Wirklichkeit zu erfassen – so ergibt sich von selbst, daß dieses Ziel, wenn überhaupt, so keinesfalls auf dem Wege der »äußeren« Erfahrung erreichbar sein wird. Daß diese, daß die Erkenntnis der Dingwelt an ganz bestimmte theoretische Voraussetzungen und Bedingungen gebunden ist und daß insofern der Prozeß der Objektivierung, wie er sich in der Naturerkenntnis fortschreitend vollzieht, immer zugleich ein Prozeß der logischen Vermittlung, der Mediatisierung ist: dies wird nach allen Fortschritten, die die erkenntniskritische Analyse im Gebiet der modernen Physik gemacht hat, kaum einem ernsthaften Zweifel unterliegen. 17 Vgl. Pierre Duhem, La théorie physique. Son objet et sa structure, Paris 1906 (Bibliothèque de philosophie expérimentale, Bd. 2), S. 245 ff. u. 269 ff. 18 Näheres hierüber siehe unten: bes. Buch III, Kap. 6 [Es muß der dritte Teil des gegenwärtigen Buches gemeint sein, der jedoch in der veröffentlichten Fassung kein 6. Kapitel enthält].
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Aber um so notwendiger scheint es jetzt, die Richtung der Betrachtung umzukehren. Das echte »Unmittelbare« dürfen wir nicht in den Dingen draußen, sondern wir müssen es in uns selbst suchen. Nicht die Natur, als der Inbegriff der Gegenstände in Raum und Zeit, sondern unser eigenes Ich, nicht die Welt der Objekte, sondern die Welt unseres Daseins, unserer Erlebniswirklichkeit, scheint uns allein an die Schwelle dieses Unmittelbaren führen zu können. So müssen wir uns der Führung der »inneren« Erfahrung statt der der äußeren überlassen, wenn wir die Wirklichkeit selber, frei von allen brechenden Medien, erblicken wollen. Das wahrhaft Einfache, das letzte Element aller Wirklichkeit, finden wir niemals in den Dingen; wohl aber muß es in unserem Bewußtsein auffindbar sein. Sollte nicht die | Analysis des Bewußtseins uns zu einem Letzten, Ursprünglichen hinführen, das keiner weiteren Zerlegung mehr fähig noch einer solchen bedürftig ist – das sich klar und unzweideutig als Urbestand aller Realität zu erkennen gibt? Mit dieser Frage stehen wir an dem Punkte, an dem sich Metaphysik und Psychologie unmittelbar berühren und an dem beide unlöslich ineinander zu verschmelzen scheinen. In der Geschichte der Philosophie stellt sich der Prozeß dieser Verschmelzung am deutlichsten bei Berkeley dar. Berkeleys »Prinzipien der menschlichen Erkenntnis« beginnen mit einer Kritik der Sprache, die sich ihm zu einer Kritik alles rein begrifflichen, alles »abstrakten« Denkens erweitert. Die Abstraktion wird verworfen, weil sie uns, je mehr wir uns ihr überlassen, um so mehr in den Kreis des bloß Mittelbaren einzuschließen droht. Sie kann ebendarum niemals ein Organon der Metaphysik werden: Denn metaphysische Erkenntnis will die Lehre vom Unmittelbaren sein. Dieses erfassen wir nicht, indem wir uns dem Gange der Erforschung der Natur überlassen, indem wir ihre Erscheinungen auf Gesetze bringen und diese selbst wieder in der Formelsprache der Mathematik aussprechen. Es gibt sich uns vielmehr nur dann zu eigen, wenn wir diese Magie der begrifflichen Formeln von uns werfen; wenn wir die Welt der inneren Wahrnehmung so hinnehmen, wie sie sich uns, vor allen künstlichen, abstraktiven Umbildungen, zeigt. Die reine Erfahrung, die der einzige Quell und der einzige Kern aller unserer Wirklichkeitserkenntnis ist, kann nirgend anders als in den einfachen, von theoretischen Umdeutungen noch unberührten, Urperzeptionen gesucht werden. Das Sein der Perzeption ist das einzig gewisse, völlig unproblematische Urdatum aller Erkenntnis. Jetzt hat sich, verglichen mit der Erkenntnislehre, auf der die klassische Naturwissenschaft beruhte, eine völlige Umkehr, eine Umwertung aller Werte vollzogen. Jene mußte, um die
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Realität ihrer Objekte behaupten zu können, die Empfindung zur subjektiven »Erscheinung«, ja zuletzt zum bloßen Namen herabsetzen. Jetzt aber gilt die entgegengesetzte These: Die Empfindung ist zum allein Realen, die Materie zum bloßen Namen geworden. Gerade der naturwissenschaftliche Begriff der Materie muß jetzt für Berkeley zum Musterbeispiel dienen, an welchem er die Schwäche und Ohnmacht der »abstrakten« Begriffsbildung aufdeckt. Die »Materie« ist in keiner einzelnen Perzeption gegeben; sie ist selbst weder sichtbar noch tastbar; so bleibt von ihr, wenn wir auf ihre Grundbedeutung zurückgehen, nicht mehr als eine »allgemeine Idee« übrig, die, wie alle allgemeinen Ideen, kein Urbild in den Dingen besitzt, sondern lediglich | in die Allgemeinheit eines Wortes aufgeht. Der Begriff der Materie ergibt im günstigsten Falle eine vage und schillernde Nominaldefinition des Wirklichen, während seine Realdefinition nur im Umkreis der Sinnesempfindung, in ihrem individuellen Sosein und in ihren individuellen Differenzen zu finden ist. So ist es wiederum die Sprachkritik, die zur Grundlage der Erkenntniskritik wird. Berkeley unterscheidet eine doppelte Form der Sprache, um an ihr den spezifisch-verschiedenen Geltungscharakter unserer Erkenntnisse zu erweisen. Ihm gilt auch die Wahrnehmung selbst, ihm gilt auch der gesamte Inbegriff der sinnlichen Phänomene als eine Form der Sprache – aber in ihr haben wir es nicht mit einer konventionellen Wort- und Zeichensprache zu tun, sondern hier stehen wir jener ursprünglichen Sprache gegenüber, die das metaphysische Urwesen, die Gott mit den Menschen spricht.19 Die scholastische Logik aber und die Wissenschaft, die ihr folgte und die ihr mehr und mehr hörig wurde, hat sich von dieser Urschicht aller Wahrheit und aller Wirklichkeit abgewandt: Sie hat die intuitive Sprache der Sinne durch die diskursive Sprache der Allgemeinbegriffe ersetzt und verdrängt. Nur wenn wir den gesamten Bau, den sie errichtet hat, wieder abtragen, können wir hoffen, das Sein in seiner konkreten und originären Beschaffenheit, in den ursprünglichen Elementen, aus denen es sich aufbaut, zu erfassen und zu verstehen. So wird in Berkeleys Lehre die »innere« Erfahrung gegen die »äußere«, die Psychologie gegen die Physik zum Kampfe aufgerufen. Durch seine ganze Philosophie zieht sich dieser Streit, wie er insbesondere in der unausgesetzten Polemik gegen die Grundlagen der Newtonischen Mathematik und der Newtonischen Bewegungslehre zum Ausdruck kommt. In der Physik des neunzehnten Jahrhunderts 19 Zu Berkeleys Begriff der »visual language« vgl. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 79 f. [ECW 11, S. 77 f.].
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aber tritt nun, verglichen mit dieser Grundanschauung, ein merkwürdiger Wechsel der Kampffront ein. Berkeleys Erkenntnislehre, die die schärfste Kampfansage der Metaphysik gegen die mathematische Physik in sich schloß, dringt nun in das Gebiet der Physik selbst ein. Die Grundlegung der Physik und die Revision ihrer Prinzipien wird auf dem Wege ebendieser Erkenntnislehre gesucht. Die Logik der gegenständlichen Erkenntnis, die sich im engsten Anschluß an das klassische System der Physik entwickelt und die ihren Kulminationspunkt zuletzt im System der Kantischen Transzendentalphilosophie gefunden hatte, scheint damit endgültig zugunsten der Psychologie abzudanken – und diese letztere baut sich hierbei in streng sensualistischem Sinne als reine »Elementenpsycho | logie« auf. Diese Wendung ist es, die in der Erkenntnistheorie des neunzehnten Jahrhunderts durch Machs »Analyse der Empfindungen« bezeichnet wird. Mach spricht es ausdrücklich als die eigentliche methodische Grundabsicht seiner Lehre aus, daß sie die willkürlichen Trennungen aufheben wolle, durch die man bisher die »innere« Erfahrung von der »äußeren«, die Psychologie von der Physik geschieden habe. Er fordert eine Prinzipienlehre, die beide in einer unmittelbaren Einheit zu befassen erlaubt – die uns der Notwendigkeit überhebt, unsere gesamte Begriffswelt »umzustellen«, sobald wir den Schritt vom einen Gebiet in das andere vollziehen. Und er findet diese Gemeinsamkeit darin, daß die Welt des Physischen und des Psychischen, sosehr sich beide ihrer Form nach zu unterscheiden scheinen, nichtsdestoweniger aus ein und demselben Grundstoff gewoben sind. Sobald wir auf ihn zurückgehen, sobald wir die Analyse bis zum Ende, bis zu den letzten Elementen, durchführen, schwinden alle künstlichen Scheidewände, die wir zwischen dem »Inneren« und dem »Äußeren« aufgerichtet haben. Mit der Rückkehr in die Urschicht der sinnlichen Empfindung und in ihr reines Dasein haben wir alles bloß Mittelbare und Bedeutungsmäße hinter uns gelassen – und damit auch alle Äquivokationen, alle Zweideutigkeit und Mehrdeutigkeit, in der die abstrakte Begriffssprache den Terminus des Seins zu nehmen pflegt. Gegenüber dem Urerlebnis der Farbe und des Tons, der Geschmäcke und Gerüche verliert die Frage, ob sie der inneren oder äußeren Wirklichkeit angehören, jegliches Recht, ja jeglichen Sinn: Denn der Bestand, in welchem alles Dasein als solches gründet, kann nicht einer einzelnen Art des Daseins als angehörig und als ihr allein vorbehalten gedacht werden. So löst die rein positivistische Ansicht die Rätsel, in die die metaphysische Ansicht uns verstrickt: Der Anspruch der metaphysischen Deutung und Erklärung der Welt tritt gegenüber ihrer reinen Beschreibung zurück.
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Daß diese Beschreibung ihr Ziel erreicht hat, wenn sie an Stelle der physischen oder psychischen »Gegenstände« reine Elementenkomplexe und deren mehr oder weniger feste Verbindung setzt: darüber besteht für Mach, als Physiker, als Psychologen und als Erkenntnistheoretiker kein Zweifel. Aber die weitere Entwicklung, die die Physik wie die Psychologie genommen haben, hat freilich dieses Zutrauen in keiner Weise bestätigt. Für die Physik genügt es, hier an den entschiedenen Widerstand zu erinnern, den ein Denker vom Range Plancks der Machschen Erkenntnislehre entgegengesetzt hat. Er sieht in ihr nicht sowohl die Begründung als vielmehr die völlige Auflösung des echten physikalischen Gegenstands | begriffs. Und vielleicht noch schärfer und deutlicher hat sich die Abkehr von den Grundvoraussetzungen der Machschen Elementenlehre in der Entwicklung der Psychologie vollzogen. Wir gehen hier vorerst auf diese Entwicklung nicht ein; wir richten vielmehr an Machs Lehre nur die eine Frage, die wir bisher jedem Versuch, die bloße »Materie« der Erkenntnis, außerhalb jeglicher Formung und unabhängig von ihr, zu bestimmen, entgegenhalten mußten. Wenn von irgendeinem Faktum, so gilt von dem der einfachen Empfindung das Goethische Wort, das Höchste sei es, zu erkennen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Schon der erste Ansatz der Machschen Lehre gilt nur dann, wenn man ihm seine Grundannahme zugibt: die Annahme, daß aller Gehalt und aller Bestand der psychischen Gebilde an den Bestand ihrer einfachen Elemente gebunden und aus ihm vollständig ableitbar ist. Prüft man indes die Herkunft dieser Voraussetzung und die Begründung, die Mach für sie gibt, so erkennt man zu seiner Überraschung, daß sie keineswegs aus der unmittelbaren psychologischen Erfahrung, sondern daß sie aus Machs Auffassung von dem Wert und Sinn der wissenschaftlichen Methodik stammt. Daß die Erfahrung uns die psychischen Gebilde keineswegs unmittelbar als Summe von Elementarempfindungen, sondern als unzerlegte Ganzheiten darbietet – mag man diese nun im Sinne von »Komplexqualitäten« oder von psychischen »Gestalten« verstehen –, ist unbestreitbar. Auch Mach hat diesen Umstand – zum mindesten seitdem der Begriff und das Problem der »Gestaltqualität« seinen Eingang in die neuere Psychologie gefunden hatte – keineswegs völlig übersehen oder verkannt. Aber was er nach wie vor behauptet, ist dies: daß ohne den Rückgang auf die Elemente, auf die Urdata der sinnlichen Erlebnisse, kein Wissen vom Psychischen gewonnen werden kann. Denn alles Wissen besteht nicht in dem einfachen Haben eines Ganzen, sondern in seinem Aufbau aus relativ einfacheren Tatbeständen; es konstituiert sich seinem Wesen nach durch den Doppelprozeß von Analyse und Synthese, von
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Trennung und Wiedervereinigung. Geht man dem Ursprung dieser Überzeugung bei Mach nach, so erkennt man, daß er hier nicht sowohl als empirischer Psychologe als vielmehr als Physiker spricht: Es ist Galileis klassische Lehre von der »kompositiven« und »resolutiven« Methode als den beiden notwendigen Grundmomenten aller Erkenntnis, die auch bei ihm noch deutlich nachklingt. Aber Mach hat dieser Voraussetzung gegenüber im Gebiet der Psychologie nicht die gleiche scharfe Kritik geübt, die er für die Physik gefordert hat. Den Elementen des Physikers bestreitet er jedes Recht, sich als Ausdruck des | Unmittelbar-Wirklichen zu geben. Sie sind ihm lediglich Hilfsbegriffe; sie sind Produkte der Denkökonomie, die wir in der Beschreibung der Naturvorgänge nicht entbehren können, die wir aber nicht selbst als gegebene Inhalte der Natur ansehen dürfen. Aber so skeptisch sich Mach aus diesem Grunde gegen die Realität der Atome verhält, so gläubig bleibt er in bezug auf die Realität der psychischen Elemente. Hier liegt die deutliche Schranke, und hier liegt zugleich die Paradoxie seines erkenntnistheoretischen Ansatzes. Denn man sollte freilich annehmen, daß das »Einfache« der Empfindung mit dem »Einfachen« des Atoms zum mindesten auf der gleichen Linie behandelt würde – ja daß gegenüber einem Begriff, der dazu bestimmt ist, die unmittelbare Erlebniswirklichkeit zu beschreiben, eine noch höhere Vorsicht walten müßte als gegenüber einem solchen, der der Darstellung der physischen Dingwelt dient. Bei Mach indes kehrt sich dies Verhältnis geradezu um. Er wird nicht müde, die Hypostasierung des Atombegriffs zu bekämpfen – und er geht in diesen philosophischen Angriffen so weit, daß er über ihnen den physikalischen Wert dieses Begriffs und seine eminente Bedeutung für jede »objektive« Wissenschaft der Natur nicht selten unterschätzt hat. An der Hypostase des Empfindungsbegriffs aber scheint Mach nirgends ernstlichen Anstoß zu nehmen. Und doch ist deutlich, daß zum mindesten im Kreise der reinen Erfahrung, im Umkreis des psychischen Geschehens selbst, die einfache Empfindung als reales Vorkommnis niemals angetroffen wird. Man braucht dem Begriff der einfachen Empfindung keineswegs – wie viele moderne Psychologen es zu tun scheinen – allen theoretischen Wert abzusprechen; aber das eine ist unverkennbar, daß wir in ihr nicht sowohl den Ausdruck einer Tatsache als den Ausdruck einer theoretischen Supposition besitzen. Sie ist in keiner Weise unmittelbar gegeben, sondern sie ist gesetzt – und zwar gesetzt auf Grund ganz bestimmter, selbst schon konstruktiver Vorbegriffe. Nachdem in der neueren Psychologie die Kritik an diesen Vorbegriffen in aller Schärfe eingesetzt hat, hat sich unter ihren Händen auch die angebliche Faktizität der sinnlichen Elemente in ein theoretisches
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Vorurteil aufgelöst. Das »Unmittelbare« im Sinne der »bloßen« Materie erwies sich auch hier mit einem inneren Widerspruch behaftet: Die Ganzheit der psychischen Gebilde läßt sich nicht derart zerlegen, daß neben der Ganzheitsform und außerhalb ihrer noch ein amorphes Etwas, als Substrat derselben, aufgewiesen werden kann. Gelänge es, ein solches Substrat bloßzulegen, so hätte es mit diesem Akt der Bloßlegung, der Isolierung auch seine | Bedeutung, die ihm nur als Moment innerhalb einer gegliederten Sinneinheit zuteil werden kann, eingebüßt – und dieser Verlust der Bedeutsamkeit würde zugleich den Verlust seiner eigentlichen, seiner »psychischen« Realität in sich schließen. Und noch von einer anderen Seite her zeigt sich, wie wenig die »positivistische« Erkenntnislehre das eigentlich Positive, den eigentümlichen Setzungscharakter des Psychischen auszudrücken und auszuschöpfen vermag. Für Mach besteht nicht nur kein Zweifel an der schlichten Faktizität der einfachen Empfindung selbst, sondern auch an der Scheidung der Elementarinhalte des Bewußtseins in scharf voneinander getrennte Sinneskreise. Diese Scheidung wird von ihm unmittelbar zum Inhalt des »natürlichen Weltbegriffs« gezählt. Indem die Welt uns in der Weise der unmittelbaren Empfindung gegeben ist, zerlegt sie sich für uns, in ebendieser Gegebenheit selbst, in eine Mannigfaltigkeit sinnlicher Eindrücke. Mit dem »Was« dieser Welt ist auch ihr »Wie«, ihr Auseinandergehen in Farben und Töne, in Geschmäcke und Gerüche, in Temperatur- oder Muskelempfindungen usf. unzweideutig gegeben. In Wahrheit zeigt indes das Phänomen der Wahrnehmung, wenn es in seiner ursprünglichen Grundgestalt, in seiner Reinheit und Unmittelbarkeit genommen wird, keine derartige Zerlegung. Es gibt sich als ein zunächst noch ungeschiedenes Ganze, als ein Gesamterlebnis, das zwar in irgendeiner Weise gegliedert ist, dessen Gliederung aber keineswegs seine Zerfällung in disparate sinnliche Elemente in sich schließt. Diese Trennung entsteht erst dann, wenn die Wahrnehmung nicht mehr in ihrem einfachen Gehalt betrachtet, sondern bereits unter einen bestimmten gedanklichen Gesichtspunkt gestellt und unter ihm beurteilt wird. Erst dadurch, daß sie nicht lediglich nach ihrem »Was« erfaßt und bestimmt, sondern daß nach ihrem »Woher« gefragt wird, ergibt sich die Notwendigkeit ihrer Sonderung in relativ voneinander unabhängige Sinneskreise. Diese Sonderung gehört somit nicht zum einfachen »Befund« des Wahrnehmungsbewußtseins, sondern schließt bereits ein Moment der Reflexion, der kausalen Analyse in sich. Indem die Wahrnehmung von seiten ihrer Herkunft, ihrer Entstehungsbedingungen betrachtet wird, wird sie selber, je nach der Verschiedenheit dieser Bedingungen, in verschie-
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dene Bezirke zerlegt. Jedem besonderen Organ der Wahrnehmung wird jetzt je eine selbständige Welt von Wahrnehmungsinhalten zugeordnet. Dem Auge entspricht nunmehr die Welt der Farben, dem Ohr die Welt der Töne, dem Tast- und Temperatursinn die Welt des Rauhen und Glatten, des Kalten und Warmen usf. Daß diese Analyse | nicht erst mit der Ausbildung der eigentlichen »Wissenschaft« einsetzt, sondern daß sie schon dem vorwissenschaftlichen Weltbild angehört, darf nicht dazu verleiten, ihren eigentümlichen theoretischen Charakter zu verkennen oder zu leugnen. Denn nicht erst die Gegenstandswelt der Physik, sondern bereits die Dingwelt der vorwissenschaftlichen Erfahrung ist mit bestimmten Motiven der Reflexion, insbesondere mit Motiven der kausalen Deutung der Phänomene durchsetzt. So setzt sich schon hier, in einer kaum merklichen Umbildung, der genetische Gesichtspunkt an Stelle des rein phänomenalen: Ein wirklicher oder vermeinter Unterschied des Ursprungs wird unmittelbar in die Struktur der Wahrnehmung hineingesehen. Die empirische Differenz in den Entstehungsbedingungen der Wahrnehmungen wird als ihr »natürliches«, ja als ihr einziges Klassifikationsprinzip angesehen. Die philosophische Kritik indessen, die das »natürliche Weltbild« nicht einfach hinnehmen kann, sondern die nach den »Bedingungen seiner Möglichkeit« fragen muß, hat allen Anlaß, dieses Prinzip in Frage zu stellen und es zum mindesten in seiner Einzigkeit und Selbstverständlichkeit zu bezweifeln. Dieser Zweifel besagt keineswegs, daß sie es als solches in seiner Gültigkeit bestreitet, sondern nur dies, daß sie diese Gültigkeit, statt als absolute, vielmehr als spezifische und relative erkennt – als eine solche, die nicht sowohl im einfachen Inhalt der Wirklichkeit gegeben ist, als sie vielmehr einer bestimmten Auslegung der Wirklichkeit angehört. Der Positivismus verkennt auch hier wiederum die reine Energie, die Aktivität und Spontaneität der Form, indem er eine Differenz der Formung als inhaltliche Differenz, als Differenz im Bestand und Befund des empirisch Gegebenen ansieht. Aber je strenger man seine eigene Forderung der reinen Beschreibung faßt, um so mehr muß darauf gedrungen werden, daß die Kreise der »Beschreibung« und der »Erklärung« scharf voneinander gesondert bleiben – daß sich in die Deskription des Vorgefundenen und Vorfindlichen kein Motiv einmischt, das der Tendenz auf das kausale »Begreifen« der Welt angehört und das aus ihr allein in seiner Geltung und Notwendigkeit gerechtfertigt und »deduziert« werden kann. Die scharfe Trennung des »Gegebenen« und »Gedachten« gehört seit Hume zu den sichersten Ergebnissen und zu den eigentlichen Grundforderungen des Empirismus selbst. Daß insbesondere die »Idee« der Kausalität in der bloßen sinn-
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lichen Impression nicht enthalten noch aus ihr durch irgendeine Art des mittelbaren Schließens herauszuziehen ist, hat Hume ein für allemal gezeigt. Aber die positivistische Erkenntnislehre vergißt nicht selten, daß dieses Resultat auch in umgekehrter Rich | tung gilt – daß somit in die Darstellung des rein Tatsächlichen des Wahrnehmungsbewußtseins kein Moment eingemischt werden darf, das letzten Endes im kausalen Denken wurzelt und aus ihm seine Nahrung zieht. Die Vermengung deskriptiver und genetischer Gesichtspunkte bedeutet somit einen Verstoß gegen den Geist der empirischen Methode selbst – eine solche Vermengung aber ist es, wenn man dort, wo es sich um die reine Phänomenologie der Wahrnehmung handelt, auf die Tatsachen der Sinnesphysiologie zurückgreift und wenn man sie zum eigentlichen Einteilungsgrund, zum fundamentum divisionis, macht. Machs Elementenlehre ist dieser Gefahr nicht entgangen – und sie hat damit einen ganz anderen methodischen Charakter erhalten, als es zunächst in ihrem anfänglichen Entwurf den Anschein hat. Ihrer ursprünglichen Grundabsicht nach scheint diese Lehre auf eine Art Auflockerung des Gegenstandsbegriffs der objektivierenden Wissenschaft, insbesondere des Begriffs der »Materie«, zu gehen. Die Materie soll nicht länger als ein substantielles Etwas angesehen – sie soll als Komplex einfacher sinnlicher Eindrücke verstanden und als deren bloßes Beisammen definiert werden. Der dogmatische »Materialismus« des Physikers sollte von seiten der Psychologie und mit ihrer Hilfe korrigiert und überwunden werden. So trat an Stelle des physisch Einfachen das psychisch Einfache, an Stelle des einfachen Atoms die einfache Empfindung. Und doch zeigt sich bei schärferer Analyse, daß der Vorrang, der hier dem Psychischen vor dem Physischen, dem Bewußtsein vor dem Sein eingeräumt wird, nur ein scheinbarer Vorrang bleibt. Denn nicht dies ist das Entscheidende, ob wir den Inhalt, ob wir den Stoff, aus dem wir das Ganze des Wirklichen gewoben sein lassen, als »Materie« oder ob wir ihn als »Empfindung« bezeichnen. Wesentlich ist vielmehr dies, in welcher Richtung sich die Gesamtdeutung der Wirklichkeit, die Auffassung ihrer »Form«, bewegt und welche Kategorien sie als die ursprünglichen und letztgültigen voraussetzt. Und hier zeigt sich alsbald, daß das kategoriale Gerüst, mit welchem Mach seine Erkenntnislehre errichtet hat, trotz aller Modifikationen im einzelnen, dennoch kein anderes als das der objektiven und objektivierenden Naturwissenschaft ist. Was Mach suchte und verlangte, war eine gemeinsame Basis für den Gegenstand der Psychologie und den der Physik. Beide sollten nicht getrennt nebeneinander behandelt, sondern sie sollten aus ein und derselben Wurzel abgeleitet werden. Auf diesem Wege sollte eine lebendige Wechselwirkung zwischen »innerer«
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und »äußerer« Erfahrung erzielt, sollte die Physik durch die Psychologie befruchtet werden. In Wahrheit aber zeigt schon | der erste Ansatz der Machschen Psychologie, daß und warum er dieses Ziel verfehlt hat. In ebendiesem Ansatz, in der Konzeption des Begriffs der einfachen Empfindung, ist Mach Physiologe und Physiker geblieben. Die Empfindung wird hier nicht in ihrer reinen Aktualität, nicht als Prozeß genommen, sondern sie ist von Anfang an als Substanz, als der universelle »Weltstoff«, gefaßt und demgemäß verdinglicht. Das Ding, das Mach als einfache Empfindung benennt, sollte das Substrat des physischen wie des psychischen Seins bilden – macht man aber mit seiner Setzung Ernst, so zeigt sich vielmehr, daß mit ihr die eigentliche Form beider Arten von »Wirklichkeit« verkannt und im Grunde negiert wird. Noch deutlicher tritt diese Negation hervor, wenn man an diesem Punkte die Problemstellung des modernen Empirismus bis zu ihrer historischen Wurzel zurückverfolgt. Hobbes erklärt, daß die Wahrnehmung das eigentliche Grundproblem der Philosophie bilde: Denn von allen Phänomenen sei das φανεσαι selber, von allen Erscheinungen sei die Tatsache, daß überhaupt etwas erscheint, die wunderbarste und ursprünglichste.20 Aber in der Deutung dieses ursprünglichsten Phänomens greift er sofort, und zwar mit vollem Bewußtsein, auf physikalische Kategorien zurück. Er statuiert das Prinzip, daß die Psychologie zur philosophischen Erkenntnis nur dadurch erhoben werden könne, daß sie in ihrer Grundlegung wie in ihrem Ausbau das Verfahren der Physik nachahmt. Denn alles philosophische Erkennen ist Erkennen aus den Ursachen: Die Ursache eines Dinges aber ver stehen wir nicht anders als dadurch, daß wir es vor unseren Augen entstehen lassen, daß wir es aus seinen einfachen Bestandteilen aufbauen. Ausdrücklich greift Hobbes zur Begründung dieser These auf die Form der Galileischen Naturwissenschaft zurück. Aber er beschränkt die letztere nun nicht mehr auf irgendein Teilgebiet des Wissens, sondern fordert ihre Durchführung für das Gesamtgebiet des Wißbaren – für die Psychologie so gut wie für die Physik, für die Rechts- und Staatslehre ebensowohl wie für die Logik und die Mathematik. Alles Denken wird ihm damit zum Rechnen, zum Addieren und Subtrahieren. Hierbei aber ist weiter scharf zu unterscheiden zwischen den reinen Begriffen, die als solche nichts weiter als Rechen20 Vgl. Thomas Hobbes, Elementorum philosophiae sectio prima de corpore (Kap. 25, § 1), in: Opera philosophica, quae latine scripsit, omnia. Ante quidem per partes, nunc autem, post cognitas omnium objectiones, conjunctim et accuratius edita, 2 Bde., Amsterdam 1668, Bd. II, S. 1–261: S. 192 f.
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marken sind, und dem Realen, worauf sie sich zuletzt beziehen, dem Inhalt, von dem die Rechnung handelt und den sie erfassen und bestimmen will. Der Begriff als solcher hat keine andere Funktion als die der bloßen Anzeige des Wirklichen; und er geht in | ihr so völlig auf, daß er von dem Wort der Sprache in keiner Weise zu unterscheiden ist, daß er keinerlei »reale« Bedeutung neben und außerhalb seiner bloß »nominalen« besitzt. Aber hinter dieser Welt des bloßen Zeichens steht nun die Welt des Bezeichneten – und diese kann keine andere als eine Welt von Körpern sein. Hier schlägt somit der scheinbar phänomenologische Ansatz, der Ausgang von der reinen Tatsache des »Erscheinens selbst«, unvermittelt in sein Gegenteil: in die These der absoluten Wirklichkeit der »Materie«, als des einzig Erkennbaren und des einzig Realen, um. Bei Hobbes’ empiristischen Nachfolgern wird dieser Materialismus aus erkenntnistheoretischen oder metaphysischen Gründen bekämpft; aber er ist auch bei ihnen, in rein methodischer Hinsicht, keineswegs überwunden. Denn auch ihre Psychologie bewegt sich durchaus in den Bahnen des Naturalismus; auch ihre Wahrnehmungslehre muß das Phänomen der Wahrnehmung, um es auch nur als solches beschreiben zu können, zuvor in Teile zerschlagen, die gleich selbständig bestehenden dinglichen Bestandstücken gedacht werden. Die Frage, ob ein solcher Elementenbegriff, ein solcher Begriff des psychischen »Atoms«, überhaupt zulänglich und zulässig sei, wird hierbei zunächst nirgends gestellt; die Analogie der Physik wird zum Leitfaden genommen, dem sich die psychologische Betrachtung vorbehaltlos und unbekümmert überläßt. Fast die gesamte wissenschaftliche Psychologie des siebzehnten und des achtzehnten Jahrhunderts hat sich in diesem Kreise bewegt – hat von der Aufstellung der »einfachen« Elemente des Bewußtseins und von der Entdeckung der Regeln, nach welchen sie sich zu bestimmten assoziativen Verbänden zusammenfassen, die Enthüllung des Wesens, des Psychischen erwartet. Nur ein Denker steht hier abseits – so sehr, daß seine Stimme zunächst kaum vernommen zu werden scheint. Herder ist es gewesen, der in seiner Schrift »Über den Ursprung der Sprache« und in der Schrift »Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele« zuerst einen neuen Weg eingeschlagen hat. Er stützt sich in der rein philosophischen Grundlegung auf den Leibnizischen Begriff der Einheit des Bewußtseins als der Einheit der Apperzeption. Aber er bereichert diesen Begriff zugleich mit all jenen konkreten Erkenntnissen und Einblicken, die sich ihm auf seinem eigenen Wege ergeben hatten. Er kommt nicht von der Naturlehre, er kommt weder von der Physik noch von der Physiologie,
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sondern er kommt von der Frage nach dem Sinngehalt der Sprache her. Und seine Originalität und Genialität erweist sich nun darin, daß er die Sprache nicht in die | herkömmlichen psychologischen Kategorien einzuspannen sucht, sondern daß er, in ihr lebend und sie konkret verstehend und nachdeutend, die ihr adäquaten geistigen Kategorien erst eigentlich entdeckt. Ein neuer Strom des Denkens dringt damit auch in die Phänomenologie der Wahrnehmung ein – und er erweist sofort seine unmittelbar belebende und befruchtende Kraft. Indem jetzt der Leitgedanke der Orientierung nicht mehr im Gebiet der Naturerkenntnis, sondern in dem der Sprachphilosophie gesucht wird, ändert sich damit gewissermaßen das Vorzeichen der Betrachtung. In der Naturerkenntnis mag es sinnvoll, ja notwendig erscheinen, dem Wissen vom Ganzen das Wissen der Teile voraufgehen zu lassen und die Realität des Ganzen in der der Teile zu begründen. Der Betrachtung und der geistigen Ergründung der Sprache aber ist dieser Weg verschlossen. Denn der spezifisch sprachliche »Sinn« ist eine unteilbare Einheit und eine unteilbare Ganzheit. Er läßt sich nicht stückhaft aus einzelnen Bestandteilen, aus einzelnen »Worten« aufbauen – vielmehr setzt umgekehrt das einzelne Wort das Ganze des sprachlichen Satzes voraus und kann nur aus ihm heraus interpretiert und verstanden werden. Wenden wir diesen Gesichtspunkt nunmehr auf das Problem der Wahrnehmung an – lassen wir uns die Sinneinheit der Sprache zum Führer dienen, um nach ihrem Vorbild die Eigenart der Sinnlichkeit zu bestimmen, so ergibt sich von dieser letzteren ein völlig anderes Bild. Wir erkennen alsdann, daß die isolierte »Empfindung«, so gut wie das isolierte Wort, eine bloße Abstraktion ist. Die aktuelle, die lebendige Wahrnehmung »besteht« sowenig aus Farben oder Tönen, aus Geschmäcken oder Gerüchen, wie der Satz aus Worten, das Wort aus Silben, die Silbe aus Buchstaben besteht. Von hier aus dringt Herder dazu vor, als Sprachphilosoph die Schranke zu negieren und niederzureißen, die die analytische Psychologie seiner Zeit zwischen den einzelnen »Sinnesgebieten« aufgerichtet hatte. Wie vermöchte der Sprachlaut alle diese Gebiete zu bezeichnen und zu vertreten, wenn wirklich eine solche ursprüngliche Fremdheit zwischen seinen Inhalten, zwischen der Welt der Töne und den Inhalten der übrigen Sinne bestünde? Müßte nicht unter dieser Voraussetzung jeder sprachliche Ausdruck als ein unbegreiflicher und unberechtigter Übergang, als die seltsamste µετβασις ε+ς ,λλο γ%νος erscheinen? Herder löst diesen Zweifel, indem er sein theoretisches Fundament, indem er die herkömmliche psychologische Klassenbildung bestreitet. »Wie hängt«, so fragt er, »Gesicht und Gehör, Farbe und Wort, Duft und Ton zusammen?« Und die Antwort auf diese Frage
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lautet zunächst dahin, daß wir diesen Zusammenhang nicht sowohl in der Rich | tung auf den Gegenstand als vielmehr in umgekehrter Richtung – nicht im Hinblick auf das »Ding« der Außenwelt, sondern im Hinblick auf das Ich, auf das »Subjekt« der Wahrnehmung, zu suchen haben. Objektiv betrachtet mögen die Data verschiedener Sinne noch so weit auseinanderzuliegen scheinen: »aber was sind denn diese Eigenschaften in den Gegenständen? Sie sind blos sinnliche Empfindungen in uns, und als solche fließen sie nicht Alle in Eins? […] Ein denkendes sensorium commune, nur von verschiednen Seiten berührt – da liegt die Erklärung.« Um diese Einheit und Ganzheit des sinnlichen Bewußtseins zu bezeichnen, die wir aller Scheidung in verschiedene Sinnessphären, in eine Welt des Sichtbaren, des Hörbaren, des Tastbaren vorausliegend denken müssen, greift Herder auf den Terminus des »Gefühls« zurück. Im Gefühl ergreifen wir alle jene Unterschiede, nach welchen wir die Empfindung in Klassen abzuteilen pflegen, noch nicht als starre Gegebenheiten, sondern hier erfassen wir sie gleichsam noch in statu nascendi. Hier herrscht, statt der festgewordenen Differenz, noch die reine Dynamik des Bewußtseins, noch jenes ursprüngliche Wallen und Weben, das die Möglichkeit zu allen künftigen Gestaltungen in sich birgt. »Allen Sinnen liegt Gefühl zum Grunde, und dies gibt den verschiedenartigsten Sensationen schon ein so inniges, starkes, unaussprechliches Band, daß aus dieser Verbindung die sonderbarsten Erscheinungen entstehen. Mir ist mehr als Ein Beispiel bekannt, da Personen, natürlich, vielleicht aus einem Eindruck der Kindheit, nicht anders konnten, als unmittelbar durch eine schnelle Anwandelung mit diesem Schall jene Farbe, mit dieser Erscheinung jenes ganz verschiedne, dunkle Gefühl verbinden, was durch die Vergleichung der langsamen Vernunft mit ihr gar keine Verwandtschaft hat: denn wer kann Schall und Farbe, Erscheinung und Gefühl vergleichen? Wir sind voll solcher Verknüpfungen der verschiedensten Sinne […] Wäre es möglich, daß wir die Kette unsrer Gedanken anhalten, und an jedem Gliede seine Verbindung suchen könnten – welche Sonderbarkeiten! welche fremde Analogien der verschiedensten Sinne, nach denen doch die Seele geläufig handelt! […] Bei sinnlichen Geschöpfen, die durch viele verschiedne Sinne auf Einmal empfinden, ist diese Versammlung von Ideen unvermeidlich; denn was sind alle Sinne anders, als bloße Vorstellungsarten Einer positiven Kraft der Seele? […] Wir lernen mit vieler Mühe, sie im Gebrauche trennen – in einem gewißen Grunde aber würken sie noch immer zusammen. Alle Zergliederungen der Sensation bei Buffons, Condillacs und Bonnets empfindendem Menschen sind Abstraktionen: der Philosoph muß Einen Faden der Empfindung liegen laßen,
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indem er | den andern verfolgt – in der Natur aber sind alle die Fäden Ein Gewebe!«21 Diese Sätze Herders mögen zunächst nur wie ein einzelnes Aperçu und, in bezug auf sein Grundthema, als ein bloßes Parergon erscheinen: Dennoch stehen wir mit ihnen an einem wichtigen Wendepunkt der Psychologie nicht nur, sondern der gesamten geistesgeschichtlichen Entwicklung. Denn hier zuerst setzt jene große Auseinandersetzung ein, die bis heute fortwirkt und die der neueren und neuesten Psychologie ihr eigentliches methodisches Gepräge gegeben hat. Es beginnt der Kampf zwischen einer Psychologie, die sich wesentlich am Verfahren der Naturwissenschaft orientiert und ihre Methodik der Beobachtung und Zergliederung so getreu wie möglich nachzuahmen sucht, und einer anderen Form der psychologischen Betrachtung, deren Ziel vor allem auf eine Grundlegung der Geisteswissenschaften gerichtet ist. Herder ist zu seinen Sätzen nicht auf dem Wege der psychologischen Empirie gelangt, sondern was ihn leitet, ist seine große Gesamtintuition des geistigen Lebens, das er in all seinem Reichtum und in aller Fülle seiner konkreten Einzeläußerungen doch zuletzt aus einer Grundkraft, aus einer gemeinsamen Wurzel des »Menschentums« ableiten will. Diese Einheit sieht er durch die Abstraktionen der psychologischen Analytiker bedroht. Hier erhebt sich die Psychologie der Sturm- und Drangperiode, die auf eine lebendige Erfassung des Ganzen des seelischen Geschehens dringt, gegen jene »encheiresis naturae«, die nur die Teile in ihrer Hand behält. Was Herder sucht, das ist nicht die Einheit des Gegenstandes der Natur, wie er sich in den Methoden der objektivierenden Wissenschaft konstituiert, sondern die Einheit der Humanität. Er kommt von Hamann her, dessen Grundanschauung sich nach Goethe in den Satz zusammenfassen läßt, daß alles, was der Mensch durch Tat oder Wort zu leisten unternehme, aus sämtlichen vereinigten Kräften entspringen müsse: »alles Vereinzelte ist verwerflich«.22 So ist es der Ausblick auf die Welt des »objektiven Geistes«, so sind es die Grundprobleme der Sprachphilosophie, der Ästhetik, der Religionsphilosophie gewesen, durch die auch die Psychologie und Phänomenologie der Wahrnehmung einen neuen entscheidenden Impuls erhalten hat. Inzwischen ist der Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, welche den von der Königl. Academie der Wissenschaften für das Jahr 1770 gesezten Preis erhalten hat, in: Sämmtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. V, Berlin 1891, S. 1–158: S. 60 ff. [Zitate S. 60–62]. 22 [Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit. Dritter Theil (Werke, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887 ff., 1. Abt., Bd. XXVIII), Weimar 1890, S. 108.] 21
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Hauptsatz, von dem Herder ausgeht, auch von seiten der psychologischen Empirie immer mehr bestätigt und bekräftigt worden. Sie hat immer deutlicher gezeigt, daß die Zerlegung in scharf voneinander abgesonderte Sinneskreise keineswegs zum ursprünglichen Bestand der | Wahrnehmung gehört, daß vielmehr ebendiese Zerlegung mehr und mehr schwindet, je weiter wir in »primitive« Gestaltungen des Bewußtseins zurückgehen. Für sie scheint gerade dies ein bezeichnender und wesentlicher Zug zu sein, daß die strengen Grenzlinien, die wir zwischen den Empfindungen verschiedener Sinne zu ziehen gewohnt sind, hier noch nirgends bestehen. Die Wahrnehmung bildet ein relativ undifferenziertes Ganze, aus dem sich die einzelnen Sinnesgebiete noch nicht in wirklicher Schärfe herausgesondert und abgehoben haben. Die moderne Entwicklungspsychologie hat diesen Sachverhalt an einer Fülle von Beispielen aus dem Gebiet der Tierpsychologie, der Kindespsychologie, der »Psychologie der Naturvölker« aufgewiesen. In all diesen Wahrnehmungswelten zeigen die Sphären der Gesichts- und Gehörsempfindungen, der Geruchs- und Geschmacksempfindungen ein weit innigeres Ineinander, eine ganz andere Verwobenheit, als dies in unserer »theoretischen«, auf die klare Heraushebung der »Qualitäten« der Dinge gerichteten Wahrnehmung der Fall ist. Andererseits ist jedoch dieser Zusammenhang keineswegs auf das primitive Bewußtsein beschränkt, sondern er bleibt weit über dasselbe hinaus erhalten. Auch im entwickelten Bewußtsein bilden die Erscheinungen der sogenannten »Synästhesie«, wie etwa die Phänomene der Farbtöne und Farbziffern, der Farbgerüche und Farbwörter, keineswegs bloße Anomalien, sondern es tritt in ihnen eine bestimmte Grundhaltung, ein genereller Charakter des Wahrnehmungsbewußtseins hervor. »Farbe und Ton«, so faßt Werner den Tatbestand zusammen, »sind hier in einem gefühlsartigen Urerlebnis bewußt, in welchem die spezifisch optische ›Materie‹ der Farbe und die spezifisch akustische ›Materie‹ des Tones noch gar nicht existieren; jene Einheit von Ton und Farbe ist also darum möglich, weil diese sich stofflich noch nicht oder nur wenig differenziert haben.«23 So ist es die psychologische Empirie selbst gewesen, die mehr und mehr den Traum des psychologischen Empirismus zerstört hat, das Wirkliche dadurch fassen und verstehen zu können, daß man es in seine letzten sinnlichen Elemente, in die Urdata der Empfindung, auflöst. Diese »Gegebenheiten« erweisen sich jetzt vielmehr als Hypostasen – so daß die Lehre, die dazu bestimmt schien, der reinen Erfah23
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Heinz Werner, Einführung in die Entwicklungspsychologie, Leipzig 1926,
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rung zum Sieg über die bloße Konstruktion, der Sinnlichkeit zum Sieg über den abstrakten Begriff zu verhelfen, vielmehr einen unverkennbaren und unüberwundenen Rest des Begriffsrealismus in sich schließt. Abermals ist uns damit die »Materie« des Wirklichen, auf deren Feststellung wir ausgingen, im | Moment, in dem wir sie zu greifen suchten, gewissermaßen unter den Händen entschlüpft. Sollte in diesem Spiel, das uns die »innere« wie die »äußere« Erfahrung dargeboten hat, nicht vielleicht eine sachliche Notwendigkeit walten; sollte nicht die Frage nach dieser Materie, statt daß wir auf den verschiedensten Wegen immer neue Lösungen für sie suchen, einer radikalen Umgestaltung fähig und bedürftig sein?
4. [Intuitive und symbolische Erkenntnis in der modernen Metaphysik] Aber noch bleibt ein Gebiet übrig, in das wir bisher nicht eingetreten sind und das doch, wenn irgendeines, die endgültige Klärung und Beschwichtigung unseres Zweifels verspricht. Daß die Erfahrung, sofern man sie als wissenschaftliche Erfahrung, als psychologische oder physikalische Empirie versteht, diesen Zweifel nicht zu lösen vermag: dies scheint fast selbstverständlich für jeden, der das naive Zutrauen zu ihr verloren, der sie selbst mit kritischen Augen zu sehen gelernt hat. Denn die Wissenschaft freilich kann den Sprung über den eigenen Schatten niemals vollziehen. Sie wird erst durch bestimmte theoretische Grundvoraussetzungen konstituiert; aber sie bleibt ebendarum an sie auch gebunden und in ihnen, wie in ehernen Mauern, eingeschlossen. Aber gibt es nicht außerhalb ihrer Methodik, ja in striktem Gegensatz zu ihr, eine andere Möglichkeit, die Mauern dieses Kerkers zu sprengen? Ist uns wirklich alle Realität nur dadurch faßbar und zugänglich, daß wir sie durch das Medium der wissenschaftlichen Begriffe erblicken? Oder ist nicht vielmehr ersichtlich, daß ein Denken, das sich gleich dem wissenschaftlichen immer nur in Ableitungen und in Ableitungen von Ableitungen bewegt, die eigentlichen und letzten Wurzeln des Seins niemals bloßlegen kann? Der Bestand solcher Wurzeln aber wird hierdurch in keiner Weise angetastet: Muß doch alles Relative zuletzt auf einem Absoluten ruhen und in ihm gegründet sein. Wenn dieses Absolute sich der Wissenschaft verbirgt und ständig vor ihr entflieht, so zeigt dies nur, daß ihr das eigentliche Organ der Wirklichkeitserkenntnis versagt ist. Wir erfassen das Wirkliche nicht, wenn wir versuchen, es schrittweise, auf den mühseligen Umwegen des diskursiven Denkens,
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zu erreichen; vielmehr gilt es, sich unmittelbar in seinen Mittelpunkt zu versetzen. Eine solche Unmittelbarkeit ist dem Denken versagt; sie wird nur dem reinen Schauen zuteil. Die reine Intuition leistet, was der logisch-diskursive Gedanke niemals zu leisten, ja was er, sobald er sich einmal in seiner Natur erkannt hat, niemals auch nur zu erstreben vermag. Versucht man das Wesen des logischen Schematismus allgemein | auszusprechen, so findet man, daß er auf den Schematismus des Raumes zurückgeht. Alles Begreifen, das hier am Werke ist, vollzieht sich nach der Analogie des räumlichen Erfassens. Das Denken »hat« in dieser Sphäre seinen Gegenstand nicht anders als dadurch, daß es ihn in einer bestimmten Entfernung »vor sich hinstellt« und ihn in dieser Distanz betrachtet. Jede noch so nahe Vereinigung mit dem Gegenstande bedeutet demnach hier eo ipso eine Trennung von ihm; jedes Beisammen wird zum Auseinander. Soll es statt dessen zu einer wahrhaften Einheit kommen, in der Sein und Wissen sich nicht nur gegenüberstehen, sondern in der sie sich wahrhaft durchdringen, so muß es eine Grundform des Wissens geben, die diese Art der Verräumlichung, der Distanzsetzung überwunden hat. Metaphysisch im strengen Sinne kann nur diejenige Erkenntnis heißen, die sich vom Zwange der räumlichen Symbolik befreit hat, die das Seiende nicht mehr in räumlichen Gleichnissen und Bildern erfaßt, sondern mitten in ihm steht und in reiner Innenschau in ihm verharrt. Es ist die Grundkonzeption der Lehre Bergsons, die in diesen Sätzen umschrieben ist. Bergson selbst hat in einer seiner frühesten Schriften, die uns am klarsten in die Genesis seiner Gedanken hineinblicken läßt, sein Problem in ebendieser Weise formuliert. Die Metaphysik – so erklärt er – ist die Wissenschaft, die den Anspruch erhebt, der Symbole entraten zu können: »La métaphysique est […] la science qui prétend se passer de symboles.«24 Erst in dem Augenblick, in dem es uns gelingt, alles bloß Symbolische zu vergessen, in dem wir uns vom Banne der Wortsprache und der Sprache der räumlichen Bilder und Analogien losreißen, berührt uns die wahre Wirklichkeit. Die Trennungen, die die Symbolik der Sprache und des abstrakten Begriffs in das Wirkliche einführt, mögen als notwendig und unumgänglich erscheinen: Aber sie sind es nicht im Sinne der reinen Erkenntnis, sondern lediglich im Sinne des Handelns. Der Mensch vermag auf die Welt nicht anders zu wirken, als indem er sie zerstückelt – indem er sie in einzelne Aktionskreise und Aktionsobjekte zerlegt. Wo hingegen unser Verhältnis zur Welt nicht in solcher Äußerlichkeit des Han24 Henri Bergson, Introduction à la métaphysique (zuerst in: Revue de métaphysique et de morale 11 [1903], S. 1–36: S. 4).
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delns aufgeht, sondern statt ihrer die Innerlichkeit des Schauens gesucht wird – wo wir die Welt nicht wirkend verändern, sondern anschauend verstehen wollen, da müssen wir uns aller abstraktiven Sonderungen entschlagen. Statt der Diskretion, in der alle Arbeit des Begriffs sich bewegt und in die sie uns, je weiter sie fortschreitet, um so mehr verstrickt, umfängt | uns jetzt das Leben selbst in seiner ungebrochenen Einheit und Stetigkeit; statt im bloßen Aus- und Nebeneinander zu verharren, wie es zum Wesen der räumlichen Vorstellung gehört, sind wir in das fließende Werden, in die reine Dauer eingetaucht. So wird die Lehre Bergsons zu der vielleicht radikalsten Absage gegen den Wert und gegen das Recht aller symbolischen Formung, die jemals in der Geschichte der Metaphysik hervorgetreten ist. Der Akt dieser Formung ist es, der fortan als der eigentliche Schleier der Maya erscheint. Aber dieses Verdikt stützt sich freilich auf eine stillschweigende Voraussetzung, ohne die es sofort problematisch werden müßte. Bergsons Symbolkritik gründet sich darauf, daß er alle symbolische Formung nicht nur als einen Prozeß der Vermittlung, sondern auch als einen Prozeß der Verdinglichung betrachtet. Die Dingform erscheint bei ihm als der Prototyp für jegliche Art von »mittelbarer« Erfassung der Wirklichkeit. Und nun ist es nur eine notwendige Folgerung, wenn er das Absolute des reinen Ich und der reinen Dauer aus dieser Sphäre prinzipiell herausrückt – wenn er das »Unbedingte« vor der Vergewaltigung durch die Kategorie der Dinglichkeit zu schützen und vor der Erstarrung in ihr zu retten sucht. Wie vermöchten die Denk- und Begriffsmittel, die für die Beschreibung des »physischen«, des dinglich-räumlichen Seins geschaffen und die für diese Beschreibung zulänglich sind, die Wirklichkeit des Ich, die uns niemals anders als in der strömenden Bewegung der reinen Zeit gegeben ist, zu erfassen? Wie können wir hoffen, uns dem Wesen des Lebens dadurch zu nähern, daß wir sein Fließen und Fluten künstlich unterbrechen, daß wir es in Klassen und Gattungen abteilen? Dieses Wesen spottet aller unserer begrifflichen Einteilungen: Denn statt der Gleichartigkeit, die überall vorausgesetzt werden muß, wenn Verschiedenes unter die Einheit einer Gattung gestellt und ihr subordiniert werden soll, treffen wir hier vielmehr auf eine durchgängige Heterogenität. Ebendiese unendliche Heterogenität ist es, die den echten und ursprünglichen Prozeß des Lebens von allen seinen Produkten scheidet. In die Maschen unserer empirisch-theoretischen Begriffsnetze läßt sich demnach der Lebensstrom nicht einfangen: Er gleitet ständig durch sie hindurch und flutet über sie hinaus. In diesem Sinne erscheint für Bergson alsbald jede »geprägte Form«
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als der Feind des Lebens; denn die Form ist wesentlich Begrenzung, während das Leben wesentlich Grenzenlosigkeit ist; die Form ist Abgeschlossenheit und Stillstand, während die Lebensbewegung als solche keine anderen als relative Haltpunkte kennt. | Aber – so müssen wir nunmehr fragen – erschöpft diese biologische Ansicht der Wirklichkeit das Ganze ihrer Manifestationen, oder stellt sie nicht vielmehr selber nur einen Teilaspekt von ihr dar? Bergsons Lehre ist mit Schellings Naturphilosophie, von der sie mittelbar starke und entscheidende Anregungen erfahren hat,25 vor allem in einem Punkte einig: Sie setzt den Vitalismus dem Mechanismus, sie setzt die »Natur im Subjekt« der »Natur im Objekt« gegenüber. Die Unmöglichkeit, das Subjekt dadurch zu erfassen, daß man es nach den für die Dingwelt gültigen Kategorien bestimmt, wird von ihm rein methodisch mit den gleichen Argumenten erwiesen, die Schelling in seiner ersten Schrift: »Vom Ich als Princip der Philosophie«, geprägt hatte. Aber die Subjektivität selbst, die Welt jenes reinen Ich, dessen wir uns in der Intuition versichern, bleibt bei Bergson auf einen wesentlich engeren Kreis eingeschränkt, als es bei Schelling der Fall ist. Denn für diesen ist die Natur, die er gleich Bergson als »schöpferische Entwicklung« faßt, nichts anderes als die Entwicklung zum Geiste hin. Die formende Tätigkeit des Geistes, wie sie sich in seinen höchsten Schöpfungen – in der Schöpfung der Sprache und des Mythos, der Religion, der Kunst, der Erkenntnis – erweist, ist die Fortsetzung und Steigerung der bildenden Tätigkeit der Natur: Die geistige Form steht nicht im Widerstreit zur organischen, sondern ist vielmehr die Vollendung, die reifste Frucht des Organischen selbst. Bei Bergson hingegen besteht eine solche Überordnung der Welt des »Geistigen« über die Welt des »Natürlichen« nicht mehr. Für ihn gilt die volle Selbstgenügsamkeit der Natur, die in reiner Substantialität auf sich allein steht und aus sich allein verstanden werden soll. Hier zeigt sich Bergson, wenngleich er nicht müde wird, den scharfen Gegensatz zwischen dem Weg der metaphysischen Intuition und den Wegen der naturwissenschaftlichen Empirie zu betonen, dennoch als Sohn eines naturalistisch orientierten und naturalistisch gebundenen Zeitalters. Denn es ist ein Kennzeichen des Naturalismus, wenn alle wahrhafte Selbsttätigkeit, alle Produktivität und Ursprünglichkeit dem élan vital, dem reinen Lebensschwung, vorbehalten wird, während der Arbeit des Geistes eine bloß negative Bedeutung zugewiesen 25 Über dieses Verhältnis vgl. jetzt die Arbeit von Margarete Adam, Die intellektuelle Anschauung bei Schelling in ihrem Verhältnis zur Methode der Intuition bei Bergson, Diss., Hamburg 1926.
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bleibt. Diese Arbeit richtet gewissermaßen nur die festen Deiche und Dämme auf, an denen der Strom des Lebens sich ständig bricht und an denen er schließlich verebbt. Aber ist dieses Bild – gleich einer Fülle | anderer Bilder und Metaphern, die der Darstellung Bergsons ihr charakteristisches Gepräge geben – nicht selber der Welt des räumlichen Daseins und der räumlichen Bewegung entlehnt und somit für den Ausdruck der Dynamik des Geistes unzulänglich? Das eben bildet eines der wichtigsten Momente in der Bestimmung und Abgrenzung der geistigen Sphäre, daß in ihr der Begriff der »Objektivität« eine Wendung und Wandlung erfährt, die es fortan nicht mehr erlaubt, ihn dem Dingbegriff des »naiven Realismus« in irgendeinem Sinne gleichzustellen oder ihn auch nur analogisch mit diesem zu vergleichen. Denn hier ist es nicht sowohl die Objektivität des Daseins als vielmehr die Objektivität der Bedeutung, worauf sich die zentrale Frage bezieht. Und mit diesem Wechsel der Orientierung rückt auch jener Dualismus, auf dem die gesamte Metaphysik Bergsons beruht, in ein neues Licht. Denn jenes Urphänomen des Ich, jenes Erlebnis der reinen Dauer, das für Bergson den Ausgangspunkt und den Schlüssel für alle metaphysische Erkenntnis bildet, läßt sich zwar von allen Formen der empirisch-dinglichen Wirklichkeit absondern und ihnen prinzipiell gegenüberstellen: Aber diese Sonderung und Abscheidung ist nicht im selben Sinne angesichts der Formen möglich, in denen sich uns ein objektiver Bedeutungsgehalt zu eigen gibt. Der bloßen Dingwelt gegenüber mag sich das reine Ich, um sich in seiner ursprünglichen Lebendigkeit und Beweglichkeit zu erfassen und um sich in ihr zu behaupten, gewissermaßen in seine absolute Einsamkeit und Innerlichkeit zurückziehen. Es gelangt zu seiner eigenen Gestalt erst, indem es alle Schemata, die von ihr entnommen sind, vergißt und indem es sie fort und fort von sich abstößt. Aber die Welt des »objektiven Geistes« zeigt niemals und nirgends diesen Charakter der bloßen Schranke. Wenn das Ich, als geistiges »Subjekt«, in das Medium des objektiven Geistes eingeht, so bedeutet dies keinen Akt der Entäußerung, sondern einen Akt des Sich-selbst-Findens und des Sich-selbst-Bestimmens. Die Formen, an die es sich hier hingibt, sind keine Hemmung, sondern sie sind vielmehr die Vehikel seiner Selbstbewegung und Selbstentfaltung. Denn nur kraft ihrer kommt es zu jenem großen Prozeß der »Auseinandersetzung« von Ich und Welt, die die notwendige Bedingung dafür ist, daß das Ich nicht nur ist, sondern daß es von sich selbst weiß. Bergsons Metaphysik geht von dem reinen Phänomen des Lebens aus, das nur in der Emanzipation von allen Formen des Wissens zu ergreifen sei – aber sie wäre nicht Metaphysik, sie wäre nicht philosophische Erkenntnis, wenn sie uns nicht zugleich ein
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»Wissen vom Leben« verspräche. Und doch fehlt, schärfer betrachtet, seiner Philo | sophie, die sich rein in der intuitiven Schau gründen will, eben das Moment, das erst die Möglichkeit einer derartigen Schau verständlich machen könnte. Eine Selbsterfassung des Lebens ist nur möglich, wenn es nicht schlechthin in sich selbst ver bleibt. Es muß sich selber Form geben; denn eben in dieser »Andersheit« der Form gewinnt es, wenn nicht seine Wirklichkeit, so doch erst seine »Sichtigkeit«. Die Welt des Lebens von der der Form schlechthin abzulösen und beide einander entgegensetzen, heißt nichts anderes als seine »Wirklichkeit« von seiner »Sichtigkeit« trennen – aber sollte nicht ebendiese Trennung selbst in die Klasse jener »künstlichen« Abstraktionen gehören, gegen welche sich Bergsons Metaphysik schon in ihrem ersten Ansatz gewandt hatte? Sollte alle Form als solche notwendig Verhüllung, und nicht vielmehr Manifestation und Offenbarung, bedeuten? Um die Grundrichtung der metaphysischen Intuition zu bestimmen und um ihr Wesen zu erleuchten, greift Bergson nicht selten auf den Vergleich mit der künstlerischen Intuition zurück: wie denn auch bei seinem Lehrer Ravaisson die Kunst geradezu als eine »figürliche Metaphysik« (une métaphysique figurée), die Metaphysik als eine »Reflexion über die Kunst« erscheint.26 Aber eben an der künstlerischen Tätigkeit zeigt es sich aufs deutlichste, daß jeder Versuch, den Akt der »inneren« Schau von dem der »äußeren« Gestaltung abzutrennen, notwendig scheitern muß; daß das Schauen selber hier schon ein Gestalten ist, wie das Gestalten ein reines Schauen verbleibt. Die »Äußerung« schließt sich hier niemals, als etwas Nachträgliches und relativ Zufälliges, an ein fertig gegebenes inneres Vorbild an: Sondern das innere Bild gewinnt seinen Gehalt erst dadurch, daß es sich zum Werk zusammenfaßt und im Werk nach außen tritt. Das gleiche gilt von jenem universellen schöpferischen Prozeß, kraft dessen aus der »unmittelbaren« Einheit des Lebens die Welt des Geistes, als eine Welt der Vermittlungen, hervorgeht. Eine Metaphysik, die in diesen notwendigen Vermittlungen kein anderes Moment als das der Trennung, als das des Abfalls und der Entfremdung von der wahren Wirklichkeit heraushebt, steht noch im Banne jener Täuschung, die Kant als eine der »Sophistikationen der
26 »L’art est une métaphysique figurée, la métaphysique est une réflexion sur l’art et c’est la même intuition, diversement utilisée, qui fait le philosophe profond et le grand artiste.« Henri Bergson, Notice sur la vie et les œuvres de M. Félix Ravaisson-Mollien, in: Mémoires de l’Académie des Sciences Morales et Politiques de l’Institut de France 25 (1907), S. 1–43: S. 16 (zit. nach: Adam, Die intellektuelle Anschauung, S. 20).
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menschlichen Vernunft«27 erkannt und die er durch einen berühmten Vergleich bezeichnet hat. Sie glaubt, daß der actus purus, daß die Energie der reinen Lebensbewegung sich dort am vollkommen | sten zeigen müsse, wo diese Bewegung noch ganz sich selbst überlassen ist, wo ihr noch keinerlei Widerstand an einer Welt der Formen erwächst – und sie vergißt darüber, daß dieser Widerstand ein Moment und eine Bedingung ebendieser Bewegung selbst bildet. Die Formen, in denen sich das Leben äußert und vermöge deren es seine »objektive« Gestalt gewinnt, bedeuten für dasselbe ebensowohl Widerstand, wie sie seinen unentbehrlichen Widerhalt bezeichnen. Wenn sie ihm Schranken setzen, so sind es doch solche, an denen es seiner Kraft erst bewußt wird und vor denen es seine Kraft erst gebrauchen lernt. Die scheinbare Gegenkraft wird damit selber zum Impuls der Gesamtbewegung: Die Richtung auf die Äußerlichkeit nicht der Dinge, sondern der Formen und Symbole gibt den Weg an, auf welchem die reine Subjektivität sich erst selber findet. Aber wir brechen an diesem Punkte ab, ohne vorerst in den Kreis der Probleme einzutreten, die sich hier von allen Seiten zudrängen. Das Ziel dieser einleitenden Betrachtung sollte nicht die Lösung dieser Probleme sein; sie wollte vielmehr nur die Schwierigkeiten bezeichnen, sie wollte auf die eigentümliche Dialektik hinweisen, die schon die bloße Frage nach dem Unmittelbaren, von welcher Seite sie immer in Angriff genommen werden mag, in sich birgt. Wir sahen, daß weder die Erkenntnislehre noch die Metaphysik, weder die Spekulation noch die Erfahrung, mag sie nun als »äußere« oder als »innere« Erfahrung verstanden werden, dieser Dialektik völlig Herr zu werden vermag. Der Widerstreit läßt sich zwar zurückschieben, und er läßt sich von einer Stelle des geistigen Kosmos an eine andere verlegen; aber er wird damit nicht endgültig besiegt. Hier bleibt kein anderes Mittel übrig, als daß das philosophische Denken sich nicht bei einer vorzeitigen Lösung beruhigt, sondern daß es ebendiesen Widerstreit selbst entschlossen auf sich nimmt. Das Paradies der Unmittelbarkeit ist diesem Denken verschlossen: Es muß – um es mit den Worten Kleists aus dem Aufsatz »Über das Marionettentheater« zu bezeichnen – »die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist«.28 Nur dies kann gefor27 [Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 272 (B 397): »Es sind Sophistikationen nicht der Menschen, sondern der reinen Vernunft selbst […]«.] 28 [Heinrich von Kleist, Über das Marionettentheater, in: Werke, im Verein mit Georg Minde-Pouet u. Reinhold Steig hrsg. v. Erich Schmidt, 5 Bde., Leipzig/ Wien 1904 f., Bd. IV, S. 133–141: S. 137.]
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dert werden, daß diese »Reise um die Welt« das wirkliche Ganze des globus intellectualis umfaßt: daß die Bestimmung dessen, was die »theoretische Form« als solche ist, nicht von einer ihrer Einzelleistungen hergenommen wird, sondern die Gesamtheit ihrer Möglichkeiten ständig im Auge behält. Sosehr jeder Versuch scheitert, das Gebiet der Form schlechthin zu transzendieren, so soll dies Gebiet doch nicht nur hier oder dort berührt, sondern vollständig durchmessen werden. | Wenn der Gedanke das Unendliche nicht direkt ergreifen kann, so soll er doch im Endlichen nach allen Seiten schreiten. Die folgenden Untersuchungen stellen sich die Aufgabe zu zeigen, wie hier, angefangen von dem schlichten Ausdruckswert der Wahrnehmung und von den repräsentativen Charakteren der Vorstellung, insbesondere der Raum- und Zeitvorstellung, bis hinauf zu den allgemeinen Sinndeutungen der Sprache und der theoretischen Erkenntnis, ein einheitlicher Zusammenhang besteht. Die Art dieses Zusammenhangs kann nur dadurch bezeichnet und kenntlich gemacht werden, daß man seinem Aufbau folgt und daß man an diesem Aufbau inne wird, wie er, so verschiedenartig, ja gegensätzlich seine einzelnen Phasen sind, dennoch von ein und derselben geistigen Grundfunktion beherrscht und geleitet wird. |
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ERSTER TEIL. AUSDRUCKSFUNKTION UND AUSDRUCKSWELT |
kapitel i. Subjektive und objektive Analyse Wenn man nach der Bedeutung fragt, die die allgemeine Symbolfunktion für die Gestaltung des theoretischen Bewußtseins besitzt, so scheint der einfachste und sicherste Weg zum Aufweis dieser Bedeutung darin zu bestehen, daß man sich sogleich an die höchsten und abstraktesten Leistungen der reinen Theorie wendet. Denn in ihnen tritt der Zusammenhang alsbald in voller Helle und Klarheit heraus. Es zeigt sich, daß alle theoretische Bestimmung und alle theoretische Bewältigung des Seins daran gebunden ist, daß der Gedanke, statt sich unmittelbar der Wirklichkeit zuzuwenden, ein System von Zeichen aufstellt und daß er lernt, diese Zeichen als »Stellvertreter« der Gegenstände zu brauchen. In dem Maße, als diese Funktion der Stellvertretung sich durchsetzt, beginnt erst das Sein zu einem geordneten Ganzen, zu einem klar überschaubaren Gefüge zu werden. Das besondere Sein und das besondere Geschehen zeigt sich, sofern es gelingt, seinen Gehalt in dieser Weise zu repräsentieren, um so mehr von allgemeinen Bestimmungen durchdrungen. Indem der Gedanke diesen Bestimmungen nachgeht und indem er jede von ihnen selbst wieder symbolisch darstellt, gewinnt er damit ein immer vollkommeneres Modell des Seins und seiner theoretischen Gesamtstruktur. Jetzt braucht er, um dieser Struktur gewiß zu werden, nicht mehr nach dem einzelnen Gegenstand zu greifen und ihn in seiner vollen Konkretion, in seiner sinnlichen »Wirklichkeit« vor sich hinzustellen. Statt sich den einzelnen Dingen und den einzelnen Geschehnissen hinzugeben, sucht und erfaßt er ein Ganzes von Beziehungen und Verknüpfungen, statt materialer Einzelheiten erschließt sich ihm eine Welt der Gesetze. An der »Form« der Zeichen, an der Möglichkeit, mit ihnen in bestimmter Weise zu operieren und sie nach festen und durchgängigen Regeln miteinander zu verknüpfen, geht dem Denken jetzt seine eigene Form, geht ihm der Charakter seiner | theoretischen Selbstgewißheit auf. Der Rückzug in die Welt der Zeichen bildet die Vorbereitung für jenen entscheidenden Durchbruch, kraft dessen der Gedanke sich seine eigene Welt, die Welt der Idee, erobert. Leibniz war es, der das Verhältnis, das hier obwaltet, zuerst in voller Schärfe erkannt und der die Folgerungen aus dieser Erkenntnis
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im Aufbau seiner Logik, seiner Metaphysik und seiner Mathematik gezogen hat. Für ihn ist das Problem der »Logik der Sachen« unlöslich mit dem Problem der »Logik der Zeichen« verknüpft. Die »Scientia generalis« bedarf der »Characteristica generalis« als ihres Werkzeugs und ihres Vehikels. Diese geht nicht unmittelbar auf die Dinge selber, sondern auf deren Repräsentanten: Sie handelt nicht sowohl von den res als vielmehr von den »notae rerum«. Aber ihrem durchaus objektiven Gehalt tut dieser Umstand keinerlei Eintrag. Denn jene »prästabilierte Harmonie«, die, gemäß dem Grundgedanken der Leibnizischen Philosophie, zwischen der Welt des Idealen und der des Realen herrscht – sie verknüpft auch die Welt der Zeichen mit der der objektiven »Bedeutungen«. Das Wirkliche untersteht ohne jegliche Einschränkung der Herrschaft des Ideellen: »le reel ne laisse pas de se gouverner […] par l’ideal et l’abstrait«.1 Aber diese Herrschaft des Gedankens über die Sinnenwelt kann sich andererseits nicht anders bekunden und nicht anders zur Geltung bringen als darin, daß der Gedanke gewissermaßen deren eigene Farbe annimmt, daß er sich versinnlicht und verkörpert. Die Analysis des Wirklichen führt auf die Analysis der Ideen, die Analysis der Ideen auf die der Zeichen zurück. Mit einem Schlage ist damit der Symbolbegriff zum geistigen Fokus, zum eigentlichen Brennpunkt der intellektuellen Welt geworden. In ihm laufen die Richtlinien der Metaphysik und der allgemeinen Erkenntnislehre zusammen; in ihm stellt sich die Verknüpfung her zwischen den Problemen der allgemeinen Logik und denen der besonderen theoretischen Wissenschaft. Insbesondere die »exakte« Wissenschaft ist ganz in seinen Bann gezogen: Denn das Maß ihrer Exaktheit liegt geradezu darin, daß sie nur solche Aussagen zuläßt, die der Umsetzung in Zeichen fähig sind, und zwar in solche Zeichen, deren Sinn streng und eindeutig definiert werden kann. Das Ideal der Erkenntnis, das hier aufgestellt wird, ist durch die Entwicklung der exakten Wissenschaft im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert Schritt für Schritt seiner Erfüllung näher geführt worden. Aus den Grundgedanken der Leibnizischen Charakteristik sind die Gedanken der modernen »symbolischen Logik« und aus ihnen wiederum ist eine neue prinzipielle Gestaltung der Mathematik erwachsen. Heute steht die Mathematik an einem Punkte, an dem sie | der Hilfe der symboli1 [Gottfried Wilhelm Leibniz, Brief an Pierre Varignon vom 2. Februar 1702, in: Mathematische Schriften, hrsg. v. Carl Immanuel Gerhardt, 7 Bde., Halle und Berlin 1848–1863 (Leibnizens gesammelte Werke, aus den Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Hannover, hrsg. v. Georg Heinrich Pertz, 3. Folge: Mathematik), Bd. IV, Halle 1859, S. 91–95: S. 93.]
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schen Logik nirgends entraten kann, ja es scheint, wenn man die Arbeiten zur modernen mathematischen Prinzipienlehre, insbesondere die Arbeiten Russells, betrachtet, mehr und mehr fraglich geworden zu sein, ob sie neben der symbolischen Logik überhaupt noch irgendeine Sonderstellung und eine Art Sonderrecht behaupten könne. Wie für Leibniz der Symbolbegriff gleichsam das »vinculum substantiale« zwischen seiner Metaphysik und seiner Logik bildete, so bildet er in der modernen Wissenschaftslehre das vinculum substantiale zwischen Logik und Mathematik und weiterhin zwischen Logik und exakter Naturerkenntnis. Allenthalben erweist er sich als das geistig-strenge Band, das nicht zu trennen ist, ohne daß mit der Form des exakten Wissens auch sein wesentlicher Gehalt verlorenginge. Aber wenn der Symbolbegriff in dieser Weise als konstitutiv für den Begriff der exakten Erkenntnis anzusehen ist, so scheint dies auch die Folgerung nach sich zu ziehen, daß er dieser Sphäre vorbehalten bleiben muß. Wenn er das Gebiet des Theoretischen und Exakten erst eigentlich aufschließt, so scheint er in diesem Gebiet auch verschlossen bleiben zu müssen und über dasselbe nicht hinausdringen oder auch nur hinausblicken zu können. Für die Welt des abstrakten Begriffs mag es möglich, ja für sie mag es notwendig sein, sich einer Welt von Zeichen zu verhaften. Aber so hoch man die rationale Voll endung auch schätzen mag, die dem Begriff aus dieser seiner Union mit den Zeichen erwächst, so läßt sich doch nicht übersehen, daß diese Art von Vollendung der Erkenntnis erst an ihrem Ende zuteil wird. Dürfen wir, wo es sich um eine Übersicht über das Ganze der Erkenntnis, über die Totalität ihrer Formen handelt, den Blick lediglich an dieses Ende heften, statt zugleich ihren Anfang und ihre Mitte zu umfassen? Aller begrifflichen Erkenntnis liegt notwendig anschauliche Erkenntnis, aller anschaulichen Erkenntnis liegt wahrnehmende Erkenntnis zugrunde. Sollen wir die Leistung der Symbolfunktion auch in diesen Vorstufen des begrifflichen Denkens suchen, deren Eigenart ja eben darin zu bestehen scheint, daß sie statt des mittelbaren und diskursiven Wissens eine unmittelbare Gewißheit in sich bergen? Wäre es nicht ein Raub an dieser Unmittelbarkeit, wäre es nicht eine völlig unberechtigte Intellektualisierung der Anschauung und der Wahrnehmung, wenn wir die Herrschaft des »Symbolischen« auch über sie erstrecken wollten? Wenn das Symbolproblem uns also sogleich an der Schwelle der reinen Begriffserkenntnis empfängt, so müssen wir andererseits, wie es scheint, auch an | erkennen, daß es erst an dieser Schwelle entsteht. Das eben scheint den Begriff ein für allemal von der Wahrnehmung und Anschauung zu trennen, daß er sich an bloße repräsentative Zeichen halten und daß
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er in ihnen sein Genüge finden kann, während Wahrnehmung und Anschauung ein durchaus anderes, ja entgegengesetztes Verhältnis zu ihrem Gegenstand besitzen. Sie vermeinen zum mindesten, mit diesem Gegenstand in direkter »Berührung« zu stehen; sie beziehen sich auf die »Sache« selbst, nicht auf ein bloß repräsentatives Zeichen derselben. Es hieße an eine der sichersten Einsichten der Erkenntniskritik rühren, es hieße eine in jahrhundertelanger Tradition festgewordene und wahrhaft klassische Unterscheidung aufgeben, wenn man diese Grenze zwischen der »Unmittelbarkeit« der Wahrnehmung oder Anschauung und der Mittelbarkeit des logisch-diskursiven Denkens bestreiten oder verwischen wollte. Auch Kants Erkenntnislehre hat – in bekannten Sätzen, die den Eingang zur »Transzendentalen Ästhetik« bilden – diesen Unterschied fixiert und ihn zum Ausgangspunkt aller weiteren Analysen genommen. Und doch erhebt sich für uns an dieser Stelle, wenn wir den Richtlinien folgen, die unser systematisches Grundproblem uns vorschreibt, alsbald eine neue Frage. Vom Standpunkt dieses Problems muß der Schnitt zwischen den verschiedenen »Vermögen«, auf denen die theoretische Erkenntnis beruht und aus denen sie sich aufbaut, wesentlich anders geführt werden, als ihn die psychologische oder erkenntnistheoretische Tradition zu führen pflegt. Die Analyse der Sprache und die des Mythos hat uns den Einblick in Grundformen des symbolischen Erfassens und symbolischen Gestaltens gewährt, die mit der Form des begrifflichen, des »abstrakten« Denkens in keiner Weise zusammenfallen, sondern eine durchaus andere Prägung besitzen und bewahren. Es ergibt sich hieraus, daß das Symbolische rein als solches, sofern man es in seiner ganzen Weite und Universalität versteht, keineswegs auf jene Systeme der reinen Begriffszeichen eingeschränkt ist, wie sie die exakte Wissenschaft, insbesondere die Mathematik und die mathematische Naturerkenntnis, ausbildet. Der Welt dieser Begriffszeichen stehen die Gebilde der Sprache und die des Mythos zunächst als etwas durchaus Unvergleichliches gegenüber: Und doch tritt in ihnen allen insofern eine gemeinsame Bestimmung hervor, als sie sämtlich in den Kreis der »Darstellung« gehören. Die spezifische Differenz, die hier vorliegt, schließt also die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Gattung und die Zusammengehörigkeit in ihr so wenig aus, daß sie sie vielmehr voraussetzt und fordert. Die Bildwelt des Mythos, die Lautgebilde der Sprache und die Zeichen, deren sich | die exakte Erkenntnis bedient, bestimmen je eine eigene Dimension der Darstellung – und erst in ihrer Gesamtheit genommen, konstituieren alle diese Dimensionen das Ganze des geistigen Sehraums. Man verliert den Blick für dieses Ganze, wenn man die Symbolfunktion von vornher-
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ein auf die Ebene des begrifflichen, des »abstrakten« Wissens einschränkt. Es gilt vielmehr zu erkennen, daß diese Funktion nicht einem einzelnen Stadium des theoretischen Weltbildes angehört, sondern daß sie dieses in seiner Totalität bedingt und trägt. Nicht erst das Reich des Begriffs, sondern bereits das der Anschauung und das der Wahrnehmung hat an dieser Bedingtheit teil – so wahr auch die letzteren dem Kreise der »Spontaneität«, nicht dem der bloßen »Rezeptivität« angehören; so wahr sich in ihnen nicht nur die Fähigkeit ausspricht, Eindrücke von außen zu empfangen, sondern sie nach eigentümlichen Bildungsgesetzen zu gestalten. Jene drei ursprünglichen Erkenntnisquellen, auf welchen nach der »Kritik der reinen Vernunft« die Möglichkeit einer Erfahrung überhaupt beruht: Sinn, Einbildungskraft und Verstand erweisen sich somit, unter dem Gesichtspunkt des Symbolproblems betrachtet, in einer neuen Weise aufeinander bezogen und miteinander verknüpft. Diese Verknüpfung hebt die Unterscheidung als solche keineswegs auf: Die Grenzen der verschiedenen Gebiete verwischen sich nicht und verschwimmen nicht, aber ungeachtet dieser Grenzen stellt sich jetzt eine andere Ordnung, ein fester Konnex zwischen den verschiedenen Einzelphasen her, die das theoretische Bewußtsein durchlaufen muß, ehe es zu seiner abschließenden und endgültigen Gestalt gelangt. Aber noch gilt es, ehe wir diesen Fortgang und Stufengang im einzelnen verfolgen können, eine allgemeine methodische Vorfrage zu beantworten. Wenn wir nach der Form und dem Aufbau des theoretischen Bewußtseins fragen, so ist schon der Gebrauch dieses Terminus mit Schwierigkeiten aller Art belastet. Denn der Bewußtseinsbegriff scheint der eigentliche Proteus der Philosophie zu sein. Er tritt in all ihren verschiedenen Problemgebieten auf; aber er zeigt in keinem von ihnen dieselbe Gestalt, sondern ist in einem unablässigen Bedeutungswandel begriffen. Die Metaphysik wie die Erkenntnistheorie, die empirische Psychologie wie die reine Phänomenologie nehmen ihn für sich in Anspruch. Aus dieser seiner vielfältigen inneren Bindung erwachsen und entfachen sich stets aufs neue jene Grenzstreitigkeiten, die zwischen den verschiedenen Regionen des philosophischen Denkens ausgefochten werden. Die Gefahr, in diese Schwierigkeiten verstrickt zu werden, ist für unsere eigene syste | matische Grundfrage um so größer, als ihre Zugehörigkeit zu einem der Gebiete, die hier in Kampf miteinander treten, keineswegs von Anfang an feststeht. Die Frage, die die Philosophie der symbolischen Formen sich stellt, ist durch starke Fäden mit anderen Fragen verknüpft, die man herkömmlich der Erkenntnistheorie oder der Psychologie, der Phänomenologie oder der Metaphysik zuzurechnen pflegt. Sosehr sie
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für sich selbst eine Art methodischer Autonomie in Anspruch nehmen darf – sosehr sie versuchen muß, sich den Grund und Boden, auf welchen sie sich stellt, selbständig zu erarbeiten und zu sichern, so kann sie doch des steten Ausblicks in alle diese Gebiete nirgends entbehren. Soll die Verbindung, die sich hier immer wieder ergibt, nicht zu einer Vermischung führen, so muß Klarheit darüber geschaffen werden, in welchem Sinne sie gesucht und verstanden wird. Fassen wir hier zunächst die Psychologie ins Auge, so scheint die Grenzlinie leicht zu ziehen, solange man die Aufgabe der Psychologie lediglich in der empirisch-kausalen »Erklärung« der Bewußtseinsphänomene erblickt. Denn wie die reine Erkenntniskritik im besonderen, so fragt die Philosophie der symbolischen Formen im ganzen nicht nach dieser empirischen Herkunft des Bewußtseins, sondern nach seinem reinen Bestand. Statt seinen zeitlichen Entstehungsursachen nachzugehen, richtet sie sich lediglich auf das, was »in ihm liegt«; auf die Erfassung und Beschreibung seiner Strukturformen. Die Sprache, der Mythos, die theoretische Erkenntnis: sie alle werden hier als Grundgestalten des »objektiven Geistes« genommen, deren »Sein« sich rein als solches, unabhängig von der Frage nach seinem »Gewordensein«, aufweisen und verstehen lassen muß. Wir stehen im Kreise der allgemeinen »transzendentalen« Frage: im Kreise derjenigen Methodik, die das »quid facti« der einzelnen Bewußtseinsformen nur zum Ausgangspunkt nimmt, um nach ihrer Bedeutung, um nach ihrem »quid juris« zu fragen. Auf der anderen Seite hat jedoch Kant selbst immer wieder mit Nachdruck betont, daß ebendiese Methodik des »Transzendentalen« in sich selbst zwei verschiedene Grundrichtungen der Betrachtung enthält. »Die eine bezieht sich auf die Gegenstände des reinen Verstandes und soll die objektive Gültigkeit seiner Begriffe a priori dartun und begreiflich machen […] Die andere geht darauf aus, den reinen Verstand selbst, nach seiner Möglichkeit und den Erkenntniskräften, auf denen er selbst beruht, mithin ihn in subjektiver Beziehung zu betrachten […]«2 Er durfte in dieser Weise den Weg der »subjektiven Deduktion« mit dem der »objektiven Deduktion« verbinden, ohne den Rückfall in den psychologischen | Idealismus befürchten zu müssen, weil für ihn der Sinn der Subjektivität selbst sich entscheidend umgestaltet hatte. Denn ihm ist die »reine« Subjektivität so wenig mit dem Charakter des Einzelnen, des Empirisch-Zufälligen behaftet, daß sie vielmehr zum Quell und Ursprung aller wahrhaften Allgemeingültigkeit wird. Die Subjektivität von Raum und Zeit dient dazu, die Objektivität der Mathematik, der geometrischen und arithmetischen 2
[Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 10 (A XVI).]
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Grundsätze, zu begründen und sicherzustellen. Und ebenso wird auf die transzendentale Einheit der Apperzeption nur zurückgegangen, um aus ihr und kraft ihrer die Einheit der Natur, als eines Inbegriffs allgemeiner und notwendiger Gesetze, verständlich zu machen. In diesem Sinne wird die Antithese zwischen Subjekt und Objekt durch den Aufweis ihrer notwendigen Wechselbeziehung im Aufbau und in der Konstitution des Erfahrungsgegenstandes beseitigt: Der Konflikt zwischen beiden weicht einer reinen Korrelation. Aber von neuem droht dieser Konflikt hervorzubrechen, wenn wir die Frage, statt sie nur an die wissenschaftliche Erkenntnis zu stellen und sie dieser gleichsam vorzubehalten, vielmehr an die Gesamtheit der Formen des »Weltverstehens« richten. Auch hier fassen wir die Subjektivität als ein Ganzes von Funktionen, aus denen sich für uns das Phänomen einer »Welt« und ihrer bestimmten Sinnordnung erst eigentlich aufbaut. Aber kann dieser »Sinn« – welche Bedeutung und Geltung wir ihm immer zusprechen mögen – noch den Anspruch auf die gleiche Art der Allgemeingültigkeit erheben, wie er im Umkreis der theoretischen Erkenntnis und ihrer Grundsätze und Axiome galt? Oder ist nicht hier die »Apriorität« ständig in Gefahr, in eine andere Ebene, in die Dimension des »bloß Subjektiven« abzugleiten? Schon bei demjenigen Denker, der den ersten Versuch unternommen hat, Kants Methodik in aller Strenge festzuhalten, sie aber zugleich über den Kreis des theoretisch-wissenschaftlichen Weltbildes hinaus zu erweitern, scheint sich diese Gefahr aufweisen zu lassen. Die Analyse der Sprache steht bei Wilhelm von Humboldt überall unter der Leitung des Gedankens, daß der geistige Gehalt der Sprache niemals vollständig gewürdigt werden kann, wenn man lediglich das »objektive« Moment an ihr betrachtet; wenn man sie als ein System von Zeichen nimmt, das der Darstellung der Gegenstände und ihrer Beziehungen dienen soll. »Die Verschiedenheit der auffassenden Stimmung«, so betont er vielmehr, »giebt denselben Lauten eine auf verschiedene Weise gesteigerte Geltung und es ist, als wenn bei jedem Ausdruck etwas durch ihn nicht absolut Bestimmtes gleichsam überschwankte. […] Weder in den Begriffen noch in der Sprache selbst steht irgend etwas vereinzelt da. | Die Verknüpfungen wachsen aber den Begriffen nur dann wirklich zu, wenn das Gemüth in innerer Einheit thätig ist, wenn die volle Subjectivität einer vollendeten Objectivität entgegenstrahlt. […] Wenn in der Seele wahrhaft das Gefühl erwacht, dass die Sprache nicht bloss ein Austauschungsmittel zu gegenseitigem Verständniss, sondern eine wahre Welt ist, welche der Geist zwischen sich und die Gegenstände durch die innere Arbeit seiner Kraft setzen muss, so ist sie auf dem wahren Wege, immer mehr in ihr zu finden und in sie zu
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legen.«3 Hier tritt uns unverkennbar die Berufung auf eine »Subjektivität« anderer Art entgegen – auf eine Subjektivität, die sich nicht in der gleichen Weise, wie dies innerhalb der theoretischen Erkenntnis der Fall war, in Prinzipien fassen und zu einem System synthetischer Grundsätze a priori entwickeln läßt. Die Sprache wird nicht lediglich als abstrakte Denkform gefaßt, sondern sie soll als konkrete Lebensform verstanden werden; sie soll nicht sowohl aus den Gegenständen als aus der Verschiedenheit der »auffassenden Stimmung« erklärt werden. Ist diese Wendung anders möglich als dadurch, daß wir uns der Leitung der Psychologie überlassen – zeigt diese uns nicht den einzig möglichen Weg, der uns von dem Gebiet der »abstrakten« Subjektivität in das der »konkreten« Subjektivität hinleiten und den Durchbruch von der »Denkform« zur »Lebensform« vollziehen kann? Die heutige Problemlage der Philosophie bringt es mit sich, daß auf diese Frage keine klare und befriedigende Antwort erteilt werden kann – es sei denn, daß zuvor der Begriff der Psychologie selbst untersucht und ihre Methodik wie ihr Aufgabenkreis bestimmt abgegrenzt wird. Es ist das wesentliche Verdienst Natorps, daß er, auf Kants allgemeinen Voraussetzungen fußend, diese Abgrenzung vollzogen – daß er eine »Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode« aufgebaut hat. Einer Psychologie gegenüber, deren höchster Ehrgeiz es gewesen war, mit der Naturwissenschaft zu wetteifern und ihr Verfahren, das Verfahren der empirischen Beobachtung und der exakten Messung, nachzuahmen, vollzieht Natorp wieder die spezifische Rückwendung und Innenwendung. Das »Bewußtsein« wird ihm nicht zu einem Teil des Seins, der sich nach den gemeinsamen, für alle gegenständliche Erkenntnis gültigen Methoden behandeln und erforschen ließe, sondern es gilt ihm als sein bedingender »Grund«. Mit dieser Stellung ist gegeben, daß die Psychologie, sofern sie reine »Bewußtseinslehre« sein will, im System der kritischen Philosophie nicht als ein | Systemglied neben anderen steht, sondern daß sie zu ihnen allen gewissermaßen den Gegenpol und gleichsam den methodischen Gegenwurf bildet. Denn alle anderen Systemglieder – die Logik sowohl wie die Ethik und Ästhetik – sind nichts als verschiedene Momente in der einen großen Aufgabe der Objektivierung. Sie bauen ein Reich von Gegenständen oder ein Reich von Werten, einen Inbegriff von Gesetzen oder einen Inbegriff von Normen auf: Und sie fordern für diese Gesetze oder Normen ein bestimmtes Maß und eine bestimmte Form der objektiven Gültigkeit und Verbindlichkeit. Die 3 Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss, S. 176.
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Psychologie hingegen hat es nicht mit einem Sein zu tun, das in dieser Weise bereits bestimmt wäre, sondern sie fragt nach dem, was jeder solcher Bestimmung als Ansatz voraus und zugrunde liegt. Sie kann, sofern sie sich selbst recht versteht, das Bewußtsein nicht dadurch erkennen wollen, daß sie es als irgendein Analogon der objektiven Wirklichkeit beschreibt; vielmehr bedeutet für sie die Tatsache der »Bewußtheit« ein unreduzierbar Letztes, das sich als solches nur noch aufweisen, nicht aber, gemäß den kategorialen Formen der Dingerkenntnis, insbesondere nach der Kategorie der Substantialität und Kausalität, »erklären« läßt. Insofern ist der »Gegenstand« der Psychologie, sofern von einem solchen gesprochen werden kann, in keiner Weise den Gegenständen der Natur, den »Dingen« im Raume und den Vorgängen und Veränderungen in der Zeit, vergleichbar, noch macht er ihnen irgendwie den Rang streitig. Denn ihr Gegenstand ist nicht selbst ein Erscheinendes, ein in Raum und Zeit Befindliches und Daseiendes, sondern er ist lediglich die reine Tatsache des Erscheinens selbst. Daß ein solches »Erscheinen« stattfindet, daß es Phänomene gibt, die sich auf ein Ich als wahrnehmendes, anschauendes oder denkendes Ich beziehen und die sich diesem Ich darstellen: dieses Urfaktum bildet hier das alleinige Problem. »Damit [aber]«, so folgert Natorp, »wird es […] zur vollen Unmöglichkeit, das Bewußtsein, sei es, wie bei Aristoteles, der Natur einzugliedern, oder, wie bei der überwiegenden Mehrzahl der neueren Psychologen, zwar als neben ihr stehend, vielleicht sogar sie umfassend, aber dennoch mit den gleichen Denkmitteln wie sie zu bearbeiten, somit wirklich als eine andere Natur darzustellen. Als zweite ›Welt‹ gegenüber der der theoretischen Erkenntnis (›Natur‹ oder ›Erfahrung‹ im kantischen Sinne) steht ja nun vielmehr die Sittenwelt da, und als dritte die Welt der Kunst; vielleicht noch als eine Überwelt über diesen […] die Welt der Religion. Die Innenwelt des Bewußtseins aber läßt sich diesen dreien oder vieren in keiner Weise mehr logisch über- oder neben- oder unterordnen, sondern sie stellt | zu ihnen [allen], zur Objektsetzung jeder Art und Stufe, gleichsam die Gegenseite, eben die Innenwendung, nämlich die letzte Konzentration ihrer aller auf das erlebende Bewußtsein dar. Diese letzte Konzentration ist es, die der Begriff des Psychischen als des Bewußtseins, seinem vollen, konkreten Gehalt nach, nicht etwa als voraus gegeben bloß anzuerkennen, sondern überhaupt erst aufzustellen und zu entwickeln hat […]«4 4 Paul Natorp, Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode, 1. Buch: Objekt und Methode der Psychologie [mehr nicht erschienen], Tübingen 1912, S. 19 f.
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Mit dieser Fassung des Begriffs und der Aufgabe der Psychologie stehen wir nun erst auf dem Grund und Boden, auf welchem allein eine fruchtbare Auseinandersetzung zwischen ihr und unserem eigenen systematischen Problem, dem Problem der Philosophie der symbolischen Formen, möglich wird. Hier muß sich zunächst die Frage erheben, wie wir zu dieser reinen »Innenwelt« des Bewußtseins, als der letzten Konzentration alles Geistigen, überhaupt vordringen können, wenn für ihre Aufweisung und Beschreibung doch all die Begriffe und all die Gesichtspunkte fernzuhalten sind, die für die Darstellung der gegenständlichen Wirklichkeit geschaffen sind. Wo fände sich ein Mittel, das Ungreifbare dennoch zu ergreifen, das, was selbst noch in keine feste Form – sei es der anschaulichen Raum- und Zeitordnung, sei es einer rein intellektuellen oder einer ethischen oder ästhetischen Ordnung – eingegangen ist, in irgendeiner Weise »auszusprechen«? Ist das Bewußtsein nichts als die reine Potentialität für alle »objektiven« Formungen, gewissermaßen die bloße Empfänglichkeit und Bereitschaft für sie, so ist nicht abzusehen, inwiefern ebendiese Potentialität selbst als Faktum, ja im gewissen Sinne als Urfaktum alles Geistigen überhaupt, behandelt werden kann. Denn jede Faktizität sagt mehr als bloße Bestimmbarkeit aus; sie schließt schon die Bestimmtheit in irgendeiner »Hinsicht«, die Prägung durch irgendeine Form in sich. Natorp würde derartigen Bedenken mit dem Hinweis begegnen, daß in der Tat die »Bewußtheit« in dem Sinne, in dem er sie versteht, niemals unmittelbar gegeben oder vorgefunden werden kann. Die »Innenwelt«, von der hier die Rede ist, ist weder der direkten Beobachtung oder einem sonstigen Mittel der psychologischen »Empirie« zugänglich; noch wird sie einfach als ein hypothetischer »Erklärungsgrund« durch konstruktives Denken gesetzt. Denn beides: »Tatsachen« wie »Erklärungsgründe«, gibt es ja erst innerhalb der Richtung der objektivierenden Betrachtung selbst, nicht aber außerhalb und vor derselben. Hier jedoch gilt es nicht sowohl, innerhalb dieser Betrachtung verharrend, gewissermaßen den Ort des »Bewußtseins« zu fixieren, sondern es gilt einen | prinzipiellen Wechsel der Orientierung selbst. Statt uns der Fortbewegung der Erkenntnis auf ihren »Gegenstand« hin zu überlassen, sollen wir ein Ziel erblicken, das aller Objekterkenntnis sozusagen im Rücken liegt. Es ist klar, daß dieser paradoxen Forderung, wenn überhaupt, so nur mittelbar Genüge geleistet werden kann. Wir können niemals das unmittelbare Sein und Leben des Bewußtseins rein als solches bloßlegen – wohl aber ist es eine sinnvolle Aufgabe, dem Prozeß der Objektivation, der als solcher unaufheblich ist, dadurch eine neue Seite und einen neuen Sinn abzugewinnen, daß er in einer doppelten Richtung: vom Terminus a quo zum Terminus
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ad quem, und von diesem wieder zurück zu jenem, durchschritten wird. Nur in einem solchen ständigen Hin und Wider, nur in diesem Doppelschritt der Methode, kann nach Natorp der »Gegenstand« der Psychologie überhaupt als solcher sichtig werden. Er erscheint erst, sofern der konstruktiven Arbeit der Mathematik, der Naturwissenschaft, aber auch der Ethik und Ästhetik, eine andere rein »rekonstruktive« Arbeit gegenübertritt. Diese letztere bleibt freilich insofern unselbständig, als sie den konstruktiven Aufbau schon als vollzogen voraussetzen muß. Wenn sie bei ihm nicht stehenbleibt, wenn sie hinter ihn zurückfragt, so kann sie doch andererseits diese Frage nicht stellen, ohne diesen Aufbau selbst als Ausgangspunkt zu nehmen, ohne an das anzuknüpfen, was in ihm geleistet und was durch ihn gesichert worden ist. So scheint der Psychologie, sofern man sie im Sinne Natorps versteht, allerdings kaum etwas anderes und kaum mehr als eine bloße Penelope-Arbeit zu verbleiben – sie löst das vielverschlungene und kunstreiche Gewebe wieder auf, das in den verschiedenen Formen der »Objektivation« geknüpft worden war. In dieser Hinsicht setzt sie der »Plusrichtung« der reinen Theorie, der Ethik und Ästhetik, die umgekehrte, die »Minusrichtung« entgegen. Aber beide Ausdrücke dürfen hierbei freilich nicht im absoluten, sondern sie müssen im rein relativen Sinne verstanden werden. »Das Verhältnis des Gegensatzes wird zu dem der Gegenseitigkeit, die zugleich notwendige Korrelation bedeutet. In dieser Korrelation aber bedeutet nun die Minusrichtung nicht mehr Minderung, Rückgang wohl gar bis zur Nullität des Bewußtseins; sondern es entspricht der peripherischen Erweiterung vielmehr die zentrale Vertiefung, die allerdings Zurückbeziehung auf den Ursprung ist, in der aber von dem in der objektivierenden Richtung des Erkennens Gewonnenen durchaus nichts wieder verloren geht, vielmehr auch, was verloren schien, was als ›Subjektives‹ im schlechten Sinn aufseite gestellt wurde, wiederaufgenommen und in seine vollen Rechte wieder eingesetzt, alles neu Gewonnene | aber zugleich bewahrt und mit jenem in Verbindung gesetzt, der Gesamtgehalt des Bewußtseins also nicht verkürzt, sondern vermehrt, bereichert, intensiv erhöht wird.«5 Es ist ein wahrhaft universelles Programm einer Phänomenologie des Bewußtseins, das hier in streng »kritischer« Besinnung aufgestellt wird. Und die Bedeutung und der Wert dieses Programms wird dadurch nicht verkürzt, daß es Natorp nicht vergönnt war, es in demselben Geiste, in dem es entworfen ist, auch zur vollständigen und allseitigen Durchführung zu bringen. Er hat mit dieser Durchführung 5
A. a. O., S. 71.
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bis in seine letzten Lebensjahre und in seine letzten Schriften hinein unablässig gerungen. Seine »Allgemeine Psychologie« ist Fragment geblieben – und ihren allein vollendeten ersten Band hat er später selbst ausdrücklich als bloße Einführung in die Problemstellung, als »Grundlegung zur Grundlegung« bezeichnet.6 Was ihn über diesen Anfang hinausstreben ließ, war vor allem der Umstand, daß sich ihm, je weiter er fortschritt, um so deutlicher und bestimmter die »Mehrdimensionalität« der geistigen Welt erschloß. Diese Mehrdimensionalität läßt es nicht zu, daß der Gang der »objektivierenden« und der »subjektivierenden« Betrachtung, der Gang der konstruktiv-aufbauenden und der rekonstruktiven Erkenntnis, einfach im Bilde einer geraden Linie dargestellt und an ihrem zweifachen »Sinn«, an ihrer Plus-Minus-Richtung, abgelesen wird. Der Unterschied der geistigen Sinngebiete ist ein spezifischer, kein quantitativer Unterschied – und ebendiese spezifische Differenz wird verwischt, sobald man versucht, sie als Differenz des bloßen »Mehr« oder »Weniger«, des Plus- oder Minussinnes der Objektivation zu bestimmen. Die Gesamtheit der möglichen Objektivationsstufen des Geistes läßt sich nicht auf eine einzige Gerade projizieren, ohne daß in dieser schematischen Abbildung wesentliche Züge verdunkelt werden. Natorp selbst hat dies, in der letzten Epoche seines Denkens, als er den konkreten Aufbau und Ausbau des Systems der Philosophie versuchte, klar erkannt und rückhaltlos bekannt.7 Deutlich zeigt sich die Schwierigkeit, die hier zurückbleibt, sobald man versucht, das konkrete Ganze der »symbolischen Formen« in jenen allgemeinen Rahmen einzuspannen, den Natorps Psychologie darbietet. Daß innerhalb des Gesamtplanes gerade dieser Psychologie der Betrachtung und Analyse | der Sprache eine wichtige und bedeutsame Rolle zufallen mußte, ist unverkennbar: Denn die Bestimmung durch das Wort kann als Vorbereitung und als Wegbereitung der Bestimmung durch den reinen Begriff nicht entbehrt werden. So hat denn auch Natorps Psychologie, zum mindesten in ihrem Entwurf, diese Bedeutung der Sprache ausdrücklich anerkannt. Sie betont, daß nicht erst dem wissenschaftlich fixierten Begriff oder dem wissenschaftlich begründeten Urteil, sondern daß schon jedem sprachlichen Satz eine objektivierende Kraft und Leistung innewohnt. »Das Unmittelbare des Bewußtseins, des [A. a. O., S. VI.] Vgl. bes. die »Vorlesungen über praktische Philosophie« (Erlangen 1925), die aus Natorps Nachlaß herausgegeben worden sind; Näheres in meinem Nachruf auf Natorp, Paul Natorp. 24. Januar 1854 – 17. August 1924, in: Kant-Studien 30 (1925), S. 273–298 [s. ECW 16]. 6 7
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eigenen und vollends des fremden, läßt sich […] nicht auch unmittelbar, in sich selbst, sondern allein in seiner ›Äußerung‹ betreffen, die, als Äußerung, in der Tat immer schon Entäußerung, ein Heraustreten aus seiner eigenen in die Sphäre der Objektivität (irgendwelcher Stufe) ist. […] Ganz gewiß liegt hier ein vom Psychologen keinesfalls zu vernachlässigendes, reiches Untersuchungsmaterial vor; denn gebildete Sprachen bergen in ihrem Wortbestand, ihren syntaktischen Beziehungen, in allem und jedem ihrer Bestandteile einen kaum erschöpflichen Schatz primitiver Erkenntnisse. […] Erkenntnisse, Objektivierungen also, die, je in den Grenzen ihres engeren Zwecks, an Schärfe und Prägnanz denen der Wissenschaft kaum nachstehen […]«8 Mag immerhin die Wissenschaft, von ihrem eigenen theoretischen Erkenntnisideal aus, auf diese Objektivierungen als auf bloße unvollkommene Vorstufen herabblicken, so stellen doch ebendiese Vorstufen für den Gesichtspunkt der Psychologie eigene und sehr gewichtige Stadien dar, die in ihrer Besonderung zu untersuchen und in ihr voll anzuerkennen sind.9 Der faktische Gang, den Natorps Psychologie nimmt, aber wird dieser prinzipiellen Anerkennung nicht gerecht: Denn wo immer hier der Prozeß der Objektivierung beschrieben wird, da ist diese Beschreibung stets an jener letzten und höchsten Phase orientiert, die im wissenschaftlichen Denken und in der wissenschaftlichen Erkenntnis hervortritt. Von ihr und von ihr allein wird geradezu die Definition der Subjekt-Objekt-Beziehung hergeleitet. Die Richtung auf das »Objektive« fällt für Natorp mit der auf das »Notwendige« und »Allgemeingültige« – und diese selbst fällt wiederum mit der Richtung auf das »Gesetzliche« zusammen. Das Gesetz stellt somit für ihn den gemeinsamen Oberbegriff für jegliche Objektivierung überhaupt dar – gleichviel welcher Form und welcher Stufe sie angehören mag. So betont er, daß nicht nur im Naturerkennen alles Einzelne auf das Allgemeine des | Gesetzes bezogen, daß es geradezu nur als »Fall« des Gesetzes genommen und nur als solcher gewertet werde, sondern daß die gleiche Weise der Bestimmung auch für alle ethische und alle ästhetische Betrachtung gelte. Auch die ethische und ästhetische Erkenntnis sucht das Gesetz, auch wenn sie es nur am Einzelnen und für dieses sucht: Und genau nur soweit, als sie es erreicht, erreicht sie die jedenfalls auch von ihr angestrebte objektive Gültigkeit.10 So gehört für Natorp nicht nur die Logik, sondern auch die Ethik, und nicht nur diese, sondern auch die Ästhetik und die 8 9 10
Natorp, Allgemeine Psychologie, S. 99. A. a. O., S. 221. A. a. O., S. 72 f.
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Religionsphilosophie dem Kreise der »Gesetzeswissenschaften« an – und sie alle sind demnach in demselben, ja in einem noch radikaleren Sinne objektivierend, als es die konkreten Objektwissenschaften sind. »Streben […] die letzteren aus den Phänomenen je ihres Gebietes die Gesetze dieser Phänomene zu erkennen, so fragen die ersteren nach den Gesetzen, welche das gesamte Verfahren dieser konkreten Gesetzeserkenntnis bestimmen; sie führen somit das Werk der Reduktion auf Gesetze, also das konstruktive Verfahren der wissenschaftlichen Erkenntnis nur noch eine Stufe weiter zurück oder höher hinauf ins Abstrakte.«11 Aber selbst wenn man zugeben wollte, daß dies ohne Einschränkung für die Ethik, für die Ästhetik und für die Religionsphilosophie gilt – gilt es darum auch für den geistigen Geh alt, auf den sie sich richten, gilt es für die Sittlichkeit, die Kunst, die Religion selbst? Bewegen auch sie sich im Umkreis von Gesetzen, oder folgt nicht die »Objektivierung«, die ihnen eigen ist, einer ganz anderen Richtschnur – ist es nicht die Objektivität der »Gestalt« statt der des Gesetzes, die hier gesucht wird? Kann die Welt der »Praxis« und der »Poiesis« – um die systematischen Begriffe zu brauchen, die Natorp später hierfür geprägt hat – dem Oberbegriff des Gesetzes, als Oberbegriff der »Theorie«, einfach unterstellt und subsumiert werden? Und selbst im Gebiet der theoretischen Objektivierung wird die Rolle, die hier dem Gesetzesbegriff zugewiesen wird, problematisch, sobald man den Hebel der Betrachtung – wie Natorps eigene Grundlegung es verlangt – statt bei den Begriffen der wissenschaftlichen Erkenntnis vielmehr bei den Sprachbegriffen ansetzt. Denn diese zeigen durchweg eine Form der »Bestimmung«, die mit der Bestimmung im Gesetz und durch das Gesetz keineswegs identisch ist. Die Allgemeinheit der sprachlichen »Begriffe« steht mit der Allgemeinheit der wissenschaftlichen, speziell der naturwissenschaftlichen »Gesetze« nicht auf derselben Linie: Die eine ist nicht lediglich die | Weiterführung der anderen, sondern beide bewegen sich in verschiedenen Bahnen und drücken verschiedene Richtungen der geistigen Formung aus. Es gilt, diese Richtungen scharf auseinanderzuhalten und jede in der ihr eigentümlichen Bestimmtheit festzuhalten, wenn die Aufgabe der Rekonstruktion gelingen soll. In der Tat wird sich uns zeigen, daß die »Darstellungsfunktion«, die der Sprache ihren Gehalt und ihren Charakter gibt, mit der »Bedeutungsfunktion«, die in den Begriffen der wissenschaftlichen Erkenntnis waltet, nicht eins und daß die letztere auch nicht etwa bloß die »Entwicklung«, d. h. die geradlinige Fortset11
A. a. O., S. 94.
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zung der ersteren ist, sondern daß beide qualitativ verschiedene Arten der Sinngebung in sich schließen. Und diesem Unterschied der objektiven Gestaltungen muß auch ein Unterschied im »Subjekt«, im spezifischen Verhalten des »Bewußtseins« entsprechen. Sollen wir eine wahrhaft konkrete Anschauung der »vollen Objektivität« des Geistes einerseits, seiner »vollen Subjektivität« andererseits gewinnen, so müssen wir die methodische Korrelation, die Natorp als Prinzip aufstellt, für alle Gebiete geistigen Schaffens zur Durchführung zu bringen suchen. Es zeigt sich alsdann, daß die drei Hauptrichtungen der »Objektivation«, die Natorp, im engen Anschluß an die Dreiteilung der Kantischen »Kritiken«, zugrunde legt und die gewissermaßen das feste Koordinatensystem für seine allgemeine Orientierung bilden, nicht ausreichen. Die Betrachtung wird über die drei Dimensionen des Logischen, des Ethischen und des Ästhetischen hinausgedrängt: Sie muß insbesondere die »Form« der Sprache und die »Form« des Mythos in ihren Kreis hineinziehen, wenn sie zu den primären subjektiven »Quellen«, zu den ursprünglichen Verhaltungsweisen und Gestaltungsweisen des Bewußtseins zurückdringen will. Unter diesem Gesichtspunkt treten wir nunmehr an unsere Frage: an die Frage nach der Struktur des wahrnehmenden, des anschauenden und des erkennenden Bewußtseins heran. Wir versuchen, sie zu klären, indem wir uns hierbei weder der Methodik der naturwissenschaftlichen, der kausal erklärenden Psychologie noch der Methode der reinen »Deskription« als solcher überlassen. Wir gehen vielmehr von den Problemen des »objektiven Geistes«, von den Gestalten, in denen er besteht und da ist, aus; aber wir bleiben bei ihnen nicht als bloßem Faktum stehen, sondern versuchen, durch eine rekonstruktive Analyse, zu ihren elementaren Voraussetzungen, zu den »Bedingungen ihrer Möglichkeit«, zurückzudringen. |
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kapitel ii. Das Ausdrucksphänomen als Grundmoment des Wahrnehmungsbewußtseins Das Problem der Wahrnehmung bietet sich der theoretischen Philosophie unter einem doppelten Aspekt: unter einem psychologischen und einem erkenntniskritischen Gesichtspunkt dar. Beide haben in der gesamten Geschichte der Philosophie fort und fort miteinander in Streit gelegen; aber je schärfer sich hier die Gegensätze herausgebildet haben, um so klarer schien sich zugleich zu ergeben, daß eben hier die beiden Brennpunkte liegen, um die die gesamte Problematik der Wahrnehmung sich notwendig bewegt. Die Frage betrifft entweder die Entstehung und Entwicklung der Wahrnehmung oder ihre objektive Bedeutung und Geltung. Sie geht entweder auf ihre Genesis oder auf die Leistung, die ihr im Ganzen der Gegenstandserkenntnis zukommt. Wie immer man den methodischen Rang- und Wettstreit dieser beiden Fragen entscheiden und welcher von ihnen man die Priorität zuerkennen mochte: das eine schien sicher, daß sich in ihnen das theoretisch-philosophische Interesse erschöpft. Denn so wahr die Erfahrung als Ganzes sich für uns in zwei scharf geschiedene Gebiete: in ein »Innen« und »Außen«, zerlegt – so wahr scheinen wir das Wesen der Wahrnehmung vollständig erkannt zu haben, sobald es uns gelungen ist, ihr in diesen beiden Sphären den ihr zukommenden Platz zuzuweisen, sobald wir sie auf der einen Seite als ein psychisches Geschehen, das unter bestimmten Regeln steht, erfaßt und sie andererseits als Grundlage, als erstes Element der theoretischen Objektsetzung begriffen haben. In der ersten Hinsicht scheint die Aufgabe erfüllt, wenn das Wer den der Wahrnehmung und die kausalen Gesetze dieses Werdens aufgedeckt sind. Sie können als besondere empirische Gesetze nicht anders als im Rahmen der gesamten Naturerklärung gefunden und bestimmt werden. Das Bild der Natur, wie es insbesondere die Physik entwirft, dient dem | nach hier als notwendiger Ausgangspunkt. Die Frage geht nicht auf die Wahrheit, auf die objektive Gültigkeit dieses Bildes selbst, die vielmehr schon im ersten Ansatz des Problems mitgesetzt und vorausgesetzt wird. Die Gesetzlichkeit der Natur und die allgemeinen Kategorien der Naturerkenntnis werden vorweggenommen: Und aus ihnen und auf ihrer Grundlage soll die spezielle Erklärung der Wahrnehmung gewonnen werden. So mündet hier die Psychologie der Wahrnehmung notwendig in die Physiologie und in die Physik ein. Die Psychologie wird zur Psychophysik, deren erste Aufgabe darin besteht, die Abhängigkeit festzustellen, die zwischen
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der Welt der Wahrnehmungen und der der objektiven »Reize« besteht. Mag man diese Abhängigkeit als kausales Verhältnis oder mag man sie als funktionale Entsprechung denken – immer gilt, daß »Reiz« und »Empfindung« in irgendeiner Weise aufeinander abgestimmt sind und daß sie demnach in bestimmten grundlegenden Strukturverhältnissen miteinander übereinkommen müssen. Der »Parallelismus« in der Gliederung der Reizwelt und in der der Wahrnehmungs- und Empfindungswelt ergibt sich hieraus von selbst. Immer wird, im Sinne einer allgemeinen »Konstanzannahme«, einem bestimmten Reiz eine bestimmte Empfindung zugeordnet. Zur Anerkennung irgendwelcher im strengen Sinne »originärer« Wesenszüge der Wahrnehmung kann es, auf dem Boden dieser Betrachtungsweise, nicht kommen: Denn eben in der getreuen Abspiegelung der Verhältnisse der »äußeren« Welt, in ihrer »Wiedergabe«, besteht der Sinn und Gehalt der Wahrnehmung selbst. Auch die Gliederung der Wahrnehmung schließt sich demnach der der Reize vollständig an. Es sind die Unterschiede der physischen Ursachen der Wahrnehmung, die wir in ihren eigenen Bestimmungen unmittelbar wiederfinden: Es ist die dingliche Geschiedenheit der sinnlichen Organe, die notwendig zu einer analogen Scheidung in den sinnlichen Phänomenen hinführt. Die erkenntniskritische Frage bildet – so scheint es – den diametralen Gegensatz zu dieser Problemstellung. Sie geht nicht von den »Dingen« zu den »Phänomenen«, sondern von diesen zu jenen fort. Sie muß demnach die Wahrnehmung und ihre Beschaffenheit nicht als »von außen« bedingt, sondern als bedingend, sie muß sie als konstitutives Moment der Dingerkenntnis nehmen. Aber eben indem sie sie ausschließlich in dieser Funktion betrachtet, stellt sich nun auch ihr die Wahrnehmung von Anfang an in einer bestimmten »Beleuchtung«, stellt sie sich ihr unter einem bestimmten theoretischen Gesichtspunkt dar. Sie wird nicht mehr von der Außenwelt als von ihrer »Ursache« be | stimmt: Aber sie ist bestimmt durch das Ziel, das ihr gesetzt wird. Und dieses ist kein anderes, als die »Erfahrung«, die Wissenschaft der Natur, an ihrem Teile zu ermöglichen. Die Bedeutung der Wahrnehmung liegt jetzt also darin, daß sie zwar nicht das Abbild einer bestehenden Welt, wohl aber, in einem bestimmten Sinne, das Vorbild des Naturgegenstandes ist. Sie enthält diesen Gegenstand bereits in einer Art von schematischer Vorzeichnung: Kann doch seine Bestimmung nicht anders erfolgen als dadurch, daß die reinen Verstandesfunktionen sich ständig auf das in der Wahrnehmung gegebene, empirische Material beziehen. Aus diesem Zusammenhange erklärt es sich, daß auch hier die Wahrnehmung von vornherein als eine Art objektives »Gefüge« genommen zu werden pflegt,
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das in seinem Bau dem Gefüge der »Natur«, der Struktur der dinglichen Welt, durchaus analog ist. Den »Eigenschaften« der Dinge entsprechen bestimmte »Qualitäten« der Wahrnehmung. Diese letztere erscheint also in sich selbst schon als gegliedert und nach festen Hauptgestalten, nach bestimmten Grundklassen abgeteilt. Damit aber ist die Ding-Eigenschafts-Kategorie, die eine konstitutive Bedingung des theoretischen Natur begriffs ist, schon in die reine Deskription, in die Phänomenologie der Wahrnehmung hineingelegt. Sie wird als ein »Mannigfaltiges« beschrieben – als ein Mannigfaltiges, in das erst die synthetische Funktion der reinen Anschauung und die synthetischen Einheiten des reinen Verstandes Ordnung und Zusammenhang bringen sollen. Und doch schließt, sobald man schärfer zusieht, ebendieses angeblich bloß »Bestimmbare« schon höchst charakteristische Züge theoretischer Bestimmung in sich. Es ist zwar noch keineswegs der »wirkliche«, der vollendete und definitive Gegenstand: Aber es enthält doch die Intention auf ihn. Und indem es sich in dieser Weise auf ihn richtet, hat es sich schon unvermerkt nach ihm gerichtet. Soweit daher die reine Erkenntniskritik in ihrer Beschreibung der »unmittelbaren« Wahrnehmung auch zurückgehen mag: immer steht diese Beschreibung schon unter jener universellen Norm, die sich aus dem Begriff und aus der allgemeinen Aufgabe der Erkenntniskritik selbst ergibt. Das Wesen der Wahrnehmung wird nach ihrer »objektiven Gültigkeit« bestimmt. Damit aber ist in die Darstellung dieses Wesens schon ein spezifisches »Interesse« des Wissens eingemischt. Die Wahrnehmung »verstehen« heißt sie als besonderes Glied im Aufbau der Wirklichkeitserkenntnis begreifen – heißt ihr die Stelle zuweisen, die ihr im Ganzen der Funktionen zukommt, auf denen die »Beziehung aller [unserer] Erkenntnis auf ihren Gegenstand«12 beruht. | Aber eine wesentlich andere Gestalt nimmt für uns die Wahrnehmung an, sobald wir uns entschließen, sie nicht lediglich in dieser einzigen »Hinsicht«, in diesem Vorblick auf die »Natur« der theoretischen Naturwissenschaft zu erfassen. Der Versuch freilich, sie von jedem geistigen Bezug zu lösen, sie von der Gesamtheit der möglichen Bedeutungsintentionen abzuschneiden und in ihrem nackten Ansich hinzustellen – dieser Versuch erscheint von Anfang an als widersinnig und als methodisch hoffnungslos. Auch die »Sinnlichkeit« kann niemals als ein bloß Vorgeistiges oder gar als ein schlechthin Ungeistiges gedacht werden; sondern sie selber »ist« und besteht nur, sofern sie sich nach bestimmten Funktionen des Sinnes gliedert. 12
[Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 615 (A 104).]
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Aber diese letzteren gehen keineswegs in der Welt des »theoretischen« Sinnes – in der engeren Wortbedeutung – auf. Indem wir von den spezifischen Bedingungen der theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnis absehen, haben wir damit nicht auch das Gebiet der Form überhaupt verlassen. Wir sind nicht in ein bloßes Chaos zurückgesunken; sondern was uns nun empfängt und umfängt, ist selbst wiederum ein ideeller Kosmos. Ein solcher Kosmos war es, der sich uns im Aufbau der Sprache und im Aufbau der mythischen Welt in fortschreitender Klarheit darstellte. Und damit ist nun auch ein neuer und ein wesentlich weiterer Aspekt für die Betrachtung und für die Bewertung der Wahrnehmung selbst gegeben. Nun treten an ihr gewisse Grundzüge heraus, die keineswegs von vornherein auf den Gegenstand der Natur noch überhaupt auf die »Erkenntnis der Außenwelt« abzwecken, sondern in eine ganz andere Richtung der Auffassung weisen. Der Mythos insbesondere zeigt uns eine Welt, die zwar keineswegs ohne Struktur, ohne immanente Gliederung ist, die aber die Gliederung der Wirklichkeit nach »Dingen« und »Eigenschaften« noch nicht kennt. Hier weisen vielmehr alle Seinsgestaltungen noch eine eigentümliche »Flüssigkeit« auf; sie unterscheiden sich, ohne sich darum voneinander zu scheiden. Eine jede von ihnen ist gewissermaßen in jedem Augenblick bereit, sich in eine andere, scheinbar völlig entgegengesetzte zu wandeln. Die mythische »Metamorphose« bindet sich an kein logisches Gesetz der »Identität« – noch findet sie an irgendeiner feststehenden »Konstanz« der Arten ihre Schranke. Für sie gibt es keine logischen Gattungen, keine Genera in dem Sinne, daß sie durch bestimmte unverrückbare Merkmale voneinander gesondert wären und für immer in dieser Sonderung beharren müßten. Vielmehr verschieben und verflüchtigen sich hier fort und fort all jene Grenzlinien, wie sie unsere empirischen Gattungs- und Artbegriffe zu ziehen pflegen. Ein und dasselbe Wesen | geht nicht nur ständig in neue Formen über, sondern es enthält und verknüpft in sich, in ein und demselben Augenblick seiner Existenz, eine Fülle verschiedener, ja entgegengesetzter Seinsgestalten. Diese eigentümliche Fluidität der mythischen Welt wäre nicht begreiflich, wenn schon die unmittelbare Wahrnehmung, rein als solche und vor jeder »intellektuellen« Auffassung und Deutung, gewissermaßen zwangsläufig die Abteilung und Aufteilung der Welt in feste Klassen in sich schlösse. Wäre dies der Fall, so müßte der Mythos auf Schritt und Tritt nicht nur gegen die Gesetze der »Logik«, sondern gegen die elementaren »Tatsachen der Wahrnehmung« verstoßen. In Wahrheit kommt es jedoch zu einem derartigen Widerstreit zwischen dem Inhalt der Wahrnehmung und der Form des Mythos so wenig, daß beide vielmehr völlig ineinanderwachsen –
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daß sie miteinander zu einer durchaus »konkreten« Einheit verschmelzen. Wo nicht über den Mythos reflektiert wird, sondern wo wahrhaft in ihm gelebt wird – da gibt es noch keinen Riß zwischen der »eigentlichen« Wahrnehmungswirklichkeit und der Welt der mythischen »Phantasie«. Die mythischen Gebilde tragen hier unmittelbar die Farbe der vollen, der unmittelbaren Wahrnehmung – und andererseits ist diese selbst wie eingetaucht in das Licht der mythischen Gestaltung. Ein solches Ineinander läßt sich nur dann verstehen, wenn die Wahrnehmung selber bestimmte ursprüngliche Wesenszüge aufweist, in denen sie der Weise und Richtung des Mythischen entspricht und gewissermaßen entgegenkommt. Die Entwicklungspsychologie pflegt als Kennzeichen der »primitiven« Wahrnehmung deren »diffusen« und »komplexen« Charakter anzugeben. Aber auch diese »Diffusion«, dieser Mangel an Differenzierung und Gliederung, gilt nur, wenn wir an sie bereits stillschweigend einen bestimmten gedanklichen Maßstab, ebenden Maßstab der theoretischen Formung, anlegen. An sich selbst ist auch die »primitive« Wahrnehmung keineswegs ungegliedert oder verschwommen – nur liegen ihre Differenzen in einer ganz anderen Ebene als in derjenigen, in der sich die »objektive« Auffassung, die Auffassung der Wirklichkeit als eines Inbegriffs von »Dingen« und »Eigenschaften« bewegt. Will daher die Philosophie des Mythos die prinzipielle Forderung erfüllen, die Schelling zuerst gestellt hat, will sie ihn nicht nur allegorisch, als eine Art primitiver Physik oder primitiver Geschichte, sondern »tautegorisch«, als ein Sinngebilde von selbständiger Bedeutung und von eigener Prägung verstehen,13 so muß sie auch jener Form des Wahrnehmungserlebnisses, in der er | ursprünglich wurzelt und aus der er ständig neue Nahrung zieht, ihr Recht widerfahren lassen. Ohne eine solche Fundierung in einer originären Weise des Wahrnehmens selber würde der Mythos im Leeren schweben; würde er statt einer universellen Erscheinungsform des Geistes vielmehr nur eine Art geistiger Erkrankung, ein bei aller Verbreitung dennoch zufälliges und »pathologisches« Phänomen bedeuten. In Wahrheit aber läßt sich das Korrelat der mythischen Weltansicht, läßt sich die Grundlage, die es in einer bestimmten Richtung der Wahrnehmung hat, kaum verfehlen, wenn man bedenkt, daß auch das theoretische Weltbild diese Grundlage zwar vielfältig modifiziert und durch Gestaltungen von anderer Art und Herkunft gleichsam überdeckt, daß es sie aber keineswegs völlig zum Verschwinden 13 Vgl. hierzu Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, S. 7 ff. [ECW 12, S. 4].
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gebracht hat. Auch dieses Weltbild kennt die Wirklichkeit keineswegs allein als einen Inbegriff von Dingen und als einen Komplex von Veränderungen, die von streng kausalen Gesetzen beherrscht und durch sie miteinander verknüpft werden. Es »hat« die Welt noch in einem anderen und in einem ursprünglicheren Sinne, sofern sie sich ihm als reines Ausdrucksphänomen offenbart. In diese Schicht des Ausdrucks müssen wir zurückgehen, wenn unsere Rekonstruktion den Grund und Boden erreichen soll, aus dem der Mythos erwächst, der aber auch für die Erklärung und Ableitung bestimmter Züge des empirischen Weltbildes nicht entbehrt werden kann. Denn auch die »theoretische« Wirklichkeit wird ja keineswegs ursprünglich als ein Ganzes von physischen Körpern, die mit bestimmten Eigenschaften, mit physischen Qualitäten, ausgestattet sind, erfahren. Vielmehr gibt es eine Art von Wirklichkeitserfahrung, die sich noch ganz außerhalb dieser Form der naturwissenschaftlichen Erklärung und Deutung hält. Sie liegt überall dort vor, wo das »Sein«, das in der Wahrnehmung erfaßt wird, nicht sowohl ein Sein von Dingen als bloßen Objekten ist, sondern wo es uns in der Art des Daseins lebendiger Subjekte entgegentritt. Wie eine solche Erfahrung von fremden Subjekten – eine Erfahrung vom »Du« möglich ist: dies mag vielleicht als eine schwierige metaphysische oder erkenntnistheoretische Frage erscheinen. Aber diese Frage geht die reine Phänomenologie der Wahrnehmung, die es lediglich mit dem Tatbestand, mit dem quid facti, zu tun hat, nichts an und darf ihr ihren Weg nicht vorzeichnen. Was die Versenkung in das reine Phänomen der Wahrnehmung uns zeigt, ist jedenfalls das eine: daß die Wahrnehmung des Lebens nicht in der bloßen Dingwahrnehmung aufgeht, daß die Erfahrung des »Du« niemals einfach in die des bloßen »Es« aufgelöst | oder auf sie, durch noch so komplexe begriffliche Vermittlungen, reduziert werden kann. Auch vom rein genetischen Gesichtspunkt aus scheint kein Zweifel zu bestehen, welcher der beiden Wahrnehmungsformen die Priorität zuzusprechen ist. Je weiter wir die Wahrnehmung zurückverfolgen, um so mehr gewinnt in ihr die Form des »Du« den Vorrang vor der Form des »Es«; um so deutlicher überwiegt ihr reiner Ausdruckscharakter den Sach- und Dingcharakter. Das »Verstehen von Ausdruck« ist wesentlich früher als das »Wissen von Dingen«. Auch die psychologische Empirie hat überall dort, wo es ihr nicht darum zu tun war, die Tatsachen von vornherein einem bestimmten konstruktiven Schema einzuordnen, sondern wo sie sich ihnen unbefangen hinzugeben suchte, diesen Sachverhalt bestätigt. Schon die Versuche, das tierische »Bewußtsein« in irgendeiner Weise zu erfassen und zu beschreiben, haben gezeigt, daß es ein völlig
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verfehlter Weg wäre, wenn man jenes Ordnungsgefüge, dem sich die menschliche Wahrnehmung eingliedern läßt, in irgendeiner Weise unmittelbar auf die Welt des Tieres anzuwenden und in sie hineinzulegen versuchte. Die Gefahren solcher »Introjektion« sind augenscheinlich – und man versteht, daß eine bestimmte Richtung der neueren Psychologie ihnen nur dadurch entgehen zu können glaubt, daß sie das gesamte Problem, das hier vorliegt, entschlossen zur Seite schiebt. Aus solcher Negation, aus einer Art methodischer Askese ist die moderne Verhaltenspsychologie, ist die Richtung des »Behaviorismus« erwachsen. Vorsichtiger und sicherer erschien es in jedem Falle, dem Tier jegliche Art des »Bewußtseins« abzusprechen, als dieses Bewußtsein in rein anthropomorpher Weise, gemäß den spezifisch menschlichen Kategorien, zu beschreiben. Schon Descartes verfuhr ohne Zweifel völlig konsequent, er folgte nur den Vorschriften seiner eigenen Logik, wenn er in seiner Psychologie den Tieren jegliches bewußte Leben versagte, wenn er sie zu reinen Maschinen machte. Denn »Bewußtsein« bedeutet ihm seiner Wesenheit nach den Grundakt der reflexiven Selbsterfassung des Ich – den Akt, in welchem das Sein des Ich sich als Sein des Denkens erfaßt und konstituiert. Ohne diesen Grundakt der reinen Vernunft gibt es für Descartes auch keinen Akt des Empfindens, Wahrnehmens oder Vorstellens. Sofern Psychisches überhaupt »ist«, kann es nur in einer bestimmten rationalen Formung und Fügung gedacht werden – bildet doch allgemein die »klare und distinkte Idee« die Grundvoraussetzung und das einzige gültige Kriterium für jegliche Setzung von Existenz. Es scheint auf den ersten | Blick befremdlich, daß die Cartesische These, die so völlig auf »rationalistischem« Boden gewachsen ist, in der heutigen Psychologie von einer Richtung wiederaufgenommen wird, die sich selbst als radikalen Empirismus zu bezeichnen liebt. Aber es ist kein Zufall, daß hier die Wege der rationalen Schlußfolgerung und die der reinen »Erfahrung« – sofern unter dieser lediglich das Verfahren der induktiven Beobachtung und Vergleichung verstanden wird – einander begegnen. Denn ebendiese Induktion selbst ist es, die, als Verfahren der objektivierenden Naturwissenschaft, an ganz bestimmte logische Voraussetzungen gebunden ist und die sich kraft ihrer als ein Werk des Intellekts, der denkenden Erfassung der Wirklichkeit, erweist. Ihr Seinskriterium und ihr Wahrheitskriterium ist somit von dem ihres scheinbaren Gegensatzes, von der Methodik der Deduktion, keineswegs artmäßig verschieden; sondern beide Pole stellen vielmehr, eben in ihrem Gegeneinander, ein durchaus einheitliches Erkenntnisprinzip und ein einheitliches Erkenntnisideal auf. Und vom Standpunkt dieses Erkenntnisideals bleibt in der Tat die Welt des
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tierischen Bewußtseins durchaus problematisch – bleibt sie unaufweisbar, weil sie unbeweisbar ist. Aber ein anderes Bild bietet sich uns dar, wenn wir den Kreis der Betrachtung weiten und wenn wir die eigentliche Demarkationslinie anders ziehen. Denn sowenig wir die Formen unserer Dingwelt und die intellektuellen Kategorien, auf welchen deren Aufbau beruht, einfach in die tierische Welt hineinverlegen dürfen, so springt doch sofort ein anderer Zusammenhang heraus, sobald wir uns daran erinnern, daß auch für den Menschen diese intellektuell bedingte Welt keineswegs die einzige ist, in der er ist und lebt. Würden wir den Begriff des »Bewußtseins« für die Bezeichnung der reflexiven Akte des Wissens auf der einen Seite, für die gegenständliche Anschauung auf der anderen Seite vorbehalten, so gerieten wir damit in Gefahr, nicht nur die Möglichkeit des tierischen Bewußtseins anzuzweifeln, sondern auch ein großes Gebiet und sozusagen eine ganze Provinz des menschlichen Bewußtseins zu vergessen und zu verleugnen. Suchen wir in die frühesten Stufen des Bewußtseins zurückzugehen, so zeigt sich die Ansicht, daß hier die Welt als ein Gewirr ungeordneter »Empfindungen« erlebt würde, in deren jeder eine bestimmte objektive Qualität wie »hell« oder »dunkel«, »warm« oder »kalt« erfaßt würde, als schlechthin unhaltbar. »Wäre die Theorie des ursprünglichen Chaos richtig«, so bemerkt z. B. Koffka, »so müßte man erwarten, daß es zunächst ›einfache‹ Reize sind, die […] das Interesse des Kindes wachrufen, denn das einfache wird sich aus dem | Chaos zuerst aussondern lassen, zuerst mit anderem Verknüpfungen eingehen. Dies widerspricht aller Erfahrung. Nicht solche Reize beeinflussen das Verhalten des Kindes am meisten, die dem Psychologen besonders einfach erscheinen müssen, weil ihnen einfache Empfindungen entsprechen. Die ersten differenzierten Schall-Reaktionen erfolgen gegenüber der menschlichen Stimme, also auf sehr komplizierte Reize (und ›Empfindungen‹). Nicht an einfachen Farben hat der […] Säugling Interesse, sondern an menschlichen Gesichtern […] Und schon in der Mitte des ersten Lebensjahres läßt sich ein Einfluß des Gesichtsausdrucks der Eltern auf das Kind feststellen. Für die Chaos-Theorie ist das Phänomen, das einem menschlichen Gesicht entspricht, nichts als ein Gewühl der verschiedensten Hell-Dunkelund Farb-Empfindungen, das noch dazu in stetigem Wechsel begriffen ist, sich bei jeder Bewegung, die der betr. Mensch oder die das Kind selbst macht, ändert, ebenso wie bei jeder Veränderung der Beleuchtung. Und doch ist dem Kind das Gesicht der Mutter schon im zweiten Monat bekannt, und doch reagiert es in der Mitte des ersten Jahres schon anders auf ein freundliches als auf ein ›böses‹ Gesicht, und zwar so anders, daß wir sagen müssen, phänomenal war
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ihm wirklich das freundliche oder böse Gesicht gegeben und nicht irgendwelche Verteilung von Hell und Dunkel. Dies durch Erfahrung zu erklären, anzunehmen, diese Phänomene wären durch Verknüpfung von einfachen optischen Empfindungen miteinander und mit angenehmen bezw. unangenehmen Folgen aus dem ursprünglichen Empfindungs-Chaos entstanden, erscheint unmöglich. […] Dann bliebe die Ansicht, Phänomene wie ›Freundlichkeit‹ oder ›Unfreundlichkeit‹ seien ganz primitiv, primitiver als etwa die eines blauen Flecks.«14 Erst von dieser Grundauffassung aus, von der Anerkennung des nicht mittelbaren, sondern ursprünglichen Charakters der reinen Ausdruckserlebnisse, läßt sich, wenn überhaupt, eine Brücke zu den Phänomenen des tierischen Bewußtseins schlagen. Denn auch dieses scheint, insbesondere auf den höheren Stufen, eine große Fülle und eine erstaunlich feine Nuancierung solcher Erlebnisse in sich zu schließen. »Was […] an Ausdrucksbewegungen vorhanden ist«, so stellt z. B. Wolfgang Köhler für den Schimpansen fest, »stellt eine überaus große Mannigfaltigkeit dar«, durch die die Tiere untereinander »sich verstehen«, ohne daß hier von irgendeiner Art Sprache zwischen ihnen, von einer Zeichen- und Darstellungsfunktion bestimmter | Bewegungen oder Laute die Rede sein könnte. »[W]ir Psychologen, da wir doch derartiges Verstehen beim Menschen auf Analogieschlüsse oder reproduktive Ergänzung aus eigener Bewußtseinserfahrung zurückzuführen pflegen, kommen hier in eine theoretische Verlegenheit, die in sonderbarem Kontrast zu der Selbstverständlichkeit und Sicherheit des wirklichen Verstehens-Vorganges bei den Tieren steht.« Dieser Verlegenheit, diesem Gegensatz zwischen dem, was eine bestimmte psychologische Methodik als Element des Seelischen fordert, und dem, was die Erfahrung uns als relativ erstes und Ursprüngliches zu geben scheint, läßt sich nur durch eine prinzipielle Änderung der gesamten Fragestellung entgehen. »Kann es nicht«, so fragt daher Köhler weiter, »gewissen Gestaltungen […] eigentümlich sein, daß sie an und für sich den Charakter des Schrecklichen, Unheimlichen tragen, nicht, weil ein angeborener Mechanismus ad hoc sie dazu fähig machte, sondern weil, bei einer sonst […] gegebenen Beschaffenheit der Psyche, gewisse Gestaltbedingungen notwendig und sachlich-gesetzmäßig den Charakter des Schreckli14 Kurt Koffka, Die Grundlagen der psychischen Entwicklung. Eine Einführung in die Kinderpsychologie, Osterwieck a. Harz 1921, S. 94 ff.; analoge Beobachtungen und Schlußfolgerungen bei Karl Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes, 2., neu bearb. u. erw. Aufl., Jena 1921, S. 83 ff. und bei William Stern, Psychologie der frühen Kindheit bis zum sechsten Lebensjahre, 3., umgearb. u. erw. Aufl., Leipzig 1923, S. 312.
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chen erzeugen, wie andere den des Anmutigen, andere den des Plumpen, wieder andere den des Energischen und Straffen […]?«15 In Fragen dieser Art wird ersichtlich, wie die moderne Psychologie der Wahrnehmung überall dazu gedrängt wird, den Vorstoß in ein neues Gebiet zu wagen, das sie freilich einstweilen nur zögernd zu betreten scheint. Die eigentliche Erschließung und Urbarmachung dieses Gebiets ist an die Bedingung geknüpft, daß die Psychologie sich endgültig von dem Bann jener sensualistischen Wahrnehmungslehre befreit, unter dem sie seit Jahrhunderten gestanden hat. Der Sensualismus hemmt die freie Sicht der Probleme hier in einer zwiefachen Richtung. Indem er als Grundelement alles Psychischen die sinnliche »Impression« setzt, hat er damit das eigentliche Leben der Wahrnehmung in einem doppelten Sinne negiert. Nach »oben« hin, nach der Seite der Denk- und Erkenntnisprobleme, muß jetzt aller reine Bedeutungsgehalt der Wahrnehmung, sofern er überhaupt anerkannt wird, in ihre sinnliche »Materie« zurückverlegt und aus ihr allein abgeleitet werden. Die Wahrnehmung wird zum Aggregat: Die »Perzeption« entsteht aus dem einfachen Zusammenfluß und aus der assoziativen Verbindung der Impressionen. So werden die eigentümlichen theoretischen Aufbaugesetze, unter denen die Welt der Perzeption steht, so wird ihre reine intellektuelle Form verkannt. Aber ebendiese Verkennung wird nun zugleich zum Ausgangspunkt einer eigen | tümlichen Dialektik innerhalb der sensualistischen Psychologie. Denn indem sie die Rechte des Intellekts soweit als möglich einzuschränken sucht, ist sie damit seiner Herrschaft keineswegs entronnen. Ebendie Verkürzung der legitimen Ansprüche des Intellekts führt vielmehr dazu, daß er sich an einer anderen Stelle zur Geltung bringt, daß er sich auf einem sozusagen »illegalen« Wege durchzusetzen sucht. Nun schleicht er sich unvermerkt in die Bestimmung der Wahrnehmung, der reinen »Perzeption« als solcher, ein: Er »intellektualisiert« sie, während sie ihn scheinbar zu »sensifizieren« drohte. Denn die Auflösung der Wahrnehmungswelt in eine Summe einzelner Impressionen verkennt nicht nur den Anteil, den die »höheren« geistigen Funktionen an ihr besitzen, sondern auch die starke und triebkräftige Unterschicht, auf der sie ruht. Vom Baum der Erkenntnis behält die sensualistische Wahrnehmungslehre gewissermaßen nur den nackten Stamm zurück – sie sieht weder seine Krone, mit der er sich frei in die Luft, in den Äther des reinen Gedankens, erhebt, noch die Wurzeln, 15 Wolfgang Köhler, Zur Psychologie des Schimpansen, in: Psychologische Forschung. Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften 1 (1922), S. 2–46: S. 27 f. [Zitate] u. 39.
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durch die er dem Erdreich verhaftet ist und sich in dasselbe hinabsenkt. Diese Wurzeln liegen nicht in den einfachen Ideen der Sensation und Reflexion, die die empiristische Psychologie und Erkenntnislehre als den Urgrund für jegliches Wissen von Wirklichkeit ansieht. Sie bestehen nicht in den »Elementen« der Sinnesempfindung, sondern in ursprünglichen und unmittelbaren Ausdrucks cha rakteren. Die konkrete Wahrnehmung löst sich von diesen Charakteren auch dort nicht völlig los, wo sie immer entschiedener und bewußter den Weg der reinen Objektivierung beschreitet. Sie geht niemals in einem bloßen Komplex sinnlicher Qualitäten – wie hell oder dunkel, kalt oder warm – auf, sondern ist je auf einen bestimmten und spezifischen Ausdruckston gestimmt; sie ist niemals ausschließlich auf das »Was« des Gegenstands gerichtet, sondern erfaßt die Art seiner Gesamterscheinung – den Charakter des Lockenden oder Drohenden, des Vertrauten oder Unheimlichen, des Besänftigenden oder Furchterregenden, der in dieser Erscheinung, rein als solcher und unabhängig von ihrer gegenständlichen Deutung, liegt. Wir verfolgen hier jedoch den Weg nicht weiter, auf dem die Psychologie zu dieser Tiefenschicht der reinen Ausdruckserlebnisse allmählich wieder zurückzudringen beginnt. Als Führer und Wegbereiter hat sich hier insbesondere Ludwig Klages erwiesen, der von der Erfassung und Deutung dieser Erlebnisse aus zu einer generellen Umwandlung der Methodik der Wahrnehmungspsychologie, zu einer Revision ihrer Fragestellung, fortgeschritten ist. Wir aber sehen uns auch hier | auf einen anderen Weg als den der unmittelbaren Beobachtung und Deskription gedrängt. Der Gang unserer Untersuchung führt uns wie allenthalben durch die Welt der Formen, durch die Region des »objektiven Geistes«. Von ihr aus suchen wir, durch eine rückschließende und »rekonstruktive« Betrachtung, den Zugang zum Bereich der »Subjektivität« zu gewinnen. Und es kann nach den Ergebnissen unserer früheren Untersuchung keinem Zweifel unterliegen, an welcher Stelle hier der Hebel anzusetzen ist. Wo es sich um die Problematik und um die Phänomenologie der reinen Ausdruckserlebnisse handelt, da können wir uns weder der Leitung und Orientierung durch die begriffliche Erkenntnis noch auch lediglich der Leitung der Sprache überlassen. Denn beide stehen in erster Linie im Dienste der rein theoretischen Objektivierung: Sie bauen die Welt des »Logos«, als gedachten und gesprochenen Logos, auf. So folgen sie, in bezug auf das Gebiet, das hier in Frage steht, einer nicht sowohl zentripetalen als vielmehr zentrifugalen Richtung. Der Mythos hingegen versetzt uns in den lebendigen Mittelpunkt dieses Gebiets. Denn eben darin besteht seine Eigenart, daß er uns eine Weise
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der Weltgestaltung zeigt, die allen sonstigen Weisen der bloßen Vergegenständlichung unabhängig und selbständig gegenübersteht. Er kennt noch nicht jenen Schnitt zwischen »Realem« und »Irrealem«, zwischen »Wirklichkeit« und »Schein«, wie ihn die rein theoretische Objektivierung vollzieht und wie sie ihn notwendig vollziehen muß. Alle seine Gebilde bewegen sich vielmehr in einer einzigen Seinsebene, in der sie ihr völliges Genüge finden. Hier gibt es weder Kern noch Schale; hier gibt es keine Dingsubstanz, die als beständiges und beharrendes Etwas den wechselnden und flüchtigen Erscheinungen, den bloßen »Akzidenzien« zugrunde liegt. Das mythische Bewußtsein schließt nicht von der Erscheinung auf das Wesen, sondern es besitzt, es hat in ihr das Wesen. Dieses tritt nicht hinter der Erscheinung zurück, sondern es tritt in ihr hervor; es verhüllt sich nicht in ihr, sondern es gibt sich in ihr zu eigen. Das jeweilig gegebene Phänomen hat hier nirgend den Charakter bloß stellvertretender Repräsentation, sondern den Charakter echter Präsenz: Ein Seiendes und Wirkliches steht in ihm in voller Gegenwart da, statt sich nur mittelbar durch dasselbe zu »vergegenwärtigen«. Wenn bei einer magischen Handlung, etwa bei einem Regenzauber, Wasser ausgesprengt wird, so soll dieses Wasser keineswegs nur als Sinnbild oder »Analogon« des »wirklichen« Regens dienen; sondern es ist mit ihm durch das Band einer ursprünglichen »Sympathie« verknüpft und geeint. Der Dämon des Regens selber ist es, der in jedem Wassertropfen lebendig | und der in ihm greifbar und leibhaft da ist.16 So ist in der Welt des Mythos jegliche Erscheinung immer und wesentlich Inkarnation. Das Wesen verteilt sich hier nicht auf eine Mannigfaltigkeit möglicher Darstellungsweisen, deren jede ein bloßes Bruchstück von ihm enthält, sondern es manifestiert sich in der Erscheinung als Ganzes, als ungebrochene und unzerstörliche Einheit. Ebendieser Sachverhalt ist es, der sich in »subjektiver« Wendung dahin aussprechen läßt, daß die Erlebniswelt des Mythos nicht sowohl in darstellenden oder bedeutungsgebenden Akten als vielmehr in reinen Ausdruckserlebnissen fundiert ist. Was hier als »Wirklichkeit« dasteht, ist nicht ein Inbegriff von Dingen, die mit bestimmten »Merkmalen« und »Kennzeichen« versehen sind, an denen sie sich erkennen und voneinander unterscheiden lassen, sondern es ist eine Mannigfaltigkeit und Fülle ursprünglich »physiognomischer« Charaktere. Näheres vgl. z. B. Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, S. 56 ff. u. 74 ff. [ECW 12, S. 51 ff. u. 69 ff.] sowie in der Studie »Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen«, Leipzig/Berlin 1925 (Studien der Bibliothek Warburg, Bd. 6), S. 75 ff. [s. ECW 16]. 16
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Die Welt hat, im ganzen wie im einzelnen, noch ein eigentümliches »Gesicht«, das in jedem Augenblick als Totalität erfaßbar ist, ohne daß es sich jemals in bloße allgemeine Konfigurationen, in geometrischobjektive Linien und Umrisse, auflösen ließe. Keineswegs besteht hier das »Gegebene« zunächst in einem bloß Sinnlichen, in einem Komplex von Empfindungsdaten, die erst nachträglich durch einen Akt der »mythischen Apperzeption« gewissermaßen beseelt und zu einem »Sinnhaften« gemacht werden. Der Ausdruckssinn haftet vielmehr an der Wahrnehmung selbst; er wird in ihr erfaßt und unmittelbar »erfahren«. Aus dieser Grunderfahrung heraus finden bestimmte Wesenszüge der mythischen Welt erst ihre volle Aufhellung. Was sie vielleicht am schärfsten von der Welt des rein theoretischen Bewußtseins scheidet, ist die eigentümliche Gleichgültigkeit, mit der sie deren wichtigsten Bedeutungs- und Wertdifferenzen gegenübersteht. Für sie wiegt der Inhalt eines Traumes genauso schwer wie der Inhalt irgendeines wachen Erlebnisses; für sie steht das Bild der Sache, steht der Name dem Gegenstand, den er bezeichnet, gleich.17 Diese »Indifferenz« wird erst dann völlig verständlich, wenn man erwägt, daß es in der mythischen Welt noch keinen logischen Darstellungs- oder Zeichensinn gibt, sondern daß hier noch, unbefangen und fast unumschränkt, der reine Ausdruckssinn waltet. Denn rein ausdrucksmäßig wird ein Sein nicht nach dem erfaßt, was es für die empirische »Wirklichkeit«, als ein Ganzes von kausalen Verknüpfungen, von Ursachen und Wirkungen, bedeutet. Hier empfängt es | seinen Gehalt und sozusagen sein Schwergewicht nicht erst von den mittelbaren Folgen, die es in sich birgt, sondern dieses ruht rein in ihm selbst. Nicht was es bewirkt, sondern was es in seinem einfachen Dasein »ist« und als was es sich in diesem Dasein kundgibt, ist hier das Entscheidende. »Erscheinung« und »Wirkung«, und somit Erscheinung und Wirklichkeit, lassen sich hier nicht voneinander ablösen oder gegeneinander aufrechnen: Denn alle Macht, die ein Inhalt über das mythische Bewußtsein ausübt, ist eben in der Weise, im Modus des Erscheinens als solchem gegründet und in ihm beschlossen. Vom Standpunkt einer solchen Grundauffassung muß sich das Verhältnis zwischen »Bild« und »Sache«, sofern zwischen beiden überhaupt unterschieden wird, geradezu umkehren. Das Bild muß hier der Sache gegenüber einen eigentümlichen Primat und Vorrang behaupten. Denn was im Gegenstand rein ausdrucksmäßig »ist«, das ist im Bilde nicht aufgehoben und vernichtet, sondern es tritt in ihm vielmehr in gesteigertem, in potenziertem Maße hervor. 17 Näheres s. Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, S. 47 ff. u. ö. [ECW 12, S. 42 ff. u. ö.].
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Das Bild befreit dieses Sein des Ausdrucks von allen bloß zufälligen und akzidentellen Bestimmungen und faßt es gleichsam in einem Brennpunkt zusammen. In der empirischen Weltansicht wird der »Gegenstand« dadurch bestimmt und dadurch erkannt, daß er nach rückwärts in seine Bedingungen zerlegt, nach vorwärts in seine Wirkungen verfolgt wird. Was er »ist«, das ist er nur als einzelne Stelle in einem System solcher Wirkungen, als Glied in einem kausalen Gefüge. Wo dagegen ein Geschehen nicht in dieser Weise als bloßes Moment in einer durchgehenden und universellen Gesetzesordnung betrachtet, sondern wo es sozusagen in seiner physiognomischen Individualität erlebt wird – wo statt der Analyse und Abstraktion, die die Vorbedingung alles kausalen Begreifens ist, vielmehr die reine »Vision« waltet – da ist es ebendas Bild, das die wahre Wesenheit aufschließt und kenntlich macht. Auch jeder »Bildzauber« beruht auf der Voraussetzung, daß der Magier es in ihm keineswegs mit toten Nachahmungen der Gegenstände zu tun hat, sondern daß er in den Bildern vielmehr das Wesen, daß er die Seele der Gegenstände besitzt.18 In der Darstellung, die Anatole France in seinem Roman »Thaïs« von »primitivem« Glauben und primitivem Christentum gegeben hat, | wird geschildert, wie der christliche Einsiedler Paphnuce, nachdem er die Kurtisane Thaïs bekehrt und nachdem er ihre Kleidung, ihr Geschmeide, ihren Hausrat durch Feuer zerstört hat, fort und fort, im Wachen wie im Traume, von den Bildern der Dinge verfolgt wird, die er der Vernichtung anheimgegeben hat. Und jetzt begreift er, daß die Vernichtung der äußeren Existenz all dieser Gegenstände unwirksam bleibt, solange es nicht gelingt, die Bilder, in denen sie fortleben, gleichfalls zu bannen und zu beschwören. »Ne permets pas«, so ruft er zu Gott, »que le fantôme accomplisse ce que n’a point accompli le corps. Quand j’ai triomphé de la chair, ne souffre pas que l’ombre me terrasse. Je connais que je suis exposé présentement à des dangers plus grands que ceux que je courus jamais. J’éprouve et je sais que le rêve a plus de puissance que la réalité. Et comment en pourrait-il être autrement, puisqu’il est lui-même une réalité supérieure? Il est l’âme des choses.«19 Die »Seele der Dinge« – sie bedeutet hier den rei18 Vgl. z. B. Ernest Alfred Wallis Budge, Egyptian Magic, London 21901 (Books on Egypt and Chaldaea), S. 65: »[T]he Egyptians […] believed that it was possible to transmit to the figure of any man, or woman, or animal, or living creature, the soul of the being which it represented, and its qualities and attributes. The statue of a god in a temple contained the spirit of the god which it represented, and from time immemorial the people of Egypt believed that every statue and every figure possessed an indwelling spirit.« 19 Anatole France, Thaïs, Paris o. J., S. 264 f.
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nen Ausdruckssinn, mit dem sie das Bewußtsein ergreifen und in ihren Bann ziehen – und dieser Sinn offenbart sich mannigfaltiger und stärker, machtvoller und reiner im Traum und in der Vision als in der Welt des Wachens. Denn in dieser letzteren wird das reine Schauen durch das empirische Wirken ersetzt und verdrängt: Die Gegenstände verlieren ihr ursprüngliches »Gesicht« und werden statt dessen nur noch als die farb- und formlosen Mittelpunkte für bestimmte kausale und teleologische Beziehungen genommen. Aber die Gestaltenwelt des Mythos weist uns nun auch noch in einer anderen Hinsicht den Weg zum Verständnis der reinen Ausdrucksphänomene. Wollen wir diese Gestaltenwelt ohne theoretische Voreingenommenheit beschreiben, so müssen wir von ihr nicht nur einen falschen Dingbegriff, sondern auch einen falschen oder zum mindesten unzureichenden und inadäquaten Subjektbegriff fernhalten. Nichts ist gewöhnlicher und nichts scheint berechtigter, als den Grundakt des mythischen Bewußtseins als einen Akt der »Personifikation« zu verstehen. Man glaubt den Mythos gedeutet, man glaubt seinen psychologischen »Mechanismus« aufgedeckt zu haben, wenn man erklärt, auf welchem Wege das Bewußtsein dazu gelangt, die empirische Wirklichkeit, die Wirklichkeit der Dinge und Dingeigenschaften, in eine Wirklichkeit anderer Art, in eine Realität beseelter, handelnder Subjekte zu verwandeln. In Wahrheit ist jedoch damit sowohl der Ausgangspunkt wie der Endpunkt des mythischen Bewußtseins, sein Terminus a quo wie sein Terminus ad quem verkannt. Denn dieses Bewußtsein unterscheidet sich | von dem der theoretischen Erkenntnis sowohl in der Art und Weise, wie es die Personenwelt, als in der Art, wie es die Dingwelt aufbaut. Hier herrscht eine eigene »Kategorie«, eine spezifische Auffassung nicht nur der Objektivität, sondern auch der »Subjektivität«. Der Mythos bedeutet keineswegs ein bloßes »Umschlagen« der objektiven Weltansicht in die subjektive; denn dazu wäre erforderlich, daß jeder der beiden Aspekte schon in sich vorhanden und in sich bestimmt wäre. Aber ebendiese Bestimmung selbst bildet vielmehr das eigentliche Problem, an dem er in seiner Weise und gemäß seiner Grundrichtung mitzuwirken hat. Er bildet eine Weise der »Auseinandersetzung« von Ich und Welt – und zwar einer solchen, in der beide Gegenpole, indem sie sich voneinander abscheiden und sich einander gegenüberstellen, erst selbst ihre Form, ihre feste Gestalt gewinnen. Es zeigte sich demgemäß, daß auch die Vorstellung des »Ich«, die Vorstellung des belebten und handelnden »Subjekts«, nicht sowohl den Beginn als vielmehr erst ein bestimmtes Ergebnis, ein Resultat des mythischen Formungsprozesses bildet. Der Mythos geht nicht von einer
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fertigen Ich- und Seelenvorstellung aus, sondern er ist das Vehikel, das zu einer solchen erst hinführt; er ist ein geistiges Medium, kraft dessen die »subjektive Wirklichkeit« erst entdeckt und in ihrer Besonderheit erfaßt wird.20 So kennt er denn, gerade in seinen ursprünglichsten, in seinen eigentlich »primitiven« Gestaltungen, sowenig den Begriff einer »Seelensubstanz« wie den einer »Dingsubstanz« im metaphysischen Sinne des Wortes. Das Sein, das körperliche wie das seelische, hat sich ihm noch nicht verfestigt, sondern es besitzt und bewahrt eine eigentümliche »Fluidität«. Sowenig die Wirklichkeit in bestimmte Dingklassen mit ein für allemal feststehenden Merkmalen aufgeteilt ist – sowenig gibt es scharfe und feste Grenzscheidungen zwischen den verschiedenen Kreisen des Lebens. Wie es an bleibenden Substraten für die Welt der »äußeren« Wahrnehmung fehlt – so fehlt es nicht minder an dauernden Subjekten für die Welt der inneren Wahrnehmung. Denn das Grundmotiv des Mythos, das Motiv der »Metamorphose«, herrscht auch hier. Der mythische Gestaltenwandel zieht auch das »Ich« in seinen Kreis und hebt seine Einheit und Einfachheit auf. Wie die Grenze zwischen den Naturformen, so ist die Grenze zwischen »Ich« und »Du« eine durchaus fließende. Das Leben ist hier noch ein einziger stetiger Strom des Werdens; ein dynamisches Fließen, das sich erst ganz allmählich in sich selbst teilt und sich in einzelne Wellen absetzt. Wenngleich daher das mythische | Bewußtsein allem, was es ergreift, die Form des Lebens aufprägt, so ist doch ebendiese Art der All belebung mit der All beseelung keineswegs von Anfang an gleichbedeutend; denn das Leben selbst zeigt hier zunächst noch einen fließenden und vagen, einen durchaus »präanimistischen« Zug. Es hält sich noch in einer merkwürdigen Indifferenz zwischen Persönlichem und Unpersönlichem, zwischen der Form des »Du« und der des bloßen »Es«. Nirgends zwar gibt es hier ein »Es« als totes Objekt, als »bloßes« Ding; aber andererseits trägt auch das »Du« noch kein scharf bestimmtes, streng individuelles Gesicht, sondern ist jeden Augenblick bereit, in die Vorstellung eines bloßen Es, einer impersonalen Gesamtkraft zu verschwimmen.21 Jeder einzelne Zug der anschaulich erlebten Wirklichkeit hat magische Züge und Bezüge; jedes noch so flüchtige und verschwebende Geschehen hat seinen magischmythischen »Sinn«. Ein Flüstern oder Rauschen im Wald, ein Schat20 Näheres hierüber s. bes. Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, S. 191 ff. [ECW 12, S. 181 ff.]. 21 Vgl. hierzu insbesondere die Ausführungen und Belege über die ManaVorstellung, die in »Sprache und Mythos«, S. 51 ff. [s. ECW 16] und in »Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil«, S. 195 ff. [ECW 12, S. 184 ff.] gegeben sind.
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ten, der über den Boden huscht, ein Flimmern und Flirren über dem Wasser: dies alles ist dämonischer Art und dämonischen Ursprungs; aber erst ganz allmählich teilt sich dieses Pandämonium in einzelne klar unterscheidbare Gestalten, in persönliche Geister und Götter, ab. Alles anschaulich Wirkliche ist wie von einem Zauberhauch umwittert, ist in einen magischen Dunstkreis eingehüllt; aber ebendiese gemeinsame Atmosphäre, in welcher es ist und lebt, läßt seine individuelle Besonderung noch nicht zur Erscheinung und nicht zur völligen Entfaltung kommen. Alles ist mit allem durch unsichtbare Fäden verknüpft; und diese Verknüpfung, diese universelle »Sympathie« behält selbst einen schwebenden, einen seltsam unpersönlichen Charakter. »Es eignet sich, es zeigt sich an, es warnt«22 – ohne daß hinter dem allen notwendig ein persönliches Subjekt, ohne daß hinter der Warnung, in klar erkennbarem Umriß, ein Warner stehen müßte. Das Ganze der Wirklichkeit, weit mehr als ein einzelner Teil desselben, bildet vielmehr ebendieses Subjekt. Eben weil dieses ständige Hinweisen und Anzeigen das Element bildet, in welchem das mythische Bewußtsein ist und lebt, bedarf es dafür keiner Erklärung im einzelnen; die reine Tat, die Funktion dieses Weisens und Bedeutens, steht gewissermaßen auf sich selber, ohne der Zurückführung auf ein persönliches Substrat, auf einen Täter, zu bedürfen. Aber so schwer es bisweilen sein mag, vom Standpunkt des ausgebildeten theoretischen Bewußtseins und von seiner Scheidung des Innern | und Äußern, des Subjektiven und Objektiven, auf diese Grundstruktur der mythischen Welt hinzusehen, so scharf und klar hebt sich wiederum ihre Eigenart ab, sobald man den Blickpunkt in ein anderes Gebiet verlegt – sobald man den Standort innerhalb des Kreises der reinen Ausdrucksphänomene nimmt. Denn hier tritt uns alsbald wieder jene eigentümliche Doppelheit entgegen, die uns der Mythos in seinen primären Gestaltungen zeigt. Wo der »Sinn« der Welt noch als reiner Ausdruckssinn genommen wird, da weist jede Erscheinung in sich selbst einen bestimmten »Charakter« auf, der aus ihr nicht bloß erschlossen oder gefolgert wird, sondern der ihr unmittelbar zukommt. Sie trägt in sich die Züge des Düsteren oder Heiteren, des Erregenden oder Sänftigenden, des Beruhigenden oder Furchteinflößenden. Als Ausdruckswerte und Ausdrucksmomente haften diese Bestimmungen den erscheinenden Inhalten selbst an; sie werden nicht erst auf dem Umweg über die Subjekte, die wir als hinter der Erscheinung stehend ansehen, aus ihnen herausgelesen. Es ist eine 22 [Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Eine Tragödie. Zweiter Theil (Werke, 1. Abt., Bd. XV/1), Weimar 1888, S. 308.]
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Verkennung der reinen Ausdrucksphänomene, wenn eine bestimmte psychologische Theorie sie erst aus einem sekundären Akt der Deutung entstehen läßt, wenn sie sie als Produkte der »Einfühlung« erklärt. Der Grundmangel dieser Theorie und ihr πC3τον ψε2δος liegt darin, daß sie die Ordnung der phänomenalen Gegebenheiten umkehrt. Sie muß die Wahrnehmung zuvor ertöten, sie muß sie zu einem Komplex bloß sinnlicher Empfindungsinhalte machen, um dann diesen toten »Stoff« der Empfindung durch den Einfühlungsakt aufs neue zu beleben. Aber das Leben, das ihm auf diese Weise zuteil wird, bleibt letzten Endes ein bloßes Scheinleben – bleibt das Werk einer psychologischen Illusion. Die Wahrnehmung besitzt den Charakter der »Lebendigkeit« nicht aus eigenem Recht, sondern sie trägt ihn nur von einer fremden Instanz zu Lehen. Daß sie selbst sich unmittelbar keineswegs als Ganzes von Empfindungen gibt, sondern daß zu ihrer reinen Erscheinung bestimmte Modi des Erscheinens gehören, die in einer ganz anderen Ebene liegen: dies wird hier übersehen. Aber keine Theorie vermöchte diese Modi wie aus dem Nichts hervorzuzaubern, wenn sie nicht in irgendeiner schlechthin ursprünglichen Weise im Gehalt der Wahrnehmung mitgegeben wären. In Wahrheit gelangen wir zu den Data der »bloßen« Empfindung – wie hell oder dunkel, warm oder kalt, rauh oder glatt – erst dadurch, daß wir eine bestimmte Grund- und Urschicht der Wahrnehmung auf die Seite stellen, daß wir sie, in einer bestimmten theoretischen Absicht, gewissermaßen abtragen. Aber keine noch so weit getriebene Abstraktion vermag diese Schicht | als solche zu beseitigen und auszulöschen; sie bleibt, was sie ist, und sie behauptet sich als das, was sie ist, auch wenn wir in der Verfolgung bestimmter theoretischer Ziele über sie hinaussehen und schließlich von ihr ganz »absehen« müssen. Dieses »Absehen« besteht für die rein theoretische »Absicht«, für die Absicht des Aufbaus der objektiven Naturordnung und der Erfassung ihrer Gesetzlichkeit, völlig zu Recht; aber es kann die Welt der Ausdrucksphänomene als solche nicht zum Verschwinden bringen. Und ebenso deutlich ist es, daß wir schon nicht mehr die Sprache dieser Phänomene selbst sprechen, daß wir sie nicht mehr aus ihrem eigenen Zentrum heraus verstehen, wenn wir sie als bloße »Epiphänomene«, als Zusätze zum ursprünglich allein gegebenen Inhalt der Empfindung nehmen. Keineswegs gesellt sich dem »objektiven« Inhalt der Empfindung nachträglich und wie zufällig ein bestimmter Ausdruckscharakter als subjektives Anhängsel hinzu, sondern ebendieser Charakter ist es, der zum wesentlichen Bestand der Wahrnehmung gehört. Er ist an sich so wenig »subjektiv«, daß er es vielmehr ist, der der Wahrnehmung gleichsam die ursprüngliche Farbe der Realität gibt – die sie erst zu einer
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»Wahrnehmung von Wirklichkeit« macht. Denn alle Wirklichkeit, die wir erfassen, ist in ihrer ursprünglichen Form nicht sowohl die einer bestimmten Dingwelt, die uns gegenüber- und entgegensteht, als vielmehr die Gewißheit einer lebendigen Wirksamkeit, die wir erfahren. Dieser Zugang zur Wirklichkeit aber ist uns nicht in der Empfindung, als sinnlichem Datum, sondern allein in dem Urphänomen des Ausdrucks und des ausdrucksmäßigen »Verstehens« gegeben. Ohne die Tatsache, daß sich in bestimmten Wahrnehmungserlebnissen ein Ausdruckssinn offenbart, bliebe das Dasein für uns stumm. Wirklichkeit könnte niemals aus der Wahrnehmung als bloßer Sachwahrnehmung gefolgert werden, wenn sie nicht in ihr, kraft der Ausdruckswahrnehmung, schon in irgendeiner Weise beschlossen läge und sich hier in einer durchaus eigentümlichen Weise manifestierte. Und diese Manifestation knüpft die Erscheinung des Lebens keineswegs sogleich an einzelne Subjekte, an bestimmte Ichwelten, die sich in scharfer und klarer Differenzierung gegenüberstehen. Es ist weit mehr das Leben schlechthin als seine Sonderung in Einzelkreise und seine Bindung an bestimmte individuelle Zentren, was hier primär erfaßt wird; es ist ein universeller Charakter der Wirklichkeit, nicht das Dasein und Sosein bestimmter Einzelwesen, was in der Ausdruckswahrnehmung ursprünglich »erscheint«. Sie behält, in all ihrer Vielfältigkeit und Lebendigkeit, noch den Charakter des »Unpersönlichen«; sie ist immer | und überall Kundgabe, aber sie bleibt ebendarum auch im Phänomen des Kundgebens als solchem stehn, ohne bestimmter Substrate für dasselbe zu bedürfen. Und eben damit fällt für uns ein neues Licht auf das »Impersonale« bestimmter mythischer Grund- und Urgestaltungen. Die »Denkform« des Mythos zeigt sich auch hier mit seiner »Lebensform« aufs engste verknüpft; sie spiegelt nur wider und sie stellt nur in gegenständlicher Form vor uns hin, was in einer ganz konkreten Weise des Wahrnehmens enthalten und gegründet ist. An diesem Punkte stellt sich uns daher von neuem – und in einer höchst eindringlichen Weise – die Beziehung dar, die zwischen der Methodik der phänomenologischen Analyse und der Methodik einer rein objektiv gerichteten »Philosophie des Geistes« besteht. Beide sind so eng miteinander verknüpft und so notwendig aufeinander angewiesen, daß sie nicht nur in ihren positiven Ergebnissen ständig ineinandergreifen, sondern daß auch umgekehrt jeder falsche oder unvollkommene Ansatz innerhalb der einen Richtung der Betrachtung sich alsbald auf der Gegenseite bemerkbar und fühlbar macht. Eine mangelhafte Erfassung des objektiven Bestandes, der in den einzelnen symbolischen Formen vorliegt, birgt stets die Gefahr in sich,
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daß die Phänomene, in denen dieser Bestand sich gründet, verkannt werden – und andererseits gefährdet jedes theoretische Vorurteil, das sich in die reine Deskription der Phänomene einmischt, zugleich die Würdigung des Sinngehalts der Formen, die aus ihnen resultieren. Vor allem ist es eine Kategorie, deren Gebrauch immer wieder die unbefangene Auslegung der reinen Ausdrucksphänomene wie die unbefangene Auffassung der Grundstruktur der mythischen Welt erschwert und hintanhält. Man glaubt beiden gerecht zu werden, wenn man sie in einem Akt der »Personifikation« entspringen und in ihm wurzeln läßt. Und diese Charakteristik mag in der Tat auf den ersten Blick zutreffend und ausreichend erscheinen, sofern man nur die negative Seite der Frage ins Auge faßt. Denn zweifellos zeigen die reinen Ausdrucksphänomene auf der einen Seite, die mythischen Gestaltungen auf der anderen Seite noch keineswegs jene Form der Gegenständlichkeit, der bloßen »Sachlichkeit«, wie sie im Aufbau des Systems der theoretischen Erkenntnis erstrebt und erreicht wird. Aber dieser Umstand besagt keineswegs, daß beide Gebiete, weil sie keine ausgeprägte Dingkategorie, in der empirisch-theoretischen Bedeutung des Wortes, besitzen, ebendeshalb schon über eine ausgeprägte Persönlichkeitskategorie verfügen und sich notwendig auf sie stützen müßten. Denn ebendie Ausbildung des Gegensatzes selbst, die Spannung, die sich zwischen den beiden Polen ein | stellt, wird erst innerhalb einer bestimmten »Höhenlage« des Geistes erreicht und darf nicht ohne weiteres in die Anfänge, in die primären und »primitiven« Schichten, zurückverlegt werden. Was die mythische Welt betrifft, so hat sich uns gezeigt, daß diese Spannung erst dort einsetzt, wo der Mensch die Wirklichkeit, die ihn umgibt, nicht mehr bloß als solche hinnimmt, sondern wo er sich ihr tätig entgegenstellt und sie tätig zu formen beginnt. In dem Maße, als die verschiedenen Kreise seines Tuns sich voneinander abscheiden und in ihrem besonderen Sinn und Wert erfaßt werden, weicht die anfängliche Unbestimmtheit der mythischen Empfindung zurück und die Anschauung eines in sich gegliederten mythischen Kosmos, die Anschauung einer Götterwelt und eines Götterstaates, beginnt zu erstehen.23 Im gleichen Sinne gilt für die Welt des Ausdrucks überhaupt, daß ein bestimmtes, klar entwickeltes Ichbewußtsein ihr nicht von Anfang an eignet. Denn alles Erleben – Ausdruck ist zunächst nichts anderes als ein Erleiden; ist weit mehr ein Ergriffenwerden als ein Ergreifen – und ebendiese »Rezeptivität« steht zu jener Art der »Spontaneität«, in der alles 23 Näheres s. Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, S. 228 ff. u. 246 ff. [ECW 12, S. 216 ff. u. 235 ff.].
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Selbstbewußtsein als solches sich gründet, im deutlichen Gegensatz. Verkennt man dies, so wird man zu der Konsequenz gedrängt, auch das tierische Bewußtsein, sofern es von Ausdruckserlebnissen erfüllt und mit ihnen gleichsam durchdrungen und gesättigt ist, ebendarum zugleich als ein personal gegliedertes und personal gestaltetes Bewußtsein zu beschreiben. Am schärfsten und radikalsten ist diese Konsequenz von Vignoli in seiner Schrift »Mythus und Wissenschaft« gezogen worden. Vignoli, dessen Lehre sich auf einer rein positivistischen Erkenntnistheorie aufbaut, sucht den Mythos dadurch zu verstehen und zu deuten, daß er seine biologischen Wurzeln aufdeckt. Er erscheint ihm als eine notwendige und spontane Funktion des Bewußtseins, die nur in ihrem Stoff wandelbar, in ihrer Form aber von dauerndem Bestand ist. Seiner empirischen Allgemeinheit läßt sich nur dadurch gerecht werden, daß man eine konstante Uranlage der Seele aufweist, der er entstammt und aus der er ständig neue Kraft zieht. Im Sinne dieser Forderung will Vignoli »die ganz einfachen und elementaren Thätigkeiten unsers Geistes in ihrer physisch-psychischen Zusammensetzung einer gründlichen Prüfung […] unterziehen, um […] das Grundprincip zu überraschen, welches die Genese des Mythus selbst mit Nothwendigkeit involvirt, die erste Quelle, aus welcher er in allen seinen Formen, für eine spätere reflectirende Thätigkeit jeder Art bereit, hervorsprudelte«. Aber nun zeigt sich, daß wir, wenn wir dieses allgemeingültige Prinzip, | dieses eigentliche »Apriori« des Mythischen bloßlegen wollen, nicht bei der Analyse des menschlichen Empfindens, Wahrnehmens und Vorstellens stehenbleiben dürfen. Unser Weg führt uns in der Reihe der organischen Lebensformen notwendig einen Schritt weiter zurück. Denn schon in der Tierwelt waltet ein Drang, jede sinnliche Einwirkung, die das Tier von außen erfährt, in irgendeiner Weise zu beleben und zu »personifizieren«. »Jede Sinnesempfindung ist […] für das Thier in der Form, in der sie zum Bewusstsein kommt […] sofort mit der Vorstellung eines lebendigen Etwas, wie sie der seines eigenen Innern entspricht, eng verknüpft. Es macht aus seinem Leben ein – wenn auch nur dunkel zum Bewusstsein gelangendes – Drama von Handlungen, Empfindungen und Trieben, von Hoffnung und Furcht. […] Die dem Thiere eigene lebhafte Empfindung, welche sein Inneres beherrscht, wird […] in alle Körper und Erscheinungen der Natur hineingetragen, welche äusserlich seine Aufmerksamkeit auf sich lenken. […] Jede Form, jeden Gegenstand, jede Erscheinung der Aussenwelt werden daher die Thiere mit dem Leben ihres eigenen Innern, ihrer eigenen persönlichen psychischen Thätigkeit begabt sehen. Naturkörper und Naturerscheinungen werden für das Thier keine
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realen Objecte sein, wie sie es an sich sind, sondern es ist sicher, dass sie als virtuelle lebende und handelnde Gegenstände aufgefasst werden, die ihm persönlich Nutzen oder Gefahr bringen können.«24 Das seelische Drama, aus dem der Mythos geboren wird, nimmt somit nicht erst im menschlichen, sondern schon im tierischen Bewußtsein seinen Ausgang: Denn schon hier waltet der Drang, alles Dasein überhaupt, von dem das Tier Kunde gewinnt, in der Form persönlicher Existenz zu erfassen. Der Mensch ist nicht das einzige und nicht das erste Wesen, dessen Welt unter der Herrschaft und Leitung dieses Dranges steht: Er bildet nur den dumpfen und unbewußten Trieb zur »Personifikation« zu einem bewußten und reflexiven Akt um. Vignoli stützt sich, um diese These zu erhärten, auf eine große Zahl von empirischen Daten, die er in langjähriger eigener Beobachtung an Tieren gesammelt hat. Überblickt man freilich die Reihe dieser Beobachtungen, so geht aus ihnen mit Sicherheit nur das eine hervor, wie sehr in der Wahrnehmungswelt des Tieres die reinen Ausdruckscharaktere überwiegen und wie sie, gegenüber der »objektiven«, der Ding-Eigenschafts-Wahrnehmung, durchaus den Vorrang behaupten.25 Nicht dagegen | wird durch sie erwiesen, daß für das Tier diese Charaktere als solche schon einem bestimmten »Subjekt«, oder gar einer klar erfaßten »Person«, anhaften müßten und daß sie nur auf dem Umweg über diesen »Träger« überhaupt erlebbar seien. In der Setzung und Voraussetzung eines solchen Subjekts vollzieht sich offenbar eine Synthesis von anderer Art und von ganz anderem geistigen Ursprung. Das eine aber muß freilich zugestanden und betont werden: daß auch diese Synthesis nicht schlechthin aus dem Nichts entspringen, daß sie nicht aus einer Art von generatio aequivoca hervorgehen kann. Sie knüpft an eine Grundrichtung der sinnlichen Wahrnehmung an – und sie bleibt ihr auch dort verhaftet und verpflichtet, wo sie sich weit über sie erhebt. Den Gedanken freilich, der nach Vignoli den Aufbau Tito Vignoli, Mythus und Wissenschaft. Eine Studie, Leipzig 1880 (Internationale wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 47), S. 5 ff. u. 44 ff. [Zitate S. 5 f., 44 f. u. 47]. 25 Dieser »Primat der Ausdruckserlebnisse«, der für das tierische Bewußtsein bestimmend und typisch zu sein scheint, ist, innerhalb der neueren Tierpsychologie, insbesondere durch die Beobachtungen und durch die eindringenden Untersuchungen von | Pfungst sichergestellt worden. Pfungst hat an einem reichen, bisher noch nicht vollständig veröffentlichten Material von Beobachtungen zeigen können, daß eine große Zahl sogenannter »Intelligenzleistungen«, die man höheren Tieren zuzusprechen pflegt, in Wahrheit reine Ausdrucksleistungen sind – daß sie, statt auf Schlüssen und Denkprozessen, vielmehr auf der äußerst feinen Empfindung beruhen, die die Tiere für gewisse unwillkürliche Ausdrucksbewegungen des Menschen besitzen. 24
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des tierischen Bewußtseins bestimmt – den Gedanken, daß »jede kosmische Realität […] mit demselben Leben und freien Willen begabt [sei], als welche ihm die unmittelbaren Aeusserungen seines eigenen Innern erscheinen«26 – : ihn werden wir dem Tiere um so weniger zusprechen und zuerkennen, als auch dem Menschen das Gesamtbild des Lebens durchaus nicht von Anfang an in dieser geprägten Form, in der Form des bewußten und freien Wollens, erscheint. Auch für ihn stellt sich das Leben, wo er es zuerst ergreift, weit mehr als ein Gesamtleben denn als individuell geformtes und individuell begrenztes Leben einzelner Subjekte dar. Es trägt in sich anfänglich sowenig die Züge der Ichkonstanz wie der Dingkonstanz; es setzt sich ebensowenig sogleich in identische Subjekte wie in beharrliche Objekte ab. Suchen wir den Ursprung dieser Absetzung, dieser Differenzierung und Gliederung aufzuweisen, so sehen wir uns über das Gebiet des Ausdrucks in das der Darstellung, über die geistige Region, in welcher der Mythos vor allem heimisch ist, in die Region der Sprache hinausgewiesen. Erst im Medium der Sprache beginnt die unendlich mannigfache, die hin und her wogende Vielgestalt der Ausdruckserlebnisse sich zu fixieren; erst in ihm gewinnt sie »Gestalt und Namen«. Der Eigen name des Gottes wird zum Ursprung der persönlichen Göttergestalt; und auf dem Weg über sie, durch die Vermittlung der Vor | stellung des persönlichen Gottes, wird auch die Vorstellung vom eigenen Ich, vom »Selbst« des Menschen, erst gefunden und gesichert.27 Aber ebendieser Vergleich zwischen der Leistung der Sprache und der des Mythos scheint nun aufs neue ein Bedenken zu erwecken und zu verschärfen, dessen wir in unserer gesamten vorangehenden Betrachtung längst gewärtig sein mußten. Mit welchem Recht – so wird man fragen – verweilt diese Betrachtung, deren Ziel doch das Verständnis des Aufbaus der theoretischen Welt sein soll, überhaupt noch bei den Gebilden des mythischen Bewußtseins? Muß nicht jedwede theoretische Weltansicht, sofern sie überhaupt auf diesen Namen Anspruch erheben darf, damit beginnen, diese Gebilde zu verabschieden und ihnen ein für allemal ohne Vorbehalt zu entsagen? Den Zugang zum Reich der Erkenntnis können wir nicht anders gewinnen als dadurch, daß wir uns aus dem Traumgespinst, in das uns der Mythos verstrickt, befreien – daß wir seine Bildwelt als bloße ScheinVgl. Vignoli, Mythus und Wissenschaft, S. 49. Näheres in der Studie über »Sprache und Mythos«, bes. S. 17 ff. u. 42 ff. [s. ECW 16]. 26 27
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welt durchschauen. Und welchen Sinn hat es noch, nachdem einmal dieser Zugang erkämpft ist, nachdem das Reich der Wahrheit sich als solches erschlossen hat, von ihm aus auf die Region des Scheins zurückzublicken? Die Sprache ist in Hinsicht auf diese Frage dem Mythos keineswegs gleichzustellen. Für sie ist es ersichtlich, daß sie in einer eigentümlichen und selbständigen Weise an der Gestaltung und Gliederung der theoretischen Welt beteiligt bleibt. Auch die Wissenschaft kann ihrer Mitwirkung nicht entbehren – auch sie muß überall an die Vorstufe der Sprachbegriffe anknüpfen, um sich erst allmählich von ihnen zu lösen und sich zur Form der reinen Denkbegriffe durchzuringen. In bezug auf den Mythos aber stellt sich der Schnitt schärfer und unerbittlicher dar. Dieser Schnitt führt zu einer unaufheblichen Trennung, zu einer echten und endgültigen Krisis, die das Bewußtsein in sich selbst erfährt. Das Weltbild des Mythos und das der theoretischen Erkenntnis können nicht miteinander bestehen und nicht im gleichen Denkraum nebeneinanderstehen. Beide verhalten sich vielmehr streng ausschließend zueinander: Der Anfang des einen kommt dem Ende des andern gleich. Wie nach dem griechischen Mythos ein Biß in den Apfel der Proserpina die Seelen für immer dem Reich der Schatten verstrickt und ihnen die Rückkehr zum Licht des Tages verwehrt – so scheint umgekehrt der Anbruch des Tages, der Anbruch des wachen theoretischen Bewußtseins und der theo | retischen Wahrnehmung, keinen Rückweg mehr in die Welt der mythischen Schattenbilder zu verstatten. Denn was könnte dieser Rückweg anderes sein als ein bloßer Rückfall – als das Herabgleiten in eine primitive und überwundene Stufe des Geistes? So notwendig indes diese Folgerung erscheint, wenn man sich auf rein abstrakte Erwägungen über die Form des Mythos und die Form der Wissenschaft beschränkt – so große Schwierigkeiten birgt sie in sich, sobald man beide vom Standpunkt einer universellen »Phänomenologie des Geistes« aus betrachtet und beurteilt. Denn die Welt des »Geistes« bildet eine durchaus konkrete Einheit: derart, daß auch die extremsten Gegensätze, in denen sie sich bewegt, noch als irgendwie vermittelte Gegensätze erscheinen. In ihr gibt es keinen plötzlichen Riß oder Sprung – keinen Hiatus, durch den sie sich in disparate »Teile« auflöst. Vielmehr gehört jegliche Gestalt, durch die das geistige Bewußtsein überhaupt hindurchgeht, in irgendeiner Weise auch zu seinem bleibenden und dauernden Bestand. Das Hinausgehen über eine bestimmte Form ist selbst nur dadurch möglich, daß diese Form nicht schlechthin versinkt, nicht völlig ausgetilgt wird, sondern daß sie in der Kontinuität des Bewußtseinsganzen stehenbleibt und in ihr bewahrt bleibt. Denn ebendies macht die Einheit und die Ganz-
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heit des Geistes aus, daß es in ihm keine absolute »Vergangenheit« gibt, sondern daß er auch das Vergangene noch in sich befaßt und es als Gegenwart in sich erhält. »Das Leben des gegenwärtigen Geistes«, so spricht Hegel diesen Sachverhalt aus, »ist ein Kreislauf von Stufen, die einerseits noch nebeneinander bestehen, und nur andrerseits als vergangen erscheinen. Die Momente, die der Geist hinter sich zu haben scheint, hat er auch in seiner gegenwärtigen Tiefe.«28 Besteht diese Grundansicht zu Recht – so werden wir selbst ein so eigentümliches und paradoxes Gebilde, wie es die mythische »Wahrnehmung« ist, in dem Gesamtbilde, das das theoretische Bewußtsein von der Wirklichkeit entwirft, nicht als völlig verloren und nicht als völlig entbehrlich ansehen können. Es muß erwartet werden, daß die Grundtendenz, von der diese Wahrnehmung sich beherrscht zeigt, sosehr sie durch andere Weisen des Sehens verdrängt und in sich selber modifiziert wird, damit doch nicht schlechthin erlischt. Der Untergang der Inhalte des mythischen Bewußtseins bedeutet keineswegs notwendig zugleich den Untergang der geistigen Funktion, der sie entstammen. Nichts von den mythischen Gebilden braucht sich in die Wirklichkeit der Erfahrung und in den Kreis ihrer Gegenstände herüberzuretten – und dennoch | kann sich zeigen, daß jene Potenz des Geistes, deren erste konkrete Äußerung der Mythos war, sich in einer bestimmten Hinsicht behauptet und daß sie, innerhalb der neuen »Dimension« des theoretischen Selbstbewußtseins, in neuer Gestalt, in einer Art von Metamorphose, weiterlebt und weiterwirkt. An welcher Stelle unseres empirischen Weltbildes wir diese Fortwirkung vornehmlich zu suchen haben – dies wird alsbald deutlich, wenn wir uns daran erinnern, daß wir als das eigentliche Korrelat des Mythos statt der Dingwahrnehmung vielmehr die reine Aus druckswahrnehmung erkannt haben. Denn jetzt lautet die Frage, ob diese letztere, im Fortgang und in der Entwicklung des theoretischen Bewußtseins, durch die »gegenständliche« Richtung der Wahrnehmung jemals völlig verdrängt wird oder ob sie nicht neben ihr ein selbständiges Recht und ein eigenes Gebiet behauptet, für dessen Aufbau und Bestimmung sie nicht entbehrt werden kann. Dieses Gebiet läßt sich in der Tat genau bezeichnen: Es ist kein anderes und kein geringeres als jene Form des Wissens, in der sich uns die Wirklichkeit nicht sowohl von Gegenständen der Natur als vielmehr von anderen »Subjekten« erschließt. Dieses Wissen, das Wissen vom 28 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, hrsg. v. Eduard Gans (Werke, Bd. IX), 2. Aufl., besorgt v. Karl Hegel, Berlin 1840, S. 98.
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»Fremdseelischen«, hat freilich, so natürlich es sich dem Ganzen unserer Erfahrungserkenntnis einfügt und als ein so unentbehrlicher und »selbstverständlicher« Bestandteil desselben es erscheint, seit jeher die eigentliche Crux für die erkenntnistheoretische und psychologische Reflexion gebildet. Immer wieder traten neue Theorien auf, um es zu erklären und zu rechtfertigen – aber immer wieder zeigte sich auch, daß der Grad der Gewißheit, den alle diese Erklärungen für sich in Anspruch nehmen dürfen, nicht entfernt an jene Sicherheit heranreicht, die hier schon im einfachen phänomenologischen Befund vorliegt. Statt diesen letzteren zu bestätigen oder zu begründen, hat ihn vielmehr die Theorie fast durchgängig verleugnet. Denn, so verschieden auch ihr Ausgangspunkt war und auf so mannigfachen Wegen sie sich bewegte, so kamen doch all die Erklärungsversuche, die hier unternommen wurden, in einer prinzipiellen Voraussetzung und in einer bestimmten methodischen Zielsetzung überein. Sie alle gingen davon aus, daß alles Wissen, das sich nicht auf die eigenen Bewußtseinszustände bezieht und beschränkt, durch »äußere« Wahrnehmung vermittelt sein müsse – und sie alle erkannten ferner die »äußere« Wahrnehmung nur in der Form der Dingwahrnehmung als vorhanden und als gültig an. Die Wahrnehmung des »Du« auf die generelle Form der Dingwahrnehmung zurückzuführen, die eine auf die andere zu reduzieren, erschien daher | als die eigentliche Aufgabe, um die die Theorie sich immer aufs neue bemühte. Aber ebendieser Ansatz bildet vielmehr das πC3τον ψε2δος. Denn das Ganze des Erfahrbaren als einen Komplex zu denken, der entweder in dinglichen Inhalten besteht oder sich aus ihnen, als Bestandteilen, notwendig zusammensetzen muß: dies war selbst schon eine willkürliche theoretische Einengung des reinen Erlebnishorizontes. In Wahrheit bedeutet, innerhalb dieses Horizontes, die Ausdruckswahrnehmung gegenüber der Dingwahrnehmung nicht nur das psychologisch Frühere, das πC τεCον πCς .µGς, sondern sie bezeichnet auch ein echtes πC τεCον τ/0 φ0σει. Sie hat ihre spezifische Form, ihre eigene »Wesenheit«, die sich nicht durch Kategorien, die für die Bestimmung ganz anderer Seins- und Sinnregionen gelten, beschreiben, geschweige durch sie ersetzen läßt. Weit klarer und überzeugender als in der traditionellen Psychologie, die fast immer in ihren Beschreibungen schon durch bestimmte begriffliche Voraussetzungen geleitet und durch sie gebunden war, tritt diese Form im Spiegel der Sprache hervor. Hier läßt sich zumeist noch unmittelbar erkennen, wie alle Wahrnehmung eines »Objektiven« ursprünglich von der Erfassung und Unterscheidung gewisser »physiognomischer« Charaktere ausgeht und wie sie mit diesen gleichsam gesättigt bleibt. Die sprachliche
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Bezeichnung einer bestimmten Bewegung etwa birgt fast durchweg dieses Moment in sich: Statt die Form der Bewegung als solche, als Form eines objektiven raumzeitlichen Geschehens, zu beschreiben, wird vielmehr der Zustand genannt und sprachlich fixiert, von dem die betreffende Bewegung der Ausdruck ist. »›Raschheit‹, ›Langsamkeit‹ und zur Not noch ›Eckigkeit‹«, so heißt es bei Klages, der die Zusammenhänge, die hier bestehen, von allen modernen Psychologen am klarsten erkannt und der sie dem theoretischen Verständnis vielfach erst erschlossen hat, »mögen rein mathematisch verstanden werden; dagegen ›Wucht‹, ›Hast‹, ›Gehemmtheit‹, ›Umständlichkeit‹, ›Übertriebenheit‹ sind ebensosehr Namen für Lebenszustände wie für Bewegungsweisen und beschreiben in Wahrheit diese durch Angabe ihrer Charaktere. Wer Bewegungsgestalten und Raumformen kennzeichnen will, findet sich unversehens in eine Kennzeichnung von Seeleneigenschaften verstrickt, weil Formen und Bewegungen als Seelenerscheinungen erlebt worden sind, ehe sie aus dem Gesichtspunkt der Gegenständlichkeit vom Verstande beurteilt werden, und weil die sprachliche Verlautbarung der Sachbegriffe nur durch Vermittlung von Eindruckserlebnissen stattfindet.«29 | So zeigt uns die Sprache, wie jener seelisch-geistige Grundbestand, aus dem die mythische Anschauung erwächst, auch dann noch fortlebt, wenn das Bewußtsein längst über die Enge dieser Anschauung hinausgeschritten ist und sich zu anderen Gestaltungen durchgerungen hat. Der Quell hört nicht plötzlich und wie mit einem Schlage zu fließen auf; er wird nur in ein anderes und weiteres Strombett fortgeleitet. Denn dächten wir das ursprüngliche Quellgebiet des Mythischen völlig verdorrt und versiegt, dächten wir die reinen Ausdruckserlebnisse schlechthin ausgelöscht und in ihrer Eigenheit und Besonderheit vernichtet, so wären damit auch große und weite Gebiete der »Erfahrung« brachgelegt. Es ist kein Zweifel, daß zu ebendieser Erfahrung das Wissen nicht nur von Dingen, als physischen Gegenständen, sondern das Wissen von »fremden Subjekten« ursprünglich gehört. Keine Form der Reflexion, der mittelbaren Schlußfolgerung, kann dieses Wissen erschaffen – denn Sache der Reflexion ist es nicht, die Erlebnisschicht, in der es wurzelt, selbst hervorzubringen, sondern nur, sie theoretisch zu deuten. Es ist eine seltsame Vermessenheit der Theorie, es ist eine Art intellektueller Hybris, wenn sie vermeint, den eigentümlichen Gewißheitsmodus, der hier vorliegt, nicht nur aufweisen, sondern auch erzeugen zu 29 Ludwig Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft. Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, 3. u. 4. Aufl., Leipzig 1923, S. 18.
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können. Das so Erzeugte bliebe letzten Endes ein Phantom; ein Scheinbild, das die Wirklichkeit des Lebens vortäuschen möchte, dem aber keine selbständige Lebenskraft innewohnt. In der Tat laufen zuletzt fast all die bekannten »Erklärungen«, die man von dem Wissen von anderen Subjekten versucht hat, auf nichts anderes und nichts mehr als auf einen bloßen Illusionismus hinaus. Was die Theorien voneinander unterscheidet, ist nur die Art, in der sie die Illusion beschreiben und in der sie sie entstanden denken. Bald wird sie als eine Art logischer, bald als eine Art ästhetischer Täuschung angesehen; bald wird sie als eine Sophistikation der Vernunft, bald als eine solche der Einbildungskraft beschrieben. Aber was hierbei verkannt wird, ist dies, daß der Sinn und Gehalt der reinen Ausdrucksfunktion als solcher nicht erst auf dem Umweg über eine einzelne geistige Gestaltungssphäre beglaubigt werden kann, weil sie vielmehr, als eine wahrhaft allgemeine und gewissermaßen weltumspannende Funktion, der Differenzierung in die verschiedenen Sinngebiete, dem Auseinandertreten von Mythos und Theorie, von logischer Betrachtung und ästhetischer Anschauung vorausliegt. Ihre Sicherheit und ihre »Wahrheit« ist sozusagen eine noch vormythische, vorlogische und vorästhetische; bildet sie doch den gemeinsamen Boden, dem alle jene Gestaltungen in irgendeiner Weise entsprossen sind und dem sie verhaftet bleiben. Ebendarum scheint uns freilich diese | Wahrheit um so mehr zu entgleiten, je mehr man sie zu fixieren versucht: d. h., je mehr man sie von vornherein auf ein einzelnes Gebiet »festlegt« und sie ausschließlich mittels der Kategorien desselben bezeichnen und bestimmen will. Geht man vom Standpunkt der Logik und der theoretischen Erkenntnis aus, so scheint die Einheit der Erkenntnis nur dadurch gewahrt werden zu können, daß alles Wissen, auf welche Art von Gegenständen es sich immer beziehen mag, als streng homogen gefaßt wird. Die Verschiedenheit im Inhalt des Gewußten soll und darf keine Verschiedenheit im Prinzip der Gewißheit, noch in ihrer Methodik, in sich schließen. So scheint die Forderung berechtigt und begründet, daß das Wissen vom »fremden Ich« den gleichen Bedingungen unterliegt, auf denen auch das Wissen von der Natur, von der empirischen Gegenstandswelt beruht. Wie der Gegenstand der Natur sich eigentlich und wahrhaft erst im Gedanken der Naturgesetzlichkeit konstituiert – wie Gegenstand und Gesetzlichkeit im Bereich der objektivierenden Erkenntnis zueinander gehören und sich korrelativ aufeinander beziehen: so scheint das gleiche auch für jene Form der Erfahrung zu gelten, kraft deren sich für uns das Wissen von anderen Subjekten aufbaut. Auch dieses Wissen bedarf vor allem der Sicherung in einem allgemeingültigen Prinzip: Und wo könnte dieses Prinzip anders gefunden werden
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als in dem Grundsatz der Kausalität, der das eigentliche Apriori für jede Wirklichkeitserkenntnis schlechthin ist, der als die einzige Brücke erscheint, auf der wir den engumgrenzten Bezirk der »Immanenz«, der »eigenen« Bewußtseinsphänomene überschreiten können? Selbst Dilthey war – sosehr seine Auffassung der Geisteswissenschaften im ganzen in eine andere Richtung weist – zunächst noch »Positivist« genug, um diese Schlußfolgerung als zwingend anzusehen und um sie zur Grundlage seiner erkenntnistheoretischen Betrachtungen zu machen. Der Glaube an die »Realität der Außenwelt« wurzelt auch nach ihm – sowohl was die Körperwelt im Raum als was die Wirklichkeit fremder Subjekte betrifft – in einem Analogieschluß, dem er im wesentlichen die Form eines Kausalschlusses gibt. Daß wir die Wirklichkeit von anderen Subjekten niemals direkt »gewahr werden«, sondern nur mittelbar, durch »Übertragung« setzen können: dieser Satz gewinnt auch bei ihm fast die Würde eines Axioms 30 – aber freilich eines solchen, dem seine eigene konkrete Auffassung vom Wesen und von der Struktur des Geistigen fast auf Schritt und Tritt widerspricht. Aber selbst wenn wir von dem Aufbau | der konkreten, geistig-geschichtlichen Wirklichkeit absehen, um uns ausschließlich auf den Boden der reinen Erkenntnistheorie zu stellen, so enthält, auch von diesem Standort betrachtet, die Theorie des »Analogieschlusses« ein merkwürdiges Paradoxon in sich. Denn bestände sie zu Recht, so wäre damit ein Satz, der für das Ganze unseres Weltbildes und unserer Wirklichkeitsauffassung von wahrhaft universeller Bedeutung ist, auf die denkbar schmalste erkenntnistheoretische Basis gestellt. Stützt sich die Gewißheit vom »fremden Ich« auf nichts anderes denn auf eine Kette empirischer Beobachtungen und induktiver Schlußfolgerungen – gründet sie sich darauf, daß gleiche oder ähnliche Ausdrucksbewegungen, wie wir sie an unserem eigenen Leibe gewahr werden, auch an anderen physischen Körpern auftreten und daß den gleichen »Wirkungen« auch stets die gleiche »Ursache« entsprechen müsse – so gäbe es kaum einen anderen Schluß, der so wenig wie dieser fundiert wäre. Im ganzen wie im einzelnen erweist sich dieser Schluß der schärferen Betrachtung alsbald als durch und durch brüchig. Denn einmal ist es ein bekanntes erkenntnistheoretisches Prinzip, daß sich zwar von der Gleichheit der Ursachen auf die der Wirkungen, nicht aber umgekehrt von dieser auf jene schließen läßt, Vgl. bes. Wilhelm Diltheys »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie«, in: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Philosophisch-Historische Classe, Jg. 1894, S. 1309–1407. 30
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da ein und dieselbe Wirkung von ganz verschiedenen Ursachen hervorgebracht werden kann. Zudem aber würde, auch wenn man von diesem Einwand absieht, ein Schluß von der hier bezeichneten Art im günstigsten Falle immer nur eine provisorische Annahme, eine bloße Wahrscheinlichkeit begründen können. Der »Glaube« an die Wirklichkeit des fremden Ich wäre dann, was seine rein erkenntnistheoretische Dignität betrifft, in derselben Weise gegründet wie etwa der Glaube an die Existenz des Lichtäthers – mit dem freilich sehr wichtigen und methodisch entscheidenden Unterschied, daß die letztere »Hypothese« auf unvergleichlich schärfere und exaktere Beobachtungen als die erstere aufgebaut wäre. Jegliche Art erkenntnistheoretischer Skepsis – bis zur radikalen Durchführung der These des Solipsismus – brauchte daher nur an diesem »Analogieschluß« den Hebel anzusetzen, um des Erfolges sicher zu sein. Die Gewißheit, daß die Wirklichkeit des Lebens nicht auf den Kreis des eigenen Daseins und der eigenen Bewußtseinsphänomene beschränkt ist, wäre selbst eine rein »diskursive« Erkenntnis, und zwar eine solche von höchst fragwürdigem Ursprung und höchst fragwürdiger Geltung. Erwägungen dieser Art sind es ohne Zweifel gewesen, aus denen heraus man sich gedrängt sah, den Standort der Betrachtung aus dem Gebiet des Intellekts, aus der Region des »Logischen« überhaupt, in ein anderes Feld | zu verlegen. An Stelle der bloß »diskursiven« Begründung wurde eine »intuitive« gesucht; statt an die Mittelbarkeit der Reflexion suchte man an die Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit des »Gefühls« anzuknüpfen. Die Gewißheit vom fremden Ich muß – so betonte man – statt in Folgerungen und Schlüssen, statt in einer Summe von Denkoperationen vielmehr in einer ursprünglichen Weise des »Erlebens« gegründet sein. Als einen solchen Erlebnismodus stellt Theodor Lipps die Form des »›Miterlebens‹ oder ›Nacherlebens‹« auf. In ihr und in ihr allein geht dem Ich erst die Möglichkeit des »Du« und seine Wirklichkeit auf. Aber wiederum liegt darin, daß diese Wirklichkeit niemals eine originäre, sondern stets nur eine entlehnte sein kann. »Das fremde psychische Individuum ist […] von mir geschaffen aus mir. Sein Inneres ist aus dem meinigen genommen. Das fremde Individuum oder Ich ist das Ergebnis einer Projektion, Spiegelung, Hineinstrahlung meines Selbst, oder dessen, was ich aus Anlaß der sinnlichen Wahrnehmung einer fremden körperlichen Erscheinung in mir erlebe, in eben diese sinnliche Erscheinung, eine eigentümliche Art der Verdoppelung meiner.«31 Abermals ist es somit 31 Theodor Lipps, Die ethischen Grundfragen. Zehn Vorträge, 2., teilw. umgearb. Aufl., Hamburg/Leipzig 1905, S. 16 f.
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ein Prozeß der Spiegelung, der »reflektierenden« Vermittlung, auf den das Wissen vom Dasein und von der Beschaffenheit des »fremden Individuums« zurückgeht. Nicht dieser Prozeß als solcher hat sich gewandelt; nur das brechende Medium ist ein anderes geworden. Aber ist damit das Ziel, das diese Theorie sich stellt, wirklich erreicht – hat sie dadurch, daß sie den Schwerpunkt von der Logik nach der Ästhetik verschiebt, eine größere »Lebensnähe« gewonnen? Was versichert uns, daß jenes fremde Ich, das wir aus unserem eigenen Sein gewinnen und hinausprojizieren, mehr als ein Luftgebilde, als eine Art von psychologischer Fata Morgana ist? Dieses fremde Ich erscheint, wenn man den Wegen der Theorie folgt, als ein seltsames Zwitterwesen, das sich aus Elementen ganz verschiedener Herkunft und ganz verschiedener erkenntnistheoretischer Dignität zusammensetzt. In erster Linie ist es die sinnliche Empfindung, auf die es sich stützt: Denn den Ansatzpunkt für den Akt der Einfühlung bildet die Wahrnehmung materieller Eigenschaften und Veränderungen, die rein als solche, als »bloß physische« Inhalte, von uns erfaßt werden. Daß die Welt ursprünglich in dieser »bloß physischen« Weise gegeben ist, wird nicht bezweifelt; nur das eine wird betont, daß diese ihre primäre Erscheinung nicht ausreicht, sondern daß ein neues Phänomen, das Phänomen des Lebens und der Beseeltheit, durch einen eigentümlichen Grundakt produziert werden muß. Durch Akte des Mitgefühls und Nachgefühls, durch Akte | der »instinktiven Sympathie« wird die Wirklichkeit aus ihrer anfänglichen mechanischen Starrheit erlöst, wird sie in eine geistig-seelische Wirklichkeit umgewandelt. Und doch: Wenn diese Wandlung lediglich der Einfühlung unseres eigenen Ich in den »Stoff« der bloßen Empfindung verdankt werden soll, so wird eben damit wieder die »Erscheinung« des Lebens zum ästhetischen »Schein« herabgesetzt. Die Welt erscheint, gemäß dieser Grundauffassung, als belebt nur so lange, als sie noch gleichsam eingehüllt ist in das Dämmerlicht der ästhetischen Anschauung – aber vor dem scharfen Strahl der Erkenntnis müßte auch diese Täuschung vergehen. Jetzt müßte sich zeigen, daß uns dort, wo wir das Leben selber zu fassen und zu gewinnen glaubten, nur ein Idol des Lebens zuteil geworden ist. Dieser Konsequenz läßt sich nicht anders entgehen als dadurch, daß man den Circulus vitiosus aufdeckt, in dem sich ebensowohl die Theorie der »Analogieschlüsse« wie die Theorie der Einfühlung bewegt. Beide setzen als reale Tatsache voraus, was selbst erst Ergebnis einer bestimmten theoretischen Interpretation ist: Beide nehmen die Scheidung des Wirklichen, ihre dualistische Trennung in ein »Außen« und »Innen«, in »physisches« und »psychisches« Sein als gegeben hin, ohne nach den Bedingungen der Möglichkeit ebendieser
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Scheidung selber zu fragen. Die phänomenologische Analyse muß hier die Ordnung und die Richtung der Betrachtung umkehren. Statt zu fragen, durch welche Prozesse der logischen Schlußfolgerung oder der ästhetischen Projektion das Physische zum Psychischen wird, muß sie vielmehr die Wahrnehmung bis zu dem Punkte zurückverfolgen, in dem sie statt Dingwahrnehmung reine Ausdruckswahrnehmung und in dem sie daher Inneres und Äußeres in einem ist. Besteht hier überhaupt ein Problem, so ist es nicht das der »Verinnerlichung«, sondern vielmehr das der stetig fortschreitenden »Entäußerung«, durch welche die ursprünglichen Ausdruckscharaktere allmählich in objektive »Merkmale«, in Dingbestimmungen und Dingeigenschaften, übergehen. Diese »Entäußerung« steigert sich in dem Maße, als die Welt des Ausdrucks in eine andere Form übergeht – als sie sich der Welt der »Darstellung« und schließlich der Welt der reinen »Bedeutung« nähert. Solange sie dagegen noch rein in sich selbst verharrt, bleibt sie auch in sich zentriert und in sich unangefochten. Hier ist es nicht notwendig, von den reinen Ausdruckscharakteren erst auf eine Wirklichkeit zu schließen, die sich in ihnen bekundet; sondern sie selbst sind es, die die unmittelbare Farbe der Wirklichkeit an sich tragen. Denn sie allein sind es, die das Bewußtsein in dieser Phase seiner Entwicklung vollständig er | füllen. Noch besteht kein anderer Maßstab des Seins, der objektiven »Gültigkeit«, der ihnen diesen Anspruch strittig machen oder verkümmern könnte. Wo das Leben noch ganz im Phänomen des Ausdrucks verharrt, da befriedigt es sich auch in ihm – da hat es den Gedanken der »Welt« noch in keiner anderen Form konzipiert als derart, daß ihm die Welt zur Gesamtheit möglicher Ausdruckserlebnisse und gleichsam zu ihrer Bühne und ihrem Schauplatz wird. Der Dingbegriff und der Kausalbegriff der theoretischen Erkenntnis schafft freilich, gegenüber diesem anfänglichen Weltaspekt, eine neue Ansicht und eine neue Definition des »Seins«. Wird diese Definition als die alleinige und ausschließende, als die einzig mögliche genommen, so werden durch sie alle Brücken zur reinen Ausdruckswelt abgebrochen. Was zuvor Phänomen war, das wird jetzt zum Problem – und zwar zu einem solchen, dem kein Scharfsinn der Erkenntnis, keine noch so fein gesponnene Theorie völlig zu genügen vermag. Hat sich das Phänomen als solches einmal dem Blick verschlossen, weil die Blickebene, in der es ursprünglich sichtbar war, einem anderen Horizont gewichen ist – so bringt keine Kraft des mittelbaren Schließens es uns wieder zurück. Der Rückweg kann nicht darin bestehen, daß wir die Mittel, über die das theoretische Denken verfügt, häufen und daß wir sie immer feiner und subtiler gestalten – er läßt sich nur dadurch finden, daß wir tiefer
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in das allgemeine Wesen dieses Denkens eindringen und daß wir es, zwar in seinem unanfechtbaren Recht und in seiner Notwendigkeit, zugleich aber in seiner Bedingtheit begreifen lernen. Ist einmal die Richtung klar erfaßt und verstanden, in der dieses Denken fort- und vorwärtsschreitet, so wird sofort ersichtlich, daß und warum in die ser Richtung die Welt des Ausdrucks nicht gesucht und nicht gefunden werden kann. Alle Verstärkung und alle Verfeinerung der Instrumente der reinen Theorie bringt hier nicht weiter, solange nicht die Visierlinie eine andere geworden ist. Der unmittelbare, der schlichte Ausdruckssinn muß vom Sinn der theoretischen Welterkenntnis geschieden werden; er muß erst in integrum restituiert werden, ehe noch der erste Ansatz zu seiner »Erklärung« unternommen werden kann. Es ist das Verdienst Schelers, daß er diesen Weg klar erkannt, daß er die ursprünglichen phänomenologischen Schwächen, die der Einfühlungstheorie nicht minder als der Analogieschlußtheorie anhaften, mit scharfer Kritik aufgedeckt hat. Seine eigene Lehre will sich von der Scylla der einen wie von der Charybdis der anderen fernhalten. Sie versucht nicht, die Gewißheit des »fremden Ich« aus etwas anderem, was ihr vorausliegt, zu »erklären«, noch sie auf dieses andere zu redu | zieren. Vielmehr nimmt sie ebendiese Gewißheit, nimmt sie die »Du-Evidenz«, als ein nicht weiter zurückführbares Datum, mit dem die Betrachtung anheben muß. Der Grundmangel der Theorie der Einfühlung wie der des Analogieschlusses besteht nach Scheler darin, daß in beiden der phänomenologische Standort völlig verlassen ist und ihm ein realistischer supponiert wird – und zwar heimlich supponiert wird. Vor nichts aber habe sich der Philosoph mehr zu hüten als davor, daß er, anstatt darauf hinzusehen, was gegeben ist, darauf hinmerkt, was nach irgendeiner vorausgesetzten realistischen Theorie etwa »›gegeben‹ sein ›kann‹«.32 Das innerhalb einer solchen Theorie »Mögliche« darf nicht zum Maßstab des phänomenal Wirklichen gemacht werden. Diese »Wirklichkeit« beschreibt Schelers »Wahrnehmungstheorie« dahin, daß sie statt aus qualitativ bestimmten und qualitativ differenzierten »Empfindungen« vielmehr aus Ausdruckseinheiten und Ausdrucksganzheiten besteht. Keineswegs lassen sich diese Ganzheiten als die Summe bloßer Farbenqualitäten nebst Sinnen- und Formeinheiten, Bewegungs- und Veränderungsgestalten erklären. Sie bilden vielmehr primär ein ungeschiedenes Ganze, das Vgl. Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie (Die Sinngesetze des emotionalen Lebens, Bd. I), 2., verm. u. durchges. Aufl. der »Phänomenologie der Sympathie«, Bonn 1923, S. 282. 32
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erst dadurch eine verschiedene Gestalt gewinnt, daß es in zwei verschiedenen »Aktrichtungen« erfaßt werden kann. Das Wahrnehmungserlebnis kann – im Akt der sogenannten »äußeren« Wahrnehmung – die Funktion gewinnen, den Körper des Individuums, als einen Gegenstand der »Natur«, der physischen Welt, zu bezeichnen, oder aber es gewinnt die Funktion, im Akte innerer Wahrnehmung ein Ich – es sei das eigene oder ein fremdes – zu symbolisieren. An und für sich steht dieses Erlebnis zunächst weder in der Anschauung einer »Körperwelt« noch in der einer »bloß seelischen« Wirklichkeit. Was in ihm erfaßt wird, ist vielmehr gewissermaßen ein einheitlicher Lebensstrom, der gegenüber der späteren Zerlegung in »Physisches« und »Psychisches« noch ganz neutral ist. Ob dieser neutrale Urgrund weiterhin zur Anschauung eines körperlichen Gegenstandes oder zu der eines lebendigen Subjekts gestaltet wird: dies hängt wesentlich von der Richtung der Gestaltung, von der Form des Schauens als »Auseinanderschau« oder »Ineinanderschau« ab. »So ist erst in diesen verschiedenen Richtungen der Wahrnehmung – und je nach dem Stattfinden der einen oder der anderen – die eine Einheitsbildung derselben Reizfolgen als eine Erscheinung, in der uns der Körper des fremden Individuums zur Wahrnehmung kommt (bzw. als eine Erscheinung, die anschauliche Folge ist von Umwelteindrücken); eine andere Einheitsbildung derselben Reizfolgen | aber als eine Erscheinung, in der uns das Ich des fremden Individuums zur Wahrnehmung kommt bzw. als eine Erscheinung, die anschauliche Ausdrucksfolge ist der Innenwelt, gegeben. Eben darum ist es wesensgesetzlich ausgeschlossen, die Einheit einer ›Ausdruckserscheinung‹ (z. B. ein Lächeln, ein drohendes oder gütiges oder zärtliches ›Blicken‹) jemals in eine noch so große Summe von Erscheinungen zu zerlegen, deren Glieder noch identische Einheiten wären für eine Erscheinungseinheit, in der wir den Körper bzw. eine Eindruckseinheit seitens der physischen Umwelt, wahrnehmen. Gehe ich in der Einstellung der äußeren Wahrnehmung den mir in ihr gegebenen Erscheinungseinheiten nach, die noch zu Ansichten für auch beliebig kleine Teile des Körpers des Individuums werden können, so treffe ich auch bei allen möglichen Verknüpfungen dieser Einheiten niemals die Einheit des ›Lächelns‹ an oder der ›Bitte‹ oder des ›drohenden Gestus‹ […] Und so ist eine Rotqualität, die mir als Belag einer körperlichen Backenoberfläche vor Augen liegt, nie und niemals die Einheit des ›Errötens‹, in dessen Rot eine nachgefühlte Scham gleichsam ›endet‹.«33
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A. a. O., S. 304 ff. [Zitat S. 305 f.].
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Wir gehen auf die nähere Begründung, die Scheler für seine These gibt, hier nicht näher ein; wir begnügen uns vielmehr, aus ihr nur das eine Moment herauszuheben, das genau in der Richtung unserer eigenen Untersuchung und Problemstellung liegt. Es ist charakteristisch, daß Scheler, um den eigentlichen phänomenologischen Unterschied zwischen »innerer« und »äußerer« Wahrnehmung zu bezeichnen, nicht von einer Differenz im Material beider, sondern von einer Verschiedenheit der »symbolischen Funktion« seinen Ausgang nehmen muß. Von neuem bestätigt sich darin unsere Grundanschauung, daß all das, was wir »Wirklichkeit« zu nennen pflegen, niemals allein vom Material her zu bestimmen ist, sondern daß in jede Art der Wirklichkeitssetzung ein bestimmtes Motiv der symbolischen Formung eingeht, das als solches erkannt und von anderen Motiven unterschieden werden muß. Aber noch in einer anderen, spezielleren Hinsicht ist das Ergebnis, zu dem Schelers Untersuchung gelangt, für uns bedeutsam. Denn wieder tritt jetzt in aller Schärfe hervor, daß die »Ausdrucksfunktion« ein echtes Urphänomen ist, das auch im Aufbau des theoretischen Bewußtseins und der theoretischen »Wirklichkeit« sich in seiner Ursprünglichkeit und in seiner unvertauschbaren Eigenheit behauptet. Dächten wir diese Grundfunktion aufgehoben, so wäre uns damit der Zugang zur Welt der »inneren Erfahrung« versperrt – so wäre damit die Brücke abge | brochen, die uns allein in den Bereich des »Du« hinüberführen kann. Der Versuch, die primäre Funktion des Ausdrucks durch andere, »höhere« Funktionen zu ersetzen – mag es sich dabei nun um intellektuelle oder um ästhetische Funktionen handeln –: Dieser Versuch führt überall nur zu unvollkommenen Surrogaten, die das, was von ihnen verlangt wird, nie und nimmer leisten können. Solche »höheren« Funktionen können nur wirksam werden, sofern sie die Urschicht des Ausdruckserlebnisses in seiner schlechthin originären und originalen Form bereits voraussetzen.34 Sicherlich wird diese 34 »Es ist […] gar nicht zu sagen«, so bemerkt Scheler mit Recht gegen die »Einfühlungstheorie«, »auf welches Datum hin der Prozeß der ›Einfühlung‹ des eigenen Ich stattfinden soll. Genügen dazu etwa irgendwelche optische Wahrnehmungsinhalte? Sicher nicht, da wir ja nicht in ganz beliebige optische Inhalte ›einfühlen‹. Man sagt, optische Inhalte von ›Ausdrucksbewegungen‹ oder zum mindesten von Verhaltungsweisen irgendwelcher belebter Wesen seien nötig. Aber diese Antwort fördert die Sache nicht. Daß die optischen Bilder irgendwelcher Bewegungen Bilder von Ausdrucksbewegungen sind, das ist eine Einsicht, welche die Kenntnis des Bestandes eines fremden beseelten Etwas eben bereits voraussetzt. Ihre Auffassung als ›Ausdruck‹ ist nicht der Grund, sondern die Folge dieser Annahme.« (A. a. O., S. 278).
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Schicht, sobald wir von der mythischen Welt zur ästhetischen, von der ästhetischen Welt zu der der theoretischen Erkenntnis fortgehen, sehr erheblich modifiziert und umgestaltet: Aber sie wird hierbei nicht schlechthin abgetragen. Mehr und mehr wird, im Fortgang der theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnis, der reinen Ausdrucksfunktion an Boden abgewonnen – wird das reine »Bild« des Lebens in die Form des dinglichen Daseins und dinglich-kausaler Zusammenhänge umgesetzt. Aber ganz kann sie niemals in diese Form eingehen noch in ihr untergehen – denn täte sie es, so wäre damit nicht nur die mythische Dämonen- und Götterwelt versunken, sondern es wäre damit auch das Grundphänomen des »Lebendigen überhaupt« erloschen. So zeigt sich uns, daß jenes Grundmotiv des Bewußtseins, das wir als das eigentliche Organon der mythischen Welt erkannt haben, auch im Aufbau der Erfahrungswirklichkeit an einem entscheidenden Punkte eingreift. Daß wir diese Wirklichkeit als eine doppelte, als eine »äußere« und »innere«, als eine »physische« und »psychische« zu kennen und zu erfassen glauben, dies beruht nicht darauf, daß wir in den Bestand der Dingwelt seelisches Sein und Geschehen in irgendeiner Weise nachträglich »einlegen«. Es ist vielmehr die ursprünglich allein gegebene Sphäre des Lebens, die sich in sich selbst unterscheidet und die sich, vermöge dieser Unterscheidung, mehr und mehr einschränkt. Kraft dieses Prozesses ordnet sich die Welt der Gegenstände, die Welt | der »Natur« und der »Naturgesetze«, den Lebenserscheinungen zu, ohne daß sie doch, in dieser Zuordnung, diese Erscheinungen jemals ganz in sich aufzusaugen und sie damit zu beseitigen vermöchte. Der Weg der »subjektiven« wie der der »objektiven« Analyse führt daher hier zu ein und demselben Ziel. Scheler ist im wesentlichen den ersten Weg gegangen: Er hat, als Phänomenologe, den Gehalt des Ichbewußtseins wie den des »Fremdbewußtseins« herauszuarbeiten gesucht. Dabei nimmt er das Bewußtsein in seiner völlig entwickelten Form: Er geht vom Weltbild der »äußeren« und »inneren« Erfahrung aus, um nur gelegentlich einen Blick rückwärts zu tun und »primitivere« Bewußtseinsgestaltungen in den Kreis der Betrachtung einzubeziehen. Wir hingegen mußten, gemäß unserer allgemeinen Problemstellung, die umgekehrte Richtung einschlagen. Wir mußten mit der Charakteristik der mythischen Welt, als eines Gebildes des »objektiven Geistes«, beginnen, um auf dem Wege der »Rekonstruktion« die Bewußtseinsschicht zu erreichen, die diesem Gebilde entspricht. Erst dadurch, daß die Ergebnisse beider Betrachtungsweisen sich wechselseitig erhellen und wechselseitig bestätigen, wird der doppelte Blickpunkt gewonnen, in welchem sich die Tiefen-
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dimension des reinen Ausdruckserlebnisses für uns aufschließt. Es bleibt, vom Standpunkt der rein psychologischen Betrachtung aus, immer eine Art von Paradoxie, wenn Scheler die These verficht, daß das Fremdbewußtsein früher als das Ichbewußtsein ist, daß die Wahrnehmung des Du der des Ich voraufgeht. Denn sobald wir uns der Introspektion, der Methode der psychologischen »Selbstbeobachtung« überlassen und uns ihr allein anvertrauen, scheint alles, was in ihr und durch sie erfaßt wird, auch schon eingespannt zu sein in den Kreis des eigenen Selbst. Immer scheint hier das Ich in irgendeiner Weise »vorgegeben« sein zu müssen, ehe sich ihm eine Welt – mag es nun die der äußeren Gegenstände oder die der fremden Subjekte sein – erschließen kann. Anders dagegen stellt sich der Sachverhalt dar, wenn man von der Betrachtung der symbolischen Formen, und insbesondere von der Betrachtung des Mythos, herkommt. Denn nichts ist vielleicht so bezeichnend für das mythische Weltbild als der Umstand, daß innerhalb desselben das Wissen vom »eigenen Ich«, von einem streng individuellen »Selbst«, sofern es überhaupt vorhanden ist, nicht sowohl am Anfang als vielmehr am Ende steht. Die Voraussetzung, die die Erkenntnistheorie des »psychologischen Idealismus« so oft als an sich evident hingestellt hat – die Annahme, daß ursprünglich nur die eigenen Bewußtseinszustände gegeben sein können und daß von ihnen aus erst durch einen | Schluß die Wirklichkeit anderer Erlebniswelten und die Wirklichkeit einer körperlichen Natur gewonnen werden könne – sie erweist sich sofort als durchaus problematisch, wenn man auf die Struktur der mythischen Phänomene hinblickt. Hier ist das Ich in sich selbst nur, sofern es zugleich in seinem Gegenüber ist und sich auf dies Gegenüber, auf ein »Du« bezieht. Sofern es von sich weiß, weiß es sich nur als Bezugspunkt in dieser Grund- und Urrelation. Anders als in dieser Weise des Gerichtetseins, der Intention auf andere Lebenszentren, besitzt das Ich hier nirgends sich selbst. Ist es doch keine dingliche Substanz, die allenfalls isoliert, in völliger Abtrennung von allen übrigen Dingen im Raume, als existierend gedacht werden könnte, sondern gewinnt es doch seinen Inhalt, sein Für-sich-Sein, erst dadurch, daß es sich mit anderen in einer Welt weiß und sich, innerhalb dieser Einheit, von anderen unterscheidet. »Nicht so […] verhält es sich«, so betont Scheler, »daß wir aus einem ›zunächst‹ gegebenen Material ›unserer‹ Eigenerlebnisse uns Bilder der fremden Erlebnisse aufzubauen hätten, um diese Erlebnisse dann […] in die körperlichen Erscheinungen der Anderen einzulegen; sondern ein in Hinsicht auf Ich-Du indifferenter Strom der Erlebnisse fließt ›zunächst‹ dahin, der faktisch Eigenes und Fremdes ungeschieden und ineinandergemischt enthält; und in
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diesem Strome bilden sich erst allmählich fester gestaltete Wirbel, die langsam immer neue Elemente des Stromes in ihre Kreise ziehen und in diesem Prozesse sukzessive und sehr allmählich verschiedenen Individuen zugeordnet werden.«35 Die Vertiefung in die Form des mythischen »Ichbewußtseins« hat uns überall die markantesten Beispiele und Belege für diesen Prozeß gegeben. Hier können wir in das Werden der einzelnen festeren Wirbel, die sich allmählich aus dem Kontinuum des Lebensstromes herauslösen, noch einen unmittelbaren Einblick tun. Wir können verfolgen, wie sich aus dem Ganzen des Lebens, aus seiner undifferenzierten Gesamtheit, die mit der Menschenwelt auch die Tier- und Pflanzenwelt enthält, ein »eigenes« Sein und eine eigene Form des Menschlichen nur ganz langsam emporhebt und abhebt – und wie sodann, innerhalb dieses Seins, die »Wirklichkeit« der Gattung und der Art der des Individuums durchaus vorangeht. An solchen Gestaltungen des Kulturbewußtseins und an dem Gesetz der Abfolge, das in ihnen sichtbar wird, lernen wir auch die Grundzüge des Individualbewußtseins erst schärfer erfassen und verstehen. Wieder erscheint hier vieles, was in der Betrachtung der Einzelseele nur schwer erkennbar und deutbar ist, gemäß dem Worte Platons, | wie »in großer Schrift geschrieben«.36 An den großen Schöpfungen des Kulturbewußtseins wird auch das »Werden zum Ich« erst eigentlich lesbar. Denn der Mensch reift zum Bewußtsein seines Ich erst in seinen geistigen Taten heran; er besitzt sein Selbst erst, indem er, statt in der fließend immer gleichen Reihe der Erlebnisse zu verharren, diese Reihe abteilt und sie gestaltet. Und nur in diesem Bilde der gestalteten Erlebniswirklichkeit findet er sodann sich selbst als »Subjekt«, als monadischen Mittelpunkt des vielgestaltigen Daseins wieder. Im Mythos läßt sich noch Schritt für Schritt dieser Akt der Innenwendung und Innewerdung verfolgen. Die primäre Art der mythischen »Gegebenheit« besteht darin, daß der Mensch zwischen den mannigfachen Eindrücken von außen, deren jeder einen bestimmten magisch-mythischen Charakter trägt, gleichsam geteilt und daß er zwischen ihnen hin und her gerissen wird. Jeder von ihnen nimmt mit seinem Dasein das Ganze des menschlichen Bewußtseins in Anspruch und schlägt es in seinen Bann; jeder prägt ihm seine eigene Farbe und Stimmung auf. Dieser Prägung hat das Ich zunächst A. a. O., S. 284. [Platon, Politeia 368 D: »[…] πειτ τις 1νεν ησεν, "τι τ2 ατ2 γCµµατα στι που κα$ ,λλοι µεζω τε κα$ 1ν µεζονι […]«. Die Zitation erfolgt nach: Opera omnia uno volumine comprehensa, hrsg. v. Gottfried Stallbaum, Leipzig/ London 1899.] 35 36
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nichts entgegenzusetzen, noch vermag es sie abzuändern; es kann sie nur hinnehmen und sich ihr, in diesem Akt der Hinnahme, gefangengeben. So wird es zum Spielball zwischen all den Ausdrucksmomenten, die sich ihm an bestimmten Einzelerscheinungen darbieten und die es, plötzlich und ohne Widerstand, überfallen. Ohne feste Ordnung und ohne Übergang folgen diese Momente einander; unberechenbar wechseln die einzelnen Gebilde ihr mythisches »Antlitz«. Unvermittelt kann der Eindruck des Heimischen, des Vertrauten, des Schirmenden und Schützenden in sein Gegenteil, in das Unzugängliche, das Ängstigende, Dumpf-Grausige übergehen.37 Die Wirklichkeit ist – wie insbesondere Usener in seiner Unterscheidung von »Augenblicksgöttern« und »Sondergöttern« gezeigt hat – lange zuvor in diesem ganz unbestimmten Sinn »dämonisch«, ehe sie zu einem Reich bestimmt voreinander abgegrenzter, mit persönlichen Eigenschaften und Kennzeichen ausgestatteter »Dämonen« wird.38 Dies geschieht, indem sich das Wirrsal der verschiedenartigen, einander | in buntem Wechsel folgenden Eindrücke allmählich löst und sich zu Gestalten verdichtet, deren jede je eine bestimmte Wesenheit an sich trägt. Aus den wie aus dem Nichts auftauchenden und wieder ins Nichts zergehenden mythischen Elementarerlebnissen hebt sich erst jetzt etwas wie die Einheit eines Charakters heraus. Die reinen Ausdrucksphänomene als solche bewahren auch jetzt noch ihre alte Stärke; aber sie treten zueinander in eine neue Beziehung, sie schließen sich enger miteinander zusammen und verwachsen zu Gebilden höherer Ordnung. Der Ausdruck wird nicht nur erlebt, sondern er wird gleichsam charakterologisch gewertet. Es sind bestimmte, relativ gleichbleibende physiognomische Züge, an denen der Dämon oder Gott erkannt und von anderen unterschieden wird. Und was der Mythos in dieser Richtung beginnt, das wird durch die Sprache und durch die Kunst vollendet: Denn die volle Individualität erwächst dem Gotte erst im Götternamen und im Götterbild. So ist die 37 Als Illustration mag hier ein einzelnes Beispiel stehen, das ich der Schrift von Jakob Spieth über »Die Religion der Eweer in Süd-Togo« (Leipzig 1911 [Religions-Urkunden der Völker, Abt. 4, Bd. 2], S. 7) entnehme. »Bei Ankunft der ersten Ansiedler von An·lo- soll ein Mann im Busche vor einem großen dicken Affenbrotbaum gestanden haben. Beim Anblick dieses Baumes erschrak er. Er ging deswegen zu einem Priester, um sich diesen Vorgang deuten zu lassen. Er bekam zur Antwort, daß jener Affenbrotbaum ein trõ- sei, der bei ihm wohnen und von ihm verehrt sein wolle. Die Angst war also das Merkmal, an dem jener Mann erkannte, daß sich ihm ein trõ- geoffenbart habe.« 38 Näheres s. in meiner Schrift »Sprache und Mythos«, bes. S. 18 ff. [s. ECW 16] sowie »Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil«, S. 246 ff. [ECW 12, S. 235 ff.].
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Anschauung seiner selbst, als eines bestimmten, klar begrenzten Einzelwesens nicht der Ausgangspunkt, von welchem aus sich der Mensch fortschreitend seine Gesamtansicht der Wirklichkeit aufbaut: Sondern diese Anschauung selbst ist erst das Ende, ist erst die reife Frucht eines Schaffensprozesses, in dem all die verschiedenen Grundenergien des Geistes sich betätigen und in dem sie wechselseitig ineinander eingreifen. |
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kapitel iii. Die Ausdrucksfunktion und das Leib-Seelen-Problem In dem reinen Phänomen des Ausdrucks, in der Tatsache, daß eine bestimmte Erscheinung in ihrer einfachen »Gegebenheit« und Sichtbarkeit sich zugleich als ein innerlich Beseeltes zu erkennen gibt, stellt sich uns die Art, wie das Bewußtsein, rein in sich selbst verbleibend, zugleich eine andere Wirklichkeit erfaßt, zuerst und unmittelbar dar. Woher diese Tatsache selbst stammt und wie sie zu erklären ist: diese Frage kann hier nicht mehr gestellt werden; denn ihre Lösung müßte sich notwendig in einem Zirkel bewegen. Wie ließe sich auch das schlichte Ausdrucksphänomen aus etwas ihm selber Transzendentem begreifen und ableiten, da es doch vielmehr das Vehikel ist, das uns zu jeglicher Art von »Transzendenz«, von Realitätsbewußtsein erst hinleitet? Die skeptische Bestreitung dieses ursprünglichen »Symbolcharakters« der Wahrnehmung würde somit all unser Wissen von Wirklichkeit an der Wurzel abschneiden – aber andererseits versagt freilich auch jeder dogmatische Versuch, ihn selbst noch zu begründen. Hier stehen wir vielmehr an einem Punkte, an welchem, gemäß dem Worte Goethes, der »eingeborenste« und notwendigste Begriff, der Begriff von Ursache und Wirkung, uns in die Irre zu führen und uns zum Verhängnis zu werden droht:39 Denn alle Anwendung der Kategorie der Kausalität auf die reine Ausdrucksfunktion vermag sie nicht zu erklären, sondern nur zu verdunkeln, weil sie ihr den Charakter eines echten »Urphänomens« raubt. Aber liegt nicht vielleicht dieselbe Gefahr der Verdunklung vor, wenn wir dieses Phänomen, statt es rein für sich zu betrachten und es für sich stehen und bestehen zu lassen, mit anderen zusammennehmen – wenn wir es als Spezies einer Gattung denken? Können wir im »Aus | druck« eine besondere Art und Richtung des »Symbolischen« sehen, ohne damit seine Besonderheit, seine unvertauschbare Eigenart zu verkennen? Heißt nicht diese seine Einordnung ihn mit einer Problematik belasten, der er von sich selbst aus völlig entrückt, der er glücklich enthoben ist? Denn ebendies ist ja sein eigentümliches Vorrecht, daß er die Differenz von »Bild« und »Sache«, von »Zeichen« und »Bezeichnetem« nicht kennt. In ihm besteht keine Trennung zwischen dem, was eine Erscheinung als »bloß sinnliches« Dasein ist, und einem davon verschiedenen geistig-seelischen Gehalt, den sie mittel39 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Über Naturwissenschaft im Allgemeinen, einzelne Betrachtungen und Aphorismen, in: Werke, 2. Abt., Bd. XI, Weimar 1893, S. 103–163: S. 103.
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bar zu erkennen gibt. Er ist seinem eigentlichen Wesen nach Äußerung – und doch sind und bleiben wir mit dieser Äußerung Ort für Ort im Innern. Hier gibt es weder Kern noch Schale; kein »erstes« und »zweites«, kein »eines« und »anderes«. Definiert man somit den Begriff des »Symbolischen« derart, daß man ihn auf jene Fälle beschränkt, in denen ebendiese Unterscheidung zwischen dem »bloßen« Bild und der »Sache selbst« klar hervortritt und in denen sie als solche mit Nachdruck erfaßt und herausgearbeitet wird – so besteht kein Zweifel, daß wir uns hier in einer Region befinden, auf welche dieser Begriff noch keine Anwendung finden kann. Wir dagegen haben dem Symbolbegriff von Anfang an eine andere und weitere Bedeutung gegeben. Wir versuchten mit ihm das Ganze jener Phänomene zu umfassen, in denen überhaupt eine wie immer geartete »Sinnerfüllung« des Sinnlichen sich darstellt – in denen ein Sinnliches, in der Art seines Daseins und Soseins, sich zugleich als Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation eines Sinnes darstellt. Hierzu bedarf es nicht, daß beide Momente als solche schon scharf auseinandergetreten sind, daß sie in ihrer Andersheit und Gegensätzlichkeit gewußt werden. Diese Form des Wissens bezeichnet nicht den Anfang, sondern erst das Ende der Entwicklung. Die Doppelheit beider Momente ist zwar in jeder noch so primitiven Erscheinung des Bewußtseins angelegt; aber diese Potenz ist keineswegs von Anfang an zur Aktualität entfaltet. So weit wir in den Gestaltungen des sinnlich-geistigen Bewußtseins auch hinabgehen mögen – niemals treffen wir dieses Bewußtsein als ein schlechthin Gegensatzloses, als ein absolut Einfaches, vor allen Scheidungen und Unterscheidungen, an. Immer erscheint es als ein Lebendiges, das sich in sich selber trennt, als ein 4ν διαφεC µενον 5αυτ63. Aber wenn diese Differenz besteht, so ist sie doch damit noch nicht als solche gesetzt; vielmehr erfolgt diese Setzung erst, sofern das Bewußtsein aus der Unmittelbarkeit des Lebens in die Form des Geistes | und in die des spontanen geistigen Schaffens übergeht. Erst dieser Übergang läßt alle jene Spannungen, die als solche schon dem einfachen Bestand des Bewußtseins angehören, zur Entfaltung kommen: Was zuvor, ungeachtet aller inneren Gegensätzlichkeit, eine konkrete Einheit war, das beginnt jetzt auseinanderzutreten und sich in analytischer Sonderung »auszulegen«. Das reine Ausdrucksphänomen kennt noch keine derartige Form der Entzweiung. In ihm ist eine Weise, ein Modus des »Verstehens« gegeben, der nicht an die Bedingung der begrifflichen Interpretation geknüpft ist: Die einfache Darlegung des Phänomens ist zugleich seine Auslegung, und zwar die einzige, deren es fähig und bedürftig ist.
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Aber diese Einheit und Einfachheit, diese Selbstverständlichkeit schwindet sofort und macht einer höchst komplexen Problematik Platz, sobald die rein theoretische Weltbetrachtung, sobald die Philosophie sich dem Ausdrucksphänomen zuwendet und es vor ihre Gerichtsbarkeit fordert. Denn jetzt wird die Verschiedenheit der Momente, die es in sich birgt, zu einer Verschiedenheit im Ur sprung gesteigert. Die phänomenologische Frage wandelt sich in eine ontologische; die Hingabe an das, was der Ausdruck als seinen »Sinn« kundgibt, wird verdrängt durch die Frage nach dem Sein, das ihm zugrunde liegt. Dieses Sein kann nicht als einfaches gedacht werden; es stellt sich vielmehr als eine Verbindung zweier heterogener Bestandstücke dar. »Physisches« und »Psychisches«, »Seele« und »Leib« sind in ihm verknüpft und aufeinander bezogen. Wie aber wäre eine solche »Verknüpfung« zwischen zwei Polen möglich, deren jeder einer anderen Welt entstammt und angehört? Wie kann in der Erfahrung zusammenstehen und zusammenbestehen, was doch im metaphysischen Wesen der Dinge selbst schlechthin gegensätzlich zu sein scheint? Das Band, das seelisches und leibliches Dasein in der Erscheinung des Ausdrucks umschlingt, zerreißt daher in dem Augenblick, in dem man von der Ebene der Erscheinung in die des wahren Seins, in die Ebene der metaphysischen Erkenntnis übertritt. Zwischen dem, was der Körper, und dem, was die Seele als metaphysische Substanz ist, gibt es keine mögliche Vermittlung. Es ist überall das Bestreben der Ontologie, das schon in ihrer ursprünglichen Fragestellung begründet ist, alle Sinnprobleme in reine Seinsprobleme umzusetzen. Das Sein ist das Fundament, in dem aller Sinn zuletzt in irgendeiner Weise befestigt werden soll. Keine rein symbolische Beziehung gilt als erkannt und als gesichert, solange es nicht gelungen ist, ihr »fundamentum in re« aufzuweisen, d. h., solange das, was sie | in sich selbst bedeutet, nicht auf irgendeine reale Bestimmung zurückgeführt und in ihr gegründet wird. Und hier sind es vor allem zwei Bestimmungen, die die gesamte Problematik der Metaphysik beherrschen: der Dingbegriff und der Kausalbegriff. In die Dingkategorie und in die Kategorie der Ursächlichkeit münden zuletzt alle anderen Beziehungen ein – und von ihnen werden sie förmlich aufgesogen. Was sich nicht direkt als ein Verhältnis von »Dingen« und »Eigenschaften«, von »Ursachen« und »Wirkungen« gibt oder sich durch theoretische Denkarbeit in ein solches Verhältnis umdenken läßt, das bleibt letzten Endes unverstanden – und diese Unmöglichkeit des Verstehens macht auch seinen Bestand verdächtig und droht ihn in wesenlosen Schein, in ein Trugbild der Sinne oder der Einbildungskraft aufzulösen.
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Nirgends tritt dieser allgemeine Sachverhalt deutlicher zutage als an dem Schicksal, das das Leib-Seelen-Problem erfährt, sobald es sich endgültig vom Boden der »Erfahrung« löst und in die Sphäre des metaphysischen Denkens übertritt. Was bei diesem Übertritt von ihm vor allem verlangt wird, ist dies, daß es gewissermaßen zuvor seine eigene Sprache verlernt. Die Sprache der reinen Ausdrucksfunktion gilt erst dann als sinnvoll und verständlich, wenn es gelingt, sie in die Sprache der substantiellen metaphysischen Weltansicht, in die Sprache der Substanzbegriffe und Kausalbegriffe, zu übersetzen. Aber alle Mühe, die auf diese Übertragung verwandt wird, erweist sich zuletzt als unzulänglich. Immer bleibt hier ein dunkler Rest übrig, der aller metaphysischen Denkarbeit zu spotten scheint. Die gesamte Arbeit der Metaphysik seit Aristoteles hat diesen Rest nicht völlig zu bewältigen, hat die »Irrationalität« des Leib-Seelen-Verhältnisses nicht prinzipiell zu beseitigen vermocht. Trotz allen Anstrengungen der großen klassischen Systeme der neueren Zeit, trotz allen Versuchen, die der »Rationalismus« bei Descartes und Malebranche, bei Leibniz und Spinoza unternommen hat, um dieses Problem in seinen Kreis zu ziehen und es seiner Herrschaft zu unterwerfen, scheint es noch immer auf seinem Standort zu beharren – scheint es seinen seltsamen und paradoxen »Eigensinn« nicht aufgegeben zu haben. Der moderne Metaphysiker gerät daher hier, sofern er zugleich Phänomenologe sein will, sofort in ein schwieriges Dilemma. Auch ihm gelingt es nicht, das Problem völlig in die Sphäre der metaphysischen Seins- und Wesenserkenntnis hinüberzuziehen und es mit ihrem Lichte zu durchdringen. Aber auf der anderen Seite kann er sich nicht verhehlen, daß diese Undurchdringlichkeit keineswegs schlechthin einer ursprünglichen Dunkelheit des Pro | blems selber zuzurechnen ist. Erst der Wechsel der Beleuchtung, der Wechsel zwischen dem Erfahrungsaspekt und dem metaphysischen Aspekt, schafft jenes merkwürdige Zwielicht und Dämmerlicht, in welchem das Leib-Seelen-Problem in der Geschichte der Metaphysik von jeher gestanden hat. Es ist ein wesentliches Verdienst der Metaphysik Nicolai Hartmanns, daß sie mit der ihr eigenen Schärfe und Strenge des Denkens diese Problemlage erfaßt und daß sie sie unerbittlich und rückhaltlos bekannt hat.40 Hartmanns »Metaphysik der Erkenntnis« unternimmt nicht mehr, gleich den älte40 Für die folgenden Bemerkungen zu Nicolai Hartmanns Metaphysik verweise ich als Ergänzung auf die ausführlicheren Darlegungen in meinem Aufsatz: »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie«, in: Jahrbücher der Philosophie. Eine kritische Übersicht der Philosophie der Gegenwart 3 (1927), S. 31–92: S. 79 ff. [s. ECW 17].
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ren metaphysischen Systemen, den Versuch, das Zwielicht zu zerstreuen: Sie ist lediglich bemüht, es aufzuweisen. Hartmann sucht nicht mehr die Lösung der metaphysischen Rätsel um jeden Preis, sondern er begnügt sich mit ihrer klaren und vollständigen Aufstellung. So wird ihm die »Aporetik« zum wesentlichen Bestandteil der Metaphysik. Was die Leib-Seelen-Frage betrifft, so scheint freilich, wenn man lediglich den unmittelbaren phänomenologischen »Befund« ins Auge faßt, für eine solche Aporetik zunächst kein Raum zu bestehen. Hartmann selbst geht davon aus, daß die Einheit von Leib und Seele im Wesen des Menschen vorliegt und daher keineswegs erst erschlossen zu werden brauche. Diese Einheit ist und besteht, solange sie nicht künstlich auseinandergerissen wird. Aber ebendiese durchaus künstliche Trennung ist es, der sich all die traditionellen metaphysischen Theorien, die eine Erklärung des Verhältnisses von Leib und Seele zu geben beanspruchen, schuldig gemacht haben. Weder die Wechselwirkungstheorie noch die Theorie des psychophysischen Parallelismus wird ihrer Aufgabe gerecht: Statt das phänomenal Gegebene zu beschreiben oder es allenfalls zu umschreiben, ersetzen sie es durch einen Sachverhalt ganz anderer Art. Aber auch für Hartmann selbst bricht nun die Einheit, die sich von seiten der Phänomene als fraglos und sicher darstellt, in dem Augenblick zusammen, in dem wir versuchen, sie gedanklich zu klären und zu erklären. Rein erlebnismäßig, rein vom Standpunkt des Bewußtseins aus gesehen, ist es sicher, daß wir weder die Seele ohne den Leib noch den Leib ohne die Seele kennen. Aber diese Einheit der Kenntnis besagt andererseits noch keineswegs eine solche der Erkenntnis. Sosehr das unmittelbare Wissen uns »Physisches« und »Psychisches« nicht nur miteinander verbunden, sondern un | löslich aneinandergeknüpft zeigt, so gelingt es doch nicht, dies tatsächliche Band in ein begriffliches und in ein im Sinne des Begriffs notwendiges Band zu verwandeln. »Wie ein Prozeß als Körpervorgang beginnen und als seelischer Vorgang endigen kann […] ist schlechterdings unbegreifbar. Man versteht wohl in abstracto, daß dem so sein kann, aber nicht in concreto, wie es sein kann. Hier ist eine absolute Grenze der Erkennbarkeit, an der alle kategorialen Begriffe versagen, sowohl die physiologischen als psychologischen. Eine ›psychophysische Kausalität‹ anzunehmen, welche direkt über die Problemscheide hinüber und herüber walten sollte, war eine naturalistische Naivität. Ja es ist sogar sehr fraglich, ob die beiden uns bekannten Gebiete, das Physiologische und das Psychologische, überhaupt aneinander schließen, ob sie sich wirklich in einer gemeinsamen, gleichsam linearen Grenze berühren, oder ob sie nicht vielmehr weit auseinanderklaffen und ein ganzes Gebiet zwischen sich haben, das dann eben
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ein drittes, irrationales zwischen ihnen wäre. […] Denn da die Einheit ontologisch nicht zu leugnen, aber weder physiologisch noch psychologisch zu erfassen ist, so wird sie wohl als eine rein ontische, von allem Erfaßtwerden unabhängige aufzufassen sein, als eine solche, die zugleich metaphysisch und metapsychisch ist, kurz als eine irrationale Tiefenschicht des psychophysischen Wesens. […] Das einheitliche Wesen des psychophysischen Prozesses liegt dann in dieser ontologischen Tiefenschicht; er ist ein ontisch realer, irrationaler Prozeß, der an sich weder physisch noch psychisch ist, sondern in beiden nur seine dem Bewußtsein zugekehrten Oberflächenschichten hat.«41 In diesen Sätzen Hartmanns tritt in vorbildlicher Prägnanz und Deutlichkeit die charakteristische Schlußweise zutage, durch welche das allgemeine Verhältnis der Metaphysik zum Leib-Seelen-Problem bestimmt wird. Wenn sich zeigt, daß die Einheit des Leib-SeelenZusammenhangs, die als Phänomen nicht geleugnet werden kann, in den Begriffen der Metaphysik stets nur eine unvollkommene, ja eine in sich widerspruchsvolle Darstellung finden kann, so wird hieraus nicht auf einen Mangel in den Begriffen, sondern es wird auf eine Irrationalität im Sein geschlossen. Nicht dem metaphysischen Denken wird es zur Last gelegt, daß es die Einheit des Phänomens zerbricht und sie in disparate Elemente auflöst; sondern die Unverständlichkeit und der Widerstreit wird in den Kern der Wirklichkeit selbst verlegt. Im Sein selbst klafft ein »hiatus irrationalis«, der sich durch keine Anstrengung des Denkens schließen | läßt. Nur ein Weg scheint noch zurückzubleiben, um die Kluft zu überbrücken, die das Wesen des Psychischen von dem des Physischen scheidet. Wenn beide, solange sie lediglich im Kreise des empirisch bekannten und zugänglichen Daseins stehenbleiben, einander heterogen bleiben müssen, so besteht doch nichtsdestoweniger die Möglichkeit, daß das für uns schlechthin Ungleichartige insofern in eine innere Beziehung gesetzt werden kann, als es einem gemeinsamen Grunde entstammt. Dieser kann alsdann freilich nicht mehr im Gebiet des Erfahrbaren, sondern er muß in einem transzendenten Bereich gesucht werden – und darin liegt zugleich, daß er nicht mehr im eigentlichen Sinne erkannt, sondern nur noch vermutet und allenfalls hypothetisch gesetzt werden kann. »Die Parallelität seelischer und leiblicher Erscheinungen«, so folgert Hartmann demgemäß, »wäre hiernach die notwendige Folgeerscheinung einer gemeinsamen Wurzel. Die einheitlichen, ontisch 41 Nicolai Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, Berlin/ Leipzig 1921, S. 322 f.
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realen Prozesse, um die es sich […] letzterdings handeln muß, beginnen oder endigen weder im Physischen noch im Psychischen, sondern in jenem realen Dritten, von dem es kein unmittelbares Bewußtsein gibt; es sind nur verschiedene Glieder oder Teile dieser realen Prozesse, die als physischer oder psychischer Vorgang in die Erscheinung treten.«42 Man ersieht hieraus, daß die Antwort, die die moderne Metaphysik auf die Frage nach dem Zusammenhang von Leib und Seele gibt, sich zwar in ihrem Inhalt, nicht aber in ihrem allgemeinen begrifflichen Typus von der der älteren Systeme unterscheidet. Der Urgrund, in dem die Aufhebung der Gegensätze gesucht wird, wird nicht mehr, wie im Okkasionalismus, wie in der Spinozistischen Identitätsphilosophie oder in Leibniz’ System der prästabilierten Harmonie, als göttlicher Urgrund bestimmt; aber die Funktion, die er zu erfüllen hat, das empirisch Unvereinbare in seiner Einheit zu verknüpfen und in der Sphäre des absoluten Seins die »coincidentia oppositorum« zu vollziehen: diese Funktion ist unverändert geblieben. Aber damit ist freilich das Problem nicht gelöst, sondern verschoben. Denn die Frage nach der Art des Zusammenhangs zwischen Leib und Seele wird uns von der Erscheinung aus gestellt, die uns beide niemals getrennt, sondern immer nur in ihrer Wechselbeziehung kennen lehrt. Diese Frage wird nicht beantwortet, wenn man, statt die Einheit des Phänomens zu erklären, vielmehr auf die des unerkennbaren transzendenten Urgrunds rekurriert. Was in jedem schlichten Ausdrucksphänomen erlebt wird, ist eine unlösliche Korrelation, eine durchaus konkrete Synthese von Leiblichem und Seelischem – dieses konkrete | Erlebnis aber kann nicht dadurch »erklärt« und nicht dadurch verstanden werden, daß man auf jenes »Caput mortuum der Abstraktion«, wie Hegel es genannt hat,43 auf das Ding an sich als die letzte gemeinsame Wurzel alles empirisch Verschiedenen und Geschiedenen zurückgreift. Die Aufgabe war von der Erfahrung selbst gestellt, das Problem war in ihrem eigenen Schoße erwachsen; so muß denn auch erwartet und gefordert werden, daß es mit ihren eigenen Mitteln bewältigt wird. Der Sprung ins Metaphysische kann hier nicht weiterhelfen: Denn die Leib-Seelen-Frage ist, wenn irgendeine, eine solche, die schon dem »natürlichen Weltbild« angehört und die innerhalb seiner Grenzen, innerhalb seines theoretischen Horizonts mit Notwendigkeit entsteht. A. a. O., S. 323 f. [S. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Erster Theil: Die Logik, hrsg. v. Leopold von Henning (Werke, Bd. VI), Berlin 1840, S. 95.] 42 43
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Um sie hier in ihrer ursprünglichen und genuinen Fassung zu erkennen, gilt es freilich, diesen Horizont selbst in seiner ganzen Weite und in der Mannigfaltigkeit seiner möglichen Aspekte zu nehmen. Diese Weite wird willkürlich eingeengt, diese Mannigfaltigkeit wird verkümmert, wenn man als die einzige oder als die eigentlich konstitutive Kategorie für alles empirische Dasein und Geschehen die Kategorie der Kausalität ansetzt. Vom Standpunkt der theoretischen Naturwissenschaft erscheint freilich dieser Ansatz gerechtfertigt: Denn für sie bedeutet die Natur zuletzt nichts anderes als »das Dasein der Dinge, […] sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist«.44 Und doch ist diese Ordnung und Bestimmung nach Gesetzen, durch die erst der »Gegenstand« der Naturerkenntnis sich konstituiert, keineswegs die einzige Form der empirischen Bestimmbarkeit. Nicht jeder empirische »Nexus« läßt sich, mittelbar oder unmittelbar, in einen Kausalnexus auflösen; vielmehr gibt es gewisse Grundgestalten der Verknüpfung, die nur dann verstanden werden können, wenn man der Versuchung einer derartigen Auflösung widersteht, wenn man sie als Gebilde sui generis bestehen und gelten läßt. Und eben als der Prototyp einer solchen Verknüpfung stellt sich uns der Zusammenhang zwischen »Leib« und »Seele« ursprünglich dar. Was die Metaphysik betrifft, so hat sie im Verlauf ihrer Geschichte immer deutlicher erkennen müssen, daß sich dieser Zusammenhang dem Schema des kausalen Denkens keineswegs ohne weiteres einfügen läßt, ja daß die Anwendung ebendieses Schemas zum Ausgangspunkt und zum Grund einer Fülle von Aporien und Antinomien wird. Aber sie hat aus diesem Sachverhalt zumeist nur die Folgerung gezogen, daß die empirische Kausalität an diesem Punkte durch eine Kausalität von anderer Form und anderer Dignität, durch eine »transzendente« Kausalität ersetzt werden müsse. Das Verhältnis wird, | statt als ein prinzipiell nichtkausales, vielmehr als ein transkausales, als auf einer Kausalität höherer Stufe beruhend, gefaßt. »Der Typus von Determination«, so betont Hartmann, »der auf ontologischem Gebiet in der alles umfassenden Seinssphäre waltet und die nur durch den Seinscharakter als solchen verbundenen, im übrigen aber mannigfach heterogenen Seinsgebilde miteinander verknüpft, kann selbstverständlich nur ein viel allgemeinerer sein als der des Kausalnexus. Er muß sich zu diesem, als dem Nexus der objizierten Natur verhalten, wie das Transobjektive zum Objizierten. Er darf also nicht diesseits der Kausalität gesucht 44 [Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Werke, Bd. IV, S. 241–324: S. 279 (Akad.-Ausg. IV, 421).]
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werden, sondern nur jenseits, er kann weder kausal noch ziskausal, sondern nur ›transkausal‹ sein; ein Determinationstypus des Transobjektiven, sofern es der gleichen Seinssphäre wie das Subjekt und das hinter ihm stehende Transsubjektive angehört.«45 Statt der empirischen Determination, wie sie in der Welt der räumlich-zeitlichen Ereignisse herrscht, wird also eine andere, eine »intelligible« Determination angenommen, die freilich nur in der Art und unter der Bedingung gesetzt werden kann, daß gleichzeitig ihre unaufhebliche Irrationalität, ihre prinzipielle Unerkennbarkeit zugestanden wird. Aber sollte der tiefere Grund dieser Irrationalität nicht vielmehr darin zu suchen sein, daß hier an das Phänomen, um dessen Aufhellung es sich handelt, von Anfang an ein falscher Maßstab angelegt wurde? Die Geschichte der Metaphysik zeigt uns aufs klarste, wie jeder Versuch, das Leib-Seelen-Verhältnis dadurch zu beschreiben, daß man es in ein Verhältnis des Bedingenden zum Bedingten, des »Grundes« zur »Folge«, verwandelt, zuletzt in unentwirrbare Schwierigkeiten verwickelt. Dies Verhältnis entschlüpft dem Denken immer wieder – gleichviel ob es dasselbe in die Maschen der empirischen Ursächlichkeit oder in die einer rein intelligiblen Determination einzufangen sucht. Denn jede Art von Determination läßt Seele und Leib als zwei selbständige, für sich bestehende Wesenheiten erscheinen, deren eine durch die andere bedingt und bestimmt wird: Und eben gegen diese Form des Durch-einander-Bestimmtseins setzt sich die eigentümliche Weise des Ineinander, des wechselseitigen Verwobenseins und Verschränktseins, wie sie die Beziehung von Leib und Seele aufweist, immer aufs neue zur Wehr. Nicht der Fortgang in die Welt der Metaphysik – in eine Welt, die im wesentlichen mittels des Begriffs der Substantialität und der Kausalität aufgebaut und von ihnen beherrscht wird –, sondern der Rückgang in das »Urphänomen« des Ausdrucks kann uns daher hier allein der Lösung | entgegenführen. Für jede Metaphysik, die nicht von Anfang an »Ontologie« sein will, sondern die vielmehr das Ausdrucksphänomen in seiner eigentümlichen Struktur beläßt und es in dieser Struktur anerkennt, nimmt in der Tat das Problem sofort eine völlig andere Gestalt an. In der modernen Metaphysik ist es Klages gewesen, der diesen Weg zuerst gegangen ist. Für ihn bedeuten die reinen Ausdruckserlebnisse gewissermaßen den Archimedischen Punkt, von welchem aus er die Welt der Ontologie aus den Angeln zu heben sucht. Und damit fällt ihm die Trennung des Seins in eine leibliche und seelische »Hälfte« dahin. »Die Seele«, so betont er, »ist der 45
Hartmann, Metaphysik der Erkenntnis, S. 260 f.
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Sinn des Leibes, und der Leib ist die Erscheinung der Seele. Weder wirkt jene auf diesen noch dieser auf jene ein; denn keines von beiden angehört einer Welt der Dinge. Gemäß der Untrennbarkeit des ›Bewirkens‹ vom Aufeinanderwirken der Dinge meint das Verhältnis von Ursache und Wirkung bloß eine Beziehung46 getrennter Teile eines schon aufgelösten Zusammenhangs; Sinn und Erscheinung aber sind ein Zusammenhang selbst, oder vielmehr sie sind das Urbild aller Zusammenhänge. Wem es schwerfällt, sich ein Verhältnis zu vergegenwärtigen, das vom Verhältnis der Ursache zur Wirkung unvergleichlich verschieden und ihm an Innigkeit unvergleichlich überlegen ist, der nehme zu Hilfe das analoge Verhältnis des Zeichens zum Bezeichneten. […] wie im Sprachlaut der Begriff, so steckt im Leibe die Seele; jener ist der Sinn des Wortes, diese der Sinn des Leibes; das Wort ist das Kleid des Gedankens, der Leib die Erscheinung der Seele. Ebensowenig, wie es wortlose Begriffe gibt, ebensowenig gibt es erscheinungslose Seelen.«47 Wir nehmen diese prägnante Formulierung auf – denn mit ihr stehen wir alsbald wiederum im Mittelpunkt unseres eigenen systematischen Problems. Das Verhältnis von Seele und Leib stellt das erste Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation dar, die sich weder in eine Dingbeziehung noch in eine Kausalbeziehung umdenken läßt. Hier gibt es ursprünglich weder ein Innen und Außen noch ein Vorher oder Nachher, ein Wirkendes oder ein Bewirktes; hier waltet eine Verknüpfung, die nicht aus getrennten Elementen erst zusammengefügt zu werden braucht, sondern die primär ein sinnerfülltes Ganze ist, das sich selbst interpretiert – das sich in eine Doppelheit von Momenten auseinanderlegt, um sich in ihnen »auszulegen«. Der eigentliche Zugang zum Leib-Seelen-Problem wird erst gefunden, wenn einmal generell erkannt ist, daß Sinnverknüpfungen dieser Art es sind, auf denen auch alle Dingverknüpfungen und alle ursächlichen Ver | knüpfungen letzthin beruhen. Nicht sie sind es, die innerhalb der Dingverknüpfungen und Kausalverknüpfungen eine besondere Klasse bilden; vielmehr sind sie die konstitutive Voraussetzung, die Conditio sine qua non, auf der auch diese letzteren selbst beruhen. Im Verlauf unserer Untersuchung wird es sich immer deutlicher herausstellen, daß die symbolische Funktion der »Darstellung« und die der »Bedeutung« erst den Zugang zu jener »objektiven« Wirklichkeit schafft, in der von Dingbeziehungen und ursächlichen Beziehungen mit Fug [Cassirer: Bezeichnung] Ludwig Klages, Vom Wesen des Bewußtseins. Aus einer lebenswissenschaftlichen Vorlesung, Leipzig 1921, S. 26 f. 46 47
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gesprochen werden kann. Und so ist es die geistige Trias der reinen Ausdrucksfunktion, der Darstellungs- und der Bedeutungsfunktion, kraft deren uns die Anschauung einer gegliederten Wirklichkeit erst möglich wird. Ebendeshalb aber bildet jede Erklärung, die uns den Gehalt dieser Funktionen dadurch näher bringen will, daß sie ihn durch Vergleiche, die der Dingwelt entnommen sind, erläutert, ein
στεCον πC τεCον. Das Verhältnis der »Erscheinung« zu dem seelischen Gehalt, der sich in ihr ausdrückt; das Verhältnis des Wortes zu dem Sinn, der durch dasselbe dargestellt wird, und schließlich das Verhältnis, in dem ein beliebiges abstraktes »Zeichen« zu dem Bedeutungsgehalt steht, auf den es hinweist: dies alles hat in der Art, wie Dinge im Raume nebeneinanderstehen, wie Ereignisse in der Zeit aufeinanderfolgen oder wie reale Veränderungen aus einander hervorgehen, nicht seinesgleichen; sein spezifischer Sinn kann nur ihm selber entnommen, nicht aber durch Analogien aus der Welt, die durch diesen Sinn selbst erst »ermöglicht« wird, verdeutlicht werden. Was die Erkenntnis dieses Sachverhalts immer wieder erschwert, ist der Umstand, daß alle diese Akte des Ausdrückens, des Darstellens und des Bedeutens sich selber nicht unmittelbar gegenwärtig sind, sondern daß sie sich nirgends anders als im Ganzen ihrer Leistung sichtbar werden können. Sie sind nur, indem sie sich betätigen und indem sie in ihrer Tat von sich selbst Kunde geben. Sie blicken ursprünglich nicht auf sich selbst zurück, sondern sie blicken auf das Werk hin, das sie zu vollziehen, auf das Sein, dessen geistige Form sie aufzubauen haben. Und hierin liegt zugleich, daß es zunächst keine andere Beschreibung ihrer eigenen Wirklichkeit und ihrer eigenen Wirksamkeit geben kann als eine solche, die vom Werk, vom Gewirkten hergenommen ist und die gewissermaßen dessen Sprache spricht. Dies Verhältnis tritt keineswegs erst in der im engeren Sinne »spekulativen« Deutung heraus, die die Phänomene im Kreise der Me taphysik erfahren. Was insbesondere das Verhältnis von Leib und Seele angeht, so ist jene naive und un | gebrochene Einheit zwischen beiden, die sich in jedem schlichten Ausdruckserlebnis darstellt, schon lange vor dem Einsatz der eigentlichen Metaphysik fragwürdig geworden. Schon das mythische Weltbild hat hier den Bruch vollzogen; schon in ihm setzt jener Dualismus ein, der die Doppelheit der Momente zu einer substantiellen Trennung zweier Wesenheiten verschärft. In seinen Anfängen freilich scheint sich der Mythos zwischen den beiden geistigen Haltungen noch nicht klar entschieden zu haben – scheint er noch mitten innezustehen zwischen der Auffassung, die sich vom Standpunkt des reinen Ausdrucksphänomens und
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zwischen der, die sich vom Standpunkt der theoretischen, der »metaphysischen« Interpretation ergibt. Die Scheidung von Seele und Leib ist hier zwar eingeleitet, aber sie besitzt bei weitem noch nicht jene radikale Schärfe, in der sie später heraustreten wird. Körper und Seele sind, kaum geschieden, jederzeit bereit, wieder ineinander zu verfließen. Die Welt ist durchwaltet von einer magischen Kraft, die ebensowohl als körperliche wie als geistige zu denken, die gegen diese Scheidung völlig indifferent ist. Sie haftet ebensowohl an »Dingen« wie an »Personen«, an »Stofflichem« wie an »Immateriellem«, an Unbelebtem wie an Belebtem. Es ist sozusagen das Mysterium des Wirkens schlechthin, das hier erfaßt und mythisch objektiviert wird – ohne daß es innerhalb desselben zu einer Grenzscheide zwischen der besonderen Art des »seelischen« und der des »körperlichen« Wirkens kommt.48 Diese Abgrenzung vollzieht sich erst, wenn das Bewußtsein die Welt nicht nur als ein Ganzes von Ausdruckscharakteren »hat« und erlebt, sondern wenn es dazu übergeht, die Wirklichkeit dadurch zu begreifen, daß sie ihr feste Substrate unterlegt. Denn diese Substantialisierung ist – auf der Stufe des »konkreten« Denkens, auf der wir hier nach wie vor stehen – nur dadurch möglich, daß sie unmittelbar in die Form einer räumlichen Bestimmung und einer räumlichen Anschauung übergeht. Die Art der »Gemeinschaft«, die zwischen Leib und Seele besteht, erscheint jetzt als die eines bloßen »Beisammen« – und dieses Beisammen schließt zugleich prinzipiell ein Auseinander in sich. Die Zweiheit ist aus einer Zwei | heit der Momente zu einer Zweiheit von Gebieten geworden: Die Wirklichkeit hat sich endgültig in eine »Innenwelt« und eine »Außenwelt« zerlegt. Keineswegs erscheint jetzt mehr Leibliches als der schlichte Ausdruck, als die unmittelbare Manifestation des Seelischen. Der Körper enthüllt die Seele nicht, sondern er verhüllt sie vielmehr, indem er sie gleich einer festen Schale umgibt. Erst indem sie im Tode diese Schale durchbricht, wird der Seele wieder ihr eigenes Wesen und ihr eigener Wert und Sinn zuteil. Aber diese mythisch-religiöse Urkonzeption Näheres s. Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, S. 195 ff. [ECW 12, S. 184 ff.] sowie in »Sprache und Mythos«, S. 53 ff. [s. ECW 16]. – Daß sich in dieser Indifferenz ein bestimmter Grundzug des primären Ausdruckserlebnisses widerspiegelt, tritt deutlich zutage, wenn man die Parallelen beachtet, die andere »primitive« Bewußtseinsgestaltungen zu dieser mythisch-magischen Auffassung zeigen: So hat man z. B. in der Kinderpsychologie häufig betont, daß in der Welt des Kindes die gleiche Indifferenz besteht – daß »das Kind GeistigPersonales als Konkret-Körperliches erlebt«. Näheres bei Werner, Einführung in die Entwicklungspsychologie (§ 43) [Zitat S. 322] sowie bei Stern, Psychologie der frühen Kindheit, S. 417 ff. 48
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hält immerhin insofern die Verbindung zwischen Leib und Seele aufrecht, als beide, wenngleich sie ihrem Wesen und Ursprung nach geschieden sind, nichtsdestoweniger durch ihr Schicksal aufs nächste miteinander verkettet bleiben. Die Einheit des mythischen Schicksals tritt hier an die Stelle der ontischen Weseneinheit. Durch einen uranfänglichen Schicksalsspruch ist die Seele in den Kreislauf des körperlichen Werdens gebannt, ist sie in das »Rad der Geburten« verflochten. Die Strenge und Festigkeit dieser mythischen Bindung hebt die Trennung, die sich zwischen dem Kreise des körperlichen und dem Kreise des seelischen Seins vollzogen hat, nicht auf; aber sie verhindert doch, daß alle logischen Konsequenzen, die in ihr liegen, sofort in aller Strenge gezogen werden. Erst das metaphysische Denken tut hier den letzten und entscheidenden Schritt. Es macht das »Beisammen« von Leib und Seele zu einem bloß empirischen und somit zufälligen Moment. Diese zufällige Verknüpfung kann den notwendigen Gegensatz, der sich aus dem Wesen beider ergibt, nicht aufheben. Kein vinculum substantiale ist stark genug, um das ursprünglich Heterogene zu einer wahrhaften Einheit zusammenzuschmieden. Immer mehr wird die Metaphysik im Verlauf ihrer Geschichte auf diesen Weg gedrängt. Bei Aristoteles erscheint die Seele noch als die Entelechie des Leibes und somit als dessen eigenste »Wirklichkeit«. Die Metaphysik der neueren Zeit aber macht den Leib, indem sie alles, was der Sphäre des reinen »Ausdrucks« angehört, prinzipiell von ihm abstreift, zum bloßen Körper – und sie bestimmt weiterhin die Materie dieses Körpers als eine rein geometrische Materie. Die Ausdehnung nach Länge, Breite und Tiefe ist das, was nach Descartes als das einzig notwendige Merkmal im Begriff des Körpers zurückbleibt. Auf der anderen Seite geht alles seelische Sein, alles Sein des Bewußtseins, im Akt der cogitatio auf. Zwischen der Raumwelt aber, wie sie Geometrie und Mechanik aufbauen, und jenem prinzipiell unräumlichen Sein, das wir im reinen Denkakt erfassen, gibt es sowenig eine mögliche logische wie eine mögliche empirische Vermittlung; nur die Transzendenz des gött | lichen Urgrundes stellt noch ein Medium dar, in welchem beide sich finden können und in dem ihr Gegensatz sich aufhebt. Aber diese Aufhebung, die sie im Absoluten erfahren, beschwichtigt freilich die empirisch-phänomenalen Gegensätze nicht, sondern läßt sie nur um so schärfer als solche hervortreten. Man entgeht diesen Gegensätzen zuletzt nur dadurch, daß man wieder zu ihrer eigentlichen Quelle hinabsteigt: daß man sich in den Mittelpunkt jener symbolischen Relation zurückversetzt, in der, im reinen Ausdrucksphänomen, Seelisches auf Leibliches, Leibliches auf Seelisches bezogen erscheint. Die Eigenart dieser Relation
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aber kann freilich als solche erst deutlich hervortreten, wenn man über sie hinausgeht – wenn man die Ausdrucksfunktion nicht als ein isoliertes Moment, sondern als Glied innerhalb eines übergreifenden geistigen Ganzen betrachtet und innerhalb dieses Ganzen ihre Stellung zu bestimmen und ihre besondere Leistung zu verstehen sucht. |
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ZWEITER TEIL. DAS PROBLEM DER REPRÄSENTATION UND DER AUFBAU DER ANSCHAULICHEN WELT | kapitel i. Der Begriff und das Problem der Repräsentation Wenn wir von jener primären Form des Wirklichkeitsbewußtseins, die im reinen Ausdruckserlebnis beschlossen liegt, zu reicheren und höheren Formen der Weltansicht fortschreiten wollen, so können wir den Leitfaden und die allgemeine Richtschnur für diesen Fortgang wiederum nirgend anders als in den objektiven Gestaltungen der geistigen Kultur suchen. Wenn hier Ergebnisse sichtbar werden, die über all das hinausliegen, was die schlichte Ausdruckserfahrung in sich schließt, so entsteht die Aufgabe, von ihnen auf die Funktionen zurückzugehen, in denen diese Ergebnisse gegründet sind. Wir fanden, daß der Sinn und die Grundrichtung der reinen Ausdrucksfunktion am klarsten und am sichersten erfaßt werden konnte, wenn man von der Welt des Mythos seinen Ausgang nahm. Sie ist von diesem Sinn noch völlig beherrscht und ist von ihm gleichsam durchflutet und beseelt. Und doch macht sich schon in ihr, je reicher sie sich in sich selber entfaltet, ein neues Motiv geltend. Schon die Tatsache, daß auch für den Mythos die Wirklichkeit ein in sich geschlossener »Kosmos« ist, daß er sie nicht als eine bloße Summe von Einzelzügen und Einzelcharakteren, sondern als ein Ganzes von Gestalten sieht, weist uns auf dieses Motiv hin. In den frühesten Formen des mythischen Bewußtseins, bis zu denen wir zurückdringen können, mag es den Anschein haben, als ob das »Gesicht« der Welt noch in einem rastlosen Wechsel begriffen sei. Ebendiese Beweglichkeit und Flüchtigkeit, dieser jähe und unvermittelte Umschlag aller Gestalten ineinander scheint zum Wesen des mythischen Weltaspekts selbst zu gehören. Die Welt hält hier dem betrachtenden Blick, der sich auf sie richtet, noch nirgends stand, sondern zeigt sich ihm in jedem Augenblick in einem anderen, seltsam schwebenden und ver | schwebenden Licht. Selbst wenn aus ihrem Wallen und Wogen sich allmählich festere Bildungen herausheben – wenn nicht nur die Einzelerscheinungen als solche einen fließenden und unbestimmten dämonischen »Charakter« an sich haben, sondern wenn sie als die Manifestation dämonischer oder göttlicher Wesen erfaßt und erlebt werden, besitzen doch ebendiese Wesen noch keine wahrhafte Konstanz und keine wahrhafte Allgemeinheit. »In voller unmittelbarkeit wird die einzelne erscheinung
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vergöttert, ohne dass ein auch noch so begrenzter gattungsbegriff irgendwie hereinspielte: das eine ding, das du vor dir siehst, das selbst und nichts weiter ist der gott.«1 Aber über diese erste Anschauung der bloßen »Augenblicksgötter« wird der Mythos um so weiter hinausgedrängt, je inniger er sich mit einer neuen Grundkraft des Geistes verknüpft und je mehr er sich mit ihr innerlich durchdringt. Die Kraft der Sprache erst ist es, was seinen Gebilden Halt und Dauer verleiht. Usener hat in seinem Werk über »Götternamen« diesen Prozeß im einzelnen zu verfolgen und er hat ihn an der Hand der Sprachgeschichte aufzuhellen und zu deuten gesucht. So vieles von diesen speziellen Deutungen unsicher und fragwürdig bleiben mag, so ist doch in ihnen eine allgemeine Grundtendenz in der Phänomenologie des mythischen Bewußtseins klar und scharf erfaßt.2 Erst die Sprache gibt jene Möglichkeit des Wiederfindens und Wiedererkennens, kraft deren völlig verschiedene, räumlich und zeitlich getrennte Erscheinungen als Äußerungen ein und desselben Subjekts, als Offenbarungen eines bestimmten, mit sich identischen göttlichen Wesens verstanden werden können. Schon auf dieser Grundstufe leistet daher die Sprache im Prinzip das gleiche, was sie in ihrer höchsten logischen Durchbildung leisten wird: Sie wird zum Vehikel für die »Rekognition im Begriff«, ohne die selbst der Mythos es nicht zur Dauer und zur inneren Festigkeit seiner Gestalten zu bringen vermöchte. In dieser gemeinsamen Leistung von Sprache und Mythos aber stehen wir bereits an der Schwelle einer neuen geistigen Welt. Schon der Mythos zeigt in sich das Bestreben und die Kraft, nicht einfach im Strom des Gefühls und der affektiven Erregung dahinzugleiten, sondern diese Bewegung zu bändigen und wie in einen bestimmten geistigen Brennpunkt, in die Einheit eines »Bildes«, zu sammeln. Aber wie seine Bilder unmittelbar aus der flutenden Bewegung des Innern emporsteigen, so stehen sie auch ständig in der Gefahr, wieder in sie zurückgerissen zu werden. Ein Moment der Ruhe und der inneren Beständigkeit wird erst erreicht, wenn das Bild gewissermaßen über sich selbst hinauswächst – wenn es, in einem zunächst | fast unmerklichen Übergang, zur Darstellung wird. Denn die Darstellung eines Gottes schließt zwei verschiedene geistige Elemente in sich und läßt sie ineinander aufgehen. Sie faßt den Gott in seiner ganz unmittelbaren lebendigen Gegenwart: Denn sie will keineswegs als bloßes [Hermann Usener, Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung, Bonn 1896, S. 280.] 2 Näheres s. oben, S. 101–103 sowie Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, S. 249 ff. [ECW 12, S. 237 ff.]. 1
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Abbild genommen werden, sondern der Gott selbst ist es,3 der sich in ihr verkörpert und der in ihr wirksam ist. Aber auf der anderen Seite erschöpft diese momentane Wirkung nicht das Ganze seines Seins. Die Darstellung ist als Gegenwart zugleich Vergegenwärtigung: Was als ein Hier und Jetzt vor uns steht, was als dieses Besondere und dieses Bestimmte gegeben ist, das gibt sich andererseits als Ausfluß und Äußerung einer Kraft, die in keiner solchen Besonderung ganz aufgeht. Durch die konkrete Einzelheit des Bildes hindurch blicken wir jetzt auf diese Gesamtkraft hin. Sie bleibt, sosehr sie sich in tausend Formen verstecken mag, in ihnen allen doch sich selber gleich: Sie besitzt eine feste »Natur« und Wesenheit, die in all diesen Formen mittelbar ergriffen, die in ihnen »repräsentiert« wird. Aber wenngleich diese Art der »Repräsentation« erst von der Sprache aus ganz verstanden und gewürdigt werden kann – so gilt doch andererseits nicht, daß alle Weisen der sprachlichen Äußerung in gleicher Weise an sie gebunden sind. Vielmehr scheint es eine Grundschicht sprachlicher Äußerungen zu geben, in denen die Tendenz zur »Darstellung«, wenn überhaupt, so nur in den ersten keimhaften Anfängen vorhanden ist. In ihr bewegt sich die Sprache noch fast ausschließlich in reinen Ausdruckselementen und Ausdruckscharakteren. Der Sprachlaut scheint zunächst noch ganz in der Phase der bloßen Verlautbarung festgehalten zu werden. Er »bezeichnet« nicht irgendeinen einzelnen Zug der »objektiven« Wirklichkeit; er ist vielmehr ein bloßes Ausströmen der inneren Zustände des Sprechenden und die unmittelbare Entladung ihrer dynamischen Spannung. Alles, was man als »Tiersprache« zu bezeichnen pflegt, scheint dauernd in dieser Phase festgehalten zu werden. So mannigfaltig sich die tierischen Rufe und Schreie, als Angst- oder Lustschrei, als Paarungsruf oder Warnungsruf usf., unterscheiden: so greifen sie hierbei doch über den Kreis des bloßen »Empfindungslauts« nicht hinaus. Sie sind nicht in dem Sinne »bedeutsam«, daß sie bestimmten Dingen und Vorgängen der Außenwelt als deren Zeichen zugeordnet wären. Auch die Sprache der höchstentwickelten Menschenaffen bleibt, nach den Beobachtungen Wolfgang Köhlers, so reich sie an unmittelbaren Ausdrücken für die verschiedenartigsten subjektiven Zustände und Strebungen ist, in diesem Kreise beschlossen: Sie wird nirgends zur | »Zeichnung« oder »Bezeichnung« von Gegenständlichem.4 Auch beim Kind steht die Funktion der Bezeichnung erst am Ende der [Cassirer: er] Vgl. Köhler, Zur Psychologie des Schimpansen, S. 27 (vgl. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 136 [ECW 11, S. 136 f.]). 3 4
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sprachlichen Entwicklung: Auch bei ihm haben die Worte der »objektiven« Sprache, die es durch Lernen in sich aufnimmt, noch auf lange Zeit hinaus nicht den spezifisch objektivierenden Sinn, den die entwickelte Sprache mit ihnen verbindet. Alles Sinnhafte wurzelt vielmehr in der Schicht des Affekts und der sinnlichen Erregung und wird immer wieder auf sie zurückbezogen. So bezeichnen etwa die ersten »Eigenschaftsworte«, die das Kind gebraucht, nicht sowohl Eigenschaften und Merkmale der Dinge, als sie vielmehr innere Zustände zum Ausdruck bringen: Und ebenso wird noch im zweiten Lebensjahr die Bejahung und Verneinung, das »Ja« und »Nein«, nicht als »Aussage« im logischen Sinne, als konstatierende Setzung, wohl aber als Ausdruck einer affektiven Stellungnahme, eines Verlangens oder einer Abwehr, gebraucht.5 Erst allmählich bricht sich, im Laufe der Sprachentwicklung, die reine »Darstellungsfunktion« Bahn, um sodann mehr und mehr zu erstarken und schließlich die Herrschaft über das Ganze der Sprache zu gewinnen.6 Aber auch jetzt bleibt unverkennbar, daß sie diese Herrschaft mit anderen geistigen Motiven und Grundtendenzen zu teilen hat. Der Zusammenhang mit dem primären Ausdruckserlebnis reißt in der Sprache, wie weit sie auch in der Richtung auf die »Darstellung« und auf die reine logische »Bedeutung« fortschreiten mag, nirgends ab. Auch in ihre höchsten intellektuellen Leistungen verweben sich noch ganz bestimmte »Ausdruckscharaktere«. Alles, was man als Onomatopöie zu bezeichnen pflegt, gehört in diesen Kreis: Denn in den eigentlich onomatopöetischen Bildungen der Sprache handelt es sich, weit weniger als um direkte 5 Näheres bei Clara Stern/William Stern, Die Kindersprache. Eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung (Monographien über die seelische Entwicklung des Kindes, Bd. I), Leipzig 1907, S. 35, 39 u. 224 ff. 6 Den Terminus der »Darstellungsfunktion« gebrauche ich hier im Sinne von Karl Bühler, dessen Arbeiten mir bei der sprachphilosophischen Behandlung des Problems im ersten Bande der »Philosophie der symbolischen Formen« (s. bes. S. 17 ff. u. 132 ff. [ECW 11, S. 15 ff. u. 132 ff.]) noch nicht bekannt waren. Um so mehr darf hier auf die prinzipielle Übereinstimmung hingewiesen werden, die in diesem Punkt zwischen dem Ergebnis der allgemeinen sprachphilosophischen und sprachgeschichtlichen Analyse und Bühlers Untersuchungen besteht, die wesentlich psychologisch und biologisch orientiert sind. S. Karl Bühler, Kritische Musterung der neuern Theorien des Satzes, in: Indogermanisches Jahrbuch 6 (1918), S. 1–20; Vom Wesen der Syntax, in: Idealistische Neuphilologie. Festschrift für Karl Vossler zum 6. September 1922, hrsg. v. Victor Klemperer u. Eugen Lerch, Heidelberg 1922 (Sammlung romanischer Elementar- und Handbücher, 5. Reihe: Untersuchungen und Texte, Bd. 5), S. 54–84. Vgl. jetzt auch den Aufsatz »Über den Begriff der sprachlichen Darstellung«, in: Psychologische Forschung. Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften 3 (1923), S. 282–294.
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»Nachahmung« objektiv gegebener Phänomene, um eine Laut- und Sprachbildung, die noch ganz | im Banne der rein »physiognomischen« Weltansicht steht. Der Laut unternimmt hier gleichsam den Versuch, das unmittelbare »Gesicht« der Dinge und mit diesem ihr wahres Wesen einzufangen. Die lebendige Sprache gibt, auch wo sie längst gelernt hat, das Wort als reines Vehikel des »Gedankens« zu brauchen, diese Verflechtung nirgends auf. Vor allem ist es die dichterische Sprache, die immer wieder in diesen Grund des »physiognomischen« Ausdrucks zurückstrebt und in ihn, als ihren Urquell und ihren ständigen Jungbrunnen, eintaucht. Aber auch dort, wo es der Sprache rein auf die Herausarbeitung eines bestimmten logischen »Sinnes« ankommt, den sie einfach als solchen in seiner Objektivität und Allgemeinheit hinzustellen sucht, kann sie hierbei der mannigfachen Möglichkeiten, die ihr in den melodisch-rhythmischen Ausdrucksmitteln zur Verfügung stehen, nicht entraten. Diese selbst erweisen sich nicht als gleichgültige Zutaten, sondern als echte Vehikel, als Konstituenzien der Sinngebung selbst. So sind die Momente, die man in den Begriff der »Sprachmelodie« zusammenzufassen pflegt, auch für die logische Struktur und das logische Verständnis des Satzes mitbestimmend. »[A]us einem einheitlichen Sinn gestaltet, trägt die Sprachmelodie entscheidend zur genaueren Bestimmtheit der Bedeutungen bei, sie ist also der sinnliche Ausdruck, die Repräsentation des Gesamtsinnes als Einheit.« 7 Auch in der Sprachpathologie zeigt die klinische Beobachtung, daß in Fällen der sogenannten »Amusie«, in denen die »musischen« Anteile der Sprache nicht mehr richtig erfaßt werden, auch die Auffassung der grammatischen und syntaktischen Bedeutung in irgendeiner Hinsicht verändert und beeinträchtigt zu sein pflegt. Gewisse »modale« Richtungen des Sprachsinnes, die für ihn selbst und seine Deutung unentbehrlich sind, wie der Fragecharakter, der Befehlscharakter bestimmter Sätze, werden in vielen Fällen fast ausschließlich durch diese musischen Elemente zum Ausdruck gebracht.8 So bestätigt sich auch hier wieder, wie eng das »geistige« Moment der Bedeutung an die Art der »sinnlichen« Ausdrucksmomente gebunden ist – wie beide, erst in ihrer Wechselbestimmung und Durchdringung, das eigentliche Leben der Sprache ausmachen. Dieses Leben ist sowenig jemals ein bloß sinnliches, wie 7 Julius Stenzel, Sinn, Bedeutung, Begriff, Definition. Ein Beitrag zur Frage der Sprachmelodie, in: Jahrbuch für Philologie 1 (1925), S. 160–201: S. 182. 8 Näheres bei Arnold Pick, Die agrammatischen Sprachstörungen. Studien zur psychologischen Grundlegung der Aphasielehre, 1. Teil, Berlin 1913 (Monographien aus dem Gesamtgebiete der Neurologie und Psychiatrie, H. 7), S. 162 f.
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es ein rein geistiges sein kann; es kann stets nur als Leib und Seele zugleich, als Verkörperung des Logos, erfaßt werden. | Aber sowenig sich in der tatsächlichen Wirklichkeit der Sprache der sinnliche Ausdruckscharakter und das logische Bedeutungsmoment voneinander abtrennen lassen, so ist doch der rein funktionelle Unterschied, der zwischen beiden besteht, unverkennbar. Jeder Versuch, das zweite Moment in das erste aufzulösen oder es genetisch aus ihm ableiten zu wollen, bleibt vergeblich. Auch rein entwicklungspsychologisch betrachtet, wächst die Funktion der »Darstellung« nicht stetig aus Bildungen, die der bloßen Ausdruckssphäre angehören, hervor, sondern stellt ihnen gegenüber immer ein spezifisch Neues, einen entscheidenden Wendepunkt dar. Die Welt der tierischen Empfindung scheint noch ganz vor dieser großen Grenzscheide zu liegen. Wie dem Tier die Darstellung im Wort mangelt, so mangelt ihm auch die eigentliche »hinweisende« Gebärde: Das »Greifen in die Ferne«, das jede deutende Bewegung in sich schließt, bleibt ihm verschlossen. Hier wirkt die Natur noch ganz als äußerer Reiz, der sinnlich-gegenwärtig sein muß, um die ihm entsprechende Empfindung zu erregen: Nicht dagegen tritt sie in das Verhältnis des bloßen Bildes, das in der Vorstellungskraft entworfen und in dem das Dasein des Gegenstandes gewissermaßen vorweggenommen wird.9 »[W]eil […] der Mensch«, so betont Ludwig Klages in seiner Schrift »Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft«, »nicht weniger auf Bilder antwortet als auf körperliche Eindrücke, so hängt hinwieder seine Ausdrucksbewegung vielfältig zusammen mit dem Darstellungsinhalt des Anschauungsraumes […] die Bewunderung, weil auf ›Erhöhung‹ gerichtet, verleg[t] ihr Ziel nach oben, der Neid, weil auf ›Erniedrigung‹, das seinige nach unten. Dergleichen Gefühle und Ausdruckszüge sind dem Tiere ebenso fremd, wie es andrerseits außerstande ist, den Anschauungsraum zu erfassen, und darum z. B. gänzlich vorbeilebt an allen gemalten und plastischen Abbildern. […] Kein Tier hat […] die mindeste Auffassung für den gegenständlichen Inhalt von Abbildern […] Ein perspektivisch gezeichneter oder gemalter Mensch ist für das Tier nie etwas anderes als ein buntes Stück Pappe.«10 Und 9 Näheres hierüber s. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 126 f. [ECW 11, S. 125–127]. 10 Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, S. 95 u. 198 Anm. 19. – Die Tatsache, daß Tiere auf Abbilder häufig aufs stärkste »reagieren«, z. B. mit heftigen Äußerungen des Schreckens vor ihnen zurückweichen, widerlegt natürlich diese Auffassung nicht, sondern bestätigt sie vielmehr. So berichtet z. B. Pfungst über einen jungen Affen, den er aufgezogen hat, daß er eines Tages vor einem menschlichen Porträt – einer Fidusschen Zeichnung Friedrichs des Gro-
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selbst beim Menschen zeigt sich, daß er, nachdem er | längst gelernt hat, mit Bildern zu leben, ja nachdem er sich ganz in die selbstgeschaffenen Bildwelten der Sprache, des Mythos und der Kunst eingesponnen hat, noch eine lange Entwicklung zu durchmessen hat, ehe er das spezifische Bildbewußtsein gewinnt. Nirgends scheidet sich ihm anfangs die reine Bildebene von der Kausalebene ab; immer wieder wird dem Zeichen statt seiner darstellenden Funktion eine bestimmte ursächliche Funktion, statt seines Bedeutungscharakters ein Wirkungscharakter zugeschrieben.11 Und die Reihe der »ontogenetischen« Entwicklung hat auch hier die Züge der phylogenetischen treu bewahrt. Sie zeigt, daß, wo immer die Funktion der Darstellung als solche hervortritt, wo es gelingt, einen sinnlich anschaulichen Inhalt, statt in seiner Gegenwart, in seiner einfachen »Präsenz« aufzugehen, als Darstellung, als »Repräsentanten« eines anderen zu nehmen, damit gewissermaßen eine ganz neue Höhenlage des Bewußtseins erreicht wird. Der Moment, in dem irgendein einzelner sinnlicher Eindruck symbolisch gebraucht und als Symbol verstanden wird, ist immer wie der Anbruch eines neuen Weltentages. Der Bericht, den die Lehrerin der taubstummen und blinden Helen Keller über diesen ersten Durchbruch des »Sprachverständnisses« ihres Zöglings gegeben hat, bedeutet eines der wichtigsten psychologischen Zeugnisse für diesen Sachverhalt, dessen eigentliche Bedeutung jedoch weit über den Kreis der individualpsychologischen Probleme hinausgeht.12 | Denn hier ßen –, in dem die Größe der Augen stark betont war, heftig erschrocken sei und erst beruhigt werden konnte, als das Bild aus seiner Umgebung entfernt wurde. Aber hier war offenbar die Zeichnung nicht als Bild eines Menschen genommen wor | den, sondern es waren lediglich an ihr bestimmte ausdrucksmäßige Züge erfaßt. Was hierbei wirksam ist, ist das physiognomische Erlebnis des »Augenhaften« schlechthin, das keineswegs das Erkennen eines menschlichen Gesichts und des Auges als »Teil« dieses Gesichts voraussetzt. Über diesen Unterschied vgl. die Bemerkungen Werners (Einführung in die Entwicklungspsychologie, S. 53). 11 Näheres s. Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, S. 51 ff., 292 ff. u. ö. [ECW 12, S. 46 ff., 277 ff. u. ö.]. 12 Dieser Bericht darf, so bekannt er ist, wegen seiner charakteristischen Einzelheiten auch hier nicht fehlen. »Wir gingen zu der Pumpe, wo ich Helen ihren Becher unter die Oeffnung halten ließ, während ich pumpte. Als das kalte Wasser hervorschoß und den Becher füllte, buchstabierte ich ihr w-a-t-e-r in die freie Hand. Das Wort, das so unmittelbar auf die Empfindung des kalten über ihre Hand strömenden Wassers folgte, schien sie stutzig zu machen. Sie ließ den Becher fallen und stand wie angewurzelt da. Ein ganz neuer Lichtschein verklärte ihre Züge. Sie buchstabierte das Wort water zu verschiedenenmalen. Dann kauerte sie nieder, berührte die Erde und fragte nach deren Namen, ebenso deutete sie auf die Pumpe und das Gitter. Dann wandte sie sich plötzlich um und fragte
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tritt mit besonderer Deutlichkeit und Eindringlichkeit hervor, wie wenig die reine Funktion der Darstellung an irgendein bestimmtes sinnliches Material, sei es optischer, sei es akustischer Art, gebunden ist: wie diese Funktion auch bei äußerster Einengung des Stoffs, der ihr zu Gebote steht, bei der Beschränkung auf das rein taktile Gebiet, sich nichtsdestoweniger ungebrochen behaupten und siegreich durchsetzen kann. Wenn dem Kinde in dieser Weise die Darstellungsfunktion der Namen, wenn ihm der Sachverhalt des »Heißens« aufgeht, so hat sich damit für dasselbe seine ganze innere Stellung zur Wirklichkeit verwandelt – so ist für es ein prinzipiell neues Verhältnis von »Subjekt« und »Objekt« entstanden.13 Jetzt erst beginnen die Gegenstände, die vorher den Affekt und den Willen unmittelbar ergriffen, gewissermaßen in die Ferne zu rücken: in eine Ferne, in der sie »angeschaut«, in der sie in ihren räumlichen Umrissen und nach ihren selbständigen qualitativen Bestimmungen vergegenwärtigt werden können. Herder hat für diese Kraft der Anschauung den Terminus der »Reflexion« gewählt. Wir sahen, daß für ihn hierbei der Begriff der Reflexion eine andere Bedeutung hat, als ihm die Sprachphilosophie des achtzehnten Jahrhunderts, insbesondere die Sprachphilosophie des französischen Enzyklopädismus, gegeben hatte. Denn er bezeichnet hier nicht mehr die bloße Kraft des menschlichen Intellekts, die sinnlich-anschaulichen Inhalte nach Belieben zu verschieben, sie in ihre elementaren Bestandteile zu zerlegen und aus ihnen wieder, durch freie Kombination, neue Gebilde hervorgehen zu lassen. Die Reflexion im Sinne Herders ist kein bloßes Denken »über« die gegebenen Anschauungsinhalte; sie ist es vielmehr, die die Gestalt ebendieser Inhalte selbst mitbestimmt und konstituiert. Der Mensch beweist Reflexion, wenn er aus dem ganzen schwebenden Traum der Bilder, die an seinen Sinnen vorbeistreichen, sich in ein Moment des Wachens sammeln, auf einem Bilde freiwillig verweilen, es in helle, ruhige Obacht nehmen nach meinem Namen. Ich buchstabierte ihr ›teacher‹ in die Hand. In diesem Augenblick brachte die Amme Helens kleine Schwester an die Pumpe; Helen buchstabierte ›baby‹ und deutete auf die Amme. Auf dem ganzen Rückwege war sie im höchsten Grade aufgeregt und erkundigte sich nach dem Namen jedes Gegenstandes, den sie berührte, sodaß sie im Laufe weniger Stunden dreißig neue Wörter ihrem Wortschatz einverleibt hatte.« Helen Keller, Die Geschichte meines | Lebens, mit einem Vorw. v. Felix Holländer, autoris. Übers. v. Paul Seliger, Stuttgart o. J. [1904] (Memoirenbibliothek, 2. Serie, Bd. 6), S. 225, Näheres bei Stern/Stern, Die Kindersprache, S. 177 ff. 13 Gute Beispiele für diese entscheidende Bedeutung der Nennfunktion bietet insbesondere die Darstellung Bühlers, Die geistige Entwicklung des Kindes, S. 207 ff. u. 374 ff.
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Begriff und Problem der Repräsentation
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und sich Merkmale absondern kann, daß dies der Gegenstand und kein anderer sei.14 Aber wie kommt es nun zu dieser ersten Setzung von Merkmalen, die aller Merkmalsvergleichung, all dem, was man »Abstraktion« im rein logischen Sinne des Wortes zu nennen pflegt, notwendig vorangehen muß? Hier genügt es nicht, aus | dem gegebenen noch undifferenzierten Ganzen einer Erscheinung bestimmte Elemente herauszugreifen, denen sich das Bewußtsein nun, je in einem besonderen Akt der »Aufmerksamkeit«, zuwendet. Das Entscheidende liegt vielmehr darin, daß aus diesem Ganzen nicht nur ein Moment abstraktiv herausgelöst, sondern daß es zugleich als Vertreter, als »Repräsentant« des Ganzen genommen wird. Denn damit erst enthält der Inhalt, ohne seine Einzelheit, seine stoffliche »Besonderheit« zu verlieren, eine neue allgemeine Form aufgeprägt. Jetzt erst fungiert er als »Merkmal« im eigentlichen Sinne: Er ist zum Zeichen geworden, das uns in den Stand setzt, ihn, wenn er erneut vor uns hintritt, wiederzuerkennen. Dieser Akt der »Rekognition« ist notwendig an die Funktion der »Repräsentation« gebunden und setzt sie voraus. Nur dort, wo es gelingt, eine Totalerscheinung in eines ihrer Momente gleichsam zusammenzudrängen, sie symbolisch zu konzentrieren, sie im Einzelmoment und an ihm prägnant zu »haben« 15 – nur dort heben wir sie aus dem Strome des zeitlichen Werdens heraus. Jetzt erst gewinnt ihr Dasein, das zunächst immer nur einem einzelnen Zeitpunkt angehörte und in ihm wie gefangen schien, eine Art von Dauer: Denn nun wird es möglich, in dem einfachen, sozusagen punktuellen »Hier« und »Jetzt« der Erlebnisgegenwart ein anderes, ein »Nicht-Hier« und »Nicht-Jetzt«, wiederzufinden. Alles, was wir die »Identität« von Begriffen und Bedeutungen oder was wir die »Konstanz« von Dingen und Eigenschaften nennen, wurzelt in diesem Grundakte des Wiederfindens. So ist es eine gemeinsame Funktion, die auf der einen Seite die Sprache, auf der anderen Seite die spezifische Gliederung der anschaulichen Welt erst ermöglicht. Die Frage, ob die »Artikulation« der anschaulichen Welt der Entstehung der artikulierten Sprache als vorausgehend oder als folgend gedacht werden müsse – die Frage, ob die erstere die »Ursache« oder aber die »Wirkung« der letzteren sei: sie ist in dieser Form falsch gestellt. Was sich aufzeigen läßt, ist kein solches »Früher« oder »Später«, sondern nur der innere Zusammenhang, der zwischen den beiden Grundformen und GrundHerder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 35; Näheres s. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 94 ff. [ECW 11, S. 93 ff.]. 15 Über den Begriff der »Prägnanz« und des »prägnanten Habens« s. die späteren Darlegungen, zweiter Teil, Kap. V. 14
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richtungen der geistigen Gliederung besteht. Keine von ihnen »entsteht«, rein zeitlich betrachtet, aus der anderen: Wohl aber gleichen sie zwei Stämmen, die derselben geistigen Wurzel entspringen. Wir können diese Wurzel nicht für sich bloßlegen, sie nicht als ein unmittelbar der Beobachtung zugängliches Datum des Bewußtseins aufzeigen: Wir können sie nur mittelbar finden, indem wir uns der Betrachtung der beiden Spros | sen, deren jeder im klaren und hellen Licht vor uns steht, unbefangen hingeben und sie sodann bis zu ihrem gemeinsamen »Ursprung« zurückzuverfolgen suchen. Wieder offenbart sich hierbei die unlösliche Einheit des psychophysischen Zusammenhangs. Die Grundkraft der »Reflexion« wirkt in jedem ihrer Akte zugleich »nach innen« und »nach außen«: Sie tritt auf der einen Seite in der Gliederung des Lautes, in der Artikulation und Rhythmisierung der Sprachbewegung, auf der anderen in der immer schärferen Differenzierung und Abhebung der Vorstellungswelt zutage. Der eine Prozeß wirkt ständig auf den anderen hinüber: Und diese lebendige dynamische Wechselbeziehung ist es, aus der allmählich ein neues Gleichgewicht des Bewußtseins entsteht, aus der ein stabiles »Weltbild« sich herstellt. Die Betrachtung der Sprache hat uns die allgemeine Richtung kennen gelehrt, in welcher dieser Akt der »Merkmalsetzung« sich bewegt. Aus dem vorüberschwebenden »Traum der Bilder« hebt die Sprache zuerst bestimmte Einzelzüge, bestimmte bleibende Eigenheiten und Eigenschaften heraus. Solche »Eigenschaften« mögen, rein inhaltlich betrachtet, durchaus sinnlicher Natur sein; aber ihre Setzung als Eigenschaft bedeutet dessenungeachtet einen reinen Akt der Abstraktion oder, besser gesagt, der Determination. Dem reinen Ausdruckserlebnis ist eine derartige Bestimmung fremd: Es lebt im Augenblick und geht in ihm auf. Hier aber wird gefordert, daß das Bewußtsein – entgegen seinem Grundcharakter, entgegen dem Heraklitischen Fluß des Werdens, in dem es steht und in welchem es allein zu bestehen scheint – nichtsdestoweniger zweimal, ja unbeschränkt oft in die gleichen Fluten einzutauchen vermag. Über die Distanz der objektiven Zeit und der Erlebniszeit hinweg soll ein Inhalt als ständiger und beständiger gefaßt, soll er mit sich selbst als identisch gesetzt werden. In Identifikationen dieser Art – mögen sie sich übrigens auf die Setzung und Feststellung rein »sinnlicher Qualitäten« beschränken – liegt der Keim und Anfang zu jedweder Form von »Begriffsbildung«. Denn die »Gleichheit« oder »Ähnlichkeit«, die wir an zwei verschiedenen und zeitlich voneinander getrennten Eindrücken erfassen, ist selbst kein bloßer Eindruck, der sich zu ihnen hinzugesellt und sich derselben Ebene, der sie angehören, einfach einbettet. Wenn irgendein
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Begriff und Problem der Repräsentation
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hier und jetzt Gegebenes als ein Dieses genommen und als ein Dieses erkannt – wenn es z. B. als eine bestimmte Rotnuance oder als ein Ton von bestimmter Höhe rekognosziert wird – so liegt hierin immer bereits ein echt »reflexives« Moment. Aber die »qualifizierende Begriffsbildung«, die sich in der Sprache ausprägt, bleibt hierbei | nicht stehen. Sie begnügt sich nicht damit, Verschiedenes, auf Grund irgendeiner Ähnlichkeit oder Gleichheit, die an ihm hervortritt, in eins zu setzen; sondern sie faßt die Einzelsetzungen, die auf diese Weise gewonnen werden, selbst wieder zu übergreifenden Ganzheiten, zu bestimmten Verbänden und Reihenordnungen zusammen. So können z. B. die mannigfachsten Farbphänomene, mit allem Wechsel der Tönung, der Helligkeit usf., die sie an sich zeigen, nicht nur als Fälle von Rot, als Fälle von Grün genommen werden; sondern es erscheint auch »das« Rot und »das« Grün selbst wieder als Einzelfall, als Repräsentant der »Farbe überhaupt«. Wir stehen damit auf dem Boden derjenigen Begriffe, die Lotze unter den Terminus des »ersten Allgemeinen« zusammengefaßt hat. Lotze hat scharf betont, daß die Gattungsbegriffe von »Farbe« oder »Ton« nicht dadurch gebildet werden, daß die individuellen und artlichen Differenzen der Farb- und Tonerscheinungen unterdrückt und ausgelöscht werden, daß die Gesamtheit dieser Erscheinungen irgendwie in ein allgemeines Vorstellungsbild, in eine »general idea« zusammengenommen werde. Das Entscheidende liege vielmehr darin, daß innerhalb der Reihe der Besonderungen selbst bestimmte Einschnitte gemacht werden, durch welche diese Reihe nunmehr eine charakteristische Abteilung und Gliederung erfährt. In ihrem stetigen und gleichmäßigen Fluß treten allmählich gewisse ausgezeichnete Punkte heraus, um die sich die übrigen Glieder gruppieren; es bilden sich bestimmte Gestaltungen, die als deutlich markierte Hauptmomente festgehalten und als solche gewissermaßen mit einem besonderen Akzent versehen werden. Daß an dieser Art der Akzentuierung und Artikulation die Sprache entscheidend mitwirkt, hat die Analyse der sprachlichen Begriffsbildung uns überall gezeigt. Das »erste Allgemeine« gewinnt seine eigentliche Sicherung erst dadurch, daß es in der Sprache seinen Halt und seinen festen Niederschlag findet.16 Es ist gleichsam eine neue Potenz und eine neue Dimension der Besinnung, zu der sich das Bewußtsein hier, unter Leitung der Sprache, erhebt. Das mannigfaltig Verstreute sammelt sich nicht nur, sondern es tritt zu selbständigen und eigentümlichen Gebilden, zu Gebilden höherer Ordnung, zu16 Näheres hierüber s. bes. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 244 ff. [ECW 11, S. 249 ff.].
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sammen. Diese bilden fortan die eigentlichen Kristallisationsmittelpunkte, an die alles neu Entstehende anschießt. Wir haben bisher diesen Prozeß an der Sprache zu verfolgen, wir haben an ihren Bildungen die »Analysis der Wirklichkeit«, ihre Trennung in »Substanzen« und »Qualitäten«, in »Dinge« und »Eigenschaften«, in räumliche Bestimmungen und zeit | liche Verhältnisse aufzuweisen gesucht. Nun gilt es, die gleiche Frage noch einmal, aber unter einem anderen Gesichtspunkt, zu stellen. Die innere Bindung, die zwischen der Form der Sprache und der Form, unter der wir die anschauliche Wirklichkeit erfassen, besteht, wird sich uns in voller Deutlichkeit erst dann ergeben, wenn wir finden, daß der Aufbau beider durch wesentlich dieselben Etappen hindurchführt. Sobald sich zeigt, daß die Einteilung der Welt, die »divisio naturae« in Gegenstände und Zustände, in Arten und Gattungen keineswegs von allem Anfang an »gegeben« ist, muß sich die Frage erheben, wiefern das reiche und vielfältige Gewebe der Anschauungswelt, das in dieser seiner Vielgestaltigkeit vor uns hintritt, selbst von bestimmten geistigen Energien gewirkt und von ihnen durchwaltet ist. Diese Frage läßt sich nicht beantworten, ohne dies Gewebe im gewissen Sinne aufzulösen, ohne seine einzelnen Fäden gesondert zu verfolgen. Aber diese methodisch notwendige Besonderung darf freilich das Ganze der Aufgabe, um die es sich hier handelt, niemals aus dem Auge verlieren. Die Analysis kann und soll auch hier nicht mehr als die Vorstufe und die Vorbereitung einer künftigen Synthesis sein. Je genauer wir die besonderen Wege verfolgen, die die allgemeine Grundfunktion der »Repräsentation« und der »Rekognition« geht, um so klarer wird für uns ihr Wesen und ihre spezifische Einheit heraustreten – um so deutlicher wird sich zeigen, daß es zuletzt ein und dieselbe fundamentale Leistung ist, kraft deren der Geist sich zur Schöpfung der Sprache wie zur Schöpfung des anschaulichen Weltbildes, zum »diskursiven« Begreifen der Wirklichkeit wie zu ihrer gegenständlichen Anschauung erhebt. |
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kapitel ii. Ding und Eigenschaft Die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Denken ist so alt wie die Philosophie – ja sie ist wahrscheinlich älter als diese: gehört sie doch zu den frühesten Problemen, die sich dem Menschengeist aufgedrängt haben. Früher als die Probleme der Natur scheint den menschlichen Geist das Problem der Sprache ergriffen und erregt zu haben. An ihr als einem wahrhaften Urwunder entzündet sich der philosophische Affekt der Verwunderung. Sie steht dem Menschen, wenn er sich ihr zuerst zuwendet, nicht als ein Gewordenes, sondern als ein Bestehendes gegenüber: nicht als sein Werk, sondern als eine fremde Macht, der er sich unterworfen fühlt und vor der er sich beugt. Das Weltbild der Magie ist von diesem Glauben an die Allmacht des Wortes und des Namens ganz erfüllt und durchdrungen. Die philosophische Reflexion löst diesen magischen Bann; aber sie steht dabei selbst zunächst noch durchaus unter der Herrschaft jener »archaischen Logik«, für die die Formen des Denkens und die der Sprache eine unlösliche Einheit bilden.17 Und wenn die philosophische Logik allmählich diese Verknüpfung zu lockern, wenn sie sich mehr und mehr auf die selbständigen und autonomen Gesetze des »reinen« Denkens zu besinnen sucht – so hält doch die Sprachphilosophie um so länger und um so hartnäckiger an ihr fest. Die These von der Identität von Sprechen und Denken kehrt in ihr in immer neuen Formen wieder und tritt unter immer neuen Begründungen hervor. »[D]ie Sprache hat die Vernunft erschaffen; vor ihr war der Mensch vernunftlos«, so hat noch Lazarus Geiger diese These knapp und prägnant formuliert.18 Damit scheint der Sprache der höchste Rang im Reich des Geistes gesichert, scheint ihr eine Leistung von schlechthin universellem Wert zuerkannt zu sein. Prüft man indes die hier behauptete Identität von Sprache und Vernunft näher, so zeigt | sich freilich, daß sie nach zwei verschiedenen Richtungen hin unvollkommen bleibt – daß sie der Sprache auf der einen Seite zu viel, auf der anderen Seite zu wenig gibt. Sie übersieht nicht nur, daß es Formen des begrifflichen Denkens gibt, in denen dieses sich von der Leitung und Vormundschaft der Sprache löst und sich ein selbständiges Reich »theoretischer« Bedeutung aufbaut; sondern sie verkennt auch, daß die geistige Funktion, die die Sprache zu erfüllen hat, sich nicht auf den Kreis der 17 S. hierzu Ernst Hoffmann, Die Sprache und die archaische Logik, Tübingen 1925 (Heidelberger Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 3). 18 [Lazarus Geiger, Der Ursprung der Sprache, Stuttgart 1869, S. 141.]
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eigentlich »logischen« Probleme, auf den Kreis der Begriffe, Urteile und Schlüsse, einschränken läßt. Die Macht der sprachlichen Form erschöpft sich nicht in dem, was sie als Vehikel und als Medium für das logisch-diskursive Denken leistet. Sie durchdringt bereits die »intuitive« Weltauffassung und Weltgestaltung; sie ist nicht minder als am Aufbau des Reichs der Begriffe am Aufbau der Wahrnehmung und an dem der Anschauung beteiligt. Auch dieser ist daran gebunden, daß innerhalb des Ganzen des Bewußtseins jene allgemeine Wendung sich vollzieht und durchsetzt, die wir als den Übergang zur »Darstellung« bezeichnet haben. Schon die Welt der Anschauung ist wesentlich dadurch bestimmt, daß ihre einzelnen Elemente keinen bloß »präsentativen«, sondern einen repräsentativen Charakter besitzen – daß sie nicht einfach »dastehen«, sondern daß sie füreinander stehen, daß sie wechselseitig aufeinander hinweisen und sich im bestimmten Sinne vertreten können. Man hat sich auch dort, wo man mit allem Nachdruck betonte, daß der Laut keine bloß äußerliche Hülle für den Gedanken, sondern »das Anzeichen und die Ursache einer bestimmten Gestaltung des Gedankens« sei, nicht immer deutlich gemacht, daß prinzipiell die gleiche Folgerung auch für die Sphäre der Anschauung, ja für die der Wahrnehmung, gezogen werden muß. »Außer der Sprache und vor derselben«, so formuliert z. B. Lazarus das Verhältnis, »gibt es zwar eine anschauliche Erkenntniß einzelner Dinge, oder richtiger Erscheinungen; aber ein Begreifen und Wissen gibt es nur vermittelst der Sprache.«19 Aber läßt sich wirklich in | dieser Weise 19 Moritz Lazarus, Das Leben der Seele in Monographieen über seine Erscheinungen und Gesetze, Bd. II, Berlin 1857, S. 19 u. 193. Auch die moderne Denkpsychologie scheint – in der Form, in der sie z. B. von Hönigswald vertreten wird – die Leistung der Sprache zunächst ausschließlich im Gebiet des diskursiven Denkens zu suchen und sie ausdrücklich auf dieses Gebiet zu beschränken. Sieht man indes schärfer zu, so zeigt sich, daß die Lehre von der »Worthaftigkeit des Gedankens«, wie sie Hönigswald entwickelt, eine weit umfassendere Bedeutung hat. Es gibt nach Hönigswald keinen Gedanken ohne primären Wortbezug; kein Denkerlebnis, dessen »Möglichkeit« nicht an die Bedingung einer möglichen Zuordnung zum Wort geknüpft wäre. Denn wer immer »etwas« denkt, der greift schon in der Setzung dieses Etwas in eine Sphäre des objektiven Seins und | der objektiven Geltung hinaus: Er präsumiert, daß das Gedachte für alle dasselbe sei oder doch sein solle. Demgemäß sind »etwas« denken und mögliche Verständigung über das Gedachte Wechselbegriffe: Wer »etwas« denkt, sucht notwendig nach einem sprachlichen Ausdruck, weil und sofern er eine derartige Präsumtion eines objektiven Gehalts seines Gedankens macht. Die »Worthaftigkeit des Denkens« ist demnach »die entscheidende Bedingung aller sprachlich-konstruktiven Entfaltung von Gedanken in Satz und Rede«, und sie erklärt zugleich »psychologisch genommen, das unbeirrbare Streben des Denkenden [Cassirer: des Denkens] nach sprachlich-konstruktiver Entfaltung
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das »anschauliche Erkennen« vom Begreifen und Wissen absondern, und läßt es sich ihm, als ein bloß stoffliches Substrat, voraussetzen? Gibt es ein unmittelbares Anschauen von – Dingen; oder ist nicht vielmehr das Wissen von Dingen, die Gliederung der Wirklichkeit nach »Dingen« und »Eigenschaften« selbst erst das Resultat einer Vermittlung, die wir nur darum nicht zu durchschauen pflegen, weil wir sie ständig vollziehen und weil wir in ihrem Vollzug aufgehen? In der Tat kann uns bereits ein Blick auf bestimmte Ergebnisse der Entwicklungspsychologie darüber belehren, daß die Gliederung der Welt nach Dingen und Eigenschaften keineswegs »selbstverständlich« und daß sie nicht jeder Form des »Erlebens« von Wirklichkeit notwendig eigen ist. So scheint z. B. das »Wahrnehmen« und »Vorstellen« | des Tieres eben dadurch bezeichnet zu sein, daß für dasselbe noch keineswegs feste »Dinge« mit bestimmten Eigenschaften, die am Dinge selbst wechseln können, an sich selbst aber gleichfalls eine dauernde Beschaffenheit besitzen, gegeben sind. Aus dem komplexen Ganzen des Wahrnehmungserlebnisses werden hier noch keine einzelnen Merkmale herausgelöst, an denen ein Inhalt wiedererkannt seiner Gedanken«. Prüft man diese Argumentation näher, so erkennt man, daß sie sich keineswegs allein auf die Sphäre des logisch-diskursiven Denkens, im engeren Sinne des Wortes, einschränkt, sondern daß sie sich auf alle Akte des theoretischen Bewußtseins überhaupt bezieht, sofern in ihnen nur irgendein Anspruch auf »Objektivität« besteht, sofern sie sich in irgendeiner Weise auf einen »Gegenstand« beziehen und richten. Diese Intention auf Gegenständliches ist keineswegs allein dem Denken als logischem Urteilen und Schließen vorbehalten, sondern sie ist bereits dem Wahrnehmen oder Anschauen eigentümlich: Auch in ihnen soll »etwas« wahrgenommen, »etwas« angeschaut werden. Ist somit die Setzung des Etwas aufs engste mit der »Worthaftigkeit« verknüpft, so muß diese schon in diesen primären Schichten hervortreten und an ihrem Aufbau entscheidend beteiligt sein. In der Tat besteht eine Eigentümlichkeit von Hönigswalds Denkpsychologie eben darin, daß sie, verglichen mit der traditionellen Betrachtungsweise und dem traditionellen Sprachgebrauch der Psychologie, im Begriff des »Denkens« eine wesentliche Erweiterung vollzieht. Denn »Denken« bedeutet hier nicht mehr eine einzelne Klasse psychischer Phänomene, der andere Klassen – wie das Empfinden oder Anschauen, das Fühlen oder Wollen – gegenüberstehen, sondern es ist das psychologische Grundphänomen schlechthin: Es ist das, was jeden psychischen Inhalt erst zum psychischen macht. »Denken« wird hier der universelle Ausdruck für alle Sinnbezogenheit und alle Sinnhaftigkeit des Erlebnisses überhaupt: Und ebendiese Sinnhaftigkeit, die, wie Hönigswald sieht und betont, auch dem elementarsten psychischen Faktum zukommt – nenne man es nun Empfindung, Vorstellung, Vorstellungselement oder dergleichen – wird erst durch die »Worthaftigkeit des Sinns« wahrhaft konstituiert (Zum Ganzen s. Richard Hönigswald, Die Grundlagen der Denkpsychologie. Studien und Analysen, 2., umgearb. Aufl., Leipzig/Berlin 1925, S. 28 ff., 128 ff., 157 u. ö. [Zitate S. 28 f. u. 43 f.]).
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und vermöge deren er, sooft und unter so verschiedenen Bedingungen er auftritt, als »ebendieser«, als »derselbe« bezeichnet werden kann. Diese Dieselbigkeit ist ja keineswegs ein Moment, das im unmittelbaren Erlebnis beschlossen liegt – denn in der Ebene des sinnlichen Erlebens selbst gibt es keine »Wiederkunft des Gleichen«. Jeder sinnliche Eindruck besitzt, rein als solcher, eine ihm eigene, nie wiederkehrende »Tönung« oder »Färbung«. Wo der reine Ausdruckscharakter dieser Tönung oder Färbung überwiegt, da gibt es noch keine in unserem Sinne »homogene« und keine in unserem Sinne konstante Welt. Es scheint – insbesondere nach den sorgsamen Beobachtungen Hans Volkelts – kein Zweifel zu sein, daß für das Tier im allgemeinen noch keine festen Dingeinheiten bestehen, sondern daß seine Wahrnehmungswirklichkeit sich aus noch ungegliederten »Komplexqualitäten« aufbaut.20 »Die Dinge«, so betont auch Thorndike, »sind für das Tier noch nicht die harten und festen wohldefinierten Gegenstände des menschlichen Lebens«, sondern sie liegen wie eingebettet und eingeschmolzen in bestimmte konkrete Gesamtsituationen, und es bedarf der vollen Gleichheit der letzteren, um das Tier zu einem gleichartigen Verhalten zu bewegen.21 Auch von dieser Seite her zeigt sich somit deutlich, daß das »Ding« keineswegs schon im sinnlichen Charakter der Wahrnehmung, des bloßen »Eindrucks«, gegründet ist, sondern daß es ein »reflexiver« Charakter – im Sinne des Herder schen Begriffs der »Reflexion« – ist. Auch in der Entwicklung des Kindes ist es unverkennbar, daß die Anschauung der Dingwelt nicht von Anfang an besteht, sondern daß sie gewissermaßen erst von der Sprachwelt aus erobert werden muß. Die ersten »Namen«, über die das Kind verfügt und die es mit Verständnis braucht, scheinen zunächst noch keinerlei feste und dauernde Objekte, sondern statt dessen nur mehr oder weniger flüssige und vage Gesamteindrücke zu bezeichnen. Jede von unserem Standpunkt aus noch so geringfügige | Änderung dieser Totaleindrücke genügt, um den Gebrauch des »gleichen« Namens hintanzuhalten. »Die Mutter braucht nur einen anderen Hut, ein anderes Kleid anzuhaben, ein Ding an einer anderen Stelle des Zimmers zu stehen, um befremdend auf das
20 Vgl. hierzu bes. die bekannten Beobachtungen, die Volkelt an der Radspinne gemacht hat; Näheres bei Hans Volkelt, Über die Vorstellungen der Tiere. Ein Beitrag zur Entwicklungspsychologie, Leipzig/Berlin 1914 (Arbeiten zur Entwicklungspsychologie, Bd. 1, H. 2), S. 15 ff. u. 46 ff. 21 Edward Lee Thorndike, Animal Intelligence. Experimental Studies, New York 1911, S. 109 u. 119 [Zitat S. 120: »[…] the things it reacts to in the first place are not the hard-and-fast, well-defined ›things‹ of human life.«].
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Ding und Eigenschaft
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Kind zu wirken und nicht mehr das sonst regelmäßig auftretende Wort auszulösen.«22 Erst in dem Maße, als das Wort sich aus dieser anfänglichen Enge löst, als es in seiner universellen Bedeutung und seiner universellen Anwendbarkeit erfaßt wird, taucht auch der neue Horizont des »Dinges« im Bewußtsein des Kindes auf. Und wieder scheint hier der Augenblick, in dem das Symbolbewußtsein als solches erwacht, den eigentlichen Moment des Durchbruchs zu bezeichnen. Die Beobachter schildern übereinstimmend, wie jetzt ein fast unstillbarer »Namenhunger« im Kinde entsteht – wie es nicht müde wird, bei jedem neuen Eindruck, dem es begegnet, nach seiner sprachlichen Bezeichnung zu fragen. Einzelne von ihnen betonen, daß sich jetzt beim Kinde der Wunsch zur Benennung geradezu zu einer Art von Manie zu steigern scheine.23 Diese Manie der Benennung wird verständlich, sobald man sich klar macht, daß es sich in ihr keineswegs um ein leeres Spiel des Geistes handelt, sondern daß hier ein ursprünglicher Drang nach gegenständlicher Anschauung am Werke ist. Der »Namenhunger« ist letzten Endes Gestaltenhunger; er entspringt dem Trieb zur »wesenhaften« Erfassung. So fragt denn auch das Kind charakteristischerweise zunächst keineswegs, wie ein Ding heiße; sondern es fragt, was das Ding ist. Das Sein des Gegenstandes und sein Name schmelzen ihm völlig in eins zusammen: Es hat am Namen und durch ihn den Gegenstand. So wird der Name, noch bevor das Kind ihn zum bewußten Zweck der Mit teilung verwendet, vor allem für den Aufbau der eigenen Vorstellungswelt bedeutsam und entscheidend.24 Die Erkenntnis der identischen Bedeutung des Namens und die Erkenntnis von Dingidentitäten und Eigenschaftsidentitäten entwickeln und entfalten sich miteinander: Denn beide sind nur verschiedene Momente der Wendung, die das Bewußtsein erfährt, indem es unter die Herrschaft der reinen »Darstellungsfunktion« gelangt. Jetzt erst, nachdem der Sinn des Namens gewonnen ist, hält auch das Sein dem Blicke stand, so daß er in ruhender Betrachtung auf ihm verweilen kann. Und in diesem Standhalten erst ist der »Gegenstand« gewonnen und gesichert. Von sol cher | wahrhaft beharrlicher Gegenständlichkeit weiß auch die mythisch-magische Auffassung noch nicht. Auch sie kennt noch kein »Ding« in jener charakteristischen und spezifischen Bedeutung, wie Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes, S. 128. Vgl. David R. Major, First Steps in Mental Growth. A Series of Studies in the Psychology of Infancy, New York 1906, S. 321; zit. nach: Stern/Stern, Die Kindersprache, S. 176. 24 Belege hierfür s. z. B. bei Stern/Stern, Die Kindersprache, S. 175 ff. 22 23
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sie uns im Kreis der theoretischen Anschauung und der theoretischen Erkenntnis entgegentritt. Alles »Wirkliche« ist hier noch ineinander verwandelbar – alle Eigenschaften sind von einem Objekt auf das andere übertragbar.25 Erst indem, mit der Herausbildung der Sprache, das reine Symbolbewußtsein sich ausbildet und indem es mehr und mehr erstarkt, gewinnt auch die »Kategorie« des Dinges an Bedeutung und Festigkeit: derart, daß sie zuletzt das Ganze der Anschauung mehr und mehr durchdringt und ihm immer klarer und schärfer – in gewissem Sinne auch immer härter und einseitiger – ihr Siegel aufdrückt. Aber eben wegen der fast unumschränkten Herrschaft, die diese Kategorie im Bereich des theoretischen Seins und der theoretischen Erkenntnis ausübt, scheint es schwer, wo nicht unmöglich, ihren »Ursprung« innerhalb ebendieses Bereichs selber aufzuweisen. Gibt sich uns alles theoretisch Erkannte immer nur als geprägte Form zu eigen: wie könnten wir hoffen, gleichsam den Akt der Prägung als solchen theoretisch verstehen und theoretisch ableiten zu können? Niemals kann es uns gelingen, die Funktion, die hier waltet, sozusagen unmittelbar zu betreffen: Sie gibt sich uns nur in ihrem Ergebnis zu eigen, und sie verschwindet immer wieder in diesem Ergebnis. Und doch zeigt sich ein Weg, sie wenigstens indirekt sichtbar zu machen – sofern nämlich nicht alle Gefüge der theoretischen Welt, nicht alle ihre Strukturen ein und dieselbe Art und ein und dieselbe Festigkeit der Fügung aufweisen. Immer sind in den Gebilden des Bewußtseins die Phänomene sozusagen geladen mit bestimmten rein darstellenden Charakteren; aber das dynamische Spannungsverhältnis, das hier obwaltet, ist nicht überall das gleiche. Und ebendiese Ungleichheit, diese Variabilität weist uns einen Weg, die beiden Momente, die wir nicht anders als in ihrer Wechselbeziehung kennen, in ebendieser Wechselbeziehung voneinander zu unterscheiden. In dieser Unterscheidung müssen wir freilich der Versuchung widerstehen, die Differenzen der Bedeutung und Bedeutsamkeit dadurch verständlicher machen zu wollen, daß wir sie auf ontisch-reale Differenzen zurückführen – daß wir sie aus realistischen Annahmen über die Beschaffenheit und Struktur der Dingwelt oder über die Beschaffenheit der Welt der einfachen Empfindungen erklären. Den Zirkel, in dem sich alle derartigen Erklärungen bewegen, haben wir | schon an allen Versuchen aufweisen können, das reine Ausdrucksphänomen zu einem mittelbaren Phänomen zu stempeln, das sich auf bestimmte Akte 25 Näheres s. bes. Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, S. 72 ff. [ECW 12, S. 67 ff.].
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des Urteilens, des Folgerns und Schließens gründet.26 Die gleiche Form von »Begründung« kehrt immer aufs neue in den Erklärungen wieder, die man von der reinen Darstellungsfunktion zu geben versucht. Immer waltet hier das Bestreben, an Stelle des »Hinweises«, den jedes echte Darstellungsphänomen in sich schließt, eine andere rein mittelbare Form des Erweisens oder Beweisens zu setzen. Der Akt der »Intention«, des gegenständlichen »Meinens« überhaupt, soll in irgendeiner Weise in einen diskursiven Akt, in eine Folge logischer Denkschritte verwandelt werden. Aber sowenig sich das schlichte Ausdruckserlebnis in ein Gewebe von Analogieschlüssen auflösen ließ, sowenig gelingt dies für das Darstellungsphänomen, sofern wir es in seiner eigentlichen Grundgestalt und in seiner ursprünglichen Bestimmtheit nehmen. Der Umstand, daß die »Vorstellung« uns ein Objektives repräsentiert, daß sich in ihr und durch sie hindurch dies Objektive »zu erkennen gibt«, ist seinem reinen »Befund« nach von dem Umstand, daß ein Inhalt vom anderen abhängig, daß er durch eine, sei es empirische, sei es transzendente Kausalität an ihn gebunden ist, aufs schärfste unterschieden. Die Schlußform, durch die diese Art von Kausalität erkannt wird: die Form des »induktiven« Schließens oder die der »deduktiven« Ableitung führt daher notwendig am Phänomen und am Problem der Darstellung vorbei. Denn auch dieses gehört keineswegs der Sphäre des »abstrakten« Denkens an; sondern mit ihm stehen wir mitten im Kreise der anschaulichen Erfassung von Wirklichkeit. Die Art dieses Erfassens ist freilich, verglichen mit dem reinen Ausdruckserlebnis, eine andere geworden. Statt des Modus der »Du-Wahrnehmung«, wie er im Ausdruckserlebnis herrscht, beginnt jetzt ein neuer Modus: der Modus der »Es-Wahrnehmung«, zu erstehen. Aber in dem einen wie in dem andern Falle gilt, daß wir das »Du« wie das »Es« nicht folgern, sondern daß wir es in einer spezifischen und ursprünglichen Weise der Sicht unmittelbar haben. Es ist vergeblich zu fragen, woher diese Sicht stammt – wir können uns nur vergewissern, was sie in sich selbst ist. Denn nicht darin besteht die Aufgabe, sie unter irgendeine schon bestehende und als gültig angenommene Theorie zu subsumieren – vielmehr gilt es zu begreifen, wie sie selbst es ist, wodurch die reine »Theorie« als solche, die Setzung und Erfassung »objektiver« Bestimmungen und Sachver | halte, erst möglich wird. Wo immer der Fall echter Repräsentation vorliegt, da haben wir es nicht mit einem bloßen Empfindungsmaterial zu tun, das erst nachträglich durch bestimmte Akte, die sich an ihm vollziehen, zur Darstellung eines Gegenständlichen 26
Vgl. oben, S. 79 ff.
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gemacht und als solche gedeutet wird. Immer ist es vielmehr eine geformte Gesamtanschauung, die als objektiv bedeutsames Ganzes, als erfüllt mit gegenständlichem »Sinn«, vor uns steht. Es bleibt auch hier nur übrig, dies symbolische Grundverhältnis, gleich dem des reinen Ausdrucks, als echtes Urphänomen anzuerkennen, das sich als konstitutives Moment in allem »Wissen« vom Gegenstand aufweisen läßt. Ohne die Tatsache, daß die Erscheinungen des Bewußtseins diesem nicht als bloß momentane Bilder vorschweben, sondern daß das hier Gegebene auf ein Nicht-Hier hinweist, das jetzt Gegebene auf ein Nicht-Jetzt zurück- oder vorausweist – ohne sie ist das Phänomen einer anschaulichen Welt nicht zu verstehen, ja nicht einmal zu beschreiben. Nur innerhalb dieser Funktion des Weisens und kraft ihrer gibt es für uns ein Wissen von objektiver Wirklichkeit und eine spezielle Gliederung, eine Abteilung nach »Dingen« und »Eigenschaften« in ihr – nicht aber läßt sich umgekehrt sie selbst wieder aus gegenständlichen Bestimmungen und Voraussetzungen begreiflich machen. Wir gehen, um uns diesen Sachverhalt im einzelnen zu verdeutlichen, zunächst von einem bestimmten Kreise sinnlich-anschaulicher Phänomene aus. Die Welt der Farben nimmt die sensualistische Psychologie gemeinhin als eine Mannigfaltigkeit von Empfindungen, die nach bestimmten Unterschieden gegliedert, die nach Helligkeit oder Farbenton abgestuft sind. Aber schon Hering hat in seinen grundlegenden Untersuchungen über den Lichtsinn gegen diese Bezeichnung mit gutem Grunde protestiert. Wer die Farben »Empfindungen« nennt – so betont er –: der erweckt damit den Anschein, als ob es sich in ihnen in erster Linie um »subjektive« Bestimmungen handelt. Mag indes diese Bezeichnung der Subjektivität physikalisch begründet sein – phänomenologisch ist sie es keineswegs. Denn rein erlebnismäßig ist uns die Farbe durchaus nicht als Zustand, als Modifikation des eigenen Ich gegeben; sondern was sich uns in ihr erschließt, sind immer irgendwelche objektive Bestimmungen, sind Verhältnisse der gegenständlichen Wirklichkeit. In diesem Sinne ist daher die Farbe – solange man nicht von ihrer phänomenologischen Betrachtung zu ihrer physiologischen oder physikalischen Erklärung abschweift – weit eher als Eigenschaft denn als Empfindung zu bezeichnen. In ihr wird weder ein Zustand des Ich | noch auch eine Beschaffenheit des Lichtes direkt und eigentlich wahrgenommen, sondern durch sie hindurch blicken wir auf gegenständliche Strukturen hin. »Nicht um ein Schauen der Strahlungen als solcher handelt es sich beim Sehen, sondern um das durch diese Strahlungen vermittelte Schauen der Außendinge; das Auge hat uns nicht über die jeweilige
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Intensität oder Qualität des von den Außendingen kommenden Lichtes, sondern über diese Dinge selbst zu unterrichten.«27 So erweist es sich, selbst vom Standpunkt der »physiologischen Optik« aus, als notwendig, einen scharfen Trennungsstrich zu ziehen zwischen der Art des »Sehens«, die in der bloßen Empfänglichkeit für Lichteindrücke und deren Differenzen besteht, und jener Art von Schau, in der sich für uns die anschauliche Welt aufbaut. Insbesondere ist es die Tatsache der sogenannten »Farbenkonstanz der Sehdinge«,28 die uns darüber belehrt, daß die bloße Gleichheit bestimmter Reize, z. B. die Größe der in das Auge fallenden Lichtmenge, keineswegs ausreicht, um den Gehalt der Anschauung eindeutig zu bestimmen. Es zeigt sich, daß je nach den besonderen Bedingungen, unter denen die Wahrnehmung steht, der »gleiche« Lichtreiz in sehr verschiedener Weise zum Aufbau der Wirklichkeit verwendet werden kann – daß scheinbar dieselbe Licht-»Empfindung« eine sehr verschiedene objektive »Bedeutung« haben kann. Für eine schärfere phänomenologische Analyse – wie sie z. B. von Schapp in seinen »Beiträgen zur Phänomenologie der Wahrnehmung« mustergültig durchgeführt worden ist – ergibt sich zunächst, daß sich an der Erscheinung, die wir »Farbe« nennen, bestimmte Ordnungen unterscheiden lassen und daß je nach der Zugehörigkeit zu einer dieser Ordnungen die Erscheinung selber für uns eine sehr verschiedene Bedeutsamkeit besitzt. In der einen Ordnung wird die Farbe als »Lichtgebilde« genommen, das als solches erfaßt und in seiner Bestimmtheit verdeutlicht wird, ohne daß ihm die Funktion zufällt, Gegenständliches sichtbar und vorstellig zu machen – in der anderen ist der Blick umgekehrt rein auf gegenständliche Bestimmungen gerichtet, und die Farbe wird immer nur als Durchblick für das Objektive, das in ihr erscheint, gebraucht, nicht aber in ihrer eigenen Erscheinungs weise betrachtet. »In der Art, wie der naive Mensch und der […] Künstler die Dinge sieht«, so beschreibt Schapp dies Verhältnis, »ist ein Unterschied, auch wenn wir von allem ästhetischen absehen. Der naive Mensch […] sieht die Dinge nur in der Farbe, die sie scheinbar bei jeder Änderung der Beleuchtung behalten, die man | wohl auch wirkliche anhaftende Farbe nennt; er sieht nicht die Reflexe, Lichter, die farbigen Schatten, wo sie nicht ganz aufdringlich sind. Er sieht wohl den Schatten, den seine Gestalt auf den von der Sonne beschienenen Boden wirft, er sieht auch Ewald Hering, Grundzüge der Lehre vom Lichtsinn (§ 6), Berlin 1920, S. 13 (zuerst in: Handbuch der gesammten Augenheilkunde, hrsg. v. Ferdinand von Arlt, red. v. Alfred Graefe u. Theodor Saemisch, Leipzig 1874 ff.). 28 [Vgl. ebd.] 27
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den Reflex des Handspiegels, mit dem man den leuchtenden Widerschein über die Wand tanzen läßt, das Blinken des Helmes im Sonnenschein, das Flackern des Lichtes an den Wänden, wenn das Feuer im Kamin brennt – aber ihm fällt bei trübem Himmel nicht auf […] daß die Kirsche, das Auge immer diesen Lichtfleck haben, wie die Beleuchtung auch sein mag. [Wenngleich daher] ohne solche Lichtgebilde der Gegenstand nicht wahrgenommen werden kann, so ist andererseits sicher nicht erforderlich, daß diese Lichtgebilde selbst wahrgenommen werden, wenn der Gegenstand vorstellig werden soll. […] Man kann sie betrachten, wie sie sich am Gegenstande gruppieren, auf ihm als Schatten lagern, ihn als Licht durchdringen, an ihm als Glanz, Sonnenschein sitzen. Allerdings scheint bei dieser Einstellung das Ding ein wenig zu kurz zu kommen. Es scheint mir, als ob man sogar sich so diesen Lichtgebilden zuwenden kann, daß der Gegenstand fast verschwindet. [Es] scheint […] nicht wohl vereinbar zu sein Dingwahrnehmung und Lichtgebildewahrnehmung, sondern zur Wahrnehmung des Dinges gehört es, daß die Lichtgebilde bescheiden in den Hintergrund treten, wo sie unentbehrlich sind. Wenn sie sich an dem gehörigen Orte befinden, dann ist Wahrnehmung des Dinges vorhanden. Wo sie so stark hervortreten, daß man sie nicht übersehen kann, da ist die Wahrnehmung gestört. Sie sollen den Blick ›hinüberleiten‹ auf das Ding; der Blick darf sich nicht in ihnen verfangen.« Und weiter wird ausgeführt, daß in dem Augenblick, wo wir zwischen den beiden hier unterschiedenen Farbenordnungen wechseln – wo wir eine Farbe, die wir bisher als bloßen »Lichteffekt«, als Beleuchtungsfarbe genommen haben, in der Form der »anhaftenden« Farbe, der »Dingfarbe« sehen oder umgekehrt –, auch die Gesamtwahrnehmung alsbald einen anderen Charakter und Sinn erhält. Es besteht eine ganz bestimmte Abhängigkeit zwischen der Ordnung, in der »Farbe« in Beziehung zu unserem Bewußtsein tritt, und dem Gegenstand, der durch diese Farbenordnung dargestellt wird: »Die Änderung der Farbenordnung hat [die] Änderung des dargestellten Gegenstandes als unmittelbare Folge.«29 Was hier als Farben ordnung bezeichnet ist, das ist ebenjene ganz bestimmte »Sicht«, die sich aus der besonderen Darstellungsfunktion ergibt, die | die Farbe in jedem einzelnen Falle erfüllt. Farbe schlechthin, so betont auch Schapp, ist das, was uns Dinge darstellt. »Aber es genügt nicht, daß Farbe da ist, um Dinge darzustellen. Sondern dazu gehört, daß Farbe sich ordnet, sich gliedert und in Formen eingeht. […] Vermittelst dieser Farbenordnung nun 29 Wilhelm Schapp, Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, Diss., Göttingen 1910, S. 78 ff. u. 106 f. [Zitate S. 78–80 u. 106].
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wird uns Raum und Gestalt vorgestellt. In Bezug auf Farbe ist Raum also etwas Dargestelltes. Farbe selbst ist nicht dargestellt, sie ist direkt gegeben, aber sie stellt […] Formen im Raum dar. […] Die Gestalt ihrerseits stellt nun wieder das Ding mit seinen Eigenschaften dar. Sie ist noch nichts zum Dinge gehörendes, auch nicht unmittelbar eine Form des Dinges, sondern ein Dargestelltes, welches wieder darstellt.«30 Farbe ist, wie aus alledem hervorgeht, nicht selbst ein Inhalt, der sich als solcher in einem objektiven Raume befindet und sich in ihm vielfältig gliedert, sondern sie bildet, in der Mannigfaltigkeit ihrer möglichen Erscheinungsweisen genommen, erst das Substrat, aus dem die Vorstellung der objektiven Wirklichkeit, die Vorstellung von »Dingen im Raume« gewonnen und aufgebaut wird. Was die naive Ansicht präsent zu haben, was sie als Ding gewissermaßen mit Händen zu greifen glaubt, das verdankt ebendiese seine leibhafte »Gegenwart« selber den Formen und Ordnungen der »Repräsentation«. Aber freilich darf man sich durch diese Einsicht nicht dazu verleiten lassen, die Ursprünglichkeit dieser Formen selbst anzutasten und sie einer Schicht der bloßen Mittelbarkeit zuzuweisen, der sie nach ihrer Bedeutung und Leistung prinzipiell enthoben sind. Die Erkenntnislehre des »Rationalismus« wie die des »Empirismus« hat hier in gleichem Sinne gefehlt. Denn sosehr sich die Antwort beider auf die Frage nach dem Grunde der »Beziehung [unserer] Vorstellung[en] auf den Gegenstand« unterscheidet,31 so stimmen sie doch – weit mehr, als ihnen selbst bewußt zu sein pflegt – in der Fassung und im methodischen Ansatz des Problems selbst überein. Beide suchen einen Weg, auf welchem durch bestimmte mittelbare Akte, die sich an sie anschließen, die »bloße« Vorstellung in die Form der objektiven, der gegenständlichen Anschauung übergeführt werden kann; sie suchen die Metamorphose zu erklären, durch welche die Erscheinung aus einem bloßen Datum des Bewußtseins zu einem Inhalt der Realität, der »Außenwelt«, wird. Der Empirismus leitet diese Metamorphose auf »Assoziationen« und »Reproduktionen« – der Rationalismus leitet sie auf logische Operationen, auf Urteile und Schlüsse, zurück. Aber was hierbei in gleichem Maße übersehen wird, ist der Umstand, daß alle die psychologischen oder lo | gischen Prozesse, auf die man sich hier beruft, sozusagen zu spät kommen. Sie beziehen sich sämtlich auf die Verknüpfung von Elementen, die in irgendeiner Weise schon vor der Verknüpfung als »bestehend«, als gesetzt angeseA. a. O., S. 114 f. [Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 73 (B 63). S. weiterhin a. a. O., S. 118 (B 137).] 30 31
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hen werden. Die Frage, um die es sich hier handelt, betrifft jedoch nicht erst die Möglichkeit und den Grund der Verknüpfung, sondern sie geht auf die Möglichkeit der Setzung des Verknüpfbaren selbst. Keine assoziative Verbindung bloßer »Eindrücke« und keine noch so enge logische Verflechtung derselben vermag jenen originären Setzungsmodus zu erklären, der darin liegt, daß eine Erscheinung auf ein gegenständliches Sein hinweist, daß sie sich als Moment einer gegenständlichen Anschauung gibt. Der Rationalismus glaubt diesen Setzungsmodus nur dadurch »begreiflich« machen zu können, daß er ihn selbst zu einer Leistung des Begriffs, zu einem Akt der reinen Intelligenz stempelt. Schon in der ersten klassischen Gestalt, in welcher er in der Geschichte der neueren Philosophie hervorgetreten ist, zeigt sich diese Grundtendenz aufs schärfste ausgeprägt. Was Descartes’ »Meditationen« in erster Linie erweisen wollen, ist ebendies: daß der Gedanke der Dingidentität und der Dingkonstanz keineswegs als solcher in den bloßen sinnlichen Daten der Wahrnehmung, in den Qualitäten der Farbe und des Tones, des Tastsinnes oder des Geruchs und Geschmacks, beschlossen liegt, sondern daß er zu ihnen erst sekundär, erst durch logische Reflexion, hinzugebracht wird. Erst indem wir die »eingeborene Idee« der Substanz auf die mannigfaltigen und an sich völlig disparaten sinnlichen Phänomene anwenden, gewinnen wir die Anschauung von einem identischen und beharrlichen Gegenstand, auf den diese Phänomene sich beziehen und dessen Bestimmungen und Eigenschaften sie darstellen. Das Stück Wachs, das ich in sinnlicher Wahrnehmung vor mir habe und das sich mir als weiß und rund, als hart und duftend zeigt, mag sich in jeder einzelnen Hinsicht verwandeln; es mag, indem es schmilzt, alle seine Akzidenzien verändern: Es bleibt nichtsdestoweniger für mich dasselbe Wachs, weil es diese Dieselbigkeit nicht von den Sinnen, sondern vom reinen Verstande zu Lehen trägt. »[…] sa32 perception […] n’est point une vision, ny un attouchement, ny une imagination, et ne l’a iamais esté […] mais seulement une inspection de l’esprit […]«33 Mit einem Schlage wird somit hier der Wahrnehmungsakt, kraft der gegenständlichen Beziehung, die ihm innewohnt, in einen reinen Denkakt verwandelt. Der »Blick des Geistes«, die »inspectio mentis«, erst ist es, was die bloßen Eindrücke zu Erscheinungsweisen des Gegenstandes macht. Die Fähigkeit der sinnlichen Erscheinung, Gegenständliches [Cassirer: Ma] [René Descartes, Méditations métaphysiques (2. Meditation), in: Œuvres, hrsg. v. Charles Adam u. Paul Tannery, 15 Bde., Paris 1897 ff., Bd. IX, Paris 1904, S. 1–72: S. 24 f.] 32 33
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»sichtig« | zu machen und es zu repräsentieren, wird auf eine Fähigkeit des Verstandes, auf die Kraft seiner »unbewußten Schlüsse«34 zurückgeleitet – womit freilich der Boden, auf dem Descartes ursprünglich stand, verlassen und der Übergang von der Phänomenologie der Wahrnehmung zur Metaphysik der Wahrnehmung vorbereitet wird. Descartes, der den Realismus des absoluten Gegenstandes durch den Ausgang vom »Cogito« bekämpft, scheitert zuletzt am Realismus der »eingeborenen Ideen«. Wie die klare und deutliche Idee Gottes ihm wieder den Weg zu jener scholastischen Ontologie, die er eben noch in ihrer Grundform und Methode überwunden hatte, bahnen muß, so lenkt auch seine reine Analyse des theoretischen Bewußtseins wieder in metaphysische Annahmen über dessen Herkunft und Abstammung zurück.35 Will man diesen Schritt, der eine echte µετβασις ες λλο γνος in sich schließt, vermeiden, so bleibt kein anderer Weg, als die Phänomene, statt sie aus ihren transzendenten »Gründen« herleiten und erklären zu wollen, lediglich in ihrem wechselseitigen Bezug zu erfassen und sie kraft dieses Bezugs sich wechselweise erhellen zu lassen. Eine solche Erhellung wird dadurch möglich, daß der Charakter der »Darstellung«, der als solcher zum Wesen des »Bewußtseins« überhaupt gehört, doch nicht in allen Gebilden des Bewußtseins in gleicher Prägnanz und Deutlichkeit hervortritt – und daß wir hierdurch ein Mittel gewinnen, ihn in verschiedene Phasen zu zerlegen und den Übergang von der einen zur andern zu beobachten. In einer derartigen Betrachtungsweise tritt jene Verschiedenheit des dynamischen Spannungsverhältnisses zwischen dem Inhalt einer Erscheinung als solchem und ihrer darstellenden Funktion, auf die bereits im allgemeinen hingewiesen wurde, klar hervor. Jeder noch so »elementare« sinnliche Inhalt ist schon von einer solchen Spannung erfüllt und mit ihr gewissermaßen geladen. Er ist niemals einfach, als isolierter und abgelöster Inhalt, »da«; sondern er weist in ebendiesem Dasein über sich hinweg; er bildet eine konkrete Einheit von »Präsenz« und »Repräsentation«. In dem Maße, als das Bewußtsein zu reicheren und höheren Gestaltungen fortschreitet, gelangt auch diese Einheit zu immer bestimmterer und schärferer Ausprägung. Ihre Momente heben sich immer klarer voneinander ab – während zugleich die innere Bezogenheit und der Zusammenschluß der Momente durch diese 34 [Vgl. Hermann von Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik, 2., umgearb. Aufl., Hamburg/Leipzig 1896, S. 602.] 35 Näheres in der Einleitung zu meiner Schrift: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Marburg 1902 [ECW 1].
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Absonderung nicht gelockert oder geschwächt wird, sondern statt dessen vielmehr in immer steigendem Maße hervortritt. Vergleichen wir im | Hinblick auf diesen Fortgang die einzelnen Sinnenkreise miteinander, so läßt sich in ihnen eine Art von Stufenbau feststellen. Es ergibt sich in ihnen eine gewisse Abfolge, die vom relativ Unbestimmten zu immer höheren Graden der Bestimmtheit, der anschaulichen »Distinktion« hinführt. Die »primitiven« Sinne lassen uns erst die Anfänge einer solchen Bestimmtheit erkennen. Sie bewegen sich im wesentlichen im Umkreis gewisser, oft sehr intensiver Ausdruckswerte, die aber eine ganz scharfe »qualitative« Abgrenzung gegeneinander nicht zulassen. So scheinen sich die einzelnen Data des Geruchssinnes für uns vor allem durch solche Ausdruckscharaktere: durch den Charakter des Anziehenden oder Abstoßenden, des Scharfen oder Milden, des Angenehmen oder Widerwärtigen, des Beruhigenden oder Aufreizenden zu unterscheiden. Aber diese affektiven Unterschiede führen noch zu keinem wahrhaft »objektiven« Unterschied der einzelnen Qualitäten. Eine Abstufung und Ordnung, wie sie uns in anderen sinnlichen Mannigfaltigkeiten, vor allem bei Ton und Farbe, entgegentritt, erweist sich hier als undurchführbar. Denn auf der einen Seite fehlt hier noch die klare räumliche Bestimmung: Die Gerüche »haften« nicht an bestimmten Orten, sondern sie besitzen, was ihre Lokalisation betrifft, eine durchgängige Vagheit, eine »gummiartige Dehnbarkeit«.36 Deutlich läßt sich diese Vagheit daraus ersehen, wie schwer es der Sprache wird, in diesem Gebiet gewissermaßen festen Fuß zu fassen und es mit ihrer Kraft zu durchdringen. Wo die Sprache bestimmte Geruchsqualitäten zu bezeichnen sucht, da sieht sie sich zumeist genötigt, den Umweg über Dingworte zu nehmen, die sie auf Grund anderer sinnlich-anschaulicher Data geprägt hat. Eine Einteilung, wie sie etwa die Farbe in den »allgemeinen« Farbnamen – des Rot und Blau, des Gelb und Grün – erfährt, ist hier nicht möglich. »Entweder sind unsere Geruchsworte nur adjektivische Ableitungen der zugehörigen Geruchsträger (rosenhaft, kampfrig), oder sie ziehen nur den ›eigentlichen‹ Geruchsträger im Vergleiche mit heran (himbeerartig, jasminähnlich). Keineswegs gelingt eine Geruchsabstraktion: aus Jasmin, Maiglöckchen, Kampfer und Milch können wir ohne weiteres die gemeinsame Farbe, nämlich ›Weiß‹ herausabstrahieren, allein kein Mensch ist imstande, analog 36 Näheres bei Hans Henning, Der Geruch. Ein Handbuch für die Gebiete der Psychologie, Physiologie, Zoologie, Botanik, Chemie, Physik, Neurologie, Ethnologie, Sprachwissenschaft, Literatur, Ästhetik und Kulturgeschichte, 2., gänzl. umgearb. u. verm. Aufl., Leipzig 1924, S. 275 u. 278 [Zitat].
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den gemeinsamen Geruch herauszuabstrahieren, indem er auf das Gemeinsame achtet und vom Unterscheidenden absieht.«37 So stehen wir hier noch jenseits jenes »ersten Allgemeinen«, von dem alle Sprachbildung und alle eigentliche Begriffsbildung ihren | Ausgang nimmt. Schon einen wesentlichen Schritt weiter in der »Erhebung der Eindrücke zu Vorstellungen«38 werden wir geführt, sobald wir vom Gebiet der Geruchsempfindungen auf das der Tastempfindungen hinüberblicken. Man hat bisweilen den Tastsinn geradezu als den eigentlichen »Wirklichkeitssinn« bezeichnet – als denjenigen, dessen Phänomene den »tragfähigsten Realitätscharakter« haben und der daher den erkenntnistheoretischen Primat vor allen übrigen Sinnen besitze.39 Aber sosehr ihm dieser Zug zur Objektivierung eignet, so bleibt doch auch er hierin gleichsam auf halbem Wege stehen. Denn er macht zwischen bloß zuständlichen und rein gegenständlichen Bestimmungen noch keinen klaren und scharfen Schnitt, sondern gibt uns die letzteren nur in der Umhüllung der ersteren. Wir können hier die Objekte nicht anders denn durch das Medium der Wahrnehmung des eigenen Leibes erfassen und sie von dieser Grundlage nicht loslösen. Die Tastphänomene bleiben daher in dem Sinne »bipolar«, daß sich in ihnen unausweichlich eine »subjektive«, auf den Leib bezogene Komponente mit einer anderen, die auf Dinge und dingliche Eigenschaften geht, verbindet. »Es gibt Tastphänomene, die, zumal bei geeigneter innerer Einstellung, ausschließlich Hinweis auf Objektives zu sein scheinen, aber eine Änderung der Einstellung vermag […] das Empfindungsmäßige an ihnen – darunter verstanden ein Zuständliches unseres Körpers – als eine anschaulich gegebene und nicht nur erschlossene Eigenschaft hervortreten zu lassen […] Wenn auch aktuell entweder die subjektive oder die objektive Seite der Tastwahrnehmung nahezu unmerklich werden kann, ihre Bipolarität bleibt doch […] anschaulich realisierbar.«40 Die Tendenz zur Darstellung ist somit hier unverkennbar – aber sie gelangt noch nicht zur eigentlichen Erfüllung: Der »objektive« Inhalt bleibt sozusagen an der Grenze des eigenen Leibes stehen, statt zum wahrhaften »Gegenüber« zu werden, statt in eine ideelle Ferne zu rücken. Solche Distanzierung wird erst in den höchsten »objektiven« Sinnen, im Gehör und im Gesicht, A. a. O., S. 66. [S. Hermann Lotze, Logik. Drei Bücher vom Denken vom Untersuchen und vom Erkennen (System der Philosophie, 1. Theil), Leipzig 21880, S. 14 ff.] 39 David Katz, Der Aufbau der Tastwelt, Leipzig 1925 (Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 1. Abt.: Zeitschrift für Psychologie, Ergänzungsbd. 11), S. 255. 40 A. a. O., S. 19. 37 38
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erreicht. Und selbst in ihnen läßt sich noch insofern eine Art Abstufung der Darstellungsfunktion aufweisen, als nicht alle Phänomene innerhalb dieser beiden Gebiete diese Funktion in gleicher Bestimmtheit und Nachdrücklichkeit erkennen lassen. Was die Farben betrifft, so läßt sich an ihnen, nach den grundlegenden Untersuchungen von Hering, die durch Katz weitergeführt worden sind, eine dreifache »Erscheinungsweise« unterscheiden. Wir | können sie als einfache optische Zuständlichkeiten nehmen: als »Lichtgebilde« von bestimmter Helligkeit und Tönung, die wir rein als solche erfassen. Oder aber wir nehmen sie als »Gegenstandsfarben« – als Farben, die nicht gleichsam im Leeren schweben, sondern die an bestimmten dinglichen Trägern haften und uns als »Eigenschaften« derselben zum Bewußtsein kommen. In dem ersteren Falle haben wir die Erscheinung der »Flächenfarben« vor uns, die uns als einfaches ebenes Quale gegeben sind, ohne daß dasselbe an ein gegenständliches Substrat geknüpft ist: Im letzteren tritt uns die Farbe als »Oberflächenfarbe«, als inhärente Beschaffenheit eines bestimmten Objekts entgegen. Von beiden Erscheinungsweisen hebt sich sodann als dritte noch die der raumhaften Farben oder Raumfarben ab, d. h. solcher Farben, die einen bestimmten Raum von drei Dimensionen auszufüllen scheinen. Wir brauchen hier den mannigfachen Einzelproblemen, die sich aus der Betrachtung der Farbwelt unter diesem dreifachen Gesichtspunkt ergeben, nicht näher nachzugehen.41 Für uns liegt das Entscheidende und allgemein Bedeutsame darin, daß mit dem Wechsel des Gesichtspunkts, unter dem ein Farbenphänomen genommen, des »Aspekts«, unter dem es erblickt wird, auch das Phänomen als Ganzes, als anschauliches Datum, alsbald eine charakteristische Verschiebung zu erfahren pflegt. Wenn wir durch einen Wechsel der »inneren Einstellung« eine Erscheinung, die wir bisher als Oberflächenfarbe genommen und als solche auf einen bestimmten gegenständlichen Träger bezogen haben, in die Erscheinung einer bloßen Flächenfarbe überführen, so hat sich damit für uns das farbige Gesamtbild gewandelt – so steht es in einer andersartigen anschaulichen Bestimmtheit vor uns. Helmholtz hat gelegentlich darauf hingewiesen, daß die Farben einer Landschaft viel glänzender und bestimmter hervortreten, wenn man sie bei schiefer und umgekehrter Lage des Kopfes betrachtet, als 41 Für alles Nähere muß auf die eindringende Analyse von David Katz, Die Erscheinungsweisen der Farben und ihre Beeinflussung durch die individuelle Erfahrung, Leipzig 1911 (Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 1. Abt.: Zeitschrift für Psychologie, Ergänzungsbd. 7) verwiesen werden.
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bei der gewöhnlichen aufrechten Haltung. »Bei der gewöhnlichen Art der Beobachtung«, so deutet er dies Phänomen, »suchen wir nur die Objecte als solche richtig zu beurtheilen. Wir wissen, daß grüne Flächen aus einer gewissen Entfernung in etwas verändertem Farbenton erscheinen; wir gewöhnen uns von dieser Veränderung abzusehen und lernen das veränderte Grün ferner Wiesen und Bäume doch mit der entsprechenden Farbe naher Objecte zu identificiren. Bei sehr fernen Objecten, fernen Bergreihen bleibt | von der Körperfarbe wenig zu erkennen, sie wird meist durch die Farbe der erleuchteten Luft überdeckt. Diese unbestimmt blaugraue Farbe, an welche nach oben das helle blaue Feld des Himmels oder das rothgelbe der Abendbeleuchtung, nach unten das lebhafte Grün der Wiesen und Wälder grenzt, ist Veränderungen durch den Contrast sehr ausgesetzt. Es ist für uns die unbestimmte und wechselnde Farbe der Ferne, deren Unterschied zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Beleuchtungen wir wohl genauer beachten, während wir ihre wahre Beschaffenheit nicht bestimmen, da wir sie auf kein bestimmtes Object zu übertragen haben und wir eben ihre wechselnde Beschaffenheit kennen. So wie wir uns aber in ungewöhnliche Umstände versetzen, z. B. unter dem Arme oder zwischen den Beinen durchsehen, so erscheint uns die Landschaft als ein plattes Bild […] Damit verlieren auch die Farben ihre Beziehung zu nahen oder fernen Objecten und treten uns nun rein in ihren eigenthümlichen Unterschieden entgegen.«42 Die bisherige Psychologie verfügte, um diesen eigentümlichen Wandel des sinnlichen Gesamteindrucks bei einer veränderten »inneren Einstellung« zu erklären, im allgemeinen über zwei verschiedene Mittel. Sie konnte, mit Helmholtz, die Erscheinung als Ergebnis einer intellektuellen Tätigkeit, eines Urteils- und Schlußprozesses ansehen, der freilich hierbei als ein Gewebe aus »unbewußten Schlüssen« genommen und damit im Grunde aus dem rein Phänomenalen ins Metaphysische verschoben werden mußte. In dieser Verschiebung zeigt sich auch der »Empirist« Helmholtz noch als Bewahrer und Erbe jener rationalistischen Wahrnehmungstheorie, wie sie durch Descartes ausgeprägt worden ist. Wenn andererseits die Psychologie der Wahrnehmung beim reinen Phänomen stehenzubleiben suchte; wenn sie – wie Hering es immer wieder gegen Helmholtz getan hat – mit Nachdruck darauf hinwies, daß es sich in den Erscheinungen, von denen hier die Rede ist, »um ein wesentlich verschiedenes Sehen und nicht etwa nur um unser Wissen von der Verschie-
42
Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik, S. 607.
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denheit der äußeren Umstände«43 handle: so griff sie doch, um diese »Verschiedenheit des Sehens« verständlich zu machen, so gut wie ausschließlich auf die reproduktiven Momente zurück, die den Sehakt begleiten und modifizieren. | An die Stelle einer logischen Funktion trat die Funktion des Gedächtnisses und der »reproduktiven Einbildungskraft«. »Das, was wir in einem gegebenen Augenblicke sehen«, so hebt Hering hervor, »ist keineswegs nur bedingt durch die Art und Stärke der ins Auge fallenden Strahlungen und den jeweiligen Zustand des gesamten Netzhautapparates, vielmehr sind diese nur die sozusagen primären Entstehungsfaktoren der durch die Strahlungen veranlassten Farben. Zu ihnen gesellen sich die durch allerlei Nebenumstände geweckten Reproduktionen des früher Erfahrenen, welche als sekundäre und gleichsam accidentelle Faktoren das jeweilige Sehen mit bestimmen. [D]ie Farbe, in welcher wir ein Außending überwiegend oft gesehen haben, prägt sich unserem Gedächtnis unauslöschlich ein und wird zu einer festen Eigenschaft des Erinnerungsbildes. […] Alle Dinge, die uns bereits aus Erfahrung bekannt sind, oder die wir für etwas uns nach seiner Farbe schon Bekanntes halten, sehen wir durch die Brille der Gedächtnisfarben und deshalb vielfach anders, als wir sie ohne dieselbe sehen würden. Bei der gewöhnlichen Flüchtigkeit des Sehens kann sogar die Gedächtnisfarbe eines eben sichtbaren Dinges an die Stelle einer ganz anderen Farbe treten, welche wir gesehen hätten, wenn jeder Anlass zur Reproduktion einer Gedächtnisfarbe ausgeschlossen wäre, immer vorausgesetzt, dass wir der Farbe nicht besondere Aufmerksamkeit zuwenden. Große Fertigkeit besitzen wir, die sogenannte wirkliche Farbe eines Dinges von den zufälligen Farben desselben zu scheiden. So sondern sich für uns jene fein abgestuften Schatten auf der Oberfläche eines Körpers, welche uns die Wahrnehmung seiner Form, seines Reliefs, seiner Entfernung mit vermitteln helfen, als etwas Accidentelles von der Farbe der schattentragenden Fläche, und wir meinen außer dem Dunkel des Schattens und durch ihn hindurch die ›wirkliche‹ Farbe der Fläche zu sehen. Die an glatten Flächen auftretenden Glanzfarben trennen sich in der Wahrnehmung gewissermaßen von den ›wirklichen‹ Farben der Fläche.«44 Die Erscheinungen, die bei Helmholtz als 43 Hering, Grundzüge der Lehre vom Lichtsinn (Abschn. 1, § 4), S. 9. – Auch Bühler hat auf Grund der prinzipiellen Erwägung, daß »Gestalteindrücke und echte Urteilsgegebenheiten […] durchaus verschieden voneinander« seien, scharfe Kritik an der Helmholtzschen »Urteilstheorie« geübt; vgl. Karl Bühler, Handbuch der Psychologie, 1. Teil: Die Struktur der Wahrnehmungen, H. 1: Die Erscheinungsweisen der Farben (§ 15 u. s.), Jena 1922 [Zitat S. 123]. 44 Hering, Grundzüge der Lehre vom Lichtsinn (§ 4), S. 6 ff. [Zitat S. 6–8].
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logisch-intellektuelle Phänomene, als Ergebnisse von Urteilen und Schlüssen, gedeutet worden waren, werden also von Hering im wesentlichen als »mnemische« Phänomene bestimmt: wie ihm denn überhaupt das Gedächtnis eine wesentliche Eigenschaft aller »organisierten Materie« ist.45 Aber auch bei dieser Erklärung vermochte die psychologische Empirie selber auf die Dauer nicht stehenzubleiben. | Katz hat ausdrücklich betont, daß zur Deutung seiner Versuche, die diejenigen Herings aufnehmen und erweitern, die Gedächtnisfarben in keinem Falle ausreichend seien; daß auch dort, wo die farbigen Papiere, die zur Beurteilung vorlagen, weder individuell bestimmt noch als solche den Beobachtern von früher her bekannt waren, die charakteristischen Erscheinungen der »Lichtperspektive«, d. h. der Unterscheidung der »wirklichen« Farbe eines Gegenstands von einer ihm »zufällig« anhaftenden Beleuchtungsqualität, sich einstellten.46 Er schließt daraus, daß die Gedächtnisfarben, von denen er selbst anfänglich angenommen hatte, daß ihnen beim Sehen von Farben eine zentrale Stellung zukomme, sich bei dessen Erklärung mit einer untergeordneten Rolle begnügen müßten.47 Hier steht die empirische Psychologie selbst wieder genau an der Schwelle unseres allgemein-philosophischen Problems. Denn wieder ergibt sich, daß wir es auch im Aufbau, in der Ordnung und Gliederung der Farbwelt sowie in der Rolle, die diese Farbwelt für die Repräsentation räumlicher und gegenständlicher Verhältnisse besitzt, nicht sowohl mit einer Leistung des diskursiven »Verstandes« oder mit einer solchen der bloß »reproduktiven« Einbildungskraft als vielmehr mit jener »produktiven Einbildungskraft« zu tun haben, die Kant als »ein notwendiges Ingredienz der Wahrnehmung selbst« bezeichnet hat.48 Ein »Ingredienz der Wahrnehmung« im strengen Sinn kann niemals ein Faktor heißen, der zu der gegebenen »Empfindung« einfach hinzutritt – sei es, um sie urteilsmäßig umzudeuten, sei es, um sie durch reproduktive Elemente des Gedächtnisses zu ergänzen. Statt um solche nachträgliche Er gänzung handelt es sich hier vielmehr um einen Akt der ursprünglichen Formung, der die Anschauung als Ganzes betrifft und sie als Ganzes erst »möglich macht«. Wenn wir diesen Akt, auf Grund unse45 Vgl. Ewald Hering, Über das Gedächtniss als eine allgemeine Function der organisirten Materie. Vortrag, gehalten in der feierlichen Sitzung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften am 30. Mai 1870, Wien 21876. 46 Näheres hierzu bei Katz, Die Erscheinungsweisen der Farben, bes. § 17, S. 214 ff. – zum Begriff und Problem der »Lichtperspektive« vgl. bes. § 8, S. 90 ff. 47 A. a. O. (Vorwort), S. VII. 48 Vgl. oben, S. 8 ff. [Zitat: Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 623 Anm. (A 120 Anm.)].
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rer früheren Betrachtungen, als einen Akt »symbolischer Ideation« bezeichnen, so gilt es daher einzusehen, daß diese Art der Ideation kein »sekundärer und gleichsam accidenteller Faktor« ist, der das jeweilige Sehen mit bestimmt, sondern daß er, geistig genommen, das Sehen erst konstituiert. Denn es gibt für uns kein Sehen, und es gibt für uns nichts Sichtbares, das nicht in irgendeiner Weise der geistigen Sicht, der Ideation überhaupt, stünde. Ein Sehen und ein Gesehenes außerhalb dieser »Sicht«, eine »bloße« Emp | findung außerhalb und vor jeder Art von Gestaltung, ist eine leere Abstraktion. Immer muß das »Gegebene« schon in einer bestimmten »Hinsicht« genommen und sub specie dieser Hinsicht erfaßt sein: Denn sie erst ist es, die ihm seinen »Sinn« verleiht. Dieser Sinn ist hierbei weder als sekundär-begriffliche noch als assoziative Zutat zu verstehen: Sondern er ist der schlichte Sinn der ursprünglichen Anschauung selbst. In dem Augenblick, wo wir von einer Form der »Sicht« in eine andere übertreten, erfährt nicht etwa nur ein einzelnes Moment der Anschauung, sondern diese selbst in ihrer Totalität, in ihrer ungebrochenen Einheit, eine charakteristische Metamorphose. Nicht nur für die wissenschaftlich bestimmte oder für die künstlerisch geformte, sondern schon für die schlicht empirische Anschauung gilt ebendas Goethische Wort, daß die Anschauenden sich schon produktiv verhalten: »[…] und, so sehr sich auch die Wissenden vor der Imagination kreuzigen und segnen, so müssen sie doch, ehe sie sich’s versehen, die productive Einbildungskraft zu Hülfe rufen«.49 Aus dieser Beziehung zur »produktiven Einbildungskraft« ergab sich für Goethe selbst jener »Unterschied […] zwischen Sehen und Sehen«, den er immer wieder einschärft – ergab sich ihm, daß auch alles »sinnliche« Sehen immer schon ein »Sehen mit Geistes Augen« ist.50 Wenn der Physiologe und der physiologische Optiker hierbei den sinnlichen Faktor vom geistigen reinlich abzuscheiden sucht, wenn er geneigt ist, jenen als »primär«, diesen als »sekundär und accidentell« zu betrachten, so mag diese Tendenz vom Standpunkte der »Sicht«, in der er selbst steht und die ihm die Richtung seiner Betrachtung vorschreibt, vom Standpunkt der kausalen Analyse, der genetischen »Erklärung« des Wahrnehmungsvorganges relativ berechtigt sein – aber völlig verfehlt wäre es, dieses relative Recht mit einem absoluten zu verwechseln. Die rein phänomenologische Betrachtung wird hier, wenn sie überhaupt noch von einem »Früher« oder »Später« spricht, eher 49 Johann Wolfgang von Goethe, Einleitung in die Morphologie I, in: Werke, 2. Abt., Bd. VI/1, Weimar 1891, S. 300–303: S. 302. 50 [Ders., Wenige Bemerkungen, in: Werke, 2. Abt., Bd. VI/1, S. 155–157: S. 156.]
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Ding und Eigenschaft
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geneigt sein, das Verhältnis umzukehren: Sie wird betonen, daß die »Ideation«, daß die Art der »Sicht« das eigentliche πCτεCnν τ0 φσει ist, weil erst in ihr und durch sie die Bedeutung des Gesehenen hervortritt und weil sie sich erst gemäß ihr bestimmt. Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkt noch einmal die Welt der Farben und die verschiedenen »Erscheinungsweisen«, die die Farbe uns darbietet, so finden wir in ihr durchgängig die Bestätigung unseres allgemeinen Ergebnisses. Man mag die »Reduktion« der Farben noch so weit treiben – man mag die Farbe ihres darstellenden Charakters, | ihres repräsentativen Werts für Räumliches und Gegenständliches mehr und mehr entkleiden – so gelingt es doch niemals, sie bis zu einem Punkte zurückzuverfolgen, wo sie zu einem bloß »Empfundenen«, ohne alle anschauliche Gliederung, würde. Als die »Urerscheinungsweise« der Farben stellen sich uns die sogenannten Flächenfarben dar – und biologisch und psychologisch läßt sich der Satz vertreten, daß »die Netzhautmitte als erste Reaktion auf Licht dem Bewußtsein Flächenfarben darbietet oder daß sie den Zustand, der diese Reaktionsweise bedingt, durchläuft, ehe sie zur Wahrnehmung von Oberflächenfarben gelangt«.51 Auch im voll entwickelten Farb-, Raum- und Gegenstandsbewußtsein läßt sich durch gewisse künstlich gewählte Versuchsbedingungen erreichen, daß alle Raum- und Gegenstandsfarben in bloße Flächenfarben überführt werden, daß eine »vollständige Reduktion der Farbeneindrücke« eintritt.52 Die Farbe macht jetzt nicht mehr den Raum, noch macht sie ein bestimmtes Ding, sie macht gewissermaßen nur noch sich selbst sichtig: Sie erscheint als ein Glied innerhalb einer Mannigfaltigkeit abgestufter »Lichterlebnisse«. Auch diese Lichterlebnisse weisen noch insofern eine deutliche Formung auf, als sie sich scharf gegeneinander abheben und sich in dieser Abhebung ordnen. Nicht nur besitzen sie verschiedene Grade der »Kohärenz«, so daß die eine Farbe von der anderen durch einen größeren oder geringeren »Abstand« getrennt erscheint, aus dem sich ein ganz bestimmtes Prinzip der Reihung ergibt: Sondern in der Reihe selbst bestehen auch gewisse ausgezeichnete Punkte, um die sich die einzelnen Elemente gliedern. Auch als bloßer Lichteindruck genommen, ist eine einzelne Farbnuance nicht nur schlechthin »präsent«, sondern zugleich »repräsentativ«: Das hier und jetzt gegebene, das momentane und individuelle Rot z. B. gibt sich uns nicht nur selbst zu eigen, sondern ist uns als »ein« Rot, als Exemplar Katz, Die Erscheinungsweisen der Farben, S. 306 ff. [Zitat S. 308]. Zum Begriff und zur Methode der »vollständigen Reduktion« von farbigen Eindrücken vgl. bes. a. a. O. (§ 4), S. 36 ff. [Zitat S. 36]. 51 52
152 Problem der Repräsentation und Aufbau der anschaulichen Welt 157–158
einer Species, die durch es vertreten wird, bewußt. Es ist einer Gesamtreihe von Rotnuancen derart eingebettet, daß es ihr zugehörig und zugeordnet erscheint und daß es, kraft dieser Zuordnung, die Totalität dieser Reihe zur Darstellung bringt. Ohne diese Beziehung wäre nicht einmal der Eindruck, als »ebendieser«, als τδε τι im aristotelischen Sinne bestimmt. Zu einer neuen Dimension der Darstellung gelangen wir sodann, wofern nicht nur ein individueller Farbeindruck die Farbgattung, der er zugehört, repräsentiert, sondern wo er als Darstellungsmittel für etwas | an sich durchaus Heterogenes, für Dingbestimmungen und räumliche Bestimmungen, fungiert. Die farbige Qualität als solche wird jetzt zum bloßen »Akzidens«, das auf seinen Träger, auf das bleibende Substrat, dem es anhaftet, hinweist. Sobald das Bewußtsein dieser »Weisung«, dieser Art der »Ideation« folgt, erscheint ihm damit die Farbe selbst, als rein anschauliches Erlebnis, sozusagen in einem anderen Licht: Die neue Form der »Sicht« macht anderes an ihr »sichtig«. Solange wir rein bei der Farbe als Flächenfarbe stehenbleiben: solange können wir weder von einer Veränderung der Farbe durch die Beleuchtung noch auch davon sprechen, daß ein und dieselbe Farbe in verschiedenen Graden der »Ausprägung« gegeben sein kann.53 Denn beides setzt einen Akt der Identifikation voraus, der bei der Auffassung der Flächenfarbe als solcher, als eines einfachen »ebenen Quale« noch völlig fehlt. Hier gilt jedes Farbenphänomen eben nur für einen einzigen Augenblick und füllt andererseits ebendiesen Zeitmoment, diese seine Gegenwart, auch vollständig aus. Es ist auf sich bezogen und in sich zentriert: so daß jeder Wechsel seiner Beschaffenheit zugleich und notwendig einen Wechsel in dem, was es »ist«, einen Wechsel seines »Wesens«, in sich schließt. Aber ebendiese eigentümliche Selbstgenügsamkeit, diese »Autarkie« der Farbe fällt fort, sobald wir sie nicht mehr in ihrem bloßen »Ansich« nehmen, sondern sie als Darstellungsmittel, als »Zeichen« benutzen. Jetzt wird sie selbst so »vieldeutig«, wie jedes Zeichen, seiner Natur nach, vieldeutig ist und bleiben muß. Wie ein bestimmtes Wort der Sprache immer nur im Ganzen des Satzes und aus dem Ganzen des Sinnes, der im Satz seine sprachliche Ausprägung findet, interpretierbar ist: so kann jetzt auch die einzelne Farbenerscheinung je nach dem Zusammenhang, in dem wir sie nehmen, sehr Verschiedenes »besagen«. Und diese verschiedene Bedeutungsrelevanz und Bedeutungs prägnanz hält sich durchaus im Kreise der anschaulichen Erlebnisse selbst. Eine Farbe mutet uns rein anschaulich anders an, sie »sieht anders aus«, sobald sie, repräsentativ genom53
Näheres a. a. O., bes. § 24, S. 264 ff.
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Ding und Eigenschaft
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men, aus ihrer Stelle gerückt wird – sobald sie statt als Oberflächenfarbe als Flächenfarbe, oder umgekehrt, »gesehen« wird. Wenn von zwei Farben a und b, sobald man sie als Flächenfarben miteinander vergleicht, a deutlich als die hellere, b als die dunklere erscheint – so kann dieses Verhältnis sich mit einem Schlage umkehren, sobald wir in eine andere Ordnung der Betrachtung übergehen, also a und b als Ding- oder Raumfarben nehmen. Herings und Katz’ Untersuchungen sind voll von markanten Beispielen für dieses charakteristische | Umschlagen der Farbphänomene beim Übergang von der einen Farbordnung in die andere. »Man nehme«, so lautet etwa eines dieser Beispiele, »am Fenster stehend in die eine Hand ein weißes, in die andere ein graues Papier und halte dieselben bei kleinem gegenseitigen Abstand zunächst horizontal nebeneinander. […] Neigt man nun das graue Papier dem Fenster zu, das weiße von demselben ab, so wird sehr bald das Netzhautbild des grauen lichtstärker sein als das des weißen, aber obgleich man die Helligkeitsänderungen bemerkt, sieht man […] das jetzt lichtstärkere ›wirklich‹ graue Papier noch grau und das jetzt lichtschwächere ›wirklich‹ weiße noch weiß. Betrachtet man jedoch die Papiere nur mit einem Auge durch eine irgendwie fixierte Röhre, so gelingt es leicht, ihre Farben in einer und derselben Ebene zu sehen, falls ihre beiden Bilder unmittelbar und ohne Beschattung des einen aneinander grenzen, und von jedem Papier nur noch ein Segment sichtbar ist. Jetzt sieht man das graue Papier heller und das weiße dunkler, wie es einer Verschiedenheit der beiden Lichtstärken entspricht. […] Neigen wir ein graues oder weißes Papier abwechselnd dem Fenster zu oder von ihm ab, so nehmen wir den sichtbar eintretenden Zuwuchs an Weißlichkeit (Helligkeit) oder Schwärzlichkeit (Dunkelheit) der Fläche als ein bloßes Accidens zu ihrer ›wirklichen‹ Farbe; das weiße wie das graue Blatt behält für uns die Farbe ›die es wirklich hat‹, wenn es auch zufällig heller oder dunkler aussieht. Wir sehen also hier nicht die ›wirkliche‹ Farbe der Fläche sich ändern, wie dies der Fall ist, wenn auf der Fläche aus irgendwelchem Grunde ein ›Fleck‹ entsteht, sondern die der Fläche zugehörige Farbe scheint uns fort zu bestehen, obwohl wir ihre Änderung thatsächlich bemerken. In vielen Fällen wird sogar ein zufälliger Weißlichkeits- oder Schwärzlichkeits-Zuwuchs einer Fläche als etwas von ihrer ›wirklichen‹ Farbe völlig Gesondertes gesehen: so z. B. wenn ein Schatten über eine Fläche läuft oder ein bewegter spiegelnder Körper einen sich bewegenden Lichtfleck auf der Fläche erzeugt.«54 Wie man sieht, ist es der Wechsel des Bezugspunkts, auf den hier der Wan54
Hering, Grundzüge der Lehre vom Lichtsinn (§ 4), S. 9 f.
154 Problem der Repräsentation und Aufbau der anschaulichen Welt 159–160
del im Phänomen zurückgeht. Wird das »Ding«, das eine bestimmte Farbe trägt, als dieser Bezugspunkt genommen, so läuft die »Rekognition« und »Repräsentation« gleichsam am Faden des Dinges fort. Dem konstanten »Gegenstand« wird eine konstante Farbe als dauernde »Eigenschaft« zugeschrieben – und alle Farberscheinungen haben nur den einen Sinn und die eine Aufgabe, diese Eigenschaft für uns darzustellen, als Zeichen für sie zu dienen. Wir sehen demgemäß von den wechselnden Beleuchtungseffekten | »ab«, um lediglich auf die »Dauerfarbe« des Gegenstandes »hinzusehen«. Sobald aber diese »Absicht« und diese »Hinsicht« sich wandelt, wandelt sich damit auch zugleich das Gesamtgesicht des Farbphänomens. Es erscheint als ein anderes, wenn es sub specie der »Substantialität« des Dinges, ein anderes, wenn es als eine »Wirkung« gesehen wird, die auf einer vorübergehenden Kombination von Umständen beruht. »[I]ch gehe«, um wiederum ein Heringsches Beispiel anzuführen, »unter einem dichten Laubdache einen Weg, auf dem an beschränkter Stelle durch eine Lücke des Blätterdaches direktes Sonnenlicht fällt: im ersten Augenblicke meine ich eine durch verschütteten Kalk weiß gefärbte Stelle zu sehen; sobald ich aber genauer aufmerke, sehe ich kein Weiß mehr, sondern nur ein auf dem graubraunen Boden liegendes Licht.«55 Die Richtung der »Ideation« zwingt also das rein »optische« Phänomen in ganz bestimmte Bahnen. In dem einen Falle wird die optische Erscheinung als Darstellung eines Ding-Eigenschafts-Zusammenhangs, in dem anderen als Darstellung eines Kausalzusammenhangs benutzt: In dem einen Falle symbolisiert sie uns ein substantielles Sein (das Sein des »Fleckes«), in dem anderen einen Lichtreflex als eine momentane Wirkung. Aber in beiden Fällen wäre es irreführend, wenn man das Phänomen so beschriebe, daß hier zu einer an sich identisch bestehenden »Empfindung« die »Kategorie« der Substantialität oder Kausalität nur nachträglich hinzutritt und daß sie diese Empfindung in ein bereitgehaltenes formales Schema gleichsam hineinpreßt. Denn hier ist ebendas Entscheidende übersehen: daß nämlich die Identität des Bezugspunkts, die der »Rekognition« und »Repräsentation« die Wege weist, nicht einfach, im Sinne eines Vorgegebenen, »da ist«, sondern daß sie sich erst aus der Richtung der Betrachtung und aus dem ideellen Ziel, auf das diese hinblickt, ergibt. Ist die Intention auf die »Einheit des Gegenstandes« im Sinne der »objektiven« Erfahrung gerichtet, so erscheint die Beleuchtungsfarbe als ein Zufälliges, über das wir »hinwegsehen«, um die Kontinuität ebendieses Gegenstandes nicht aus dem Auge zu verlieren. Untersuchen wir dagegen – was frei55
[A. a. O. (§ 4), S. 9.]
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Ding und Eigenschaft
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lich im allgemeinen nur in einer besonderen »wissenschaftlichen« Einstellung zu geschehen pflegt – die Farb- und Lichtphänomene als solche, blicken wir nicht durch sie, als Repräsentanten, auf die Gegenstände hin, sondern versenken wir uns in ihr eigenes Gefüge, so rückt die Identität vom Gebiet des Dinges in das der »Erscheinung« hinüber. Diese letztere selbst in all ihrer Flüchtigkeit und Wandelbarkeit, in ihrem augenblicklichen »So- und nicht-anders-Sein«, ist das, was wir jetzt festhalten und erkennen wollen: Das Darstellende | ist in die Reihe des Darzustellenden hinübergetreten. Aber aus der Wechselbeziehung von Darstellendem und Dargestelltem überhaupt sind wir damit nicht herausgetreten – denn wäre dies der Fall, so hätten wir auch das Gebiet der konkreten »Anschauung« verlassen. Nur die Pole des Grundverhältnisses, nur die Bezugspunkte haben sich verschoben, während es selbst in seiner allgemeinen Funktion fortbesteht.56 | 56 Es ist charakteristisch, wie Katz, der zunächst noch bemüht scheint, seine Beobachtungen und Versuche in den Rahmen einer allgemeinen Assoziationstheorie einzufügen, sie also aus bloßen Gesetzen der »reproduktiven Einbildungskraft« zu erklären, von dieser Basis der Erklärung durch die Tatsachen selbst mehr und mehr abgedrängt wird. Ausdrücklich weist er darauf hin, daß das Phänomen der sogenannten »Lichtperspektive«, daß die Unterscheidung der »eigentlichen« Farben der Gegenstände von solchen Farben, die ihnen nur in einer bestimmten »anormalen« Beleuchtung zukommen, sich »durch zentrale Reproduktionen optischer Residuen« nicht ausreichend verständlich machen lasse. »[E]in Operieren mit reproduzierten Vorstellungen«, so führt er aus, ist in dem vorliegenden Falle »schon darum nicht ohne weiteres gestattet […] weil die Vorgänge, die in Betracht kommen […] nicht in jeder Beziehung denen gleich sind, die man bei der Assoziation von Eindrücken oder Vorstellungen für gewöhnlich im Auge hat.« Denn bei der Assoziation, im gewöhnlichen Sinne des Wortes, werde einmal den Elementen, die sich miteinander assoziieren, eine volle Selbständigkeit und Unabhängigkeit zugeschrieben; jedes von ihnen erlaubt den Eintritt auch in jede andere als die gerade vorliegende Verbindung. Ferner brauche zwischen den durch Assoziation verbundenen Elementen keinerlei »innerer« Zusammenhang zu bestehen: Sie geraten nur äußerlich »aneinander«, ohne in irgendeiner Weise notwendig aufeinander bezogen zu sein. Schließlich werde es als erforderlich angesehen, daß die beiden Glieder der Assoziation, um miteinander verknüpft zu werden, entweder koexistent oder sukzessiv dargeboten werden. Aber alle drei Voraussetzungen treffen für den Prozeß, der zu der Scheidung von Beleuchtung und Beleuchtetem hinführt, nicht zu. »Bei nicht-normaler Beleuchtung soll nach herrschender Ansicht der vorhandene Eindruck den Farbeneindruck, der bei normaler Beleuchtung vorhanden sein würde, reproduzieren. Es werden dabei also die Oberflächenfarben selbst als die Elemente angesehen. Diese Auffassung ist aber irrig; denn ich kann niemals die Oberflächenfarben für sich erleben ohne eine bestimmte Beleuchtung; es wird nicht eine bestimmte Beleuchtung mit einer bestimmten Oberflächenfarbe assoziiert, sondern die Elemente, die in Beziehung zueinander treten, sind selbst Produkte aus Oberflächenfarben und Beleuchtung.« Ferner haben die Elemente, die hier verknüpft
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Problem der Repräsentation und Aufbau der anschaulichen Welt
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Zugleich zeigt sich hier, wie die sinnlichen Phänomene nur dadurch repräsentativen Charakter erhalten, nur dadurch zu Trägern von Darstellungsfunktionen werden können, daß sie sich in sich selbst fortwerden, eine innere Verwandtschaft: Es sind Farbenerlebnisse, die stets durch stetige Änderung ineinander überführbar sind. Und endlich sind diese Farbenerlebnisse niemals simultan gegeben, noch brauchen sie sich, um sich miteinander zu verknüpfen, mit einer gewissen Schnelligkeit zu folgen, wie dies beispielsweise bei Silben geschehen muß, damit sie eine Assoziation untereinander eingehen. Um alle diese Unterschiede festzuhalten und terminologisch zu fixieren, führt Katz an Stelle des gewöhnlichen Assoziationsbegriffs den Begriff der »Kettenassoziation« ein. Was die »Kettenassoziation« von Assoziationen im gewöhnlichen Sinne des Wortes unterscheidet, ist dies, »daß die assoziierten Elemente selbst Produkte aus zwei Größen (Beleuchtung und Beleuchtetes) sind, deren Natur | als Produkte aus einer variablen (Beleuchtung) und einer festen Größe (das Beleuchtete) aber erst aus dem Erleben von Ketten von Elementen zu entnehmen ist« (Katz, Die Erscheinungsweisen der Farben, S. 375 ff. [Zitate S. 375, 377, 378 u. 379]). Durch diesen Begriff der »Kettenassoziation« wird jedoch der Rahmen der »klassischen« Assoziationslehre nicht sowohl erweitert als vielmehr gesprengt. Denn hier handelt es sich eben um eine völlig andere Form der Beziehung, als sie in irgendeiner sogenannten »Ähnlichkeitsassoziation« oder »Berührungsassoziation« vorliegt. Es besteht jenes Verhältnis der »symbolischen Mitgegebenheit«, kraft deren ein besonderes, hier und jetzt gegebenes Phänomen nicht nur sich selbst, sondern einen Gesamtkomplex – hier: die Erscheinung »desselben« Gegenstandes in »verschiedenen« Beleuchtungen – vertritt und zur Darstellung bringt. Das, was die einzelnen Glieder der Reihe zusammenhält, ist also nicht ihre Ähnlichkeit noch die Häufigkeit, mit der sie in empirischer Sukzession oder Koexistenz zusammen gegeben waren, sondern die gemeinsame Funktion des Hinweisens, die sie erfüllen: die Tatsache, daß sie, bei all ihrer sinnlichen Heterogenität, sich doch auf einen gemeinsamen Bezugspunkt (eben auf das X des identischen »Gegenstandes«) zurückbeziehen. Diese Beziehung wird nicht etwa durch die Assoziation erklärt, sondern sie macht vielmehr die »Assoziation«, sie macht die Verknüpfung des Mannigfaltigen und Verschiedenen erst möglich. »Das Bewußtsein von dem einen Gegenstand, an dem sich die farbigen Änderungen vollziehen«, so sagt Katz selbst, »gibt das Band für die Verknüpfung der Farbenerlebnisse ab, die durch ihn bei Beleuchtungswechsel ausgelöst werden.« (A. a. O., S. 379) Ebendie spezifische Form dieses Bewußtseins kann aber, wie wir gesehen haben, durch das bloße »Beisammen«, durch die »Assoziation der Vorstellungen« niemals hinreichend bezeichnet, geschweige durch sie »erklärt« werden (s. hierzu bes. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 37 ff. [ECW 11, S. 35 ff.]). Katz’ Untersuchungen zeigen in sehr lehrreicher Weise, wie die reinen Farbphänomene einen ganz anderen Zusammenhang miteinander eingehen und eine ganz neue Zuordnung zueinander gewinnen, sobald wir aus der Ordnung der »Flächenfarben« in die der »Oberflächenfarben« übergehen – d. h., sobald wir sie auf die »objektive Einheit« des Gegenstandes beziehen und sie gleichsam an diese anheften. Während sie zuvor relativ isoliert waren und jedes Phänomen gewissermaßen nur »sich selber« vorstellig machte, bilden sie jetzt, dank dieser gemeinsamen Rückbeziehung, eine stetige Reihe, eine geschlossene Kette, in der jedes Glied das Ganze vertritt und »für« das Ganze steht. Die einzelnen sinnlichen
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Ding und Eigenschaft
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schreitend gliedern – wie aber andrerseits auch umgekehrt aus jeder schärferen Gliederung, die eine anschauliche Gesamtheit in sich erfährt, immer reichere und weitere Möglichkeiten für die Darstellung resultieren. | Nur innerhalb einer gegliederten Mannigfaltigkeit kann ein »Moment« für das »Ganze« eintreten – und andrerseits bedarf das Bewußtsein, wo immer ein gestalthaftes Ganze vorliegt, nur der Vergegenwärtigung eines seiner Momente, um an ihm und in ihm das Ganze selbst zu erfassen, um es kraft dieser Vermittlung zu »haben«. So entspricht denn auch jedem Wechsel des Bezugspunkts, jeder »Umzentrierung« in einer anschaulich gegebenen Struktur, im allgemeinen ein Umschlag dessen, was in ihr und durch sie dargestellt wird. In der bloßen Flächenfarbe ist ein solcher Wechsel des »Blickpunkts« nur in beschränktem Maße möglich: Denn, solange sie als solche, solange sie als bloßes »ebenes Quale« genommen wird, gibt es in ihr noch keine funktionellen Bedeutungsunterschiede, gibt es in ihr gewissermaßen noch keinen Vorder- und Hintergrund. Aber dieser Unterschied tritt alsbald ein, sobald die Farbe zur Oberflächenfarbe wird, sobald sie als »Eigenschaft«, als dauernde Beschaffenheit eines »Dinges« genommen wird. An dem sinnlichen Erlebnis, das im bloßen Hier und Jetzt als ein einziger ungeschiedener Komplex gegeben ist, treten jetzt deutlich bestimmte Grundmomente hervor, die sich scharf gegeneinander abgrenzen. Die einheitliche Anschauung zerlegt sich in einen konstanten und einen variablen Faktor: Die »unveränderliche« Farbe des Gegenstandes wird durch allen Wechsel der Beleuchtung hindurch »gesehen«, wird von allen Modifikationen, die dieser Wechsel mit sich bringt, abgehoben. Erfolgt diese Abhebung, diese innere Gliederung auf verschiedene Weise, so ist damit auch das »Objekt« des Sehens verändert. Die einzelne helle Stelle, die das gleichmäßige Dunkel unter dem Blätterdach einer Allee unterbricht, kann – um bei dem Beispiel Herings zu bleiben – bald auf diese, bald auf jene Dingeinheit bezogen werden: Sie kann bald als »dunkler Kiesgrund im Sonnenlicht«, bald als die weißliche Dingfarbe verschütteten Kalkes genommen werden. In dem ersteren Fall ist der Erscheinungen werden nicht äußerlich durch ihre bloße empirische Ähnlichkeit oder durch Verhältnisse empirischer Sukzession und Koexistenz miteinander verbunden, sondern sie werden durch das gemeinsame Medium des einheitlichen Gegenstandes, den jede von ihnen symbolisch repräsentiert, zusammengeschlossen und »in eins gesetzt«. Dieser Zusammenschluß, der zwischen ihnen erst das »geistige Band« stiftet, ist ein solcher der Bedeutung: Weil und sofern die mannigfaltigen und besonderen Farberscheinungen sämtlich dasselbe Objekt »meinen« und »darstellen«, gehen sie selbst in die Einheit einer »Anschauung« zusammen.
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Faktor »Beleuchtung« variabel gesetzt und durch seine Variation der Unterschied, der sich für uns im optischen Feld an einer bestimmten Stelle zeigt, »erklärt« – im andern Fall wird dieser Faktor als konstant angesehen und die Differenz darauf zurückgeführt, daß zwei verschiedene »Sehdinge« (der Boden und der Kalk, der auf ihm liegt) gegeben sind. Und jedesmal erhält das Farbphänomen einen anderen Charakter und einen anderen rein anschaulichen Sinn, je nachdem es an die eine oder die andere Dingeinheit angeschlossen wird. Es »ist« ein anderes, sobald es in eine andere Gegenstandsreihe hinüberrückt und diese in ihrer Ganzheit und ihrem Zusammenhang darstellt. Denn das Sein der Erscheinung läßt sich von ihrer repräsentativen Funktion nicht ab | trennen: Sie »ist« nicht mehr dasselbe, sobald sie etwas anderes »bedeutet«, sobald sie auf einen anderen Gesamtkomplex, als auf ihren Hintergrund, hinweist. Es ist bloße Abstraktion, wenn man die Erscheinung aus dieser Verflochtenheit herauszulösen – wenn man sie als ein selbständiges Etwas vor und außerhalb jeglicher Funktion des Hinweisens zu erfassen sucht. Denn der nackte Kern der bloßen Empfindung, die nur noch ist, ohne etwas darzustellen, besteht eben niemals im wirklichen Bewußtsein und für dasselbe, sondern er ist, wenn überhaupt, so nur als Bestand im Bewußtsein des – Psychologen gegeben: Er bildet ein Musterbeispiel für jene Illusion, die William James »the psychologist’s fallacy« genannt hat.57 Hat man sich einmal prinzipiell von dieser Illusion befreit, hat man erkannt, daß nicht sowohl »Empfindungen« als vielmehr »Anschauungen«, daß nicht Elemente, sondern gestaltete Ganzheiten die einzigen Data des Bewußtseins bilden – so kann die Frage nur noch lauten, welches Verhältnis zwischen der »Form« dieser Anschauungen und der »Darstellungsfunktion«, die sie zu erfüllen haben, besteht. Es zeigt sich alsdann, daß hier eine echte Wechselbeziehung vorliegt: Die Formung der Anschauung ist das eigentliche Vehikel, dessen die Darstellung notwendig bedarf, und andererseits ist es der Gebrauch der Anschauung als Darstellungsmittel, der an ihr immer neue »Seiten« und Momente hervortreten läßt, der sie zu einem immer reicheren und differenzierteren Ganzen gestaltet. |
57 [S. William James, The Principles of Psychology, 2. Bde., London 1902, Bd. I, S. 196 f.]
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kapitel iii. Der Raum Der Aufbau der anschaulichen Wirklichkeit beginnt, wie sich gezeigt hat, damit, daß die fließend immer gleiche Reihe der sinnlichen Phänomene sich abteilt. Mitten in dem stetigen Fluß der Erscheinungen werden jetzt bestimmte Grundeinheiten festgehalten, die fortan die festen Mittelpunkte der Orientierung bilden. Das einzelne Phänomen erhält seinen charakteristischen Sinn erst dadurch, daß es auf diese Zentren bezogen wird. Und aller weitere Fortschritt der »objektiven« Erkenntnis, alle Klärung und Bestimmung, die das Gesamtbild des anschaulichen Daseins erfährt, ist daran geknüpft, daß dieser Prozeß immer weitere Kreise zieht. Mit der Zerlegung der phänomenalen Wirklichkeit in präsentative und repräsentative Momente, in Darstellendes und Dargestelltes, ist ein neues Motiv gewonnen, das sich immer stärker auswirkt und das fortan die gesamte Bewegung des theoretischen Bewußtseins bestimmt. Der ursprüngliche Impuls, der hier einsetzt, pflanzt sich gewissermaßen wellenförmig fort – und er führt dazu, daß jene strömende Bewegtheit, in der das Ganze der Phänomene uns zunächst allein gegeben ist, zwar nicht angehalten wird, daß sich aber aus ihr allmählich immer deutlicher bestimmte einzelne Wirbel absondern. Die Gliederung der Erscheinungswelt unter dem Gesichtspunkt von »Ding« und »Eigenschaft«, die wir bisher allein ins Auge gefaßt haben, bildet freilich im Ganzen dieses Prozesses nur ein einzelnes Moment. Sie ist selbst nur dadurch möglich, daß sie sich mit anderen Motiven verbündet und mit ihnen zugleich wirksam wird. Die Setzung fester Dingeinheiten, an welche die wechselnden Erscheinungen gleichsam angeheftet werden, vollzieht sich in der Art, daß diese Einheiten zugleich als räumliche Einheiten bestimmt werden. Der »Bestand« des Dinges ist an die Festigkeit solcher Raumeinheiten gebunden. Daß ein Ding ebendieses eine ist und daß es als dieses eine beharrt: dies ergibt sich für uns vor allem daraus, daß wir seine »Stelle« im | Ganzen des Anschauungsraumes bezeichnen. Wir sprechen ihm in jedem Augenblick seinen bestimmten Ort zu – und wir nehmen den Inbegriff dieser seiner Orte selbst wieder zu einer anschaulichen Gesamtheit zusammen, die uns die Bewegung des Gegenstandes als eine stetige, gesetzlich bestimmte Veränderung darstellt. Und wie hierdurch das Ding jeweilig an einen festen Raumpunkt geknüpft und seine Lage im »wirklichen« Raum, relativ zur Lage aller anderen Gegenstände, bestimmt erscheint, so legen wir ihm auch seine räumliche »Größe« und »Gestalt« als objektive Bestimmungen bei. Damit ergibt sich jene »Union« des Dingmotivs und des
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Raummotivs, die ihre prägnanteste wissenschaftliche Ausprägung im Begriff des Atoms gefunden hat. Aber dieser Begriff führt nur einen Ansatz weiter, der, noch bevor er sich in der Konstruktion des theoretisch-physikalischen Weltbildes auswirkt, schon im Aufbau der empirischen Wahrnehmungswelt wirksam ist. Auch die Wahrnehmung gelangt erst dadurch zur Setzung von »Dingen« und zu ihrer Unterscheidung von ihren wandelbaren Zuständen und Beschaffenheiten, daß sie sie in einen objektiven Raum hineinstellt und in ihm sozusagen ansiedelt. Jedes einzelne »wirkliche« Ding bezeugt ebendiese seine Wirklichkeit vor allem darin, daß es einen Teil des Raumes einnimmt und alles andere von ihm ausschließt. Die Individualität des Dinges beruht letzten Endes darauf, daß es in diesem Sinne räumliches »Individuum« ist – daß es eine eigene »Sphäre« besitzt, in der es ist und in der es sich gegenüber allem anderen Sein behauptet. So wird unsere Betrachtung unmittelbar vom Ding-Eigenschafts-Problem zum Raumproblem zurückgetrieben: Schon die Aussprache und Formulierung des ersteren schließt gewisse Grundbestimmungen des letzteren ein. Damit aber stehen wir freilich vor einem kaum entwirrbaren Fragenkomplex: Gibt es doch kein Gebiet der Philosophie, ja der theoretischen Erkenntnis überhaupt, in das das Raumproblem nicht in irgendeiner Weise eingreift und mit dem es sich nicht auf die eine oder andere Weise verwebt. Metaphysik und Erkenntniskritik, Physik und Psychologie sind gleich sehr an seiner Stellung und an seiner Lösung beteiligt. Wir können hier nicht daran denken, das Problem in alle diese seine gedanklichen Verzweigungen zu verfolgen, sondern wir heben aus seinem reichen und vielverschlungenen Gewebe nur jenen einen Faden heraus, durch den es sich mit unserer systematischen Grund- und Hauptfrage als verknüpft erweist. In welcher Beziehung – so lautet unsere Frage – steht das Raumproblem zum allgemeinen Symbolproblem? Ist der Raum, »in« dem sich uns die Dinge darstellen, eine einfache anschauliche Gegeben | heit, oder ist er vielleicht erst der Ertrag und das Ergebnis eines Prozesses der symbolischen Formung? Mit dieser Problemstellung werden wir freilich aus den gebahnten Wegen der psychologischen und erkenntnistheoretischen Betrachtung herausgedrängt und von vornherein auf einen neuen Boden gestellt. Denn jetzt wird – auf den ersten Blick seltsam und paradox genug – der Schwerpunkt des Problems von der Seite der Naturphilosophie nach der der Kulturphilosophie verschoben. Die Frage, was der Raum für die Konstitution der Dingwelt bedeutet, wird verschärft und vertieft zu der anderen, was er für den Aufbau und die Eroberung der spezifisch geistigen Wirklichkeit
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besagt und leistet. Wir können weder seinen »Ursprung« noch seinen Wert, seine eigentümliche »Dignität«, völlig verstehen, ehe wir ihm nicht seine Stelle innerhalb einer allgemeinen »Phänomenologie des Geistes« bestimmt haben. Welcher Zusammenhang – so muß jetzt gefragt werden – besteht zwischen der objektivierenden Leistung der reinen Raumanschauung und jenen anderen geistigen Energien, die am Fortgang der Objektivierung entscheidend mitwirken? Welcher Anteil kommt insbesondere der Sprache an der Gewinnung und Sicherstellung der Welt der räumlichen Anschauung zu? Die traditionelle Psychologie und Erkenntnistheorie erteilt auf alle diese Fragen keine zureichende Antwort; ja beide scheinen sich die Frage selbst nicht in wirklicher Schärfe und Bestimmtheit gestellt zu haben. Aber sie haben sich eben infolge dieser Unterlassung einen wichtigen Zugang zum Raumproblem versperrt. Sie haben gewissermaßen den Faden fallenlassen, durch den sich dieses Problem nicht nur der universellen Problematik des Seins, sondern auch der des Sinnes verbindet und einfügt. Und doch läßt sich auf der anderen Seite, gerade in den bekanntesten Raumtheorien, der Punkt genau aufweisen, an welchem dieselben, wenngleich zunächst noch unbewußt und gewissermaßen wider Willen, zu einer Verfolgung der Frage in ebendieser Richtung genötigt werden. Von dem Augenblick an, in dem das Raumproblem überhaupt in wirklicher systematischer Schärfe gesehen und behandelt wurde, rückt in seiner Betrachtung immer deutlicher ein Grundbegriff in den Mittelpunkt. Wie ein roter Faden zieht er sich durch die Geschichte der Raumtheorien. Mochten diese Theorien »rationalistisch« oder »sensualistisch«, »empiristisch« oder »nativistisch« orientiert sein – immer sahen sie sich in ihrem Ausbau und in ihrer Begründung auf den Begriff des Zeichens zurückgeführt. Wir finden diesen Zug in Keplers und Descartes’ Raumlehre, die im siebzehnten Jahrhundert den ersten Grund zu einer mathematisch exakten Behandlung des | Problems legt; wir finden ihn, in schon weit größerer Schärfe der Ausprägung, in Berkeleys »Neuer Theorie des Sehens«, die zum Ausgangspunkt der » physiologischen Optik« wird; aber nicht minder läßt er sich in allen modernen Lehren über den »Ursprung der Raumvorstellung« bis zu Helmholtz und Hering, bis zu Lotze und Wundt verfolgen. Es verlohnt, sich diesen Zusammenhang in einem kurzen historischen Überblick zu vergegenwärtigen: Denn in ihm werden wir zugleich zu der systematischen Frage, die hier bereits überall latent ist, wie von selber hingeleitet werden. Descartes’ Analyse des Raumbegriffs ist aufs engste mit seiner Analyse des Substanzbegriffs verknüpft. Hier besteht eine methodi-
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sche Einheit und Korrelation, die den ontologisch-metaphysischen Zusammenhang der Probleme aufs genaueste widerspiegelt. Denn nach den Grundvoraussetzungen der Cartesischen Metaphysik läßt sich das »Ding«, der empirische Gegenstand durch nichts anderes als durch seine rein räumlichen Bestimmungen in klarer und distinkter Weise definieren. Die Ausdehnung nach Länge, Breite und Tiefe ist das einzige objektive Prädikat, durch welches wir den Gegenstand der Erfahrung bestimmen können. Alles, was wir sonst als Eigenschaft des physisch Realen anzusehen pflegen, muß sich, sofern es für uns überhaupt in wahrhafter Strenge begreiflich sein soll, auf Verhältnisse der reinen Ausdehnung zurückführen und in sie ohne Rest auflösen lassen. Näher aber begründet sich der unlösliche Zusammenhang, der hier zwischen dem Dingbegriff und dem mathematischen Raumbegriff aufgezeigt wird, in der Tatsache, daß beide auf ein und dieselbe logische Grundfunktion zurückgehen und daß sie in ihr gemeinsam verwurzelt sind. Denn die Identität des Dinges wie die Kontinuität und Homogenität der geometrischen Ausdehnung sind, wie Descartes zeigt, keineswegs Data, die in der sinnlichen Empfindung oder Wahrnehmung unmittelbar gegeben sind. »Das Gesicht gibt uns nichts als Bilder, das Gehör gibt uns nichts als Klänge oder Töne zu erkennen: So ist klar, daß jenes Etwas, was wir außer diesen Bildern oder Tönen als das durch sie Bezeichnete denken, uns nicht durch sinnliche Vorstellungen, die von außen kommen, sondern vielmehr durch eingeborene Ideen, die ihren Sitz und Ursprung in unserer eigenen Denkkraft haben, gegeben wird.«58 So sind auch alle jene Bestimmungen, die wir dem Raum der Anschauung beizulegen pflegen, näher betrachtet nichts anderes als rein logische Charaktere. Durch solche | Charaktere, durch Merkmale wie Stetigkeit, Unendlichkeit, Gleichförmigkeit, definieren wir den Raum der reinen Geometrie; aber auch die Anschauung des Dingraumes, des »physischen« Raumes kommt in keiner anderen Weise zustande. Auch zu ihm gelangen wir nur dadurch, daß der Verstand die einzelnen Daten, die die Sinne ihm liefern, zusammenfaßt, daß er sie miteinander vergleicht und sie 58 René Descartes, Notae in programma quoddam, sub finem anni 1647 in Belgio editum, cum hoc titulo: Explicatio mentis humanae, sive animae rationalis, ubi explicatur quid sit, et quid esse possit, in: Œuvres, Bd. VIII/2, Paris 1905, S. 335–369: S. 360 f. [»Et sane, quod visus nihil praeter picturas, nec auditus praeter voces vel sonos, proprie ac per se exhibeat, unicuique est manifestum: adeo ut illa omnia quae praeter istas voces vel picturas cogitamus tanquam earum significata, nobis repraesententur per ideas non aliunde advenientes quam a nostra cogitandi facultate, ac proinde cum illa nobis innatas […]«]; Näheres s. Erkenntnisproblem, Bd. I, S. 489 f. [ECW 2, S. 407 f.].
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gewissermaßen aufeinander abstimmt. In dieser Art der Abstimmung und der wechselseitigen Zuordnung entsteht uns der Raum als ein konstruktives Schema, das der Gedanke entwirft – als ein Geschöpf jener »universellen Mathematik«, die für Descartes die allgemeine Grundwissenschaft von Ordnung und Maß ist. Auch dort, wo wir Räumliches unmittelbar wahrzunehmen glauben, stehen wir bereits mitten im Umkreis und im Banne dieser universellen Mathematik. Denn was wir die Größe, die Entfernung, die wechselseitige Lage der Dinge nennen, ist nichts, was gesehen oder getastet werden kann: Es kann nur geschätzt und errechnet werden. Jeder Akt räumlicher Wahrnehmung schließt einen Akt der Messung und somit der mathematischen Schlußfolgerung in sich. So dringt die Ratio – in jenem doppelten Sinn, nach welchem sie zugleich »Vernunft« und »Rechnung« bedeutet – hier unmittelbar ins Gebiet der Anschauung, ja in das der Wahrnehmung vor, um es sich als zugehörig und um es ihrem Grundgesetz als unterworfen zu erklären. Alles Anschauen ist an ein theoretisches Denken und dieses selbst wieder an ein logisches Urteilen und Schließen gebunden, so daß der Grundakt des reinen Denkens für uns auch die Wirklichkeit, in der Form einer selbständigen Dingwelt wie einer anschaulichen Raumwelt, erst aufschließt und zugänglich macht. Berkeleys »Neue Theorie des Sehens« erscheint in ihrem Aufbau und in ihren erkenntnistheoretischen Voraussetzungen als die genaue Umkehr dieser Cartesischen Lehre: Aber sie hat nichtsdestoweniger mit ihr einen bestimmten Ausgangspunkt gemein. Denn auch für den Sensualisten Berkeley, dem alle ursprüngliche Wirklichkeit in der einfachen Sinnesempfindung beschlossen liegt, steht es fest, daß die letztere, daß die sinnliche »Perzeption« als solche nicht zureicht, um das spezifische Bewußtsein der Räumlichkeit und um die räumliche Gliederung und Anordnung, in der uns die Erfahrungsobjekte gegeben sind, zu erklären. Auch für ihn sind die einzelnen Sinnesdaten nicht derart beschaffen, daß sie unmittelbar räumliche Bestimmungen an sich tragen; sondern wiederum kommen diese erst durch einen verwickelten Prozeß der Deutung zustande, die die Seele an diesen Daten vollzieht. Das Bild des Raumes entsteht uns nicht dadurch, daß zu den Perzeptionen, die uns | die Sinne, insbesondere der Gesichtssinn und der Tastsinn, vermitteln, eine eigene qualitativ neue Perzeption hinzutritt. Was erforderlich ist, um dieses Bild in uns zu erwecken und um es festzuhalten, ist vielmehr eine bestimmte Be ziehung, die sich zwischen den Gegebenheiten der einzelnen Sinne herstellt: derart, daß wir nach festen Regeln von den einen zu den andern überzugehen und sie einander wechselseitig zuzuordnen ver-
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mögen. Aber wenn Descartes, um diese Zuordnung zu erklären, auf eine Urfunktion des Intellekts und auf seine »eingeborenen Ideen« zurückgriff, so geht Berkeley vielmehr den entgegengesetzten Weg. Der »reine Raum« des Geometers Descartes ist ihm ebenso wie der »absolute Raum« des Physikers Newton nicht sowohl eine Idee als vielmehr ein Idol. Beide halten der psychologischen Kritik, die auf die Aufdeckung der schlichten Tatbestände des Bewußtseins gerichtet ist, nicht stand. Die Beobachtung und die unbefangene phänomenologische Analyse wissen beide nichts von jenem »abstrakten« Raum, mit dem der Mathematiker und der mathematische Physiker operiert; sie kennen keine schlechthin homogene, unbegrenzte und von allen sinnlichen Qualitäten freie Ausdehnung. Aber ebensowenig gibt es für sie eine eigene Klasse von Empfindungen, durch die wir über die Größe, die Lage und den Abstand der Gegenstände belehrt werden. Hier setzt vielmehr eine andere Grundkraft der Seele ein, die weder auf die einfache »Perzeption« noch auf die logisch-diskursive Verstandestätigkeit zurückführbar ist, die weder als bloß sinnlich noch als »rational« bezeichnet werden kann. Es handelt sich in ihr um eine echte Tätigkeit, um eine »Synthesis« des Geistes – aber um eine solche, die nicht sowohl auf den Regeln einer abstrakten Logik und einer formellen Mathematik als vielmehr auf den Regeln der »Einbildungskraft« gegründet ist. Was diese Regeln von denen der Mathematik und Logik unterscheidet, ist vor allem der Umstand, daß sie niemals allgemeingültige und notwendige, sondern immer nur empirisch-zufällige Verbindungen zu stiften vermögen. Nicht irgendeine »objektive«, eine innere sachliche Notwendigkeit, sondern Gewohnheit und Übung (habit and custom) ist es, was die einzelnen Sinneskreise miteinander verknüpft und was sie zuletzt so eng ineinanderwachsen läßt, daß sie sich gegenseitig vertreten können. Die Entwicklung der Raumanschauung ist nach Berkeley an diese Vertretbarkeit gebunden – sie setzt voraus, daß die sinnlichen Eindrücke, über ihren anfänglichen bloß präsentativen Gehalt hinaus, allmählich eine repräsentative Funktion gewinnen. Aber zu dieser Repräsentation bedarf es nach ihm keiner anderen Mittel als der der bloßen Reproduktion. Um den Aufbau | unserer räumlichen Erfahrung zu ermöglichen, muß sich zu der Kraft der »Perzeption« die mittelbare, aber darum nicht minder bedeutsame Kraft der »Suggestion« gesellen.59 In dem Maße, als George Berkeley, An Essay towards a New Theory of Vision, in: Works, hrsg. v. Alexander Campbell Fraser, 4 Bde., Oxford 1901, Bd. I, S. 93–210 und ders., The Theory of Vision, or Visual Language, shewing the Immediate Presence and Providence of a Deity, vindicated and explained, in: Works, Bd. II, S. 369–415; 59
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diese Kraft erstarkt, als der einzelne Sinneseindruck die Fähigkeit gewinnt, andere, von ihm völlig verschiedene »anzudeuten« und sie dem Bewußtsein gewissermaßen leibhaft zu vergegenwärtigen, schließt sich für uns erst die Kette, kraft deren die Elemente der Wirklichkeit sich zu einem Ganzen, zu einer Welt des Raumes und der »Dinge im Raume«, zusammenfügen. Die rationalistische Raumlehre Descartes’ und die empiristische Berkeleys bilden indessen nur den ersten Auftakt zu einer Fülle spekulativer, psychologischer und erkenntniskritischer Theorien, die im Denken des neunzehnten Jahrhunderts nacheinander hervorgetreten sind. Aber sosehr alle diese Theorien, rein inhaltlich betrachtet, voneinander abweichen, so läßt sich dennoch sagen, daß ihr gedanklicher Typus seit Descartes und Berkeley kaum mehr eine wesentliche Änderung erfahren hat. Nach wie vor bewegt sich die Betrachtung innerhalb der allgemeinen methodischen Alternative, die hier zuerst scharf und präzis herausgetreten war. Alle Raumtheorien scheinen fortan gewissermaßen auf diese Alternative verpflichtet zu sein – scheinen entweder den Weg der »Reflexion« oder aber den Weg der »Assoziation« gehen zu müssen. Nicht immer kommt es freilich in der Wahl zwischen diesen beiden Wegen zu einer eindeutigen, ein für allemal bestimmten Entscheidung; nicht selten begegnet der Versuch, die Theorie zwischen den beiden Gegenpolen gleichsam in der Schwebe zu halten. So steht etwa Helmholtz als Mathematiker und Physiker ebensowohl im Bannkreis des Cartesischen Intellektualismus, wie er sich als Physiologe und als empiristischer Philosoph Berkeley nähert. Seine Theorie der »unbewußten Schlüsse« 60 weist in deutlicher geschichtlicher und systematischer Kontinuität auf Descartes’ » Dioptrik« zurück; auf der anderen Seite aber erscheint der Charakter dieser Schlüsse dadurch geändert, daß ihr eigentliches Analogon und Musterbild nicht mehr in den Syllogismen der Logik und der Mathematik, sondern in den Formen des »Induktionsschlusses« gesucht wird. Auch hier soll letzten Endes die Fähigkeit der assoziativen Verknüpfung und der reproduktiven Ergänzung der Sinneseindrücke genügen, um ihre Aufnahme und Einfügung in eine räumliche Ordnung zu erklären. Geht man den Gründen dieser methodischen Doppelstellung der Helmholtzschen Raumtheorie nach, so zeigt | sich, daß sie auf einem analogen Zwiespalt in Helmholtz’ allgemeiner Theorie des Zeichens beruht. Helmholtz’ gesamte Erkenntnislehre zum Begriff der »Suggestion« und seiner Stellung in Berkeleys System vgl. Erkenntnisproblem, Bd. II, Berlin 31922, S. 283 ff. [ECW 3, S. 235 ff.]. 60 [S. oben, S. 143 Anm. 34.]
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ist im Begriff des Zeichens verankert: Die Welt der Phänomene ist ihm nichts anderes als ein Inbegriff von Zeichen, die ihren Ursachen, den realen Dingen, nicht in irgendeiner Weise ähnlich, ihnen jedoch derart gesetzlich zugeordnet sind, daß sie alle Unterschiede und Beziehungen der Dinge in sich auszudrücken vermögen. Aber der Primat des Symbolbegriffs, der damit anerkannt scheint, wird von Helmholtz nicht in wirklicher systematischer Strenge festgehalten. Denn statt nunmehr das Kausalproblem dem allgemeinen Bedeutungsproblem einzugliedern und unterzuordnen, geht er vielmehr den umgekehrten Weg. Die Funktion des Zeichens selber soll als Sonderform einer kausalen Beziehung begriffen und erklärt werden. Die »Kategorie« der Kausalität, die nach Helmholtz die Bedingung der »Begreiflichkeit der Natur« ist,61 dringt damit wieder in die reine Beschreibung der Phänomene ein und lenkt sie allmählich von ihrem Wege ab.62 Für uns aber erhebt sich damit die Frage, in welcher Weise diese Beschreibung sich gestalten muß, sobald man das Problem und das Phänomen der Repräsentation an seiner Stelle stehenläßt und es rein aus sich selber zu erhellen und zu verstehen sucht. Schon die Analyse der Ding-Eigenschafts-Beziehung hat uns gelehrt, daß diese Beziehung nicht in ihrem Kern erfaßt und nicht in ihrer entscheidenden Bedeutung gewürdigt werden konnte, solange man ihre Erklärung einerseits im Kreise der diskursiven Urteile, andererseits im Kreise bloß reproduktiver Prozesse suchte. Fast alle »Zeichentheorien« aber, die in der Entwicklung der Raumlehre, von Berkeley angefangen bis zu Lotzes Lehre von den »Localzeichen«,63 aufgetreten sind, stehen unter der Herrschaft ebendieses Dilemmas. Die empiristische Philosophie sah sich, um aus ihren Prämissen die »Form« des Raumes erklären zu können, zu einer schärferen Fassung ihres eigenen Grundbegriffs, des Begriffs der »Empfindung«, genötigt. Sie mußte dasjenige, was die einfache Empfindung an sich selbst »ist« und als was sie sich unmittelbar gibt, von anderen Momenten trennen, die sich erst im Verlauf der Erfahrung zu ihr hinzugesellen und die ihren anfänglichen Bestand vielfältig modifizieren. Erst auf Grund solcher Wandlungen und Umgestaltungen ließ sich aus den Daten der bloßen Empfindung [Hermann Helmholtz, Über die Erhaltung der Kraft, eine physikalische Abhandlung, vorgetragen in der Sitzung der physikalischen Gesellschaft zu Berlin am 23. Juli 1847, Leipzig 1889 (Ostwald’s Klassiker der exacten Wissenschaften, Nr. 1), S. 6.] 62 Näheres hierüber s. unten: dritter Teil, Kap. I u. II. 63 [Vgl. Hermann Lotze, Metaphysik. Drei Bücher der Ontologie Kosmologie und Psychologie (System der Philosophie, 2. Theil), Leipzig 21884, S. 550 ff.] 61
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die Anschauung und die Vorstellung des Raumes entwickeln. Keine Kunst der »psychischen Chemie«, wie sie hier in immer fortschreitender Verfeinerung zu üben gesucht wurde, | hat freilich diese Aufgabe jemals befriedigend zu lösen, hat das Geheimnis der »Raumwerdung« wirklich zu belauschen vermocht. Der »Nativismus« Herings blieb all diesen Ableitungen gegenüber durchaus im Recht, wenn er fort und fort betonte, daß aus dem Beisammen oder Nacheinander unräumlicher Elemente nie und nimmer ein Räumliches »entspringen« könne – daß vielmehr Ausdehnung und Räumlichkeit in irgendeinem Sinne als ein nicht weiter reduzierbarer »Charakter« aller unserer sinnlichen Wahrnehmungen anerkannt werden müßten. So hat denn auch die moderne Psychologie mehr und mehr der Hoffnung entsagt, das Bewußtsein gewissermaßen auf dem Punkte zu ertappen, an dem sich in ihm der entscheidende Übergang von der an sich unräumlichen Empfindung zur räumlichen Wahrnehmung vollzieht. Was hier zu leisten und was hier zu fragen ist, bezieht sich niemals auf die Entstehung der Räumlichkeit als solcher, sondern es bezieht sich auf die Unterscheidung bestimmter Phasen, bestimmter Akzentuierungen und Gliederungen in ihr selbst. Nicht wie ein zuvor schlechthin Unräumliches die Qualität der Räumlichkeit erlangt, läßt sich aufzeigen – wohl aber kann und muß gefragt werden, auf welchem Wege und kraft welcher Vermittlungen die bloße Räumlichkeit in »den« Raum, der pragmatische Raum in den systematischen Raum übergeht. Denn es ist ein weiter Abstand, der die primäre Weise des Raumerlebnisses vom geformten Raum, als Bedingung der Anschauung von Gegenständen, und der ferner diesen anschaulich-gegenständlichen Raum vom mathematischen Maß- und Ordnungsraum trennt.64 Wir sehen, an der Stelle der Untersuchung, 64 Auf das primäre Erlebnis des Räumlichen, auf den rein »pragmatischen« Raum beziehen sich jene Bestimmungen, die jetzt bei Martin Heidegger (Sein und Zeit, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 8 [1927], S. 1–438: S. 102 ff. in scharfer Analyse herausgearbeitet sind. Nach Heidegger stößt schon jede Charakteristik des zunächst »Zuhandenen«, des als »Zeug« Vorliegenden, auf das Moment der Räumlichkeit. »Der Platz und die Platzmannigfaltigkeit dürfen nicht als das Wo eines beliebigen Vorhandenseins der Dinge ausgelegt werden. Der Platz ist je das bestimmte ›Dort‹ und ›Da‹ des Hingehörens eines Zeugs. […] Diese gegendhafte Orientierung der Platzmannigfaltigkeit des Zuhandenen macht das Umhafte, das Um-uns-herum des umweltlich nächstbegegnenden Seienden aus. Es ist nie zunächst eine dreidimensionale Mannigfaltigkeit möglicher Stellen gegeben, die mit vorhandenen Dingen ausgefüllt wird. Diese Dimensionalität des Raumes ist in der Räumlichkeit des Zuhandenen noch verhüllt. […] alle Wo sind durch die Gänge und Wege des alltäglichen Umgangs entdeckt und umsichtig ausgelegt, nicht in betrachtender Raumausmessung fest-
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an der wir | uns hier befinden, von dieser letzten Raumphase, von der Struktur des mathematisch »definierten« und mathematisch »konstruierten« Raumes noch völlig ab; 65 wir nehmen den Raum vorerst lediglich als die »Form« der empirischen Anschauung und der empirischen Gegenstandswelt. Aber auch bei dieser Einschränkung zeigt sich alsbald, daß ebendiese Form von symbolischen Elementen durchsetzt und mit ihnen erfüllt ist. Was wir »den« Raum nennen: das ist nicht sowohl ein eigener Gegenstand, der sich uns mittelbar darstellt, der sich uns durch irgendwelche »Zeichen« zu erkennen gibt; sondern es ist vielmehr eine eigene Weise, ein besonderer Schematismus der Darstellung selbst. Und in diesem Schematismus gewinnt nun das Bewußtsein die Möglichkeit einer neuen Orientierung – gewinnt es eine spezifische Richtung des geistigen Blicks, durch die ihm jetzt auch alle Gestalten der »objektiven«, der objizierten Wirklichkeit wie verwandelt sind. Diese Wandlung bedeutet keinen realen Übergang von der bloßen »Qualität« zur »Quantität«, von der reinen »Intensivität« zur »Extensivität«, von der an sich unräumlichen Empfindung zur irgendwie »raumhaften« Wahrnehmung. Sie bezieht sich nicht auf die – sei es metaphysische, sei es psychologische – Genesis des Raumbewußtseins; sondern in ihr stellt sich lediglich ein Bedeutungswandel dar, den dieses letztere in sich selbst erfährt und kraft dessen erst das Ganze des in ihm eingeschlossenen und implizierten Sinnes zutage gefördert wird. Wir beginnen, um diese Metamorphose sichtbar werden zu lassen, auch hier wiederum nicht mit psychologischen Beobachtungen und Erwägungen, sondern wir suchen, gemäß unseren allgemeinen methodischen Voraussetzungen, das Problem von seiner rein »objektiven« Seite, von der Seite des »objektiven Geistes« her, anzugreifen. Es gibt keine Leistung und Schöpfung des Geistes, die nicht irgendwie auf die Welt des Raumes Bezug nähme und die sich nicht gewissermaßen in ihr heimisch zu machen suchte. Denn die Hinwendung auf diese Welt gestellt und verzeichnet.« (S. 102 f.) Unsere eigene Betrachtung und Aufgabe unterscheidet sich von derjenigen Heideggers vor allem darin, daß sie nicht bei dieser Stufe des »Zuhandenen« und seiner Art der »Räumlichkeit« verweilt, sondern daß sie, ohne sie irgend zu bestreiten, | über sie hinausfragt. Sie will den Weg verfolgen, der von der Räumlichkeit als einem Moment des Zuhandenen zum Raum, als der Form des Vorhandenen, hinführt, und sie will weiter aufzeigen, wie dieser Weg mitten durch das Gebiet der symbolischen Formung – in dem doppelten Sinne der »Darstellung« und der »Bedeutung« (vgl. dritter Teil) – hindurchführt. 65 Über die Struktur dieses »mathematischen« Raumes s. weiter unten, dritter Teil, Kap. III–V.
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bedeutet ebenden ersten und notwendigen Schritt zur »Vergegenständlichung«, zur Seinserfassung und Seinsbestimmung überhaupt. Der Raum bildet gleichsam das allgemeine Medium, in dem die geistige Produktivität sich erst »feststellen«, in dem sie es zu ihren ersten Gebilden und Gestalten bringen kann. Wie die Sprache und der Mythos in dieses Medium eintauchen | und wie sie sich in dasselbe »einbilden«, hat sich uns bereits gezeigt. Beide verfahren in diesem Prozeß nicht gleichmäßig, sondern unterscheiden sich in der Grundrichtung, die sie einschlagen. Der Mythos bleibt auch in der Gesamtheit und in dem Gesamtsinn seiner räumlichen »Orientierung« an primäre und primitive Weisen des mythischen Weltgefühls gebunden. Die räumliche »Anschauung«, zu der er durchdringt, verdeckt und vernichtet nicht dieses Weltgefühl; sondern sie ist vielmehr das entscheidende Mittel für dessen reine Äußerung. Zu räumlichen Bestimmungen und Unterscheidungen kommt es hier nur dadurch, daß jeder »Gegend« im Raume, dem »Da« und »Dort«, dem Aufgang und Niedergang der Sonne, dem »Oben« und »Unten«, ein eigentümlicher mythischer Akzent verliehen wird. Jetzt teilt sich der Raum in bestimmte Gebiete und in bestimmte Richtungen ab; aber jede von ihnen hat nicht nur einen rein anschaulichen Sinn, sondern je einen eigenen Ausdruckscharakter. Hier gibt es den Raum noch nicht als ein homogenes Ganze, innerhalb dessen die Einzelbestimmungen einander äquivalent und miteinander vertauschbar sind. Die Nähe und Ferne, die Höhe und Tiefe, das Rechts und Links – sie alle haben ihre unverwechselbare Eigenart, ihre besondere Weise magischer Bedeutsamkeit. Der Grundgegensatz des »Heiligen« und »Unheiligen« zeigt sich in alle diese räumlichen Gegensätze nicht nur verwoben; sondern er ist es, der sie geradezu erst konstituiert, der sie gewissermaßen hervortreibt. Was einen Bezirk zu einem räumlich Besonderen und Besonderten macht: das ist nicht irgendeine abstrakt-geometrische Bestimmung, sondern es ist die eigene mythische Atmosphäre, in der er steht – der Zauberhauch, der ihn umwittert. Die Richtungen im mythischen Raum sind demgemäß nicht begriffliche oder anschauliche Relationen – sie sind selbständige, mit dämonischen Kräften begabte Wesenheiten. Man muß sich in die bildliche Darstellung der Richtungsgötter und Richtungsdämonen, wie sie sich z. B. im altmexikanischen Kulturkreis findet, versenken, um diesen Ausdruckssinn, diesen »physiognomischen« Charakter, den alle räumlichen Bestimmungen für das mythische Bewußtsein besitzen, ganz nachzufühlen.66 Auch alle räumliche »Systematik«, an der es im mythischen 66
Vgl. hierzu z. B. das Bildmaterial, das bei Theodor Wilhelm Danzel, Mexi-
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Denken keineswegs fehlt, greift über diesen Kreis nicht hinaus. Der Augur, der sich ein templum, einen heiligen Bezirk, absteckt und in ihm verschiedene Zonen unterscheidet, schafft damit die Grundund Vorbedingung, schafft einen ersten Anfang und Ansatz aller »Kon | templation« überhaupt. Er teilt das Universum gemäß einem bestimmten Blickpunkt ab – er stellt ein geistiges Bezugssystem auf, an dem alles Sein und Geschehen orientiert wird. Diese Orientierung soll die Überschau über das Ganze der Welt, und in und mit ihr die Vorausschau des Künftigen, ermöglichen und gewährleisten. Aber freilich ist es kein freies, ideales Liniengefüge, innerhalb dessen – wie im Gebiete der reinen »Theorie« – diese Schau sich bewegt; sondern den einzelnen Raumgegenden wohnt eine reale und schicksalhafte, eine segenspendende oder unheildrohende Macht inne.67 Der magische Ring, der alles Dasein der Natur und alles Dasein des Menschen umschließt, wird somit hier nicht gesprengt, sondern er schließt sich nur um so fester zusammen; alle Ferne, die sich die mythische Anschauung erobert, bricht seine Macht nicht, sondern dient nur dazu, sie stets aufs neue zu bestätigen. Die Sprache scheint, wenn man sie dieser Grundhaltung des Mythos vergleicht, von Anfang an einen neuen und einen prinzipiell anderen Weg einzuschlagen. Denn was schon die ersten Raumworte, die wir in ihr vorfinden, kennzeichnet, ist der Umstand, daß sie eine bestimmte »deiktische« Funktion in sich schließen. Wir sahen, wie eine Grundform alles Sprechens auf die Form des »Weisens« zurückgeht – wie sie erst dort entstehen und erstarken kann, wo das Bewußtsein diese Form in sich ausgebildet hat. Schon die hinweisende Gebärde bildet hier einen Markstein der Entwicklung – ein entscheidendes Stadium auf dem Wege zur objektiven Anschauung und zur objektiven Gestaltung.68 Aber was in ihr angelegt ist, das kommt zu klarer und vollkommener Entfaltung erst dadurch, daß die Sprache diese Tendenz aufnimmt und daß sie sie in ihre eigenen Bahnen leitet. In ihren deiktischen Partikeln schafft sie die ersten Ausdrucksmittel ko I, Hagen/Darmstadt 1922 (Kulturen der Erde. Material zur Kultur- und Kunstgeschichte aller Völker, Bd. 11) gegeben ist. 67 Zum Ganzen vgl. Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, S. 107 ff. u. 126 ff. [ECW 12, S. 98 ff. u. 116 ff.]. 68 Vgl. hierzu die Ausführungen in »Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil«, S. 126 ff. u. 146 ff. [ECW 11, S. 125 ff. u. 147 ff.]. – In Übereinstimmung hiermit wird auch von Hans Freyer in seiner »Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie«, Leipzig/Berlin 1923, die entscheidende Bedeutung der »hinweisenden« Gebärde und ihr prinzipieller Unterschied von jeder bloßen »Ausdrucksbewegung« betont; vgl. bes. S. 16 ff.
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für Nähe und Ferne und für bestimmte fundamentale Richtungsunterschiede. Auch diese werden zunächst durchaus sub specie des sprechenden Subjekts und von seinem besonderen »Standpunkt« aus gesehen – die Verschiedenheit der Richtung vom Sprechenden zum Angesprochenen und der umgekehrten vom Angesprochenen zum Sprechenden scheint eine der frühesten Differenzen zu bilden, die sprachlich bemerkt und sprachlich fixiert werden. Aber mit dieser Differenz, mit der Unterscheidung des Ich vom »Du« sowie von dem gegen | ständlichen Sein, das es sich »gegenüber« stellt, ist zugleich der Durchbruch in eine neue Phase der Weltbetrachtung erfolgt. Zwischen dem Ich und der Welt spannt sich jetzt ein Band, das beide, indem es sie miteinander verbindet, zugleich voneinander sondert und getrennt erhält. Die Anschauung des Raumes, wie sie in der Sprache ausgearbeitet und niedergelegt wird, ist das deutlichste Kennzeichen dieser eigentümlichen Doppelbeziehung. In ihr ist die Ferne ge setzt, aber sie ist, eben in dieser Setzung, im gewissen Sinne auch überwunden. In dem Anschauungsraum, der mit Hilfe der Sprache erarbeitet wird, halten sich die Momente des »Auseinander« und des »Beisammen«, der durchgängigen Diskretion und der durchgängigen Verknüpfung, gewissermaßen die Waage: Sie stehen zueinander in einer Art von ideellem Gleichgewicht. Der Mythos vermochte, auch in seinen höchsten und universalsten Ausprägungen, räumliche Unterschiede nur dadurch zu erfassen, daß er ihnen einen Unterschied von anderer Art und Herkunft unterschob. Ihm verwandelte sich unwillkürlich alle Verschiedenheit der räumlichen Ansicht in eine Verschiedenheit von Ausdruckszügen, von physiognomischen Charakteren. So bleibt seine Raumansicht, trotz allen Ansätzen zur »objektiven« Gestaltung, wie eingetaucht in die Farbe des Gefühls und der subjektiven Empfindung. Auch die Sprache wurzelt noch durchaus in dieser Sphäre; aber in ihr vollzieht sich zugleich klar und scharf die neue Wendung: die Wendung vom Ausdrucksraum zum Darstellungsraum. Die einzelnen »Orte« erscheinen nicht mehr lediglich durch gewisse qualitative und fühlbare Charaktere voneinander geschieden; sondern es treten an ihnen bestimmte Relationen des »Zwischen«, der räumlichen Ordnung auf. Schon jene noch ganz »primitiven« Raumworte, die etwa die verschiedene Färbung des Vokals dazu benutzen, um mittels ihrer verschiedene Grade der Entfernung auszudrücken, sind Kennzeichen dieser Grundrichtung, die von der Sprache eingeschlagen wird. Sie scheiden das »Hier« vom »Dort«, das »Anwesende« vom »Abwesenden«; aber sie verknüpfen beides zugleich, indem sie eine, wenn auch noch so elementare und noch so ungenaue, »Maßbeziehung« zwischen beiden anbahnen. Der
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Fortgang vom bloß pragmatischen Raum zum Gegenstandsraume, vom Handlungsraum zum Anschauungsraum ist damit, wenn nicht vollzogen, so doch seinem allgemeinen Prinzip nach bestimmt und vorweggenommen. Der bloße Aktionsraum, wie wir ihn auch der Welt des Tieres zusprechen müssen, kennt noch keine freie Überschau über räumliche Bestimmungen und Verhältnisse; keine »Synopsis«, die das örtlich Getrennte nichtsdestoweniger in die Einheit eines simultanen Blicks zusammenzunehmen | erlaubt. Statt eines solchen συνοCGν ες ν, wie Platon es nennt, herrscht in ihm lediglich ein Verhältnis der Entsprechung und der gegenseitigen Abgestimmtheit bestimmter Bewegungen. Eine solche Entsprechung ist möglich, ohne daß sie von der »Vorstellung« räumlicher Beziehungen, von einem »Überblick« über sie begleitet und geleitet zu sein braucht.69 Der Ablauf gewisser Bewegungen kann fest eingeübt sein, kann durch bestimmte »Mechanismen« immer in der gleichen Weise vonstatten gehn, ohne daß er irgend zu einem repräsentativen »Bewußtsein«, zu einer Darstellung und Vergegenwärtigung der einzelnen Stadien in ihrem »Auseinander« und »Nacheinander«, zu führen brauchte. Auch in der Entwicklung des menschlichen Geisteslebens bedeutet dieser Übergang zur reinen Repräsentation räumlicher Verhältnisse ohne
69 Charakteristisch für den reinen »Aktionsraum«, in dem die tierische Welt im allgemeinen aufgeht, ist z. B. die Schilderung, die Hans Volkelt in seiner Schrift »Über die Vorstellungen der Tiere« von der Art der räumlichen Orientierung der Spinne gibt. »Die Spinne eilte, wenn ein Gegenstand ins Netz gefallen war und sie überhaupt reagierte, nur dann sogleich bis zu ihm, wenn er sich bewegte ; wenn aber der Gegenstand sofort ruhig hängen blieb, lief sie nicht ohne Aufenthalt aus der Wohnung bis zu dem Gegenstande hin, sondern sie machte im Zentrum des Netzes Halt, um – menschlich gesprochen – erst von hier aus durch Abtasten der radialen Fäden festzustellen, in welcher Richtung der eingeflogene Gegenstand im Netze verfangen hing. [W]enn eine Stubenfliege ins Netz geschwirrt war, entging auf diese Weise der Spinne bisweilen ihr Opfer; denn es kam vor, daß die Fliege von dem Moment an, in dem sie das Netz berührt hatte, absolut starr in irgendeiner verzweifelten Stellung verharrte. Die Spinne, durch den einen ersten kurzen Ruck des Einfallens ins Zentrum gelockt, tastete dann vom Zentrum aus der Reihe nach rings an den radialen Fäden; bisweilen […] ermittelte sie die Richtung, in der die Fliege in vollkommener Starrheit hing, bisweilen […] auch gelang ihr dies nicht; in diesem Falle kehrte sie unverrichteter Dinge heim […] Aus alledem geht unstreitig hervor, daß die Spinne auch nicht vom Zentrum aus durch optische Qualitäten (sei es durch ein Bild-, sei es auch nur durch ein Bewegungssehen) davon hinreichende Kunde erhält, was in den peripheren Teilen des Netzes vorgeht, sondern daß auch hier das Getast wesentliche Mitbedingung ihres Verhaltens ist. [A]uch noch wenn der Gegenstand in dem sehr kleinen Abstand von 2–3 cm von der tastenden Spinne im Netz hängt, kommt es vor, daß sie ihn nicht findet.« (S. 51 f.).
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Zweifel einen relativ späten Schritt. Die Berichte über Naturvölker lassen erkennen, wie sehr ihre räumliche »Orientierung«, sosehr sie an Genauigkeit und Schärfe der des Kulturmenschen überlegen zu sein pflegt, sich nichtsdestoweniger durchaus in den Bahnen eines »konkreten« Raumgefühls bewegt. Jeder Punkt ihrer Umgebung, jede einzelne Stelle und jede Windung eines Flußlaufes z. B. kann ihnen aufs genaueste vertraut sein, ohne daß sie imstande wären, eine Karte des Flußlaufes zu zeichnen, ihn also in einem räumlichen Schema festzuhalten. Der Übergang von der bloßen Aktion | zum Schema, zum Symbol, zur Darstellung bedeutet in jedem Falle eine echte »Krisis« des Raumbewußtseins, und zwar eine solche, die nicht auf den Umkreis dieses Bewußtseins beschränkt bleibt, sondern die mit einer allgemeinen geistigen Wendung und Wandlung, mit einer eigentlichen »Revolution der Denkart« Hand in Hand geht.70 Wir blicken, um uns den allgemeinen Charakter dieser Wandlung zu vergegenwärtigen, auf das Ergebnis unserer Analyse der DingEigenschafts-Beziehung zurück. Es zeigte sich schon hier, daß wir zur »Konstanz« des Dinges nicht anders als durch Vermittlung des Raumes zu gelangen vermögen – daß der »objektive« Raum das Medium der empirischen Gegenständlichkeit überhaupt bildet. Beides: Die Gewinnung der Raumanschauung wie die der Dinganschauung ist nur dadurch möglich, daß der Strom der sukzessiven Erlebnisse 70 Auch die Erfahrungen, die man bei bestimmten pathologischen Veränderungen des »Raumbewußtseins« gemacht hat, sind geeignet, den Unterschied zwischen »Aktionsraum« und »Symbolraum« in helles Licht zu rücken. Sie zeigen, daß viele Kranke, bei denen die Fähigkeit, räumliche Gestalten als solche zu erkennen und sie gegenständlich zu deuten, aufs schwerste beeinträchtigt ist, nichtsdestoweniger noch höchst komplizierte räumliche Leistungen zu vollziehen vermögen, sofern diese auf einem anderen Wege, auf dem Weg über bestimmte Bewegungen und über »kinästhetische« Bewegungswahrnehmungen, sich erreichen lassen. Vgl. hierzu Adhémar Gelb/Kurt Goldstein, Über den Einfluß des vollständigen Verlustes des optischen Vorstellungsvermögens auf das taktile Erkennen. Zugleich ein Beitrag zur Psychologie der taktilen Raumwahrnehmung und der Bewegungsvorstellungen, in: Psychologische Analysen hirnpathologischer Fälle, hrsg. v. Adhémar Gelb u. Kurt Goldstein, Bd. I, Leipzig 1920, S. 157–250. Näheres weiter unten; zweiter Teil, Kap. VI, Abschn. IV. Auch der »Raum« des Blinden scheint – wie aus den eingehenden Selbstanalysen Erblindeter zu entnehmen ist – statt als ein Darstellungs- und Bildraum in erster Linie als ein dynamischer »Verhaltensraum«, als ein bestimmtes Aktions- und Bewegungsfeld, gedacht werden zu müssen. Vgl. hierzu Wilhelm Ahlmann, Zur Analysis des optischen Vorstellungslebens. Ein Beitrag zur Blindenpsychologie, in: Archiv für die gesamte Psychologie 46 (1924), S. 193–261 und Johannes Wittmann, Raum, Zeit und Wirklichkeit, in: Archiv für die gesamte Psychologie 47 (1924), S. 428–511.
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gewissermaßen angehalten – daß ihr bloßes Nacheinander in ein »Zumal« umgebildet wird. Diese Umbildung geschieht, indem den Momenten des dahingleitenden Geschehens eine verschiedene Be deutung beigelegt, indem ihnen eine verschiedene »Valenz« zugesprochen wird. Jede Erscheinung ist, sofern wir sie lediglich dem Kreise des Geschehens angehörig denken, der Strenge nach nur in einem einzelnen Zeitpunkt »gegeben«: Wie der Augenblick sie erschafft, so rafft er sie auch wieder dahin. Bestimmte Haltpunkte und relative Ruhepunkte können in diesem unablässigen Werden nur dadurch gewonnen werden, daß die einzelnen, ihrem Dasein nach veränderlichen und flüchtigen Inhalte über sich hinaus, auf ein Bleibendes hinweisen – auf ein Etwas, von dem all diese wechselnden Bilder nur verschiedenartige Erscheinungsweisen sein wollen. Ist einmal in dieser | Weise das Wandelbare als Darstellung für ein Beharrliches genommen, so erhält es damit ein völlig neues »Gesicht«. Denn jetzt ruht der Blick nicht mehr auf ihm selber, sondern er geht durch es hindurch und über es hinweg. Wie wir im Sprachzeichen nicht den Ton oder Klang, nicht seine sinnlichen Modifikationen erfassen, sondern wie das, worauf wir in ihm »merken«, der Sinn ist, den es uns vermittelt – so verliert auch die einzelne Erscheinung ihre Selbständigkeit und Selbstgenügsamkeit, ihre individuelle Konkretion, sobald sie als Zeichen für ein »Ding«, für ein gegenständlich Gemeintes und gegenständlich Geformtes fungiert. Schon die Tatsache der »Farbentransformation« hat uns diesen Sachverhalt vor Augen gerückt. Eine Farbe, die von uns in irgendeiner ungewöhnlichen Beleuchtung gesehen wird, wird auf die »normale« Beleuchtung eingestellt und umgestellt; sie wird gewissermaßen in den normalen Farbenton zurückverwandelt und als bloß »zufällige« Abweichung von ihm genommen. Diese Unterscheidung des »Konstanten« und »Variablen«, des »Notwendigen« und »Zufälligen«, des »Allgemeinen« und »Individuellen« schließt den Keim und den Kern jeglicher »Objektivierung« in sich. »Bei jeder Wahrnehmung einer anormalen Beleuchtung«, so hat man das Phänomen beschrieben, »tritt eine je nach der Stärke dieser Beleuchtung mehr oder weniger ausgeprägte phänomenale Aufspaltung der Farbenempfindungen in Beleuchtung und Beleuchtetes auf. [D]as auf Grund der optischen Reizung zu Gebote stehende Empfindungsmaterial [wird] vom inneren Auge in der Weise aufgespaltet, daß die den Objektfarben entsprechenden Komponenten des Farbenprozesses vorzugsweise zum Aufbau der Objektbilder verwendet werden, dagegen die mehr oder weniger stark über das ganze somatische Sehfeld ausgebreitete Komponente, welche der Beleuchtungsfarbe entspricht, als die anormale Beleuchtung zum Vorschein
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kommt.«71 Eine solche »Berücksichtigung« der Beleuchtung findet, wie Katz hervorhebt, auch dort statt, wo dem Auge ganz ungewöhnliche buntfarbige Beleuchtungen dargeboten werden, für die demnach keine speziellen Erfahrungen gemacht worden sein können.72 Es ergibt sich hieraus, daß, sobald einmal die optische »Erscheinung« der Farbe unter den »Gesichtspunkt« des Dinges gestellt, sobald Farbiges als Darstellungsmittel für Dingliches genommen wird, damit das optische Erlebnis selber sich in charakteristischer Weise gliedert und sich kraft dieser Gliederung umbildet. Und diese Zerlegung der an sich einheitlichen | Erscheinung in Komponenten von verschiedener Bedeutung ist nun auch für den Aufbau der Raumanschauung unentbehrlich. Auch hier erfolgt eine »Aufspaltung«, kraft deren sich in der gegebenen Wahrnehmung das Bleibende vom Wandelbaren, das »Typische« vom »Transitorischen« scheidet. Der Raum als Gegenstandsraum wird erst dadurch gesetzt und erobert, daß bestimmten Wahrnehmungen ein repräsentativer Wert zugesprochen wird, daß sie als feste Bezugspunkte der Orientierung auserlesen und ausgezeichnet werden. Gewisse Grundgestaltungen werden als Normen aufgestellt, an denen wir andere messen. Die psychologische Theorie der Raumanschauung hat diesem Sachverhalt dadurch Rechnung getragen, daß sie seit William James das Motiv der »Selektion« als eine wesentliche Bedingung für die Ausbildung der Raumvorstellung betont hat. James, der auf dem Boden der »nativistischen« Raumlehren steht, geht davon aus, daß wir angeborene und feste optische Raumwahrnehmungen haben, daß wir aber erst durch Erfahrung lernen, aus ihnen einzelne auszuwählen, in denen wir die eigentlichen Träger der Realität sehen: Der Rest wird zum bloßen Zeichen und zur Andeutung für sie.73 In allen unseren Wahrnehmungen findet ständig eine derartige Auslese statt: In allem greifen wir bestimmte Gestaltungen heraus, von denen wir sagen, daß sich uns in ihnen die »wirkliche« Form des Gegenstandes darstelle, während wir andere nur als periphere und als mehr oder weniger zufällige Erscheinungsweisen desselben gelten lassen. Die perspektivischen Verschiebungen und Verzerrungen, die das Bild eines Gegen71 Eino Kaila, Gegenstandsfarbe und Beleuchtung, in: Psychologische Forschung. Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften 3 (1923), S. 18–59: S. 32 f. [Zitat S. 33]. 72 Katz, Die Erscheinungsweisen der Farben, S. 275 f. 73 »We have native and fixed optical space-sensations; but experience leads us to select certain ones from among them to be the exclusive bearers of reality: the rest become mere signs and suggesters of these« (James, The Principles of Psychology, Bd. II, S. 237).
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standes unter gewissen Bedingungen des Sehens erfährt, werden in dieser Weise »zurechtgerückt«. Das »Sehen« eines Bildes schließt also immer eine ganz bestimmte Auswertung desselben in sich: Wir schauen es nicht in der Art an, wie es sich uns unmittelbar gibt, sondern wir stellen es in den Kontext der räumlichen Gesamterfahrung ein und geben ihm hierdurch erst seinen charakteristischen Sinn.74 Es ist sicherlich kein Zufall, sondern von | symptomatischer und systematischer Bedeutung, daß James, um das Grundverhältnis, das hier vorliegt, klarzustellen, unwillkürlich auf einen Vergleich mit der Sprache zurückgreift. »Die Auswahl einzelner ›normaler‹ Erscheinungen aus der Masse unserer optischen Erfahrungen«, so bemerkt er, »ist in psychologischer Hinsicht ein Phänomen, das dem Denken in Worten parallel geht und das dem gleichen Ziele dient. In beiden Fällen setzen wir an Stelle mannigfacher und unbestimmter Inhalte wenige und bestimmte Termini. Da die Erscheinungsweisen jedes wirklichen Dinges vielfältig sind, das Ding als solches aber nur eines ist, so haben wir, indem wir das letztere an Stelle der ersteren setzen, den gleichen geistigen Gewinn, als wenn wir den Unterschied in unseren Vorstellungsbildern und deren wechselnde und fließende Eigenschaften außer acht lassen und statt ihrer bestimmte und unveränderliche Namen gebrauchen.«75 Vermöge dieses Prozesses gewinnen 74 Wenn etwa eine quadratische Figur auf einer zum Auge schräg stehenden Fläche gesehen wird, so müßte sie, nach den Abbildungsverhältnissen auf der Netzhaut, als ein Viereck mit zwei spitzen und zwei stumpfen Winkeln erscheinen, während sie in Wahrheit auch in diesem Fall ihren quadratischen »Charakter« bewahrt. Ebenso wird ein optischer Eindruck, der rein als solcher einer Ellipse entsprechen würde, zur Kreisform »umgebildet«, d. h. zu derjenigen Gestalt, die wir erblicken würden, wenn er uns auf einer frontal-parallelen Fläche dargeboten würde. Bemerkenswert und bezeichnend ist es hierbei übrigens, daß dieses Phänomen in bestimmten pathologischen Fällen von sogenannter »Seelenblindheit« oft ganz zu fehlen oder doch stark beeinträchtigt zu sein | scheint. Der »Seelenblinde«, über den Goldstein und Gelb eingehend berichtet haben, »sah«, wenn ihm ein Kreis oder Quadrat zunächst in frontal-paralleler Stellung dargeboten wurde und die optischen Bilder beider Figuren sodann durch eine Drehung um die vertikale Achse geändert wurden, schon bei einer Drehung von 25°–30° deutlich eine Ellipse bzw. ein hochstehendes Rechteck. Bei binokularer Betrachtung war auch hier das Phänomen der »scheinbaren Gestalt«, wenngleich nur in beschränktem Maße, erhalten, sofern jetzt der Kranke das dargebotene Bild mehr gemäß der »wirklichen« Formbeschaffenheit des Objekts als gemäß den Abbildungsverhältnissen auf der Netzhaut auffaßte. Näheres bei Adhémar Gelb/Kurt Goldstein, Zur Psychologie des optischen Wahrnehmungsund Erkennungsvorganges, zuerst erschienen in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 41 (1918), S. 1–142; wieder abgedruckt in: Psychologische Analysen hirnpathologischer Fälle, Bd. I, S. 1–142: S. 36 ff. 75 James, The Principles of Psychology, Bd. II, S. 240 [»The signs of each prob-
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für uns die einzelnen Raumwerte eine eigentümliche »Transparenz«. Wie wir durch die zufällige Beleuchtungsfarbe hindurch, in der wir einen Gegenstand sehen, seine »dauernde« Farbe erblicken, so lassen die vielfältigen optischen Bilder, die uns etwa in der Bewegung eines Objekts entstehen, in all ihrer Besonderheit und in all ihrem Wechsel, den Durchblick auf seine »dauernde Gestalt« für uns frei. Sie sind nicht bloße »Impressionen«, sondern sie fungieren als »Darstellungen«; sie werden aus »Affektionen« zu »Symbolen«.76 So zeigt sich auch von dieser Seite her von neuem, daß die Symbolfunktion in eine weit tiefere Schicht des Bewußtseins zurückreicht, als | man gewöhnlich annimmt und zugesteht. Sie gibt nicht erst dem Weltbild der theoretischen Erkenntnis, dem Weltbild der Wissenschaft ihr Gepräge; sondern sie drückt schon den primären Gestalten der Wahrnehmung ihr Siegel auf. Den Zusammenhang, der hier besteht, wie den Unterschied, der hier obwaltet, kann man sich am deutlichsten vergegenwärtigen, wenn man die Struktur des »Wahrnehmungsraumes« mit der Struktur des »abstrakten« geometrischen Raumes vergleicht. Daß beide Strukturen nicht miteinander identisch gesetzt werden dürfen, ist ersichtlich: Dem Wahrnehmungsraum als solchem kann weder das Prädikat der Gleichförmigkeit noch das der Stetigkeit oder Unendlichkeit in dem Sinne zugeschrieben werden, in welchem die Mathematik diese Prädikate definiert und gebraucht. Aber ungeachtet dieses Unterschiedes weisen beide doch insofern ein gemeinsames Moment auf, als sich in ihnen eine bestimmte Art und Richtung der Konstantenbildung betätigt und ausprägt. Felix Klein hat dargelegt, daß die »Form« jeglicher Geometrie davon abhängt, welche Bestimmungen und Beziehungen räumlicher Art in ihr ausgelesen und als unveränderlich gesetzt werable real thing being multiple and the thing itself one and fixed, we gain the same mental relief by abandoning the former for the latter that we do when we abandon mental images, with all their fluctuating characters, for the definite and unchangeable names which they suggest. The selection of the several ›normal‹ appearances from out of the jungle of our optical experiences […] is psychologically a parallel phenomenon to the habit of thinking in words, and has a like use. Both are substitutions of terms few and fixed for terms manifold and vague.«]. 76 Was die rein genetische Frage betrifft, so scheint auch hier festzustehen, daß dieses charakteristische »Symbolbewußtsein« erst relativ spät entsteht und erstarkt. Wie in der Aneignung und im Gebrauch der Sprache dieses Bewußtsein errungen werden muß, so führt auch die Psychologie der Gesichtswahrnehmung zu dem Ergebnis, daß die Netzhautmitte als erste Reaktion auf Licht dem Bewußtsein Flächenfarben darbietet und daß erst allmählich das Bewußtsein von Oberflächenfarben eintritt und sich festigt. Vgl. hierüber Katz, Die Erscheinungsweisen der Farben, S. 306 ff. u. 397 ff.
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den. Die gewöhnliche »metrische« Geometrie geht davon aus, alle diejenigen Eigenschaften und Verhältnisse eines räumlichen Gebildes als ihm »wesentlich« zugehörig zu betrachten, die von ganz bestimmten Änderungen – von einer Verschiebung des Gebildes im absoluten Raum, von einem proportionalen Wachstum oder einer proportionalen Abnahme seiner einzelnen Bestimmungsstücke, endlich von gewissen Umkehrungen in der Anordnung seiner Teile – nicht betroffen werden. Eine Gestalt mag durch eine beliebige Zahl solcher Umwandlungen hindurchgegangen sein – so bleibt sie doch, im Sinne der metrischen Geometrie, noch immer ein und dieselbe; so repräsentiert sie doch einen mit sich identischen geometrischen Begriff. Bei der Festlegung solcher Begriffe aber sind wir freilich nicht ein für allemal an die Wahl bestimmter Transformationen gebunden. So geht z. B. die metrische Geometrie in die projektivische über, wenn wir zu denjenigen Operationen, denen gegenüber eine räumliche Gestalt ungeändert bleiben soll, außer der Bewegung, der Ähnlichkeitstransformation und der Spiegelung noch die Gesamtheit der möglichen projektiven Umformungen hinzunehmen. Jede besondere Geometrie ist demnach nach Klein eine Invariantentheorie, die in bezug auf bestimmte Transformationsgruppen gilt.77 Eben in dieser Hinsicht aber zeigt sich, daß die Konzeption der verschiedenen »Geometrien« und daß die Bildung des | Raumbegriffs, der jeder von ihnen zugrunde liegt, nur einen Prozeß weiterführt, der schon in der Gestaltung des empirischen Raumes, des Raumes unserer Sinneserfahrung, angelegt und vorgebildet ist. Denn auch dieser kommt nur dadurch zustande, daß eine Vielheit von Erscheinungen, von einzelnen optischen »Bildern«, zu Gruppen zusammengefaßt wird und daß diese Gruppen als Darstellungen ein und desselben »Gegenstandes« genommen werden. Die wechselnden Einzelerscheinungen bilden fortan für uns nur die Peripherie; und von jedem Punkte derselben gehen gewissermaßen Spitzen aus, die unsere Betrachtung in eine bestimmte Richtung lenken – die sie immer wieder auf die gleiche Dingeinheit, als Zentrum, zurückführen. Und auch hier besteht – wenngleich nicht in demselben Umfang und Ausmaß wie im Aufbau des rein geometrischen Symbolraumes – die Möglichkeit, diese Mittelpunkte verschieden anzusetzen. Der Bezugspunkt selbst kann verschoben werden; die Art der Beziehung kann wechseln: Und jedesmal gewinnt bei einem solchen Wechsel die Erscheinung nicht nur eine andere abstrakte Bedeu77 S. Felix Kleins »Vergleichende Betrachtungen über neuere geometrische Forschungen«, in: Mathematische Annalen 43 (1893), S. 63–100; Näheres s. unten, dritter Teil, Kap. IV.
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tung, sondern auch einen anderen konkret-anschaulichen Sinn und Gehalt. In besonders prägnanter Art tritt dieser Wandel im anschaulichen Sinn räumlicher Gestalten an den bekannten Phänomenen zutage, die man unter dem Titel der »optischen Inversion« zusammenzufassen pflegt. Ein und derselbe optische Komplex kann bald in diesen, bald in jenen räumlichen Gegenstand umgebildet, kann jetzt als dieses, jetzt wieder als ein anderes Objekt »gesehen« werden. In solchen Inversionen handelt es sich, wie man mit Recht betont hat, weder um Urteilstäuschungen, denen wir unterliegen, noch um bloße »Vorstellungen«, die wir uns »machen«, sondern um echte Wahrnehmungserlebnisse.78 In alledem bewährt sich uns von neuem, wie der Wechsel der »Sicht« auch das Gesehene alsbald zu einem wahrnehmungsmäßig anderen macht; wie jede Verschiebung des Blickpunktes auch das Erblickte, rein in seinem phänomenalen Bestand, umgestaltet. Je weiter das Bewußtsein in seiner Formung und Gliederung fortschreitet und je mehr seine einzelnen Inhalte »bedeutsam« werden, d. h., je mehr sie die Kraft gewinnen, auf andere »hinzuweisen«, um so mehr wächst die Freiheit, mit der es, durch einen Wechsel der »Sicht«, eine Gestalt in eine andere umwandeln kann.79 | Daß dieser Akt der Konzentration, als ein Akt der Zentrenbildung und Zentrenschaffung, auf eine produktive geistige Grundfunktion zurückgeht und daß er demgemäß aus bloß reproduktiven Prozessen 78 Vgl. hierzu die vortreffliche Darstellung des Phänomens der »optischen Inversion«, die Erich Moritz von Hornbostel (Über optische Inversion, in: Psychologische Forschung. Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften 1 [1922], S. 130–156) gegeben hat. 79 Auch Köhler hat bei seinen »Intelligenzprüfungen an Anthropoiden« immer wieder betont, wie eng all das, was die Anthropoiden an »einsichtigen« Leistungen zustandebringen, mit der Fähigkeit zur optisch-räumlichen Gliederung und zu einem relativ freien optisch-räumlichen »Überblick« verknüpft ist. Ein großer Teil der Schwierig|keiten, die bestimmte »Intelligenz«-Aufgaben für das Tier darboten, lag in ebendieser Umgestaltung optischer Strukturen begründet. (Vgl. Wolfgang Köhler, Intelligenzprüfungen an Anthropoiden. I, Berlin 1917 [Abhandlungen der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Physikalisch-Mathematische Klasse, Jg. 1917, Nr. 1], bes. S. 90 ff. u. 105 ff.) Diese Fähigkeit zur Umgruppierung und »Umzentrierung« innerhalb des rein visuellen Raumes scheint, psychologisch betrachtet, den Anfang und die Vorbedingung für die Gewinnung jenes »schematischen« Raumes zu bilden, der, nach Leibniz’ Ausdruck, kein einzelnes wirkliches Ding, sondern vielmehr eine »Ordnung des möglichen Beisammen« (»l’ordre des coëxistences possibles«) ist [Gottfried Wilhelm Leibniz, Eclaircissement des difficultés que Monsieur Bayle a trouvées dans le systeme nouveau de l’union de l’ame et du corps, in: Die philosophischen Schriften, hrsg. v. Carl Immanuel Gerhardt, 7 Bde., Berlin 1875–1890, Bd. IV, Berlin 1880, S. 517–571: S. 568].
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niemals vollständig erklärbar ist, hat sich bereits gezeigt.80 Berkeleys Theorie des Begriffs wie seine Theorie des Ursprungs der Raumvorstellung verfällt in einen logischen Zirkel, wenn sie sich in beiden Fällen auf die Funktion der Repräsentation beruft, dann aber diese letztere selbst wiederum auf bloße »Gewohnheit und Übung« zurückführen will.81 Die »Kritik der reinen Vernunft« deckt diesen Zirkel auf – und sie greift zugleich das Problem an der Wurzel an, indem sie nach den Bedingungen der Möglichkeit der »Assoziation« selbst fragt. »[J]ene empirische Regel der Assoziation, […] worauf beruht [sie], frage ich, und wie ist selbst diese Assoziation möglich? Der Grund der Möglichkeit der Assoziation des Mannigfaltigen, sofern er im Objekte liegt, heißt die Affinität des Mannigfaltigen. […] Es muß […] ein objektiver, d. i. vor allen empirischen Gesetzen der Einbildungskraft a priori einzusehender Grund sein, worauf die Möglichkeit, ja sogar die Notwendigkeit eines durch alle Erscheinungen sich erstreckenden Gesetzes beruht, sie nämlich durchgängig als solche Data der Sinne anzusehen, welche an sich assoziabel und allgemeinen Regeln einer durchgängigen Verknüpfung in der Reproduktion unterworfen sind. Diesen objektiven Grund aller Assoziation der Erscheinungen nenne ich die Affinität derselben. […] Es ist daher zwar befremdlich, allein aus dem Bisherigen doch einleuchtend, daß nur vermittelst dieser transszendentalen Funktion der Einbildungskraft sogar die Affinität der Erscheinungen, mit ihr die Assoziation und durch diese endlich die Reproduktion nach Gesetzen, folglich die Erfahrung selbst möglich werde; weil ohne sie gar keine Begriffe von Gegenständen in eine Erfahrung zusammenfließen würden.«82 Aber die »transzendentale« Funktion der Einbildungskraft, auf die Kant sich hier beruft, wird auch dort nicht in ihrem eigentlichen Kern erfaßt, wo man sie, statt auf bloß reproduktive, vielmehr | auf »apperzeptive« Vorgänge zurückzuführen sucht. Hier scheint freilich der entscheidende Schritt getan, der über alle bloß sensualistischen Begründungen hinausführt: Denn die »Apperzeption« bedeutet nicht nur die Auffassung und die nachträgliche Zusammenfassung »gegebener« Eindrücke, sondern sie stellt eine reine Spontaneität, eine schöpferische Tat des Geistes dar. Diese Selbständigkeit pflegt indes in den psychologischen Theorien zumeist dadurch wieder verdunkelt zu werden, daß man, wie dies insbesondere durch Wundt geschehen ist, Vgl. bes. oben, S. 147 ff. Näheres in meiner Schrift über das Erkenntnisproblem, Bd. II, S. 297 ff. [ECW 3, S. 247 ff.]. 82 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 619 u. 624 f. [A 112 f. u. A 122 f.]. 80 81
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die »Apperzeption« durch das Phänomen der »Aufmerksamkeit« zu erläutern und daß man sie schließlich ganz in ihm aufgehen zu lassen pflegt. Für die Erklärung der Raumwahrnehmung hat insbesondere Jaensch dieses Phänomen in Anspruch genommen. Immer wieder greift er auf »Verhaltungsweisen der Aufmerksamkeit« als auf das eigentlich entscheidende Motiv zurück. Alles, was wir die »Lokalisation im Raume« nennen, erscheint durch solche Verhaltungsweisen bestimmt und geleitet. Als allgemeines Prinzip dieser Lokalisation wird von Jaensch der Satz aufgestellt, »daß die Gesichtseindrücke bei Abwesenheit anderer Lokalisationsmotive in die Entfernung des Aufmerksamkeitsortes lokalisiert werden«.83 Aber auch wenn man alle Einzelergebnisse von Jaenschs Versuchen annimmt, so erhebt sich hier doch die allgemeine methodische Frage, ob das Prinzip der Aufmerksamkeit in sich selber genügend geklärt und theoretisch genügend scharf bestimmt ist, um als tragfähige Grundlage für eine Theorie des Raumes gelten zu können. Wie die Raumtheorie, so hat auch die allgemeine Begriffstheorie sich auf dieses Prinzip zu stützen versucht. Auch sie sah die Leistung der »Abstraktion«, in welcher der Begriff entspringen sollte, im wesentlichen als eine Leistung der Aufmerksamkeit an. Indem unser Blick an einer Reihe sinnlicher Vorstellungen vorüberwandert, werden diese hierbei nicht in der Gesamtheit ihrer Eigenschaften gleichmäßig beachtet, sondern wir lösen aus ihnen jeweils ein bestimmtes Moment heraus, auf dem wir vorzugsweise verweilen. Indem auf diese Weise die nicht beachteten Teile schließlich verdrängt und statt ihrer nur jene anderen, im Zentrum der Aufmerksamkeit stehenden zurückbehalten werden, sei damit der Begriff, als Inbegriff des Beachteten, entstanden. Prüft man indes diese Theorie des Begriffs näher, so zeigt sich alsbald, daß auch sie sich in einen Zirkel verstrickt – daß in ihr das Gesuchte mit dem Gegebenen, das erst zu Begründende mit dem Grund verwechselt wird. Denn zum begriffsschöpferischen Akt kann die | Aufmerksamkeit nur dadurch werden, daß sie von Anfang an eine bestimmte Richtung einschlägt und diese in ihrer Gesamtbewegung festhält – daß sie die Mannigfaltigkeit der Wahrnehmungen unter einem einheitlichen Gesichtspunkt erfaßt und sie unter diesem vergleicht. Diese Einheit der »Sicht« aber schafft nicht erst den Begriff, sondern sie involviert ihn 83 Erich Rudolf Jaensch, Über die Wahrnehmung des Raumes. Eine experimentell-psychologische Untersuchung nebst Anwendung auf Ästhetik und Erkenntnislehre, Leipzig 1911 (Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 1. Abt.: Zeitschrift für Psychologie, Ergänzungsbd. 6); vgl. bes. das 5. Kapitel über »Aufmerksamkeitslokalisation« [Zitat S. 238].
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bereits; sie ist eben dasjenige, was seinen logischen Gehalt und seine logische Funktion ausmacht. Für die Bildung des Begriffs ist es nicht genug, daß überhaupt aufgemerkt wird – ein solches Aufmerken kann auch jeden anderen Akt des bloßen Empfindens, Vorstellens oder Phantasierens begleiten –, sondern der entscheidende Umstand liegt in dem, worauf gemerkt wird: in dem Ziel, das der Gedanke beim diskursiven Durchlaufen einer Reihe besonderer Inhalte im Auge hat und auf das er die Gesamtheit derselben bezieht. Der gleiche Grundakt aber ist es, der, wie für die Gewinnung der Begriffsformen, so auch für die der charakteristisch bestimmten Raumformen unentbehrlich ist. Am klarsten trat dies bei den verschiedenen geometrischen »Räumen« hervor: Je nachdem der Blick auf das eine oder andere Ziel gespannt ist, je nachdem er das eine oder andere Moment als »invariant« setzt, entsteht ihm die eine oder andere »Raumart«, konstituiert sich der Begriff des »metrischen«, des »projektivischen« Raumes u.s.f. Aber auch unser empirischer Anschauungsraum geht zuletzt, wie sich gezeigt hat, auf einen solchen ständig geübten Akt der »Selektion« zurück – und diese Auslese erfordert jedesmal ein bestimmtes Auswahlprinzip, einen determinierenden Gesichtspunkt. Auch hier werden bestimmte feste Punkte gesetzt, um die, als Angelpunkte, die Erscheinungen sozusagen gedreht werden. Da der Drehungspunkt wie der Drehungssinn bei dieser Bewegung wechseln kann, so kann eine einzelne Wahrnehmung für den Gesamtaufbau der räumlichen »Wirklichkeit« eine sehr verschiedene Bedeutung und einen sehr verschiedenen Wert gewinnen. Aber über alle diese Unterschiede hinweg behauptet sich die Einheit der theoretischen Grundfunktion, die das Ganze dieser Beziehungen beherrscht. Indem die Wahrnehmung nicht bloße Erfassung eines Einzelnen, hier und jetzt Gegebenen bleibt, indem sie den Charakter der »Darstellung« gewinnt, faßt sich damit erst die bunte Fülle der Phänomene zu einem »Kontext der Erfahrung« zusammen. Die Scheidung zwischen den beiden Grundmomenten der Darstellung – zwischen Darstellendem und Dargestelltem, zwischen »Repräsentant« und »Repräsentat« – trägt den Keim in sich, aus dessen Entwicklung und vollständiger Entfaltung die Welt des Raumes, als eine Welt der reinen Anschauung, hervorgeht. |
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kapitel iv. Die Zeitanschauung Das entwickelte theoretische Denken pflegt die Zeit als eine allumfassende »Form« für alles Geschehen zu nehmen; als eine universelle Ordnung, in welcher jeder Inhalt der Wirklichkeit »ist« und in der ihm eine eindeutige Stelle zukommt. Die Zeit steht nicht als ein physisches Sein oder als eine physische Kraft neben den Dingen: Sie hat keinen eigenen Daseinscharakter oder Wirkenscharakter. Aber alle Verknüpfung der Dinge, alle Beziehungen, die zwischen ihnen obwalten, gehen letzten Endes auf Bestimmungen des zeitlichen Geschehens, auf die Unterscheidung des Früher und Später, des »Jetzt« vom »Nicht-Jetzt« zurück. Erst wenn es dem Gedanken gelingt, die Mannigfaltigkeit der Ereignisse in ein System zusammenzufassen, innerhalb dessen die einzelnen Ereignisse in Rücksicht auf ihr »Vor« und »Nach« bestimmt sind, fügen sich damit die Phänomene zur Gesamtgestalt einer anschaulichen Wirklichkeit zusammen. Die Eigenart des zeitlichen Schematismus macht erst die Form der »objektiven« Erfahrung selbst möglich. So bildet die Zeit, wie Kant es ausspricht, das »Correlatum der Bestimmung eines Gegenstandes [überhaupt]«. Die »transzendentalen Schemata«, die nach Kant den Zusammenhang zwischen Verstand und Sinnlichkeit verbürgen, sind nichts als »Zeitbestimmungen a priori nach Regeln«. Durch sie wird die Zeitreihe, der Zeitinhalt, die Zeitordnung und der Zeitinbegriff in Ansehung aller möglichen Gegenstände bestimmt. Dabei besteht ein scharfer und prinzipieller Unterschied zwischen »Schema« und »Bild«: Denn »das Bild ist ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft, das Schema sinnlicher Begriffe [aber ist] ein Produkt und gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wornach die Bilder allererst möglich werden«.84 Indem Kant das Problem der Zeit in dieser Art stellt, fügt er freilich hinzu, daß dieser Schematismus unseres Verstandes in Ansehung der | Erscheinungen und ihrer bloßen Form »eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele« sei, »deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten und sie unverdeckt vor Augen legen werden«.85 In der Tat scheinen wir hier, gleichviel ob wir uns diesem Problem von der Seite der Metaphysik oder von seiten der Psychologie oder Erkenntniskritik nähern, alsbald vor einer unüber84 85
Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 146 u. 144 [B 184 u. 181]. [A. a. O., S. 144 (B 180 f.).]
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steiglichen »Grenze des Begreifens« zu stehen. Das Wort Augustins, daß die Zeit, die dem unmittelbaren Bewußtsein das Allergewisseste und Allerbekannteste ist, sich sofort in Dunkel hüllt, sobald wir über diese ihre unmittelbare Gegebenheit hinausgehen und sie in den Kreis der reflexiven Betrachtung zu rücken suchen – dieses Wort scheint nach wie vor seine volle Geltung zu behaupten.86 Jeder Versuch einer Zeitdefinition oder auch nur einer objektiven Charakteristik der Zeit droht uns sofort in unauflösliche Antinomien zu verwickeln. Ein gemeinsamer Grund dieser Antinomien und Aporien scheint freilich darin zu liegen, daß weder die Metaphysik noch die Erkenntniskritik die strenge Grenze innegehalten hat, die Kant in seiner Unterscheidung von »Bild« und »Schema« aufweist und einschärft. Statt die sinnlichen Bilder auf das »Monogramm der reinen Einbildungskraft« zu beziehen, sind sie immer wieder der Versuchung unterlegen, ebendieses letztere durch rein sinnliche Bestimmungen erläutern und »erklären« zu wollen. Diese Versuchung ist um so stärker und um so bedrohlicher, als sie von einer positiven Grundkraft | des Geistes, von der Kraft der Sprache, immer wieder erneuert und genährt wird. Die Sprache sieht sich, wo es sich um die Bezeichnung zeitlicher Bestimmungen und zeitlicher Verhältnisse handelt, zunächst durchweg auf die Vermittlung des Raumes angewiesen: Und aus dieser ihrer Verflochtenheit mit der Raumwelt ergibt sich für sie zugleich die Bindung an die Dingwelt, die als »im« Raume vorhanden gedacht wird. So kommt die »Form« der Zeit hier nur insoweit zum Ausdruck, als sie 86 Das folgende Kapitel ist geschrieben, bevor die letzte, in vieler Hinsicht ganz neue Wege weisende Analyse von »Zeit« und »Zeitlichkeit« durch Heidegger (Sein und Zeit) vorlag. Ich versuche hier nicht, nachträglich in eine eingehende kritische Auseinandersetzung mit den Ergebnissen dieser Analyse einzutreten. Sie wird erst dann möglich und fruchtbar sein, wenn das Werk Heideggers als Ganzes vorliegt. Denn das Grundproblem der »Philosophie der symbolischen Formen« liegt in ebenjenem Gebiet, das der erste Band von Heideggers Schrift ausdrücklich und in bewußter Absicht aus der Untersuchung ausgeschaltet hat. Es betrifft nicht jene Weise der »Zeitlichkeit«, die Heidegger als den »ursprünglichen Seinssinn des Daseins« herausstellt. Die »Philosophie der symbolischen Formen« bestreitet in keiner Weise diese »Zeitlichkeit«, wie sie hier als der letzte Grund der »Existentialität des Daseins« aufgedeckt und in ihren einzelnen Momenten durchsichtig gemacht werden soll. Aber ihre Frage beginnt erst jenseits derselben: Sie setzt an ebendem Punkte ein, an dem sich der Übergang von dieser »existenziellen« Zeitlichkeit zur Zeitform vollzieht. Die Bedingungen der Möglichkeit dieser Form will sie als Bedingung der Setzbarkeit eines »Seins«, das über die Existentialität des Daseins hinausgeht, erweisen. Wie beim Raume, so bildet auch bei der Zeit dieser Übergang, diese µετβασις vom Seinssinn des Daseins zum »objektiven« Sinn des »Logos« ihr eigentliches Thema und ihr eigentliches Problem. (Vgl. oben, S. 167 Anm. 64).
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in irgendeiner Weise an räumliche und an gegenständliche Bestimmungen angelehnt werden kann.87 Der Zwang dieser Anlehnung ist so stark, daß er sich, noch über den Kreis der Sprache hinaus, bis in die Begriffsbildung der exakten Wissenschaft erhält. Auch diese scheint zunächst keine andere Möglichkeit zu besitzen, irgendeine »objektive« Beschreibung der Zeit zu geben, als dadurch, daß sie ihr Wesen in räumlichen Bildern darstellt und verdeutlicht. Das Bild der unendlichen Geraden wird für sie zur »äußerlich figürliche[n] Vorstellung der Zeit«.88 Aber erfaßt irgendein derartiger figuraler Charakter die eigentliche Gestalt der Zeit – oder schiebt er ihr nicht vielmehr ein spezifisch anderes, ihr wesensfremdes Moment unter? Alle sprachliche Bestimmung ist notwendig zugleich sprachliche Fixierung – aber bringt nicht schon der bloße Versuch einer solchen Fixierung die Zeit um ihren wahren und eigentlichen Sinn, der ja eben der Sinn des reinen Werdens ist? Tiefer als die Sprache scheint hier der Mythos dringen, scheint er in der Urform der Zeit verweilen zu können, denn er faßt die Welt, statt als starres Sein, vielmehr als ein stetes Geschehen; statt als fertige Gestalt als eine sich immer erneuernde Metamorphose. Und von dieser seiner Grundauffassung aus erhebt er sich bereits zu einer ganz universellen Zeitanschauung. Denn schon in ihm scheidet sich die Anschauung des Werdenden und Gewordenen von der des Werdens selbst. Alles Einzelne und Besondere steht unter der Gewalt des Werdens als einer allgemeinen und unverbrüchlichen Schicksalsmacht. Dasein und Leben der Einzelwesen wird ihnen von dieser Macht zugemessen. Die Götter selbst sind nicht Herren über Zeit und Schicksal, sondern ihrem Urgesetz, dem Gesetz der µο1Cα, unterworfen. So wird hier die Zeit als Schicksal erlebt – lange bevor sie, in einem rein theoretischen Sinne, als kosmische Ordnung des Geschehens gedacht wird.89 Sie ist kein bloß ideelles Netzwerk für die Ordnung des »Früher« und »Später«; sondern sie selbst ist es, die das Netz spinnt. So bewahrt sie bei aller Allgemeinheit, die ihr | schon hier zuteil wird, ihre volle Lebendigkeit und ihre volle Konkretion: In ihr, als ursprünglicher Wirklichkeit, bleibt alles Sein, irdisches wie himmlisches, menschliches und göttliches, beschlossen und gebunden. Ein neues Verhältnis aber kündet sich an, sobald die Ursprungsfrage nicht mehr von seiten des Mythos, sondern von seiten der Phi87 Näheres hierüber s. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 167 ff. [ECW 11, S. 168 ff.]. 88 [Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 128 (B 154).] 89 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, S. 132 ff., 142 ff. u. 147 [ECW 12, S. 122 ff., 132 ff. u. 137 f.].
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losophie, der theoretischen Reflexion, gestellt wird. Der mythische Begriff des Anfangs wandelt sich jetzt in den Begriff des Prinzips. Auch dieses wird zunächst derartig gefaßt, daß in die rein begriffliche Bestimmung des Prinzips eine konkrete zeitliche Anschauung eingeht. Was sich für den philosophischen Gedanken als beharrender »Grund« des Seins ergibt, das gilt zugleich als die erste und früheste Seinsgestalt, die wir antreffen müssen, wenn wir die Reihe des Werdens nach rückwärts verfolgen. Aber auch diese Verflechtung der Motive löst sich, sobald sich die Frage des Denkens nicht mehr ausschließlich auf den Grund der Dinge, sondern auf seinen eigenen Seinsgrund und seinen eigenen Rechtsgrund richtet. Wo die Philosophie zuerst diese Frage erhebt, wo sie, statt nach dem Grund der Wirklichkeit, nach dem Sinn und Grund der Wahrheit fragt – da scheint damit mit einem Male jedes Band zwischen Sein und Zeit zerschnitten zu werden. Das wahrhafte Sein wird jetzt als ein zeitloses Sein entdeckt. Was wir Zeit nennen: das ist fortan nicht mehr als ein bloßer Name – ein Gespinst der Sprache und der menschlichen »Meinung«. Das Sein selbst kennt kein Früher oder Später: »Es war nicht und es wird nicht sein, sondern es ist schlechthin, allzusammen nur im Jetzt bestehend.«90 Mit diesem Begriff des zeitlosen Seins, als dem Korrelat der zeitlosen Wahrheit, vollzieht sich die Losreißung des »Logos« vom Mythos – die Mündigkeitserklärung des reinen Denkens gegenüber den mythischen Schicksalsmächten. Und immer von neuem kehrt die Philosophie im Verlauf ihrer Geschichte zu diesem ihrem Ursprung zurück. Wie Parmenides, so richtet Spinoza das Ideal einer zeitlosen Erkenntnis, einer Erkenntnis sub specie aeterni auf. Auch für ihn wird die Zeit zu einem Gebilde der »imaginatio«, der empirischen Einbildungskraft, die ihre eigene Form fälschlich dem substantiellen, dem absoluten Sein unterschiebt. Aber die Metaphysik ist freilich des Rätsels der Zeit nicht dadurch Herr geworden, daß sie es von ihrer Schwelle verweist – daß sie, nach dem prägnanten Wort des Parmenides, Entstehen und Vergehen von sich ausstößt.91 Denn wenn damit das Sein, als absolutes Sein, von der Last des Widerspruchs befreit scheint, so ist doch nun die Welt der Phänomene | mit einem um so härteren Widerspruch belastet. Sie ist fortan der Dialektik des Werdens ein für allemal preisgegeben. Die Geschichte der Philosophie 90 Parmenides, Fragm. 8, V. 1–33, zit. nach: Diels, Fragmente, S. 122–124 [Zitat S. 122 f. (V. 5 f.): »οδ ποτ’ 5ν οδ’ σται, πε ν2ν στιν µο2 πGν, / ν, συνεχς#«]. 91 Ders., Fragm. 8, V. 22, a. a. O., S. 123; vgl. Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, S. 162 ff. [ECW 12, S. 152 ff.].
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zeigt, wie diese Dialektik, die das Eleatische Denken im abstrakten Begriff der Vielheit und im abstrakten Begriff der Bewegung entdeckt, allmählich auch in die empirische Erkenntnis, auch in die Physik und deren prinzipielle Grundlegung, eindringt. Newton vollzieht diese Grundlegung, indem er das Postulat einer »absoluten Zeit«, die an sich und ohne Rücksicht auf einen äußeren Gegenstand verfließt, an die Spitze seines Systems stellt. Aber je mehr die Betrachtung sich in das Wesen dieser absoluten Zeit vertieft, um so klarer und schärfer zeigt sich, daß in ihr, um das Kantische Wort zu brauchen, ein »existierendes Unding« gesetzt worden ist. Indem das Fließen zum Grundmoment der Zeit gemacht wird, ist damit ihr Sein und ihr Wesen in ihr Vergehen gesetzt. Sie selbst soll freilich an diesem Vergehen nicht teilhaben: Denn der Wechsel betrifft nicht sie selber, sondern er geht nur den Inhalt des Geschehens, nur die Erscheinungen an, die in ihr aufeinanderfolgen. Aber eben damit scheint nun wieder ein Seiendes, ein substantielles Ganze gesetzt, das sich aus nichtseienden Teilen zusammenfügt. Denn wie die Vergangenheit »nicht mehr« ist, so ist die Zukunft »noch nicht«. Was somit von der Zeit als bestehend zurückbleibt, scheint nur die Gegenwart, als das Medium zwischen diesem »Noch-nicht« und jenem »Nicht-mehr«, sein zu können. Geben wir diesem Medium eine endliche Ausdehnung, betrachten wir es als Zeitstrecke, so bricht in ihm alsbald dasselbe Problem auf – so wird es zu einer Vielheit, von der jeweilig nur ein einzelnes Moment besteht und ist, während alle übrigen dem Sein vorausliegen oder es schon hinter sich gelassen haben. Verstehen wir andererseits das Jetzt streng punktuell, so hört es vermöge dieser Isolierung auf, ein Glied der Zeitreihe zu sein. Gegen ein solches »Jetzt« erhebt sich die alte Zenonische Aporie: Der fliegende Pfeil ruht, weil er in jedem Punkt seiner Bahn nur eine einzige Lage einnimmt, sich also nicht im Zustand des Werdens, des »Übergangs« befindet. Auch das Problem der Zeit messung, das, wenn irgendeines, ein rein empirisches Problem zu sein, das von der Erfahrung selber aufgegeben und mit ihren Mitteln vollständig lösbar zu sein scheint, verwickelt immer wieder in das Wirrsal dialektischer Erwägungen und Erörterungen. Im Briefwechsel zwischen Leibniz und Clarke folgert der letztere, als Verteidiger und Vertreter Newtons, aus der Meßbarkeit der Zeit ihren absoluten und realen Charakter: Denn wie könnte etwas, was nicht ist, die Eigenschaft der objektiven Größe und der objektiven Zahl besitzen? Leibniz aber wendet dieses Ar | gument alsbald in sein Gegenteil um: Er sucht zu zeigen, daß eine Größenbestimmung der Zeit nur dann widerspruchslos denkbar sei, wenn wir sie, statt als Substanz, als eine rein ideelle Beziehung, als
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eine »Ordnung des Möglichen« denken.92 So scheint aller Fortschritt der Erkenntnis – gleichviel ob er von seiten der metaphysischen oder der physikalischen Zeitbetrachtung gewonnen wird – ihren innerlich antinomischen Charakter nur um so deutlicher und um so unerbittlicher zu enthüllen; das »Sein« der Zeit droht uns, mit welchen Mitteln wir es auch zu fassen versuchen, immer wieder unter den Händen zu zerrinnen. Diese Dialektik, die immer wieder entsteht, sobald das Denken versucht, des Zeitbegriffs dadurch Herr zu werden, daß sie ihn dem allgemeinen Seinsbegriff unterstellt, tritt in höchster Prägnanz und Klarheit bereits in jenem klassischen Kapitel von Augustins Bekenntnissen hervor, in dem zum ersten Male in der Geschichte des abendländischen philosophischen Denkens die Problematik der Zeit in ihrem ganzen Umfange aufgestellt und überblickt wird. Wenn die Gegenwart – so folgert Augustin – nur dadurch zur Zeitbestimmung, zur zeitlichen Gegenwart wird, daß sie in Vergangenheit übergeht: wie können wir dann dasjenige ein Sein nennen, was nur dadurch besteht, daß es sich vernichtet? Oder wie könnten wir der Zeit eine Größe zusprechen und diese Größe messen, da doch eine solche Messung nur dadurch zustande kommen kann, daß wir Vergangenes und Gegenwärtiges miteinander verknüpfen und in einen Blick des Geistes zusammennehmen – während doch andererseits beide Momente, ihrer reinen Seinsart nach, einander kontradiktorisch entgegengesetzt sind? Hier bleibt nur ein Ausweg: Es muß eine Ver mittlung gefunden werden, die diesen Gegensatz zwar nicht aufhebt, die ihn jedoch relativiert – die ihn statt als absoluten Widerstreit als eine bloß bedingte Entgegensetzung erscheinen läßt. Und ebendiese Vermittlung vollzieht sich für uns nach Augustin in jedem echten Akt des Zeitbewußtseins. Den Ariadnefaden, der uns aus dem Labyrinth der Zeit herausführen kann, finden wir erst, wenn wir das Problem auf einen prinzipiell anderen Ausdruck bringen – wenn wir es vom Boden einer realistisch-dogmatischen Ontologie auf den Boden der reinen Analyse der Bewußtseinsphänomene versetzen.93 Näheres in meiner Ausgabe von Gottfried Wilhelm Leibniz’ »Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie«, übers. v. Artur Buchenau, durchges. u. mit Einl. u. Erl. hrsg. v. Ernst Cassirer, Bd. I, Leipzig 1904 (Philosophische Bibliothek, Bd. 107), Streitschriften zwischen Leibniz und Clarke, S. 120–241: S. 142, 159, 189 ff. u. 225 ff. 93 Schon im Aufbau von Augustins Gedankenwelt erweist sich somit die eigentliche Kraft des Zeitmotivs darin, daß es zu einer prinzipiellen Neuorientierung, zu einer Umwendung und Umgestaltung der Seinsfrage selbst hinführt. Schon hier erfüllt dieses Motiv daher im wesentlichen die gleiche Funktion, die 92
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Die Scheidung der Zeit in Gegen | wart, Vergangenheit und Zukunft ist jetzt keine substantielle Scheidung mehr, durch welche drei einander heterogene Seinsmodi in ihrem »Ansich« bestimmt und gegeneinander abgesondert werden sollen – sondern sie betrifft lediglich unser Wissen von der erscheinenden Wirklichkeit. Wir können, streng genommen, nicht von drei Zeiten, als seienden, sprechen: Sondern richtiger müßte gesagt werden, daß die Zeit als Gegenwart drei verschiedene Beziehungen und kraft ihrer drei verschiedene Aspekte und Bestimmungen in sich faßt. Es gibt Gegenwart vom Vergangenen, Gegenwart vom Gegenwärtigen und Gegenwart vom Zukünftigen. »Die Gegenwart vom Vergangenen heißt Gedächtnis, die vom Gegenwärtigen heißt Anschauung, die vom Zukünftigen heißt Erwartung.« Nicht die Zeit, als absolutes Ding, also dürfen wir in drei gleichfalls absolute Teile zerlegt denken: Wohl aber umspannt das einheitliche Bewußtsein des Jetzt drei verschiedene Grundrichtungen und konstituiert sich erst in dieser Dreiheit. Die Bewußtseinsgegenwart ist nicht angeheftet an einen einzelnen Moment und in ihm wie festgebannt, sondern sie geht notwendig, nach vorwärts wie nach rückwärts, über ihn hinaus.94 Die Zeit begreifen heißt also nicht sie aus drei gesonderten, aber nichtsdestoweniger seinsmäßig verbundenen Wesenheiten zusammensetzen – es heißt vielmehr verstehen, wie drei klar geschiedene Intentionen: die Intention auf das Jetzt, die auf das Früher und die auf das Später sich zur Einheit eines Sinnes zusammenfassen. Daß eine solche Synthesis möglich ist, kann freilich nicht mehr aus etwas anderem abgeleitet oder bewiesen werden – sondern hier stehen wir vor einem Phänomen, das, als echtes Urphänomen, nur sich selbst beglaubigen und sich selbst erklären kann. »Quid est ihm auch in der Entwicklung | der modernen »Ontologie« zukommt. Auch diese letztere sieht ihre Aufgabe vor allem darin, die Zeit als »Horizont alles Seinsverständnisses und jeder Seinsauslegung« ans Licht zu bringen und genuin zu begreifen, und sie findet im rechtgesehenen und rechtexplizierten Phänomen der Zeit »die zentrale Problematik aller Ontologie verwurzelt«. (Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, bes. § 5 [Zitate S. 17 f.]). 94 »Nec proprie dicitur, Tempora sunt tria; praeteritum, praesens et futurum; sed fortasse proprie diceretur, Tempora sunt tria; praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris. Sunt enim haec in anima tria quaedam, et alibi ea non video; praesens de praeteritis memoria, praesens de praesentibus contuitus, praesens de futuris exspectatio.« Aurelius Augustinus, Confessiones libri XIII (Buch 11, Kap. 20, Abschn. 26), in: Opera omnia, post lovaniensium theologorum recensionem castigata denuo ad manuscriptos codices gallicos, vaticanos, belgicos, etc., necnon ad editiones antiquiores et castigatiores, hrsg. v. Jacques-Paul Migne, Bd. I (Patrologiae cursus completus, series latina, Bd. XXXII), Paris 1861, Sp. 657–868: Sp. 819.
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ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio […]«95 »Ein Laut beginnt zu tönen; er tönt und hält eine Zeitlang an; dann bricht er plötzlich ab: Er ist als Laut vergangen, es besteht kein Laut mehr. Bevor er erklang, war er nur ein zukünftiger Laut, der als zukünftiger, als noch nicht vorhandener | nicht gemessen werden konnte; nun, da er nicht mehr vorhanden ist, kann er gleichfalls nicht gemessen werden. Gemessen werden konnte er also nur im Augenblick seines Erklingens: Denn damals bestand etwas, was sich messen ließ. Aber auch damals stand er nicht still: Denn er kam und ging vorüber. […] Nehmen wir einen Versfuß von acht Silben, die abwechselnd kurz und lang sein sollen. […] Von den langen Silben sagen wir, daß sie die doppelte Zeit dauern wie die kurzen. So messen wir also offenbar die lange Silbe durch die kurze und sprechen ihr im Vergleich zu ihr die zwiefache Dauer zu. Aber da die eine nach der anderen erklingt: Auf welche Weise halte ich die kürzere fest, und wie wende ich sie als Maß auf die längere an: Beginnt doch die lange erst, nachdem die kurze aufgehört hat? Und diese lange selbst: Messe ich sie, bevor sie vollendet ist oder nachdem sie vollendet ist? Im ersteren Fall hat sie ihre Dauer noch nicht erreicht; im zweiten Fall ist sie, als beendet, auch bereits verschwunden. Was also ist es, was ich messe? Wo ist die kurze, wo die lange Silbe? Beide sind erklungen, sind entschwunden und vorbeigegangen; sie sind nicht mehr: Und doch messe ich sie und behaupte zuversichtlich, daß der einen ein doppelt so großer Zeitraum wie der anderen zukommt. Ich messe also nicht die Silben selbst, die dahin sind, sondern etwas in meinem Gedächtnis, das festbleibt. […] In dir, mein Geist, messe ich die Zeiten; die Bestimmung, die die vorübergehenden Dinge in dir setzen und die, auch wenn jene vorübergegangen sind, bleibt: Sie, als gegenwärtige, messe ich; nicht aber das, was verschwinden mußte, damit diese gegenwärtige Bestimmung entstehen konnte. […] Im Geiste sind Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in eins gefaßt: Denn er erwartet und merkt auf, und er erinnert sich, wie das, was er erwartet, vermittels dessen, worauf er aufmerkt, in das übergeht, woran er sich erinnert. Wer leugnet also, daß das Künftige noch nicht besteht? Und doch besteht im Geiste die Erwartung des Künftigen. Wer leugnet, daß das Vergangene nicht mehr ist? Und doch ist im Geiste noch die Erinnerung an Vergangenes. Wer leugnet, daß die gegenwärtige Zeit ohne Ausdehnung ist, da sie nur ein einziger vorübergehender Punkt ist? Und doch dauert die Anschauung der Gegenwart, denn sie fährt fort zu sein, auch wenn die Gegenwart bereits vorüber ist. Nicht also die 95
A. a. O. (Buch 11, Kap. 14, Abschn. 17), Sp. 816.
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Zukunft ist lang, da sie ja überhaupt nicht ist, vielmehr ist eine lange Zukunft nichts anderes als eine Erwartung der Zukunft als lang; noch auch ist die Vergangenheit lang, sondern eine lange Vergangenheit ist nur das Gedächtnis an Vergangenes als lang.«96 | Der scharfe Schnitt zwischen der Dingzeit und der reinen Erlebniszeit – zwischen der Zeit, die wir als Strombett für das objektive Geschehen denken, und der Bewußtseinszeit, die uns ihrem Wesen nach nicht anders denn als »Präsenzzeit« gegeben sein kann, ist nunmehr vollzogen. Die Problematik, die damit aufgeschlossen ist, kommt, einmal in dieser Klarheit erfaßt, nicht wieder zur Ruhe. Sie 96 [»[…] vox corporis incipit sonare, et sonat, et adhuc sonat, et ecce desinit; jamque silentium est, et vox illa praeterita est, et non est jam vox. Futura erat antequam sonaret, et non poterat metiri, quia nondum erat, et nunc non potest, quia jam non est. Tunc ergo poterat cum sonabat, quia tunc erat quae metiri posset. Sed et tunc non stabat; ibat enim et praeteribat. […] versus iste octo syllabarum, brevibus et longis alternat syllabis. […] Hae singulae ad illas singulas duplum habent temporis; pronuntio, renuntio, et ita est quantum sentitur sensu manifesto. Quantum sensus manifestus est, brevi syllaba longam metior, eamque habere bis tantum sentio. Sed cum altera post alteram sonat, si prior brevis, longa posterior, quomodo tenebo brevem, et quomodo eam longae metiens applicabo, ut inveniam quod bis tantum habeat; quandoquidem longa sonare non incipit, nisi brevis sonare destiterit? Ipsam quoque longam non praesentem metior, quando nisi finitam non metior. Ejus autem finitio, praeteritio est. Quid ergo est quod metiar? ubi est, qua metior, brevis? ubi est longa quam metior? Ambae sonuerunt, avolaverunt, praeterierunt; jam non sunt; et ego metior, fidenterque respondeo, quantum exercitato sensu fiditur, illam simplam esse, illam duplam, in spatio scilicet temporis. Neque hoc possum, nisi quia praeterierunt et finitae sunt. Non ergo ipsas quae jam non sunt, sed aliquid in memoria mea metior quod infixum manet. […] In te, inquam, tempora metior; affectionem quam res praetereuntes in te faciunt, et cum illae praeterierint manet, ipsam metior praesentem, non eas quae praeterierunt ut fieret: ipsam metior, cum tempora metior. […] Sed quomodo minuitur aut consumitur futurum, quod nondum est? aut quomodo crescit praeteritum quod jam non est, nisi quia in animo qui illud agit tria sunt? Nam et exspectat et attendit et meminit, ut id quod exspectat, per id quod attendit, transeat in id quod meminerit. Quis igitur negat futura nondum esse? Sed tamen jam est in animo exspectatio futurorum. Et quis negat praeterita jam non esse? Sed tamen adhuc est in animo memoria praeteritorum. Et quis negat praesens tempus carere spatio, quia in puncto praeterit? Sed tamen perdurat attentio per quam pergat abesse quod aderit.] Non igitur longum tempus futurum quod non est, sed longum futurum longa exspectatio futuri est; neque longum praeteritum tempus quod non est, sed longum praete|ritum longa memoria praeteriti est.« A. a. O. (Buch 11, Kap. 37 f., Abschn. 34–37), Sp. 822–824; vgl. bes. a. a. O. (Buch 11, Kap. 26 ff.). Die »longa exspectatio« und die »longa memoria« soll hierbei natürlich nicht etwa die reale Dauer der Erwartung und Erinnerung als psychischer Akte bezeichnen, sondern sie besagt, daß die Erwartung bzw. die Erinnerung den Inhalt, auf den sie sich richten, als »kurz« oder »lang« bestimmen: Die Zeitbestimmung geht nicht auf die Akte, sondern betrifft deren »intentionales Objekt«.
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durchzieht fortan die Geschichte der Metaphysik wie die der Erkenntnistheorie – und sie hat noch jüngst, in den Versuchen zur Grundlegung der modernen »Denkpsychologie«, ihre Wiederauferstehung erfahren.97 Aber auch wir selbst sehen uns eben hier alsbald wieder auf den eigentlichen Mittelpunkt unserer systematischen Frage zurückgewiesen. Denn klar und bestimmt wird hier die Forderung erhoben, das Phänomen der Repräsentation der Zeit nicht mit den Problemen der Seinszeit, als ontisch-realer, als »metaphysischer« Zeit, zu vermengen. Wir können nicht mit dieser letzteren beginnen, um von hier aus zur erlebten Zeit, zur »Ichzeit« vorzudringen; sondern wir können nur den umgekehrten Weg gehen. Die Frage lautet, wie wir von jenem reinen Phänomen des »Jetzt«, das Zukunft und Vergangenheit als konstitutive Momente in sich begreift, zu jener Art von Zeit hingeführt werden, in der diese drei Stadien voneinander geschieden, in der sie als objektiv »auseinander« und nacheinander befindlich gesetzt sind. Die Richtung der Betrachtung kann hierbei immer nur vom »Idealen« zum »Realen«, von der »Intention« auf ihren »Gegenstand« gehen. Von der metaphysischen Kategorie der Substantialität hingegen führt letzten Endes kein Weg zur reinen Anschauung der Zeit zurück. Die einzig konsequente Entscheidung besteht hier darin, ebendiese Anschauung selbst zu verwerfen – sie mit Parmenides als nichtseiend oder mit Spinoza als Gebilde der Imagination zu erklären. Aber da reine Phänomene sich durch Machtsprüche des metaphysischen Denkens nicht beseitigen, nicht schlechthin vernichten lassen, so besteht zuletzt die einzige Möglichkeit der Lösung in einer prinzipiellen Umwendung und Rück | wendung des Problems. Was es zu erkennen gilt, ist der Übergang von der ursprünglichen Zeitstruktur des Ich zu jener Zeitordnung, in der für uns die empirischen Dinge und Ereignisse stehen, in der uns der »Gegenstand der Erfahrung« gegeben ist. Und hier zeigt sich zunächst, daß ebendas, was dieser »Gegenstand« besagt und meint, nicht nur mittelbar auf die Zeitordnung bezogen ist, sondern daß er geradezu erst durch sie setzbar wird. In der neueren Philosophie setzt diese Fassung der Frage nicht erst bei Kant, sondern schon bei Leibniz ein. Schon er zeigt – und ebendies bildet ein Kernstück in seiner Polemik gegen Newtons Zeitlehre –, daß die »monadologische« Zeit das πCτεCον τ0 φσει bildet und daß wir erst von ihr aus zur mathematisch-physikalischen Zeit gelangen können. Für das System der Monadologie ist die 97 Vgl. Hönigswald, Die Grundlagen der Denkpsychologie; zum Unterschied zwischen »Präsenzzeit« und »objektiver« Zeit, von »gestalteter Zeit« und »transeunter Zeit« s. bes. S. 67 ff., 82 ff., 307 ff. u. ö.
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»Präsenz« des Ich, die Vergangenheit und Zukunft in sich begreift, der Ausgangspunkt, der Terminus a quo, dessen Sein und Sinn durch keinen »influxus physicus«, durch keine Kausalität »von außen« erklärt werden kann. Sie bildet die Vermittlung für alles sonstige objektive Sein und für alles objektive Wissen. Denn die Monade ist nach Leibniz, der hier den realistischen Substanzbegriff umkehrt, nur kraft ihres Vorstellens – sie kann aber nicht anders vorstellen, als indem sie im Jetzt das Vergangene und Künftige erschaut und ausdrückt. Dieser Ausdruck des Vielen im Einen (multorum in uno expressio) gehört zum Wesen jeder Bewußtseinserscheinung; aber er ist deutlicher als vielleicht irgendwo sonst am Charakter der zeitlichen Phänomene erfaßbar und aufzeigbar. In jedem anderen Gebiet kann es scheinen, als trete die »Repräsentation«, als bloß mittelbarer Akt, zu einem irgendwie unmittelbar gegebenen Bewußtseinsstoff bloß hinzu; als sei sie diesem nicht ursprünglich zugehörig, sondern füge sich ihm nachträglich an. Im Raum etwa bezieht sich zwar jeder Inhalt notwendig auf die anderen, so daß jedes »Hier« mit einem »Dort« durch kausale Bestimmungen, durch dynamische Wirkungen verknüpft ist; aber der reine Sinn des »Hier« scheint auf den ersten Blick für sich bestehen zu können, scheint unabhängig von dem des »Dort« begriffen und definiert werden zu können. Für die Zeit aber ist nicht einmal in der Abstraktion eine solche Trennung möglich. Jeder Moment schließt die Dreiheit der Zeitbeziehungen und der zeitlichen Intentionen unmittelbar in sich. Die Gegenwart, das Jetzt empfängt den Charakter als Gegenwart nur durch den Akt der Vergegenwärtigung, durch den Hinweis auf Vergangenes und Künftiges, den sie in sich schließt. Hier tritt demnach die »Repräsentation« nicht zur »Präsentation« hinzu, sondern sie ist es, die den Gehalt und Kern der »Präsenz« selber ausmacht. Der Schnitt, der hier »Inhalt« und | »Darstellung«, »Daseiendes« und »Symbolisches« gegeneinander abzuscheiden sucht, würde, falls er gelänge, zugleich den Lebensnerv des Zeitlichen selbst treffen und zerstören. Und mit der spezifischen Form des Zeitbewußtseins wäre jetzt auch die des Ichbewußtseins vernichtet. Denn beide bedingen einander wechselseitig: Das Ich findet und weiß sich nur in der dreifachen Form des Zeitbewußtseins, während andererseits die drei Phasen der Zeit sich nur im Ich und kraft des Ich zur Einheit zusammenschließen. Die Art, wie in der Zeit Bestimmungen, die in abstrakter begrifflicher Setzung einander zu widerstreiten und die sich ewig zu fliehen scheinen, nichtsdestoweniger »zusammengehen«, kann niemals von den Dingen her, sondern nur vom Ich her verständlich gemacht werden. Denn auf der einen Seite macht, nach dem Kantischen Ausdruck, das
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»stehende und bleibende Ich […] das Correlatum aller unserer Vorstellungen aus, sofern es bloß möglich ist, sich ihrer bewußt zu werden«98 – auf der anderen Seite aber kann sich das Ich nur in seinem eigenen stetigen Fließen ebendieser seiner Identität und Beharrlichkeit versichern. Es ist Konstanz und Veränderung, Dauer und Übergang in einem. »Indem ich mich als in diesem Jetzt stehend fühle, finde ich mich nicht nur nach der Vergangenheit hin in stetigem Übergehen, sondern auch nach vorwärts hin finde ich mich als keineswegs scharf begrenzt, als keineswegs abreißend, aufhörend und nach einer Pause neu anfangend. Auch nach vorwärts hin bin ich ein Weiterfließendes. Indem ich in diesem Jetzt mich als herfließend aus dem eben zur Vergangenheit gewordenen Jetzt fühle, bin ich zugleich dessen gewiß, daß dieses Jetzt, in dem ich stehe, sofort hinschwindet und in ein weiteres Jetzt hineinfließt. Mein Jetzt-Erlebnis hat diese zwei Seiten an sich: es fühlt sich als kommend aus dem Vorher und als sich wandelnd in das Nachher. Jedes Jetzt ist für mich hinschwindendes Soeben-Gegenwärtiggewesensein und eben damit zugleich Übergehen in ein weiteres Jetzt, das ist: in ein Soeben-Nochnicht-Gegenwärtiggewesensein.«99 Auch diese Form des Icherlebnisses läßt sich freilich nicht anders denn in der reinen Beschreibung aufweisen – nicht aber läßt sie sich in dem Sinne »erklären«, daß sie dadurch auf etwas anderes, Tieferes zurückgeführt würde. Gleichviel welche Richtung diese Erklärung nimmt, gleichviel ob sie metaphysische oder psychologische Tendenzen verfolgt, so wird stets die versuchte Ableitung zur Aufhebung: Die Deduktion schlägt unmittelbar in die Negation um. Spi noza muß, indem er die Zeit dem Gebiet der »Imagination« zuweist, damit auch das | Ich dem gleichen Kreis zurechnen. Zwar tritt auch bei ihm das Bewußtsein, die cogitatio, als Attribut der unendlichen Substanz auf und ist daher, wie es scheint, als ein Ewiges und Notwendiges bestimmt. Aber er läßt keinen Zweifel darüber, daß dieses Bewußtsein mit dem menschlichen Ichbewußtsein nicht mehr als den bloßen Namen gemein hat. Wenn wir der Substanz das Prädikat des Selbstbewußtseins zuschreiben, wenn wir vom göttlichen Verstand und vom göttlichen Willen sprechen, so unterliegen wir in dieser Bezeichnung dem Zwang einer bloßen sprachlichen Metapher: Der Sache nach besteht hier keine größere Gemeinsamkeit als die zwischen dem Hund als Sternbild und dem Hund als bellendem Tier. Von der entgegengesetzten Seite her wird die Ursprünglichkeit und die selb[Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 625 (A 123).] Johannes Volkelt, Phänomenologie und Metaphysik der Zeit, München 1925, S. 23 f. 98 99
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ständige Eigenart des Ichbewußtseins wie des Zeitbewußtseins durch die Kritik bestritten, die der psychologische Empirismus und Sensualismus an beiden übt. Auch hier stehen wir im Banne einer substantiellen Grundauffassung: Aber nicht das Einfache des Seins, sondern das Einfache der Empfindung ist es, worauf hier alle Gestaltungen des Bewußtseins reduziert und worein sie aufgelöst werden sollen. Dieser elementare Bestand als solcher schließt in seinem reinen Ansich weder die Form des Ich noch die der Zeit in sich. Beide erscheinen vielmehr als sekundäre Produkte – als akzidentelle Bestimmungen, die eine genetische Ableitung aus dem Einfachen fordern. So wird das Ich zum »Bündel von Vorstellungen«,100 wie die Zeit zu einer bloßen Mehrheit sinnlicher Eindrücke wird. Wer die Zeit unter den Grundtatsachen des Bewußtseins, wer sie unter den einfachen Perzeptionen sucht, wird in ihnen nichts finden, was ihr entspricht: Es gibt keine einzelne Vorstellung der Zeit oder der Dauer, wie es eine solche von einem Ton oder von einer Farbe gibt. Fünf Töne auf einer Flöte gespielt – so betont Hume – erwecken in uns den Eindruck der Zeit; aber diese ist hierbei keineswegs ein neuer Eindruck, der zu den rein akustischen Impressionen, als ihnen gleichartig und gleichwertig, hinzutritt. Ebensowenig aber schafft etwa der Geist, auf Veranlassung und Anregung der bloßen Gehörsempfindungen, eine neue Idee, eine Idee der »Reflexion«, die er aus sich selbst zieht. Denn er mag zu tausend Malen alle seine Vorstellungen zergliedern – nie wird er imstande sein, aus ihnen eine eigene und ursprüngliche Perzeption, die Perzeption der Zeit, zu gewinnen. Wessen er sich in Wahrheit beim Hören der Töne bewußt wird, ist also, außer den einzelnen Tönen selbst, nichts anderes als ein modaler Charakter, der ihnen anhaftet; ist nur die besondere Art, in der sie auftreten. Wir können später darauf reflektieren, daß diese Er | scheinungsart rein als solche nicht an das Material der Töne gebunden ist, sondern daß sie auch an jedem anderen sinnlichen Stoff vorkommen und sich an ihm manifestieren kann. Aber damit wird die Zeit zwar von jeder Besonderheit des Empfindungsstoffes, nicht aber von dem sinnlichen Stoff überhaupt ablösbar. Die Zeitvorstellung ist demnach für Hume kein selbständiger Inhalt; sie entspringt vielmehr aus einer gewissen Form des »Bemerkens« oder »Beachtens« sinnlicher Eindrücke und Gegenstände. Diese Ableitung, die im wesentlichen noch Mach unverändert von Hume übernimmt, ver100 [David Hume, A Treatise of Human Nature: Being an Attempt to introduce the Experimental Method of Reasoning into Moral Subjects (Buch 1, Teil 4, Abschn. 6), hrsg. v. Lewis Amherst Selby-Bigge, Oxford 1896, S. 252: »a bundle […] of […] perceptions«.]
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läuft jedoch offenbar in demselben Zirkel, in dem alle Versuche, spezifische Weisen und Richtungen der »Intention« auf bloße Akte der Aufmerksamkeit zurückzuführen, sich bewegen.101 Um die Zeit zu »bemerken«, sollen wir auf die Folge »achten« – und von ihr allein, nicht aber von den besonderen Inhalten, die in dieser Folge auftreten, »Notiz nehmen«.102 Aber es ist klar, daß ebendiese Beachtungsrichtung schon das Ganze der Zeit, schon ihre allgemeine Struktur und ihren charakteristischen Ordnungssinn, in sich schließt. Der psychologische Empirismus unterliegt hier demselben Trugschluß, dem innerhalb ihrer Sphäre die realistische Ontologie unterlag. Auch er sucht die »phänomenale« Zeit aus irgendwelchen »objektiven« Bestimmungen und Verhältnissen herzuleiten; nur daß seine Objekte nicht mehr die absoluten Substanzen, sondern die – nicht minder als absolut gesetzten – Sinneseindrücke sind. Aber weder die »Dinge an sich« noch die »Empfindungen an sich« erklären jene fundamentale Beziehung, die uns im Zeitbewußtsein entgegentritt. Das »Nacheinander der Vorstellungen« ist mit der »Vorstellung des Nacheinander« keineswegs gleichbedeutend – noch ist einzusehen, wie die letztere einfach aus dem ersteren »resultieren« sollte. Denn solange der Fluß der Vorstellungen rein als eine tatsächliche Veränderung, als ein objektiv reales Geschehen genommen wird, enthält er noch kein Bewußtsein von der Veränderung als solcher – von jener Weise, in welcher die Zeit als Folge und nichtsdestoweniger als stete Gegenwart, als »Vergegenwärtigung« im Ich gesetzt und für dasselbe gegeben ist.103 | An ebendieser Klippe scheitern denn auch alle anderen Versuche, das symbolische Befaßtsein des Vergangenen im Jetzt sowie den Vorblick vom Jetzt in die Zukunft dadurch zu begreifen, daß man beides aus Kausalgesetzen des objektiven Seins und des objektiven Vgl. hierzu oben, S. 180–182. Vgl. Hume, A Treatise of Human Nature (Buch 1, Teil 2, Abschn. 3), S. 37: »But here it only takes notice of the manner, in which the different sounds make their appearance; and that it may afterwards consider without considering these particular sounds […]«. 103 Zum Unterschied der »phänomenologischen« Zeit von der objektiven »kosmischen« Zeit vgl. bes. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (§ 8 ff.), in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 1 (1913), S. 1–323. – Die eingehende Analyse des Zeitbewußtseins, die im letzten Bande des »Jahrbuchs für Philosophie und phänomenologische Forschung« von | Heidegger auf Grund der Husserlschen Vorlesungen herausgegeben worden ist (Edmund Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, hrsg. v. Martin Heidegger, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 9 [1928], S. 367–498), konnte leider hier nicht mehr berücksichtigt werden. 101 102
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Die Zeitanschauung
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Geschehens ableitet. Wieder soll hier ein reiner Wissenszusammenhang, eine Form der »Bewußtheit« dadurch verständlich gemacht werden, daß man an seine Stelle einen Seinszusammenhang treten läßt. Aber so eng dieser letztere auch geknüpft werden mag, so bleibt er doch generisch von dem, was er erklären soll, geschieden. Mag immerhin das Vergangene im Gegenwärtigen noch in irgendeinem Sinne fortbestehen, so läßt sich doch von diesem seinem angeblichen Bestand zum Phänomen der Repräsentation keine Brücke schlagen. Denn »Repräsentation« ist von bloßer »Retention« nicht dem Grade, sondern der Art nach unterschieden.104 Es genügt nicht, daß das Vergangene im Gegenwärtigen substantiell noch in irgendeiner Weise vorhanden ist oder daß beide durch unzerreißbare Fäden miteinander verknüpft sind, um das spezifische »Erinnerungsbewußtsein«, um das Wissen vom Vergangenen als vergangen zu erklären. Denn ebendann, wenn das Vergangene im Gegenwärtigen »ist«, wenn es der Gegenwart »inexistent« gedacht wird, bleibt es dunkel, wie das Bewußtsein es nichtsdestoweniger als nichtgegenwärtig auffassen, wie es das Sein der Vergangenheit in eine zeitliche Ferne rücken kann. Die reale Koinzidenz, die sich hier etwa behaupten läßt, schließt diese Ferne so wenig ein, daß sie sie vielmehr auszuschließen und unmöglich zu machen droht. Wie kann der gegenwärtige Zeitpunkt, der, dem Sein nach, gemäß dem Worte des Parmenides »allzusammen nur im Jetzt vorhanden ist« und der »als Selbiges im Selbigen verharrend in sich selbst ruht und standhaft verharrt«105 – wie kann er sich nichtsdestoweniger in sich selbst entzweien und unterscheiden? Wie vermag er, als Gegenwart, die Vergangenheit und Zukunft von sich abzulösen und zu unterscheiden? Platon hat in seinem Kampfe gegen die sensualistische Erkenntnislehre des Protagoras auf die spezifische Form der Erinnerungsgewißheit, der µν$µη, verwiesen, die für sich allein hinreiche, um die | Gleichsetzung von »Wissen« und sinnlicher Wahrnehmung zu widerlegen.106 Dieser Einwand wird dadurch nicht ent104 Dies wird gelegentlich auch von streng »positivistisch« und psychologistisch gerichteten Forschern zugestanden; vgl. z. B. Theodor Ziehen, Erkenntnistheorie auf psychophysiologischer und physikalischer Grundlage, Jena 1913, S. 287 ff. Daß Ziehens eigene Logik und Erkenntnislehre hieraus freilich nicht die systematisch notwendige Konsequenz gezogen hat, sondern auf einer Verkennung des hier aufgewiesenen Grundunterschieds beruht, habe ich an anderer Stelle zu zeigen gesucht. (Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie, S. 39 ff. [s. ECW 17]). 105 [Parmenides, Fragm. 8, V. 5 u. 29 f., zit. nach: Diels, Fragmente, S. 122 u. 124: »πε ν2ν στιν µο2 πGν […] τατν τ’ ν τατ3ι τε µνον κα'’ (αυτ τε κε1ται / χο)τως µπεδον α7'ι µνει#«] 106 Vgl. Platon, Theaitet 163 D ff.
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kräftet, daß man das Phänomen des »Gedächtnisses« selbst zum Ausgangspunkt und Angelpunkt der Psychologie des Erkennens macht und es im Rahmen einer rein naturalistischen Betrachtung zu begreifen sucht. Eine solche physiologische Theorie der »Mneme« ist insbesondere von Richard Semon systematisch ausgebaut worden – und neuerdings hat Bertrand Russell an sie angeknüpft, um auf sie seine Erklärung und seine Analyse des Bewußtseins zu gründen. Nach Semon gehört das, was wir »Gedächtnis« nennen, nicht erst der Sphäre des »Bewußtseins« an, sondern wir haben in ihm eine Grundeigenschaft aller organischen Materie und alles organischen Lebens zu sehen. Dies eben unterscheidet »Lebendiges« und »Totes«, daß alles Lebendige eine Geschichte hat; d. h., daß die Art, wie es auf bestimmte gegenwärtige Einwirkungen reagiert, nicht nur von der Beschaffenheit des momentanen Reizes, sondern von früheren Reizen abhängt, die den Organismus getroffen haben. Der Eindruck, der auf ein organisches Gebilde geübt wird, bleibt in bestimmter Hinsicht erhalten, auch wenn seine Ursache aufgehört hat zu bestehen. Denn jeder Reiz hinterläßt eine bestimmte physiologische »Spur«, ein »Engramm«: Und jedes dieser »Engramme« ist seinerseits mitbestimmend für die Art, wie der Organismus künftig auf gleiche oder ähnliche Reize antworten wird. So ist alles, was wir bewußte Wahrnehmung nennen, niemals allein von dem gegenwärtigen Zustand des Leibes, insbesondere des Gehirns und des Nervensystems, sondern von der Gesamtheit der Wirkungen abhängig, die auf beide geübt worden sind.107 Russell greift auf diese Bestimmungen zurück, um zu zeigen, daß sie und sie allein eine scharfe und exakte Abgrenzung zwischen »Materie« und »Geist« zu geben vermögen. »Geist« und »Materie« unterscheiden sich nicht ihrem Wesen und ihrem »Stoffe« nach, sondern vielmehr durch die Form der Verursachung, die in beiden herrscht. In dem einen Fall läßt sich eine hinreichend genaue Beschreibung des Geschehens und seiner Gesetzlichkeit gewinnen, indem wir auf bloß physische Ursachen zurückgehen, d. h. auf solche, deren Wirkung einen einzelnen Moment im allgemeinen nicht überdauert. In dem anderen Gebiet hingegen sehen wir uns über diese Betrachtung notwendig hinausgewiesen – wir müssen gleichsam auf zeitliche Fernkräfte zurückgreifen, um das hier und jetzt gegebene Ge | schehen vollständig zu begreifen. Aber andererseits genügt nach Russell dieser Unterschied zwischen »physischer« und »mnemischer« Verursa107 Näheres bei Richard Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, Leipzig 1904; ders., Die mnemischen Empfindungen in ihren Beziehungen zu den Originalempfindungen, Leipzig 1909.
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chung auch vollständig, um die phänomenologische Differenz zwischen »Wahrnehmung« und »Erinnerung« zu erklären – ja diese Differenz bedeutet gar nichts anderes als ebendiese doppelte Form der Kausalität. Niemals gelingt es, Wahrnehmungen und Vorstellungen, Sensationen und Ideen durch rein innere Kriterien, wie etwa durch die größere oder geringere Intensität oder durch irgendeinen anderen psychischen »Charakter«, der ihnen anhaftet, zu scheiden. Was die einen von den andern trennt, was die Sphäre der »Bilder« (images) als solche bezeichnet und konstituiert, ist vielmehr der Umstand, daß in ihr andere Gesetze der Verknüpfung gelten. »Der Unterschied zwischen Bildern und Sensationen kann nur gefunden werden, wenn man auf die Ursachen beider zurückgeht. Sensationen werden uns durch die Sinnesorgane vermittelt, während dies für Bilder nicht gilt. Ein Bild hat jederzeit, abgesehen von seiner physischen Ursache, eine mnemische Ursache und entsteht gemäß mnemischen Gesetzen, d. h., es wird durch Gewohnheit und frühere Erfahrung beherrscht. Wenn wir den Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Ursächlichkeit als endgültig ansehen dürfen, so können wir Bilder von Sensationen dadurch unterscheiden, daß die ersteren, neben den physischen, auch mnemische Ursachen haben, während die letzteren ausschließlich durch physische Ursachen bewirkt werden.«108 Aber auch diese in sich so konsequente Theorie vergißt, daß phänomenologische Unterschiede der Bedeutung sich nicht dadurch aufhellen und nicht dadurch nivellieren lassen, daß man sie auf die Ebene des Daseins und des kausalen Geschehens abbildet.109 Sie übersieht, daß die Differenz der Verursachung als solche immer nur für einen fremden Zuschauer gegeben ist, der das Bewußtsein sozusagen von außen betrachtet. Er, der bereits mit einer »objektiven« Zeit ope-
108 Bertrand Russell, The Analysis of Mind, London/New York 1921, S. 149 ff. [Zitat S. 149–151: »I think […] that the distinction between images and sensations can only be made by taking account of their causation. Sensations come through sense-organs, while images do not. […] it [the image] has a mnemic cause – which does not prevent it from also having a physical cause. And I think it will be found that the causation of an image always proceeds according to mnemic laws, i. e. that it is governed by habit and past experience. […] And I think that, if we could regard as ultimately valid the difference between physical and mnemic causation, we could distinguish images from sensations as having mnemic causes, though they may also have physical causes. Sensations, on the other hand, will only have physical causes.«], vgl. auch a. a. O., S. 287 ff. 109 Näheres hierzu in meinem kritischen Referat über Russells Werk: S. Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie, S. 49 ff. [s. ECW 17].
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riert, in die er das Geschehen einzufügen und in der er es zu ordnen sucht, mag hierbei zwei Arten von Verknüpfungen gegeneinander absondern: die eine, die rein »physikalischen«, die andere, die zugleich physiologischen und psychologischen Gesetzen gehorcht. Aber jede solche Unterscheidung innerhalb der natürlichen Ursachen des Geschehens setzt offensichtlich schon den Gedanken einer Naturordnung überhaupt und damit den Gedanken einer | objektiven Zeitordnung voraus. Nur ein Bewußtsein, das überhaupt zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu sondern und das im Gegenwärtigen Vergangenes wiederzuerkennen versteht, vermag die Gegenwart an die Vergangenheit anzuknüpfen, vermag in dieser die »Fortwirkung« jener zu erblicken. Diese Sonderung bleibt in jedem Falle der radikale Akt: das Urphänomen, das durch keine kausale Ableitung erklärt werden kann, weil es bei jeglicher kausalen Ableitung bereits vorausgesetzt werden muß. Selbst wenn man die naturalistische Theorie der »Mneme« in ihrem ganzen Umfange annimmt, wenn man davon ausgeht, daß kein Eindruck auf die lebendige organische Substanz erfolgen kann, ohne daß er sich nach den vorangegangenen Eindrücken richtet und durch sie modifiziert wird – auch dann noch bleibt doch ebendiese Modifikation selbst nur ein tatsächliches Geschehen, das eine Wirkung an Stelle einer anderen setzen würde. Wie aber – so müßte jetzt weiter gefragt werden – kann nun diese Änderung als solche erkannt werden; wie kann das Gegenwärtige nicht nur objektiv durch das Vergangene bestimmt sein, sondern sich durch es bestimmt wissen und sich auf das Vergangene als seinen Bestimmungsgrund beziehen? Mögen immerhin »Engramme« und Spuren des Früheren zurückgeblieben sein, so erklären doch ebendiese sachlichen Rückstände an sich keineswegs die charakteristische Form der Rückbeziehung. Denn diese setzt ja voraus, daß innerhalb des unteilbaren Zeitmoments eine Mehrheit von Zeitbestimmungen gesetzt wird, daß der gesamte Inhalt des im einfachen »Jetzt« gegebenen Bewußtseins gewissermaßen auf Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verteilt wird. Diese Form der phänomenalen Differenzierung bildet das eigentliche Problem. Die Theorie der »Mneme« aber kann im günstigsten Falle nur die reale Inexistenz des Früheren im Späteren erklären, nicht aber begreiflich machen, wie es dazu kommt, daß an dem hier und jetzt gegebenen Inhalt eine Gliederung sich vollzieht, kraft deren einzelne Bestimmungen aus ihm herausgehoben und in eine zeitliche Tiefendimension verlegt werden. Auch diese Theorie verschiebt daher, gleich derjenigen Humes, die Frage: Sie glaubt die »Vorstellung des Nacheinander« aus dem »Nacheinander der Vorstellungen« ableiten zu können.
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Die naturalistisch gerichtete Psychologie versucht, das Verhältnis von »Wahrnehmung« und »Erinnerung« so zu fassen, daß die Erinnerung gewissermaßen nur als Verdoppelung der Wahrnehmung, als Wahrnehmung in zweiter Potenz erscheint. Erinnerung ist die Wahrnehmung einer vergangenen Wahrnehmung: »sentire se sensisse, meminisse est«, | wie es bei Hobbes heißt. Aber schon in dieser Formel selber springt ein doppeltes Problem heraus. Hobbes definiert die Sensation derart, daß sie nichts anderes als die Reaktion bedeutet, die der organische Leib gegen einen von außen wirkenden Reiz ausübt. Aber wie kommt es unter diesen Umständen zum Phänomen des Gedächtnisses – wie kann die Reaktion, die auf einen anwesenden Reiz erfolgt, auf einen abwesenden Reiz als Ursache gedeutet werden? Wie ist es möglich, »wahrzunehmen, daß man wahrgenommen hat«? Schon in der sprachlichen Form, die Hobbes seinem Satz gegeben hat, wird die ganze Schwierigkeit offenbar. Sentire se sensisse: Das besagt einmal, daß zwei verschiedene und verschiedenen Zeiten angehörige Empfindungen an dasselbe Subjekt geknüpft werden, daß es das gleiche »Ich« ist, das empfindet und empfunden hat. Und es besagt weiterhin, daß ebendieses Ich seine Zustände und Modifikationen gegeneinander absondert, daß es ihnen verschiedene zeitliche Stellenwerte gibt und diese Stellenwerte selbst in einer kontinuierlichen Reihe ordnet. Hier kehrt sich demnach bei Hobbes das anfänglich gesetzte Verhältnis geradezu um: Während er nach den Grundsätzen seines Systems die Empfindung als die Vorbedingung des Gedächtnisses denken muß, wird ihm andererseits das Gedächtnis zum Ingrediens der Empfindung selbst. »Ich weiß wohl«, so betont selbst dieser konsequente »Materialist«, »daß es hervorragende Philosophen gegeben hat, die den Satz aufgestellt haben, daß alle Körper mit sinnlicher Empfindung begabt sind, und wenn man die Natur der Empfindung lediglich in die Rückwirkung auf einen äußeren Reiz setzt, so sehe ich in der Tat kein Mittel, eine derartige Annahme zu widerlegen. Aber selbst wenn aus der bloßen Reaktion in diesen Körpern eine Vorstellung sich bildete, so würde sie doch mit der Entfernung des Gegenstandes alsbald verschwinden; die Körper würden also nur derart empfinden, daß sie sich niemals erinnern würden, empfunden zu haben, was für diejenige Art von Empfindung, von der hier die Rede ist, nichts besagt. Denn unter Empfindung verstehen wir gewöhnlich eine Beurteilung der Gegenstände vermittels der Vorstellungen, indem wir nämlich die Vorstellungen miteinander vergleichen und sie untereinander scheiden: Eine solche Vergleichung und Unterscheidung aber ist notwendig stets mit einem Akt des Gedächtnisses verbunden, durch den erst Früheres mit Späterem zusammengehalten
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und durch den erst das eine vom andern abgesondert werden kann.«110 Dieser Tatbestand tritt nach | Hobbes insbesondere in der Betrachtung und Zergliederung der Tastphänomene hervor, sofern nämlich alle taktilen Qualitäten nicht durch den Tastsinn allein, sondern auch durch das Gedächtnis wahrgenommen werden. »Denn obgleich manche Dinge in einem Punkte getastet werden, so kann man sie doch nicht empfinden ohne den Fluß eines Punktes, d. h. ohne Zeit; Zeit aber zu empfinden, dazu bedarf es des Gedächtnisses.«111 In der Tat ist, wie die neuesten Untersuchungen auf dem Gebiete des Tastsinns mit besonderer Deutlichkeit ergeben haben, die Bewegung und damit die Zeit einer der gestaltenden Faktoren der Tastphänomene selbst. Die Vertiefung in diese Phänomene ist daher besonders geeignet, jene »zeitatomistische Tendenz«, die in der Wahrnehmungspsychologie lange fast alleinherrschend war, zu widerlegen. Sie zeigt, daß gerade die grundlegenden Qualitäten des Tastsinns – Qualitäten wie »hart« und »weich«, »rauh« und »glatt« – erst kraft der Bewegung entstehen, so daß sie, wenn wir die Tastempfindung auf einen einzelnen Augenblick beschränkt sein lassen, innerhalb dieses Augenblicks als Data gar nicht mehr aufgefunden werden können. Es ist nicht ein zeitlich abgelöster, einen bestimmten Moment erfüllender Reiz und die ihm entsprechende sinnliche Empfindung noch auch eine bloße Summe sinnlicher Augenblickserlebnisse, was zu diesen Qualitäten hinführt, sondern es handelt sich in ihnen, wenn wir sie nach Seiten ihrer objektiven »Ursachen« betrachten, vielmehr um Reizverläufe, die nicht 110 Hobbes, De corpore (Teil 4, Kap. 25, § 1 u. 5) [Zitate S. 193 u. 194 f.: »Scio fuisse Philosophos quosdam eosdemque viros doctos qui corpora omnia sensu praedita esse sustinuerunt; nec video, si natura sensionis in reactione sola collocaretur quo modo refutari possint. Sed etsi ex reactione etiam corporum aliorum phantasma aliquod nasceretur, illud tamen, remoto objecto statim cessaret; nam nisi ad retinendum motum impressum, etiam remoto objecto, apta habeant organa, ut habent animalia, ita tantum sentient, ut nunquam sensisse se recordentur; id quod ad sensionem de qua nunc sermo institutus est nihil attinet. Nam per sensionem vulgo intelligimus aliquam de rebus objectis per phantasmata judicationem; phantasmata scilicet comparando, et distinguendo; id quod, nisi motus in organo ille a quo phantasma ortum est, aliquandiu maneat, ipsumque phantasma quandoque redeat, fieri non potest. Sensioni ergo de qua hic agitur, quaeque vulgo ita appellatur, necessario adhaeret memoria aliqua, qua priora cum posterioribus comparari, et alterum ab altero distingui possit.«]; zu Hobbes’ Psychologie vgl. bes. Richard Hönigswald, Hobbes und die Staatsphilosophie, München 1924 (Geschichte der Philosophie in Einzeldarstellungen, Abt. 5: Die Philosophie der neueren Zeit II, Bd. 21), S. 109 ff. 111 [Hobbes, De corpore (Teil 4, Kap. 29, § 18), S. 250: »[…] Tactus enim in puncto fit aliquando, sed asperum, laeve, quantitas et figura, non sentiuntur sine fluxu puncti, id est, sine tempore; tempus autem sentire, memoriae opus est.«]
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mit einzelnen »Empfindungen« beantwortet werden, sondern einen Totaleindruck konstituieren, dem keine zeitliche Komponente mehr als wesentlich angehört.112 Hier kehrt sich also das Verhältnis, wie wir es bei Hume beschrieben fanden, geradezu um: Nicht aus einer Sukzession sinnlicher Erlebnisse entsteht die Vorstellung des Flusses der Zeit, sondern aus der Auffassung und Gliederung eines bestimmten zeitlichen Verlaufs resultiert ein eigentümliches sinnliches Erlebnis. Es wird somit, auf den ersten Blick seltsam genug, nicht aus der Folge der Eindrücke die Idee der Zeit »abstrahiert« – sondern das Durchlaufen einer Reihe, die nicht anders denn im Nacheinander erfaßt werden kann, führt zuletzt zu einem Ergebnis, das alles Nacheinander von sich abgestreift hat und als einheitliches und simultanes vor uns zu stehen scheint. Von einer neuen Seite her zeigt sich hier, daß die Funktion des »Gedächtnisses« keineswegs auf bloße Reproduktion vergangener Eindrücke eingeschränkt ist, sondern daß ihm im Aufbau der Wahrnehmungswelt eine echt schöpferische Bedeutung zukommt – daß die | »Erinnerung« nicht nur früher gegebene Wahrnehmungen wiederholt, sondern daß sie neue Phänomene und neue Data konstituiert.113 Näheres hierüber bei Katz, Der Aufbau der Tastwelt (Kap. 3), S. 56 ff. Es ist historisch und systematisch interessant zu verfolgen, wie die psychologischen und erkenntnistheoretischen Probleme, die das »Erinnerungsbewußtsein« stellt, immer wieder zu einer Krise des strikten Sensualismus und Positivismus geführt und ihn an einem bestimmten Punkte zur Umkehr genötigt haben. In der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts tritt diese Wandlung vielleicht am deutlichsten bei Hans Cornelius hervor. Cornelius, der ursprünglich einen strengen Empirismus im Sinne von Mach und Avenarius vertreten hatte, vollzieht an ebendiesem Punkte die Rückwendung, die ihn schließlich wieder ganz nahe an Kants »transzendentale« Problemstellung heranführt. Er geht davon aus, daß die Form des Zeiterlebnisses in keiner Weise »erklärt«, d. h. auf andere Tatsachen zurückgeführt werden kann, weil jeder Versuch einer solchen Erklärung das zu Erklärende immer schon voraussetzen müßte. Die Tatsache, daß eine Mannigfaltigkeit von Erlebnissen und jedes einzelne Erlebnis als Teil einer zeitlichen Ganzheit und einer Ich-Ganzheit gegeben ist, bedeutet »eine der für jede Zeit unseres Lebens als gültig zu erkennenden Tatsachen, d. h. sie ist eine transcendentale Gesetzmäßigkeit«. Weiter sucht Cornelius zu zeigen, daß die herkömmliche (sensualistische und assoziationspsychologische) Auffassung des Erinnerungsbewußtseins in keiner Weise zur Beschreibung des Tatbestandes genüge, daß im Augenblick, wo ein bestimmter Inhalt a im Bewußtsein auftritt, nicht nur er selbst, sondern auch ein anderer, ihm vorangegangener b für das Bewußtsein gegeben ist. Die Erinnerung an ein Erlebnis a kann nicht dadurch erklärt werden, daß von ihm irgendeine Nachwirkung, ein »Gedächtnisbild« a zurückgeblieben sei. »Denn das Dasein einer solchen Nachwirkung würde ja nur eben ein dem neuen Augenblick angehöriger Inhalt sein, d. h. diese Nachwirkung würde nur als ein gleichzeitig mit b auftretender gegenwärtiger Inhalt 112 113
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Und noch deutlicher und charakteristischer tritt dieser schöpferische Zug des reinen Zeitbewußtseins zutage, wenn wir die dritte Grundrichtung, in der es sich bewegt, ins Auge fassen – wenn wir statt des Rückblicks in die Vergangenheit den Vorblick in die Zukunft betrachten. | Auch er gehört zum Wesen des Zeitbewußtseins, das sich erst in dem Ineinander von gegenwärtiger Anschauung, von Erinnerung und Erwartung in sich selber vollendet. Schon Augustin betont demgemäß, daß die Erwartung zur Charakteristik des Zeitbewußtseins ebenso notwendig wie die Erinnerung gehöre – und überall, wo statt von der objektiv-physikalischen vielmehr von der »monadologischen« Zeit ausgegangen wird, ist es gerade dieses letztere Phänomen, das in den Mittelpunkt der Auffassung rückt. Der »Ausdruck des Mannigfaltigen im Einen«,114 der nach Leibniz die Monade kennzeichnet, ist ebenso ursprünglich auf die Zukunft wie auf die Vergangenheit bezogen. Das Ich, das sich selber als »in der Zeit« stehend anschaut, faßt sich hierbei nicht nur als eine Summe ruhender Zuständlichkeiten, sondern als ein Wesen, das sich nach vorwärts in die Zeit erstreckt, das vom Gegenwärtigen zum Künftigen hinausstrebt. Ohne diese Form des Strebens ist uns auch das, was wir als »Vorstellung«, als aktuale Vergegenwärtigung eines Inhalts zu denken pflegen, niemals gegeben. So gleicht das echte Ich niemals einem bloßen »Bündel von Perzeptionen«, sondern es ist der lebendige Quell und der Grund, aus dem immer neue Inhalte sich erzeugen: gegeben sein. Vielmehr ist, damit ein Wissen von Vergangenem gegenwärtig gegeben sei, erforderlich, daß jene Nachwirkung zugleich die Eigenschaft habe, uns dieses Wissen zu vermitteln , gleichsam einen Hinweis auf dieses Vergangene zu enthalten. Die Tatsache, daß in dem gegenwärtigen Erlebnis der Erinnerung ein Wissen von einem vergangenen Erlebnis gegeben ist, daß das erstere also für unser Wissen dieses letztere repräsentiert, bezeichne ich als die symbolische Function des Erinnerungserlebnisses.« »Man erkennt leicht, daß es sich hier abermals um eine transcendentale Gesetzmäßigkeit handelt. Denn wäre die Erinnerung nicht allgemein und primär Erinnerung an Mannigfaltigkeiten von Erlebnissen, so würde die Erkenntnis des Zeitverlaufs nicht zu Stande kommen können […]« Von dieser Betrachtung aus, für die er sich ausdrücklich auf die entsprechenden Darlegungen Kants über die »Synthesis der Reproduktion« und die »Synthesis der Rekognition im Begriff« beruft, gelangt Cornelius sodann zu einer Neuorientierung der Erkenntnislehre, die ihn von der anfangs versuchten rein positivistischen Grundlegung zur »transzendentalen Systematik« hinleitet. Vgl. seine Schrift »Transcendentale Systematik. Untersuchungen zur Begründung der Erkenntnistheorie«, München 1916, S. 53 ff. u. 73 ff. [Zitate S. 55, 73 u. 75 f.]. 114 [Gottfried Wilhelm Leibniz, Specimen inventorum de admirandis naturae generalis arcanis, in: Philosophische Schriften, Bd. VII, Berlin 1890, S. 309–318: S. 317: »expressio multorum in uno«.]
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»fons et fundus idearum […] praescripta lege nasciturarum«.115 Sein Gehalt zergeht uns unter den Händen, wenn wir ihn rein statisch zu denken suchen, wenn wir ihn durch den Begriff des bloßen Seins statt durch den der Kraft bestimmen. Leibniz hat diesen Sachverhalt durch eine kühne sprachliche Neubildung bezeichnet, indem er der gegenwärtigen Vorstellung, der perceptio, die percepturitio als gleichberechtigt zur Seite stellt.116 Beides ist untrennbar miteinander verbunden: Denn das Bewußtsein ist nur dadurch, daß es nicht in sich beharrt, sondern ständig über sich selbst, über die gegebene Gegenwart, zum Nicht-Gegebenen hinausgreift. Auch die moderne Psychologie hat die Analyse des »Gedächtnisses« in dieser Richtung weiter verfolgt und vertieft: Auch sie betont, daß eine der wesentlichen Leistungen des Gedächtnisses in der Erwartung, in der Richtung auf die Zukunft, zu sehen ist.117 Genetisch betrachtet scheint sogar die Erwartung früher als die Erinnerung zu sein – denn das eigentümliche »Gerichtetsein« auf Künftiges scheint sich schon in den | frühesten Lebensäußerungen des Kindes zu finden.118 Erst in dem Maße, als sie den Leibnizischen Begriff der »Tendenz« wieder zu Ehren brachte und ihn in seiner grundlegenden Bedeutung anerkannte, hat sich die Psychologie des neunzehnten Jahrhunderts von der starren Vorstellungsart befreit, die die einzelnen Eindrücke, als gegenwärtige und bestehende, gleich Mosaikstiften aneinandersetzt. Hier ist es vor allem William James gewesen, der klar erkannt und ausgesprochen hat, daß unter Voraussetzung dieser Vorstellungsart zu einem wahren Einblick in das dynamische Werden, in den »Strom des Bewußtseins« nicht zu gelangen ist. Es ist charakteristischerweise die Betrachtung der Sprache gewesen, die James zu diesem Ergebnis geführt hat. »In Wahrheit«, so betont er, »sind große Gebiete der menschlichen Sprache nichts anderes als Richtungszeichen für das Denken, wobei wir ein höchst scharfes und ausgeprägtes Bewußtsein dieser Richtungen besitzen, ohne daß doch 115 Ders., Brief an Burcher de Volder vom 24. März / 3. April 1699, in: Philosophische Schriften, Bd. II, Berlin 1879, S. 168–175: S. 172. 116 »[Q]uaecunque in Anima universim concipere licet, ad duo possunt revocari: expressionem praesentis externorum status, Animae convenientem secundum corpus suum; et tendentiam ad novam expressionem, quae tendentiam corporum (seu rerum externarum) ad statum futurum repraesentat, verbo: perceptionem et percepturitionem.« Ders., Brief Nr. 14 an Christian Wolf, in: Briefwechsel zwischen Leibniz und Christian Wolf. Aus den Handschriften der Koeniglichen Bibliothek zu Hannover, hrsg. v. Carl Immanuel Gerhardt, Halle 1860, S. 56–58: S. 56. 117 S. z. B. Koffka, Die Grundlagen der psychischen Entwicklung, S. 171. 118 Vgl. hierzu Stern, Psychologie der frühen Kindheit, S. 66.
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ein bestimmtes sinnliches Bild hierbei irgendeine Rolle spielt. Sinnliche Bilder sind feste psychische Tatsachen; wir können sie stillstehen lassen und unsern Blick, solange wir wollen, auf ihnen verweilen lassen. Was dagegen die Zeichen für eine logische Bewegung betrifft, so beziehen sie sich auf psychische Übergänge, die gewissermaßen immer auf dem Marsche sind und die sich stets nur wie im Fluge erhaschen lassen. […] Versuchen wir solche Richtungsgefühle festzuhalten, so werden sie zur vollen Gegenwart, und sie selbst sind als Richtungsgefühle dahin. […] Man kann annehmen, daß ein gutes Drittel unseres Seelenlebens in solchen schnellen Vorblicken besteht, in der Antizipation gewisser Gedankenschemata, noch bevor sie ausdrücklich in artikulierter Rede formuliert sind.«119 Wie lassen sich diese »rapiden Vorblicke« (»these rapid premonitory perspective views of schemes of thought«) erklären, wenn man alles psychische Sein und Leben zuletzt in den »einfachen Sensationen« beschlossen und begründet sein läßt; wenn man an dem Dogma festhält, daß alle unsere Vorstellungen und Ideen nichts anderes denn Kopien früherer Eindrücke sind? Die Erinnerungsgewißheit mochte sich im gewissen Sinne noch diesem Schema einfügen lassen: Es konnte wenigstens versucht werden, das Bewußtsein des Vergangenen auf eine Art tatsächlicher Fortexistenz desselben, auf eine Wirkung von ihm, die bis in die unmittelbare Gegenwart hineinragt, zurückzuführen. Aber dem Bewußtsein des Künftigen gegenüber versagt jede derartige Reduktion. Ein Ding oder ein Vorgang mag auf uns wirken, | auch nachdem sie selbst verschwunden sind – aber gibt es eine solche Einwirkung auch von Dingen, bevor sie sind? Und wenn wir diese Frage verneinen – welchen aktuellen »Reiz«, welche objektive »Ursache« vermögen wir für die Erwartung des Kommenden, für die charakteristische »Intention« auf die Zukunft anzuführen? Hier bleibt, vom Standpunkt jeder naturalistischen und objektivistischen Theorie des Bewußtseins, nichts anderes übrig, als den Sachverhalt umzukehren: Was uns unmittelbar und rein phänomenal als Erwartung erscheint, 119 James, The Principles of Psychology, Bd. I, S. 252 f. [»The truth is that large tracts of human speech are nothing but signs of direction in thought, of which direction we nevertheless have an acutely discriminative sense, though no definite sensorial image plays any part in it whatsoever. Sensorial images are stable psychic facts; we can hold them still and look at them as long as we like. These bare images of logical movement, on the contrary, are psychic transitions, always on the wing, so to speak, and not to be glimpsed except in flight. […] If we try to hold fast the feeling of direction, the full presence comes and the feeling of direction is lost. […] One may admit that a good third of our psychic life consists in these rapid premonitory perspective views of schemes of thought not yet articulate.«].
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das muß sich der Sache nach in bloße Erinnerung auflösen und aus Gesetzen der Assoziation und Reproduktion erklären lassen. Die Richtung des Bewußtseins auf die Zukunft ist damit freilich nicht sowohl verstanden, als sie vielmehr verleugnet und vernichtet ist. Unser Vorblick auf die Zukunft wird zu einer bloßen Selbsttäuschung, zu einer Phantasmagorie, der das »wirkliche« Bewußtsein, als eine Kombination aus »Daseiendem« und aus »Gewesenem«, gegenübersteht. Aber selbst wenn es gelänge, die Form der »objektiven« Zeit, wie sie die mathematische Naturwissenschaft denkt und zugrunde legt, von diesem Gesichtspunkt aus zu erfassen und zutreffend zu beschreiben – so wäre mit dieser Auffassung doch die historische Zeit, die Zeit der Kultur und der Geschichte, beseitigt und um ihren eigentlichen Sinn gebracht. Denn ihr Sinn baut sich für uns nicht lediglich aus dem Rückblick in die Vergangenheit, sondern nicht minder aus dem Vorblick in die Zukunft auf. Er ist gleich sehr auf das Streben und auf die Tat, auf die Tendenz zum Künftigen wie auf die Betrachtung und Vergegenwärtigung des Vergangenen gestellt. Nur ein wollendes und handelndes, ein in die Zukunft hinausgreifendes und ein die Zukunft kraft seines Willens bestimmendes Wesen kann eine »Geschichte« haben; kann von Geschichte wissen, weil und sofern es sie ständig erzeugt. Die echte geschichtliche Zeit ist daher niemals bloße Geschehenszeit; sondern ihr spezifisches Bewußtsein strahlt nicht minder als aus dem Mittelpunkt der Betrachtung aus dem Mittelpunkt des Wollens und Vollbringens aus. Das kontemplative Moment ist hier unlöslich mit dem aktiven verwoben: Das Schauen nährt sich aus dem Wirken, wie sich das Wirken aus dem Schauen nährt. Denn das geschichtliche Wollen selbst ist nicht ohne eine Tat der »produktiven Einbildungskraft« möglich – wie andererseits die Einbildungskraft nur dort wahrhaft schöpferisch zu werden vermag, wo sie von einem lebendigen Impuls des Willens bestimmt und beflügelt wird. So beruht das geschichtliche Bewußtsein auf einem Ineinander und einer Wechselwirkung von Tatkraft und Bildkraft: auf der Klarheit und | Sicherheit, mit der das Ich imstande ist, ein zukünftiges Sein im Bilde vor sich hinzustellen und alles einzelne Tun auf dieses Bild zu richten. Wieder zeigt sich hierin die Art der symbolischen »Repräsentation« in ihrer ganzen Kraft und in ihrer ganzen Tiefe: Denn hier ist es das Symbol, das der Wirklichkeit sozusagen voraneilt, das ihr den Weg weist und ihr die Bahn erst freimacht. Es blickt nicht auf sie, als seiende und gewordene, bloß zurück, sondern es wird zu einem Moment und Motiv ihres Werdens selbst. In dieser Form des symbolischen Schauens ergibt sich erst die eigentliche spe-
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zifische Differenz, durch die sich der geistige, der geschichtliche Wille vom bloßen »Willen zum Leben«, von den rein vitalen Triebkräften unterscheidet. Der Trieb ist, so ungestüm er nach vorwärts zu drängen scheint, doch in Wahrheit stets von rückwärts her bestimmt und dirigiert. Die Kräfte, die ihn leiten, liegen hinter ihm, nicht vor ihm: Sie entspringen dem sinnlichen Eindruck und dem unmittelbaren sinnlichen Bedürfnis. Der Wille dagegen reißt sich von dieser Bindung los. Er greift ins Künftige hinweg und ins bloß Mögliche hinaus, indem er beides durch einen rein symbolischen Akt vor sich hinstellt. Jede Phase der Handlung erfolgt jetzt im steten Hinblick auf einen idealen Entwurf, der die Handlung als Ganzes antizipiert und der ihr ihre Einheit, ihren Zusammenhang und ihre Stetigkeit sichert. Je größer die Kraft dieser Vorschau und dieser freien Überschau ist, eine um so reichere Dynamik und eine um so reinere geistige Form gewinnt das Tun selbst. Seine Bedeutung liegt jetzt nicht mehr lediglich in seinem Ertrag, sondern im Prozeß des Wirkens und Gestaltens selbst, der als solcher zugleich die Bedingung für eine neue Grundrichtung des Verstehens der Welt in sich schließt. Wieder bestätigt sich uns damit, daß es eine bestimmte und eigentümliche Weise der »Sicht« ist, in welcher die geschichtliche Wirklichkeit für uns allein »da ist« und in der sie ihre charakteristische Gestalt erhält. Die Bestimmungen, die sich uns aus der Analyse des Raumbewußtseins ergeben haben, finden jetzt in der Formung der Zeit ihr Gegenbild. Wie wir dort den bloßen »Aktionsraum« vom »Symbolraum« unterscheiden mußten, so besteht ein analoger Unterschied auch in der zeitlichen Sphäre. Jede Handlung, die in der Zeit geschieht, gliedert sich in ihr auch in irgendeiner Weise; sie weist eine bestimmte Folge, eine Ordnung im Nacheinander auf, ohne welche sie nicht als in sich einheitliches zusammenhängendes Ganzes bestehen könnte. Aber es ist ein weiter Weg von der geordneten Abfolge des Geschehens als solchem zur reinen Anschauung der Zeit selber und ihrer einzelnen Verhältnisse. | Schon das tierische Leben bewegt sich in höchst komplizierten und zeitlich aufs feinste gegliederten Handlungsverläufen. Der tierische Organismus kann sich innerhalb seiner Umwelt nur dadurch behaupten, daß er auf die Reize, die ihn von ihr treffen, in der richtigen Weise »antwortet« – und diese Antwort schließt immer eine ganz bestimmte Folge, eine zeitliche Verknüpfung der einzelnen Aktionsmomente, in sich. All das, was wir unter dem Namen des tierischen »Instinkts« zu befassen pflegen, scheint zuletzt darauf zurückzukommen, daß gewisse Situationen, in die das Tier versetzt wird, immer wieder gewisse »Handlungsketten« auslösen, deren jede einen ganz bestimmten Richtungssinn aufweist.
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Aber die Einheit der Sinnrichtung, die im Vollzug der Handlung hervortritt, ist nicht auch »für« das Tier gegeben, ist nicht in seinem Bewußtsein in irgendeiner Weise »repräsentiert«. Damit die einzelnen Stadien und Phasen wechselseitig ineinander eingreifen: dazu ist keineswegs erforderlich, daß sie »subjektiv«, von einem »Ich« her, »umgriffen« und »begriffen« werden. Vielmehr ist das Tier, das sich in einer solchen Handlungsfolge bewegt, in ihr auch wie gefangen. Es vermag nicht willkürlich aus ihr herauszutreten noch die geschehende Folge dadurch zu unterbrechen, daß es sich ihre Momente einzeln vergegenwärtigt. Und ebensowenig wie eine solche Form der Vergegenwärtigung ist hier auch eine Vorwegnahme der Zukunft, eine Antizipation derselben im Bilde und im idealen Entwurf, möglich oder erforderlich. Erst beim Menschen ersteht jene neue Form des Tuns, die in einer neuen Form der zeitlichen Schau wurzelt. Er unterscheidet, wählet und richtet – und dieses »Richten« schließt immer zugleich ein Sich-Ausrichten, ein Sich-Erstrecken in die Zukunft in sich. Was zuvor eine starre Kette von Reaktionen war, das bildet sich jetzt zu einer fließenden und beweglichen, dabei aber zentrisch in sich befaßten und in sich geschlossenen Reihe um, in der jedes Glied durch den Hinblick auf das Ganze bestimmt wird. In solcher Kraft, »vorauszuschaun und rückwärts«, besteht die eigentliche Bestimmung und Grundfunktion der menschlichen »Vernunft«.120 Sie ist in ein und demselben Akte »diskursiv« und »intuitiv«: Sie muß die einzelnen Zeitstufen voneinander unterscheiden und in klarer Gliederung voneinander abheben, um sie sodann in einer neuen Synopsis wieder in eins zu setzen. Diese zeitliche Differentiation und Integration gibt erst der | Handlung ihr geistiges Gepräge, das gleich sehr die freie Bewegung wie die stete und unverrückbare Richtung dieser Bewegung auf die Einheit eines Zieles hin verlangt. Von hier aus ergibt sich auch, daß und warum es nicht zulässig ist, das einheitliche Bewußtsein der Zeit in der Weise zu zerlegen, daß man bald diese, bald jene Grundbestimmung, die es in sich faßt, für sich herausgreift und daß man sie, in ihrer Isolierung, mit einem besonderen und ausschließenden Wert belegt. Sobald in dieser Weise eine einzelne Zeitphase vor den andern ausgezeichnet und gleichsam zur Norm für alle anderen gemacht wird, haben wir nicht mehr das »Sure, he that made us with such large discourse, »Looking before and after, gave us not »That capability and god-like reason »To fust in us unused.« William Shakespeare, Hamlet (Akt 4, Szene 4) [verifiziert nach: Hamlet, in: The Works (The Cambridge Shakespeare), hrsg. v. William Aldis Wright, Bd. VII, London/New York 21892, S. 379–611: S. 529]. 120
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geistige Gesamtbild der Zeit, sondern nur noch eine besondere, wie immer bedeutsame Perspektive vor uns. Wir sahen, wie sich solche perspektivischen Unterschiede der zeitlichen »Sicht« schon in der Gestaltung des mythischen Weltbildes zeigen. Je nachdem hier der gedankliche Akzent und der Gefühlsakzent auf die Vergangenheit, auf die Gegenwart oder auf die Zukunft gelegt wird, entstehen voneinander abweichende mythisch-religiöse Anschauungen und Deutungen des Weltgeschehens.121 Aber der gleiche Unterschied erhält sich auch in der Sphäre der rein begrifflichen, der »metaphysischen« Deutung. Es gibt Formen der Metaphysik, die einem ganz bestimmten Typus der Zeitanschauung anzugehören und ihm gewissermaßen verhaftet zu bleiben scheinen. Wenn Parmenides und Spinoza den reinen »Gegenwartstypus« des metaphysischen Denkens verkörpern, so ist die Metaphysik Fichtes ganz durch den Blick auf die Zukunft bestimmt. Aber stets zeigt es sich, daß jede derartige einseitige Orientierung dem reinen Phänomen der Zeit in irgendeiner Weise Gewalt antun, daß sie es zerstücken und in dieser Zerstückung verkümmern lassen muß. Kein Denker hat gegen solche abstraktive Zerstückung und Verkümmerung energischer Einspruch erhoben als Bergson – und man kann sagen, daß der gesamte Aufbau seiner Lehre und ihre Entwicklung, vom »Essai sur les données immédiates de la conscience« bis zur »Evolution créatrice« hin, erst von diesem Punkte aus verständlich wird. Es bleibt das Verdienst der Bergsonschen Metaphysik, daß sie das Abhängigkeitsverhältnis, das die alte Ontologie zwischen der Sphäre des Seins und der der Zeit annahm, umkehrt. Nicht nach einem dogmatisch feststehenden Begriff vom Sein soll das Bild der Zeit geformt und gemodelt – sondern nach der reinen Intuition der Zeit soll der Inhalt der Wirklichkeit und der der metaphysischen Wahrheit bestimmt werden. Aber hat Bergsons eigene Lehre diese Forderung, die sie | in voller Schärfe stellt, auch in vollem Umfang erfüllt? Bleibt sie ganz und ausschließlich in der Anschauung der Urgegebenheit der Zeit, der »reinen Dauer«, stehen – oder mischen sich nicht auch hier in die Beschreibung dieser Urgegebenheit bestimmte »Prämissen«, bestimmte »Vorgegebenheiten« und »Vorurteile« ein? Um hierüber Klarheit zu gewinnen, muß man auf Bergsons Theorie des Gedächtnisses zurückgehen. Materie und Gedächtnis bilden die beiden Eckpfeiler und die beiden Gegenpole der Bergsonschen Metaphysik. Wie die ältere Metaphysik einen scharfen Trennungsstrich zwischen der ausgedehnten und der denkenden Substanz, 121 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, S. 150 ff. [ECW 12, S. 140 ff.].
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zwischen Leib und Seele zog, so wird, im System Bergsons, der Bereich des Gedächtnisses vom Bereich der Materie abgeschieden. Es ist vergeblich, das eine Moment auf das andere in irgendeiner Weise zurückzuführen – es ist in sich widersprechend, das Gedächtnis etwa als »Funktion der organischen Materie« begreifen zu wollen. Versuche dieser Art konnten, nach Bergson, nur solange unternommen werden, als man zwischen den beiden Grundformen dessen, was man »Gedächtnis« zu nennen pflegt, nicht klar und sicher unterschied. Es gibt ein rein motorisches Gedächtnis, das in nichts anderem als in einer Folge eingeübter Bewegungen besteht und das somit lediglich eine Form der Gewohnheit ist. Aber von dieser Art des Bewegungsgedächtnisses, des Mechanismus und Automatismus, ist das echte geistige Gedächtnis streng und prinzipiell getrennt. Denn mit ihm stehen wir nicht mehr im Reich der Notwendigkeit, sondern in dem der Freiheit: nicht im Umkreis und unter dem Zwang der Dinge, sondern im Mittelpunkt des Ich, des reinen Selbstbewußtseins. Das wahre Selbst ist nicht dasjenige, das in der Handlung nach außen greift und nach außen wirkt – sondern es ist jenes Ich, das fähig ist, in reiner Erinnerung in die Zeit zurückzublicken und sich in ihrer Tiefe wiederzufinden. Dieser Tiefenblick in die Zeit erschließt sich uns erst, wenn an Stelle des Wirkens das reine Schauen tritt – wenn unsere Gegenwart sich mit der Vergangenheit durchdringt und beide als unmittelbare Einheit erlebt werden. Aber freilich wird diese Weise und Richtung des Schauens ständig gehemmt und abgelenkt durch die andere Blickrichtung, die auf das Handeln und auf sein zukünftiges, sein erst zu erreichendes und durch unsere Aktion zu erringendes Ziel geht. Jetzt wird nicht mehr, in der Form reiner Bilder der Erinnerung, unser früheres Leben aufbewahrt, sondern jegliche Wahrnehmung gilt nur insoweit, als sie den Keim zu einer beginnenden Tätigkeit in sich schließt. Damit aber formt sich eine Erfahrung ganz anderer Art. Eine Reihe funktionsbereiter Mechanismen mit immer zahlreicheren und man | nigfaltigeren Reaktionen auf äußere Reize, mit bereitstehenden Erwiderungen für eine immer größer werdende Zahl von möglichen Fragen der Außenwelt, wird jetzt im Körper niedergelegt und gleichsam aufgespeichert. Die Summe dieser durch Übung immer fester werdenden Mechanismen mag auch eine Art von Gedächtnis genannt werden; aber dieses Gedächtnis stellt uns unsere Vergangenheit nicht mehr vor, sondern es spielt sie nur; es bewahrt nicht Bilder von ihr auf, sondern es verlängert nur nützliche frühere Wirksamkeiten bis in den gegenwärtigen Augenblick hinein.122 Aber nur das Erinnerungsge122
Henri Bergson, Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à l’esprit,
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dächtnis, das in die Vergangenheit zurückgewandte Bildgedächtnis, besitzt nach Bergson echte geistige Bedeutung – während dem motorischen Gedächtnis kein spekulativer Erkenntniswert, sondern ein bloßer Nutzwert zukommt. Es dient den Zwecken der Lebenserhaltung; aber es muß diese Leistung damit erkaufen, daß es auf das Erfassen des eigentlichen Lebensgrundes Verzicht leistet, daß es den Zugang zum »Wissen vom Leben« verliert. Einmal in das Reich des Handelns und der Nutzbarkeit eingetreten, müssen wir das reine Schauen hinter uns lassen. Wir stehen nicht mehr in der Intuition der reinen Dauer, sondern ihr schiebt sich jetzt ein anderes Bild, das Bild des Raumes und der Körper im Raume, unter. »Dinge« im Raum werden nebeneinandergestellt und als starre, gegeneinander abgegrenzte Einheiten behandelt: Denn an solchen Einheiten allein gewinnt unser Handeln bestimmte Zentren, an denen es angreifen kann. Und jeder Schritt auf diese »Wirklichkeit«, auf diesen Inbegriff möglicher Wirksamkeiten hin, entfernt uns weiter und weiter von der echten Realität, von der Versenkung in die ursprüngliche Form und in das ursprüngliche Leben des Ich. Wollen wir dieses Leben wiedergewinnen, so müssen wir uns, durch eine Art gewaltsamen Entschlusses, von der Übermacht der Wahrnehmung freimachen: Denn diese drängt und treibt uns nach vorwärts, während wir in die Vergangenheit zurückwollen. So können Empfindung und Erinnerung nie den gleichen Weg einschlagen. Die eine verstrickt uns fester und fester in den Zwang des bloß Gewirkten, während die andere uns von ihm befreit; die eine stellt uns in eine Welt der »Gegenstände« hinein, die andere läßt uns das Wesen des Selbst, vor aller Objektivierung und unabhängig von der Fessel des räumlich-gegenständlichen Schematismus, erblicken. Ein System, wie das Bergsonsche, das die Ausprägung und Entfaltung einer einheitlichen, in sich geschlossenen Grundanschauung ist, darf den Anspruch erheben, daß es nicht von außen her gesehen und beurteilt, | sondern daß es mit seinen eigenen Maßen gemessen wird. Wir stellen demgemäß ihm gegenüber nur die eine Frage, ob es der eigenen Aufgabe und der eigenen Norm treu geblieben ist – ob es das Phänomen der Zeit, so wie es sich in der reinen Anschauung darstellt, als Ganzes erfaßt und als Ganzes beschrieben hat? Und hier macht sich freilich alsbald ein Zweifel und ein systematisches Bedenken geltend. Denn die Trias der Zeitstufen, der Vergangenheit, Gegenwart Paris 1896 (dt. Ausg.: Materie und Gedächtnis. Essay zur Beziehung zwischen Körper und Geist, autoris. u. v. Verf. selbst durchges. Übertragung, mit Einf. v. Wilhelm Windelband, Jena 1908, S. 74 f.).
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und Zukunft, gibt sich uns in der Anschauung der Zeit als unmittelbare Einheit – als eine Einheit, die eine verschiedene Bewertung der einzelnen Stufen nicht kennt. Keine Phase ist hier von der anderen abgelöst, keine ist als die »eigentliche«, die wahrhafte und ursprüngliche gekennzeichnet – sind sie doch alle gleich sehr in dem einfachen »Sinn« der Zeit gegeben und gleich notwendig in ihm beschlossen. Es gibt, gemäß dem Worte Augustins, nicht drei Zeiten, sondern nur die eine Gegenwart, die jedoch Gegenwart vom Vergangenen, vom Gegenwärtigen und vom Künftigen ist (praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris). Und so ist denn auch das Ich in seiner Selbstanschauung weder in drei ganz verschiedene Richtungen des Zeitbewußtseins gespalten, noch ist es einer einzigen von ihnen verhaftet und ihr ausschließlich oder vorzugsweise anheimgegeben. Nimmt man die Zeit statt als substantielle vielmehr als funktionelle Einheit, als Funktion der Vergegenwärtigung, die einen dreifachen Richtungssinn in sich schließt, so läßt sich keines ihrer Momente aus dem Gesamtverband herauslösen, ohne daß sie damit als Ganzes zergeht. Aber eben eine solche Herauslösung ist es, was der Metaphysik Bergsons ihr Gepräge gibt. Als originär zeitlich erkennt er im Grunde nur die Vergangenheit an, während das Bewußtsein der Zukunft für ihn bereits aus dem Rahmen der reinen Zeitanschauung herausfällt. Wo wir nicht Vergangenes erschauen, sondern wo wir handeln, wo wir Zukünftiges heraufführen und Zukünftiges gestalten wollen, da umwölkt und trübt sich uns alsbald das Bild der reinen Dauer – und statt ihrer erblicken wir ein Gebilde von anderer Art und Herkunft. Was jetzt vor uns steht, das ist nicht mehr die echte, die ursprüngliche Zeitlichkeit, sondern es ist das abstrakte Schema des homogenen Raumes. »Um die Vergangenheit in Form eines Bildes wachrufen zu können, ist es nötig, von der gegenwärtigen Tätigkeit abstrahieren zu können, man muß es verstehen, das Nutzlose zu bewerten, man muß träumen wollen. Vielleicht ist nur der Mensch einer Anstrengung dieser Art fähig. Und selbst dann ist die Vergangenheit, zu der wir auf diese Weise aufsteigen, fortwährend auf dem Punkt, uns zu entschlüpfen, so als ob dieses rückläufige Gedächtnis mit | dem andern natürlicheren in Widerspruch stünde, dessen vorwärtsstrebende Bewegung uns zum Handeln und Leben treibt.«123 Hier kommt in die Lehre Bergsons jener eigentümliche romantisch-quietistische Zug, der ihr, trotz aller Betonung des »Lebensschwunges«, des »élan vital«, anhaftet. Der Rückblick in die Vergangenheit wird philosophisch verklärt: Er allein ist es, der uns in den 123
Bergson, Materie und Gedächtnis, S. 75.
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letzten Grund des Ich und zur Tiefe der spekulativen Erkenntnis hinleitet. Der Richtung auf die Zukunft indes bleibt eine solche Idealisierung versagt: Sie hat nur noch »pragmatischen«, aber keinen theoretischen Wert. Aber ist uns denn die Zukunft immer nur als Ziel des unmittelbaren, des im engsten Sinne praktischen Wirkens gegeben, oder muß nicht dem Wirken selbst, wenn es sich zu wahrhafter Kraft und Freiheit erheben soll, ein rein geistiger »Vorblick«, ein ideelles Moment und Motiv, zugrunde liegen? Platon hat den Gehalt und Sinn der »Idee« nicht lediglich am Wissen und an der reinen Erkenntnis entdeckt – er fand ihn nicht minder in allem gestaltenden Tun, und zwar ebensowohl in der sittlichen wie in der werkbildenden, in der demiurgischen Tätigkeit. Der Werkbildner, der kraft seiner Kunst ein bestimmtes Gerät herstellt, handelt darin nicht auf Grund bloßer Gewohnheit und handwerklicher »Routine«. Es ist vielmehr eine Urform geistigen Schauens, die sein Wirken bestimmt und die ihm den Weg weist. Der Tischler, der die Weberlade verfertigt, ahmt hierbei nicht ein schon vorhandenes Ding, das als sinnliches Modell vor ihm steht, nach: Sondern er blickt auf die Form und den Zweck, auf das »Eidos« der Weberlade selbst hin.124 Auch der göttliche Demiurg verfährt nach Platon nicht anders. Sein Schaffen ist durch die Form seines Schauens: durch den Hinblick auf die Idee des Guten, als Urund Musterbild, bestimmt und geleitet. Diese Idealität des Tuns wird bei Bergson verkannt und bestritten. Für ihn ist alles Tun zuletzt ausschließlich im sinnlichen Bedürfnis gegründet und geht in bestimmten motorischen Mechanismen und Automatismen auf. Damit tritt die reine Intuition, die uns in die Vergangenheit zurückführt, in schärfsten Gegensatz zu jeglicher Art von »Intention«, die auf die Zukunft hinweist und auf sie gespannt ist. Die rein phänomenale Analyse des Zeitbewußtseins aber bietet für eine derartige Bewertung keine Stütze dar. Sie zeigt uns keinen schroffen Geltungsunterschied zwischen dem Erinnerungsbewußtsein und dem Erwartungsbewußtsein; sie erweist vielmehr, daß in beiden eine gemeinsame charakteristische Grundkraft des Geistes sich auswirkt. Die Kraft des | Geistes, Künftiges im Bilde vor sich hinzustellen, steht seiner Kraft, Vergangenes in ein Bild zu verwandeln und es im Bilde zu erneuern, nicht nach: In beiden bekundet und betätigt sich dieselbe Urfunktion der »Vergegenwärtigung«, der »Repräsentation«. Das Wissen des Geistes um sich selbst kann erst auf diesem zwiefachen Wege gewonnen und gesichert werden: Es ersteht erst, indem er in seiner reinen Gegenwart seine Geschichte bewahrt und seine Zukunft gestaltend vorwegnimmt. 124
Platon, Kratylos 389 A.
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Auch Bergson nimmt die Entwicklung als »schöpferische Entwicklung« – aber sein Begriff des Schöpfertums ist hierbei wesentlich der Anschauung der Natur, nicht der des Geistes entnommen, ist an der biologischen, nicht an der historischen Zeit orientiert. In der geschichtlichen Zeit läßt sich der scharfe Schnitt zwischen der Funktion der Erinnerung und der der Handlung, der für Bergsons gesamte Metaphysik bestimmend und entscheidend ist, nicht führen. Hier greift beides ständig ineinander. Die Handlung wird durch das geschichtliche Bewußtsein, durch den Rückblick in die Vergangenheit bestimmt und geleitet – aber andererseits erwächst auch die wahrhaft geschichtliche Erinnerung erst aus den Kräften, die in die Zukunft vorausgreifen und die sie gestalten helfen. Nur in dem Maße, als der Geist selbst »wird«, als er sich in der Richtung auf die Zukunft entfaltet, vermag er sich im Bilde der Vergangenheit zu erblicken. Die Form dieser Spiegelung, dieser »Reflexion« ist von der seines Strebens und seines Wollens nicht abtrennbar.125 So verändert sich dem Ich 125 Vgl. oben, S. 203 ff. Die gleiche Grundanschauung vom Wesen der »historischen Zeit« wird schön und prägnant von Theodor Litt (Individuum und Gemeinschaft. Grundlegung der Kulturphilosophie, 3., abermals durchgearb. u. erw. Aufl., Leipzig/Berlin 1926, S. 307) formuliert: »Ich sehe das Gewesene und Gewordene auf mich als auf das Zentrum des Prozesses hin sich ausrichten, weil dieses Zentrum zugleich die einzige Stelle bezeichnet, an der ich den Hebel ansetzen kann, Begonnenes zu vollenden, Verfehltes zu berichtigen, Gefordertes zu verwirklichen. Und zwar ist es nicht ein äußeres Nebeneinander von zwei Formen und Richtungen der Gestaltung, was dieser wie jeder Lebensmittelpunkt in sich vereint, nicht eine Anreihung von Akten der Betrachtung und Akten des Wirkens, die lediglich durch das formale Prinzip der freien Gestaltung verbunden wären – sondern bis ins Letzte und Kleinste hinein ist beides einander inhaltlich verbunden. Jede Linie des Werdens, die ich aus der Vergangenheit heraus auf mich zulaufen sehe, bedeutet für mich nicht nur ein Motiv der Gliederung und Deutung für die Gegenwart, die mich als das Reich der noch werdenden Geschichte umdrängt und beansprucht, sondern auch den Aufruf zu einer Entscheidung, mit der ich, der Tätige, an meinem Teile die Zukunft dieser Wirklichkeit bestimme […] So lebt in dem, was wir mit halber Wahrheit das ›Bild‹ der Vergangenheit nennen, zugleich der Wille, der sich dem Kommenden zukehrt – und in das Leitbild, dem dieser Wille sich gelobt, ist ein Wissen um jene Vergangenheit eingesenkt.« – Von wesentlich anderen Grundvoraussetzungen aus ist das gleiche Ergebnis, ist die Anschauung von dem Zukunftsmotiv, das der »historischen Zeit« innewohnt, von | Heidegger begründet worden: Und diese Begründung gehört zu den fruchtbarsten und wichtigsten Resultaten seiner Analyse von »Sein und Zeit«. »Nur Seiendes«, so faßt er diese Analyse zusammen, »das wesenhaft in seinem Sein zukünftig ist, so daß es frei für seinen Tod an ihm zerschellend auf sein faktisches Da sich zurückwerfen lassen kann, d. h. nur Seiendes, das als zukünftiges gleichursprünglich gewesend ist, kann […] augenblicklich sein für ›seine Zeit‹. Nur eigentliche Zeitlichkeit, die zugleich endlich ist,
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auch seine eigene | »Geschichte«, so erfährt sie eine fortschreitende Intensivierung und Sublimierung, indem es freier, umfassender und kühner in die Zukunft hinausgreift und sich in der Richtung auf sie entfaltet. Vom Standpunkt des geschichtlichen Lebens und des geschichtlichen Bewußtseins lassen sich demnach die Richtung auf die Vergangenheit und die auf die Zukunft nicht als Elemente einer Realopposition, sondern nur als Momente einer idealen Korrelation betrachten und behandeln. Wenn nichtsdestoweniger bei Bergson die erstere Betrachtung herrscht, so scheint es fast, als ob er hierbei der gleichen Täuschung unterliegt, die er selbst so klar aufgedeckt hat. Auch für ihn scheint sich in die Analyse der Zeit und der verschiedenen Zeitstufen noch unvermerkt eine räumliche Anschauung und ein räumliches Schema einzumischen. Im Raume müssen wir uns, wenn wir überhaupt eine bestimmte Bewegung vollziehen wollen, für eine einzelne Richtung derselben entscheiden. Wir müssen nach vorwärts oder rückwärts, nach rechts oder links, nach oben oder unten schreiten. Aber im Hinblick auf die zeitlichen Richtungen gibt es nur scheinbar ein gleiches starres »Auseinander«. Hier besteht vielmehr eine Vielfachheit, deren Elemente sich, auch indem sie sich voneinander unterscheiden, noch immer wechselseitig durchdringen: Hier herrscht, um es mit Bergsons eigenen so bezeichnenden Worten zu sagen, »une multiplicité de fusion ou de pénétration mutuelle«.126 Die beiden Sehstrahlen – der eine, der von der Gegenwart in die Vergangenheit zurück-, und der andere, der in die Zukunft hinausführt – ergeben erst in ihrem Ineinander, in ihrer unmittelbaren »Konkreszenz« die eine konkrete Gesamtanschauung der Zeit. Freilich – auch diese Konkreszenz darf niemals nach der Analogie räumlicher Verhältnisse als einfache Koinzidenz oder Kongruenz gedacht werden. Immer handelt es sich vielmehr um ein Gegeneinander der Motive und um eine stete »Auseinandersetzung« zwischen ihnen. Aber dieser Kampf kann und darf nicht mit dem Sieg des einen und mit der Niederlage des anderen enden. Denn beide sind | eben dazu bestimmt, fort und fort gegeneinander zu wirken und erst in diesem Gegensatz das lebendige Kleid der Zeit und des geschichtlichen Bewußtseins zu weben. In diesem Sinne bleibt der Historiker, nach dem Worte Friedmacht so etwas wie Schicksal d. h. eigentliche Geschichtlichkeit möglich.« (Sein und Zeit [§ 74], S. 385) Der systematische Grundgegensatz, der zwischen Bergsons und Heideggers »Metaphysik der Zeit« besteht, hat in diesen Sätzen seinen vielleicht schärfsten Ausdruck erhalten. 126 [Vgl. Henri Bergson, Essai sur les données immédiates de la conscience. Thèse pour le doctorat. Présentée à la faculté des lettres de Paris (Kap. 2), Paris 1889.]
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rich Schlegels, der rückwärts gewandte Prophet. Die echte Intuition der Zeit kann nicht in bloßer rückschauender Erinnerung gewonnen werden, sondern sie ist zugleich Erkenntnis und Tat. Denn der Prozeß, in dem das Leben – als geistiges, nicht als bloß biologisches Leben verstanden – sich formt, und der, in dem es sich selbst begreift und weiß, muß schließlich eine Einheit bilden: Ist doch dieses Begreifen nicht das bloß äußerliche Umgreifen einer fertigen, an sich vorhandenen Form, in welche das Leben gepreßt wird, sondern die Art und Weise, in der es sich seine Form gibt, um sie in ebendiesem Akt des Gebens, der tätigen Gestaltung zu verstehen. |
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kapitel v. Symbolische Prägnanz Die bisherigen Betrachtungen haben uns gezeigt, wie der Aufbau der Wahrnehmungswelt sich dadurch vollzieht, daß die einzelnen Inhalte, die sich dem Bewußtsein darbieten, sich mit immer mannigfaltigeren und reicheren Sinnfunktionen erfüllen. Je weiter dieser Prozeß fortschreitet, einen um so weiteren Kreis vermag das Bewußtsein in einem einzelnen Moment zu umspannen und zu überschauen. Jedes seiner Elemente ist jetzt gleichsam gesättigt mit derartigen Funktionen. Es steht in mannigfachen Sinnverbänden, die systematisch unter sich wiederum zusammenhängen und die kraft dieses Zusammenhangs jenes Ganze konstituieren, das wir als die Welt unserer »Erfahrung« bezeichnen. Welchen Komplex man immer aus dieser Gesamtheit der »Erfahrung« herauslösen mag – ob man das Beisammen der Phänomene im Raume oder ihr Nacheinander in der Zeit, ob man die Ding-Eigenschafts-Ordnung oder die Ordnung von »Ursachen« und »Wirkungen« betrachten mag – immer zeigen diese Ordnungen eine bestimmte »Fügung« und einen gemeinsamen formalen Grundcharakter. Sie sind so geartet, daß von jedem ihrer Momente ein Übergang zum Ganzen möglich ist, weil die Verfassung dieses Ganzen in jedem Moment darstellbar und dargestellt ist. Kraft des Ineinandergreifens dieser Darstellungsfunktionen gewinnt das Bewußtsein die Fähigkeit, »Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrung[en] lesen zu können«.127 Jedes besondere Phänomen ist jetzt nur noch Buchstabe, der nicht um seiner selbst willen erfaßt, der nicht etwa nach seinen eigenen sinnlichen Bestandteilen oder nach der Gesamtheit seines sinnlichen Aspekts betrachtet wird, sondern über den der Blick hinweg- und durch welchen er hindurchgeht, um sich die Bedeutung des Wortes, dem der Buchstabe angehört, und den Sinn des Satzes, in welchem dieses Wort steht, zu vergegenwärtigen. Der Inhalt ist jetzt nicht einfach »im« Bewußtsein, um dasselbe | durch sein bloßes Dasein zu erfüllen – sondern er spricht zum Bewußtsein, er »besagt« etwas für dasselbe. Seine gesamte Existenz hat sich gewissermaßen in reine Form verwandelt; sie dient nur noch der Aufgabe, eine bestimmte Bedeutung zu vermitteln und sie mit anderen zu Bedeutungsgefügen, zu Sinnkomplexen zusammenzufassen. Auch die sensualistische Psychologie, deren Grundtendenz darauf gerichtet ist, die Elemente des Bewußtseins aus ihren Sinnver127 [Kant, Prolegomena (§ 30), S. 64 (Akad.-Ausg. IV, 312). S. auch ders., Kritik der reinen Vernunft, S. 257 (B 370 f.).]
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Symbolische Prägnanz
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bänden zu lösen und sie in ihrem reinen »Ansich« bloßzulegen – auch sie hat den Unterschied zwischen dem, was die einzelne sinnliche Perzeption als solche »ist«, und dem, als was sie im systematischen Aufbau der Bewußtseinseinheit und des Bewußtseinsganzen fungiert, nicht völlig übersehen können. Aber sie verwischt diesen Unterschied alsbald wieder, indem sie die Funktion selbst auf irgendeine Art des Daseins zurückzuführen sucht. Wie könnte uns auch – so meint sie – die einzelne »Impression« irgendeine Bedeutung vermitteln, wenn nicht ebendiese Bedeutung in ihr selbst »liegen« würde? Und kann dieses »Liegen« selbst etwas anderes besagen als dies, daß sie als Bestandteil im Ganzen der Impression enthalten ist? Der durch die psychologische Analyse geschärfte Blick muß imstande sein, diesen Bestandteil zu entdecken und zu isolieren. Der Sensualismus gedenkt somit das Bedeutungsmoment der einzelnen Wahrnehmung nicht zu leugnen und zu verleugnen – aber er bleibt seiner Grundrichtung getreu, indem er dieses Moment aus einzelnen sinnlichen Tatbeständen zusammenzusetzen und es kraft dieser Zusammensetzung zu »erklären« versucht. Die geistige »Form« soll dadurch verständlich gemacht werden, daß sie in sinnlichen Stoff zurückverwandelt wird – daß gezeigt wird, wie das bloße Beisammen, das Zusammentreten und das empirische Ineinanderwachsen sinnlicher Eindrücke genügt, um diese Form, oder doch das Bild von ihr, zu erzeugen. Dieses Bild bleibt freilich, so gesehen, ein Scheinbild: Nicht es selbst hat Gestalt und Wahrheit, sondern Wahrheit und Wirklichkeit kommt allein den substantiellen Elementen zu, aus denen es sich gleich einem Mosaik zusammenfügt. Aber diese Einsicht, die der psychologische Kritiker gewinnt, braucht den Gebrauch, den wir im tatsächlichen psychischen Leben von ihm machen, nicht zu hemmen oder einzuschränken. Mag immerhin das Bild als Scheinbild erkannt und als solches sozusagen erkenntnistheoretisch entlarvt sein – es genügt, daß es eben als Schein noch Wirklichkeit hat, d. h., daß es nach bestimmten und notwendigen Gesetzen der »Einbildungskraft« entsteht. Ein zwangsläufiger und gleichförmiger Mechanismus des Bewußtseins treibt es aus den sinnlichen Erlebnissen und aus ihrer assoziativen | Verknüpfung hervor. So wächst dem Bilde zwar kein logisches Eigenrecht und kein spezifischer von der bloßen Empfindung geschiedener Sinngehalt zu – wohl aber wird ihm jetzt eine praktische, eine biologisch bedeutsame Leistung zugesprochen. In dieser Leistung besteht sein Charakter. Was wir in den vorangehenden Betrachtungen als den »Symbolwert« der Wahrnehmung bezeichnet haben, das ist, gemäß der sensualistischen Auffassung, nichts anderes als ein rein ökonomischer Wert. Das Bewußtsein kann sich nicht in jedem Moment den einzel-
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nen sinnlichen Eindrücken, die es ausfüllen, mit gleicher Intensität hingeben, es vermag sie sich nicht alle in gleicher Schärfe, in gleicher Konkretion und Individualisierung, zu vergegenwärtigen. So schafft es sich Schemata und Gesamtbilder, in welche eine Fülle von Einzelinhalten eingehen und in denen sie unterschiedslos in eins fließen. Aber diese wollen und können nichts anderes sein als bloße Abkürzungen, als kompendiarische Verdichtungen der Impressionen. Wo es auf Schärfe und Genauigkeit des Sehens ankommt, da müssen diese Kürzungen wieder beseitigt – da müssen an Stelle der Symbolwerte die »wirklichen« Werte, d. h. die aktuellen Empfindungswerte eingesetzt werden. Demgemäß ist alles symbolische Denken und alles symbolische Wahrnehmen ein bloß negativer Akt: ein Akt, der aus der Not des Weglassens und des Weglassenmüssens entsteht. Ein Bewußtsein, das Umfang und Kraft genug besäße, in den Einzelheiten selber zu leben und sie alle gleich unmittelbar zu erfassen, bedürfte der symbolischen Einheitsbildungen nicht: Es wäre ganz und gar »präsentativ«, statt im Ganzen oder in einzelnen Teilen repräsentativ zu bleiben. Solange diese Grundansicht in Kraft stand – solange fehlte es noch an den ersten Voraussetzungen für jede wahrhafte Phänomenologie der Wahrnehmung. Indem Sensualismus und Positivismus sich prinzipiell auf das »Gegebene« der Sinnesdaten einengten, hatten sich beide damit nicht nur gewissermaßen »symbolblind«, sondern eben damit auch wahrnehmungsblind gemacht: Denn jetzt hatten sie gerade das charakteristische Moment und Motiv ausgeschieden, durch welches sich die Wahrnehmung von der bloßen »Empfindung« abhebt und durch welches sie über diese hinauswächst. Von zwei verschiedenen Seiten her ist eine Umgestaltung und eine grundsätzliche methodische Korrektur dieses Ansatzes erreicht und damit erst der Boden für ein tieferes erkenntniskritisches wie phänomenologisches Verständnis der Wahrnehmung bereitet worden. Die »Kritik der reinen Vernunft« geht hier voran, indem sie im Begriff der »transzendentalen Apperzeption« eine »Bedingung der | Möglichkeit der Wahrnehmung« selbst erkennt. Das erste, was uns gegeben wird, – so erklärt sie – ist Erscheinung, welche, wenn sie mit Bewußtsein verbunden ist, Wahrnehmung heißt: Denn ohne das Verhältnis zu einem wenigstens möglichen Bewußtsein würde Erscheinung für uns niemals ein Gegenstand der Erkenntnis werden können. »Weil aber jede Erscheinung ein Mannigfaltiges enthält, mithin verschiedene Wahrnehmungen im Gemüte an sich zerstreuet und einzeln angetroffen werden, so ist eine Verbindung derselben nötig, welche sie in dem Sinne selbst nicht haben können.« Jetzt ist der Grundirrtum des Sen-
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Symbolische Prägnanz
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sualismus abgewehrt, der nach Kant in der irrigen Annahme liegt, »die Sinne lieferten uns nicht allein Eindrücke, sondern setzten solche auch sogar zusammen und brächten Bilder der Gegenstände zu Wege, wozu ohne Zweifel außer der Empfänglichkeit der Eindrücke noch etwas mehr, nämlich eine Funktion der Synthesis derselben erfordert wird«.128 »Bilder« und »Eindrücke« gehören also erkenntniskritisch und phänomenologisch nicht mehr in dieselbe Klasse, noch lassen sich die ersteren aus den letzteren ableiten: Denn jedes echte Bild schließt eine Spontaneität der Verknüpfung, schließt eine Regel in sich, nach der die Gestaltung erfolgt. Die Gesamtheit dieser möglichen Regeln, auf denen der Aufbau und die Gliederung der Wahrnehmungswelt selbst beruht, faßt die »Kritik der reinen Vernunft« im Begriff des »Verstandes« zusammen. Der Verstand ist der schlichte transzendentale Ausdruck für das Grundphänomen, daß alle Wahrnehmung, als bewußte Wahrnehmung, immer und notwendig geformte Wahrnehmung sein muß. Die Wahrnehmung könnte weder dem Ich »angehörig« gedacht werden, noch könnte sie sich objektiv auf ein »Etwas«, auf einen wahrgenommenen Gegenstand beziehen, wenn nicht beide Arten der Beziehung unter allgemeinen und notwendigen Gesetzen stünden. Diese Gesetze erst sind es, die der Wahrnehmung ihre sowohl »subjektive« wie »objektive« Bedeutung verleihen, die sie aus ihrer Einzelheit befreien und ihr eine Stelle im Ganzen des Bewußtseins und der gegenständlichen Erfahrung geben. So treten die reinen Verstandesbegriffe, die nichts anderes als ebendiese Zuordnung des Einzelnen zum Ganzen und die verschiedenen Richtungen dieser Zuordnung ausdrücken, nicht nachträglich zur Wahrnehmung hinzu, sondern sie bilden die Konstituenzien der Wahrnehmung selbst. Diese besteht nur, sofern sie in bestimmten Formen steht. Die Analysis, kraft deren die sensualistische Psychologie zur Bestimmung von Bewußtseinselementen gelangte, setzt, sachlich | genommen, die Bewußtseinsstruktur als solche, setzt also die Synthesis voraus: »[…] denn wo der Verstand vorher nichts verbunden hat, da kann er auch nichts auflösen, weil es nur durch ihn als verbunden der Vorstellungskraft hat gegeben werden können129.« Die analytische Einheit der Apperzeption, die Zerlegung einer Gesamtwahrnehmung in einzelne Elemente ist stets nur unter der Voraussetzung irgendeiner synthetischen möglich.130 Daß sie in jenen charakteristischen SinnverDers., Kritik der reinen Vernunft, S. 623 ff. u. 113 ff. [A 120 ff. u. B 129 ff.] [Zitate S. 623 u. 623 Anm. (A 120 u. 120 Anm.)]; vgl. oben, S. 9 ff. 129 [Cassirer: müssen] 130 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 113 [Zitat] u. 115 [B 130 u. 133]. 128
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bänden steht, die durch die einzelnen Kategorien ausgesagt werden: das erst macht die Wahrnehmung zur bestimmten Wahrnehmung, zum Ausdruck eines Ich wie zur »Erscheinung« eines Objekts, eines Gegenstands der Erfahrung. Aber hier bleibt freilich noch eine Schwierigkeit und Zweideutigkeit zurück, die die »Kritik der reinen Vernunft« von sich selbst aus nicht völlig aufzuhellen und zu beseitigen vermochte. Denn der sachlich neue Gedanke, den sie ausprägt, findet in ihr selbst nicht sofort seinen adäquaten Ausdruck, sofern Kant gerade dort, wo er sich am entschiedensten gegen die methodischen Voraussetzungen der bisherigen Psychologie wendet, nichtsdestoweniger fortfährt, die Sprache ebendieser Psychologie zu sprechen. Die neue »transzendentale« Einsicht, die er zu gewinnen und zu sichern bestrebt ist, spricht sich in den Begriffen der Vermögenspsychologie des achtzehnten Jahrhunderts aus. Und so kann es scheinen, als würden »Rezeptivität« und »Spontaneität«, als würden »Sinnlichkeit« und »Verstand« hier doch wieder als seelische »Grundkräfte« gedacht, deren jede für sich als psychische Wirklichkeit besteht und die sodann in ihrem realen Zusammenwirken, in ihrem ursächlichen Ineinandergreifen, die Erfahrung als »Produkt« hervorbringen. Daß damit der Sinn des »Transzendentalen« selbst aufgehoben wäre, ist freilich ersichtlich: Denn hatte nicht Kant selbst diesen Sinn derart bestimmt, daß die transzendentale Frage sich »nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen […] überhaupt« beschäftigen sollte, sofern diese a priori möglich sein soll?131 Und hatte er nicht fort und fort betont, daß es sich für ihn nicht um eine Erklärung der Entstehung der Erfahrung, sondern um die Zergliederung ihres reinen Bestandes handle? Aber alle diese Erklärungen haben nicht vermocht, Kants Analytik des Verstandes vor der Auslegung zu schützen, als ob es sich in ihr nur um eine neue Art psychologischer »Formgebungsmanufaktur« des Denkens handle. Bestände diese Auslegung zu Recht, dann hätte freilich Kants Fragestellung vor der des | Sensualismus nichts anderes voraus, als daß sie das Kräfteverhältnis innerhalb des Bewußtseins verschoben und daß sie die seelischen Kräfte um ein neues vermehrt hätte. So hoch man indes diese Änderung und Vermehrung auch einschätzen wollte – so würde sich doch die Kantische Deduktion methodisch noch immer in der gleichen Ebene wie die sensualistischen Erklärungsversuche bewegen. Denn auch sie würde alsdann nur einen neuen Versuch darstellen, reine Bedeutungsprobleme dadurch aufzuhellen und zu 131
[A. a. O., S. 49 (B 25).]
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Symbolische Prägnanz
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lösen, daß man sie in Wirklichkeits probleme umsetzt, daß man sie auf reales Geschehen und auf die kausalen »Kräfte«, die dieses Geschehen bestimmen, zurückleitet. Die objektive Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe, nach der Kant ursprünglich allein fragt und die er in den »Bedingungen ihrer Möglichkeit« zu erfassen sucht, wäre auch hier wieder dadurch gerechtfertigt, daß man sie aus einem an sich bestehenden »transzendentalen Subjekt«, als dem »Urheber« dieser Gültigkeit, hervorgehen ließe. Aber damit wäre freilich dem kritischphänomenologischen Problem ein ontisches – der rein funktionalen Betrachtung eine substantiale untergeschoben. Der »Verstand« erschiene gleich einem Zauberer und Nekromanten, der die »tote« Empfindung beseelt, der sie zum Leben des Bewußtseins erweckt. Aber – so müßte hier gefragt werden – bedarf es dieses geheimnisvollen Prozesses, dieser Magie des Verstandes noch, sobald man einmal eingesehen hat, daß diese angeblich »tote« Empfindung selbst keine Realität, sondern daß sie ein bloßes Kunstprodukt des psychologischen Denkens ist? Kann die Frage noch weiter lauten, wie aus bloßem bedeutungsfremden Dasein etwas wie Bedeutung »wird«, wie aus dem bloßen »Rohstoff« der Empfindung, als etwas prinzipiell Sinnfremdem, ein Sinn hervorgeht, nachdem doch einmal eingesehen ist, daß ebendiese Sinnfremdheit selbst eine bloße Fiktion ist? Wenn wirklich, wie Kant mit höchstem Nachdruck erklärt, »[Erscheinung] ohne das Verhältnis zu einem, wenigstens möglichen Bewußtsein […] vor uns nichts sein und, weil sie an sich selbst keine objektive Realität hat und nur im Erkenntnisse existiert, überall nichts sein [würde]«132 – mit welchem Rechte ließe sich dann noch auf dem Boden der kritischen Philosophie danach forschen, wie dieses »Nichts« zum »Etwas« wird, wie es in die Formen des Bewußtseins aufgenommen und in sie gleichsam umgegossen wird, da es doch nur »in« diesen Formen, nicht »vor« ihnen besteht? Zu einer ähnlichen Betrachtung und zu einer analogen methodischen | Frage führt uns eine andere Gedankenreihe, die in ihrem geschichtlichen Ausgangspunkt vom Kantischen Denken nicht nur verschieden ist, sondern ihm geradezu entgegengesetzt zu sein scheint. Die moderne Phänomenologie hat in ihrer Definition und in ihrer Analyse der Wahrnehmung nicht sowohl an Kant als vielmehr an Brentano und an seine Begriffsbestimmung des Bewußtseins angeknüpft. Brentanos »Psychologie vom empirischen Standpunkt« findet das auszeichnende Moment des Bewußtseins, des »Psychischen« überhaupt, im Charakter des »Intentionalen«. Ein Inhalt ist 132
A. a. O., S. 623 [A 120].
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»psychischer« Inhalt, sofern er eine eigentümliche Richtungsbestimmung, eine Bestimmung des »Meinens« in sich faßt. »Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisirt, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben, und was wir, obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Ausdrücken, die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Object (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist), oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden. […] Diese intentionale Inexistenz ist den psychischen Phänomenen ausschliesslich eigenthümlich. […] Und somit können wir die psychischen Phänomene definiren, indem wir sagen, sie seien solche Phänomene, welche intentional einen Gegenstand in sich enthalten.«133 Wieder ist hier gesehen und aufs schärfste betont, daß Psychisches nicht erst an sich, als isoliertes »Datum«, besteht, um erst nachträglich in Beziehungen einzutreten, sondern daß die Beziehung bereits zu seiner reinen Wesensbestimmtheit gehört. Es ist nur, indem es, in ebendiesem Sein, gewissermaßen über sich hinaus ist, indem es auf ein anderes geht. Andererseits bleibt auch hier im Ausdruck dieses Sachverhalts insofern eine Unklarheit zurück, als auch Brentano, um diese fundamentale Beziehungsrichtung zu bezeichnen, von einem Unterschied der Existenz spricht: daß er von der realen Existenz des Dinges die intentionale oder mentale »Inexistenz« unterscheidet. Von neuem wird damit der Anschein erweckt, als sollte die Funktion des »Meinens« durch ein substantielles Dasein erklärt und verdeutlicht werden – als könne sich die Vorstellung nur deshalb auf den Gegenstand »richten«, weil er in irgendeiner Form in ihr »liegt«, weil er in sie »eingegangen« und in ihr »enthalten« ist. Aber eben damit wäre offenbar die Eigenart des »Intentionalen«, die hier herausgehoben werden sollte, wieder verwischt. Hier hat erst die Weiterführung und die Durchbildung, die der Grundgedanke Brentanos in Hus serls »Logischen Untersuchungen« und in den »Ideen zu einer reinen Phänomenologie« er | fahren hat, völlige Klarheit gebracht. Denn wenn Husserl von bedeutungsverleihenden oder sinngebenden Akten spricht, kraft deren dem Bewußtsein ein Gegenstand sich darstellt, so läßt er keinen Zweifel darüber, daß diese Beziehung des Darstellenden zum Dargestellten durch keinerlei Analogien, die aus der Sachwelt hergenommen sind, zu verdeutlichen ist. Von der »Mythologie der Tätigkeiten«, die in den Akten Betätigungen eines realen psychischen Subjekts sieht, ist jetzt keine Rede mehr, und ebenso wird 133 Franz Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, Bd. I, Leipzig 1874, S. 115 f.
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die Beziehung des Akts auf sein Objekt ausdrücklich derart gefaßt, daß von einem Innesein oder Inne wohnen des einen im andern nicht mehr gesprochen werden kann. Zwischen dem, was als reeller Teil in einem Akte enthalten ist, und dem, was er ideell »vorstellig macht«, worauf er im Sinne der Intention abzielt, wird jetzt vielmehr aufs schärfste unterschieden. Wo diese Unterscheidung nicht gemacht oder nicht streng durchgeführt wird, da gerät man, wie Husserl betont, unvermeidlich auf einen unendlichen Regreß: Denn kann sich die Vorstellung nur dadurch auf den Gegenstand beziehen, daß sie sozusagen ein Stück von ihm, ein Eidolon desselben als reale Komponente in sich birgt, so muß sich diese Einschaltung und Einschachtelung immer aufs neue wiederholen. »Das Abbild als reelles Stück in der psychologisch-realen Wahrnehmung wäre wieder ein Reales – ein Reales, das für ein anderes als Bild fungierte . Das könnte es aber nur vermöge eines Abbildungsbewußtseins, in welchem erst einmal etwas erschiene – womit wir eine erste Intentionalität hätten – und dieses wieder bewußtseinsmäßig als ›Bildobjekt‹ für ein anderes fungierte – wozu eine zweite, in der ersten fundierte Intentionalität134 notwendig wäre. Nicht minder evident ist aber, daß jede einzelne dieser Bewußtseinsweisen schon die Unterscheidung zwischen immanentem und wirklichem Objekt fordert, also dasselbe Problem in sich beschließt, das durch die Konstruktion gelöst werden sollte.«135 Zu Antinomien dieser Art gelangt man immer dann, aber auch nur dann, wenn man vergißt, daß das Grundverhältnis der »Repräsentation« oder der »Intention« die Bedingung der Möglichkeit aller Gegenstandserkenntnis ist, daß daher in seine Beschreibung nichts aufgenommen werden darf, was erst dem durch dies Verhältnis Ermöglichten, was der Dingwelt selbst, als reeller Teil von ihr oder reelles Vorkommnis in ihr, angehört. Die Grenze gegen den Sensualismus ist jetzt scharf gezogen. Husserl bezeichnet es geradezu als Zeugnis für den zurückgebliebenen Zustand der deskriptiven Analyse, daß sie sich bisher der spezifischen Be | sonderheit der »bedeutungsverleihenden Akte« verschloß, daß sie glaubte, daß das, was diese Akte leisten, immer und notwendig in der Erweckung gewisser, dem Ausdruck konstant zugeordneter Phantasiebilder bestehen müsse.136 Um das Verhältnis, das hier besteht, kennbar und um es terminologisch [Cassirer: Intention] Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie, S. 186; vgl. bes. ders., Logische Untersuchungen, 2. Theil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Halle a. d. S. 1901, S. 372 ff. 136 Vgl. ders., Logische Untersuchungen, 2. Theil, S. 61. 134 135
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faßbar zu machen, wird jetzt der Strom des phänomenologischen Seins in eine »stoffliche« und eine »noetische Schicht« geschieden. In die letztere gehören alle rein funktionellen, d. h. aber die eigentlichen Bewußtseins- und die eigentlichen Sinnprobleme. Denn »Sinn zu haben« bzw. etwas »im Sinne zu haben« ist der Grundcharakter alles Bewußtseins, das darum nicht nur überhaupt Erlebnis, sondern sinnhabendes, »noetisches« Erlebnis ist.137 »Bewußtsein ist eben Bewußtsein ›von‹ etwas, es ist sein Wesen, ›Sinn‹, sozusagen die Quintessenz von ›Seele‹, ›Geist‹, ›Vernunft‹ in sich zu bergen. Bewußtsein ist nicht ein Titel für ›psychische Komplexe‹, für zusammengeschmolzene ›Inhalte‹, für ›Bündel‹ oder Ströme von ›Empfindungen‹, die, in sich sinnlos, auch in beliebigem Gemenge keinen ›Sinn‹ hergeben könnten […] Bewußtsein ist […] toto coelo verschieden von dem, was der Sensualismus allein sehen will, von dem in der Tat an sich sinnlosen, irrationalen – aber freilich der Rationalisierung zugänglichen – Stoffe.«138 So sehen wir uns in zwei verschiedenen Gedankenbewegungen und Gedankenrichtungen, vom Begriff der »Synthesis« und von dem der »Intention« her, auf unser zentrales Problem zurückgewiesen. Aber wieder bleibt nun vom Standpunkt dieses Problems noch ein Zweifel und ein Bedenken zurück. Wenn man in der radikalen Schärfe, wie es bei Husserl geschieht, die Sphäre des Bewußtseins mit der des »Sinnes« gleichsetzt – läßt sich dann innerhalb des Bewußtseins überhaupt noch der Gegensatz von Stoff und Form, als absoluter Gegensatz, festhalten? Gibt es hier noch zwei »Schichten«, von denen die eine als bloß stoffliche Schicht zu bezeichnen wäre? Oder liegt nicht vielmehr in der Rede von den beseelenden Akten, die den Stoff der Empfindung beleben, die ihn erst mit einem bestimmten Sinn erfüllen, noch ein Rest jenes Dualismus, der »Physisches« und »Psychisches« auseinanderreißt – der »Leib« und »Seele«, statt als korrelativ aufeinander bezogen, als substantiell verschieden ansieht? Die Notwendigkeit dieser Korrelation hat sich uns bereits in der Betrachtung der reinen Ausdrucks | phänomene ergeben139 – und sie hat sich mit jedem Schritt, den wir in der Richtung auf die Darstellungsprobleme nahmen, immer aufs neue erwiesen. Durch sie aber wird es prinzipiell ausgeschlossen, daß »Dasein« und »Bewußtsein«, »Stoff« und »Form« sich gegeneinander überhaupt als zwei verschiedene »Schichten« abheben lassen. Husserl zerlegt das Ganze der Erlebnisse 137
Ders., Ideen zu einer reinen Phänomenologie (§ 85 u. 90) [Zitate S. 175 u.
185]. 138 139
A. a. O. (§ 86), S. 176. Vgl. oben, S. 104 ff. u. 111 ff.
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in zwei Hälften, in die »primären Inhalte«, die noch nichts von »Sinn« in sich haben, und in die Erlebnisse bzw. die Erlebnismomente, die das Spezifische der Intentionalität begründen. Über den »sensuellen« Erlebnissen, den Empfindungsdaten, wie es die Farbendaten, die Tastdaten, die Tondaten usf. sind, findet sich eine gleichsam beseelende, sinngebende Schicht: »eine Schicht, durch die aus dem Sensuellen, das in sich nichts von Intentionalität hat, eben das konkrete intentionale Erlebnis zustande kommt«.140 Aber – so muß auch hier wiederum gefragt werden – gehört denn dieses »Zustandekommen« selbst zu dem, was rein phänomenologisch aufweisbar ist? Da die Phänomenologie als solche notwendig in der Sphäre des Sinnes und der Intentionalität verbleibt, kann sie das Sinnfremde auch nur bezeichnen wollen? Die »merkwürdige Doppelheit und Einheit von sensueller +λη und intentionaler µοCφ$«141 mag sich hier in der Tat immer wieder aufdrängen: Aber berechtigt sie uns, von »formlosen Stoffen« und »stofflosen Formen« zu sprechen? Diese Trennung mag im gewissen Sinne zum unentbehrlichen Rüstzeug unserer Analyse des Bewußtseins gehören. Aber dürfen wir diese analytische Scheidung, diese »distinctio rationis« nun in die Phänomene, in die reinen »Gegebenheiten« des Bewußtseins selbst hineinverlegen? Können wir hier von einem identischen stofflichen Bestand sprechen, der in verschiedene Formen eingeht, da wir ja immer nur die konkrete Ganzheit der Bewußtseinsphänomene – da wir, aristotelisch gesprochen, nur das σνολον aus »Stoff« und »Form« kennen? Es gibt auf dem Standpunkt der phänomenologischen Betrachtung sowenig einen »Stoff an sich« wie eine »Form an sich« – es gibt immer nur Gesamterlebnisse, die sich unter dem Gesichtspunkt von Stoff und Form vergleichen und ihm gemäß bestimmen und gliedern lassen. Wir können etwa sagen, daß es »dieselbe« Melodie sei, der wir uns das eine Mal in unmittelbarer Wahrnehmung, das andere Mal in bloßer Erinnerung zuwenden: Aber dies heißt nicht, daß beide Erlebnisse, das Wahrnehmungs- und das Erinnerungserlebnis, in irgendeinem substantiellen Bestandstück übereinkommen, sondern lediglich, daß sie ein | ander zugeordnet und funktionell aufeinander bezogen sind. Hier handelt es sich nicht um Wiederkehr desselben sinnlichen Bestandes in verschiedenen Formen, sondern darum, daß bestimmte Erlebnisganzheiten, die numerisch und qualitativ verschieden sind, sich nichtsdestoweniger auf dasselbe richten, daß sie den gleichen »Gegenstand« darstellen. Und damit ist zugleich jene Relativierung gegeben, die, wie wir 140 141
Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie (§ 85), S. 172. [Ebd.]
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durchweg gesehen haben, aus dem Begriff der Darstellung selbst fließt. Denn kein Inhalt des Bewußtseins ist an sich bloß »präsent«, noch ist er an sich bloß »repräsentativ«; vielmehr faßt jedes aktuelle Erlebnis beide Momente in unlöslicher Einheit in sich. Alles Gegenwärtige fungiert im Sinne der Vergegenwärtigung, wie alle Vergegenwärtigung die Anknüpfung an ein dem Bewußtsein Gegenwärtiges verlangt. Diese Wechselbeziehung, keineswegs aber die »Form«, das noetische Moment allein, ist es, worauf alle Beseelung und »Begeistung« beruht. Was nichtsdestoweniger immer wieder zu der abstraktiven Trennung des »hyletischen« vom »noetischen« Moment veranlaßt und was zu ihr zu berechtigen scheint, ist der Umstand, daß beide, wenngleich niemals im absoluten Sinne voneinander trennbar, so doch in weitem Ausmaß voneinander unabhängig variabel sind. Immer muß freilich der »Stoff« in irgendeiner Form stehen: Aber er ist an keine einzelne Art der Sinngebung gebunden, sondern kann von einer in die andere übergehen und gewissermaßen »umschlagen«. Am klarsten tritt dieser Sachverhalt heraus, wenn wir solche Beispiele heranziehen, bei denen dieser Übergang die Modalität des Sinns verändert. Betrachten wir etwa ein Erlebnis der optischen Sphäre, so ist dieses niemals aus bloßen »Empfindungsdaten«, aus den optischen Qualitäten von Helligkeit und Farbe zusammengesetzt. Seine reine Sichtbarkeit ist niemals außerhalb einer bestimmten Form der »Sicht« und unabhängig von ihr zu denken; es ist als »sinnliches« Erlebnis immer schon Träger eines Sinnes und steht gewissermaßen im Dienste desselben. Aber eben hierin kann es nun sehr verschiedene Funktionen erfüllen und kraft ihrer sehr verschiedene Sinnwelten vorstellig machen. Wir können ein optisches Gebilde, wie etwa einen einfachen Linienzug, nach seinem reinen Ausdruckssinn nehmen. Indem wir uns in die zeichnerische Gestaltung versenken und sie für uns aufbauen, spricht uns in ihr zugleich ein eigener physiognomischer »Charakter« an. In der rein räumlichen Bestimmtheit prägt sich eine eigentümliche »Stimmung« aus: Das Auf und Ab der Linien im Raume faßt eine innere Bewegtheit, ein dynamisches Anschwellen und Abschwellen, ein seelisches Sein und seelisches Leben in sich. Und hier | bei fühlen wir nicht nur unsere eigenen inneren Zustände in subjektiv-willkürlicher Weise in die räumliche Form hinein: Sondern sie selbst gibt sich uns als beseelte Ganzheit, als selbständige Lebensäußerung. Ihr stetes und ruhiges Dahingleiten oder ihr unvermitteltes Abbrechen, ihre Rundung und Geschlossenheit oder ihre Sprunghaftigkeit, ihre Härte oder Weichheit: das alles tritt an ihr selbst, als Bestimmung ihres eigenen Seins, ihrer objektiven »Natur«, heraus. Aber all dies tritt nun alsbald zurück
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und erscheint wie vernichtet und ausgelöscht, sobald wir den Linienzug in einem anderen »Sinne« nehmen – sobald wir ihn als mathematisches Gebilde, als geometrische Figur verstehen. Er wird nunmehr zum bloßen Schema, zum Darstellungsmittel für eine allgemeine geometrische Gesetzlichkeit. Was nicht der Darstellung dieser Gesetzlichkeit dient, was bloß als individuelles Moment in ihm mitgegeben ist, das sinkt jetzt mit einem Schlage zur völligen Bedeutungslosigkeit herab – es ist wie aus dem geistigen Blickfeld geschwunden. Nicht nur die Farben und Helligkeitswerte, sondern auch die absoluten Größen, die in der Zeichnung auftreten, werden von dieser Vernichtung betroffen: Sie sind für den Linienzug als geometrische Gebilde schlechthin irrelevant. Seine geometrische Bedeutung hängt nicht von diesen Größen als solchen, sondern nur von ihren Beziehungen, von ihren Relationen und Proportionen ab. Wo uns zuvor das Auf und Ab einer Wellenlinie und in ihr das Gleichmaß einer inneren Stimmung entgegentrat – da erblicken wir jetzt die graphische Darstellung für eine trigonometrische Funktion, da haben wir eine Kurve vor uns, deren gesamter Gehalt für uns zuletzt in ihrer analytischen Formel aufgeht. Die räumliche Gestalt ist nichts anderes mehr als das Paradigma für diese Formel; sie ist nur noch die Hülle, in die sich ein an sich unanschaulicher mathematischer Gedanke kleidet. Und dieser letztere steht nicht für sich allein – sondern in ihm stellt sich eine umfassendere Gesetzlichkeit, die Gesetzlichkeit des Raumes schlechthin, dar. Jedes einzelne geometrische Gebilde ist, auf Grund dieser Gesetzlichkeit, mit der Allheit der anderen möglichen Raumgestalten verknüpft. Es gehört einem bestimmten System – einem Inbegriff von »Wahrheiten« und »Sätzen«, von »Gründen« und »Folgen« – an, und dieses System bezeichnet die universelle Sinnform, durch die jede besondere geometrische Gestalt erst möglich, erst konstituiert und erst »verständlich« wird. Und wieder in einem völlig anderen Gesichtskreis stehen wir, wenn wir den Linienzug als mythisches Wahrzeichen oder wenn wir ihn etwa als ästhetisches Ornament nehmen. Das mythische Wahrzeichen faßt als solches den mythischen Grundgegensatz, | den Gegensatz des »Heiligen« und »Profanen«, in sich. Es ist aufgerichtet, um diese beiden Gebiete voneinander zu trennen, um zu warnen und zu schrecken, um dem Ungeweihten die Annäherung an das Heilige oder seine Berührung zu wehren. Und es wirkt hierbei nicht nur als bloßes Zeichen, als Merkmal, an dem das Heilige erkannt wird; sondern es besitzt auch eine ihm sachlich innewohnende, eine magisch zwingende und magisch abstoßende Macht. Von einem solchen Zwange weiß die ästhetische Welt nichts. Als Ornament betrachtet, erscheint die Zeichnung ebensowohl der Sphäre des
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»Bedeutens«, im logisch-begrifflichen Sinne, wie der des magischmythischen Deutens und Warnens entrückt. Sie besitzt in sich selbst ihren Sinn, der sich nur der reinen künstlerischen Betrachtung, der ästhetischen »Schau« als solcher, erschließt. Wieder vollendet sich hier das Erlebnis der räumlichen Form erst darin, daß es einem Gesamthorizont angehört und diesen für uns aufschließt – daß es in einer bestimmten Atmosphäre steht, in der es nicht nur einfach »ist«, sondern in welcher es gleichsam lebt und atmet.142 Das gleiche Verhältnis finden wir, auf einen engeren Raum zusammengedrängt, wieder, wenn wir, statt die verschiedenen Modalitäten der Sinngebung einander gegenüberzustellen, innerhalb einer einzelnen von ihnen verharren. Auch hier läßt sich noch derselbe charakteristische Prozeß der Differenzierung verfolgen, durch den ein Inhalt sehr verschiedene Nuancen der »Bedeutung« annehmen und von der einen in die andere übergehen kann. So sahen wir z. B., wie der Inhalt »Farbe« nur scheinbar eine schlechthin gleichförmige optische Qualität darstellt. Je nachdem die Farbe als einfache und selbständige Bestimmtheit gefaßt oder aber als »Gegenstandsfarbe« einem Objekt anhaftend gedacht wird, erhält sie selbst eine verschiedene »Valenz«. In dem einen Aspekt gesehen, stellt uns die Welt der Farben, gemäß dem Goethischen Ausdruck, nichts anderes als die »Taten und Leiden des Lichts« dar143 – in dem anderen erscheint sie an die Dingwelt angeschlossen, auf sie bezogen und ihr gewissermaßen verhaftet. Hier sind uns die Farben gleichsam freischwebende Lichtgebilde und Lichtgefüge – dort machen sie nicht sich selbst, sondern, durch sich hindurch, ein anderes sichtig. Und auch in diesem Falle läßt sich nicht etwa ein indifferentes und gleichgültiges Substrat der Farbe überhaupt aufweisen, | das späterhin in verschiedene Formen eintritt und hierdurch in mannigfacher Weise modifiziert wird. Es ergab sich vielmehr, daß die Farbphänomene selber, rein in ihrer phänomenalen Beschaffenheit, schon von der Ordnung abhängig sind, in der sie stehen – daß ihre reine Erscheinungsweise durch ebendiese Ordnung bestimmt wird.144 Wir suchen diese Wechselbestimmung dadurch zum Ausdruck zu bringen, daß wir für sie den Begriff und Terminus der 142 Vgl. hierzu die näheren Darlegungen in meinem Vortrag auf dem ästhetischen Kongreß in Halle (1927) »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 21 (1927), S. 295–312 [s. ECW 17]. 143 [Johann Wolfgang von Goethe, Zur Farbenlehre. Didaktischer Theil (Werke, 2. Abt., Bd. I), Weimar 1890, S. IX (»Die Farben sind Thaten des Lichts, Thaten und Leiden.«).] 144 Vgl. oben, zweiter Teil, Kap. II, S. 138 ff.
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Symbolische Prägnanz
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»symbolischen Prägnanz« einführen. Unter »symbolischer Prägnanz« soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als »sinnliches« Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen »Sinn« in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt. Hier handelt es sich nicht um bloß »perzeptive« Gegebenheiten, denen später irgendwelche »apperzeptive« Akte aufgepfropft wären, durch die sie gedeutet, beurteilt und umgebildet würden. Vielmehr ist es die Wahrnehmung selbst, die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger »Artikulation« gewinnt – die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung angehört. In ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit, ist sie zugleich ein Leben »im« Sinn. Sie wird nicht erst nachträglich in diese Sphäre aufgenommen, sondern sie erscheint gewissermaßen als in sie hineingeboren. Diese ideelle Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinnganzes, soll der Ausdruck der »Prägnanz« bezeichnen. Wenn wir uns etwa, in einer Grund- und Hauptrichtung unseres Zeitbewußtseins, der Zukunft zuwenden und gleichsam in sie vorstoßen, so bedeutet dieser Vorstoß nicht, daß nun einfach zu der Summe der gegenwärtigen Wahrnehmungen, wie sie uns im Jetzt gegeben sind, ein neuer Eindruck, ein Phantasma des Zukünftigen sich zugesellt. Die Zukunft stellt sich vielmehr in einer völlig eigenartigen Weise der »Sicht« dar: Sie wird von der Gegenwart her »vorweggenommen«. Das Jetzt ist ein zukunfterfülltes und zukunftgesättigtes Jetzt: praegnans futuri, wie Leibniz es genannt hat. Daß diese Art der Prägnanz sich durch unverkennbare Charaktere von jeder bloß quantitativen Anhäufung einzelner Wahrnehmungsbilder, sowie von ihrer assoziativen Verbindung und Verkoppelung, unterscheidet und daß sie ebensowenig durch die Rückführung auf rein »diskursive« Akte des Urteilens und Schließens erklärt werden kann – dies hat sich uns allenthalben gezeigt. Der symbolische Prozeß ist wie ein einheitlicher Lebens- und Gedankenstrom, der das Bewußtsein durchflutet und der | in dieser seiner strömenden Bewegtheit erst die Vielfältigkeit und den Zusammenhang des Bewußtseins, erst seine Fülle wie seine Kontinuität und Konstanz zuwege bringt. Von einer neuen Seite her zeigt somit dieser Prozeß, wie die Analysis des Bewußtseins niemals auf »absolute« Elemente zurückführen kann – weil ebendie Relation, weil die reine Beziehung es ist, die den Aufbau des Bewußtseins beherrscht und die in ihm als echtes »Apriori«, als wesensmäßig Erstes, hervortritt.145 Nur im Hin und 145
In diesem Grundgedanken des »Primats der Beziehung« stimme ich mit
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Her vom »Darstellenden« zum »Dargestellten«, und von diesem wieder zu jenem zurück, resultiert ein Wissen vom Ich und ein Wissen von ideellen wie reellen Gegenständen. Hier erfassen wir den eigentlichen Pulsschlag des Bewußtseins, dessen Geheimnis eben darin besteht, daß in ihm ein Schlag tausend Verbindungen schlägt. Es gibt keine bewußte Wahrnehmung, die bloßes »Datum«, die ein lediglich Gegebenes und in dieser Gegebenheit Abzuspiegelndes wäre; sondern jede Wahrnehmung schließt einen bestimmten »Richtungscharakter« in sich, mittels dessen sie über ihr Hier und Jetzt hinausweist. Als bloßes Wahrnehmungsdifferential faßt sie nichtsdestoweniger das Integral der Erfahrung in sich.146 Soll diese Integration, diese Erfassung des Erfahrungsganzen von einem Einzelmomente aus, möglich und durchführbar sein: so bedarf es bestimmter Gesetze, die den Übergang vom einen zum andern regeln. Der Einzelwert der momentanen Wahrnehmung muß – um in dem mathematischen Gleichnis zu verbleiben – als ein solcher erfaßt werden, der in einer allgemeinen Funktionsgleichung steht und aus ihr bestimmbar ist. Diese Bestimmung selbst ist nicht durch bloße Häufung von Einzelwerten und durch ihre additive Verbindung, sondern lediglich durch die Ordnung erreichbar, die sie innerhalb gewisser kategorialer Grund- und Hauptformen erfahren. Das Einzelne, Daseiende wird in Hinsicht auf | seine gegenständliche Bedeutung bestimmt, indem es der raumzeitlichen Ordnung, der Kausalordnung, der Ding-Eigenschafts-Ordnung eingefügt wird. Durch jede solche Einordnung gewinnt es einen spezifischen Richtungssinn – einen Vektor gleichsam, der auf einen bestimmten Zielpunkt hinweist. Sowenig sich, mathematisch gesprochen, gerichtete und nicht-gerichtete Größen einfach zueinander addieren lassen, sowenig läßt sich, phänomenologisch und erkenntniskritisch, davon sprechen, daß »Stoffe« und »Formen«, daß »Erscheinungen« und kategoriale »Ordnungen« sich miteinander Natorp überein, der in ihm geradezu das Fundament und die Voraussetzung für alle »kritische Psychologie« sieht. »Beziehung«, so betont er, »scheint [dem Bewußtsein] so wesentlich zu sein, daß […] alles eigentliche Bewußtsein Beziehung – das heißt aber: nicht die Präsentation, sondern die Repräsentation das Ursprüngliche, die Präsentation nur aus dem repräsentativen Bewußtsein, als in ihm eingeschlossenes Moment, abstrahiert [Cassirer: repräsentiert] ist. [I]n der Tat nur als Grundlage für die Repräsentation scheint das dem Bewußtsein Präsente durch Abstraktion herauszulösen; nur für die theoretische Rekonstruktion geht es vorher, während an sich, im wirklichen Leben des Bewußtseins, vielmehr die Beziehung das Erste, Unmittelbare ist, zu welcher stets und gleich wesentlich der andere Bezugspunkt […] gehört.« (Allgemeine Psychologie, S. 56). 146 Zu diesem Begriff der »Integration« vgl. die Ausführungen in »Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil«, S. 40 [ECW 11, S. 38 f.].
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Symbolische Prägnanz
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»verbinden«. Wohl aber kann nicht nur, sondern es muß jegliches Besondere im »Hinblick« auf solche Ordnungen bestimmt werden, wenn »Erfahrung« als theoretisches Gefüge erstehen soll. Die »Teilhabe« an diesem Gefüge gibt der Erscheinung erst ihre objektive Wirklichkeit und ihre objektive Bestimmtheit. Die »symbolische Prägnanz«, die sie gewinnt, entzieht ihr nichts von ihrer konkreten Fülle – aber sie bildet zugleich die Gewähr dafür, daß diese Fülle nicht einfach verströmt, sondern sich zu einer festen, in sich geschlossenen Form rundet. |
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kapitel vi. Zur Pathologie des Symbolbewußtseins I. Das Symbolproblem in der Geschichte der Aphasielehre Solange es eine Logik und solange es eine Philosophie der Sprache gibt, hat das Verhältnis von Denken und Sprechen die philosophische Betrachtung immer aufs neue beschäftigt. Seit den ersten bewußten Anfängen der philosophischen Reflexion steht dieses Problem im Brennpunkt der Untersuchung. Die griechische Sprache ist der lebendige Zeuge dieses Sachverhalts, indem sie beide Grundfragen, die Frage des Denkens wie die des Sprechens, in einen Ausdruck zusammennimmt. Die Einheit von Begriff und Wort, von gedachtem und gesprochenem »Logos« bildet in einem bestimmten Sinne den Ausgangspunkt, den Terminus a quo der gesamten griechischen Spekulation – wie andererseits die schärfere Absonderung beider und der methodische Unterschied zwischen ihnen zu den Grundaufgaben gehört, mit deren klarer Erfassung erst die Logik als Wissenschaft möglich wurde.147 Aber nur ganz allmählich wird in der Geschichte der Logik diese Differenz erkannt und auf einen scharfen systematischen Ausdruck gebracht. Immer wieder bricht sich in dieser Geschichte die ursprüngliche Auffassung Bahn – immer wieder wird das komplexe Verhältnis, das hier vorliegt, dadurch aufzuhellen gesucht, daß man es in eine einfache Identitätsbeziehung zurückverwandelt. Der mittelalterliche Nominalismus findet keinen anderen Weg, das Rätsel des logischen Begriffs zu lösen, als diese Rückverwandlung. Alles, was der Begriff ist und was er bedeutet, ist er nicht aus sich selbst und durch sich selbst; er trägt vielmehr seine Allgemeinheit und seine Bedeutsamkeit lediglich von der Sprache zu Lehen. In dem jahrhundertelangen Streit, der in der mittelalterlichen Logik über das | Wesen der Universalien geführt wird, sind es zuletzt die Moderni, die Nominalisten und Terministen der Schule Wilhelm von Ockhams, die den Sieg behaupten. Und in der neueren Philosophie scheint sodann dieser Sieg endgültig entschieden zu sein. Nicht nur Hobbes verkündet den Satz: »Veritas non in re, sed in dicto consistit«;148 auch Leibniz ergreift schon in seiner ersten Schrift, in der Schrift »De principio individui«, die Partei der nominalistischen LogiNäheres s. bei Ernst Hoffmann, Die Sprache und die archaische Logik, vgl. oben, S. 131 ff. 148 [Vgl. Hobbes, De corpore (Teil 1, Kap. 3, § 7), S. 20: »Veritas enim in dicto, non in re consistit […]«.] 147
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Pathologie des Symbolbewußtseins. Aphasielehre
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ker – und sein gesamter Aufbau der logischen Formenlehre stützt sich auf den Satz, daß die Erkenntnis der Sachen von dem rechten Gebrauch der Zeichen abhängig ist, so daß die Grundlegung der allgemeinen Charakteristik zur Vorbedingung für die Gewinnung einer allgemeinen Wissenschaftslehre, einer »Scientia generalis«, wird. Erst weit später als dieses Problem der inneren Beziehung und der wechselseitigen Bindung zwischen Sprechen und Denken hat sich der philosophischen Selbstbesinnung das andere, damit nahe verwandte Problem: die Frage nach der Bedeutung der Sprache für den Aufbau der Wahrnehmungswelt, aufgedrängt. Dies ist durchaus verständlich: Gilt doch seit jeher dies als der charakteristische Unterschied zwischen Denken und Wahrnehmung, daß alles Denken sich im Kreise des bloß Mittelbaren bewegt, während die Wahrnehmung eine unmittelbare Gewißheit und eine unmittelbare Wirklichkeit besitzt. Wollten wir auch diese Gewißheit und Wirklichkeit der Herrschaft des Wortes, der Zeichen, der Symbole preisgeben – so gerieten wir damit in Gefahr, allen festen Boden unter den Füßen zu verlieren. Irgendwo – so scheint es – muß doch einmal die Bedeutung der Symbole auf etwas schlechthin Gegebenem und schlechthin Selbstbedeutsamem aufruhen. Alle Bedeutsamkeit bloßer Zeichen scheint von Anfang an mit dem Fluch der Zweideutigkeit behaftet zu sein – alle Darstellung in Symbolen schließt die Gefahr der Äquivokation in sich. Erst der Rückgang auf die Fundamente des Wissens, die uns in der Wahrnehmung gegeben sind, enthebt uns dieser Mehrdeutigkeit; erst mit ihm fassen wir Fuß in der »wohlgegründeten […] Erde«.149 So schien ebendies der Sinn und das Ziel des Kampfes gegen den »Begriffsrealismus« zu sein, daß durch ihn der Weg zur echten und ursprünglichen Realität freigemacht, daß der Realismus der Wahrnehmung klar und siegreich behauptet werden konnte. Hobbes, der alle Wahrheit im Worte beschlossen sein und der sie zuletzt in ihm aufgehen läßt, nimmt von dieser radikalen nominalistischen Schlußfolgerung ein Gebiet ausdrücklich aus. Alles Denken und Sprechen, das seiner Natur nach willkürlich und bloß konventionell ist, findet seine | Grenze zuletzt an den unmittelbaren sinnlichen Erscheinungen, die es als solche einfach hinzunehmen und anzuerkennen hat. Nehmen wir an, das gesamte Gebäude, das die Sprache und das Denken über dieser Urschicht aufgerichtet hat, wäre abgetragen – so bliebe doch damit sie selbst in ihrer unangreifbaren Sicherheit unangetastet. Auf diesem Dogma von der Autar149 [Johann Wolfgang von Goethe, Gränzen der Menschheit, in: Werke, 1. Abt., Bd. II, Weimar 1888, S. 81 f.: S. 81.]
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kie und Autonomie, von der Selbstgenügsamkeit und Selbstverständlichkeit der Wahrnehmungserkenntnis, baut sich die moderne sensualistische Psychologie auf. Nur vereinzelt ist, im Kreise der Psychologie selbst, ein ausdrücklicher Angriff auf dasselbe gewagt worden – und nur allmählich und relativ spät konnte es, kraft der methodischen Umbildung der Psychologie in den letzten Jahrzehnten, aus seiner herrschenden Stellung verdrängt werden. Und doch war schon lange zuvor von einer ganz anderen Seite her in ebendieses Dogma Bresche gelegt worden. Nicht die empirische Psychologie, sondern die kritische Sprachphilosophie ist es gewesen, die es zuerst entscheidend angegriffen hat. Nichts ist vielleicht so bezeichnend für die Erweiterung und Vertiefung, die die Sprachphilosophie durch Wilhelm von Humboldt erfahren hat, als der Umstand, daß Humboldt seine Frage von Anfang an nicht lediglich an die Welt der Begriffe, sondern auch an die Wahrnehmungs- und Anschauungswelt richtet. Auch hier findet er die Vorstellungsart, als sei die Sprache nur dazu bestimmt, die schon an sich wahrgenommenen Gegenstände im Laute zu bezeichnen, nirgends bestätigt. Durch eine solche Auffassung läßt sich nach Humboldt der volle und tiefe Gehalt der Sprache niemals erschöpfen. Der Mensch denkt und begreift die Welt nicht nur durch das Medium der Sprache; sondern schon die Art, wie er sie anschaulich sieht und wie er in dieser Anschauung lebt, ist durch ebendies Medium bedingt. Seine Erfassung einer »gegenständlichen« Wirklichkeit – die Art, wie er diese als Ganzes vor sich hinstellt und wie er sie im einzelnen formt, wie er sie abteilt und gliedert: dies alles ist schon ein Werk, das sich ohne die Mitwirkung, ohne die lebendige »Energie« der Sprache nicht vollziehen und nicht vollenden läßt. In diesen Grund- und Leitsätzen der Humboldtschen Sprachphilosophie war auch der Psychologie eine bedeutsame Aufgabe gestellt. Aber es währte lange Zeit, ehe in ihr selbst diese Aufgabe in ihrem vollen Gewicht erkannt wurde. Schon in der Schule Herbarts, schon bei La zarus und Steinthal dringt freilich die Überzeugung durch, daß ohne einen tieferen Einblick in das Wesen der sprachlichen Vorgänge eine eigentliche Grundlegung der Psychologie nicht zu gewinnen sei. Steinthal hat in ein und demselben Werk die Einleitung in die | Psychologie und die Einleitung in die allgemeine Sprachwissenschaft zu geben versucht.150 Und noch enger schien sich dieses Band zu knüpfen, als Wundt den Aufbau seiner »Völkerpsychologie« mit einer 150 Heymann Steinthal, Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft (Abriss der Sprachwissenschaft. 1. Teil: Die Sprache im Allgemeinen), Berlin 1871; Lazarus, Das Leben der Seele.
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Pathologie des Symbolbewußtseins. Aphasielehre
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umfassenden Theorie der Sprache begann. Aber gerade in dieser Theorie trat auf der anderen Seite deutlich hervor, daß die Sprache, wenngleich sie als eines der wichtigsten Objekte der psychologischen Betrachtung anerkannt wurde, doch auf die Methodik dieser Betrachtung keinen entscheidenden Einfluß gewann. Denn bei Wundt wird durch die Analyse der Sprache das Grundschema der Psychologie, auf das er sich überall in der Erklärung der besonderen seelischen Erscheinungen stützt, nicht wesentlich modifiziert, sondern es wird nur auf einen neuen Gegenstand übertragen. Durch diese Analyse soll die Psychologie um ein wichtiges Kapitel bereichert werden; aber dieses letztere tritt einfach neben die bereits vorhandenen. Es fügt sich ihnen an, ohne daß hierdurch in der inneren systematischen Verfassung der Psychologie, in der Auffassung der Grundstruktur des Psychischen selber, irgendeine prinzipielle Wandlung sich vollzieht. Für Wundt war, als er an die Betrachtung der Sprache herantrat, die Grundlegung der Psychologie seit langem vollzogen. Die Begriffe der »Empfindung« und »Wahrnehmung«, der »Vorstellung« und »Anschauung«, der »Assoziation« und der »Apperzeption« hatten in der »Physiologischen Psychologie« ihre feste Bestimmung erfahren. Weit entfernt davon, an ihnen eine Um- und Neuprägung zu versuchen, strebt Wundts »Völkerpsychologie« nur danach, sie an dem neuen Material der Sprache, des Mythos, der Religion, der Kunst usf. zu bestätigen und zu befestigen. Es bedurfte einer langen und mühseligen Arbeit, ehe es der modernen Psychologie gelang, die Betrachtung der Sprache aus dieser Gebundenheit an einen bestimmten von vornherein feststehenden Schematismus zu befreien und in ihr nicht nur ein neues Anwendungsgebiet, sondern ein echtes methodisches Kernstück der Psychologie zu sehen.151 Aber während innerhalb des engeren Umkreises der Psychologie der | neue Weg, der sich hier eröffnete, nur langsam und zögernd beschritten worden ist, hat das Problem, das hier vorliegt, von anderer Seite her einen kräftigen Impuls und eine entscheidende Förderung erfahren. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Gestaltung der Sprache und der Struktur der Wahrnehmungswelt ist in der eigentlichen Sprachpsychologie erst relativ spät gestellt worden;
151 Die Bedeutung, die das Sprachproblem in der psychologischen Arbeit der Gegenwart gerade für das allgemeine Methodenproblem der Psychologie gewonnen hat, läßt sich am deutlichsten an den Schriften Karl Bühlers verfolgen; vgl. jetzt insbesondere die zusammenfassende Darstellung Bühlers in seiner Schrift »Die Krise der Psychologie«, Jena 1927. – Zur Stellung des Sprachproblems in der »Denkpsychologie« Hönigswalds s. oben, S. 131–133.
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aber sie mußte sich von Anfang an der Sprachpathologie aufdrängen. Auch diese letztere hat freilich zunächst damit begonnen, die Störungen zu beschreiben und zu analysieren, die bestimmte pathologische Veränderungen der Sprache im Gebiet der reinen Denkprozesse nach sich ziehen. Aber je weiter man auf diesem Wege fortschritt, um so deutlicher zeigte sich, daß dieser Rahmen zu eng gespannt war. Das rein klinische Bild der einzelnen Sprachstörungen selbst konnte nicht in wirklicher Schärfe gezeichnet werden, solange man dabei stehenblieb, in ihnen nichts anderes als bloße »Intelligenzstörungen« zu sehen. Nicht die »Intelligenz« allein, sondern das Ge samtverhalten und die gesamte seelische »Verfassung« der Kranken erwies sich durch die Veränderung ihres Sprachbewußtseins und ihrer sprachlichen Leistungsfähigkeit als modifiziert und als beeinträchtigt. Es scheint, daß der eigentliche innere Konnex zwischen der Sprachwelt einerseits, der Wahrnehmungs- und Anschauungswelt andererseits, sich erst dann in voller Deutlichkeit erfassen läßt, wenn das Band, das beide miteinander verknüpft, sich auf Grund besonderer Bedingungen zu lockern beginnt. Erst in dieser Lockerung tritt der Bestand, der von ihr betroffen wird, in seinem eigentlichen Sinn und in seiner positiven Bedeutung hervor. Es zeigt sich in ihr, wieviel die Welt der »Perzeption«, die man zunächst als ein Datum der Sinne hinzunehmen pflegt, dem geistigen Medium der Sprache verdankt, wie jede Hemmung oder Erschwerung des geistigen Vermittlungsprozesses, der sich in der Sprache vollzieht, auch die »unmittelbare« Beschaffenheit und den unmittelbaren »Charakter« der Wahrnehmung selber trifft und verändert. In dieser Hinsicht konnte die Beobachtung und die genaue Beschreibung der pathologischen Fälle direkt in den Dienst der phänomenologischen Analyse treten. Der Scheidekunst des Gedankens begegnet hier gewissermaßen eine Scheidekunst der Natur: Die Momente, die im normalen Bewußtsein nur in nächster Vereinigung, nur in einer Art von »Konkreszenz« gegeben sind, beginnen in der Krankheit sozusagen auseinanderzutreten und sich in ihrer unterschiedlichen Bedeutung gegeneinander abzusetzen. Und damit erweist sich erst ganz, wie sehr nicht nur unser Denken der Welt, sondern wie schon die anschauliche Gestalt, in welcher für uns die | Wirklichkeit »vorhanden« ist, unter dem Gesetz und unter der Herrschaft der symbolischen Formung steht. Der alte scholastische Satz: forma dat esse rei gewinnt hier eine neue Geltung. Der Wahrheitsgehalt dieses Satzes und sein relatives Recht tritt vielleicht erst dann deutlich zutage, wenn man sich entschließt, ihn von dem Gebiet der ontologischen Metaphysik, für das er ursprünglich geprägt ist, wieder in den Bereich des Phänomenalen zurückzuversetzen –
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sobald man die »Form«, statt sie in substantiellem Sinne zu nehmen, vielmehr in einem rein funktionalen Sinne versteht. Hier rührt demnach die Pathologie der Sprache an ein Problem, dessen Bedeutung weit über ihre eigenen Grenzen, ja über die Grenzen der Einzelwissenschaft überhaupt, hinausgreift. Sie selbst ist sich im Laufe ihrer Entwicklung dieses Zusammenhangs immer deutlicher bewußt geworden. Die letzte systematische Zusammenfassung, die die Aphasielehre in dem Werk von Henry Head erfahren hat, hebt den Symbolbegriff auch explizit heraus und rückt ihn in den Mittelpunkt der Untersuchung.152 Die Störungen, denen das Bewußtsein in den aphasischen Erkrankungen unterliegt, werden von Head als Störungen der symbolischen Formulierung und des symbolischen Ausdrucks (symbolic formulation and expression) bezeichnet. Hier ist somit ein ganz allgemeiner Problembegriff geschaffen, kraft dessen Head die einzelnen Krankheitserscheinungen zu ordnen und um den er sie zu gruppieren sucht. Damit aber ergibt sich auch für die allgemeine Sprachphilosophie die Notwendigkeit, an den Beobachtungen, die die Sprachpathologie ihr liefert, und an den Fragen, die sich an diese Beobachtungen knüpfen, nicht länger vorüberzugehen.153 Denn es ist stets ein methodologisch und systematisch bedeutsames Phänomen, wenn im Gebiet der Wissenschaft das Heraklitische | Wort, daß der Weg nach oben und der Weg nach unten derselbe ist, sich in seiner Wahrheit erweist. Schon Jackson, an den Heads Arbeiten anknüpfen, hatte in seinen grundlegenden Untersuchungen, die sich über die drei Jahrzehnte von 1860–1890 erstrecken, die Probleme der Sprach152 Henry Head, Aphasia and Kindred Disorders of Speech, 2 Bde., Cambridge 1926. – Größere Abschnitte dieses Werkes sind schon vorher von Head in der Zeitschrift »Brain« veröffentlicht worden (Aphasia and Kindred Disorders of Speech, in: Brain. A Journal of Neurology 43 [1920], S. 87–165; Aphasia: An Historical Review [The Hughlings Jackson Lecture for 1920], a. a. O., S. 390–411; Speech and Cerebral Localization, in: Brain. A Journal of Neurology 46 [1923], S. 355–528). Die Zitate im Text beziehen sich durchweg auf die Buchausgabe. 153 Mir selbst sind die Untersuchungen Heads erst bekannt geworden, nachdem die phänomenologischen und erkenntniskritischen Analysen des Wahrnehmungsproblems, die in den beiden ersten Teilen dieser Schrift enthalten sind, im wesentlichen abgeschlossen waren. Um so wichtiger und bedeutsamer erschien mir die mittelbare Bestätigung, die das Ergebnis dieser Analysen durch Heads Beobachtungen und durch seine theoretische Gesamtanschauung, die ausschließlich auf dem Boden der klinischen Erfahrung erwachsen ist, erfährt. Die Bedeutung, die diese Beobachtungen auch in rein philosophischer Hinsicht besitzen, ist im Kreise der Philosophie selbst zuerst von Henri Delacroix in seinem Werk »Le langage et la pensée«, Paris 1924, erkannt und hervorgehoben worden. Vgl. bes. Buch 4, S. 477 ff.
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pathologie einem allgemeinen Rahmen eingefügt, indem er sie mit bestimmten Grundfragen der Phänomenologie der sinnlichen Wahrnehmung verknüpfte. Er rückte die sprachlichen Störungen ganz nahe an bestimmte Störungen des optischen und taktilen Erkennens heran, die er unter dem gemeinsamen Titel »imperception« beschrieb. Damit war die Bedeutung, die die Sprache nicht nur für das logische Denken, sondern auch für die Gestaltung der Wahrnehmungswelt, für das rein »perzeptive« Erfassen besitzt, im Prinzip anerkannt.154 Heute stehen so ausgezeichnete Kenner des Gebiets wie Goldstein und Gelb auf dem Standpunkt, daß die eigentlichen aphasischen Störungen niemals bloß den Akt des Sprechens als isolierten Akt betreffen, sondern daß vielmehr jeder Änderung in der Sprachwelt eines Kranken immer eine bestimmte charakteristische Wandlung in seinem Gesamtverhalten – in seiner Wahrnehmungswelt wie in seiner praktischen, seiner tätigen Stellung zur Wirklichkeit entspricht. Damit ergibt sich von einer völlig neuen Seite her die Bewährung des Satzes, den Humboldt an die Spitze seiner Sprachphilosophie gestellt hatte.155 Wollen wir den Problemkomplex, der hier vorliegt, klar durchschauen, so dürfen wir uns die Mühe nicht verdrießen lassen, ihn in seine einzelnen Fäden aufzulösen und jeden von ihnen gesondert zu verfolgen. Wir beginnen hierbei mit einem Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung, die der Symbolbegriff inner | halb der Aphasielehre erfahren hat und durch die er allmählich zu der zentralen Stellung gelangt ist, die er heute in ihr besitzt.
154 Über Jacksons Arbeiten vgl. die eingehende Darstellung Heads, der auch die wichtigsten dieser Arbeiten neu herausgegeben hat: Henry Head, Hughlings Jackson on Aphasia and Kindred Affections of Speech, in: Brain. A Journal of Neurology 38 (1915), S. 1–27; ders. (Hrsg.), Reprint of some of Hughlings Jackson’s Papers on Affections of Speech, a. a. O., S. 28–186; ders., Chronological List of Hughlings Jackson’s Papers bearing on Affections of Speech, a. a. O., S. 187–190; s. auch Heads Werk über Aphasie, Bd. I, S. 30–53. 155 Auf diesen Zusammenhang zwischen den Anschauungen der modernen Sprachpathologie und der Grundansicht, auf der Humboldt seine Lehre von der Sprache aufbaut, bin ich erst, nach Abschluß des ersten und zweiten Bandes der »Philosophie der symbolischen Formen«, durch das Studium der Arbeiten von Goldstein und Gelb aufmerksam geworden. Aber ich hätte kaum den Mut gefunden, ihm weiter nachzugehen, hätte ich mich nicht, neben der literarischen Anregung, die mir durch diese Arbeiten zuteil wurde, auch der steten persönlichen Aufmunterung und der immer erneuten Förderung beider Autoren zu erfreuen gehabt. Goldstein habe ich vor allem auch an dieser Stelle dafür zu danken, daß er mir eine große Zahl der Krankheitsfälle, auf die sich seine Publikationen beziehen, wiederholt demonstriert und daß er mir hierdurch ihr genaueres Verständnis erst eigentlich erschlossen hat.
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Pathologie des Symbolbewußtseins. Aphasielehre
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Schon im Jahre 1870 hat Finkelnburg in einem zusammenfassenden Bericht über die aphasischen Störungen den Terminus der Asymbolie eingeführt und damit diese Störungen gewissermaßen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen gesucht.156 Aber er nahm hierbei den Begriff des Symbols selbst in einem eingeschränkten Sinne, indem er mit ihm im wesentlichen die Bedeutung eines »künstlichen«, eines konventionellen Zeichens verband. Daß die Fähigkeit, solche künstliche Zeichen zu bilden und zu verstehen, eine eigentümliche psychische Fähigkeit, daß sie ein Vermögen sui generis sei: dafür beruft sich Finkelnburg auf Kant , der in seiner »Anthropologie« die »Facultas signatrix« in einem eigenen Abschnitt behandelt und sie von der sinnlichen Erkenntnis wie von der rein intellektuellen Erkenntnis geschieden hatte. »Gestalten der Dinge (Anschauungen)«, so hatte er erklärt, »sofern sie nur zu Mitteln der Vorstellung durch Begriffe dienen, sind Symbole, und das Erkenntnis durch dieselbe heißt symbolisch oder figürlich […]« In diesem Sinne werden neben den mimischen Zeichen der »Gebärdung« vor allem die Schriftzeichen, die Tonzeichen (Noten), die Ziffern, weiterhin aber auch Standes- oder Dienstzeichen (Wappen und Livreen) sowie Ehren- und Schandzeichen (Ordensbänder und Brandmale) von Kant als Klassen und Unterarten der Symbole angeführt.157 In dem Unvermögen, die Bedeutung derartiger Symbole zu erfassen und sie sinngemäß zu verwenden, sah Finkelnburg den Kern der aphasischen Störungen, wobei er auf Erfahrungen verwies, nach denen aphasische Kranke nicht imstande waren, Noten oder Münzen richtig zu erkennen oder etwa das Zeichen des Kreuzes zu machen. Aber aus dieser engeren Bedeutung ging der Begriff und Terminus der »Asymbolie« im Fortgang der Aphasieforschung alsbald in eine weitere über. Jetzt wurde unter »Asymbolie« nicht mehr das fehlende oder mangelnde Verständnis für künstliche Zeichen, sondern die Unfähigkeit verstanden, trotz erhaltener Sinnesfunktion die sichtbaren oder tastbaren Gegenstände als das, was sie sind, zu erkennen und sie entsprechend zu gebrauchen. Hierbei wurde wiederum zwischen »sensorischer« und »motorischer« Asymbolie unterschieden: Bei der ersteren sollte »die Unfähigkeit, die Dinge
156 Karl Maria Finkelnburg, Vortrag in der Niederrhein-Gesellschaft der Ärzte in Bonn, wiedergegeben in: Berliner Klinische Wochenschrift. Organ für practische Aerzte 7 (1870), S. 449 f. u. 460–462. 157 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1. Teil, 1. Buch), hrsg. v. Otto Schöndörffer, in: Werke, Bd. VIII, Berlin 1922, S. 1–228: S. 78 ff. [Zitat S. 78 (Akad.-Ausg. VII, 191)].
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richtig zu erkennen«, im Vordergrund stehen, aus der sich der Mangel in ihrem Gebrauch erst | sekundär ableite158 – während die letztere sich im wesentlichen in bestimmten Störungen der Bewegungsvorstellung äußern sollte, die den Entwurf und die sachgemäße Durchführung bestimmter einfacher Bewegungen oder komplexer Bewegungsgesamtheiten erschweren oder unmöglich machen. So verwendet Wernicke in seiner Schrift über den »Aphasischen Symptomenkomplex« (1874) den Begriff der Asymbolie zur Bezeichnung desjenigen Krankheitsbildes, das später von Freud durch den Namen der (optischen oder taktilen) Agnosie bezeichnet wurde, während Meynert in seinen »Klinischen Vorlesungen über Psychiatrie« von einer »motorischen Asymbolie […] der oberen Extremitäten« sprach, um damit diejenigen Erscheinungen zu bezeichnen, die Liepmann später unter dem Begriff der »Apraxie« zusammengefaßt hat.159 Aber dieser Entwicklung ging eine andere parallel, die schon durch Jackson eingeleitet worden war. Jackson war, um die aphasischen Störungen zu erfassen und um ein gemeinsames Merkmal für sie aufzufinden, nicht vom Gebrauch des Wortes, sondern vom Gebrauch des Satzes ausgegangen. Er stützt sich – sicherlich wohl ohne nähere Kenntnis Humboldts – auf dessen sprachphilosophische Grundeinsicht, daß in Wirklichkeit nicht die Rede aus ihr vorangegangenen Wörtern zusammengesetzt werden könne, sondern daß umgekehrt die Wörter aus dem Ganzen der 158 [S. Karl Heilbronner, Ueber Asymbolie, Breslau 1897 (Psychiatrische Abhandlungen, H. 3/4), S. 42.] 159 Theodor Meynert, Klinische Vorlesungen über Psychiatrie auf wissenschaftlichen Grundlagen für Studirende und Aerzte, Juristen und Psychologen, Wien 1890, S. 272; Näheres zur Verwendung des Wortes »Asymbolie« in der älteren Literatur findet sich bei Karl Heilbronner, Ueber Asymbolie (bes. S. 41 ff.). Der Terminus der »Agnosie« wurde zuerst von Freud angewandt, während der Begriff der »Apraxie« bereits von Steinthal in seiner »Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft« (1871) gebraucht wurde, zu allgemeiner Geltung aber erst durch Hugo Liepmann gelangte (Das Krankheitsbild der Apraxie [»motorischen Asymbolie«]. Auf Grund eines Falles von einseitiger Apraxie, Berlin 1900 [Sonderabdruck aus der Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, Bd. 8]; ders., Ueber Störungen des Handelns bei Gehirnkranken, Berlin 1905). Vgl. auch Arnold Pick, Asymbolie, Apraxie, Aphasie (in: Compte rendu des travaux du Ier congrès international de psychiatrie, de neurologie, de psychologie et de l’assistance des aliénés tenu à Amsterdam du 2 à 7 septembre 1907, red. v. G. A. M. van Wayenburg, Amsterdam 1908, S. 341–350) sowie Karl Heilbronner, Die aphasischen, apraktischen und agnostischen Störungen (in: Handbuch der Neurologie, bearb. v. G. Abelsdorff u. a., hrsg. v. Max Lewandowsky, Bd. I: Allgemeine Neurologie, 2. Teil, IV: Allgemeine Pathologie, Symptomatologie und Diagnostik, S. 982–1093: S. 1037).
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Rede hervorgehen.160 So wird ihm die Analysis des Satzes und der Satzfunktion zum Schlüssel der Aphasieforschung. Geht man bei der klinischen Beobachtung von Aphasischen von der bloßen Feststellung ihres Wortschatzes aus, sucht man festzustellen, welche Worte ihnen mangeln, welche anderen ihnen zur Verfügung stehen, so führt dies, wie Jackson betont, zu durchaus schwankenden und unsicheren Ergebnissen. Ist es doch eine der bekanntesten klinischen Erfahrungen, daß die Leistungen auf diesem Gebiet aufs stärkste variieren. Ein Kranker, der heute | über ein bestimmtes Wort verfügt, kann morgen nicht imstande sein, es zu gebrauchen – oder er kann es in einem bestimmten Zusammenhang mühelos verwenden, während es ihm in einem anderen nicht zu Gebote steht. Hier kommt also, um in die Natur und Eigenart der aphasischen Störungen einzudringen, alles darauf an, die Art ebendieses Zusammenhanges näher zu bestimmen, also nicht sowohl auf den Wortgebrauch als solchen als vielmehr auf den spezifischen Sinn, in dem die Worte verwendet werden, auf die Funktion, die sie im Ganzen der Rede erfüllen, zu achten. Und hier geht Jackson von einer ersten grundlegenden Scheidung aus, indem er auf der einen Seite die rein emotionalen sprachlichen Äußerungen, auf der anderen Seite die »aussagenden«, die darstellenden Äußerungen zu je einer Gruppe zusammenfaßt. Die ersteren pflegen bei den aphasischen Erkrankungen weit seltener als die letzteren betroffen zu sein, oder sie sind doch in viel geringerem Maße geschädigt. So tritt gerade bei der Beobachtung dieser Erkrankungen deutlich hervor, daß es zwei ganz verschiedene und voneinander relativ unabhängige Schichten sprachlicher Äußerungen gibt: die eine, in der lediglich innere Zustände kundgegeben, die andere, in der objektive Sachverhalte »gemeint« und bezeichnet sind. Diese beiden Schichten sind es, die Jackson als »untere« und »obere« Sprache (inferior and superior speech) einander gegenüberstellt. Nur den Äußerungen der oberen Sprache kommt eigentlicher »Satzwert« (propositional value) zu. Unsere gesamte »intellektuelle« Sprache bewegt sich in solchen Satzwerten und ist von ihnen beherrscht und durchdrungen; sie dient nicht dem Ausdruck von Gefühlen und Erregungen, sondern sie geht auf Gegenstände und auf Beziehungen zwischen Gegenständen. Und ebendiese Fähigkeit, Satzwerte zu bilden und zu verstehen, nicht aber der bloße Gebrauch von Worten ist es, was in den aphasischen Störungen wesentlich beeinträchtigt oder ganz aufgehoben ist. »Einzelne Worte sind 160 Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss, S. 72.
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bedeutungslos, und das gleiche gilt von jeder beziehungslosen Folge von Worten. Die Einheit der Sprache ist der Satz – und ein einzelnes Wort kann für einen ganzen Satz stehen, wenn andere Worte in ihm impliziert und mitverstanden sind. […] Nur an der Art, wie ein Wort gebraucht wird, läßt sich sein Satzwert ermessen. Die Worte ›Ja‹ und ›Nein‹ haben Satzwert; jedoch nur dann, wenn sie im Sinne von Zustimmung zu einem Urteil oder Ablehnung eines solchen verwendet werden – aber sie können ebensowohl als bloße Interjektionen (interjectionally) wie als Ausdrücke für ein Urteil (propositionally) gebraucht werden. Bei einem Aphasischen kann das Wort ›Nein‹ erhalten sein – aber | er ist vielleicht nur noch imstande, es emotional zu verwenden, während er es nicht mehr im Sinn eines Urteils oder Satzes gebraucht.«161 Alle eigentlich intellektuelle Kraft der Sprache, alles, was sie für das Denken leistet, ist nach Jackson in dieser Kraft der »Aussage«, der Prädikation beschlossen. »Der Verlust der Sprache ist daher gleichbedeutend mit dem Verlust des Vermögens, prädikative Sätze zu bilden (Loss of speech is, therefore, the loss of power to propositionize). Es handelt sich hierbei nicht nur um das Unvermögen, solche Sätze laut zu äußern, sondern sie, sei es innerlich, sei es äußerlich, zu gestalten […] Wenn wir hier das populäre Wort ›Vermögen‹ gebrauchen, so meinen wir damit nicht, daß der Patient, der die Sprache verloren hat, irgendeine besondere psychische ›Fähigkeit‹ des Sprechens oder der Satzbildung eingebüßt hat […] Es gibt keine solche Fähigkeit, kein Sprachvermögen losgelöst von Worten, die sich zu Sätzen der lebendigen Rede formen oder formen können […] Aber wir müssen hier sagen, daß es neben diesem Gebrauch noch einen anderen gibt, der nicht eigentlich Sprache ist: Wir sagen demgemäß nicht, daß der Aphasische die Worte schlechthin, sondern nur, daß er diejenigen Worte, die den Gebrauch der Sprache darstellen, verloren hat. Kurz, Sprachlosigkeit braucht durchaus nicht völlige Wortlosigkeit zu bedeuten.«162 An diese Bestimmung 161 Hughlings Jackson, On Affections of Speech from Disease of the Brain, in: Brain. A Journal of Neurology 38 (1915), S. 107–129: S. 113 f. [»Single words are meaningless, and so is any unrelated succession of words. The unit of speech is a proposition. A single word is, or is in effect, a proposition, if other words in relation are implied. […] It is from the use of a word that we judge of its propositional value. The words ›yes‹ and ›no‹ are propositions, but only when used for assent and dissent; they are used by healthy people interjectionally as well as propositionally. A speechless patient may retain the word ›no‹, and yet have only the interjectional or emotional, not the propositional use of it […]«]; zur Unterscheidung der »emotionalen« und »propositionalen«, der »unteren« und »oberen« Sprache bei Jackson vgl. Head, Aphasia, Bd. I, S. 34 ff. 162 [Jackson, On Affections of Speech, S. 114 (»Loss of speech is, therefore, the
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Jacksons knüpft Head an. Was Jackson als Fähigkeit der »Aussage«, was er als »satzgemäßen« Gebrauch von Worten bezeichnet hatte, das bezeichnet Head als die Fähigkeit des symbolischen Ausdrucks und der symbolischen Formulierung. Aber er tut hierbei alsbald insofern einen bedeutsamen Schritt über Jackson hinaus, als er diese Funktion des Symbolischen nicht auf die Sprache allein beschränkt. Zwar ist und bleibt die Sprache sozusagen der deutlichste Exponent dieser Funktion – aber sie erschöpft nicht den Gesamtkreis ihrer Betätigungen. »Symbolisches« Verhalten findet sich vielmehr nach Head auch in solchen menschlichen Leistungen und Betätigungen, die nicht unmittelbar sprachliche Leistungen sind. So zeigt vor allem eine genauere Analyse des Handelns, daß sich auch durch die gesamte Sphäre des Tuns derselbe Gegensatz hindurchzieht, der sich im Gebiet der Sprache feststellen läßt. Es gibt eine Form des Handelns, die in unmittelbarer motorischer Betätigung besteht, die auf einen gegebenen äußeren Reiz hin gleichsam »mechanisch« ausgelöst wird: Und es gibt eine andere, die nur dadurch möglich ist, daß eine bestimmte Zielvorstellung gebildet, | daß das Ziel, auf das das Handeln geht, gedanklich antizipiert wird. Und immer spielt in diese letztere Art des Tuns eine Richtung des Denkens hinein, die dem sprachlichen Denken aufs nächste verwandt ist und die wir, zugleich mit diesem letzteren, unter dem gemeinsamen Titel des symbolischen Denkens befassen können. Die meisten unserer »willkürlichen« Bewegungen und Tätigkeiten enthalten nach Head ein derartiges »symbolisches« Element, das man deutlich erkennen und abscheiden muß, um ihrer Eigenart gerecht zu werden. Es gibt wie im Sprechen so auch im Tun eine mittelbare und eine unmittelbare, eine höhere und eine niedere Schicht. Und wieder sind es die aphasischen Erkrankungen, die uns die Grenze zwischen diesen beiden Schichten deutlich vor Augen stellen. Ein Aphasischer wird imstande sein, bestimmte Handlungen zu verrichten, wenn sie durch eine gewisse konkrete Situation veranlaßt und aus ihr heraus notwendig sind – aber er wird derartige Handlungen nicht losgelöst loss of power to propositionize. It is not only loss of power to propositionize aloud (to talk), but to propositionize either internally or externally […] We do not mean by using the popular term ›power‹ that the speechless man has lost any ›faculty‹ of speech or propositionizing […] There is no ›faculty‹ or ›power‹ of speech apart from words revived or revivable in propositions […] We must here say, too, that besides the use of words in speech there is a service of words which is not speech; hence we do not use the expression that the speechless man has lost words, but that he has lost those words which serve in speech. In brief, speechlessness does not mean entire wordlessness.«).]
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von solchen konkreten Antrieben, nicht nach freiem Belieben ausführen können. Schon Jackson hatte hierfür mehrfache Beispiele erbracht: Er hatte etwa darauf hingewiesen, daß manche Kranke nicht imstande sind, auf eine einfache Aufforderung hin, die Zunge zu zeigen, während sie die entsprechende Bewegung sofort ausführen, wenn es gilt, die Lippen anzufeuchten. Head hat die Zahl derartiger Beobachtungen erheblich vermehrt, indem er einem systematischen Plan der Beobachtung folgte – indem er, durch eine Reihe sorgfältig ausgearbeiteter Tests, die Kranken von den leichteren und »unmittelbaren« Leistungen zu den schwierigeren und »mittelbaren« aufsteigen ließ und ihr Verhalten in jedem einzelnen Fall genau bestimmte. Und er zieht hieraus den Schluß, daß es sich bei den Störungen der Sprache wie bei denen des Handelns um eine gemeinsame Grundstörung: um die Unfähigkeit der Kranken zu »symbolischem« Verhalten und symbolischer Formulierung handelt. »Unter symbolischer Formulierung und symbolischem Ausdruck«, so faßt Head seine Grundanschauung zusammen, »verstehe ich eine Art des Verhaltens, bei der irgendein sprachliches oder ein anderes Symbol zwischen dem Beginn des Akts und seiner endgültigen Ausführung eine Rolle spielt. Dies umschließt viele Verhaltungsweisen, die man gewöhnlich nicht als sprachliche anzusehen pflegt. Je näher die Aufgabe, die man dem Aphasischen stellt, einem einfachen Akt der Vergleichung steht, um so leichter wird sie gelöst werden […] dagegen wird bei jedem Akt, der eine symbolische Formulierung erfordert, die Ausführung um so mangelhafter werden, je größer der in der Aufgabe eingeschlossene Satzwert (propositional value) ist. […] Jede Ab | änderung der Aufgabe, die die Notwendigkeit der symbolischen Darstellung vermindert, wird ihre Durchführung leichter gestalten.«163 So hat die Aphasielehre von früh an eine bestimmte, auf das allgemeine Symbolproblem hinführende Richtung eingeschlagen – aber es ist ihr freilich nicht immer gelungen, diese Grundrichtung in jeder 163 Head, Aphasia, Bd. I, S. 211 f. [»By symbolic formulation and expression I understand a mode of behaviour, in which some verbal or other symbol plays a part between the initiation and execution of the act. This comprises many procedures, not usually included under the heading of the use of language […] The more nearly the task approximates to a simple act of matching, the less does it suffer in those forms of defective speech on which this work is founded. […] But any act of mental expression, which demands symbolic formulation, tends to be defective and the higher its propositional value the greater difficulty will it present. […] Any modification of the task, which lessens the necessity for symbolic representation, will render its performance easier.«].
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Phase ihres Weges festzuhalten und sie von Anfang an scharf und unzweideutig zu erkennen. Was sie hieran immer wieder hinderte, war jene Form der Psychologie, der sich die medizinische Theorie wie die klinische Beobachtung lange Zeit, fast ohne Einschränkung und Vorbehalt, verschrieben hat. Sieht man von Jackson ab, so läßt sich sagen, daß fast alle großen Forscher auf dem Gebiet der Aphasielehre zunächst von einer Vorstellung des »Geistigen« ausgingen, die ihnen durch die sensualistische Elementenpsychologie vermittelt und aufgedrängt wurde. Sie glaubten einen komplexen geistigen Akt verstanden und erklärt zu haben, wenn es gelang, ihn in seine einfachen Bestandteile aufzulösen – und sie sahen es als evident, als dogmatisch gewiß an, daß diese Bestandteile selbst in nichts anderem als in einfachen sinnlichen Eindrücken, oder in einer Summe solcher Eindrücke, bestehen könnten. Ebendiese Grundansicht aber ist es, die sie von dem eigentlichen Prinzip und Problem des »Symbolischen«, so nahe es ihnen durch die Beobachtung gebracht wurde, in der Theorie immer wieder entfernen mußte. Denn vom Sensualismus aus führt kein Weg zum Zentrum des Symbolproblems: Er ist die typisch »symbolblinde« Grundansicht.164 So blieb denn auch der Aphasielehre, solange sie sich am Leitfaden und am Gängelband der sensualistischen Psychologie bewegte, kein anderes Mittel, die Bedeutung der Sprachfunktion zu erfassen und zu bestimmen, als der Versuch, ebendiese Bedeutung in ein Aggregat sinnlicher »Bilder« aufzulösen. Aus der kombinatorischen Zusammenfassung solcher Bilder, aus einer Verbindung optischer, akustischer und kinästhetischer Empfindungen wurde die Sprache »erklärt«. Und dieser psychologischen Ansicht entsprach die physiologische: Denn für jedes Sondergebiet sinnlicher Eindrücke wurde ein eigenes Zentrum, ein bestimmt abgegrenztes Gebiet im Gehirn, als physisches Substrat gesucht und gefordert. Wernicke hat in seiner Schrift über den »Aphasischen Symptomenkomplex« (1874) und in seinem »Lehrbuch der Gehirnkrankheiten« ein eigenes Zentrum für die »Klangbilder« angenommen, das er in der ersten Schläfenwindung lokalisierte, ein anderes für die »Bewegungsbilder«, die für die richtige Artikulation | der Sprachlaute maßgebend sein sollten, dessen Sitz er in die dritte Stirnwindung verlegte; neben beiden sollte dann noch ein eigenes »Begriffszentrum« bestehen, dem die Vermittlung und Verbindung zwischen ihnen zufiel. Später sind diese Schemata noch wesentlich erweitert und differenziert worden: Jeder neue Fortschritt der klinischen Erfahrung und Beobachtung brachte ein neues, mehr und mehr kompliziertes »Dia164
Vgl. oben, S. 219 ff.
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gramm«.165 Mit dem psychologischen Begriff der »Impression«, wie er etwa bei Berkeley und Hume definiert ist, wurde hier sozusagen voller anatomisch-physiologischer Ernst gemacht. Jede Zelle im Gehirn oder jede Gesamtheit von Zellen dachte man mit einer besonderen, durch Erfahrung erworbenen Fähigkeit begabt, bestimmte Eindrücke zu empfangen und zu bewahren, um sodann die so aufgespeicherten Bilder des Gesichtssinnes, des Gehör- oder Tastsinnes mit den neu zufließenden sinnlichen Inhalten zu vergleichen. Der alte Vergleich der »Tabula rasa« kehrt wieder: Wir lernen sprechen oder lesen – so erklärt z. B. Henschen –, indem gewisse Schriftzeichen, gewisse »Engramme« in den Hirnzellen niedergelegt werden, »wie die Form des Siegelringes sich dem Wachs einprägt«.166 Betrachtet man diese ganze Entwicklung nur nach ihrer methodischen Seite, so tritt in ihr eine merkwürdige und zugleich höchst lehrreiche Anomalie hervor. Denn alle die Forscher, die diesen Weg gegangen sind, waren ohne Zweifel überzeugte »Empiristen«: Sie glaubten, indem sie ihn beschritten, ausschließlich den Tatsachen selbst zu folgen und sich all ihre Folgerungen lediglich durch die unmittelbare Beobachtung vorschreiben zu lassen. Aber wieder einmal zeigt sich hier in aller Deutlichkeit die Kluft, die zwischen »Empirismus« und »Empirie« besteht. Denn weit entfernt, daß man auf diesem Wege zu einer reinen »Deskription« der Phänomene gelangte, wurden diese jetzt von vornherein unter bestimmte theoretische Vorannahmen und Vorurteile gerückt und ihnen gemäß gedeutet. Head erhebt gegen die Schule der Diagram Makers, wie er sie nennt, geradezu den Vorwurf, daß sie auf rein spekulativem Grunde gebaut habe, daß sie, statt die Fakta unbefangen zu beschreiben, sich durch gewisse allgemeine und »apriorische« Betrachtungen habe leiten lassen.167 Ebendieser Tendenz gegenüber weist er auf Jackson zurück, der zuerst mit dieser Methode gebrochen und eine | streng phänomenologische Betrachtungsweise des Krankheitsbildes der Aphasie gefordert und durchgeführt habe.168 Eine solche Betrachtung ist einer Theorie, die das »Ver165 Charakteristisch für diese Gesamttendenz des Denkens sind besonders die Diagramme, die Ludwig Lichtheim in seiner Schrift »Ueber Aphasie« gegeben hat (Ueber Aphasie. Aus der medicinischen Klinik in Bern, in: Deutsches Archiv für klinische Medicin 36 [1885], S. 204–268). 166 Salomon Eberhard Henschen, Klinische und anatomische Beiträge zur Pathologie des Gehirns, zit. nach: Head, Aphasia, Bd. I, S. 84 [»as the form of a seal is impressed upon wax«]. 167 Head, Aphasia, Bd. I, S. 135 u. ö. 168 »Every worker on the affections of speech has claimed to deal with the ›facts‹ of each case; but no one except Jackson recognised that all the phenomena
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mögen« der Sprache in dem Besitz bestimmter Wort- und Klangbilder, das Vermögen des Schreibens und Lesens im Besitz bestimmter Schriftbilder begründet sieht und die die Aphasie, die »Agraphie« und »Alexie« auf den Verlust solcher Bilder zurückzuführen sucht, nirgends günstig. Denn hier wird der Variabilität und der Labilität der klinischen Phänomene in keiner Weise Genüge getan: Hier sucht man einen Vorgang, der nur dynamisch faßbar und beschreibbar ist, auf rein statische Elemente zu reduzieren. Wenn einem Kranken, wie die klinische Erfahrung lehrt, in einer bestimmten Situation ein gewisses Wort zur Verfügung steht, das ihm in einer anderen Situation mangelt, so läßt sich diese Differenz des Verhaltens nicht erklären, wenn man von der Zerstörung des betreffenden Wortbildes ausgeht: Denn einmal zerstört, ließe sich dasselbe nicht unter bestimmten Bedingungen zurückgewinnen.169 Beobachtungen dieser Art waren es, die die medizinische Forschung selbst mehr und mehr von der Bahn der »Hirnmythologie« – wie man jene Versuche zur Aufstellung bestimmt umgrenzter anatomischer Zentren für einzelne psychische »Vermögen« drastisch genannt hat – abgedrängt haben. In Deutschland ist es insbesondere Goldstein gewesen, der in seinen Arbeiten zur Aphasielehre von Anfang an betont hat, daß in der Deutung der aphasischen und agnostischen Störungen die phänomenologische Fragestellung im Vordergrund stehen müsse – daß erst dann, wenn durch sorgsame Einzelbeobachtung die spezifische Form der Erlebnisse eines Kranken festgestellt sei, die Frage aufgeworfen und beantwortet werden könne, welche materiellen Vorgänge im Zentralnervensystem einer bestimmten krank | haften Änderung entsprechen. Nur auf die psychologische und phänomenologische Analyse, die als solche ganz unbeirrt durch bestimmte lokalisatorische Theorien durchgeführt werden müsse, könne sich ein lokalisatorischer Versuch aufbauen.170 are primarily psychical and only in the second place susceptible of physiological or anatomical explanation.« (A. a. O., Bd. I, S. 32). 169 Einer der Goldstein schen Patienten, den ich im Neurologischen Institut zu Frankfurt zu sehen Gelegenheit hatte, konnte den »Namen« der Uhr, die ich ihm vorwies, nicht finden; antwortete aber alsbald auf meine Frage, wie spät es sei, »ein Uhr«. Das Wort »Uhr« war ihm also in seiner Funktion als »Dingname« verlorengegangen, während es ihm in andern Funktionen durchaus geläufig war. Ebenso berichtet Head von einem Kranken, der die Worte »Yes« und »No« als Antwort auf Fragen gebrauchen, sie aber nicht, wenn man sie ihm vorsprach, wiederholen konnte. Bei einem der Versuche schüttelte dieser Kranke auf die Aufforderung, das Wort »No« zu wiederholen, den Kopf und fügte sodann die Worte hinzu: »No, I don’t know how to do it.« (A. a. O., Bd. II, S. 322). 170 Kurt Goldstein, Einige prinzipielle Bemerkungen zur Frage der Lokalisa-
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Auch Pierre Marie ist in jener »Revision der Aphasiefrage«, die er im Jahre 1906 gefordert und durch die er einen neuen Weg der Forschung eröffnet hat, von einer scharfen methodischen Kritik der »Bildertheorie« ausgegangen. »Man belehre uns doch darüber, in welcher Weise die Fixierung jener berühmten Wortbilder vonstatten geht. Schreibt sich jedes Wort einzeln in dieses Zentrum für Gehörsbilder ein? Aber welch einer ungeheuren Entwicklung dieses Zentrums würde es alsdann, insbesondere bei den Vielsprachigen, bedürfen? Oder sind es vielleicht die einzelnen Silben, aus denen die Worte bestehen, die sich in diesem Zentrum fixieren? Dann würde es sich um eine leichtere Leistung und um eine solche, bei der eine geringere Zahl von Bildern erforderlich wäre, handeln: Aber es würde alsdann einer intellektuellen Arbeit bedürfen, um diese verstreuten Silben zusammenzufügen und sie wieder zu Worten zu gestalten. […] Wozu aber dann noch ein eigenes Klangbildzentrum für Worte annehmen, dessen Existenz durch nichts bewiesen wird?«171 Der wesentliche Fortschritt, den diese Grundansicht Maries in philosophischer Hinsicht bedeutete, lag darin, daß hier jeder Versuch aufgegeben war, die geistige Funktion der Sprache dadurch zu erklären, daß man sie aus rein stofflichen, aus »hyletischen« Momenten aufbaute. Die Sprache war als ein einheitliches Ganze erfaßt, das nach Marie nirgend anders als in dem einheitlichen Ganzen der »Intelligenz« seinen Ursprung haben kann. Jede Störung der Sprache weist demnach auf eine Störung der Intelligenz als ihre eigentliche Grundlage zurück. In klinischer Hinsicht unterschied Marie zwischen zwei verschiedenen Grundformen der Erkrankung. Auf der einen Seite steht nach ihm die »sensorische Aphasie« Wernickes, deren wesentliches tion psychischer Vorgänge im Gehirn, in: Medizinische Klinik. Wochenschrift für praktische Ärzte 6 (1910), S. 1363–1368; Gelb/Goldstein, Zur Psychologie des optischen Wahrnehmungs- und Erkennungsvorganges, S. 5 ff. 171 Pierre Marie, Revision de la question de l’aphasie (Extrait de la semaine médicale du 17 octobre 1906), Paris 1906, S. 7 f. [Verifiziert nach: Pierre Marie, Revision de la question de l’aphasie: que faut-il penser des aphasies sous-corticales (aphasies pures)? in: La semaine médicale 26 (1906), S. 493–500: S. 494: »Qu’on commence donc par nous dire comment se fait la fixation de ces fameuses images auditives. Est-ce chaque mot qui va s’inscrire dans ce centre auditif verbal? Mais alors quel développement énorme ne faudra-t-il pas à ce centre, surtout chez les polyglottes? Ne sont-ce pas plutôt les syllabes constituant les mots, qui se fixeront dans ce centre? La chose serait plus aisée et exigerait un moindre nombre d’images, mais il faudrait alors que toute une élaboration intellectuelle eût lieu, pour assembler ces syllabes éparses et les reconstituer en mots. […] Alors pourquoi passer par l’intermédiaire d’un centre auditif verbal, dont aucun fait ne prouve l’existence […]«].
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Symptom darin besteht, daß das Sprachverständnis des Kranken aufgehoben oder schwer geschädigt ist. Aber dieses Symptom steht niemals für sich allein: Sondern es geht stets mit einem allgemeinen intellektuellen Defekt Hand in Hand. Dieser Krankheitsform steht sodann, nach Marie, eine andere gegenüber, | die dadurch charakterisiert ist, daß das Sprachverständnis erhalten, auch die Fähigkeit zum schriftlichen Ausdruck nicht vermindert, dagegen der Gebrauch des Wortes schwer geschädigt ist. Hier haben wir es nach ihm nicht mit einer Intelligenzstörung, sondern mit einer rein artikulatorischen Störung auf zentraler Grundlage, mit einer »Anarthrie« zu tun, die sorgsam von der eigentlichen »Aphasie« (der Aphasie Wernickes) zu scheiden ist. Was diese Scheidung bisher erschwert habe, sei die Tatsache, daß es ein komplexes Krankheitsbild gebe, in dem die Symptome der echten (Wernickeschen) Aphasie und der Anarthrie sich mischen. Eine solche Mischung, ein »Syndrom« sei die Erkrankung, die man für gewöhnlich als Brocasche Aphasie oder als »subkortikale motorische Aphasie« bezeichnet habe: Die Brocasche Aphasie sei die Aphasie Wernickes, zu der eine Störung auf anderer Grundlage, eine »Anarthrie«, hinzutrete.172 Aber diese Theorie Maries unterlag nun einem doppelten Einwand und einer doppelten Schwierigkeit. Auf der einen Seite ergab sich, daß eine reine »Anarthrie« im Sinne Maries als klinische Tatsache nicht erweislich war. Auch dort, wo das Sprachverständnis des Kranken völlig erhalten schien, zeigte sich, daß eine isolierte »motorische« Aphasie nicht bestand, daß vielmehr die artikulatorischen Defekte in der Sprachäußerung stets auch von bestimmten Änderungen im geistigen Gesamtverhalten des Kranken begleitet waren. »Die motorische Störung des Anarthrikers«, so hatte Marie betont, »hat mit der eigentlichen Aphasie nichts zu tun. Der Anarthriker versteht, liest, schreibt. Sein Denken ist nicht geschädigt, und der Ausdruck des Gedankens ist auf jedem anderen Wege möglich als auf dem Wege des Wortes, da die innere Sprache hier nicht angegriffen ist.«173 Aber diese Theorie hielt der geschärften Beobachtung nicht stand: Es ergab sich vielmehr, daß auch bei solchen Kranken, die nach den Kriterien Maries als reine Anarthriker zu bezeichnen waren, bestimmte Mängel der Sprachauffassung zutage traten, sobald man die SchwieS. hierzu a. a. O., S. 33 ff. [S. 498 ff.]; vgl. insbes. die eingehende Darstellung von Maries Theorie durch seinen Schüler François Moutier, L’aphasie de Broca, Paris 1908, bes. S. 245 ff. 173 [S. Moutier, L’aphasie de Broca, S. 3: »Il n’y a rien d’aphasique dans le trouble moteur de l’anarthrique. L’anarthrique comprend, lit, écrit. Sa pensée est intacte, et l’expression en est possible par tout autre moyen que la parole, le langage intérieur n’étant pas altéré.«] 172
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rigkeit der Aufgaben steigerte. Wenn ihr Sprachverständnis und ihre Fähigkeit zur schriftlichen Äußerung auf den ersten Blick intakt erschien, so bewegte sich beides bei ihnen doch gewissermaßen auf einem andern »Niveau« als beim Normalen. Der schriftliche Ausdruck war auf der einen Seite beengt und gebot über eine relativ geringe Auswahl von Worten: Auf der andern Seite waren an Stelle der »abstrakten« Ausdrücke der Sprache konkretere, der rein sinnlichen Sphäre näherstehende Aus | drücke getreten.174 Auf der andern Seite aber erforderte ebenjene Minderung der Intelligenz, die Marie als den eigentlichen Grund der »echten« Aphasie ansah, eine nähere Bestimmung. Marie selbst war bemüht, eine solche Bestimmung zu geben, d. h., den bloßen Gattungsbegriff der »Intelligenz« durch Hinzufügung einer spezifischen Differenz zu erläutern und zu ergänzen, indem er immer wieder betonte, daß die »geistige« Erkrankung, als welche er die Aphasie ansah, nicht mit einer Demenz verwechselt werden dürfe. Er gesteht seinem Gegner Déjerine ausdrücklich zu, daß, wenn man nur die Handlungen des gewöhnlichen Lebens in Betracht ziehe, die Aphasischen sich in bezug auf diese vom Gesunden oft kaum unterscheiden. Der »intellektuelle Verfall« zeige sich erst in einem anderen Gebiet und bei schärferer methodischer Prüfung. »Die Dementen, die Paralytiker sind keine Aphasischen, wenngleich in der Demenz und in der Paralyse eine beträchtliche Herabsetzung der intellektuellen Vermögen besteht – auf der anderen Seite sind die Aphasischen keine Geisteskranken trotz der intellektuellen Mängel, die sie darbieten.« Denn nicht die Intelligenz als Ganzes, sondern nur eine gewisse Seite, gewissermaßen ein Teilaspekt von ihr, sei bei den Aphasischen gestört.175 Fragt man aber nach der näheren Charakteristik ebendieses Teilaspektes, so erhält man bei Marie und bei seinem Schüler Moutier nur die Antwort, daß hier eben ein Gebrechen der »speziellen Sprachintelligenz« (un déficit intellectuel spécialisé pour le langage) vorliege. »L’aphasie n’est pas une démence; elle peut présenter comme celle ci un déficit intellectuel général, mais elle présente en plus, et c’est ce qui la distinguera toujours des démences banales, un déficit particulier du langage.«176 Aber damit läuft freilich die Erklärung in eine bloße Tautologie aus. Welcher Art – so mußte jetzt notwendig gefragt werBelege hierfür s. bes. bei Head, Aphasia, Bd. I, S. 200 ff.; Bd. II, S. 252 ff. u. ö. Marie, Revision de la question de l’aphasie, S. 11 f. [S. 494: »Non certes les déments, les paralytiques généraux, ne sont pas des aphasiques, bien que dans la démence et dans la paralysie générale il existe une diminution intellectuelle considérable – pas plus que les aphasiques ne sont des aliénés, malgré la diminution intellectuelle qu’ils présentent.«]. 176 Moutier, L’aphasie de Broca, S. 228; vgl. bes. S. 205. 174 175
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den – ist denn ebenjenes »sprachliche« Denken, das bei den Aphasischen gestört oder gemindert sein soll, und durch welches Kennzeichen unterscheidet es sich von andern Formen und Richtungen des »Denkens überhaupt«? Gibt es vielleicht eine Schicht des alltäglichen, des »praktischen« Denkens, die jenes »symbolischen« Denkens, wie es in der Sprache herrscht, noch nicht bedarf, die sich als relativ unabhängig von ihm erweist? Und auf welche Weise lassen sich diese beiden Schichten gegeneinander abgrenzen? Die Sprachpathologie konnte, indem sie sich bei Jackson 177 und | Head, bei Goldstein und Gelb diese Fragen immer bestimmter stellte, ihre Lösung nicht in dem Sinne versuchen, daß sie von allgemeinen spekulativen Erwägungen über das Verhältnis von »Sprechen« und »Denken« ausging – sie mußte ihre Antwort auf dem umgekehrten Wege, durch die Ausbildung immer feinerer Mittel der klinischen Untersuchung und der phänomenalen Analyse der einzelnen Krankheitsfälle, zu gewinnen suchen. Aber ebendieser empirische Weg führte sie zuletzt vor Probleme, denen eine ganz universelle Bedeutung innewohnt – vor bestimmte Grundfragen, deren Lösung nicht mehr von der Häufung immer neuer Einzeltatsachen der Beobachtung, sondern nur noch von einer Erneuerung und einer Art von Umkehr der psychologischen Denkart erhofft werden konnte.
II. Die Veränderung der Wahrnehmungswelt im Krankheitsbild der Aphasie Um die Bedeutung der pathologischen Erfahrungen für die tiefere Erkenntnis der Symbolfunktion richtig zu ermessen, dürfen wir nicht in dem engeren Kreis der reinen Sprachstörungen stehenbleiben. Die klinische Beobachtung hat seit langem gezeigt, daß eine nahe Verwandtschaft zwischen den im engeren Sinne aphasischen Störungen und Störungen anderer Art besteht, die man als »agnostische« oder »apraktische« zu bezeichnen pflegt. Wir brauchen hier auf die schärfere Abgrenzung dieser Gebiete nicht näher einzugehen: Sie kann allein Sache der Einzelforschung sein. Das eine aber scheint heute in dieser Forschung selbst, trotz aller Divergenzen, die noch in der theoretischen Grundanschauung und in der theoretischen Deutung bestehen, allgemein anerkannt zu sein, daß die Krankheitsbilder, die man 177 Schon Jackson betont, daß die Frage der Aphasieforschung nicht lauten dürfe: | »How is general mind damaged?« sondern »What aspect of mind is damaged?« Vgl. Head, Aphasia, Bd. I, S. 49.
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unter dem Namen der Aphasie, der Agnosie und der Apraxie zu beschreiben pflegt, aufs engste zusammengehören. Heilbronner betont in der zusammenfassenden Übersicht, die er über die aphasischen, apraktischen und agnostischen Störungen gegeben hat, daß sich ein prinzipieller Unterschied zwischen ihnen nicht machen lasse: Die aphasischen Symptome stehen nicht als eine besondere Gruppe neben den apraktischen und agnostischen, sondern stellen nur einen Spezialfall derselben dar.178 Die Heraushebung der Aphasie als | einer selbständigen Krankheitsgruppe sei daher mehr durch ein praktisches Bedürfnis als durch rein theoretische Erwägungen zu erklären und zu rechtfertigen.179 Auch bei dem Goldstein-Gelbschen Kranken, bei dem es sich zunächst um eine rein optische »Gestaltblindheit« zu handeln schien, während das Sprachverständnis und das spontane Sprechen sich auf den ersten Blick als völlig intakt erwies, ergab die tiefer dringende Analyse höchst charakteristische Abweichungen gegenüber der Sprache des Gesunden: So konnte dieser Kranke keine »metaphorischen« Ausdrücke verstehen oder selbst gebrauchen. All das läßt es gerechtfertigt erscheinen, daß eine Betrachtung wie die unsere, die rein durch theoretische Erwägungen bestimmt wird, zwischen den einzelnen Krankheitsgruppen, die hier vorliegen, zunächst keinen scharfen Schnitt macht, sondern vielmehr ein gemeinsames Grundmoment herauszustellen sucht, in dem sie übereinkommen. Dieses selbst wird dann freilich einer genaueren Bestimmung und Differenzierung ebensowohl fähig als bedürftig sein – aber vielleicht können gerade die allgemeinen Resultate, die sich aus der Analyse der »Symbolfunktion« überhaupt gewinnen lassen, für eine derartige Differenzierung den Boden bereiten helfen, indem sich eben aus ihnen die Mannigfaltigkeit und die Abstufung der einzelnen symbolischen Leistungen, die als Bedingungen des Sprechens, des wahrnehmenden Erkennens und des Handelns anzunehmen sind, klarer überblicken läßt. Der Aufbau der Wahrnehmungswelt ist an die Bedingung gebunden, daß die Gesamtheit der sinnlichen Phänomene sich in sich selbst gliedert: D. h., daß bestimmte Zentren geschaffen werden, auf die diese Gesamtheit bezogen und nach denen hin sie gleichsam orientiert und dirigiert wird. Die Bildung solcher Zentren läßt sich in drei verschiedenen Hauptrichtungen verfolgen: Sie ist ebenso erforderlich, um die Ordnung der Phänomene nach dem Gesichtspunkt von »Ding« 178 Heilbronner, Die aphasischen, apraktischen und agnostischen Störungen, S. 1037. 179 Ders., Ueber Asymbolie, S. 47.
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und »Eigenschaft« wie ihre Ordnung im räumlichen Beisammen und im zeitlichen Nacheinander zu konstituieren. Stets handelt es sich im Vollzug und in der Herstellung dieser Ordnungen darum, die fließend immer gleiche Reihe der Erscheinungen in irgendeiner Weise zu unterbrechen und aus ihr gewisse »ausgezeichnete Punkte« herauszustellen. Was zuvor ein gleichartiger Fluß des Geschehens war, das schießt jetzt gewissermaßen in der Richtung auf diese ausgezeichneten Punkte zusammen: Mitten in der Strömung selbst bilden sich einzelne Wirbel, deren Teile durch eine gemeinsame Bewegung miteinander verknüpft erscheinen. Erst durch | die Schaffung solcher nicht sowohl statischer als vielmehr dynamischer Gesamtheiten, erst durch diese nicht sowohl substantielle als vielmehr funktionale Einheitsbildung wird die innere Bezogenheit der Phänomene aufeinander hergestellt. Denn jetzt gibt es in ihnen nichts schlechthin Einzelnes mehr: Sondern jedes Element, das in einer solchen gemeinschaftlichen Bewegung mit anderen begriffen ist, trägt das Gesamtgesetz und die Gesamtform derselben in sich und vermag sie dem Bewußtsein zu repräsentieren. An welcher Stelle wir jetzt in den Strom des Bewußtseins eintauchen mögen: Immer stehen wir alsbald in bestimmten lebendigen Strömungsmittelpunkten, auf die alle Einzelbewegungen hinzielen. Jede besondere Wahrnehmung ist gerichtete Wahrnehmung: Sie besitzt, außer ihrem bloßen Inhalt, einen »Vektor«, der sie in einer bestimmten Hinsicht, in einem bestimmten »Sinne« bedeutsam macht.180 Die Erfahrungen der Sprachpathologie können uns dazu dienen, dieses allgemeine Aufbaugesetz der Wahrnehmungswelt zu bestätigen und es von der negativen Seite her zu erproben. Denn die geistigen Grundpotenzen, auf denen die Struktur der Wahrnehmungswelt beruht, treten für uns deutlicher dort hervor, wo ihre Leistung in irgendeiner Weise verändert oder hintangehalten ist, als dort, wo sie sich unmittelbar ohne innere Hemmungen und Reibungen vollzieht. Wir können die pathologischen Fälle, wenn wir bei unserm Bilde stehenbleiben wollen, als eine Art Auflösung jener »Wirbel«, jener dynamischen Bewegungseinheiten denken, in welchen die normale Wahrnehmung sich vollzieht. Diese Auflösung kann niemals völlige Zerstörung bedeuten: Denn mit ihr wäre das Leben des sinnlichen Bewußtseins selber erloschen. Wohl aber läßt sich denken, daß dieses Leben sich in engere Grenzen einschließt, daß es, verglichen mit der Wahrnehmungswelt des Normalen, sich in kleineren und beschränkteren Kreisen bewegt. Eine Bewegung, die von der Peripherie des Wirbels anhebt, würde sich dann nicht mehr alsbald zum Mittelpunkt des180
Zur näheren Begründung s. oben, bes. zweiter Teil, Kap. II–IV.
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selben fortpflanzen, sondern sozusagen innerhalb der ursprünglichen Erregungszone verbleiben oder sich nur auf deren nähere Umgebung übertragen. Zur Bildung wahrhaft umfassender Sinneinheiten innerhalb der Wahrnehmungswelt würde es jetzt nicht mehr kommen – wohl aber könnte innerhalb der engeren Bezirke, die ihm nun zugewiesen sind, das Wahrnehmungsbewußtsein sich noch mit einer gewissen Sicherheit bewegen. Denn nicht die Schwingung dieses Bewußtseins selbst wäre angehalten, sondern nur die Amplitude dieser Schwingung wäre verengt. Auch hier wäre noch immer der einzelne | sinnliche Eindruck mit einem »Sinnvektor« versehen; aber diese Vektoren besäßen keine gemeinsame Richtung mehr auf ganz bestimmte einheitliche Hauptzentren hin, sondern würden in weit höherem Maße, als es bei der normalen Wahrnehmung der Fall ist, divergieren. Gerade eine pathologische Minderung der Sprachfunktion wird man sich stets nur von seiten einer derartigen Vorstellungsart, nicht aber durch den Ausfall bestimmter »Klangbilder« oder dergleichen, mit hinreichender Genauigkeit erklären können. Humboldt hat betont, daß die Menschen sich nicht dadurch verstünden, daß sie sich bestimmten Lautzeichen hingeben, die in allen Gliedern einer Sprachgemeinschaft denselben sinnlichen Eindruck oder gleiche oder ähnliche Vorstellungsbilder erwecken: Vielmehr werde durch das Hören des Lautzeichens immer nur in jedem einzelnen Subjekt dieselbe Taste eines gleichen Instruments angeschlagen, worauf alsdann in jedem entsprechende, nicht aber dieselben Begriffe hervorspringen. »Wird […] auf diese Weise das Glied der Kette, die Taste des Instrumentes berührt, so erzittert das Ganze, und was, als Begriff aus der Seele hervorspringt, steht in Einklang mit allem, was das einzelne Glied bis auf die weiteste Entfernung umgiebt.«181 Die ältere Sprachpathologie hat bei krankhaften Störungen des hier von Humboldt geschilderten Prozesses immer wieder angenommen, daß bestimmte Tasten des geistigen Instruments, das wir Sprache nennen, vernichtet sein müßten: während die moderne Anschauung sich mit der Feststellung begnügt, daß sie nicht mehr im gleichen Sinne ansprechen, daß sie die Bewegung des Ganzen nicht mehr, wie zuvor, auszulösen vermögen. Aber wir müssen nunmehr, um den Zusammenhang des Problems schärfer zu erfassen und genauer zu bezeichnen, über den Kreis allgemeiner Betrachtungen hinausgehen und uns den pathologischen Phänomenen in ihrer Besonderheit zuwenden. 181 Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss, S. 170 (vgl. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 103 f. [ECW 11, S. 102–104]).
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Goldstein und Gelb haben den Fall eines Patienten beschrieben und eingehend analysiert, der an einer allgemeinen Farbennamenamnesie litt. Er vermochte die allgemeinen Farbnamen – Namen wie »blau« und »gelb«, »rot« und »grün« – weder spontan richtig zu gebrauchen, noch verband er mit ihnen einen festen Sinn, wenn sie ihm von anderen dargeboten wurden. Forderte man ihn etwa auf, aus einer Reihe von Wollproben oder farbigen Papieren ein rotes oder gelbes oder grünes Muster herauszusuchen, so stand er dieser Aufgabe ratlos gegenüber: Sie hatte für ihn jeglichen Sinn verloren. Dagegen konnte kein Zweifel darüber bestehen, daß der Kranke die einzelnen Farbnuancen richtig »sah« und daß | er sie in derselben Weise wie der Gesunde voneinander unterschied. Alle Farbensinnprüfungen, denen er unterzogen wurde, ergaben übereinstimmend, daß das Unterscheidungsvermögen für Farben bei ihm voll erhalten, daß er in keiner Weise »farbenblind« war. Erst bei dem Versuch, verschiedene Farben einander zuzuordnen, sie in irgendeiner Weise zu »sortieren«, trat die charakteristische Störung heraus. Denn der Kranke verfügte, wie sich zeigte, über keinerlei festes Prinzip, nach dem er diese Zuordnung hätte vollziehen können. Während der Normale alle Farben, die irgendwie zum Grundton eines bestimmten Musters gehören, als einander »zugehörig« ansieht, faßte der Kranke immer nur solche Farben zusammen, die eine ganz nahe sinnliche Ähnlichkeit besaßen, die also entweder in bezug auf den Farbenton, in bezug auf ihre Helligkeit oder dergleichen genau übereinstimmten. Und auch hier begegnete es ihm, daß er unvermittelt von der einen Form der Zuordnung in die andere überglitt – daß er, während er zuvor Farben von gleicher Tönung zusammengestellt hatte, dazu überging, Farben von gleicher Helligkeit wie das vorliegende Muster zu wählen. Auf der anderen Seite zeigten sich jedoch bei dem Kranken auffallend gute Leistungen, wenn man sich bei der Stellung der Aufgabe nicht der allgemeinen Farbennamen bediente, sondern wenn man ihn statt dessen aufforderte, aus den vorgelegten Proben eine Nuance auszuwählen, die der Farbe eines bestimmten Gegenstandes entsprach. Hier vollzog sich die Wahl stets mit großer Sicherheit und Genauigkeit: Er wählte die Farbe einer reifen Erdbeere, des Briefkastens, des Billardtisches, der Kreide, des Veilchens, des Vergißmeinnichts usf. stets, sofern sie unter den vorliegenden Mustern zu finden war. Versuche, die in dieser Form angestellt wurden, verliefen ohne Ausnahme fehlerlos; es kam niemals vor, daß der Patient auf eine Farbe zeigte, die der Dingfarbe des genannten Gegenstandes nicht entsprach. Und ebendiese Fähigkeit ermöglichte es ihm auch, unter gewissen Bedingungen sich gegenüber den allgemeinen Farbbezeichnungen anders als sonst zu
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verhalten. Stellte man ihm etwa die Aufgabe, ein »Blau« zu wählen, so war er zwar gemäß seiner Grundstörung zunächst außerstande, mit ihr einen bestimmten Sinn zu verbinden, aber er löste sie nichtsdestoweniger gelegentlich, indem er sie gewissermaßen in eine andere, für ihn verständliche Aufgabe übersetzte. Denn da ihm der Vers »Blau blüht ein Blümelein – das heißt Vergißnichtmein« geläufig war, so war für ihn durch Hersagen desselben – und analog durch ähnliche sprachliche Wendungen, die er rein gedächtnismäßig beherrschte – ein Mittel gegeben, von dem Gebiet der allgemeinen Farbnamen in das | der konkreten Dingnamen überzugehen. Jetzt zeigte er ein Vergißmeinnicht-Blau, falls dasselbe unter den vorgelegten Mustern sich fand – aber er wählte niemals eine andere nur irgendwie nahestehende Blaunuance, die ja ebender »Gedächtnisfarbe« des Vergißmeinnichts, die seine Wahl bestimmte, nicht entsprochen hätte. Durch den gleichen Umweg konnte der Kranke auch dazu gelangen, ein Wort wie »rot« oder »grün« nicht selten als Ausdruck für eine ihm gezeigte Farbe scheinbar richtig zu gebrauchen. Dies gelang jedoch nur für solche Farben, für die ihm irgendeine stehende Redensart der Sprache – also etwa Wendungen wie schneeweiß, grasgrün, himmelblau, rot wie Blut usw. – als Hilfsmittel zur Verfügung stand. Diese Redensarten wurden dann gleich festen sprachlichen Formeln verwendet: Eine vorgezeigte Farbnuance erweckte im Kranken die Vorstellung des Blutes, und von ihr gelangte er dann vermöge eines automatischen Sprachaktes zur Aussprache des Wortes »rot«. Dieses blieb aber nach wie vor für ihn ein leeres Wort, dem keineswegs die gleiche Anschauung entsprach, die der Normale mit der Benennung »rot« verbindet. Stellt man sich nun die Frage, in welcher Hinsicht und durch welches spezifische Merkmal sich die Anschauungswelt des Kranken von der des Gesunden unterscheidet, so gelangen Gelb und Goldstein zu dem Ergebnis, daß die eigentliche Differenz darin liege, daß der Kranke nicht mehr über das Prinzip der systematischen Gliederung verfügt, durch welches die Farbwelt des Gesunden beherrscht wird. Das Vorgehen, das der Kranke bei der Zuordnung von Farben zeigt, erscheint insofern »primitiver« und »unrationeller« als das des Gesunden, als er sich bei seiner Wahl ausschließlich durch den Grad der sinnlichen Ähnlichkeit bestimmen läßt und an allen anderen Gesichtspunkten achtlos vorbeigeht. Er muß, um Farben in irgendeinem Sinn als einander zugehörig anzusehen, ein ganz bestimmtes konkretes »Kohärenzerlebnis« haben; sie müssen sich ihm in ihrer unmittelbaren Erscheinung als »gleich« oder »identisch« geben. »Jede Strähne erweckte dem Patienten ein charakteristisches Farberlebnis,
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das je nach ihrer objektiven Beschaffenheit einmal durch die Farbigkeit, ein anderes Mal durch die Helligkeit oder Zartheit usw. bestimmt war. Wenn also zwei Farben, etwa das Muster und eine Strähne des Haufens, objektiv denselben Farbenton, aber verschiedene Helligkeiten hatten, so brauchten sie dem Patienten deshalb nicht als zueinander gehörig zu erscheinen, weil […] die Helligkeit oder die Wärme prävalierte. Akzeptieren konnte er nur auf Grund eines konkreten Kohärenzerlebnisses. Das war eigentlich nur bei | identischen Farben wirklich der Fall.« Der Normale braucht, um Farben als einander zugehörig anzusehen, eine solche Identität des Eindrucks keineswegs: Sondern für ihn gehören ganz verschiedene und weit voneinander abstehende farbige Eindrücke nichtsdestoweniger ein und derselben »Farbkategorie« an. Er erblickt in einer Fülle von Rot nuancen die eine identische Spezies »Rot« und sieht jede besondere Nuance nur als ein Beispiel, nur als einen Einzelfall ebendieser Spezies an. Ebendiese Betrachtung des Einzelnen als Repräsentanten einer bestimmten Farbgattung ist dem Kranken versagt. »Der Normale«, so wird der Gegensatz von Gelb und Goldstein zusammenfassend charakterisiert, »wird beim Sortieren [von Farben] durch die Instruktion in eine bestimmte Beachtungsrichtung gedrängt. Er betrachtet instruktionsgemäß das Muster allein in bezug auf die Grundfarbe, unabhängig davon, mit welcher Intensität bzw. Reinheit sie hervortritt. Die konkrete Farbe wird hier nicht in ihrem rein singulären Sosein hingenommen, sondern mehr als Vertreter des Begriffes rot, gelb, blau usw. angesehen. Die Farbe wird aus dem anschaulich gegebenen Verbande heraus gelöst und nur als Repräsentant für eine bestimmte Farbkategorie, als Repräsentant für Röte, Gilbe, Bläue usw. hingenommen. Dieses ›begriffliche‹ Verhalten wollen wir […] als ›kategoriales Verhalten‹ bezeichnen. Den Kranken fehlt nun mehr oder weniger jedes Zuordnungsprinzip deshalb, weil ihnen dieses kategoriale Verhalten unmöglich oder erschwert ist.«182 Die Betrachtung dieses Krankheitsfalles ist für uns von besonderer Bedeutung, weil sie von einer neuen Seite her eines der allgemeinsten Hauptergebnisse unserer Untersuchung bestätigt. Immer wieder zeigte es sich uns im Verlauf dieser Untersuchung, daß schon in der Analyse und Charakteristik der reinen Wahrnehmungserlebnisse streng 182 Adhémar Gelb/Kurt Goldstein, Über Farbennamenamnesie nebst Bemerkungen über das Wesen der amnestischen Aphasie überhaupt und die Beziehung zwischen Sprache und dem Verhalten zur Umwelt, in: Psychologische Forschung. Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften 6 (1925), S. 127–186: S. 149 u. 152 f.
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geschieden werden muß zwischen dem unmittelbaren und dem mittelbaren, dem präsentativen und dem repräsentativen Gehalt dieser Erlebnisse – zwischen dem, als was sie direkt »gegeben« sind, und der darstellenden Funktion, die sie erfüllen. Was in dem hier betrachteten Fall die Farbphänomene des Kranken von denen des Gesunden unterscheidet, scheint in der Tat nicht irgendeine rein inhaltliche Beschaffenheit zu sein, die wir an ihnen aufweisen können. Der eigentliche Unterschied beruht vielmehr auf dem Umstand, daß sie nicht mehr in gleicher Weise wie diese als Darstellungsmittel fungieren können. Sie sind aus »Vektor größen« zu bloßen Zustandswerten geworden: Es | mangelt ihnen jenes »Gerichtetsein« auf bestimmte ausgezeichnete Punkte der Farbenreihe, durch die die normale Farbwahrnehmung erst ihre charakteristische Form erhält. Jedes optische Erlebnis verharrt hier gleichsam in sich selbst oder vermag sich doch nur auf Erlebnisse, die seiner nächsten Umgebung angehören, zu beziehen. Die Darstellungsfunktion bleibt in den engsten Grenzen eingeschlossen: Nur das unmittelbar Ähnliche ist imstande, sich wechselseitig zu »vertreten« und füreinander einzustehen. Hier liegt demnach ein Gesamtverhalten vor, das man in der Tat mit Gelb und Goldstein als das konkretere, »lebensnähere« bezeichnen kann, das aber ebendiese Nähe mit dem Mangel an jeglicher Freiheit des Überblicks erkauft. Denn ebendiese Freiheit gewinnt die Wahrnehmung erst, indem sie sich fortschreitend mit symbolischem Gehalt erfüllt – indem sie sich in bestimmte Formen der geistigen Schau einstellt und spontan von der einen in die andere übergeht. Dies ist nur möglich, wenn der Blick nicht bloß an dem einzelnen sinnlichen Eindruck haftet, sondern wenn er das Einzelne sozusagen nur als Wegweiser benutzt, der ihm den Weg zum Allgemeinen, zu bestimmten theoretischen Bedeutungszentren weist. Die deutsche Sprache faßt diesen Doppelprozeß mit einer höchst charakteristischen und glücklichen sprachlichen Wendung in das eine Wort des »Absehens« zusammen. Indem wir eine Farbe von bestimmter Helligkeit und Tönung nicht nur als dieses einzelne, hier und jetzt gegebene Farberlebnis nehmen, sondern indem wir sie als einen Sonderfall der Spe zies Rot oder Grün bestimmen, richten wir uns mit ihr auf diese Spezies hin – wir haben nicht sowohl sie selbst als vielmehr diese Spezies, für die sie uns nur als Repräsentant gilt, im Blickpunkt des Bewußtseins. Aber sofern wir es in dieser Weise auf die Spezies Rot und Grün »abgesehen« haben, müssen wir auch von einer Fülle individueller Umstände, die sich im sinnlich-gegenwärtigen Eindruck vorfinden, »absehen« lernen. Beides ist dem Kranken nicht mehr in gleicher Weise wie dem Gesunden möglich. Es fehlen ihm die festen Mittel-
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punkte, auf die hin er die Farbwelt zur Einheit zusammenschaut – und es fehlt ihm andererseits die Möglichkeit, aus dem konkreten Ganzen des Farberlebnisses ein Moment herauszulösen, während er von anderen Momenten, die mit diesem unmittelbar verschmolzen sind, absieht. Zwar kann auch er die Richtung der Beachtung wechseln: Er kann bei der Zuordnung von Farben bald von der Übereinstimmung im Grundton, bald von der in der Helligkeit ausgehen. Aber in diesem Wechsel ist er selbst nicht frei: Er gleitet bald in die eine, bald in die andere »Beachtungsrichtung« über, ohne daß er spontan eine von ihnen festzuhalten und die an | dere auszuschalten vermag. Auch wenn man versucht, den Kranken von außen her in eine bestimmte Beachtungsrichtung zu zwingen, vermag er deren charakteristischen »Sinn« nicht zu erfassen – vermag er nicht dauernd auf den ihm gewiesenen Fixationspunkt hinzublicken, sondern verliert ihn immer wieder aus den Augen.183 So lebt und webt er im augenblicklichen Eindruck, aber er bleibt auch in ihm verhaftet und verstrickt.184 Es ist eine Grundfähigkeit des normalen Wahrnehmungsbewußtseins, daß es nicht nur mit bestimmten »Bedeutungsvektoren« erfüllt und durchsetzt ist, Näheres a. a. O., bes. S. 150 f. Es sei mir erlaubt, hierfür ein weiteres markantes Beispiel anzuführen. Durch Herrn Prof. Heinrich Embden, dem ich auch an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen möchte, hatte ich Gelegenheit, im Barmbeker Krankenhaus in Hamburg einzelne Fälle von Aphasie zu sehen, bei deren einem dem Kranken, um sein Verständnis für Schriftzeichen zu prüfen, ein Zettel vorgelegt wurde, auf dem der Name der Firma, bei der er früher als Angestellter beschäftigt war, geschrieben stand. Der Arzt hatte den Namen dieser Firma als »X und Y« angegeben, während die genaue Bezeichnung vielmehr »X, Y und Co.« lauten mußte. Der Kranke, der spontan fast gar nicht zu sprechen vermochte, schüttelte, nachdem er den Zettel gelesen, den Kopf und wies durch Gesten darauf hin, daß am Ende noch etwas hinzuzufügen sei. Aber auch nachdem diese Zufügung geschehen, der Firmenname also als »X Y und Co.« bezeichnet war, zeigte er sich nicht völlig befriedigt, sondern gab zu verstehen, daß zwischen dem Namen X und dem Namen Y noch etwas fehlte. Es dauerte einige Zeit, ehe die beobachtenden Ärzte diesen Mangel entdeckten und durch seine Verbesserung den Patienten zufriedenstellen konnten: Es zeigte sich nämlich, daß das Komma zwischen den beiden ersten Namen fortgelassen worden war. Hier erwies sich also deutlich, wie für den Kranken ein Umstand, der für den Gesunden gänzlich belanglos ist, die gleiche Wichtigkeit wie jeder sonstige Zug im konkreten Gesamterlebnis besitzt: Statt sich der Bedeutung der Schriftzeichen hinzugeben, bleibt er am Bilde als solchem haften. Der Unterschied zwischen dem, was Goldstein und Gelb als bloßes »Kohärenzerlebnis«, und dem, was sie als »kategoriales Verhalten« bezeichnen, scheint mir hierdurch vortrefflich beleuchtet zu werden: Das sinnliche Kohärenzerlebnis ist ohne das Komma nicht vollständig, während das »kategoriale Verhalten«, für das die Schriftzeichen bloße Darstellungsmittel sind, von ihm absehen kann und muß. 183 184
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sondern daß es dieselben im allgemeinen auch frei zu variieren vermag. Wir können etwa ein optisches Gebilde, das uns dargeboten wird, bald unter dem einen, bald unter dem andern »Gesichtspunkt« betrachten, es im »Hinblick« auf ein Moment oder im Hinblick auf ein anderes erfassen und bestimmen. Und jedesmal tritt an ihm, wenn die Form der Bestimmung wechselt, etwas anderes als »wesentlich« heraus; jedesmal wird an ihm, dank der neuen »Sicht«, etwas anderes »sichtbar«.185 Abermals kann hier die Frage gestellt werden, ob der neue »Freiheitsgrad«, den die Wahrnehmung in ihrer rein repräsentativen Leistung ge | winnt, der Sprache verdankt wird – oder ob er vielmehr die Sprache selbst erst ermöglicht. Was ist hier das Prius, was das Posterius – was ist das Ursprüngliche, was das Abgeleitete? Auch Goldstein und Gelb haben sich diese Fragen gestellt, und sie entscheiden sich dahin, daß hier nicht das Verhältnis einer einseitigen Abhängigkeit, sondern ein reines Wechselverhältnis anzunehmen sei. Zwar das eine scheint ihnen nicht fraglich, »daß die Sprache eines der wirksamsten Mittel darstellt, sich von dem primitiven, lebensnäheren Verhalten […] abzuwenden und sich auf das kategoriale Verhalten umzustellen«. Dennoch verzichten sie darauf, die Sprache als den eigentlichen Grund dieses Verhaltens anzusehen. »Die Tatsachen der Pathologie«, so betonen sie, »lehren uns nur, daß Namenamnesie und das Fehlen des kategorialen Verhaltens miteinander einhergehen, nichts aber darüber, was davon primär und was sekundär ist […] Kategoriales Verhalten und Haben der Sprache in ihrer signifikativen Bedeutung ist der Ausdruck ein und desselben Grundverhaltens. Keines von beiden dürfte Ursache oder Wirkung sein. Eine Beeinträchtigung dieses Grundverhaltens und ein dementsprechendes Herabsinken auf ein primitiveres, lebensnäheres Verhalten erscheint uns als die Störung, die sämtliche Symptome, die wir bei unseren Kranken finden, zustande kommen läßt.«186 In der Tat kann es sich, wenn man den durchgängigen Zusammenhang zwischen Sprachstruktur und Wahrnehmungsstruktur aufzuweisen und zu verstehen sucht, hierbei nicht um kausale Feststellungen, um Verhältnisse von »Ursache« und »Wirkung«, handeln. Worauf es wesentlich ankommt, das ist nicht ein zeitliches Verhältnis des »Früher« und »Später«, sondern ein sachliches Verhältnis der »Fundierung«. In diesem Sinne haben wir, in der Analyse der Sprache, drei verschiedene Schichten zu unterscheiden gesucht, die wir als die Phase des sinnlichen, des anschaulichen und des rein begrifflichen Ausdrucks 185 186
Näheres s. oben, bes. S. 178 ff. Gelb/Goldstein,ÜberFarbennamenamnesie,S. 155 ff. [Zitate S. 155 u. 157 f.].
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gegeneinander abzugrenzen suchten.187 Diese Abgrenzung war nicht sprachgeschichtlich gemeint – als nähmen wir an, daß sich in der historischen Entwicklung der Sprache eine Sukzession verschiedener Sprachstufen feststellen lasse, deren eine den rein sinnlichen, deren andere den rein anschaulichen oder begrifflichen »Typus« in sich verkörperte. Dies wäre schon deshalb widersinnig, weil das Gesamtphänomen der Sprache erst durch das Ganze ihrer geistigen Aufbaumomente konstituiert wird – dieses Ganze also in der »primitivsten« Sprache ebensowohl wie in der höchstentwickelten | als gegenwärtig angesehen werden muß. Nicht darum also konnte es sich handeln, die Momente real gegeneinander zu isolieren, sondern nur das wechselnde dynamische Verhältnis zu betrachten, das sie zueinander eingehen können. Jetzt müssen wir uns die Frage stellen, wieweit ebendiese Betrachtungsweise, die wir zur geistigen Orientierung in der Welt der Sprache gebraucht haben, sich auch für die Welt der Wahrnehmung als möglich und als fruchtbar erweist. Läßt sich auch hier von einer Art ideeller »Schichtung« sprechen, wie sie sich am Bau der Sprache aufweisen ließ? In ihrem rein statischen Zustand, in der Verfestigung, in der uns das Ganze der Wahrnehmungswelt zunächst gegeben und in der es immer schon nach bestimmten sprachlichen Begriffen und Kategorien abgeteilt ist, läßt sich eine solche Schichtung nur schwer erkennen. Aber weit klarer und deutlicher tritt sie dort hervor, wo der sprachliche Schematismus gelockert ist und wo uns eben damit auch die Wahrnehmung gleichsam im Zustand eines nicht sowohl statischen als vielmehr labilen Gleichgewichts entgegentritt. Und eben hierin liegt für uns der methodische Wert der Sprachpathologie, daß sie uns solche Fälle »labilen« Gleichgewichts vor Augen stellt. Man ist schon früh in der Sprachpathologie selbst darauf aufmerksam geworden, daß der »Abbau« der Funktionen, der hier zu beobachten ist, nicht willkürlich verläuft, sondern daß er einem bestimmten Plan zu folgen scheint. Schon Jackson wies darauf hin, daß die Veränderungen weit mehr das Gebiet der »höheren Sprache« als das der »niederen Sprache« betreffen – daß sie nicht sowohl auf die emotionale Seite des Sprachlebens als auf seinen rein »intellektuellen« Aspekt sich beziehen.188 Es gehört zu den sichersten Beobachtungen der Sprachpathologie, daß ein Kranker bestimmte Worte und Sätze, die er in rein »objektiver«, darstellender Absicht nicht mehr zu gebrauchen versteht, nichtsdestoweniger richtig verwendet, sobald sie im Ganzen der Rede einen andern 187 Näheres s. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 132 ff. [ECW 11, S. 133 ff.]. 188 Vgl. oben, S. 243–245.
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Sinn haben, sobald sie ihm zum Ausdruck von Affekten und Gemütsbewegungen dienen sollen.189 Und auch innerhalb des Bereichs der reinen Darstellung selbst pflegt eine bestimmte Verschiebung einzutreten: in der Art, daß an Stelle »abstrakter« Ausdrücke »konkrete« Ausdrücke, an Stelle »allgemeiner« Ausdrücke partikulare und individuelle treten und daß eben hierdurch das Ganze der Rede, gegenüber der Sprache des Gesunden, eine vorwiegend »sinnliche« Färbung erhält. Statt solcher Sprachbegriffe, die eine rein gedankliche Beziehung und Bestimmung in sich schließen, werden andere gebraucht, | die irgendwie das Gepräge des »Sinnfälligen« an sich tragen: Der »pittoreske« Ausdruck überwiegt, während alles rein Bedeutungsmäßige in größerem oder geringerem Maße verdrängt wird.190 Im Gebiet der Wahrnehmungswelt tritt dies besonders in dem Wechsel der Farbbezeichnungen hervor. Gleich dem Amnestisch-Aphasischen von Goldstein und Gelb hatten viele Patienten Heads den Gebrauch der all gemeinen Farbnamen – der Namen für »rot« und »gelb«, für »blau« und »grün« – vollständig verloren, während ihr Farbensinn durchaus intakt war. Was ihnen dagegen statt dieser allgemeinen Bezeichnungen zur Verfügung stand, waren die Namen für bestimmte Gegenstands farben: Sie gaben die Farben eines ihnen vorgezeigten Musters dadurch an, daß sie erklärten, daß es »wie Gras«, »wie Blut« usf. aussehe. Häufig traten auch für diese gegenständlichen Bezeichnungen andere ein, die sich auf den Gebrauch der Farbe bezogen: So ersetzte einer der Patienten Heads das Wort »schwarz« (»black«), das er nicht finden konnte, durch das Wort »tot« (»dead«), weil schwarz die Farbe der Trauer um die Toten ist.191 Hier tritt klar erkennbar eine bestimmte Richtung des Wahrnehmungsbewußtseins hervor, die einer Grundrichtung innerhalb des Sprachbewußtseins parallel läuft. Denn auch die Sprache ist zur Fixierung allgemeiner Farbbezeichnungen nicht unmittelbar gelangt, sondern hat mit konkret-gegenständlichen Bezeichnungen begonnen. Die Sprachen der Naturvölker
Mannigfache Belege hierfür finden sich bei Head, Aphasia; vgl. z. B. Bd. I, S. 38 f., 385 f. u. s. 190 Beispiele dieses Überwiegens des »pittoresken« Ausdrucks finden sich in den Krankheitsgeschichten bei Head häufig: Vgl. z. B. die Krankheitsgeschichte Nr. 17, a. a. O., Bd. II, S. 252; s. auch Bd. I, S. 200. 191 S. Heads Krankengeschichte Nr. 2, a. a. O., Bd. II, bes. S. 25 u. 28; ein anderer Kranker Heads (Nr. 22), der vor seiner Erkrankung Häusermaler gewesen war, konnte die Farbproben, die ihm vorgelegt wurden, nicht benennen, beschrieb aber sehr genau, aus welchen Materialien und in welcher Art jede einzelne Farbe hergestellt werden könne; vgl. Bd. I, S. 527, Bd. II, S. 337. 189
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scheinen in ihrer Mehrzahl überhaupt kein anderes Mittel für den Ausdruck des Unterschiedes farbiger Qualitäten zu besitzen, als daß sie dieselben nach den Gegenständen benennen, an denen sie anzutreffen sind.192 Erscheinungen wie diesen kann man nur dann gerecht werden, wenn man sich beständig gegenwärtig hält, daß jener Prozeß, kraft dessen die einzelnen Momente der Wahrnehmung rein repräsentativen Charakter erhalten, kraft dessen sie sich mit einem bestimmten »Darstellungssinn« erfüllen, als solcher unabschließbar ist – daß wir niemals seinen Anfang und sein | Ende fixieren, sondern immer nur einzelne Gesamtstadien aus ihm herausheben und sie gemäß einer bestimmten ideellen Stufenfolge ordnen können. Versuchen wir dies, so ergibt sich auf beiden Seiten, auf der Seite der anschaulichen wie auf der der sprachlichen Gliederung, ein in allen Hauptzügen übereinstimmendes Bild. Auch die Betrachtung der sprachlichen »Begriffsbildung« zeigt uns immer wieder, daß sie mit konkret-sinnlichen Bezeichnungen beginnt, um sich von ihnen aus allmählich den Weg zum rein beziehentlichen und zum abstrakt bedeutungsmäßigen Ausdruck zu bahnen. Alle sprachlich »primitive« Begriffsbildung ist daher von der höheren vor allem durch ihre Mannigfaltigkeit, durch die außerordentlich reiche Besonderung der Sprachbegriffe unterschieden, die sich noch nicht um feste Einheitspunkte herum kristallisieren. Ein und dieselbe »Gattung« natürlicher Wesen oder ein und derselbe Vorgang – wie der des Sitzens oder Gehens, des Essens oder Trinkens, des Schlagens oder Brechens – wird je nach den besonderen begleitenden und modifizierenden Umständen, die ihn jeweilig abwandeln können, durch ein besonderes Wort bezeichnet. »Stellt man sich die Gesamtheit der Anschauungswelt«, so haben wir dies Verfahren zu charakterisieren versucht, »als eine gleichförmige Ebene vor, aus der durch den Akt der Benennung fort und fort bestimmte Einzelgestalten herausgehoben und gegen ihre Umgebung abgesondert werden, so betrifft dieser Prozeß der Bestimmung zunächst immer nur einen einzelnen, eng begrenzten Teil dieser Ebene. [N]och hat jedes Wort nur seinen eigenen, relativ beschränkten Aktionsradius, jenseits dessen seine Kraft erlischt. Es fehlt an der Möglichkeit, eine Mehrheit und Verschiedenheit von Bedeutungskreisen selbst wieder zu einem neuen, durch eine einheitliche Form bezeichneten sprachlichen Ganzen 192 In der Ewe-Sprache dient, wie Diedrich Westermann in seiner Ewe-Grammatik (Grammatik der Ewe-Sprache, Berlin 1907, S. 78) anführt, das Wort »unreife Limone« als Bezeichnung für »grün« – das Wort »reife Limone« als Bezeichnung für »gelb«: ein genaues Analogon zu dem eben angeführten Sprachgebrauch der Headschen Aphasiker.
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zusammenzufassen. Die Kraft der Gestaltung und Absonderung, die in jedem einzelnen Wort beschlossen ist, setzt ein, aber sie gelangt frühzeitig an ihr Ende, und nun muß in einem neuen und selbständigen Ansatz ein neuer Umkreis der Anschauung erschlossen werden. Durch die Summierung all dieser verschiedenen Einzelimpulse, deren jeder sich für sich allein und unabhängig auswirkt, kommt es allenfalls zu kollektiven, nicht aber zu wahrhaft generischen Einheiten. Die Totalität des sprachlichen Ausdrucks bildet hier, sofern sie erreicht wird, selbst nur ein Aggregat, nicht aber ein in sich gegliedertes System; die Kraft der Gliederung hat sich in der einzelnen Benennung erschöpft und reicht zur Bildung übergreifender Einheiten nicht aus.«193 | Durch die Betrachtung der Tatsachen der Sprachpathologie gewinnt nunmehr dieser Sachverhalt für uns eine neue unvermutete Bestätigung. Die Farbwelt eines Kranken, der an einer allgemeinen Farbennamenamnesie leidet, unterscheidet sich von der des Gesunden in der Tat eben dadurch, daß ihr die übergreifenden Einheiten mangeln, die für diese letztere bestehen. Sie trägt, verglichen mit ihr, durchaus den Charakter der vorwiegenden Nuancierung, der Mannigfaltigkeit und der schillernden Buntheit. Auch der Normale kann, wie Goldstein und Gelb hervorheben, den Eindruck einer derartigen Buntheit in sich erwecken, wenn er mit dem vorgelegten Muster einfach über den Haufen der Farbproben hinwegfährt und sich dabei möglichst passiv verhält. »Wir haben dann nicht das Erlebnis einer ganz bestimmten Einstellung, etwa auf einen bestimmten Farbenton, sondern fühlen uns den sich aufdrängenden Kohärenzerlebnissen ausgeliefert. […] Mit einem Schlage ändert sich aber der gesamte phänomenale Hergang, wenn wir zum instruktionsgemäßen Sortieren übergehen. Der Haufen selbst, der uns vorher als ein buntes Durcheinander erschien, erfährt jetzt eine besondere Differenzierung: die zur Kategorie des Grundtons des Musters gehörigen Farben heben sich gegenüber den anderen ab, die dazu nicht gehörigen werden im Verhältnis zu den dominierenden gleichgültig; sie werden einfach nicht ›beachtet‹.«194 Man sieht: Es sind Unterschiede der Bedeutsamkeit, der »Relevanz«, vermöge deren die Wahrnehmungswelt wie die Sprachwelt erst ihre systematische Gliederung erhält. Ob bei diesem Prozeß die neue Form der Wahrnehmung vorangeht und auf diese erst die Sprachform folgt – oder ob der umgekehrte Prozeß gilt, ob erst die Sprache es ist, die diese Form erschafft: diese Frage braucht uns jetzt 193 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 260 f. [ECW 11, S. 266]. 194 Gelb/Goldstein, Über Farbennamenamnesie, S. 151 f.
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nicht mehr zu bekümmern. Denn für uns handelt es sich ebendarum, zu erkennen, daß hier eine wirkliche Scheidung nicht möglich ist – daß die »Sprache der Sinne« und die reine Lautsprache sich an- und miteinander entwickeln. Sicherlich ist es, um Gebilde der Wahrnehmungswelt oder Anschauungswelt sprachlich zu bezeichnen, unerläßlich, daß sie zuvor in einer bestimmten »Sicht« zusammengefaßt werden – aber andererseits erhält ebendiese Art der Sicht ihre Beständigkeit und ihre Dauer erst dadurch, daß sie sich im Sprachlaut fixiert. Die so geschaffenen Einheiten wären jederzeit wieder dem Untergang und dem Zerfall ausgesetzt, wenn das Band der Sprache sie nicht zusammenhielte. Was die »Sinnlichkeit« rein in sich selbst begonnen hat, das bringt erst der »Sinn« der Sprache zum Abschluß – was dort intendiert war, das ist hier erreicht. Und damit erst | ist auch einer der Haupteinwände beseitigt, den die Skepsis alter und neuer Zeit von jeher gegen die Sprache und gegen ihren spezifischen Erkenntniswert erhoben hat. Was man ihr vorhielt, war immer wieder die Tatsache, daß ihr die eigentliche Wirklichkeit, die Wirklichkeit der unmittelbaren Erlebnisse, für immer verschlossen bleiben müsse, weil sie der Fülle und der Individualität dieser Wirklichkeit nicht gewachsen sei. Wie vermöchte eine beschränkte Anzahl allgemeiner Zeichen diese Fülle zu fassen und abzubilden? Was in diesem Einwand übersehen wird, ist der Umstand, daß die Tendenz zum »Allgemeinen«, die man hier der Sprache zur Last legt, keineswegs ihr allein angehört, sondern daß sie schon in der Form der Wahrnehmung selbst begründet und beschlossen liegt. Würde die Wahrnehmung nicht ein ursprünglich symbolisches Element in sich schließen, so würde sie auch für die Symbolik der Sprache keinen Halt und keinen Ansatzpunkt darbieten. Das πC3τον ψε2δος der skeptischen Sprachkritik besteht daher eben darin, daß man das Allgemeine erst im Begriff und im Wort der Sprache beginnen läßt, während man die Wahrnehmung als ein durchaus Einzelnes, als ein schlechthin Individuelles und Punktuelles, nimmt. Auf diese Weise bleibt freilich zwischen der Welt der Sprache, die eine Welt von »Bedeutungen« ist, und der der Wahrnehmung, die als ein Aggregat einfacher »Empfindungen« angesehen wird, eine unübersteigliche Kluft bestehen. Aber die Frage nimmt sofort eine andere Gestalt an, wenn man sich einmal klargemacht hat, daß der Schnitt, der hier zwischen der Wahrnehmungswelt und der Sprachwelt geführt wird, in Wahrheit zwischen der Welt der »Empfindung« und der der Wahrnehmung zu machen wäre. Jede bewußte, in sich selbst gegliederte Wahrnehmung steht schon jenseits der großen geistigen »Krisis«, die man hier mit der Sprache beginnen läßt. Sie ist nicht mehr rein passiv, sondern aktiv, nicht mehr rezeptiv, sondern
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»selektiv«, nicht vereinzelt und vereinzelnd, sondern auf ein Allgemeines gerichtet. So bedeutet, so besagt, so meint sie in sich selbst etwas – und die Sprache knüpft an diese erste Bedeutungsfunktion nur an, um sie nach allen Seiten hin zur Durchführung und Vollendung zu bringen. Das Wort der Sprache expliziert dasjenige, was implizit an Darstellungswerten, an repräsentativem Gehalt in der Wahrnehmung selbst gelegen ist. Die schlechthin individuelle, die bloß singuläre Wahrnehmung dagegen, die der Sensualismus und mit ihm die skeptische Sprachkritik als höchste Norm, als ein Ideal der Erkenntnis aufstellen zu können glaubten: sie ist im Grunde selbst nichts anderes als ein – pathologisches Phänomen; ein Phänomen, das dann | eintritt, wenn die Wahrnehmung ihren Halt an der Sprache zu verlieren beginnt und wenn ihr damit der wichtigste Zugang zum Reich des Geistigen verschlossen wird.
III. Zur Pathologie der Dingwahrnehmung Unter dem Begriff der optischen oder taktilen Agnosie faßt die Pathologie eine Reihe von Störungen zusammen, die das gemeinsame Merkmal haben, daß in ihnen das wahrnehmende Erkennen von Gegenständen eine schwere Schädigung erfahren hat. Die sinnliche Unterscheidungsfähigkeit als solche scheint in Fällen dieser Art intakt geblieben zu sein oder doch keine wesentliche Beeinträchtigung erfahren zu haben. Der Kranke scheint, wenn man die Prüfung derart vornimmt, daß man seine Fähigkeit untersucht, einzelne optische oder taktile Qualitäten zu erfassen und voneinander zu unterscheiden, vom Gesunden auf den ersten Blick nicht wesentlich unterschieden. Er sondert das »Rauhe« vom »Glatten«, das »Harte« vom »Weichen«, das »Helle« vom »Dunklen«, das »Farbige« vom »Farblosen« ab – ohne jedoch alle diese Data in der gleichen Weise wie der Gesunde für das Erkennen von Objekten verwerten zu können. Gibt man einem Kranken, der an taktiler Agnosie leidet, einen Gegenstand, der ihm bekannt und aus dem täglichen Leben vertraut ist, in die Hand, so vermag er zwar anzugeben, daß er sich kalt und glatt und schwer anfühlt, nicht aber, daß es sich um ein Geldstück handelt – daß er weich, warm und leicht, nicht aber, daß er ein Stück Watte ist usf. Hierbei ist es besonders auffallend, daß die Störung auf einen bestimmten Umkreis des wahrnehmenden Erkennens beschränkt zu sein pflegt, außerhalb dessen der Erkennungsprozeß in genau derselben Weise wie beim Gesunden verläuft. So tritt z. B. die taktile Agnosie zumeist als eine Störung auf, die auf eine Hand beschränkt bleibt:
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Ein Objekt, das der Kranke etwa in der linken Hand gehalten hat und das er hier nur als schwer, als hart, als kalt und glatt zu bezeichnen vermochte, wird sofort als »Uhr« erkannt und benannt, sobald man es dem Kranken in die rechte Hand gibt. Im ganzen läßt sich also die Gesamtstörung derart beschreiben, daß die Data bestimmter Sinneskreise für den Kranken zwar noch in irgendeiner, wenngleich vielleicht modifizierter Weise bestehen, aber daß sie für ihn nicht mehr in derselben Weise wie für den Gesunden einen Index der Gegenständlichkeit an sich tragen.195 Besonders deutlich tritt | dieser Charakter der Störung auf optischem Gebiet, in den Fällen der sogenannten »Seelenblindheit« hervor. Denn der Seelenblinde »sieht«: Er erfaßt Unterschiede der Helligkeit, der Farbe mit derselben Schärfe wie der Normale, und er pflegt, zum mindesten in den weniger schweren Fällen, auch einfache Größenunterschiede und Unterschiede der geometrischen Form richtig aufzufassen. Er gelangt indes – soweit er auf die optischen Daten allein angewiesen ist – nicht zu irgendeiner Erkenntnis von Objekten und dem, was sie gegenständlich sind und bedeuten. Hier kommt es ständig zu den gröbsten Verwechslungen: Ein Kranker, über den Lissauer eingehend berichtet hat, sah einen Regenschirm für ein Gewächs mit Blättern, ein anderes Mal für einen Bleistift an, während er einen bunten Apfel für das Porträt einer Dame hielt und dergleichen. Oft schien dieser Kranke einen Gegenstand zu »erkennen«, aber es zeigte sich alsdann, daß er seine Bedeutung nur an irgendeinem einzelnen Merkmal, an einem »diagnostischen Zeichen« erraten hatte, ohne irgendein optisches Gesamtbild von ihm als gegliedertes Ganzes zu besitzen. So wurde z. B. in einzelnen Fällen ein Bild zutreffend als Darstellung eines bestimmten Tieres angegeben, aber es gelang dem Kranken nicht, die Kopf- oder Schwanzseite richtig zu bezeichnen.196 Wir erfassen hierin sofort ein gemeinsames Moment, das diese Krankheitsfälle mit den früher betrachteten verknüpft, sosehr sie sich andererseits in ihren Einzelzügen und in ihrem klinischen Über die Frage, ob es Fälle taktiler Agnosie gibt, die mit keinerlei Sensibilitätsstörungen innerhalb der Hand verbunden sind, lauten, soweit ich sehe, die Angaben in | der medizinischen Literatur nicht übereinstimmend. Heilbronner (Die aphasischen, apraktischen und agnostischen Störungen, S. 1046) faßt den Stand der Frage dahin zusammen, daß in den typischen Fällen von »Tastlähmung« immer auch irgendeine Beeinträchtigung der Sensibilität sich beobachten lasse, die aber in keinem Verhältnis zu der Schwere in der Störung des taktilen Erkennens steht. Diese letztere lasse sich also in keiner Weise auf die Sensibilitätsstörung reduzieren und aus ihr zur Genüge verstehen. 196 Heinrich Lissauer, Ein Fall von Seelenblindheit nebst einem Beitrage zur Theorie derselben, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 21 (1890), S. 222–270: S. 239. 195
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Gesamtbilde von diesen unterscheiden. Denn auch hier handelt es sich um eine charakteristische Störung im Bereich der Bedeutungserlebnisse. Damit aber sehen wir uns abermals von seiten der Pathologie auf eine Frage geführt, die weit über deren eigenen Umkreis herausgreift und die ihre Klärung und Entscheidung nur vor einem allgemeineren Forum der Erkenntnis finden kann. Die Analyse des Gegenstandsbewußtseins bildet eine der Grund- und Hauptaufgaben der neueren Philosophie. Kein Geringerer als Kant ist es, der in ihr das wichtigste Anliegen der gesamten theoretischen Philosophie gesehen hat. In jenem berühmten Briefe Kants an Markus Herz, | vom Jahre 1772, der die gesamte spätere Problemstellung der Vernunftkritik im Keime in sich schließt, wird die Frage nach der Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand als der »Schlüßel zu dem gantzen Geheimnisse, der bis dahin sich selbst verborgenen Metaphys[ik]« bezeichnet.197 Aber auch den Vorgängern Kants fehlte keineswegs die Einsicht in dieses Problem – sie alle sehen es vielmehr als ein eigentliches Radikalproblem an, um dessen Lösung sie sich mit immer neuen Mitteln bemühen. So stark all diese einzelnen Lösungsversuche voneinander abweichen, so bewahren sie doch insofern einen inneren Zusammenhang, als sich in ihnen allmählich immer schärfer und klarer ein bestimmter methodischer Grundunterschied heraushebt. Zwei verschiedene prinzipielle Lösungsmöglichkeiten, zwei typische Antworten sind es, auf die alle diese Versuche immer wieder zurückführen. Auf der einen Seite wird die Aufhellung der Frage von der »Vernunft«, auf der anderen wird sie von der »Erfahrung« erwartet und gefordert. Die Kluft, die die bloße »Vorstellung« von dem »Gegenstand«, auf den sie hinweist, trennt, soll bald durch eine rationalistische, bald durch eine empiristische Theorie geschlossen werden. In dem ersten Falle ist es eine rein logische Funktion, die zwischen beiden Momenten die Brücke schlagen soll; im zweiten Fall wird die gesuchte Verknüpfung dem Vermögen der »Einbildungskraft« zugewiesen. Was der Vorstellung ihren »objektiven« Wert, ihre gegenständliche Bedeutung geben soll: das ist bald ein reiner Denkprozeß, der an sie anknüpft, bald ein assoziativer Prozeß, der sie mit anderen ihresgleichen verbindet. Das eine Mal ist es ein Schluß – insbesondere ein Schluß von der »Wirkung« auf die »Ursache« –, der ins Reich der Gegenständlichkeit hinüberführen und es gewissermaßen erobern soll – das andere Mal erscheint der Gegen197 [Immanuel Kant, Brief an Markus Herz vom 21. Februar 1772, in: Werke, Bd. IX, hrsg. v. Ernst Cassirer, Berlin 1918, S. 102–108: S. 103.]
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stand zuletzt als nichts anderes denn als ein Aggregat von sinnlichen Einzelheiten, die nach bestimmten Regeln untereinander verknüpft sind. Der Grundmangel dieser beiden Theorien aber, die in der Geschichte der Erkenntnistheorie und in der der Psychologie dauernd um die Herrschaft gerungen haben, besteht darin, daß sie in dem Bemühen, eine Erklärung des Gegenstandsbewußtseins zu gewinnen, den reinen Gehalt desselben immer schon in irgendeiner Weise umgestalten und willkürlich modifizieren müssen. Beide treffen zuletzt nicht mehr das reine Phänomen selbst, sondern sie suchen es gewaltsam nach ihren eigenen Voraussetzungen zurechtzurücken. Die Tatsache, daß in einem bestimmten Wahrnehmungserlebnis ein Gegenstand »sich darstellt« – daß in ihm, als einem hier und jetzt Gegebenen, ein nichtgegebenes und | nicht gegenwärtiges Ding sich »sichtbar macht«: diese Tatsache läßt sich weder dadurch dem Verständnis näherbringen, daß wir eine noch so große Zahl sinnlicher Einzeleindrücke miteinander verschmelzen lassen – noch auch dadurch, daß wir auf dem Wege des diskursiven Denkens, des theoretischen Folgerns und Schließens, über das unmittelbar Gegebene hinausgehen. Beide Lösungsversuche stellen keine Erklärung, sondern eine Verschiebung des Tatbestandes dar. Weder das Band der bloßen »Assoziation« noch das scheinbar soviel straffere und strengere Band des Syllogismus erweist sich als stark genug, um jene schlechthin eigenartige Form der Verknüpfung zu konstituieren, die in der Beziehung der Vorstellung auf ihren Gegenstand liegt. Hier liegt vielmehr ein anderes Grund- und Urverhältnis vor, das als rein symbolisches Verhältnis einer ganz anderen Ebene angehört als alle jene Beziehungen, wie sie unter empirisch-realen Objekten, unter wirklichen Dingen, stattfinden. Statt dieses symbolische Verhältnis auf dingliche Bestimmungen zu reduzieren, müssen wir in ihm vielmehr die Bedingung der Möglichkeit für die Setzung solcher Bestimmungen anerkennen. Die Vorstellung verhält sich zum Gegenstand nicht wie das Bewirkte zum Bewirkenden noch wie das Abbild zu seinem Urbild: Sie steht vielmehr zu ihr in einer analogen Beziehung, wie das Darstellungsmittel zum dargestellten Gehalt, wie das Zeichen zu dem in ihm ausgedrückten Sinn. Bezeichnen wir die Beziehung, derzufolge ein Sinnliches einen Sinn in sich faßt und ihn für das Bewußtsein unmittelbar darstellt, als die der »symbolischen Prägnanz«, so läßt sich der Sachverhalt dieser Prägnanz weder auf bloß reproduktive noch auf mittelbare intellektuelle Prozesse zurückführen: Er muß zuletzt als eine selbständige und autonome Bestimmung anerkannt werden, ohne die es für uns weder ein »Objekt« noch ein »Subjekt«,
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weder eine Einheit des »Gegenstandes« noch eine Einheit des »Selbst« geben würde.198 Aber wieder bieten uns hier die pathologischen Fälle das merkwürdige Schauspiel dar, daß diese so festgefügte Einheit sich zu lockern oder daß sie ganz zu zerbrechen droht. Die Inhalte bestimmter Sinnesgebiete scheinen irgendwie die Kraft zu verlieren, als reine Darstellungsmittel zu fungieren: Ihrem Dasein und Sosein wohnt kein repräsentativer Charakter, keine gegenständliche »Prägnanz« mehr inne. Wir gehen, um uns dies deutlich zu machen, zunächst wieder von der Betrachtung einiger besonders charakteristischer Beispiele aus. Der Fall des Lissauerschen »Seelenblinden« wurde bereits erwähnt. Er wurde von Lissauer selbst, | gemäß der herrschenden psychologischen Grundanschauung – seine Arbeit ist im Jahre 1890 erschienen – dahin gedeutet, daß hier eine »krankhafte Störung der Assoziationsfähigkeit« vorliege: Der Kranke verfüge zwar über die einzelnen sinnlichen Eindrücke, die bestimmten physischen Reizen entsprechen, aber es sei bei ihm eine »Hemmung der Assoziation« vorhanden, so daß er diese Eindrücke nicht in der rechten Weise mit anderen verbinden könne. Näher unterschied Lissauer zwischen zwei verschiedenen Formen von Seelenblindheit, die er als »apperzeptive« und »assoziative« Seelenblindheit bezeichnete. Bei der apperzeptiven Form – wir würden sie dem philosophischen Sprachgebrauch gemäß vielmehr als »perzeptive« bezeichnen müssen – sei die sinnliche Wahrnehmung als solche betroffen; bei der assoziativen Form dagegen sei die Wahrnehmung intakt, seien die optischen Eindrücke ihrer Qualität nach ungeändert, während die Assoziation zwischen dem optischen Wahrnehmungsinhalt und den übrigen Komponenten des dazugehörigen Begriffs unterbrochen sei. Die Kranken nehmen daher in diesem Falle wahr, ohne das Wahrgenommene zu verstehen; sie haben die einzelnen optischen Qualitäten, ohne von ihnen aus den Übergang zu anderen Qualitätenkreisen zu finden, durch welchen Übergang erst die Einordnung der jeweilig gegebenen Wahrnehmung in einen bestimmten Dingverband möglich wird. Theoretisch haben wir hier also wieder den Versuch vor uns, den Akt des »Verstehens« derart zu erklären, daß er in eine bloße Summe von Eindrücken, in eine geregelte Folge sinnlicher »Bilder« aufgeht. Physiologisch wurde diese Ansicht dann weiter dahin ausgebaut, daß man von einer Läsion entweder des optischen »Erinnerungsfeldes« oder von einer Läsion der Assoziationsfasern sprach, die dieses Erinnerungsfeld mit dem
198
Zum Ganzen vgl. oben, S. 135 ff. u. 179 ff.
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optischen Wahrnehmungszentrum verbinden.199 Von Stauffenberg hat in seiner Monographie über die »Seelenblindheit«, die im Jahre 1914 erschien, zwei Grundformen der Erkrankung geschieden, zwischen denen sich die klinisch bekannten Fälle bewegen: Bei der einen handle es sich um »[e]ine Störung in der zentralen Verarbeitung der rohen optischen Eindrücke, so dass die feinere Formgestaltung nicht mehr oder ungenügend zustande kommen kann [bei der anderen um eine] Allgemeinschädigung des Vorstellungsvermögens in dem Sinne, dass die Ekphorierung der alten Reizkomplexe unmöglich oder doch erschwert ist, so dass die mehr oder minder unvollständigen optischformalen Elemente diese nicht mehr zum Mitschwingen bringen«.200 Auch hier er | folgt demnach die Erklärung in der Weise, daß den klinischen Beobachtungen eine ganz bestimmte Deutung gegeben wird, die sich im wesentlichen im Rahmen gewisser physiologischer Grundanschauungen über die Vorgänge im Gehirn und über die Verbindungsbahnen zwischen den einzelnen Zentren bewegt. Gegenüber Versuchen dieser Art bedeutet die Arbeit von Gelb und Goldstein, die zuerst im Jahre 1918 erschien – abgesehen davon, daß sie sich auf bisher nicht beobachtete klinische Einzelerscheinungen stützte –, vor allem eine neue methodische Wendung. Denn beide Autoren gehen davon aus, daß, ehe man sich an eine physiologische Erklärung eines bestimmten Krankheitsbildes wagen könne, die phänomenologische Analyse bis ins einzelne durchgeführt sein müsse, daß man sich die Frage stellen müsse, wie das pathologisch veränderte Erlebnis des Kranken tatsächlich beschaffen sei, und daß man diese Frage, unabhängig von allen Hypothesen über den »Sitz« der Erkrankung und ihre Ursachen, in erster Linie zu klären habe. Diese Forderung, die im Prinzip schon von Jackson erhoben worden war, wurde jetzt an einem Falle durchgeführt, der seinem rein tatsächlichen Befund nach der Analyse große Schwierigkeiten darbot. Es handelte sich um einen Kranken, der an einer außerordentlich schweren Schädigung des optischen Erkennens litt – derart, daß er rein optisch nicht mehr imstande war, auch nur die einfachsten Formen zu erfassen. Sowenig er einfache geometrische Umriß- und Flächenfiguren in ihrer Bedeutung aufzufassen vermochte, sowenig gelang es ihm, Gestalten, die aus diskontinuierlichen Elementen gebildet waren, also etwa ein Quadrat, das durch seine vier Eckpunkte bezeichnet war, zu erken199 Vgl. Lissauer, Ein Fall von Seelenblindheit, S. 249 ff. [S. 255: »krankhafte Hemmung der Associationsthätigkeit«]. 200 Wilhelm von Stauffenberg, Über Seelenblindheit, in: Arbeiten aus dem hirnanatomischen Institut in Zürich 8 (1914), S. 1–212: S. 96.
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nen. »Das, was der Patient optisch hat«, so fassen Goldstein und Gelb das Resultat ihrer Untersuchung zusammen, »entbehrt einer spezifisch charakteristischen Struktur. Seine Eindrücke sind nicht festgestaltet wie die des Normalen, es fehlt ihnen z. B. das charakteristische Gepräge des Quadrates, Dreieckes, der Geraden, der Krummen usw. Er hat ›Flecke‹, an denen er nur so grobe Eigenschaften wie Höhe und Breite und ihr Verhältnis zueinander und ähnliches optisch erfassen kann.«201 Demgemäß mußte auch das optische Erkennen von Gegenständen bei dem Kranken aufs schwerste geschädigt sein. Aber hier trat nun das besonders Auffallende und Merkwürdige des Falles hervor: Der Kranke vollzog bestimmte Leistungen, die auf den ersten Blick | alles andere als eine derartige Schädigung vermuten ließen. Nicht nur fand er sich in seiner Umgebung auffallend gut zurecht, sondern sein Verhalten im praktischen Leben unterschied sich kaum erheblich von dem des Normalen. Er, der vor der Kopfschußverletzung, durch die sein Leiden bedingt war, Bergmann gewesen war, vermochte sich, nachdem seine Wunde geheilt und sein Allgemeinzustand gebessert war, in einen neuen Beruf einzuarbeiten, den er binnen kurzem ohne Schwierigkeiten beherrschte. Er vermochte nicht nur den Inhalt farbiger Bilder, die man ihm vorlegte, im wesentlichen richtig zu beschreiben, sondern er zeigte auch, wenn man ihm körperliche Gegenstände vorwies und sie von ihm benennen ließ, keinerlei erhebliche Störung: Ihm vertraute Gegenstände des täglichen Gebrauchs »erkannte« er gewöhnlich sofort. Noch auffallender war es, daß er solche Gegenstände mit hinreichender Genauigkeit zu zeichnen und daß er auch, wenngleich etwas langsamer als der Normale, zu lesen vermochte. Die Erklärung für diese Anomalie wurde erst gefunden, als sich auf Grund einer eingehenden Beobachtung – auf deren Einzelheiten hier nicht eingegangen werden kann – ergab, daß dem Kranken alle diese Leistungen nicht auf Grund der optischen Phänomene, über die er verfügte, möglich waren, sondern daß er sie auf einem ganz anderen Wege erreichte. Das »Erkennen« von Flächenbildern und von körperlichen Gegenständen, das Lesen geschriebener und gedruckter Schriftzeichen kam immer nur dann zustande, wenn es dem Kranken möglich war, das optisch Dargebotene mit bestimmten Bewegungen zu begleiten. Er mußte alles, was er las, gleichsam mitschreiben, indem er die Buchstaben in eigenartiger Weise nachzog. Und zwar verfuhr er hierbei so, daß er an den einzelnen Buchstaben, die ihm ja in ihrem Umriß als farbige Flecke gege201 Gelb/Goldstein, Zur Psychologie des optischen Wahrnehmungs- und Erkennungsvorganges, S. 76 f.
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ben waren, durch entsprechende Kopfbewegungen entlangfuhr und daß er auf Grund der verschiedenen kinästhetischen Eindrücke, die er hierdurch gewann, die einzelnen Schriftzeichen und schließlich die Wortbilder als Ganzes unterschied. Ließ man es jedoch nicht zu derartigen Bewegungen kommen, indem man dem Kranken z. B. den Kopf festhielt oder indem man durch andere Mittel die Möglichkeit des nachfahrenden kinästhetischen Lesens ausschaltete, so war er nicht mehr imstande, einen Buchstaben oder eine einfache geometrische Figur, wie einen Kreis oder ein Rechteck, zu erkennen. Nichtsdestoweniger waren die Licht- und Farbenempfindungen als solche erhalten oder doch so wenig verändert, daß ihre Beeinträchtigung für das optische Erkennen als belanglos betrachtet werden durfte. »[D]er Patient hat farbige und farblose Flecke in einer gewissen Verteilung im Sehraum. Er sieht wohl | auch, ob ein bestimmter Fleck höher und tiefer, mehr rechts oder mehr links als ein anderer sich befindet, ob er schmal oder dick, ob groß oder klein, ob er kurz oder lang ist, ob er näher oder weiter ist, aber nicht mehr; denn die verschiedenen Flecke zusammen erweckten einen wirrnisartigen Eindruck, nicht aber, wie beim Normalen, den eines spezifisch charakterisierten, festgestalteten Ganzen.«202 Die optischen Erlebnisse des Kranken bildeten demnach nur noch einzelne Sinnfragmente, die sich aber nicht mehr zu einem Sinnganzen, zu einer einheitlichen Bedeutungsprägnanz zusammenschließen konnten. In der normalen Wahrnehmung ist jeder besondere Aspekt immer auf einen übergreifenden Zusammenhang, auf eine geordnete und gegliederte Gesamtheit von Aspekten, bezogen und empfängt aus dieser Beziehung seine Deutung und Bedeutung. Die Fälle der optischen und der taktilen Agnosie aber zeigen uns eine Art von Auflösung ebendieser Kontinuität. Während sonst alle Einzelwahrnehmungen in einer Art ideeller Sinneinheit stehen und durch sie derart zusammengehalten werden, wie das Bedeutungserlebnis eines Satzes die besonderen Deutungen seiner einzelnen Worte umfaßt und als Momente in sich schließt, brechen sie jetzt gleichsam auseinander. Das Kontinuum der Bedeutung wird mehr und mehr zum bloßen Diskretum. Es ist, als wäre nicht die einzelne sinnliche Erscheinung als solche, wohl aber das syntaktische Gefüge dieser Erscheinungen gestört – als herrsche eine Art »Agrammatismus« der Wahrnehmung, analog demjenigen, den wir bei den sogenannten »agrammatischen Sprachstörungen« beobachten können.203 202 203
1. Teil.
A. a. O., S. 128 f. [Zitat S. 129]. Näheres über diese s. bei Pick, Die agrammatischen Sprachstörungen,
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So betrachtet rückt der Fall des Goldstein-Gelbschen Seelenblinden, sosehr er sich seinem klinischen Gesamtbilde nach von dem Falle der Farbennamenamnesie, den die gleichen Autoren beschrieben haben, unterscheidet, doch mit diesem theoretisch auf ein und dieselbe Linie und läßt sich mit ihm unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt befassen. Wenn dort die einzelnen Farberlebnisse zwar für sich bestanden, aber nicht mehr auf gewisse ausgezeichnete Punkte der Farbenreihe gerichtet waren und diese letzteren nicht mehr zu vertreten vermochten, so handelt es sich auch in den agnostischen Erscheinungen um solche Störungen im »repräsentativen« Charakter, in der Darstellungsfunktion der Wahrnehmung. Die Wahrnehmung bleibt sozusagen flächenhaft: Sie ist nicht mehr nach der Tiefendimension des »Gegenstandes« hin bestimmt und auf diesen hin dirigiert.204 Und daß es sich hier um mehr | als um eine bloße »Hemmung der Assoziation« handelt, tritt bei unbefangener Betrachtung und Würdigung der klinischen Tatsachen unverkennbar hervor. Goldstein und Gelb heben mit allem Nachdruck hervor, daß diese Tatsachen sich nicht ohne Gewaltsamkeit in das Schema einer assoziationspsychologischen Erklärung pressen lassen, ja daß sie einer solchen geradezu widerstreiten. Ebensowenig hilft die Annahme weiter, daß wir es hier mit einer Störung des »diskursiven« Denkens, des Urteilens und Schließens, zu tun haben. Wenn der Seelenblinde von Goldstein und Gelb gewisse »Intelligenzstörungen« zeigte, so lagen sie auf ganz anderem Gebiete: Es fehlte ihm, wie der optische Raum, so auch der »Zahlenraum«, so daß er die einzelnen Zahlen nicht nach ihrem reinen Stellenwert, nach ihrem »Größer« und »Kleiner« zu ordnen und demgemäß nicht sinnvoll mit ihnen zu rechnen verstand.205 Dagegen verliefen die meisten rein formalen Urteils- und Schlußprozesse bei ihm durchaus korrekt. Bei den Unterhaltungen, die ich selbst mit ihm zu wiederholten Malen führen konnte, überraschte mich jedesmal die Klarheit und Schärfe seines Denkens, die Bündigkeit und die formale Richtigkeit seiner Schlußfolgerungen. Und ebendiese hochentwikkelte Tätigkeit des diskursiven »Folgerns« war es auch, die ihn befähigte, die schwere Schädigung seines optischen Vorstellungs- und Erinnerungsvermögens in vielen Fällen fast völlig auszugleichen, so daß sie praktisch kaum ins Gewicht fiel. Denn sowenig er irgendeinen Gegenstand auf Grund seiner optischen Erscheinung unmittelbar »erkannte«, so benutzte er doch die spärlichen und unbestimmten optischen Data, die ihm geblieben waren, als Merkzeichen, aus denen er 204 205
Vgl. oben, S. 259 ff. Vgl. hierzu später Abschn. IV dieses Kapitels.
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die Bedeutung von Dingen mittelbar erschloß. Die Kraft der unmittelbaren »Vergegenwärtigung«, wie sie jeder echten, symbolisch prägnanten Wahrnehmung innewohnt, hatten diese Merkzeichen freilich nicht: Sie dienten gewissermaßen nur als Signale, nicht aber als Symbole. Aus den relativ sehr wenigen räumlichen Gestaltungen, die er noch zu erfassen vermochte, aus Bestimmungen wie »unten breit, oben schmal« oder »gleichmäßig breit und schmal«, konnte er bestimmte Anhaltspunkte gewinnen, auf die er dann eine Vermutung über die Art des vorliegenden Gegenstandes oder einer bildlichen Darstellung gründete. Aber immer lehrte die schärfere Untersuchung, daß es sich in allen diesen Fällen nicht um ein echtes wahrnehmendes Erkennen, sondern um ein »Erraten« des Gegenstandes, den er vor sich hatte, handelte. Um nicht mehr als ein solches Erraten kann es sich auch bei dem Lissauerschen Patienten gehandelt | haben, wenn er einmal ein Bismarck-Porträt richtig »erkannte«, dann aber nicht anzugeben wußte, wo sich auf demselben die Augen, die Ohren, die Mütze befänden. Und bei dem Goldstein-Gelbschen Seelenblinden tritt gerade an den sorgsamen Protokollen, die über diese Art seines Erkennens von Objekten geführt worden sind, deutlich hervor, worin der spezifische Unterschied zwischen eigentlicher Wahrnehmungsprägnanz und allem bloß diskursiven, auf Anzeichen gegründeten Wissen um Gegenstände besteht. Die prägnante Wahrnehmung »hat« den Gegenstand, derart daß er ihr in einer seiner Erscheinungsweisen leibhaft gegenwärtig ist; das Wissen schließt von einem bestimmten Kennzeichen »auf« den Gegenstand. Dort handelt es sich um eine Einheit des Blickes, kraft deren die mannigfaltigen Aspekte als verschiedene Perspektiven eines Objekts erscheinen, das als dasselbe in ihnen anschaulich »gemeint« ist; hier muß sich die Wahrnehmung gleichsam von einer Erscheinung zur andern langsam und vorsichtig vorwärtstasten, um schließlich die Bedeutung des Wahrgenommenen zu ermitteln. Auch in der Modalität des Wahrnehmungsurteils drückt sich dies charakteristisch aus: Denn die »prägnante« Wahrnehmung führt stets zu einer assertorischen Setzung, während die »diskursive« bei einer problematischen stehenzubleiben pflegt. Jene schließt eine Intuition des Ganzen in sich – diese führt im günstigsten Falle zu einer richtigen Kombination von Merkmalen; jene ist symbolisch-bedeutsam, während diese nur symptomatisch-anzeigend ist.206 Will man diesen Unterschied | beschreiben, so drängt sich immer wieder als Illustra206 Der Unterschied zwischen der »Darstellungsprägnanz«, die das gegenständliche Erkennen des Gesunden kennzeichnet, und dem tastenden, dem »diskursiv-kombinierenden« Verfahren des Kranken ist mir, sooft ich Gelegenheit
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tion die Differenz auf, die zwischen dem »Lesen« von Schriftzügen und ihrem bloßen Buchstabieren besteht. »Aus Pappe ausgeschnittene Figuren«, so berichten Goldstein und Gelb über ihren Patienten, »wie Rechteck, Scheibe, Oval, Rhombus, vermochte er abtastend in ihrer Form richtig anzugeben. Er kam zu den richtigen Angaben, indem er die Einzelheiten (Ecken, Gerade, Begrenzungslinien, Krümmungen usw.) in der vorher beschriebenen Weise erkannte und aus ihnen, gleichsam buchstabierend, auf das Ganze schloß, ohne ein Simultanbild vom Objekt zu haben.«207 Eben in diesem Zuge, in dieser Stückhaftigkeit des Erlebens, scheint ein gemeinsames Merkmal zu liegen, das die agnostischen Störungen mit gewissen aphasischen Störungen verbindet. Einzelne aphasische Kranke scheinen geradezu ein Gefühl für diese Stückhaftigkeit zu haben: Sie klagen darüber, daß sie, bei der Auffassung gesprochener Worte oder bei der Lektüre eines Buches, zwar die Einzelheiten verständen, daß diese ihnen aber nicht schnell genug und nicht richtig »zusammengehen«. »[W]ith me it’s all in bits«, so sagte ein Kranker Heads, »I have to jump […] like a man who jumps from one thing to the next. I can see them, but I can’t express.«208 Deutlicher kann es kaum bezeichnet hatte, den Kranken zu sehen und mit ihm zu sprechen, jedesmal höchst eindringlich zum Bewußtsein gekommen. Um das spezifische Moment, auf das es hier ankommt, zu erfassen, muß man die Protokolle bei Goldstein und Gelb selbst nachlesen. Ich möchte mir aber nicht versagen, aus ihnen wenigstens eine kurze, charakteristische Probe zu geben, an der man das Gesamtverhalten des Patienten im täglichen Leben und im »Erkennen« der Gegenstände seiner Umgebung ermessen kann. Es handelt sich um einen Spaziergang mit dem Kranken im Park, bei dem ihm verschiedene Objekte und Vorgänge gezeigt werden. »1. (Kehrender Mann in etwa 50 Schritt Entfernung.) Der Pat. gibt spontan an: ›Der Mann da kehrt, das weiß ich, ich sehe ihn jeden Tag.‹ (Was sehen Sie?) ›Einen langen Strich, dann da unten etwas, bald hier, bald dort. […]‹ Bei dieser Gelegenheit erzählt er spontan, wie er auf der Straße Menschen von Wagen unterscheidet. ›Menschen sind alle gleich: schmal und lang, Wagen sind breit, das fällt sofort auf, viel dicker‹ […] 6. (Laterne, daneben ein großer Stein.) Pat. überlegt lange und sagt dann ›Laterne‹. Gesehen hat er nach seiner Aussage einen […] langen schwarzen Strich und oben etwas Breites; nachher sagte er auch: ›Das Obere ist durchsichtig und hat vier Stäbe.‹ | Den Stein erklärt er für eine ›Anhöhe‹; ›es kann auch Erde sein‹.« (Gelb/Goldstein, Zur Psychologie des optischen Wahrnehmungs- und Erkennungsvorganges, S. 108). 207 [Dies., Über den Einfluß, S. 194.] 208 Äußerung des Headschen Patienten Nr. 2, eines sehr intelligenten jungen Offiziers, s. Head, Aphasia, Bd. II, S. 32. – Ein anderer Patient (Nr. 8) äußert sich über seine vergeblichen Versuche beim Puzzle-Spiel: »I tried working out jigsaw puzzles, but I was very bad at them. I could see the bits, but I could not see any relation between them. I could not get the general idea.« (A. a. O., S. 113).
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werden, daß jede Störung des darstellenden Charakters, der Wahrnehmung und des Bedeutungscharakters des Wortes die Kontinuität des Erlebens in irgendeiner Weise angreift – daß die Welt des Kranken durch sie »in Stücke zu gehen« droht. Unwillkürlich werden wir hier an Platon erinnert, der der sensualistischen Wahrnehmungslehre des Protagoras, die die Wahrnehmung in punktuelle Einzelheiten auflöst, den Satz entgegenstellt, es wäre doch arg, wenn in uns, gleichwie in hölzernen Pferden, vielfältige Wahrnehmungen einfach nebeneinanderlägen, ohne daß all dies in eine Idee (ες µ-αν τιν. δαν) sich zusammenfaßte. Durch diese Einheit der Idee, als Einheit der »Sicht«, wird für Platon erst die Einheit der Seele konstituiert.209 Die optischagnostischen Störungen sind nicht sowohl Störungen des »Sehens«, als sie Störungen | dieser Art der »Sicht« sind.210 Mit ihnen sind daher – wie die besten Kenner und die schärfsten Beobachter dieses Gebietes immer wieder betont haben – nicht nur einzelne Züge des »Weltbildes« beeinträchtigt oder verdunkelt, sondern dies selbst ist als Ganzes verändert: Es nimmt eine andere Gesamtform an, weil seine Struktur und das geistige Prinzip seines Aufbaus sich gewandelt haben.
IV. Raum, Zeit und Zahl Die Erkrankungen, die man unter dem Namen der optischen Agnosie zusammenfaßt, scheinen, wie die klinische Beobachtung lehrt, fast durchweg mit schweren pathologischen Veränderungen des »RaumPlaton, Theaitet 184 D. Einer der Kranken Goldsteins und Gelbs konnte sich – im Gegensatz zu dem »Seelenblinden« Schn. – gute visuelle Vorstellungen erwecken; sie waren aber ausgesprochen lückenhaft. »Er vermochte […] nur einzelne Stücke, Teile eines Objekts sich innerlich zu vergegenwärtigen, diese aber mitunter sehr deutlich. Dabei kam es nicht so sehr darauf an, ob das Objekt groß oder klein war; wesentlich war, ob es ärmer oder reicher an Detail war. War letzteres der Fall, so vermochte er das Objekt nur stückweise sukzessiv, Teil für Teil, sich innerlich vorzustellen, wobei, wie er immer selbst spontan sagte, ihm im Augenblick, da er einen Teil deutlich hatte, die übrigen entfielen […]« Auf die Frage z. B., wie ein Löwe aussehe, antwortete dieser Kranke: »[B]raun … der Kopf ist groß und hat eine Mähne … Wenn ich aber am Kopf bin, habe ich die Beine verloren.« (Gelb/ Goldstein, Zur Psychologie des optischen Wahrnehmungs- und Erkennungsvorganges, S. 122) Auch dieser Äußerung läßt sich die andere eines Patienten gegenüberstellen, von der Head berichtet. »I can get the meaning of a sentence if it’s an isolated sentence, but I can’t get all the words. I can’t get the middle of the paragraph; I have to go back and start from the preceeding full-stop again.« (Aphasia and Kindred Disorders of Speech, in: Brain. A Journal of Neurology 43 [1920], S. 114). 209 210
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sinnes« und der räumlichen Wahrnehmung verbunden zu sein. Die Lokalisation sinnlicher Reize pflegt aufs stärkste geschädigt zu sein; die Vorstellung, die der Kranke von seinem eigenen Körper und von der relativen Lage der einzelnen Gliedmaßen hat, weist schwere Defekte auf. So war der Seelenblinde Schn. bei geschlossenen Augen nicht über die Lage seines Kopfes oder irgendeines anderen Teiles seines Körpers orientiert. Brachte man eines seiner Glieder in eine bestimmte Lage, wurde z. B. sein rechter Arm seitlich bis zur waagerechten Stellung erhoben, so konnte er über die Stellung des Armes unmittelbar keinerlei Angaben machen, wenngleich er, auf einem mühsamen Umweg, durch Ausführung bestimmter pendelartiger Bewegungen des ganzen Körpers, schließlich zu gewissen Indizien über die Lage des Gliedes gelangte. Auch hier mußte das Gesamtresultat aus einzelnen Leistungen »gleichsam buchstabierend« gewonnen werden. Ebensowenig hatte der Patient ein unmittelbares Gefühl für die Ge | samtlage seines Körpers im Raum; er vermochte z. B. nicht mit Sicherheit anzugeben, ob er stehe oder ob er in waagerechter Haltung oder unter einem Winkel von 45° auf einem Sofa ausgestreckt liege. Über die Richtung und das Ausmaß passiver Bewegungen, die mit einzelnen Gliedmaßen von ihm vorgenommen wurden, konnte er – abgesehen von dem zuvor erwähnten Umweg – keinerlei Angaben machen. Auch alle willkürlichen Bewegungen waren, solange der Patient die Augen geschlossen hielt, aufs äußerste erschwert: Gegenüber der Aufforderung, ein bestimmtes Glied des Körpers zu bewegen, war er zunächst völlig ratlos. Was hingegen relativ gut gelang, waren bestimmte Bewegungsabläufe des täglichen Lebens, die mehr oder weniger automatisch vonstatten gingen: So vermochte er z. B. relativ sehr rasch aus einer Streichholzschachtel ein Streichholz herauszuholen und eine vor ihm stehende Kerze anzuzünden. Aus alledem geht klar hervor, daß der Kranke sich zwar nach wie vor, insbesondere auf Grund seiner kinästhetischen Empfindungen, im Raume irgendwie »zurechtzufinden«, daß er sich gegenüber bestimmten Situationen räumlich richtig zu verhalten vermochte, daß aber seine »Vorstellung« des Gesamtraumes aufs schwerste geschädigt war: Goldstein und Gelb nehmen an, daß der Patient bei geschlossenen Augen überhaupt keinerlei »Raumvorstellungen« besitzt.211 Wiederum bestätigt hier die Pathologie der Wahrnehmung eines der wichtigsten Ergebnisse, zu dem die reine Phänomenologie des Raumes hinführt. Denn auch dieser letzteren drängt sich immer wieder der Unterschied auf, der zwischen dem bloßen Leistungsraum 211
Gelb/Goldstein, Über den Einfluß, S. 206 ff. u. 226 ff.
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und dem reinen Darstellungsraum besteht.212 Dort bedeutet der Raum ein bloßes Aktionsfeld, hier bedeutet er ein ideales Liniengefüge. Und die Art der »Orientierung« ist in beiden Fällen spezifisch verschieden: Sie erfolgt das eine Mal auf Grund eingeübter motorischer Mechanismen, das andere Mal auf Grund einer freien Überschau, die die Gesamtheit der im Raume möglichen Richtungen in sich befaßt und die diese Richtungen zueinander in ein bestimmtes Verhältnis setzt. Das »Oben« und »Unten«, das »Rechts« und »Links«: dies alles ist hier nicht lediglich durch bestimmte Körpergefühle bezeichnet und durch sie mit einem qualitativen Index, mit gewissen sinnlichen Merkzeichen versehen, sondern es stellt eine Form der räumlichen Beziehung dar, die mit anderen Beziehungen in einem systematischen Gesamtplan zusammenhängt. Innerhalb dieses Gesamtsystems kann der Ausgangspunkt und Nullpunkt der Be | stimmung frei gewählt, kann er nach Belieben verschoben werden. Die einzelnen Grund- und Hauptrichtungen haben keinen absoluten, sondern nur relativen Wert: Sie liegen nicht ein für allemal fest, sondern können je nach dem Gesichtspunkt der Betrachtung variieren. Dieser Raum ist daher kein starres Gefäß mehr, das die Dinge und Ereignisse gleich einer festen realen Hülle umschließt, sondern er ist ein ideeller Inbegriff von »Möglichkeiten«, wie Leibniz ihn nennt. Die Orientierung in ihm setzt voraus, daß das Bewußtsein imstande ist, sich diese Möglichkeiten frei zu vergegenwärtigen und im voraus, in einer anschaulichen und gedanklichen Antizipation, mit ihnen zu rechnen. Wenn Goldstein in einem Aufsatz »Über die Abhängigkeit der Bewegungen von optischen Vorgängen«213 die vorwiegend optische Natur dieses Raumes betont, so ist dies insofern zweifellos richtig, als die optischen Data das wichtigste Material für seinen Aufbau bilden und bei schwerer Schädigung derselben, wie sie in Fällen der optischen Agnosie besteht, dieser Aufbau nicht mehr in derselben Weise wie beim Normalen gelingen kann. Aber dieser Hinweis bedarf insofern einer Ergänzung, als die charakteristische Form des »Symbolraumes« auch aus den optischen Eindrücken nicht ableitbar ist, diese vielmehr nur ein einzelnes Moment in seiner Gestaltung bedeuten. Sie bilden eine zwar notwendige, nicht aber die hinreichende Bedingung dafür, daß es zu dieser Gestaltung kommt. Die klinische Erfahrung scheint diese Schlußfolgerung insofern zu bestätiVgl. hierzu oben, S. 273 ff. Kurt Goldstein, Über die Abhängigkeit der Bewegungen von optischen Vorgängen. Bewegungsstörungen bei Seelenblinden, in: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 54 (1923), S. 141–194. 212 213
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gen, als sie zeigt, daß auch in solchen Fällen, in denen die optische Wahrnehmungsfähigkeit der Kranken nicht wesentlich verändert ist, höchst bezeichnende Veränderungen in ihrer »Raumanschauung« zu beobachten sind. Manche aphasische Kranke, die sich, ohne Zuhilfenahme von Bewegungen, rein optisch gut zu orientieren und die die Lage der sie umgebenden Objekte auf Grund des Gesichtssinns zu unterscheiden vermögen, versagen doch, sobald von ihnen eine Leistung verlangt wird, die eine Art Übersetzung in einen schematischen Raum erfordert. Was sie gesehen und sehend erkannt haben, das vermögen sie nicht in einer Zeichnung festzuhalten und in ihr darzustellen. Es gelingt ihnen nicht, eine einfache Skizze ihres Zimmers zu entwerfen und den Ort der im Zimmer befindlichen Gegenstände auf dieser Skizze einzutragen. Machen sie einen derartigen Versuch, so werden hierbei nicht die örtlichen Verhältnisse allein berücksichtigt, sondern es wird irgendein Detail hinzugefügt und einseitig bevorzugt, das für den Raum als reinen Ordnungsraum gleichgültig oder störend ist. Die einzelnen Dinge, der | Tisch, die Stühle, die Fenster werden konkret hingezeichnet, werden mit ihren Einzelheiten bildlich wiederzugeben versucht, statt daß lediglich ihre Lage im Raum markiert würde. Diese Unfähigkeit des Schematismus und des Markierens scheint eine der Grundstörungen zu bilden, die bei den aphasischen wie bei den agnostischen und apraktischen Erkrankungen zu beobachten ist: Sie wird uns noch in anderem Zusammenhang beschäftigen müssen.214 Hier betrachten wir sie nur, sofern sie geeignet ist, uns die entscheidende Differenz vor Augen zu rücken, die den Raum der »Anschauung«, im Gegensatz zum bloßen Handlungs- und Verhaltensraum, kennzeichnet. Der Raum der Anschauung beruht nicht allein auf der Gegenwart bestimmter sinnlicher, insbesondere optischer Data, sondern er setzt eine Grundfunktion der »Vergegenwärtigung« voraus. Seine einzelnen Orte, das »Hier« und das »Dort« müssen deutlich unterschieden, aber sie müssen, eben in dieser Unterscheidung, wieder in einem Gesamtblick, in einer »Synopsis« vereint werden, die erst das Ganze des Raumes vor uns hinstellt. Der Prozeß der Differentiation schließt hier unmittelbar zugleich einen Prozeß der Integration in sich. Ebendiese Integration mißlingt dem Aphasischen in vielen Fällen auch dort, wo eine Orientierung im Raume, wenn sie Punkt für Punkt und gewissermaßen Schritt für Schritt erfolgt, nicht wesentlich gestört ist. Head berichtet über viele seiner Patienten, daß sie einen bestimmten, ihnen be-
214
Vgl. unten, Abschn. V dieses Kapitels.
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kannten Weg, z. B. den Weg vom Krankenhaus zu ihrer Wohnung, zwar richtig finden, nicht aber die einzelnen Straßen, durch die sie zu gehen hatten, bezeichnen noch überhaupt eine zusammenhängende Darstellung des Gesamtverlaufs des Weges geben konnten.215 Das erinnert durchaus an jene »primitivere«, mit symbolischen Elementen noch nicht gesättigte Form der Raumanschauung, wie wir sie z. B. bei Naturvölkern finden, die zwar jede Stelle eines Flußlaufs kennen, nicht aber eine Karte des Flußlaufs zeichnen können. Und zugleich lassen uns die aphasischen Erkrankungen einen neuen Einblick in den tieferen Grund dieser Schwierigkeiten gewinnen. Viele Kranke, die nicht imstande sind, selbsttätig einen Plan ihres Zimmers zu entwerfen, vermögen sich doch noch auf einem solchen relativ gut zu orientieren, wenn man ihnen das Grundschema fertig darbietet. Fertigt etwa der Arzt eine Skizze an, in der die Stelle des Tisches, an dem der Kranke zu sitzen pflegt, durch einen Punkt bezeichnet ist, so macht es dem Kranken oft keine Mühe, durch | Zeigen mit dem Finger die Stelle des Ofens, des Fensters, der Tür auf dieser Skizze anzugeben. Die eigentlich schwierige Leistung besteht also im Anfang und Ansatz des Verfahrens: in der spontanen Wahl der Koordinatenebene und des Koordinatenmittelpunkts. Denn ebendiese Wahl schließt unverkennbar einen konstruktiven Akt und sozusagen eine konstruktive Tat in sich. Ein Kranker Heads gab ausdrücklich an, daß er die Leistung nicht vollbringen könne, weil es ihm nicht gelinge, den »Ausgangspunkt« (starting point) richtig zu fixieren, daß aber, nachdem dieser ihm einmal gegeben worden sei, alles viel leichter vonstatten gehe.216 Den eigentlichen Charakter der hier vorliegenden Schwierigkeit kann man sich klar machen, sobald man erwägt, wie schwer es selbst der Wissenschaft, wie schwer es der theoretischen Erkenntnis geworden ist, den hier geforderten Schritt in wirklicher Klarheit und Bestimmtheit zu vollziehen. Auch die Wissenschaft, auch die theoretische Physik hat mit der Setzung des »Dingraumes« begonnen, um erst allmählich zum »Systemraum« überzugehen – auch sie hat sich den Begriff des Koordinatensystems und des KoordinatenmittelVgl. Heads Krankengeschichte Nr. 2, Aphasia, Bd. II, S. 32; zum Früheren s. Bd. I, S. 264, 339, 393, 415 f. u. ö. 216 Vgl. Heads Krankengeschichte Nr. 10, a. a. O., Bd. II, S. 170: »When you asked me to do this first«, so äußert sich der Kranke, der selbsttätig keinen Plan seines Zimmers zu entwerfen vermochte, »I couldn’t do it. I couldn’t get the starting point. I knew where all the things were in the room, but I had difficulty in getting a starting point, when it came to setting them down on a plan. You made me point out on the plan and it was quite easy, because you had done it.« 215
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punkts in stetiger gedanklicher Arbeit erkämpfen müssen.217 Es ist ersichtlich etwas anderes, ein Neben- und Auseinander von Objekten, von sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen zu erfassen – und einen ideellen Inbegriff von Flächen, von Linien und Punkten zu konzipieren, der die schematische Darstellung reiner Lagebeziehungen in sich schließt. Demgemäß geraten auch solche Kranke, die bestimmte Bewegungen völlig richtig auszuführen vermögen, nicht selten in Verwirrung, wenn man von ihnen eine Beschreibung dieser Bewegungen, also die Angabe ihrer Unterschiede in allgemeinen sprachlich fixierten Begriffen, verlangt. Der richtige sprachliche Gebrauch des »Oben« und »Unten«, des »Rechts« und »Links« ist bei vielen Aphasischen schwer gestört. Oft vermag der Patient durch Gebärden auszudrücken, daß er ein Gefühl für den in diesen allgemeinen Raumworten ausgedrückten Unterschied besitzt; aber es gelingt ihm nicht, sich ihren Sinn so weit zu verdeutlichen, daß er z. B. auf Aufforderung eine bestimmte Bewegung | bald mit der rechten, bald mit der linken Hand vollziehen kann.218 Allgemein zeigen die pathologischen Störungen des Raumsinnes bei Aphasischen sehr deutlich, wo die Grenze zwischen dem »konkreten« Raum, der für den richtigen Vollzug bestimmter, auf einen einzelnen konkreten Zweck bezogener Handlungen ausreicht, und dem »abstrakten«, dem rein schematischen Raum liegt. In schweren Fällen von Aphasie – insbesondere in derjenigen klinischen Form, die Head als »semantische Aphasie« bezeichnet hat – scheint es freilich auch zu einer Störung der konkreten Orientierung zu kommen. Die Kranken sind nicht mehr imstande, ihren Weg selbst zu finden: Sie verfehlen ihr Zimmer im Krankenhaus oder die Stelle, an welcher sich ihr Bett befindet.219 Aber diesen Fällen stehen andere gegenüber, in denen von einer wirklichen räumlichen Desorientierung nicht gesprochen werden kann, in denen die Kranken durch ihr Verhalten deutlich erkennen lassen, daß sie sich im Raume »zurechtzufinden« vermögen, während doch andererseits die 217 Näheres hierüber s. jetzt in meiner Schrift: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Leipzig/Berlin 1927 (Studien der Bibliothek Warburg, Bd. 10), S. 183 ff. [s. ECW 14]. 218 Ein Patient Heads (Krankengeschichte Nr. 2) hatte den »abstrakten« Gebrauch der Begriffe »rechts« und »links« verloren, vermochte aber nichtsdestoweniger im Lauf einer Unterhaltung mit dem Arzt diesem durch Gesten auszudrücken, daß die Art, in der die Wagen auf der Straße einander ausweichen, in England eine andere als im Ausland sei – daß das Ausweichen hier »von links nach rechts«, dort »von rechts nach links« vonstatten geht (Head, Aphasia, Bd. II, S. 23 f.). 219 Heads Krankengeschichte Nr. 10, a. a. O., Bd. II, S. 170 u. 178; vgl. Bd. I, S. 264 f. u. 528.
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genauere Untersuchung ergibt, daß ihnen die Anwendung bestimmter räumlicher Begriffe und die richtige Erfassung gewisser den Normalen geläufiger räumlicher Grundunterschiede verlorengegangen ist. Einer dieser Kranken, den ich im Frankfurter Neurologischen Institut zu sehen Gelegenheit hatte,220 hatte jedes Verständnis für Richtungs- und Winkelgrößen verloren. Legte man auf den Tisch, vor dem er saß, irgendeinen Gegenstand vor ihn hin, so war es ihm nicht möglich, einen anderen in einigem Abstand derart daneben zu legen, daß er parallel zu dem ersten gerichtet war. Nur wenn beide Objekte sich unmittelbar berühren durften, gelang ihm die Lösung der Aufgabe: Er vermochte die Gegenstände gewissermaßen aneinanderzukleben, nicht aber Richtungen im Raume als solche zu erkennen und festzuhalten. Damit war ihm auch der charakteristische »Sinn« der Winkelgröße verlorengegangen: Wenn er nach dem »Größer« oder »Kleiner« von Winkeln befragt wurde, so war er zunächst ratlos, pflegte dann aber zumeist | denjenigen Winkel als den größeren zu bezeichnen, dessen Schenkel eine größere Länge aufwiesen. Ganz ähnliche Störungen wies ein aphasischer Kranker auf, den van Woerkom beobachtet und über den er eingehend berichtet hat. Auch hier scheint die wesentliche Veränderung im »Raumsinn« des Kranken darin bestanden zu haben, daß es ihm unüberwindliche Schwierigkeiten machte, eine feste Achse im Raum zu konzipieren und diese sodann als Ausgangspunkt für räumliche Unterscheidungen zu brauchen. Setzte sich etwa der Arzt ihm gegenüber und legte er zwischen sich und den Patienten ein Lineal, so war es diesem nicht möglich, ein Geldstück derart hinzulegen, daß es auf die Seite des Arztes oder auf seine eigene Seite zu liegen kam: Der Gegensatz der beiden »Seiten« wurde nicht als solcher erfaßt. Ebenso war der Kranke, wenn das Lineal in eine bestimmte Stellung gebracht wurde, nicht imstande, ein zweites in derselben Richtung hinzulegen: Statt sein Lineal, in einiger Entfernung von dem ersten, parallel zu diesem zu richten, näherte er beide einander und legte sie schließlich, trotz aller Bemühungen, ihm den Sinn der Aufgabe zu erklären, auf einander. Van Woerkom faßt das Krankheitsbild dahin zusammen, daß alle rein »perzeptiven« Funktionen ungestört seien, da der Kranke mittelst des Gesichtssinnes und des Tastsinnes die Formen und Umrisse der Dinge zu erkennen und mit ihnen richtig umzugehen vermöge, daß auch das Richtungsgefühl als solches nicht gelitten habe, da der Kranke sich, wenn man ihm die Augen ver220 Der Fall ist bisher literarisch noch nicht behandelt; ich muß mich daher im folgenden auf die mündlichen Mitteilungen und Belehrungen stützen, die mir Goldstein über ihn gegeben hat.
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bindet und ihn anruft, jedesmal in der Richtung des Rufens bewege. Dagegen habe er jede Fähigkeit der räumlichen »Projektion« eingebüßt. »Der Kranke, der Bewegungen in ihrer einfachsten Form (als reaktive Bewegungen auf bestimmte äußere Reize) auszuführen vermag, ist nicht imstande, das Prinzip der Bewegung in den höheren intellektuellen Formen: in den projektiven Akten in sich hervorzurufen. Er vermag die Hauptlinien der Orientierung (nach rechts, nach links, nach oben, nach unten) nicht zu ziehen noch einen Stab parallel zum anderen zu richten. […] Diese Störung betrifft auch seinen eigenen Körper: Er hat das Schema (die imaginative Vorstellung) seines Körpers verloren und weiß die sinnlichen Wahrnehmungen zwar örtlich zu bestimmen, aber nicht zu projizieren.«221 Hier drängt sich, wie man sieht, der Pathologie eine Unterscheidung auf, die die empirische Psychologie lange verkannt und bestritten hat, auf die indes auch wir uns in unserer allgemeinen theoretischen Grundlegung immer wieder hingewiesen sahen: Sie sieht sich genötigt – um es in den | Kantischen Begriffen auszudrücken – zwischen dem Bild als einem »Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft« und dem Schema sinnlicher Begriffe als einem »Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori« zu scheiden.222 Aber schon Kant hat dies »Vermögen« des Schematismus nicht auf die räumliche Anschauung beschränkt, sondern es vor allem auf den Begriff der Zahl und auf den der Zeit bezogen. Und daß hier in der Tat ein enger Zusammenhang besteht, lehren wiederum die pathologischen Fälle besonders eindringlich. Der Kranke van Woerkoms zeigte die gleiche charakteristische Störung wie in der Auffassung räumlicher Verhältnisse auch in der Form seiner Zeitanschauung und in dem Verhalten, das er gegenüber bestimmten numerischen Aufgaben an den Tag legte. So konnte er z. B. im sogenannten »Reihensprechen« zwar die Tage der Woche und die Monate des Jahres aufsagen;
221 Willem van Woerkom, Sur la notion de l’espace (le sens géométrique), sur la notion du temps et du nombre. Une démonstration de l’influence du trouble de l’acte psychique de l’évocation sur la vie intellectuelle, in: Revue neurologique 26 (1919), S. 113–119: S. 117 f. [»C’est que ce malade, qui a recouvré le mouvement dans sa forme la plus simple (comme mouvement réactif aux excitations extérieures), n’est pas capable d’évoquer son principe dans les fonctions intellectuelles plus élevées: dans les actes de projection. Ainsi le malade n’est pas capable de se tracer les directions principales d’orientation (côte droit, côte gauche, en haut, en bas) et de mettre un bâton parallèlement à un autre. […] Le trouble spatial concerne également son propre corps – il a perdu le schéma (l’imagination) de son corps et ne sait pas projecter les sensations dont il a reconnu la place même.«]. 222 Vgl. oben, S. 183.
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aber er war nicht imstande, wenn man ihm einen Wochentag oder einen Monatsnamen nannte, den Namen des vorhergehenden oder folgenden Tages oder Monats richtig zu bezeichnen. Und ebenso mißlang ihm der Versuch, eine konkrete Menge von Dingen zu zählen, wenngleich er die Reihenfolge der Zahlworte richtig beherrschte. Statt von einem Glied der Menge zum anderen fortzugehen, griff er häufig auf ein früheres, bereits gezähltes, zurück; auch hatte er, wenn er beim Abzählen einer Menge bei einem bestimmten Zahlwort, etwa bei dem Worte »drei«, angelangt war, keine Vorstellung davon, daß er in diesem Worte eine Bezeichnung für die »Größe« der Menge, für ihre »Kardinalzahl«, besitze. Stellte man etwa zwei Reihen von Stäben, die eine zu vier, die andere zu fünf Stäben, vor ihn hin und fragte man ihn, in welcher der beiden Reihen sich mehr Stäbe befänden, so begann der Kranke, indem er auf jeden Stab der zweiten Reihe zeigte, zunächst richtig bis 5 zu zählen, verwirrte sich aber dann, ergriff denn zuletzt gezählten Stab nochmals und sagte »sechs«. Nicht selten ging er auch auf ein anderes schon gezähltes Glied der ersten Reihe zurück, oder er glitt in die zweite Reihe über, wobei er ständig mit lauter Stimme weiterzählte. Jeder Versuch, ihn über den Sinn der Aufgabe zu belehren, blieb ebenso fruchtlos, wie dies bei dem Versuch, zwei Stäbe in parallele Richtung zu rücken, der Fall gewesen war.223 Und auch dort, wo dem | Aphasiker das bloße »Zählen« noch bis zu einem bestimmten Grad zu gelingen scheint, weisen schon die elementarsten Rechenoperationen schwere Störungen auf.224 Das schriftliche Rechnen wird hiervon ebensowohl wie das mündliche betroffen. Head berichtet von seinen Patienten, daß bei den meisten von ihnen das bloße Zahlensprechen bis zur Zehn, und häufig auch darüber hinaus, gut erhalten war, daß aber viele von ihnen nicht mehr imstande waren, die einfachsten arithmetischen Aufgaben zu lösen. Wurden etwa zwei dreistellige Zahlen untereinander geschrieben und der Kranke aufgefordert, sie zu addieren, so vollzog er dies in der Weise, daß er die Zahlen nicht nach ihrem Gesamtwert zusammennahm, sondern die Ziffern einzeln zusammenfügte. Wurde also etwa die Aufgabe gestellt, die Zahlen 864 und 256 zusammenzuzählen, so bildete der Kranke nacheinander die Summe von 4 + 6, 6 + 5, 8 + 2
223 Van Woerkom, Sur la notion de l’espace, S. 115. – Auch der zuvor erwähnte Goldsteinsche Patient wies genau die gleiche Störung seiner »Zahlauffassung« auf: Er konnte reihenmäßig »zählen«, aber nicht zwei Zahlen, die ihm genannt wurden, unmittelbar auf ihre »Größe« hin vergleichen. 224 Ich verweise hierfür insbesondere auf das Material, das bei Moutier, L’aphasie de Broca, S. 214 ff. zusammengestellt ist.
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und stellte die Resultate, die er hierbei erhielt, einfach nebeneinander, wobei ihm häufig noch bei Ausführung der Teiloperationen Irrtümer unterliefen.225 Diese Irrtümer häuften sich besonders dann, wenn die Summe zweier bei der Addition untereinanderstehenden Ziffern über zehn hinausging, der Kranke also, um die Rechnung richtig durchzuführen, nicht das gewonnene Ergebnis einfach hinschreiben durfte, sondern eine bestimmte Zahl von Einheiten »im Sinne behalten« mußte, um sie erst der nächsthöheren Kolonne hinzuzufügen. Häufig gehen die Kranken auch beim schriftlichen Addieren und Subtrahieren statt von rechts nach links von links nach rechts; oder sie ziehen bei der Subtraktion bald die untere Zahl von der oberen, bald die obere von der unteren ab. Um sich den gemeinsamen Grundzug, der alle diese klinischen Einzelbeobachtungen miteinander verbindet, näherzubringen, muß man theoretisch auf die allgemeinen Bedingungen des Prozesses des Zählens und Rechnens zurückgehen und die einzelnen Phasen desselben nach ihrem Ineinandergreifen und nach dem Grade ihrer prinzipiellen Schwierigkeit zu sondern suchen. Beim »Zählen« einer konkreten Menge wird auf der einen Seite ein Akt der »Diskretion«, auf der anderen ein Akt der »Zuordnung« erfordert – die einzelnen Elemente der Menge müssen scharf auseinandergehalten und in dieser Auseinanderhaltung den Gliedern der »natürlichen Zahlenreihe« eindeutig zugeordnet werden. Schon diese Form der »Diskretion« schließt einen Akt der »Reflexion« in sich, der erst in der Sprache und vermittels ihrer zu seiner Vollendung gelangt und der | bei jeder schweren Schädigung der Sprachfunktion notwendig in Mitleidenschaft gezogen wird. Wenn nach den Pythagoreern das Wesen der Zahl darin besteht, daß sie in das »Unbegrenzte« der Wahrnehmung die erste gedankliche »Begrenzung« einführt, so läßt sich das gleiche von der Sprache sagen. Beide sind gewissermaßen Bundesgenossen in dieser intellektuellen Leistung und vermögen sie nur gemeinsam in wirklicher Schärfe und Reinheit zu vollziehen. So unbegründet daher jener mathematische »Nominalismus« ist, der in den Zahlen »bloße Zeichen« sieht, und mit so gewichtigen Argumenten er von hervorragenden Mathematikern, wie z. B. von Frege, bekämpft worden ist, so enthält er doch die richtige Bestimmung, daß zu jeder adäquaten Repräsentation der Bedeutung der reinen Zahlbegriffe der Halt an der Sprache unerläßlich ist. Die Sonderung im Wort führt erst dazu, daß das »Auseinander« der Elemente, wie es der Begriff der Zahl setzt und 225 Näheres in den Krankengeschichten Heads Nr. 7, 15 u. 19 (Aphasia, Bd. II, S. 89 ff., 227 ff. u. 278 ff.).
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fordert, sich fixiert. Sobald die Kraft der Sprache erlahmt, sobald die Zahlworte zwar noch als eine eingeübte motorische Folge von Lauten hergesagt, aber nicht mehr als sinnvolle Zeichen verstanden werden, verwischen sich auch die scharfen Unterschiede in der Auffassung der Menge selbst: Ihre einzelnen Glieder setzen sich nicht mehr klar gegeneinander ab, sondern beginnen ineinander zu verschwimmen. Und mit diesem Mangel der Unterscheidung ist ein analoger Mangel in dem scheinbar entgegengesetzten, in Wahrheit aber korrelativen Akt der Einheitsbildung verknüpft. Wo die Menge nicht als eine scharf gegliederte Vielheit vor uns steht, da läßt sie sich auch nicht in wirklicher Strenge als eine Einheit, als ein Ganzes, das sich aus Teilen aufbaut, erfassen. Wenn es dem Gedanken auch noch gelingen mag, sie in sukzessiver Synthesis zu durchlaufen und sich ihre Elemente einzeln zu vergegenwärtigen, so fassen sich doch, nachdem dieser Prozeß abgeschlossen ist, alle diese Einzelheiten nicht mehr in eine Setzung zusammen. Es bleibt bei ihrem einfachen Nacheinander, ohne daß es zu einer »Zusammenschau« dieses Nacheinander in einen Begriff – der ebender Begriff von der »Größe« der Menge ist – kommt. Aber setzen wir auch den Fall, daß diese Form der Bildung des »vielen« und »einen«, der »Teile« und des »Ganzen«, soweit es sich um die Abzählung konkreter Mengen handelt, noch relativ gut gelingt: So erfordert der einfachste Akt des arithmetischen »Rechnens« neue und schwierigere gedankliche Operationen. Denn jeder derartige Akt ist darauf gegründet, daß die Zahl nicht nur als diese oder jene, als Bestimmtheit innerhalb einer Reihe gesetzt, sondern daß zugleich die Einheitssetzung frei variiert wird. Er verlangt nicht nur die Zuordnung zur Zahlenreihe als | einem festen Schema, sondern dieses Schema muß ungeachtet seiner Festigkeit als beweglich gedacht werden. Wie diese Vereinigung der beiden dem Anschein nach gegensätzlichen Forderungen zu denken und wie sie zu erreichen ist, zeigt jede elementare Addition oder Subtraktion. Ist etwa die Aufgabe gestellt, die Summe von 7 und 5 oder die Differenz von 7 und 5 zu bilden, so besagt sie im Grunde nichts anderes, als daß von der 7 aus um fünf Schritte vorwärts bzw. rückwärts gezählt werden soll. Das entscheidende Moment liegt also darin, daß die Zahl 7, indem ihre Stelle in der ursprünglichen Reihe festgehalten wird, nichtsdestoweniger zugleich in einem neuen »Sinne« genommen werden soll, daß sie als Anfangspunkt einer neuen Reihe gilt, in der sie jetzt die Rolle der Null übernimmt. Jede Zahl der ursprünglichen Reihe kann in dieser Weise zum Ausgang einer neuen Zählung gemacht werden. Der Anfang ist jetzt kein absoluter Anfang mehr, sondern ein relativer: Er ist nicht gegeben, sondern er muß von Fall zu Fall je nach den Bedingungen
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der Aufgabe gesetzt werden.226 Die Schwierigkeit ist also derjenigen genau analog, die sich beim Raume ergeben hat: Sie besteht in der freien Setzung und in der freien Aufhebung eines Koordinatenmittelpunkts sowie in dem Übergang zwischen Systemen, die sich auf verschiedene derartige Mittelpunkte beziehen. Die jeweiligen Grundeinheiten müssen nicht nur »festgestellt«, sondern in ebendieser Feststellung auch beweglich erhalten werden, so daß zwischen ihnen abgewechselt werden kann. In unserem zuvor gewählten Beispiel muß die Zahl Sieben ihre Bedeutung als Sieben bewahren und zugleich die Bedeutung der Null annehmen: Sie muß als Null fungieren können. Es ist, wie man sieht, schon ein komplexes Ineinander echt symbolischer Leistungen, das hier erfordert wird; und es kann demgemäß nicht Wunder nehmen, daß eben auf diesem Gebiete der aphasische Kranke am ehesten zu versagen pflegt. Denn auch dort, wo ihm die Zahlenreihe noch als starre Reihe zur Verfügung steht, vermag er sie doch niemals anders als in ebendiesem starren Sinne zu benutzen. Um die Bedeutung einer bestimmten Zahl zu fassen, um ihre Stelle innerhalb des Gesamtsystems richtig zu ermessen, muß er sich, von der 1 anfangend, gewissermaßen Schritt für Schritt zu ihr vortasten. Viele Kranke können, wenn man ihnen die Frage stellt, welche von zwei Zahlen, etwa 13 oder 25, die größere sei, diese Frage, wenn überhaupt, so nur dadurch beantworten, daß sie sich die Gesamtreihe der Zahlen | von 1–25 laut vorzählen und dann feststellen, daß in diesem Prozeß der Name der 25 nach dem der 13 auftaucht. Ein wirkliches Verständnis für den relativen Größenwert beider Zahlen aber wird bei diesem Verfahren nicht erreicht. Denn dieses setzt eben etwas anderes und etwas mehr voraus: Es erfordert, daß die beiden Zahlen, die auf ihre Größe hin verglichen werden, für sich genommen und für sich auf die Null, als den gemeinsamen Ausgangspunkt der Zählung, bezogen werden können. Nicht minder charakteristisch ist es, wenn die Kranken sich dort verwirren, wo ihnen, wie in den schriftlichen Additions- und Subtraktionsaufgaben, zugemutet wird, nicht nur einzelne Ziffern als Zahlzeichen zu gebrauchen, sondern auch den Stellenwert der einzelnen Ziffern zu unterscheiden. Denn wieder handelt es sich hierbei um den gleichen schwierigen Wechsel des »Gesichtspunkts«. Dasselbe sinnliche Zeichen, etwa das Schriftbild der Ziffer 2, hat jetzt zugleich einen Zahlwert und einen Positionswert – und es 226 Zu dieser Begründung der elementaren Rechenoperationen der Addition und Subtraktion auf der »Relativierung der Null« vgl. z. B. die Ausführungen von Paul Natorp, Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften, Leipzig 1910 (Wissenschaft und Hypothese, Bd. 12), S. 131 ff.
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291
kann demgemäß in seiner Bedeutung variieren, es kann bald für 2, bald für 20 oder 200 stehen. Eine ähnliche Schwierigkeit ergibt sich, wenn der Kranke irgendeine andere Leistung vollziehen soll, die zur Voraussetzung hat, daß er sich in einem numerischen System bewegt, das sich aus mehreren, zueinander in einer festen Beziehung stehenden Einheiten aufbaut. Im Hinblick auf die Zeit ist dies der Fall, wenn er z. B. eine bestimmte Zeitangabe dadurch markieren soll, daß er sie auf dem Zifferblatt einer Uhr richtig einstellt; im Hinblick auf die Zahl, wenn er innerhalb eines bestimmten Wertsystems, etwa eines Münzsystems, Münzen verschiedener Ordnung miteinander vergleichen und gegeneinander abschätzen soll. Für beide Leistungen hat Head bestimmte Prüfungsmethoden eingeführt, die er systematisch auf alle seine Kranken angewendet hat. Bei dem Uhrentest kam es auch bei solchen Kranken, die die Zeit auf einer Uhr richtig ablesen konnten, zu schweren Fehlgriffen, sobald sie eine Zeitangabe selbsttätig auf einer Uhr einstellen sollten. Die Bedeutung des großen und des kleinen Zeigers wurde oft miteinander verwechselt, und ebenso wurde, bei Angaben wie 20 Minuten vor, 10 Minuten nach fünf, das »Vor« und »Nach« miteinander vertauscht.227 Analog zeigte sich beim Gebrauch von Münzen, daß viele Kranke zwar die Fähigkeit bewahrt hatten, sie im täglichen Ge | brauch richtig zu verwenden, daß ihnen aber das Verständnis ihres »abstrakten« Werts abhanden gekommen war. Sie täuschten sich im allgemeinen nicht über die Art und Zahl der Münzen, die sie, beim Einkauf einer Ware, auf ein größeres Geldstück herauszubekommen hatten; aber dieses ihr Verhalten war nicht mehr auf eine bestimmte Rechnung und auf eine Abschätzung des relativen Werts der einzelnen Münzen gegründet, da Angaben über diese relativen Werte (z. B. darüber, wieviel Pennies in einem Shilling enthalten seien) häufig fehlerhaft oder unmöglich waren.228 Alle diese Störungen des Zeit- und Zahlbewußtseins weisen somit in die gleiche Richtung, die wir bei den Störungen des Raumbewußtseins beobachten konnten: Sie scheinen wesentlich in der Schwierigkeit gegründet, für die Auffassung räumlicher, zeitlicher und numerischer Verhältnisse 227 Heads Kranker Nr. 8 stellt auf die Aufforderung, 20 Minuten vor 6 zu markieren, die Zeit 6 Uhr 20 ein und sagt, auf den Fehler hingewiesen, »I can’t make out the difference between past and to six«. Auf die Aufforderung, »ein Viertel vor neun« (a quarter to nine) einzustellen, stellt er die Uhr auf neun und erklärte: »I don’t know from which side to approach it« (Head, Aphasia, Bd. II, S. 114). 228 Für die Einzelheiten der Uhren- und Münzentests muß auf Heads Krankengeschichten verwiesen werden; vgl. insbesondere die zusammenfassende Darstellung a. a. O., Bd. I, S. 210 ff. u. 335 ff.
292 Problem der Repräsentation und Aufbau der anschaulichen Welt 293–294
feste Bezugssysteme zu schaffen und vom einen auf das andere nach freier Wahl überzugehen. Räumlich gesprochen ist es die Setzung der Koordinatenebene und der Übergang von der einen zur anderen, die Koordinatentransformation, die dem Aphasischen mißlingt. Und auch hierin sehen wir uns auf frühere Erwägungen zurückgewiesen. Denn blicken wir etwa auf den zuvor erwähnten Fall von Farbennamenamnesie zurück, so zeigte sich auch hier, daß die eigentliche Störung darin zu bestehen schien, daß der Kranke mit seinen individuellen, hier und jetzt gegebenen optischen Erlebnissen zu eng verwachsen war, um ihnen gegenüberzutreten und sie auf bestimmte ausgezeichnete Punkte der Farbenreihe als Zentren zu beziehen. Er klebte gewissermaßen an seinen sinnlichen Kohärenzerlebnissen: Er vermochte von einem Glied der Farbenreihe zum nächstliegenden fortzugehen, aber nicht zwei sinnlich weit voneinander abliegende Farbennuancen, durch das Medium gewisser allgemeiner Farbbegriffe hindurch, mittelbar aufeinander zu beziehen. Und ebenso wechselte er zwischen verschiedenen »Beachtungsrichtungen« (zwischen der Zuordnung der Farben nach ihrem Grundton und der nach ihrer Helligkeit) ab, ohne sie beide scharf und sicher auseinanderhalten zu können: Er ging nicht bewußt von der einen in die andere über, sondern er glitt unvermerkt von einer in die andere ab. Dasselbe Abgleiten, dasselbe Unvermögen, eine bestimmte Weise der »Sicht« für sich festzuhalten und sich andererseits zwischen verschiedenen Arten der Sicht nach freier Wahl zu entscheiden, erscheint auch als der prinzipielle Grundmangel, auf dem die einzelnen | pathologischen Abweichungen in der Raum- und Zeitanschauung des Aphasischen, sowie in ihrer Zahlvorstellung, beruhen und von dem aus sie sich einheitlich begreifen lassen. Eine neue Bestätigung dieser Auffassung gewinnen wir, sobald wir von dem hier erreichten Punkte aus noch einmal auf die Probleme der »optischen Agnosie« zurückblicken. Auf den ersten Blick scheint es sich hier freilich um ganz andere Verhältnisse zu handeln: Denn bei dem Falle des »Seelenblinden«, den Gelb und Goldstein beschrieben haben, konnte zum mindesten von gröberen aphasischen Störungen nicht die Rede sein. Er drückte sich geläufig und oft mit auffallender Klarheit und Schärfe aus – und auch sein Sprachverständnis wies keinerlei deutlich erkennbare Mängel auf. Und doch ergab auch hier die nähere Untersuchung bestimmte »Intelligenzstörungen«, die den Beobachtungen, die Head und andere an aphasischen Kranken gemacht haben, genau entsprechen. Auch ihm war der eigentliche Sinn des Zahlbegriffs völlig verlorengegangen, wenngleich er in einem gewissen mechanischen Sinn noch zu »rechnen«, d. h., bestimmte ele-
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Pathologie des Symbolbewußtseins. Raum, Zeit und Zahl
293
mentare arithmetische Aufgaben zu lösen vermochte. Aber diese Lösung bestand lediglich darin, daß er die Aufgaben auf einen einfachen Zählprozeß zurückführte. So hatte er z. B. das Einmaleins, das er unmittelbar nach seiner Verletzung vergessen hatte, durch Unterricht wieder erlernt; aber einzelne Fragen aus ihm, z. B. die Frage, wieviel 5 x 7 sei, vermochte er immer nur dadurch zu beantworten, daß er von 1 x 7 = 7, 2 x 7 = 14 begann, um in der Form des Reihensprechens bis zu 5 x 7 weiterzugehen. Das gleiche galt für die Addition: War ihm hier etwa die Aufgabe gestellt, die Summe (4 + 4) zu bilden, so zählte er an den Fingern der linken Hand vom kleinen Finger angefangen bis zum Zeigefinger, dann weitergehend vom Daumen der linken Hand bis zum rechten Mittelfinger. Darauf wurde der Ringfinger und der kleine Finger eingeschlagen und sodann noch einmal die gesamte Reihe der Finger (vom kleinen Finger der linken Hand bis zum Mittelfinger der rechten Hand) durchgezählt, womit schließlich das Resultat 8 erreicht war. Mit diesem Resultat verband sich jedoch keinerlei »einsichtige« Erkenntnis über Zahl- und Größenverhältnisse: Die Frage z. B., ob 3 oder 7 größer sei, vermochte der Kranke nicht zu beantworten, es sei denn, daß er wiederum mittelbar, durch vollständiges Aufsagen der Zahlenreihe von 1 an, festgestellt hatte, daß die 7 »nach« der 3 komme. Ebensowenig besaß er eine Einsicht über den Zusammenhang verschiedener Zahl- und Rechenoperationen: Hatte er z. B. aus der Aufgabe 2 x 6 und aus der Aufgabe 3 x 4 das Ergebnis 12 gewonnen, so vermochte er doch irgendeine sachliche | Verknüpfung zwischen beiden Operationen nicht anzuerkennen; er erklärte, daß sie »absolut anders« seien. Eine Aufgabe wie (5 + 4 – 4) »rechnete« er vermöge seines Zählverfahrens richtig: Es war ihm aber nicht klarzumachen, daß das Resultat auch ohne solche Durchzählung zu erreichen sei, daß die beiden Operationen des Zu- und Abzählens von 4 sich gegenseitig aufheben. In Übereinstimmung hiermit erklärte denn auch der Kranke selbst, daß, während er mit anderen Worten der Sprache, z. B. mit dem Wort »Haus«, einen bestimmten anschaulichen Sinn verbände, die Zahlworte für ihn einen solchen Sinn nicht besäßen: Sie waren ihm zu bedeutungslosen Zeichen geworden.229
Diese »konkrete« Zählung, bei der auch jedesmal der Finger, der an der Reihe war, angesehen werden mußte, erinnert auffallend an gewisse Zählmethoden, die noch heute bei Naturvölkern in Gebrauch sind und die auch in ihrer Sprache ihren geistigen Niederschlag gefunden haben; vgl. insbes. die vortreffliche Darstellung des Zählverfahrens der »Primitiven« bei Lucien Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker (Teil 2, Kap. 5), übers., hrsg. u. eingel. v. Wilhelm Jerusalem, Wien/Leipzig 1921. 229
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Neben dieser Störung auf dem Gebiete des Rechnens aber ließ sich nun bei ihm auf Grund sorgsamer Beobachtung noch eine andere, ziemlich versteckte Denk- und Sprachstörung nachweisen. Sein Denken und Sprechen, das auf den ersten Blick keinerlei auffallende Abweichungen von den Denk- und Sprachnormen des Gesunden aufwies, versagte, sobald man dem Kranken zumutete, eine Analogie richtig zu erfassen oder eine sprachliche Metapher richtig zu verstehen. Hier bewies er meist eine völlige Desorientierung – weder gebrauchte er in seinem Denken und Sprechen Analogien und Metaphern, noch war ihm durch Erläuterung ihr Sinn näherzubringen: Er verhielt sich ihnen gegenüber durchaus ablehnend. Das Verständnis für das eigentliche »Tertium comparationis« blieb ihm in jedem Falle verschlossen.230 Und vielleicht noch merkwürdiger als dieser Zug war ein anderer, der im sprachlichen Verhalten des Kranken zu beobachten war. Er vermochte auch nachsprechend keine anderen als »wirkliche« Sachverhalte auszusagen, als solche, die seinen konkreten sinnlichen Erlebnissen unmittelbar entsprachen. Als ich ihm im Lauf einer Unterhaltung, die an einem hellen und heiteren Tage stattfand, den Satz: »Es ist heut schlechtes und regnerisches Wetter« vorsprach und ihn bat, diesen Satz zu wiederholen, war er hierzu nicht imstande. Die ersten Worte wurden leicht und sicher gesprochen: Dann aber stockte der Patient, hielt inne und war nicht zu bewegen, den Satz in der Form, in der er ihm vorgesagt worden war, zu beenden; er glitt immer wieder | in eine andere Form des Satzes über, die dem wirklichen Tatbestand entsprach. Ein anderer »Seelenblinder«, den ich im Frankfurter Neurologischen Institut sah und der infolge einer schweren rechtsseitigen Hemiplegie seinen rechten Arm nicht bewegen konnte, vermochte den Satz »Ich kann mit meiner rechten Hand gut schreiben« nicht zu wiederholen: Er setzte immer wieder statt des falschen Wortes »rechts« das »richtige« Wort »links« ein. Zwischen diesen beiden Fehlleistungen: der Fehlleistung im Rechnen und der im Gebrauch der Sprache, im Gebrauch der Analogie und der Metapher besteht auf den ersten Blick nicht der mindeste Zusammenhang – sie scheinen durchaus getrennten Gebieten anzugehören. Und doch: Ergibt sich nicht auch hier ein Gemeinsames, wenn wir auf das Ergebnis unserer früheren Untersuchung zurückblicken? Drückt sich nicht in der Rechenstörung wie in der Sprachstörung die gleiche Minderung 230 Für alle Einzelheiten muß hier auf die ausführlichen Protokolle bei Wilhelm Benary, Studien zur Untersuchung der Intelligenz bei einem Fall von Seelenblindheit, in: Psychologische Forschung. Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften 2 (1922), S. 209–297 verwiesen werden.
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295
und Hemmung im »symbolischen Verhalten« aus? Was dieses Verhalten für das arithmetische Rechnen, für das sinnvolle Operieren mit Zahlen und Zahlgrößen besagt, haben wir bereits gesehen. Um eine so einfache Aufgabe wie (7 + 3) oder (7 – 3) nicht nur mechanisch, sondern sinnvoll zu lösen: dazu muß die natürliche Zahlenreihe in einer doppelten Hinsicht betrachtet werden. Sie wird hierbei zugleich als »zählende Reihe« und als »gezählte Reihe« gebraucht. Es ist eine wiederholte Spiegelung, gewissermaßen eine Reflexion in sich selbst, die die Zahlenreihe bei der Durchführung jeder derartigen Rechnung erfährt. Der Zählprozeß beginnt zunächst bei der 1 und entfaltet von hier aus in einer fest bestimmten Ordnung die Reihe der »natürlichen Zahlen«. Aber er bleibt hierbei nicht stehen: Sondern an jeder Stelle dieser Reihe kann und muß nunmehr die gleiche Operation von neuem einsetzen. Bilde ich die Summe von 7 + 3, so heißt dies, daß der Anfang der »natürlichen Zahlenreihe« um 7 Stellen verschoben wird und daß von dem kraft dieser Verschiebung gewonnenen neuen Ausgangspunkt eine neue Zählung beginnt. Der früheren 7 entspricht jetzt die 0, der früheren 8 die 1 usf. – und die Lösung der Aufgabe besteht in nichts anderem als in der Einsicht, daß der 3 der zweiten Reihe die 10 der ersten bzw. bei der Subtraktion die 4 der ersten entspricht. Um es schematisch auszudrücken, haben wir hier neben der Grundreihe (a) zwei abgeleitete Reihen (b und c) zu bilden, die ihr kraft einer bestimmten eindeutigen Beziehung zuzuordnen sind: | 1
2
3
4
↑ 3
5
2
6
1
↓
7
8
9
10
……
0
1
2
3
…… (b)
↓
0
↑
(a)
(c)
Es muß bei jeder Rechenoperation von der Grundreihe in eine dieser abgeleiteten Reihen übergegangen und von ihnen wieder (in der Art, wie es die Pfeilspitzen unseres Schemas andeuten) zur Grundreihe zurückgegangen werden. Ebendiese Einstellung »desselben« Zahlwertes in verschiedene Zählweisen aber ist es, die dem Kranken unmöglich scheint. Er müßte, um die Operation nicht nur mechanisch, sondern sinnvoll durchzuführen, bei der 7 mit einer neuen Zählung, nach vorwärts oder rückwärts, beginnen, also die 7 als Null, die 8 bzw. die 6 als Eins usf. »ansehen« können. Dieses Ansehen der 7 als Null (wobei sie nichtsdestoweniger zugleich als 7 im Blickpunkt gehalten werden muß) ist in jedem Falle eine schwierige, rein repräsentative Leistung. Die 7 soll bleiben, was sie ist, ihre Beziehung auf die ursprüngliche Null soll festgehalten werden: Aber im Verlauf der Rechnung kann und soll sie zugleich die ursprüngliche Null (und im
296 Problem der Repräsentation und Aufbau der anschaulichen Welt 297–298
Verlauf anderer Operationen auch jede beliebige andere Zahl) ver treten und »für« sie einstehen. Während sie fortfährt, die 7 zu sein, kann sie nichtsdestoweniger als 0, als 1, als 2 fungieren. 231 Diese mehrfache Funktion ein und derselben Zahl vermag der Kranke sich nicht einsichtig zu machen: Die gleichzeitige spontane Einstellung auf verschiedene Blickpunkte und in verschiedene Blickrichtungen gelingt ihm nicht. Wir erkannten dies bereits an dem Fall der Farbennamenamnesie, wo es dem Kranken gleichfalls nicht möglich war, ein einzelnes konkret gegebenes Farbphänomen sowohl als dieses einzelne wie »im Hinblick« auf den Grundton oder im Hinblick auf seine Helligkeit zu betrachten und alle diese Betrachtungsrichtungen | scharf und klar gegeneinander abzugrenzen. Ebenso vermag der Seelenblinde es sich nicht begreiflich zu machen, daß man mit der Zahl Sieben eine neue Zählung beginnen lassen, diese Zahl also als Null behandeln könne. »Gab man dem Patienten die Aufgabe, von der 7 mit Weiterzählen anzufangen, und verhinderte ihn daran, tatsächlich bei der 1 mit leisem Zählen anzufangen, so konnte er […] das nicht. Er gab an, ›daß es wirr würde, weil er keinen Anhaltspunkt hätte‹.«232 Wieder entspricht dies, wie man sieht, bis auf den Wortlaut genau, der Äußerung jenes Head schen Patienten, der erklärte, daß er keine schematische Zeichnung seines Zimmers anfertigen könne, weil es ihm schwer oder unmöglich sei, einen willkürlich angenommenen Punkt als »Ausgangspunkt« (starting point) zu fixieren.233 Und von hier aus können wir uns nun auch verständlich machen, welcher Zusammenhang zwischen dem Unvermögen des Patienten, sprachliche Analogien und Metaphern richtig zu verwenden, und seiner seelischgeistigen Gesamthaltung besteht. Denn auch hier handelt es sich im Grunde um dieselbe oder doch um eine im Prinzip ähnliche Leistung. Was für das richtige Verständnis und den richtigen Gebrauch der Metapher erfordert wird, ist ebendies: daß dasselbe Wort in ver231 Stellt man die Aufgaben (7 + 3) (6 + 3) (5 + 3) wiederum in der Form des obigen Schemas dar
1
2
3
4
5
6
7
↓
↓
↓
8
9
10
(a)
0
1
2
3
(b)
0
1
2
3
0
1
2
3
(c) (d)
so fungiert die Zahl 7 der Reihe (a) in der Reihe (b) als Null, in der Reihe (c) als 1, in der Reihe (d) als 2 usf. 232 Benary, Studien, S. 217. 233 S. oben, S. 283 Anm. 216.
298–299
Pathologie des Symbolbewußtseins. Raum, Zeit und Zahl
297
schiedener Bedeutung »genommen« wird. Es hat neben dem, was es unmittelbar sinnlich vergegenwärtigt, noch einen anderen mittelbaren und »übertragenen« Sinn: Und das Verständnis der Metapher hängt daran, daß es gelingt, frei von dem einen Kreise des Sinns in den anderen überzugehen, sich bald in diese, bald in jene Bedeutung »einzustellen«. Wiederum ist es dieser spontane Wechsel des »Gesichtspunkts«, der dem Kranken erschwert oder unmöglich gemacht ist. Er haftet am Präsenten, am sinnlich Aufzeigbaren und Vorhandenen, das er nicht nach Belieben durch ein anderes Nichtvorhandenes ersetzen kann. Auch die Sprache folgt dieser Grundtendenz: Die Formung des Satzes gelingt, wenn dieser am Gegebenen, am unmittelbar Erlebten, einen festen Halt besitzt, aber sie wird ohne diesen Halt alsbald steuerlos – sie kann sich gleichsam nicht auf das hohe Meer des Denkens, das ein Denken nicht bloß von Wirklichkeiten, sondern von Möglichkeiten ist, hinauswagen. Daher vermag der Kranke immer nur Tatsächliches, nur Vorhandenes, nicht aber bloß Vorgestelltes oder Mögliches »auszusagen«.234 Denn hierzu gehört | eben, daß ein gegenwärtiger Inhalt behandelt wird, als wäre er nicht gegenwärtig, daß von ihm »abgesehen« und auf einen anderen rein ideellen Zielpunkt »hingesehen« wird. Diese Einordnung ein und desselben Erfahrungselements in verschiedene, gleich mögliche, Relationszusammenhänge und die gleichmäßige Orientierung an und in ihnen ist eine Grundleistung, die ebensosehr für das Denken in Analogien wie für das einsichtige Operieren mit Zahlen und Zahlzeichen erfordert wird. Man kann hier daran erinnern, daß die griechische Sprache das Wort Analogie eben in diesem zwiefachen Sinne gebraucht, daß es ihr sowohl zur Bezeichnung bestimmter sprachlich-logischer wie bestimmter arithmetischer Verhältnisse dient. Die Analogie ist hier noch der Gesamtausdruck für den Begriff des Verhältnisses, der »Proportion« überhaupt: ein Sprachgebrauch, der sich bekanntlich bis auf Kant und seine Behandlung der »Analogien der Erfahrung« in der »Kritik der reinen Vernunft« erhalten hat. Sie drückt also eine Grundrichtung des beziehentlichen Denkens aus, die gleich unerläßlich ist, um den »Sinn« der Zahl und um den »Sinn« eines sprachlich 234 Es kann hier daran erinnert werden, daß ein ähnliches Verhalten zur Sprache auch sonst in »primitiven« Geisteshaltungen begegnet. So berichtet z. B. Karl von den Steinen in seinem Buch über die Bakaïrí-Sprache (Die Bakaïrí-Sprache. Wörterverzeichnis, Sätze, Sagen, Grammatik. Mit Beiträgen zu einer Lautlehre der karaïbischen Grundsprache, Leipzig 1892), daß er den Eingeborenen, der ihm als Dol|metscher diente, stets nur sehr schwer dazu bringen konnte, ihm Sätze zu übersetzen, deren Inhalt ihm aus irgendeinem Grunde sinnlos oder unmöglich schien: Er pflegte die Wiedergabe solcher Sätze kopfschüttelnd abzulehnen.
298 Problem der Repräsentation und Aufbau der anschaulichen Welt 299–300
formulierten Beziehungsgedankens, einer sprachlichen »Metapher« zu erfassen. Ein moderner Mathemathiker wie Dedekind hat in seiner Schrift »Was sind und was sollen die Zahlen?« das gesamte System der »natürlichen Zahlen« auf eine einzige logische Grundfunktion zurückgeführt: Er sieht dieses System gegründet in der »Fähigkeit des Geistes […] Dinge auf Dinge zu beziehen, einem Dinge ein Ding entsprechen zu lassen, oder ein Ding durch ein Ding abzubilden«.235 Eine solche »Abbildung« – nicht etwa im imitativen, sondern in einem rein symbolischen Sinne – wird gleich sehr für die sinngemäße und sinnvolle Durchführung einer arithmetischen Operation wie für das sinngemäße Erfassen einer sprachlichen Analogie erfordert. In beiden Fällen muß eine Setzung, die zuvor in »absolutem« Sinne verstanden war, in eine relative Setzung umgebildet werden. Diese Umbildung ist es, bei der der »Seelenblinde« immer wieder auf Schwierigkeiten stieß: Wie er die Sieben immer nur als Sieben, aber nicht zugleich als Null nahm, so gelang ihm auch in der Sprache das Verständnis nur dann, wenn er alles, was man ihm sagte, »wörtlich nehmen« durfte.236 | Und noch von einer dritten, völlig anderen Seite her läßt sich der Zusammenhang, der zwischen den einzelnen Fehlleistungen im Gebiet der aphasischen und agnostischen Erkrankungen besteht, beleuchten. Wir haben bisher die Mängel im Rechen- und Zählverfahren und die im Verständnis und Gebrauch sprachlicher Analogien gewissermaßen auf einen gedanklichen Nenner zu bringen gesucht – aber wir fügen ihnen nunmehr andere Störungen hinzu, die mit diesen Mängeln Hand in Hand zu gehen pflegen, die aber freilich, rein begrifflich betrachtet, auf den ersten Blick wiederum keinerlei Verbindung mit ihnen zu besitzen scheinen. Head hat eine Gruppe von Tests ausgearbeitet und systematisch angewandt, bei denen die Aufgabe, die dem Kranken gestellt wurde, darin bestand, daß er Bewegungen, die der ihm gegenüberliegende Arzt vollzog, genau zu wiederholen hatte. Der Arzt zeigte mit seiner rechten Hand auf sein rechtes Auge, mit seiner linken Hand auf sein linkes Ohr – oder in den schwierigeren Fällen umgekehrt mit der rechten Hand auf das linke Auge usf. – und forderte den Patienten auf, die gleiche Bewegung zu vollziehen. In den meisten Fällen ergaben sich hierbei Irrtümer und Mißverständnisse: Richard Dedekind, Was sind und was sollen die Zahlen? Braunschweig S. VIII. 236 Für alle Einzelheiten vgl. die ausführlichen Protokolle bei Benary (Studien, S. 259 ff.). In einem dieser Protokolle tritt sehr anschaulich hervor, wie | sich der Patient die »Verhältnisvergleiche«, die er ausdrücklich für »schwer« erklärt, nach und nach auf logischen Umwegen, in seiner bekannten »diskursiven« und tastenden Art, näherzubringen weiß (a. a. O., S. 271). 235
21893,
300–301
Pathologie des Symbolbewußtseins. Raum, Zeit und Zahl
299
Statt die symmetrisch entsprechenden Bewegungen zu machen, vollzog der Kranke sehr häufig einfach kongruierende Bewegungen. Hatte der Arzt z. B. mit der linken Hand das linke Auge berührt, so wurde die Bewegung als solche zwar wiederholt, hierbei jedoch die rechte Hand des Kranken, die sich der linken des Arztes direkt gegenüber befand, gebraucht. Die Fehler verschwanden jedoch – außer in solchen Fällen, in denen der Patient infolge mangelnden Sprachverständnisses den Sinn der Aufgabe nicht klar erfaßt hatte – fast völlig, sobald der Arzt dem Patienten nicht mehr gegenüber saß, sondern sich hinter ihn setzte und ihn die Bewegungen, die er vollzog, durch einen Spiegel beobachten ließ. Head erklärt dies daraus, daß es sich im letzteren Falle um einen Akt der einfachen Nachahmung handle: Hier werde ein wahrgenommener Akt lediglich imitiert, während in dem ersteren Falle eine solche Imitation nicht genüge, die Bewegung vielmehr, ehe sie richtig wiedergegeben werden könne, auf eine sprachliche Formel gebracht werden müsse. Die Handlung gelinge, solange sie nichts anderes als die unmittelbare Wiedergabe eines sinnlichen Eindrucks verlange: Sie versage, sofern zu ihrer richtigen Durchführung ein Akt des »inneren Sprechens«, der »symbolischen Formulierung« er | forderlich sei.237 Wir widersprechen dieser Erklärung nicht – aber wir glauben, auf Grund unserer vorausgehenden theoretischen Erwägungen den Charakter und die Eigenart dieser »symbolischen« Formulierung nunmehr allgemeiner fassen und sie zugleich schärfer bestimmen zu können. Denn blicken wir auf diese Erwägungen zurück, so sehen wir, daß es nicht sowohl die Umsetzung des sinnlich Wahrgenommenen in Worte als vielmehr sozusagen die Umsetzung überhaupt ist, die den eigentlichen Kern der Schwierigkeit in sich schließt. Soll der Kranke die Bewegungen des vor ihm sitzenden Arztes richtig wiederholen, so ist dies nicht dadurch möglich, daß er sie mechanisch kopiert, sondern er muß zuvor eine Art Vertauschung ihres »Sinnes« vorgenommen haben. Was vom Arzt aus 237 Näheres s. bei Head, Aphasia, Bd. I, S. 157 ff. u. 356 ff. – Vgl. bes. a. a. O., S. 208: »Most patients with aphasia imitated my actions extremely badly, when we sat face to face, or if the order was given in the form of a picture; when, however, these movements or their pictorial representations were reflected in a mirror, they were usually performed without fail. For in the first case the words ›right‹ or ›left‹, ›eye‹ or ›ear‹, or some similar verbal symbol, must be silently interposed between the reception and execution of the command; but, when reflected in the glass, the movements are in many instances purely imitative and no verbalisation is necessary. It is an act of simple matching and such immediate recognition presents no greater difficulty than the choice from amongst those on the table of a familiar object laid before his sight or placed in his hand.«
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301
gesehen »rechts« ist, das ist von ihm aus gesehen »links« und umgekehrt: Und die richtige Bewegung kommt erst zustande, wenn dieser Unterschied scharf erfaßt und in jedem einzelnen Falle berücksichtigt, wenn die Handlung vom Bezugssystem des Arztes in das des Kranken »umgestellt« wird. Diese Umstellung, diese Transposition und Transformation, mißlingt in dem hier vorliegenden Falle, wie sie im Falle des arithmetischen Rechnens sowie in der Aufgabe, eine sprachliche Metapher als solche zu verstehen, mißlang.238 Es ist keine künst238 Die Schwierigkeit, von einer Form der »Einstellung« frei in eine andere überzugehen, wird auch von Goldstein in seinem neuesten zusammenfassenden Referat »Über Aphasie« (in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 19 [1926], S. 3–38 u. 292–322) als ein Wesensmoment der aphasischen Störungen hervorgehoben. »Viele der Perseverationen, die wir bei aphasischen Kranken so häufig finden«, so betont er, »und die man gewöhnlich einfach durch eine abnorme Perseverationstendenz zu erklären oder vielmehr wegzuerklären versucht, werden sofort – auch inhaltlich – verständlich, wenn man das Moment der Mangelhaftigkeit der Einstellung besonders die Beeinträchtigung des schnellen Wechsels der Einstellung berücksichtigt, wo sich dann vor allem auch die Tatsache, dass die sogenannte Perseveration keineswegs bei allen Leistungen gleich stark, eventuell nur bei bestimmten überhaupt auftritt, aufklärt.« (S. 298) Eine Be | stätigung der hier entwickelten Grundauffassung glaube ich auch in einem Aufsatz von Leendert Bouman und Anton Abraham Grünbaum sehen zu dürfen, der mir erst nachträglich bekannt geworden ist (Experimentell-psychologische Untersuchungen zur Aphasie und Paraphasie, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 96 [1925], S. 481–538). Der von Bouman und Grünbaum beobachtete Kranke, der ein früherer Kontorbeamter war, beherrschte noch gewisse elementare Rechenregeln, auf Grund deren er einzelne arithmetische Leistungen richtig vollziehen konnte. Aber daß es sich hierbei nicht um ein sinnvolles Operieren mit Zahlen und Zahlbegriffen handelte, geht daraus hervor, daß es ihm nicht gelang, die verschiedenen in einer Rechnung gebrauchten Einheiten klar voneinander zu sondern und sie im Verlauf des Rechenprozesses auseinanderzuhalten. Wird ihm etwa die Aufgabe gestellt, anzugeben, wieviel 5 Pfund Äpfel kosten, wenn der Preis für ein Pfund 30 cts. beträgt, so wird die Zahl 150 zwar nach einiger Mühe richtig ermittelt, aber ihre »Benennung« verfehlt; der Kranke glaubt, daß es sich um 150 Äpfel handle. Auch für die Frage, wie lange er von 100 Gulden leben könne, wenn er pro Tag 5 Gulden ausgebe, findet der Kranke das rein rechnerische Resultat 20, ist aber völlig ratlos darüber, ob diese Ziffer eine Angabe von Tagen oder von Wochen und Jahren, ja sogar von Gulden bedeute (a. a. O., S. 506 f.). Nicht minder charakteristisch ist sein Verhalten gegenüber bestimmten geometrischen Aufgaben. Wird ihm eine Reihe von Figuren vorgelegt, z. B. von Dreiecken, Quadraten und Kreisen, die teilweise ineinander eingeschrieben sind oder einander kreuzen, so daß verschiedene Stellen der umzeichneten Flächen gemeinsam mehreren Figuren, andere Stellen dagegen bloß einer Figur angehören, so gelingt es dem Kranken jedesmal, einen Punkt zu zeigen, der bloß einer Figur angehört. Wird er dagegen aufgefordert, einen Punkt anzugeben, der dem Dreieck und Viereck, dem Dreieck und Kreis oder dem Dreieck, Viereck und Kreis gemeinsam ist, so vermag er dies nur nach
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liche Deutung, der wir hier, um der Einheit und | Geschlossenheit unserer »Systematik« willen, die klinisch beobachteten Phänomene unterwerfen: Vielmehr weisen diese Phänomene selbst durchaus in die Richtung dieser Erklärung. Nicht selten sind es die Kranken selbst, die, in überraschender Schärfe und Prägnanz, ebendiesen Charakter der Störung betonen – die darauf hinweisen, daß die Schwierigkeit in der vorgelegten Aufgabe derjenigen zu vergleichen sei, die sich bei der Übersetzung eines Textes aus einer fremden Sprache in die Muttersprache ergebe.239 Wir erinnern uns hier, daß auch die Sprache selber sich | erst allmählich zum Organon des rein beziehentlichen Denkens geformt hat – und daß eben hierin eine ihrer höchsten und schwierigsten Leistungen besteht. Auch sie beginnt von der Darstellung konkret-anschaulicher Einzelbestimmungen, um sich sodann stetig, durch mannigfache Zwischenstufen hindurch, zum logischen Verhältnisausdruck umzubilden.240 Aber das Problem, das hier vorliegt, gehört freilich nicht ausschließlich dem Kreise der Sprache und der sprachlichen Begriffsbildung an, noch kann es innerhalb desselben seine völlige Aufhellung finden. Auch die »Pathologie des Symbolbewußtseins« drängt uns zu einer weiteren Fassung dieses Problems: Denn sie tritt, nicht minder als in bestimmten Sprachstörungen und in Störungen des wahrnehmenden Erkennens, auch in gewissen Störungen des Handelns zutage. Dem Krankheitsbild der Aphasie und der optischen und taktilen Agnosie tritt das Krankheitsbild der Apraxie zur Seite. Wir versuchen auch dieses letztere in den Umkreis unseres sehr langer Überlegung und sichtlicher Anstrengung, und es tritt zugleich eine starke subjektive Unsicherheit und Zweifel an der Korrektheit der Lösung auf (a. a. O., S. 485). Auch hier scheint somit die Schwierigkeit für den Kranken vor allem in der Forderung zu liegen, ein und dasselbe »Element« gleichzeitig in verschiedene Relationszusammenhänge einzustellen, es verschiedenen geometrischen Gesamtheiten »angehörig« und auf sie bezogen zu denken: Denn ebendies würde jenen freien Wechsel der »Sicht« voraussetzen, der in den aphasisch-agnostischen Erkrankungen gehemmt ist. 239 Einer der Headschen Kranken, ein junger Offizier, der anfangs die Aufgaben des »Hand-, Augen- und Ohrentests« höchst mangelhaft gelöst hatte, vermochte längere Zeit darauf, nachdem sein Zustand sich wesentlich gebessert hatte, die hierauf bezüglichen Prüfungen relativ gut zu bestehen. Zur Erklärung dieses Verhaltens fügte er hinzu: »I look at you and then I say ›he’s got his hand on my left therefore it’s on the right.‹ I | have to translate it, to transfer it in my mind.« (Krankengeschichte Nr. 8, Head, Aphasia, Bd. II, S. 123) Ein anderer Kranker erklärte: »I’ve always said it is like translating a foreign language which I know but not very well; it’s like translating from French into English.« (Krankengeschichte Nr. 17, a. a. O., S. 257). 240 Näheres s. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 156 ff., 171 ff., 183 ff. u. 282 ff. [ECW 11, S. 157 ff., 173 ff., 185 ff. u. 287 ff.].
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allgemeinen Problems einzubeziehen: Wir stellen die Frage, ob und wiefern auch die »apraktischen« Störungen uns einen tieferen Einblick in die Strukturgesetze des Handelns gewähren, wie die agnostischen und aphasischen Störungen uns dazu verhalfen, den theoretischen Aufbau der Wahrnehmungswelt und ihre eigentümliche Artikulation schärfer zu erfassen.
V. Die pathologischen Störungen des Handelns Daß die Störungen der Sprache, die man unter dem Begriff der Aphasie zusammenfaßt, und die Störungen des wahrnehmenden Erkennens, die man als optische oder taktile Agnosie bezeichnet, sehr häufig mit bestimmten Störungen des Handelns verknüpft sind, ist früh bemerkt worden. Ebendiese Beobachtungen waren es, die immer wieder zu der Ansicht hinführten, daß es sich im Symptomenkomplex der Aphasie und Agnosie nicht um die Schädigung oder den Ausfall streng umgrenzter Einzelleistungen handeln könne, sondern daß in ihnen die »Intelligenz« im allgemeinen in irgendeiner Weise herabgemindert sein müsse. Nahm man, im Sinne von Pierre Marie, einen solchen »intellektuellen Verfall« als Grund der Aphasie an, so erschien es nicht nur | verständlich, sondern geradezu notwendig, daß derselbe sich nicht nur auf dem Gebiet des Sprachverständnisses und der sprachlichen Äußerungen des Kranken, sondern auch im Gebiet des Tuns, des praktischen Verhaltens irgendwie dokumentieren müsse. In der Tat lehrte die Beobachtung, daß hier nicht selten schwere Beeinträchtigungen vorlagen. Die Kranken vermochten etwa auf Geheiß eine bestimmte einfache Handlung noch richtig zu vollziehen; aber sie waren nicht mehr imstande, irgendeinen komplexen Akt, der sich aus solchen Teilhandlungen aufbaute, richtig auszuführen. Ein Kranker kann etwa auf die Aufforderung des Arztes die Zunge zeigen, die Augen schließen oder dem Arzt die Hand reichen – aber die Leistung wird unsicher und fehlerhaft, sobald man mehrere dieser Akte gleichzeitig von ihm fordert.241 Noch stärker treten Schädigungen dieser Art hervor, wenn der Kranke vor eine Wahlfrage gestellt wird – wenn er sich innerhalb einer bestimmten konkreten Lage für ein »Ja« oder »Nein« entscheiden soll. So kann er z. B. die Fragen, ob er ausgehen oder zu Hause bleiben wolle, wenn sie ihm einzeln dargeboten werden, korrekt beantworten, während er die Frage, ob er das eine oder das andere wolle, nicht richtig erfaßt. In einer Prüfung Heads, die 241
Vgl. z. B. Heads Krankengeschichte Nr. 9, Aphasia, Bd. II, S. 139.
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darin bestand, daß vor dem Kranken auf einem Tisch eine Anzahl von Gegenständen des täglichen Gebrauchs – ein Messer, eine Schere, ein Schlüssel – ausgebreitet wurden, die er mit anderen, die ihm in die Hand gegeben oder vor Augen gestellt wurden, zu vergleichen hatte, vollziehen viele Kranke die Leistung ohne jeglichen Fehler, solange es sich darum handelt, zu einem optisch oder taktisch dargebotenen Objekt das Duplikat auf dem Tisch vorzuzeigen; aber sie verwirren sich, sobald ihnen zwei oder mehrere Gegenstände gleichzeitig vorgehalten werden. Der Akt der Vergleichung zwischen dem Modell und dem Duplikat erfolgt alsdann zögernd oder fehlerhaft, wenn er nicht überhaupt unterbleibt.242 In anderen Fällen kann ein Kranker eine bestimmte Handlung zwar automatisch vollziehen, aber nicht willkürlich produzieren: Er streckt z. B. die Zunge heraus, wenn es sich darum handelt, die Lippen anzufeuchten, vermag dies aber nicht, ohne einen derartigen Anlaß, auf das bloße Geheiß des Arztes hin zu tun.243 In alledem scheint unverkennbar, daß bei dem aphasischen Kranken die Krankheit nicht nur die Form seines Denkens und seines Wahrnehmens, sondern auch die seines Wollens und seines willkürlichen Handelns beeinträchtigt | oder umgestaltet. Damit entsteht für uns die Frage, ob auch diese Umgestaltung in eine ganz bestimmte Richtung weist, die sich durchgehend beobachten läßt, und ob die Verfolgung dieser Richtung dazu dienen kann, uns weitere Aufschlüsse über das theoretische Grundproblem zu verschaffen, dem unsere Betrachtung gilt. Ehe jedoch die Frage in dieser Allgemeinheit gestellt wird, gilt es, das »Krankheitsbild der Apraxie«, wie es durch die klinische Beobachtung festgestellt ist, schärfer zu umgrenzen und es in seine feineren Besonderungen zu verfolgen. Es ist das Verdienst von Hugo Liepmanns innerhalb dieses Gebietes grundlegenden Forschungen, daß sie gegenüber der Mannigfaltigkeit der klinischen Symptome zuerst eine solche scharfe begriffliche Sonderung durchzuführen versuchten. Liepmann faßt den Allgemeinbegriff der »Apraxie« derart, daß er darunter jede Störung der einen bestimmten Zweck verfolgenden Willkürbewegungen versteht, sofern diese Störung weder durch die mangelnde Bewegungsfähigkeit der Glieder noch auch durch Vgl. z. B. die Krankengeschichte Nr. 1, a. a. O., Bd. II, S. 6. Fälle dieser Art erwähnt z. B. Hughlings Jackson; vgl. Loss of Speech: Its Association with Valvular Disease of the Heart and with Hemiplegia on the Right Side. Defects of Smell. Defects of Speech in Chorea. Arterial Lesions in Epilepsy, in: Brain. A Journal of Neurology 38 (1915), S. 28–42: S. 37; ders., Remarks on Non-Protrusion of the Tongue in some Cases of Aphasia, a. a. O., S. 104–106: S. 104. 242 243
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ein mangelndes wahrnehmendes Erkennen der Objekte, auf die sich das Tun richtet, bedingt ist. Die Beweglichkeit der Gliedmaßen als solche muß bei der Apraxie erhalten, sie darf weder durch Lähmung noch Parese beeinträchtigt sein – und andererseits darf das fehlerhafte Handeln des Kranken nicht auf einem Verkennen der Gegenstände beruhen. In solchen Fällen des Verkennens, wie sie in der optischen oder taktilen Agnosie vorliegen, dürfen wir von einer Apraxie im strengen Sinne nicht reden. »Wer einen Gegenstand falsch gebraucht, weil er ihn verkennt, dessen Handeln, dessen πCττειν ist offenbar an sich ganz korrekt, nur infolge falscher Voraussetzungen verkehrt. Das Handeln selbst ist ganz im Einvernehmen mit den Voraussetzungen. Wer eine Zahnbürste für eine Zigarre hält, handelt ganz korrekt, wenn er an ihr Rauchversuche vornimmt.«244 Haben wir damit eine allgemeine Abgrenzung der Apraxie gewonnen, so lassen sich weiterhin nach Liepmann innerhalb derselben zwei Grundformen der Störung bestimmt unterscheiden. Die richtige Ausführung einer Handlung kann entweder dadurch vereitelt werden, daß der Wille im Entwurf der Handlung, in der »Idee«, die er sich von ihr | im voraus macht, fehlgeht, oder dadurch, daß dieser Entwurf zwar sachgemäß vollzogen, daß aber bei dem Versuch der Ausführung das eine oder andere Glied dem »Befehl« des Willens nicht gehorcht. In dem ersten Fall spricht Liepmann von ideatorischer, in dem zweiten Fall von motorischer Apraxie. Bei der ideatorischen Apraxie ist es die »Intention« der Gesamthandlung und die Zerlegung dieser Intention in einzelne Teilakte, die in irgendeiner Weise gelitten hat. Damit diese Teilakte in der rechten Weise ineinandergreifen, damit sie sich zum Ganzen einer Handlung zusammenschließen, müssen sie in einer bestimmten Ordnung intendiert und vollzogen werden: Und diese ist es, die in der ideatorischen Apraxie gestört erscheint. Es handelt sich hier um die Verwechslung oder die zeitliche Vertauschung der einzelnen Komponenten eines komplizierten Handlungsgefüges. Wird dem Kranken etwa eine Zigarre und eine Streichholzschachtel in die Hand gegeben, so öffnet er die Schachtel und drückt sie zu, als hielte er sie für einen Zigarrenabschneider; dann reibt er, statt ein Zündholz herauszunehmen, mit der Zigarre an der Seitenfläche der Streichholz244 Liepmann, Ueber Störungen des Handelns bei Gehirnkranken, S. 10; zum Folgenden vgl. bes. Liepmanns Schrift »Das Krankheitsbild der Apraxie«. – Zur Orientierung wurden im folgenden auch die zusammenfassenden Berichte von Karl Kleist, Der Gang und der gegenwärtige Stand der Apraxieforschung, in: Ergebnisse der Neurologie und Psychiatrie 1 (1912), S. 343–452 und von Kurt Goldstein, Über Apraxie, in: Beihefte zur Medizinischen Klinik 7 (1911), S. 271–302 herangezogen.
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schachtel.245 Hier werden also Bewegungen vollzogen, die tatsächlich dem geforderten Bewegungskomplex angehören, aber sie treten weder in der nötigen Vollständigkeit noch in regelrechter Folge auf. Im Fall der »motorischen Apraxie« dagegen ist es nicht der Bewegungsentwurf als solcher, der in irgendeiner Weise pathologisch verändert ist; sondern hier wird derselbe im allgemeinen richtig konzipiert, kann aber trotzdem nicht mehr in gleicher Weise wie beim Gesunden in die Tat umgesetzt werden. Das von der Krankheit betroffene Glied versagt sozusagen dem Willen den Dienst: Es läßt sich nicht mehr in die Richtung zwingen, die der Wille ihm vorschreibt. Am auffälligsten tritt dies dort hervor, wo ein einzelnes Glied in dieser Weise gewissermaßen aus dem Gesamtverband des Wollens und Vollbringens ausgeschaltet ist, während andere Glieder die Fähigkeit der Ausführung zweckmäßiger Bewegungen bewahrt haben. In dem berühmten Fall des Liepmannschen »Regierungsrats« etwa, der für die Apraxieforschung eine Art klassischer Bedeutung erlangt hat, zeigte sich das Merkwürdige, daß dem Kranken die einfachsten Bewegungen mißlangen, sobald er sie mit der rechten Hand auszuführen versuchte, daß aber die linke Hand die gleichen Handlungen im allgemeinen fehlerlos zu vollziehen vermochte. Hier kann also dem »Ich« des Kranken, hier kann ihm selbst als einheitlichem Subjekt, das richtige | Verständnis der Aufgabe und alle sonstigen psychisch-geistigen Bedingungen zu ihrer Lösung nicht abgesprochen werden. Wenn der Kranke z. B. mit der linken Hand eine mit einem Stöpsel geschlossene Flasche zu öffnen und sich aus ihr ein Glas Wasser einzuschenken vermochte, so bekundet er darin, daß er die einzelnen Bewegungen, die in diese Handlungsfolge eingehen, geistig beherrscht und daß er sie in der gehörigen Ordnung aneinanderzureihen versteht. Der ganze »ideatorische Prozess« verläuft also durchaus normal: Daß er trotzdem die gleiche Leistung mit der rechten Hand nicht auszuführen vermag, beweist, daß die Störung, statt in diesem ideatorischen Prozeß, vielmehr in der Übertragung desselben auf das Motorium der rechten Hand liegen muß. Die Apraxie ist in diesem Fall nicht sowohl eine psychische Gesamtstörung, als sie eine »Störung nach Gliedmassen« ist: Sie zeigt, wie der gesamte sensomotorische Apparat eines bestimmten Einzelgliedes von dem seelischen Gesamtprozeß »abgespalten« sein kann.246 245 Karl Bonhoeffer, Casuistische Beiträge zur Aphasielehre, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 37 (1903), S. 564–597 u. 800–825: S. 802; zit. nach: Liepmann, Ueber Störungen des Handelns bei Gehirnkranken, S. 22 f. 246 Liepmann, Ueber Störungen des Handelns bei Gehirnkranken, S. 36 ff. [Zitate S. 39 u. 40].
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Die Kranken selbst scheinen diese eigentümliche »Abspaltung« zu empfinden. So klagte ein linksseitiger apraktischer Patient Heilbronners darüber, daß er seiner linken Hand nicht trauen könne: Während die rechte liegenbleibe, wohin er sie lege, könne er die linke niemals so festlegen, daß sie nicht gelegentlich immer wieder bestimmte von ihm selbst nicht gewollte Bewegungen vollziehe. Die Aktionen dieser Hand bezeichnete der Kranke nie als seine eigenen: Er empfand sie sich selbst als in keiner Weise zugehörig und brachte das auch sprachlich dadurch zum Ausdruck, daß er von ihnen in der dritten Person sprach.247 Daß pathologische Störungen dieser Art für die gesamte Psychologie der »Handlung« von entscheidender Bedeutung, daß sie geeignet sind, uns tiefer in die zentralen Probleme des »Willens« und der willkürlichen Bewegung eindringen zu lassen, kann kaum zweifelhaft sein. Im Zusammenhang unserer Grundfrage aber dürfen wir zunächst von diesen Erscheinungen der »motorischen« und der »gliedkinetischen« Apraxie absehen, um uns den Phänomenen zuzuwenden, die Liepmann unter dem Namen der »ideatorischen Apraxie« zusammenfaßt. Denn eben hier grenzen wiederum »Theorie« und »Praxis« nahe aneinander: Hier zeigt es sich, daß die Form des Tuns unlöslich mit der des Denkens und des Vorstellens verschmolzen ist. Und es erhebt sich nunmehr die allgemeine Frage, welche Art, welche Tendenz und Richtung des »Vorstellens« es ist, durch die unsere Willkürhandlungen charakterisiert und durch die sie spezifisch von Handlungen anderer Art ge | schieden sind. Läßt sich auch hier jener Unterschied aufweisen, der sich uns in der vorangehenden Betrachtung bewährt hat: der Unterschied zwischen einer »unmittelbaren« und einer »mittelbaren« Form des Handelns, zwischen »präsentativer« und »repräsentativer« Geisteshaltung, zwischen einem Haften am sinnlichen Eindruck und an den sinnlichen Gegenständen und einem Verhalten, das sich von dieser Bindung loslöst und in eine andere, in eine symbolisch-ideelle Sphäre übergeht? Eine der bekanntesten durchgängig beobachteten Erscheinungen im Gebiet der apraktischen Störungen besteht darin, daß auch hier das Krankheitsbild den auffallendsten Schwankungen unterliegt, sofern man sich damit begnügt, lediglich die einzelnen Leistungen, deren der Kranke fähig ist, zusammenzustellen. Es zeigt sich alsbald, daß man hiermit, ebensowenig wie in der Beschreibung der apha-
247 Heilbronner, Die aphasischen, apraktischen und agnostischen Störungen, S. 1043 f.
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sischen Störungen, zu irgendeinem scharfen und eindeutigen Ergebnis gelangt. Wie sich die Schädigungen der Sprache nicht vom bloßen Wortgebrauch des Kranken aus ablesen lassen, wie vielmehr dem Kranken unter bestimmten Bedingungen ein Wort durchaus zur Verfügung stehen kann, das ihm unter anderen Bedingungen versagt ist: so gilt das gleiche auch für das Handeln und für die Ausführung bestimmter Bewegungen. Es gibt Situationen, in denen solche Bewegungen ohne Schwierigkeit ausgeführt werden, während sie in anderen völlig versagen. Der Kranke vermag z. B. die Bewegung des Drohens nicht zu markieren – aber er vollzieht, sobald er selbst in Zorn gerät, eine völlig korrekte Drohbewegung. Ein anderer kann auf Geheiß die Hand nicht zum Schwur erheben; aber er gibt ihr sofort die richtige Stellung, sobald ihm die Worte der Schwurformel vorgesprochen werden. Man hat, um Differenzen dieser Art zum Ausdruck zu bringen, zwischen »konkreten« und »abstrakten« Bewegungen unterschieden. Unter den letzteren versteht man hierbei isolierte Willkürbewegungen, die auf Aufforderung hin gemacht werden; unter den ersteren die Bewegungen des täglichen Lebens, die sich in bestimmten Lagen mehr oder weniger automatisch einstellen. Ein Kranker Goldsteins, der in all seinen »abstrakten« Bewegungen aufs schwerste geschädigt war, zeigte sich durch diese Schädigung in seinen Alltagsleistungen kaum wesentlich behindert: Er wusch sich allein, er rasierte sich selbst, er ordnete alle seine Sachen, er vermochte einen Hahn aufzudrehen, einen elektrischen Kontakt zu bedienen usf. Aber alle diese Tätigkeiten gelangen nur, sofern sie am Gegenstand selbst, am wirklichen Objekt vorgenommen werden durften. Forderte man den Kranken etwa auf, an die Tür zu klopfen, so gelang ihm dies, solange er mit seinem | Finger die Tür erreichen konnte; aber die begonnene Klopfbewegung wurde sofort unterbrochen, sobald man ihn auch nur einen Schritt weit von der Tür zurückzog und ihn dadurch hinderte, sie tatsächlich mit dem Finger zu berühren. Ebenso vermochte der Kranke einen Nagel einzuschlagen, wenn er, den Hammer in der Hand haltend, unmittelbar vor der Wand stand; aber sobald ihm der Nagel genommen wurde und er die Bewegung des Einschlagens bloß anzeigen sollte, stockte er oder machte höchstens eine unbestimmte Bewegung, die sich von der zuvor ausgeführten unverkennbar unterschied. Wurde ihm ein Papierschnitzel auf den Tisch gelegt, so konnte er es auf Geheiß wegblasen, aber die gleiche Bewegung des Blasens, sobald das Papierstückchen weggenommen wurde, in keiner Weise markieren. Ähnliches galt von den reinen Ausdrucksbewegungen: Der Kranke war nicht imstande, auf Aufforderung zu lachen, wohl aber lachte er, sobald im Verlauf des Gesprächs eine lächerliche
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Bemerkung fiel.248 Auch wenn man Kranken dieser Art die gewünschte Bewegung vormacht, sind sie nur selten imstande, sie nachzuahmen – oder die Nachahmung erfolgt in einer Weise, daß die Bewegung nicht als Ganzes wiederholt wird, sondern daß der Kranke nur versucht, sie stückhaft aus einzelnen Teilen, die er erfaßt hat, aufzubauen. Selbst dann, wenn dem äußeren Effekt nach eine relativ gute Nachahmung vorzuliegen scheint, ist demnach der gesamte Typus der Handlung verändert. »Machte man [dem Kranken] einen Kreis vor, so sah er immerfort abwechselnd auf den Arzt, der die Bewegungen vormachte, und auf seine eigene Hand. Man konnte deutlich sehen, wie er Teil für Teil nachmachte. […] Er beschrieb so eigentlich gar keinen Kreis, sondern nur kurze Linien, die er aneinanderreihte und die im Effekt etwas dem Kreis Ähnliches, richtiger gesagt ein vielseitiges Polygon ergaben. Wie wenig er eigentlich einen Kreis beschrieb, ging deutlich daraus hervor, daß sich durch plötzliche Veränderung des Vormachens die von ihm begonnene kreisähnliche Bewegung ohne weiteres in eine Ellipse oder irgendeine andere Figur verwandeln ließ.«249 Wir haben hier nur gewisse charakteristische Hauptzüge des Krankheitsbildes der Apraxie wiederzugeben versucht: Und wir halten nun in dieser Wiedergabe inne, um uns die Frage zu stellen, wie diese Züge theoretisch zu beurteilen sind. Die ältere Anschauung pflegte auch hier, ähnlich wie sie es gegenüber den | aphasischen Störungen tat, den Verlust bestimmter »Gedächtnisbilder« als den eigentlichen Grund des veränderten Verhaltens des Kranken anzusehen. Wie der Verlust der »Klangbilder« oder »Schriftbilder« die Störungen im Wortverständnis oder im Gebrauch der Schrift erklären sollte, so suchte man auch die Veränderungen im Tun im wesentlichen durch Schädigungen der »Erinnerung«, der Wiedererweckung früherer Eindrücke, besonders der Eindrücke auf kinästhetischem Gebiet, zu erklären. Im Anschluß an Wernicke , der diese Erklärung für das ganze Gebiet der »asymbolischen« Störungen durchzuführen suchte, sieht auch Liepmann zunächst als Grundbedingung für die pathologischen Veränderungen des Handelns den Umstand an, daß bei den Kranken »die Erinnerung für bestimmte erlernte Bewegungsformen überhaupt erloschen oder wenigstens schwer erweckbar ist, [so daß sie z. B.] beim Hantieren [mit Objekten] erst unter Mithilfe der von den betreffenden Objekten zufließenden optisch-taktil-kinästheti248 Näheres in Goldsteins Aufsatz »Über die Abhängigkeit der Bewegungen von optischen Vorgängen« (vgl. oben, S. 281), S. 147 ff. 249 A. a. O., S. 166.
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schen Eindrücke auftaucht«. Diese Unfähigkeit, aus der Erinnerung Bewegungen auszuführen – eine Unfähigkeit, die sich keineswegs allein auf die Ausdrucksbewegungen beschränke, sondern auch bei anderen allbekannten Objektmanipulationen zutage trete –, erscheint daher bei Liepmann als der Kern der »apraktischen« Störungen.250 Es scheint jedoch, daß Liepmann diese Theorie, durch die die Apraxie im wesentlichen auf eine Beeinträchtigung der rein reproduktiven Vorgänge zurückgeführt wurde, auf die Dauer selbst nicht genügte, so daß er sie zu verfeinern und zu modifizieren suchte.251 Was zunächst gegen diese Auffassung spricht, ist die von ihm selbst anerkannte und hervorgehobene Tatsache,252 daß ganz analoge Mängel, wie sie sich in der »freien« Bewegung zeigen, auch dort hervorzutreten pflegen, wo es sich um die bloße Nachahmung von Bewegungen handelt. Wenn der Kranke eine bestimmte Bewegung bloß deshalb nicht vollziehen kann, weil er ihr Gedächtnisbild in sich nicht wiederzuerwecken vermag – sollte er dann nicht wenigstens imstande sein, sie zu wiederholen, wenn sie | ihm durch einen anderen dargeboten und dadurch unmittelbar wieder ins Gedächtnis zurückgerufen wird? Auch sonst scheint diese Erklärungsweise gerade den feineren Zügen des Krankheitsbildes der Apraxie, wie sie durch Liepmann selbst festgestellt worden sind, gerade dem spezifischen Charakter der hier vorliegenden Anomalien nicht gerecht zu werden. Als Goldstein mir die Erkrankung seines Patienten Schn., von der im Vorstehenden die Rede war, im Frankfurter Neurologischen Institut demonstrierte – da erschien mir als einer der merkwürdigsten und frappierendsten Züge die Tatsache, daß der Kranke eine Bewegung, die er noch unmittelbar zuvor völlig korrekt ausgeführt hatte, sofort unterließ, sobald man ihm gewissermaßen das objektive »Substrat« für sie entzog. Hatte er soeben noch, an der Tür stehend, die Bewegung des Pochens mit seinem linken Arm richtig ausgeführt, so kam sie sofort zum Stillstand,
250 Vgl. Hugo Liepmann, Die linke Hemisphäre und das Handeln (1905), in: ders., Drei Aufsätze aus dem Apraxiegebiet, v. Verf. neu durchges. u. mit Zusätzen vers., Berlin 1908, S. 17–50: S. 26 ff. u. 33 [Zitat]. 251 In einem Vortrag, den Liepmann im Jahr 1907 auf der Jahresversammlung der Irrenärzte in Frankfurt a. M. gehalten hat, ist, soviel ich sehe, die Erklärung der Apraxie aus bloßen Störungen der »Reproduktion« endgültig verlassen: Liepmann selbst hebt hier hervor, daß sich Apraxie nicht generell als Verlust von Erinnerungen, Gedächtniseinbuße oder als Folge einer Intelligenzstörung, im Sinne der Theorie Pierre Maries, definieren lasse (Über die Funktion des Balkens beim Handeln und die Beziehungen von Aphasie und Apraxie zur Intelligenz, in: ders., Drei Aufsätze aus dem Apraxiegebiet, S. 51–78: S. 66). 252 Vgl. ders., Die linke Hemisphäre und das Handeln, S. 27 ff.
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sobald man ihn auch nur um die Breite eines Schrittes von der Tür zurückzog: Der schon erhobene Arm blieb jetzt förmlich wie gebannt in der Luft stehen, und es gelang keiner Aufforderung des Arztes, ihn wieder in die entsprechende Bewegung zu versetzen. Soll man wirklich annehmen, daß in diesem Falle das Erinnerungsbild der Klopfbewegung, also einer Bewegung, die er noch wenige Sekunden vorher vollzogen hatte, aus dem Gedächtnis des Kranken entschwunden war? Oder war das mangelnde kinästhetische Gedächtnisbild des Blasens schuld daran, daß der Kranke, der eben noch ein Papierschnitzel vom Tisch weggeblasen hatte, die Bewegung nicht zu wiederholen vermochte, sobald er sie ohne den Gegenstand, gewissermaßen ins Leere hinein, vollziehen sollte? Ein so eigenartiges Phänomen fordert ersichtlich eine andere und tiefere Erklärung, als sie durch den bloßen Rückgang auf irgendwelche Assoziationsmechanismen gewonnen werden kann. Goldstein hat diese Erklärung zu geben versucht, indem er auf die prinzipielle Abhängigkeit aller Bewegungen und insbesondere aller »abstrakten« Willkürhandlungen von optischen Vorgängen hinwies. Am Fall seiner beiden »Seelenblinden« vermochte er zu zeigen, wie jede Beeinträchtigung des optischen Erkennens und des optischen Vorstellens mit schweren Schädigungen der Bewegungsfähigkeit und des Handelns überhaupt verknüpft zu sein pflegt. Diese Tatsache scheint ihm letzten Endes darin begründet zu sein, daß jede Willkürbewegung, die wir vollziehen, an einem bestimmten Medium und gegen einen »Hintergrund« erfolgt. »Wir machen unsere Bewegungen nicht in einen ›leeren‹, zu ihnen beziehungslosen Raum, sondern in einem, der zu ihnen in ganz bestimmter Beziehung steht; Bewegung und Hintergrund sind eigentlich nur künst | lich voneinander trennbare Momente eines einheitlichen Ganzen.« Weil es dem Seelenblinden, dessen optisch-räumliche Erlebnisse schwer geschädigt sind, nicht mehr gelingt, sich ein optisch fundiertes Medium für seine Bewegungen zu schaffen – darum müssen dieselben durchweg aufs stärkste beeinträchtigt sein, müssen sie zum mindesten eine ganz andere »Form« als die des Gesunden aufweisen. Auch dann, wenn sie im Effekt noch relativ gut erhalten scheinen, bauen sie sich doch auf einer ganz anderen Grundlage auf: Der »Hintergrund« ist jetzt vom optischen Gebiet in das kinästhetische verschoben. Eine wichtige und einschneidende Differenz zwischen dem optischen und dem kinästhetisch fundierten Hintergrund sieht Goldstein hierbei vor allem darin, daß sich der letztere weit schwerer als der erstere frei variieren läßt. »Während der optisch fundierte Hintergrund von meinem Körper und seinen Bewegungen unabhängig ist – der optisch vorgestellte
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Raum bewegt sich nicht mit bei Veränderung der Lage meines Körpers, er ist draußen, fixiert, wir können unsere Bewegungen in verschiedener Weise in ihm ausführen – ist der kinästhetisch fundierte viel inniger mit unserem Körper verbunden. Eine kinästhetisch fundierte Fläche steht immer in bestimmtem Verhältnis zu meinem Körper, das kinästhetisch fundierte Vorstellungsbild des Schreibens enthält von vornherein die Schreibunterlage in ganz bestimmter Lage zu meinem Körper, während ich an die optisch-fundierte meinen Körper heranbringe […]« Im Fall des einen Goldsteinschen Seelenblinden trat das charakteristisch darin hervor, daß sein Raum immer zur jeweiligen Lage seines Körpers orientiert war. »Oben« bedeutete diesem Kranken in jedem Falle die Stelle, an der sich sein Kopf, »unten« die Stelle, an der sich seine Füße befanden – so daß er z. B. nicht, auf dem Sofa ausgestreckt liegend, das Oben und Unten des Zimmers richtig bezeichnen konnte. So verliefen denn auch die Schreib- oder Zeichenbewegungen, die er vollzog, immer in einer annähernd gleichen Ebene, die nicht ganz senkrecht, sondern etwas nach hinten geneigt war. Diese hatte er als die beim Schreiben im Stehen bequemste Lage erlernt; aber er war »nicht imstande, diese Ebene etwa einfach zu transponieren, d. h. in einer anderen Ebene zu schreiben . Forderte man ihn dazu auf, so mußte er sich diese neue Ebene, in der die Bewegung gewünscht wurde, erst mühsam schaffen […] So drückte er z. B. bei der Aufforderung, einen Kreis in einer wagerechten Ebene zu zeichnen, die beiden Oberarme fest an den Körper, hielt die Unterarme rechtwinklig zu den Oberarmen […] und machte jetzt pendelartige Bewegungen des Rumpfes, so daß sich dabei die Unterarme etwa in horizontaler | Richtung bewegten. Er identifizierte dann auf Grund der kinästhetischen Empfindungen die Ebene, in der sich die Unterarme bewegten, als die horizontale und beschrieb in ihr in der geschilderten Weise die Kreisbewegung.253 Bei der festen Verankerung der kinästhetisch fundierten Ebene mußte eine Veränderung der Lage des ganzen Körpers auch die Lage der ihm bequemsten Ebene entsprechend verändern. Das läßt sich sehr einfach demonstrieren, wenn man ihn erst im Stehen und dann im Liegen schreiben läßt. – Die Ebene, in der er schreibt, behält immer dieselbe Lage zu seinem Körper, die beiden Ebenen stehen dann natürlich objektiv im rechten Winkel zueinander, wie auch die Körperlagen.« 254
[Cassirer: Schreibbewegung] Goldstein, Über die Abhängigkeit der Bewegungen von optischen Vorgängen, S. 162 ff. u. 169 ff. [Zitate S. 163, 169 f. u. 170 f.]. 253 254
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Wieder ergibt sich hier für uns ein höchst charakteristischer und bedeutsamer Zug; denn ebendiese Schwierigkeit oder Unfähigkeit der »Transposition«, der freien Variation des Bezugssystems, ist es, die uns in den verschiedenartigsten Leistungen der Aphasischen oder Agnostischen entgegengetreten ist, ja die uns als ein Kernpunkt ihrer »intellektuellen« Störung überhaupt erschien. Wie im Tun der Kranken, so können wir sie in ihren Rechenleistungen, in der Form ihrer Orientierung im Raume, in ihren sprachlichen Äußerungen immer aufs neue wiederfinden. Aber – so müssen wir ebendeshalb fragen – läßt sich diese ganz generelle Veränderung, die das Verhalten der Kranken zeigt, wirklich dadurch hinreichend erklären, daß man auf die veränderte Form ihrer optischen Erlebnisse zurückgeht? Oder muß hier nicht entsprechend der Allgemeinheit der Störung auch ein allgemeinerer Grund für sie angenommen werden? Zunächst nämlich zeigt der von Goldstein eingehend geschilderte klinische Befund bei dem Patienten Schn., daß dieser Kranke zur Ausführung bestimmter Handlungen nicht nur der optischen, sondern im gleichen Maße auch der taktilen Hilfen bedurfte. Auch wenn er fortfuhr, die Tür anzusehen, vermochte er nicht mehr, die richtige Klopfbewegung zu vollziehen, sobald er die Tür nicht mehr erreichen, sobald er sie nicht wirklich berühren konnte. Der »Bewegungsentwurf« brach zusammen, nicht nur wenn man ihm die optische, sondern auch wenn man ihm die taktile Stütze entzog – wenn man die Tür seinem Blick verbarg oder wenn man sie aus seiner unmittelbaren »greifbaren« Nähe entrückte. Auf der anderen Seite hat sich uns gezeigt, daß die prinzipielle Schwierigkeit der »Transposition« sich keineswegs nur bei solchen Kranken findet, deren optisches Erkennen und Vorstellen in besonders hohem Maße geschädigt ist. Auch in Fällen von Aphasie, die Schädi | gungen in dieser letzteren Hinsicht kaum erkennen lassen, ist uns ebendiese Schwierigkeit begegnet. Bei den Hand-, Augen- und Ohrentests, die Head seinen Kranken vorlegte, ergaben sich die Mängel der Lösung nicht daraus, daß die optischen Erlebnisse der Kranken in irgendeiner Weise mangelhaft waren: Denn sobald der Arzt sich hinter sie stellte und sie seine Bewegungen im Spiegel beobachten ließ, vermochten sie diese im allgemeinen fehlerlos zu wiederholen.255 Hier liegt, wie mir scheint, ein Fingerzeig, der uns lehrt, in welcher Richtung sich die Veränderung des Handelns, in den Fällen der Aphasie wie in denen der optischen Agnosie, bewegt. Ich erinnere daran, daß derselbe Kranke Goldsteins, dessen »apraktische« Störungen im Vorstehenden betrachtet wurden, auch eine auf den 255
Vgl. oben, bes. S. 299 Anm. 237.
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ersten Blick höchst merkwürdige Sprachstörung aufwies. Das Nachsprechen war bei ihm zwar behindert, aber doch nicht in sehr erheblichem Maße gestört: Aber der Grad dieser Störung hing vom Inhalt des Ausgesagten ab. Den Satz »Ich kann mit meiner linken Hand schreiben« wiederholte er korrekt; während er den gleichen Satz gewissermaßen »nicht über die Lippen brachte«, sobald er das Wort »links« durch das Wort »rechts« vertauschen sollte. Denn hierbei wurde ihm zugemutet, etwas »Unwirkliches« zu sagen, da er infolge seiner halbseitigen Lähmung die rechte Hand nicht zu bewegen vermochte.256 Ist es nicht die gleiche Einschränkung, die gleiche »Bindung ans Objekt« und an die konkret vorliegende objektive »Lage der Dinge«, die sich im Handeln des Kranken überall offenbart? Er vermag überall nur auf ein wirkliches, auf ein sinnlich gegebenes und vorliegendes Objekt hin, nicht aber auf ein bloß vorgestelltes Objekt hin zu wirken. Solange er diesen Halt am realen Objekt hat, vollzieht er Leistungen, die sich von denen des Gesunden kaum wesentlich unterscheiden. Er besitzt eine genügende Orientierung im Raume: In der ihm gewohnten Umgebung findet er sich zurecht, so daß er z. B. im Krankenhaus allein umhergehen, daß er ohne Mühe die Tür seines Zimmers finden kann usf. Aber alle diese Fähigkeiten versagen, wenn der Kranke sich, statt in einem festen »Dingraum«, gewissermaßen in einem freien Phantasieraum bewegen soll. Den Nagel an der Wand schlägt er richtig ein; aber die Bewegung, die er noch eben vollzog, wird plötzlich gehemmt, sobald man ihr die Unterlage, die sinnlich-dingliche Grundlage entzieht. Ins »Leere« hinein vermag er die Bewegung des Einschlagens nicht zu wiederholen. Heilbronner berichtet, daß viele seiner Kranken, wenn sie aufgefordert wur | den, Bewegungen ohne Objekt auszuführen, also z. B. die Gebärde des Geldzählens, des Türaufschließens vorzumachen, nach einer Pause des Besinnens die allerseltsamsten probierenden Bewegungen der Finger und Verrenkungen der Gelenke, daß sie wahrhafte »Grimassen der Extremitäten« ausführten, die deutlich mit Ausdrücken des Ärgers und der Unzufriedenheit begleitet waren. Einer dieser Patienten, ein Apotheker, der mit seiner apraktischen linken Hand die Bewegung des Pillendrehens markieren sollte, erklärte die Aufgabe geradezu als eine »Vexieraufgabe«.257 Ein anderer Kranker vermochte mit allen Gegenständen des täglichen Gebrauchs richtig umzugehen, solange sie ihm in der gewohnten Weise und unter allen Vgl. oben, S. 294. Heilbronner, Die aphasischen, apraktischen und agnostischen Störungen, S. 1038 f. 256 257
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gewohnten Nebenumständen gereicht wurden; aber er versagte, sobald dies unter ungewohnten Umständen geschah. Zur Zeit der gemeinsamen Mahlzeiten bediente er sich des Löffels, des Glases usf. wie jeder Gesunde, während er außerhalb dieser Zeit mit den gleichen Objekten gelegentlich ganz sinnwidrige Bewegungen ausführte.258 Man sieht, wie hier die einzelnen Handlungen innerhalb ganz bestimmter konkreter Situationen ihren Sinn bewahrt haben – wie sie aber zugleich in diese Situation auch gleichsam eingeschmolzen sind, wie sie aus ihr nicht herausgelöst und selbständig gebraucht werden können. Was diesen freien Gebrauch erschwert, scheint in Fällen dieser Art nicht sowohl die Tatsache zu sein, daß der Kranke sich keinen sinnlich-optischen Raum als Medium und Hintergrund seiner Bewegungen schaffen kann, als der Umstand, daß er über keinen »Spielraum« seiner Bewegungen verfügt. Denn dieser letztere ist ein Gebilde der »produktiven Einbildungskraft«: Er verlangt, daß wir Gegenwärtiges mit Nichtgegenwärtigem, daß wir Wirkliches mit Möglichem vertauschen können. Der Gesunde führt die Bewegung des Einschlagens des Nagels ebensowohl gegen eine bloß »vorgestellte« wie gegen die wirkliche Wand hin aus, weil er in freier Tätigkeit die Elemente des Sinnlich-Gegebenen zu variieren vermag, weil er »in Gedanken« ein hier und jetzt Vorhandenes mit einem anderen Nichtvorhandenen vertauschen und das letztere an Stelle des ersteren setzen kann. Ebendiese Form der Variation, der Stellversetzung aber ist es, die, wie wir gesehen haben, bei den Kranken durchweg erschwert ist. Ihre Bewegungen und Handlungen haben etwas Stereotypes: Sie müssen in festen und gewohnten Geleisen und gleichsam in starren Verbindungen vor sich gehen. Der Raum, in dem sie sich relativ gut und sicher bewegen, ist jener enge Raum, in dem sich hart die Sachen stoßen – er | ist nicht mehr der freie und weite »Symbolraum« der Vorstellung. Der Kranke vermag etwa eine Uhr aufzuziehen, wenn man sie ihm in die Hand gibt, auch wenn dies eine recht komplizierte Bewegung erfordert – aber er ist nicht imstande, sich ebendiese Bewegung zu »vergegenwärtigen« und sie aus dieser bloßen Vergegenwärtigung heraus zu vollziehen, sobald man ihm das sinnliche Substrat für sie entzieht, indem man ihm die Uhr aus der Hand nimmt.259 Denn diese Vergegenwärtigung setzt mehr als einen bloßen Dingraum voraus: Sie erfordert einen »schematischen« Raum. Ebendiese Unfähigkeit zur Schematisierung, zur Bewegung nicht nur Ders., Ueber Asymbolie, S. 16. Vgl. die Krankengeschichte des Patienten Schn. bei Goldstein, Über die Abhängigkeit der Bewegungen von optischen Vorgängen, S. 153. 258 259
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innerhalb eines räumlichen, sondern auch eines gedanklichen Schemas trat ja auch bei den sprachlichen Leistungen der Kranken immer wieder hervor, auch wenn sie, soweit das gewöhnliche Wortund Satzverständnis und der Gebrauch der Sprache im Rahmen des täglichen Lebens in Frage kam, nicht oder kaum wesentlich beeinträchtigt waren. Auch hier wird die Störung kaum bemerkbar, solange der Kranke sich in seinem Gebrauch der Sprache fest am Objekt halten, solange er von der Bezeichnung eines konkreten Gegenstandes zur anderen fortschreiten kann; aber sie tritt deutlich hervor, sobald man ihm zumutet, einen Gegenstand an Stelle eines anderen zu setzen, eine sprachliche Analogie oder Metapher richtig zu erfassen und zu gebrauchen.260 Auch seine Sprechweise erhält dadurch etwas eigentümlich Starres – auch ihr fehlt der »Spielraum«, der der Sprache erst ihre Weite und ihre volle Lebendigkeit und Beweglichkeit gibt. In beiden Fällen – in seinem Sprechen wie in seinem Tun – ist es ebendie Kraft der »Repräsentation«, die frühzeitig erlahmt, während all das, was mit bloßer »Präsentation« zu leisten ist, relativ gut gelingt.261 | Es ist demnach, wenn wir auf unseren früheren Sprachgebrauch zurückgreifen, nicht sowohl die Art des »Sehens« als vielmehr die Form der »Sicht«, die auch in den hier vorliegenden Fällen geschädigt Vgl. oben, S. 294 ff. Die eigentümliche »Stereotypie« des Tuns war bei diesem Kranken sowohl in seinem Gesamtverhalten wie in einzelnen Handlungen deutlich zu beobachten. Forderte man ihn z. B. auf, die Bewegung des militärischen Grußes zu vollziehen, so sprach er zunächst diese Aufforderung leise nach, er benutzte sie gewissermaßen als feste sprachliche Formel, auf die hin wie unter einem automatischen Impuls die rechte Hand an die rechte Schläfe fuhr. Hielt man ihm jetzt den rechten Arm fest und forderte man ihn auf, mit der linken Hand zu grüßen, so konnte er, nach einigem Zögern, auch diese, für die betreffende Bewegung gebrauchen: Aber die Hand fuhr jetzt nicht an die entsprechende Stelle des Kopfes, sondern wieder an die gleiche Stelle, an die rechte, nicht an die linke Schläfe. Diese Stelle ist als »Ziel« des militärischen Grußes fixiert und kann nicht willkürlich mit einer anderen vertauscht werden. Das Gebundensein an eine feste »Formel« im sprachlichen und motorischen Sinne tritt auch in solchen Fällen hervor, in denen der Kranke zwar die Bewegung des Schwörens vollziehen kann, die rechte Hand und | die Schwurfinger aber nur dann erhebt, wenn ihm die Worte der Eidesformel vorgesprochen werden. »Dans les épreuves ordinaires«, so berichtet van Woerkom von jenem Kranken, der die charakteristische Störung der räumlichen Auffassung aufwies (s. oben, S. 285 f.), »l’apraxie ne se manifeste pas: il allume une bougie, plante un clou dans une planche, fait un serment, le geste menaçant, etc. Cependant, au début d’une action, il y a toujours une période latente; pour le faire marquer le geste menaçant la réaction ne vient qu’après que je lui ai dit: Comment ferais-tu, si l’on t’avait volé quelque chose? Le geste du serment n’est exécuté qu’après que j’ai prononcé la formule reglementaire.« (Sur la notion de l’espace, S. 114). 260 261
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erscheint und die vermöge dieser Schädigung die Gesamtheit des »Bewegungsentwurfs« in Mitleidenschaft zieht. Denn jeder freie Bewegungsentwurf erfordert eine bestimmte Art der »Sicht« – eine geistige Antizipation, einen Vorblick ins Künftige, ins bloß Mögliche. Bisweilen scheint es, als habe ein Kranker, der an Apraxie leidet, eine bestimmte Zielvorstellung richtig erfaßt: Aber jeder neu auftretende, von außen dargebotene sinnliche Reiz kann ihn alsbald wieder aus seiner Bahn werfen und die Handlung in eine falsche Richtung lenken. Der Zielgedanke wird – wie Liepmann sich ausdrückt – durch eine andere »ästhesiogene« Vorstellung verdrängt.262 In anderen Fällen scheint sich durch eine gewisse Handlungsfolge des Kranken noch eine mehr oder weniger unbestimmte Zielvorstellung hindurchzuziehen: Aber sie wird nicht mehr scharf und klar genug erfaßt, um das Ganze der Handlung unter einen Gesichtspunkt zu rücken und es gemäß demselben in sich selber zu gliedern. Die einzelnen Phasen der Handlung bilden ein bloßes Aggregat; sie werden noch irgendwie »miteinander« vollzogen, aber sie greifen nicht in der gehörigen Ordnung »ineinander« ein. An Stelle eines teleologischen Gefüges ist ein bloßer Ablauf getreten; an Stelle der Formung durch einen Zweck, der jeder Handlungsphase ihren eindeutigen Platz im Ganzen, ihre unvertauschbare zeitliche wie sachliche Bestimmung gibt, herrscht hier ein bloßes Mosaik von Teilakten, die sich bald in der einen, bald in der anderen Weise ineinanderschieben. Es entsteht jene Form des gewissermaßen dissoluten Handelns, die Liepmann unter dem Namen der »ideatorischen Apraxie« beschrieben hat. »In allen willkürlichen Handlungen«, so hat schon Jackson betont, »gibt es einen Vorbegriff (preconception). Die Handlung wird potentiell vollzogen, bevor sie aktuell | getan wird; der ›Traum‹ der Operation geht ihr selbst vorauf.«263 Der Kranke, der in den meisten Fällen eine bestimmte Handlung aus dem unmittelbaren Bedürfnis und Erfordernis des Augenblicks heraus noch richtig auszuführen vermag, kann nicht in dieser Weise »träumen« – kann nicht mit einem bloßen Entwurf in die Vgl. Liepmann, Ueber Störungen des Handelns bei Gehirnkranken, S. 27 ff. sowie die hier angeführten Beispiele aus der Schrift von Arnold Pick, Studien über motorische Apraxie und ihr nahestehende Erscheinungen; ihre Bedeutung in der Symptomatologie psychopathischer Symptomkomplexe, Leipzig/ Wien 1905. 263 Hughlings Jackson, On Affections of Speech from Disease of the Brain, in: Brain. A Journal of Neurology 38 (1915), S. 147–174: S. 168 [»In the voluntary operation there is preconception; the operation is nascently done before it is actually done, there is a ›dream‹ of an operation as formerly doing before the operation […]«]. 262
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Zukunft vorausgreifen. Manchem Kranken, der auf Aufforderung nicht imstande ist, sich ein Glas Wasser einzuschenken, gelingt dies sofort, sobald ihn der Durst dazu treibt.264 Überhaupt gelingt die Leistung um so besser, je mehr sie unmittelbar auf ein bestimmtes Ziel hin gerichtet ist, während sie sich auffallend verschlechtert, sobald zwischen Anfang und Ende eine Reihe von Mittelgliedern tritt, die als solche in Betracht gezogen und in ihrer Bedeutung für die Gesamthandlung erwogen werden müssen. Sehr markant tritt dies z. B. darin hervor, daß einzelne Patienten Heads darüber klagen, daß ihnen beim Billardspiel die »indirekten« Stöße mißlingen: Sie können einen Ball zwar treffen, wenn sie direkt auf ihn hinzielen, aber sie können nicht »von der Bande aus« oder von einem Ball auf einen andern durch Vermittlung eines dritten spielen.265 Denn eben jede derartige mittelbare Leistung ist im Grunde stets eine symbolische Leistung: Sie muß sich von der Gegenwart des wirklichen Objekts losreißen und sich in freier Vergegenwärtigung ein bloß gedachtes, ein ideelles Ziel vor Augen stellen. Hier liegt das gleiche »reflexive« Verhalten vor, das auch die Sprache charakterisiert und das für ihre Durchbildung unentbehrlich ist. Wie die Beeinträchtigung dieses Verhaltens den Gebrauch der Sprache schädigt und hemmt, so pflegt eine ähnliche Hemmung auch bei jeder anderen Tätigkeit einzutreten, die es – wie z. B. die Fähigkeit des Lesens oder Schreibens – statt mit den Gegenständen selbst vielmehr mit den »Zeichen« für Gegenstände und mit deren Bedeutung zu tun hat. Und auch hierbei läßt sich derselbe Stufengang beobachten: Denn in den meisten Fällen ist es nicht das Lesen oder Schreiben schlechthin, was hier gestört erscheint, sondern innerhalb | beider gibt es bestimmte Leistungen, an denen die Abweichung vom normalen Verhalten besonders kenntlich wird. Die Mängel treten um so stärker hervor, je mehr die Leistung zu ihrem richtigen Vollzug eine Art der »Umsetzung«, einen Übergang von einem System ins andere verlangt. 264 Hugo Liepmann, Kleine Hilfsmittel bei der Untersuchung von Gehirnkranken (1905), in: ders., Drei Aufsätze aus dem Apraxiegebiet, S. 4–16: S. 15. – Allgemein betont Liepmann (Die linke Hemisphäre und das Handeln, S. 28 u. 34), daß nur in einem kleinen Teil der von ihm behandelten Fälle und unter ganz besonderen Bedingungen ein fehlerhaftes Manipulieren mit Objekten zutage trat, daß vielmehr hier die Handlungen ohne gröbere Störungen verliefen. »Bis zur Beeinträchtigung der Fähigkeit, mit Objekten zu manipulieren, erstreckt sich die Störung in höchstens einem Viertel der überhaupt dyspraktischen Fälle.« [Vgl. a. a. O., S. 28]. 265 Heads Krankengeschichte Nr. 8, Aphasia, Bd. II, S. 113 u. 122; Nr. 10, a. a. O., S. 171: »A straight shot with two balls«, sagt hier der Kranke, »was not so bad, but the third ball confused me. I seemed to think of the three functions at the same time and got muddled.«
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Das Abschreiben eines Textes gelingt, wenn derselbe einfach kopiert, wenn jeder Buchstabe Zug um Zug nachgezogen werden kann: Dagegen ist der Übergang von einer Schrift art in die andere, also etwa die Umwandlung eines gedruckten Textes in einen geschriebenen, erschwert oder unmöglich.266 Das spontane Schreiben kann schwer gestört sein, während das Schreiben auf Diktat noch relativ gut gelingt. Und auch hier ergeben sich die merkwürdigsten Unterschiede, je nachdem es sich um den Gebrauch einer fest eingeübten und stereotyp gewordenen schriftlichen Formel oder um einen freien Akt der schriftlichen Äußerung handelt. Ein Kranker Heads vermochte auf Aufforderung seinen eigenen Namen und seine Adresse richtig aufzuschreiben; aber er versagte, wenn man ihm die Aufgabe stellte, die Adresse seiner Mutter niederzuschreiben, obwohl er im gleichen Hause wie diese wohnte.267 Auch hier handelt es sich nicht sowohl um die Materie der Leistung als um ihre Form; auch hier liegt das Kriterium nicht in ihrem bloßen Vollzug, sondern in dem, was dieser Vollzug nach der Gesamtheit der Umstände und nach den Bedingungen, unter denen er steht, bedeutet. Aber wir halten an diesem Punkte inne – wird doch schon längst in dem philosophischen Leser der Eindruck entstanden sein, daß wir uns allzulange bei der Betrachtung der pathologischen Fälle verweilt haben und daß wir allzunahe in das Detail dieser Fälle eingegangen sind. Und doch konnte dieser Weg nicht vermieden werden, wenn wir aus ihnen eine wirkliche Belehrung für unser allgemeines Problem gewinnen wollten. Denn gerade die besten und genauesten Kenner des Gebietes, deren Führung wir uns anvertrauen mußten, heben übereinstimmend hervor, daß im Umkreis der hier betrachteten Störungen keine allgemeine Symptomatologie, kein einfaches Verzeichnis von Leistungen und Fehlleistungen weiterhilft. Jeder Fall bietet wiederum ein neues Bild und will aus seinem besonderen Mittelpunkt heraus verstanden werden. Handelt es sich doch hier nirgends darum, daß irgendein generelles »Vermögen« – das Vermögen der Sprache oder des zweckgemäßen Handelns, das Vermögen des Lesens oder Schreibens – gestört ist. Allgemeine Fähigkeiten dieser Art – so hat Head es einmal drastisch formuliert – gibt es sowenig, wie es | eine allgemeine Fähigkeit des Essens oder des Gehens gibt.268 An Stelle einer solchen substantiellen Auffassung muß vielmehr überall die funktionelle treten: Was wir hier vor uns haben, ist nicht der Verlust eines Vermö266 267 268
Vgl. hierzu die näheren Nachweise a. a. O., z. B. Bd. I, S. 317 ff. A. a. O., Bd. I, S. 38 u. 198. A. a. O., Bd. I, S. 143 f.
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gens, sondern die Wandlung und Umbildung eines höchst komplexen psychisch-geistigen Prozesses. Je nachdem hierbei die Veränderung diese oder jene charakteristische Phase des Gesamtprozesses trifft, können höchst verschiedene Krankheitsbilder entstehen, deren keines dem anderen in bestimmt angebbaren Einzelzügen und Einzelmerkmalen zu gleichen braucht und die doch nichtsdestoweniger insofern miteinander verknüpft sind, als die Änderung oder Abweichung bei ihnen allen in die gleiche Richtung weist. Wir haben, indem wir uns bemühten, das Detail der Einzelfälle, wie es sich uns in den Beschreibungen der gründlichsten und exaktesten Beobachter darbot, fest im Auge zu behalten, diese allgemeine Richtung festzustellen gesucht: Wir suchten die aphasischen, die agnostischen und apraktischen Störungen gewissermaßen auf einen »gemeinsamen Nenner« zu bringen. Aber auch dies kann nicht bedeuten, daß wir die verschiedenartigen repräsentativ-symbolischen Leistungen, die für das Sprechen, für das wahrnehmende Erkennen und für das Handeln die unerläßliche Bedingung sind, als Äußerungen einer »Grundkraft« betrachten, daß wir sie als verschiedene Betätigungen des »Symbolvermögens schlechthin« ansehen dürfen. Die »Philosophie der symbolischen Formen« bedarf keiner derartigen Hypostasierung, noch kann sie sie nach ihren methodischen Voraussetzungen zulassen. Denn wonach sie sucht, das sind nicht sowohl Gemeinsamkeiten im Sein, als es Gemeinsamkeiten im Sinn sind. So müssen wir denn auch hier die Lehren der Pathologie, denen wir uns nicht entziehen durften, in ein allgemeineres kulturphilosophisches Problem umzuwenden suchen. Läßt sich den pathologischen Veränderungen der Sprache und der mit ihr verwandten symbolischen Grundleistungen ein Hinweis darauf entnehmen, was diese Leistungen für den Aufbau und für die Gesamtgestalt der Kultur bedeuten? Gelb und Goldstein haben das Verhalten der Kranken, um es von dem »kategorialen« Verhalten der Gesunden zu unterscheiden, als das »primitivere« und »lebensnähere« bezeichnet. Und dieser Ausdruck der Lebensnähe trifft in der Tat zu, wenn man unter dem Begriff des Lebens die Gesamtheit der organisch-vitalen Funktionen zusammenfaßt und diese den spezifisch geistigen Funktionen gegenüberstellt. Denn was zwischen diesen beiden Sphären steht und was den scharfen Schnitt zwischen ihnen vollzieht: das sind | ebenjene geistigen Gebilde, die sich unter den Einheitsbegriff der »symbolischen Formen« zusammenfassen lassen. Das Leben ist, lange ehe es in diese Formen übergeht, in sich selbst zweckvoll gestaltet, ist auf bestimmte Ziele gerichtet. Aber das Wissen um diese Ziele schließt stets einen Bruch mit dieser Unmittelbarkeit des Lebens, mit dieser seiner
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»Immanenz« in sich. Alle Erkenntnis der Welt und alles im engeren Sinne »geistige« Wirken auf die Welt erfordert, daß das Ich die Welt von sich abrückt, daß es, im Betrachten wie im Tun, eine bestimmte »Distanz« zu ihr gewinnt. Das tierische Verhalten kennt diese Distanz noch nicht: Das Tier lebt in seiner Umwelt, ohne sie sich in dieser Weise gegenüberzustellen und sie, kraft dieser Gegenüberstellung, »vorzustellen«. Diese Gewinnung der »Welt als Vorstellung« ist vielmehr erst das Ziel und der Ertrag der symbolischen Formen – das Resultat der Sprache, des Mythos, der Religion, der Kunst und der theoretischen Erkenntnis. Jede von ihnen baut ein eigenes, ein intelligibles Reich innerer Bedeutsamkeit auf, das sich von allem bloß zweckhaften Verhalten innerhalb der biologischen Sphäre klar und scharf abhebt. Aber wo diese Grenzlinie sich wieder zu verwischen beginnt – wo das Bewußtsein insbesondere der sicheren Führung der Sprache entbehrt oder wo ihm diese nicht mehr in der gleichen Bestimmtheit wie zuvor zuteil wird, da nimmt auch das wahrnehmende Erkennen und das Handeln alsbald einen anderen Charakter an. Auf manche Erscheinungen im Krankheitsbild der Aphasie, der Agnosie oder Apraxie fällt in der Tat ein überraschendes Licht, wenn man, statt sie am Maßstab des »gesunden« Verhaltens zu messen, für sie vielmehr eine Norm wählt, die einer relativ einfacheren biologischen Schicht entnommen ist. Wenn ein Kranker seinen Löffel oder Becher richtig gebraucht, falls er ihm während der Mahlzeit dargeboten wird, beide aber außerhalb derselben verkennt oder nicht zweckgemäß zu verwenden weiß, so bieten die »Handlungsbilder« des Tieres hierfür oft schlagende Analogien. Wir erinnern an das Verhalten der Radspinne, die, während sie über eine Mücke oder Fliege, die in gewohnter Weise in ihr Netz einfliegt, sofort herfällt, sich vor ihr wie vor einem Feind zurückzieht, sobald sie ihr unter ungewohnten Umständen begegnet. Wenn ferner die Sandwespe, die eine Beute nicht direkt in ihre Höhle trägt, sondern sie vor derselben liegenläßt, um zuvor die Höhle zu visitieren, diese Visitation dreißig- oder vierzigmal wiederholt, sobald diese gewohnte Handlungsfolge durch einen äußeren Eingriff unterbrochen wird269 – so haben wir auch hier wieder ein Beispiel jener starren, | stereotypen Handlungsfolgen vor uns, wie sie sich bei den Kranken beobachten lassen. In beiden Fällen ist das Vorstellen wie das Handeln gewissermaßen in feste Bahnen gezwängt, aus denen es nicht heraustreten kann, um sich, sei es die einzelnen »Merkmale« eines Gegenstandes, sei es die einzelnen charakteristischen Phasen einer Handlung, selbständig zu vergegenwärtigen. Das Tun steht unter 269
Vgl. Volkelt, Über die Vorstellungen der Tiere, S. 17 u. 29 (s. oben, S. 172 ff.).
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einem Impuls von rückwärts, der es in die Zukunft forttreibt und vorstößt; es ist nicht von ebendieser Zukunft her und durch die Antizipation derselben, durch ihre ideelle »Vorwegnahme« bestimmt. In zwiefacher Weise macht sich, wenn wir dem Gange der objektiven Kultur folgen, diese Bestimmung, dieser Fortgang ins »Ideelle« geltend. Die Form des sprachlichen Denkens und die Form des Werkzeug-Denkens scheinen hier nahe miteinander verknüpft und aufeinander angewiesen zu sein. In der Sprache wie im Werkzeug erobert sich der Mensch die neue Grundrichtung des »mittelbaren« Verhaltens, die ihm spezifisch-eigentümlich ist. Er wird jetzt in seiner Vorstellung der Welt wie in seinem Wirken auf sie von dem Zwang des sinnlichen Triebes und des nächsten Bedürfnisses frei. An Stelle des direkten Zugreifens bilden sich jetzt neue und andere Arten der Aneignung, der theoretischen und praktischen Beherrschung aus: Der Weg vom »Greifen« zum »Begreifen« ist beschritten.270 Es scheint, als wäre der aphasische und apraktische Kranke auf diesem Wege, den die Menschheit sich langsam und stetig bahnen mußte, um eine Stufe zurückgeworfen. Alles bloß Mittelbare ist ihm irgendwie unverständlich geworden; alles nicht Handgreifliche, nicht direkt Daseiende entzieht sich seinem Denken wie seinem Wollen. Wenn er das »Wirkliche«, das konkret Vorliegende und das augenblicklich »Nötige« noch zu erfassen und im allgemeinen richtig zu behandeln vermag, so fehlt ihm doch der geistige Fernblick, die Sicht auf das nicht vor Augen Liegende, auf das bloß »Mögliche«. Das pathologische Verhalten hat gewissermaßen die Kraft des geistigen Impulses eingebüßt, der den Geist immer wieder über den Kreis des unmittelbar Wahrgenommenen und des unmittelbar Begehrten hinausdrängt.271 Aber eben in dem Vgl. hierzu Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 126 ff. [ECW 11, S. 125 ff.]. 271 Wie schwer es auch den höchststehenden Tieren fällt, diesen Kreis zu durchbrechen, zeigen in besonders lehrreicher Weise die Köhler schen Beobachtungen an Anthropoiden. Auch hier, wo schon ein gewisser primitiver »Werkzeuggebrauch« sich feststellen läßt, fällt der Gebrauch des Werkzeuges dem Tiere immer dort am schwersten, wo seine Handhabung irgendeine Art des »Umwegs« verlangt – wo also z. B. eine Frucht, statt direkt herangeholt zu werden, zunächst vom Tiere entfernt und um ein Hindernis herumgeführt werden muß. Hier handelt es sich um eine Art »Um | kehr« des »natürlich«-biologischen Verhaltens, die auch bei den Kranken immer wieder auf die größten Schwierigkeiten zu stoßen scheint. Ein Patient von Goldstein und Gelb, der eine Reihe ihm vorgelegter Gegenstände nach ihrer Zugehörigkeit ordnen sollte, lehnte es ab, einen Korkenzieher und eine Flasche zusammenzustellen, in der zufällig der Korken nur lose steckte: Er begründete dies damit, daß »die Flasche ja schon offen sei«. Der »mögliche« Verwendungszweck des Korkenziehers kommt also hier als 270
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Rückschritt, den es vollzieht, macht | dieses Verhalten die Gesamtbewegung des Geistes und das innere Gesetz seines Aufbaus von einer neuen Seite her verständlich. Der Prozeß der Vergeistigung, der Prozeß der »Symbolisierung« der Welt wird seinem Wert und seiner Bedeutung nach gerade dort für uns faßbar, wo er nicht mehr frei und ungehindert sich vollzieht, sondern wo er gegen Hemmungen anzukämpfen und gegen diese sich durchzusetzen hat. In diesem Sinne geben uns die Sprachpathologie und die Pathologie des Handelns einen Maßstab in die Hand, mit dem wir die Breite des Abstandes messen können, der zwischen der organischen Welt und der Welt der menschlichen Kultur, zwischen dem Gebiet des Lebens und dem des »objektiven Geistes« besteht. |
Zuordnungsprinzip nicht in Frage – die Entscheidung erfolgt vielmehr lediglich nach dem wirklichen, dem konkret vorliegenden Einzelfall und seinen besonderen Erfordernissen. Vgl. Gelb/Goldstein, Über Farbennamenamnesie, S. 180 f.
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DRITTER TEIL. DIE BEDEUTUNGSFUNKTION UND DER AUFBAU DER WISSENSCHAFTLICHEN ERKENNTNIS | kapitel i. Zur Theorie des Begriffs 1. [Die Grenzen des »natürlichen Weltbegriffs«] Wenn wir das Gebiet, in dem unsere bisherige Betrachtung sich bewegt hat, mit einem einheitlichen Gesamtnamen zu benennen suchen, so können wir es als den Bereich des »natürlichen Weltbegriffs« bezeichnen. Überall wies dieses Gebiet eine ganz bestimmte theoretische Struktur, eine gedankliche Formung und Fügung auf – aber die allgemeinen Regeln dieser Formung erschienen andererseits so sehr an inhaltliche Besonderungen gebunden und so innig mit ihnen durchdrungen, daß sie nur gemeinsam mit ihnen zur Darstellung kommen konnten. Was die theoretische Form selbst »ist« und worin ihre spezifische Bedeutung und Geltung besteht: dies ließ sich, auf dieser Stufe der Betrachtung, nicht anders als an ihrem Produkt sichtbar machen. Ihre Prinzipien blieben in diesem Produkt gewissermaßen eingeschmolzen – sie wurden nicht in abstracto, nicht losgelöst und »an sich« bestimmt, sondern sie konnten nur an einer bestimmten Ordnung von »Gegenständen«, von objektiven Gebilden der Anschauung aufgewiesen werden. Die Reflexion und die rekonstruktive Analyse richtete sich hier demnach noch nicht auf die Funktion der Form als solche, sondern auf eine besondere Lei stung derselben. Indem der Gedanke ein bestimmtes Bild der Objektivität gestaltet, es gleichsam aus sich herausstellt, bleibt er doch andererseits ebendiesem Bilde, das aus seinem eigenen Grunde stammt, verhaftet – sein Wissen von sich selbst kann ihm nicht anders als von diesem Medium aus, durch die Vermittlung eines gegenständlichen Wissens, zuteil werden. Sein Blick ist nach vorwärts auf die »Wirklichkeit« der Dinge, nicht nach rückwärts auf sich selbst und auf seine eigene Leistung gerichtet. Es ist die Welt des »Du« und die Welt des »Es«, die er auf diesem Wege gewinnt – und beide Welten er | scheinen ihm zunächst als fraglose, als durchaus unproblematische Gewißheit. Das Ich ergreift in der Form des schlichten Ausdruckserlebnisses oder in der Form des Wahrnehmungserlebnisses das Dasein der fremden Subjekte und das Dasein von »Gegenständen außer uns« – und es ruht und verharrt in diesem Dasein und seiner konkreten
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Aufbau der wissenschaftlichen Erkenntnis
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Anschauung. Wie diese Anschauung selbst »möglich« ist, wird hier nicht gefragt und braucht nicht gefragt zu werden; sie steht für sich selbst und bezeugt sich selbst, ohne daß sie des Halts und der Bewährung an einem anderen bedarf. Aber dieses unbedingte Vertrauen zur Wirklichkeit der Dinge erfährt alsbald eine Wandlung und eine erste Erschütterung, sobald das Problem der Wahrheit auf den Plan tritt. In dem Augenblick, in dem der Mensch nicht nur in der Wirklichkeit steht und mit ihr lebt, sondern in dem er von sich eine Erkenntnis dieser Wirklichkeit verlangt, rückt er zu ihr in ein neues, in ein prinzipiell anderes Verhältnis. Zwar scheint die Wahrheitsfrage zunächst nur einzelne Teile der Wirklichkeit, nicht aber sie selbst als Ganzes betreffen zu können. Innerhalb dieses Ganzen beginnen sich jetzt verschiedene »Schichten« der Gültigkeit voneinander abzuheben, beginnt die »Realität« sich vom »Schein« scharf und klar zu sondern. Aber es liegt im Wesen des Wahrheitsproblems, daß es, einmal in dieser Weise gestellt, in sich nicht wieder zur Ruhe kommt. Der Wahrheitsbegriff birgt in sich selber eine immanente Dialektik, die ihn unerbittlich weiter- und vorwärtstreibt. Er drängt über jede jeweilig erreichte Grenze hinaus – er begnügt sich nicht damit, einzelne Inhalte des »natürlichen Weltbegriffs« in Frage zu stellen, sondern er greift seine Substanz, seine Gesamtform selbst an. Alle bisherigen sichersten und zuverlässigsten Zeugen der »Wirklichkeit«, die »Empfindung«, die »Vorstellung«, die »Anschauung« werden jetzt vor ein neues Forum gefordert und vor ihm verhört. Dieses Forum des »Begriffs« und des »reinen Denkens« wird nicht erst in dem Moment aufgerichtet, in dem die eigentlich philosophische Besinnung einsetzt; es gehört schon den Anfängen jeder wissenschaftlichen Weltbetrachtung an. Denn schon hier begnügt sich der Gedanke nicht damit, das in der Wahrnehmung oder Anschauung Gegebene einfach in seine Sprache zu übersetzen, sondern er vollzieht an ihm eine charakteristische Formveränderung, eine geistige Umprägung. Die primäre Aufgabe, die der wissenschaftliche Begriff zu erfüllen hat, scheint freilich keine andere zu sein, als daß er eine Regel der Bestimmung aufstellt, die sich am Anschaulichen zu bewähren und im Kreise des Anschaulichen zu erfüllen | hat. Aber eben weil und sofern diese Regel für die Welt der Anschauung gelten soll, gehört sie ihr nicht mehr einfach als bloßer Bestand, als Element ihrer selbst, an. Sie bedeutet ihr gegenüber ein Eigenartiges und Selbständiges, wenngleich dieser ihr selbständiger Sinn sich zunächst nirgends anders als an der Materie des Anschaulichen bekunden und bezeugen kann. Je weiter das wissenschaftliche Bewußtsein in seiner Entwicklung fortschreitet, um so schärfer und deutlicher
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Theorie des Begriffs. »Natürlicher Weltbegriff«
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prägt sich dieser Unterschied aus. Die Regel der Bestimmung wird jetzt nicht nur einfach gesetzt, sondern sie wird in ebendieser Setzung zugleich als eine universelle Denkleistung erfaßt und als solche durchschaut. Und diese Schau ist es, die nunmehr eine neue Form des Durchblicks, der geistigen »Perspektive« erschafft. Mit ihr erst stehen wir an der Schwelle der eigentlich »theoretischen« Weltbetrachtung. Ein klassisches Beispiel für diesen Prozeß haben wir in der Entstehung der griechischen Mathematik vor uns. Denn nicht dies ist hier das Entscheidende, daß die Bedeutung des Grundmotivs der Zahl erkannt und daß der Kosmos unter das Gesetz der Zahl gestellt wird. Lange vor den ersten Anfängen des eigentlich theoretischen, des streng wissenschaftlichen Denkens war dieser Schritt vollzogen. Schon der Mythos hat die Zahl zu universeller, zu wahrhaft weltumspannender Bedeutung erhoben; schon er weiß und spricht von der Herrschaft, die sie über das Ganze des Seins ausübt, von ihrer dämonischen Allgewalt.1 Die ersten wissenschaftlichen Entdecker der Zahl, die Pythagoreer, stehen zunächst noch durchaus im Bannkreis dieser magisch-mythischen Grundansicht der Zahl. Und neben dieser mythischen Bindung des Zahlbegriffs zeigt sich bei ihnen eine andere, rein anschauliche Bindung. Die Zahl wird nicht an sich als eigene Wesenheit konzipiert, sondern sie muß stets als Anzahl einer konkreten Menge gedacht werden. Sie erscheint insbesondere an räumliche Bestimmungen und räumliche Konfigurationen gebunden; sie ist ursprünglich ebensowohl geometrischer wie arithmetischer Natur. Aber erst in dem Maße, als auch dieses Band sich lockert, als die rein logische Natur der Zahl erkannt wird, kommt es zur Grundlegung einer reinen Wissenschaft der Zahl. Zwar sondert sich auch jetzt die Zahl nicht von der anschaulichen Wirklichkeit ab: Will sie doch nichts anderes als das Grundgesetz aufweisen, unter dem diese Wirklichkeit, unter dem der physische Kosmos steht. Aber sie selbst hört auf, ein Physisch-Dingartiges zu sein oder nach der Analogie irgendwelcher empirischer Objekte bestimmbar zu sein. Wenn sie ihren substantiellen Bestand nirgends | anders als an den konkreten Dingen hat, die sich ihr gemäß ordnen, so kommt ihr doch eine Form der Erkenntnis zu, die von der sinnlichen Wahrnehmung oder Anschauung klar geschieden ist. Kraft dieser Scheidung allein vermag sie innerhalb der Pythagoreischen Lehre zum eigenlichen Ausdruck der Wahrheit des Sinnlichen zu werden.2 Und ebendies Verhältnis, das in den 1 Näheres s. Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, S. 174 ff. [ECW 12, S. 166 ff.]. 2 Näheres über diese Doppelstellung der Pythagoreischen Zahl s. in meiner
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Aufbau der wissenschaftlichen Erkenntnis
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Anfängen der reinen Theorie hervortritt, bleibt auch für ihre Weiterentwicklung und Fortbildung bestimmend. Immer wieder zeigt sich, daß die Theorie die Wirklichkeitsnähe, nach der sie strebt, nur dadurch erreichen kann, daß sie eine bestimmte Distanz zwischen sich und die Wirklichkeit setzt, daß sie in steigendem Maße von ihr »absehen« lernt. Die Gestalten, innerhalb deren das natürliche Weltbild verharrt und kraft deren es seine Formung gewinnt, bilden sich erst vermöge dieser eigentümlichen Distanzierung zu strengen theoretischen Begriffen um. Was in den anschaulichen Gebilden gleichsam als ein noch ungehobener Schatz verborgen lag, das wird nun allmählich durch bewußte Denkarbeit zutage gefördert und ans Licht gehoben. Eben hierin besteht die erste Leistung des Begriffs, daß er die Momente, auf denen die Gliederung und Ordnung der anschaulichen Wirklichkeit beruht, als solche erfaßt und daß er sie in ihrer spezifischen Bedeutung erkennt. Die Beziehungen, die im anschaulichen Dasein implizit, in der Form bloßer Mitgegebenheit, gesetzt sind, werden von ihm entfaltet; sie werden losgelöst und in dem reinen Ansich ihrer Geltung – als ein ατ κα’ α τ , wie Platon es nennt – hingestellt. Aber mit diesem Übergang in den Bereich der reinen Bedeutung und Geltung türmt sich nun freilich für das Denken eine Fülle neuer Probleme und Schwierigkeiten auf. Denn jetzt erst ist der endgültige Bruch mit dem bloßen Dasein und seiner »Unmittelbarkeit« vollzogen. Schon jene Sphäre, die wir als die des Ausdrucks, und mehr noch die Sphäre, die wir als die der Darstellung bezeichneten, griff über diese Unmittelbarkeit hinaus – sofern beide nicht im Kreise der bloßen »Präsenz« verharrten, sondern aus der Grundfunktion der »Repräsentation« entsprangen. Aber erst innerhalb der reinen Be deutungssphäre gewinnt diese Funktion nicht nur an Ausbreitung, sondern hier erst tritt das Spezifische ihres Sinnes in voller Klarheit und Schärfe hervor. Jetzt kommt es zu einer Art der Ablösung, der »Abstraktion«, die die Wahrnehmung und die Anschauung noch nicht kannten. Die Erkenntnis löst die reinen Beziehungen aus der Verflechtung mit der konkreten und indi | viduell bestimmten »Wirklichkeit« der Dinge heraus, um sie sich rein als solche in der Allgemeinheit ihrer »Form«, in der Weise ihres Beziehungscharakters zu vergegenwärtigen. Es genügt ihr nicht mehr, das Sein selber in den verGeschichte der griechischen Philosophie (Die Philosophie der Griechen von den Anfängen bis Platon, in: Die Geschichte der Philosophie, dargestellt v. Ernst von Aster u. a. [Lehrbuch der Philosophie, hrsg. v. Max Dessoir, Bd. I], Berlin o. J. [1925], S. 1–139: S. 29 ff. [s. ECW 16]).
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Theorie des Begriffs. »Natürlicher Weltbegriff«
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schiedenen Richtungen des beziehentlichen Denkens zu durchmessen, sondern sie fordert und sie erschafft sich für diesen Prozeß auch ein universelles Maßsystem. Dieses System ist es, das im Fortgang des theoretischen Denkens immer fester gegründet und immer umfassender gestaltet wird. An die Stelle des »naiven« Verhältnisses zwischen Begriff und Anschauung, wie es innerhalb des »natürlichen Weltbegriffs« besteht, ist jetzt ein anderes »kritisches« Verhältnis getreten. Denn der theoretische Begriff im strengen Sinne des Wortes begnügt sich nicht damit, die Welt der Gegenstände zu überschauen und deren Ordnung in sich einfach widerzuspiegeln. Die Zusammenfassung, die »Synopsis« des Mannigfaltigen, wird hier dem Denken nicht schlechthin von den Gegenständen vorgeschrieben, sondern sie muß durch eigene und selbständige Tätigkeiten des Denkens, gemäß den in ihm selber liegenden Normen und Kriterien, hergestellt werden. Und während innerhalb der Grenzen des natürlichen Weltbegriffs die Aktivität des Gedankens noch einen mehr oder weniger sporadischen Charakter zeigt, während sie bald an dem einen, bald an dem anderen Punkte einsetzt und sich von ihm aus in verschiedenen Richtungen entfaltet, erfährt sie jetzt eine immer straffere Zusammenfassung, eine immer strengere bewußte Konzentration. Alle Begriffsbildung, an welchem besonderen Problem sie auch einsetzen mag, ist zuletzt durch ein Grund- und Leitziel hingewiesen, ist auf die Bestimmung der »Wahrheit schlechthin« gerichtet. Alle besonderen Setzungen, alle einzelnen Begriffsstrukturen, sollen sich zuletzt einem einheitlichen allbefassenden Denkzusammenhang einfügen. Diese Aufgabe wäre nicht erfüllbar, wenn sich der Gedanke, indem er sie sich stellt, nicht zugleich ein neues Organ für sie erschüfe. Er kann jetzt nicht länger bei den Gestaltungen stehenbleiben, die die Welt der Anschauung ihm gewissermaßen fertig entgegenbringt, sondern er muß dazu übergehen, ein Reich der Symbole in voller Freiheit, in reiner Selbsttätigkeit aufzubauen. Er entwirft konstruktiv die Schemata, an denen und auf welche hin er die Gesamtheit seiner Welt orientiert. Auch diese Schemata können freilich nicht im leeren Raume des bloßen, des schlechthin »abstrakten« Denkens stehenbleiben. Sie bedürfen eines Haltes und einer Stütze – aber sie entnehmen dieselbe nicht mehr einfach der empirischen Dingwelt, sondern sie schaffen sie sich selbst. Dem System der Beziehungen und der begrifflichen Be | deutungen wird ein Inbegriff von Zeichen unterlegt, der so beschaffen ist, daß sich an ihm der Zusammenhang, der zwischen den einzelnen Elementen jenes Systems obwaltet, übersehen und ablesen läßt. Je weiter das Denken auf seinem Wege fortschreitet, um so enger knüpft sich dieses Band. Es erscheint jetzt geradezu als
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eines der idealen Ziele, denen es zustrebt, daß jeder Verknüpfung unter den Inhalten, auf die es sich richtet, eine Verknüpfung, eine bestimmte Operation in den Zeichen entspricht. Der »Scientia generalis« tritt die Forderung der »Characteristica generalis« zur Seite. In dieser Charakteristik setzt sich die Arbeit der Sprache fort; aber sie tritt zugleich in eine neue logische Dimension ein. Denn die Zeichen der Charakteristik haben alles bloß Ausdrucksmäßige, ja alles anschaulich Repräsentative von sich abgestreift: Sie sind zu reinen »Bedeutungszeichen« geworden. Damit stellt sich uns eine neue Weise des »objektiven« Sinnbezugs dar, die sich von jener Art der »Beziehung auf den Gegenstand«, wie sie in der Wahrnehmung oder in der empirischen Anschauung besteht, spezifisch unterscheidet. Die Momente dieses Unterschieds zu erfassen, muß die erste Aufgabe jeglicher Analyse der Begriffsfunktion sein. In jedem Begriff, wie immer er im einzelnen beschaffen sein mag, lebt und herrscht gewissermaßen ein einheitlicher Erkenntniswille, dessen Richtung und Tendenz es als solche zu ermitteln und zu verstehen gilt. Erst wenn das Wesen dieser allgemeinen Form des Begriffs geklärt und wenn es von der Eigenart der wahrnehmenden und der anschauenden Erkenntnis scharf abgehoben ist, läßt sich der Fortgang zu den besonderen Aufgaben vollziehen, läßt sich vom Ganzen der Begriffsfunktion zu ihren einzelnen Auswirkungen und Ausgestaltungen übergehen.
2. [Begriff und Gesetz – Die Stellung des Begriffs in der mathematischen Logik – Klassenbegriff und Relationsbegriff – Der Begriff als Satzfunktion – Begriff und Vorstellung] Die Analyse der anschaulichen Erkenntnis hat uns gezeigt, wie die Form der anschaulichen Wirklichkeit im wesentlichen darauf beruht, daß die einzelnen Momente, aus denen sie sich aufbaut, nicht für sich stehen, sondern daß zwischen ihnen ein eigentümliches Verhältnis der »Mitsetzung« stattfindet. Nirgend findet sich hier ein Isoliertes und Losgelöstes. Auch das, was einem bestimmten einzelnen Raumpunkt und einem einzelnen zeitlichen Augenblick anzugehören scheint, bleibt keineswegs dem bloßen Hier und Jetzt verhaftet. Es greift über sich selbst hinaus – es weist auf die Gesamtheit der Erfahrungsinhalte hin und schließt sich mit ihnen zu bestimmten Sinnganzheiten zusammen. So zeigte sich aller Aufbau der räumlichen Anschauung, alle Erfassung | räumlicher Formen, alles Urteil über die Lage, die Größe,
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die Entfernung der Objekte daran gebunden, daß in dieser Weise die einzelnen Erfahrungen sich »zum Ganzen web[en]«.3 Jeder Einzelinhalt muß, um räumlich bestimmt zu werden, am Ganzen gemessen, muß auf bestimmte typische Raumgestaltungen bezogen und ihnen gemäß gedeutet werden. Man kann schon diese Deutungen, wie sie in der Zeichensprache der sinnlichen Wahrnehmung sich vollziehen, als primäre Leistungen des »Begriffs« ansehen. Denn in der Tat enthalten sie bereits ein Moment, das ganz in der Richtung auf den Begriff und auf seine eigentlich grundlegende Leistung liegt. Sie ordnen das Einzelne und Besondere einem bestimmten »Inbegriff« ein, und sie sehen in ihm die Darstellung ebendieses Inbegriffs selbst. Je weiter die anschauliche Erkenntnis auf diesem Wege fortschreitet, um so mehr gewinnt jeder ihrer Sonderinhalte die Kraft, die Totalität der übrigen zu vertreten und sie mittelbar »sichtig« zu machen. Faßt man diese Vertretung als bestimmend und charakteristisch für die Begriffsfunktion überhaupt auf, so kann kein Zweifel sein, daß schon die Welt der Wahrnehmung und die der räumlich-zeitlichen Anschauung diese Funktion nirgends entbehren kann. In der modernen Wahrnehmungstheorie ist es vor allem Helmholtz gewesen, der diese Auffassung vertreten und der sie dem gesamten Aufbau seiner »Physiologischen Optik« zugrunde gelegt hat. »Wenn […] ›begreifen‹ heißt: Begriffe bilden«, so betont er, »und [wenn] wir im Begriff einer Klasse von Objecten […] zusammenfassen, was sie von gleichen Merkmalen an sich tragen: so ergiebt sich ganz analog, daß der Begriff einer in der Zeit wechselnden Reihe von Erscheinungen das zusammenzufassen suchen muß, was in allen ihren Stadien gleich bleibt. Wir nennen, was ohne Abhängigkeit von Anderem gleich bleibt in allem Wechsel der Zeit: die Substanz; wir nennen das gleichbleibende Verhältniß zwischen veränderlichen Größen: das sie verbindende Gesetz . Was wir direct wahrnehmen, ist nur das Letztere. […] Das erste Product des denkenden Begreifens der Erscheinung ist das Gesetzliche . […] Was wir […] erreichen können, ist die Kenntniß der gesetzlichen Ordnung im Reiche des Wirklichen, diese freilich nur dargestellt in dem Zeichensystem unserer Sinneneindrücke.« Der logische Begriff leistet gemäß dieser Auffassung nichts anderes, als daß er die gesetzliche Ordnung, die schon in den Erscheinungen selbst liegt, fixiert: daß er bewußt die Regel aufstellt, der die Wahrnehmung unbewußt folgt. In diesem Sinne spielt z. B. für Helmholtz schon die bloße anschauliche Vorstellung, die wir uns von der stereometrischen 3 [Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Eine Tragödie. Erster Theil (Werke, 1. Abt., Bd. XIV), Weimar 1887, S. 30.]
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Form eines körperlichen Objekts | machen, durchaus die Rolle eines aus einer großen Reihe sinnlicher Anschauungsbilder zusammengefaßten Begriffs, der jedoch nicht notwendig durch in Worten ausdrückbare Definitionen, wie sie der Geometer sich konstruieren könnte, sondern nur durch die »lebendige Vorstellung des Gesetzes«, nach dem die mannigfachen perspektivischen Bilder ebendieses körperlichen Dinges einander folgen, zusammengehalten wird. Und so muß denn überhaupt schon die Vorstellung von einem individuellen Objekt als ein Begriff bezeichnet werden, weil diese Vorstellung »alle die möglichen einzelnen Empfindungsaggregate umfaßt, welche dieses Object, von verschiedenen Seiten betrachtet, berührt oder sonst untersucht, in uns hervorrufen kann«.4 Daß diese Auffassung, die die Begriffsfunktion mitten in den Wahrnehmungsprozeß selbst verlegt, dem gewöhnlichen Sprachgebrauch der traditionellen Logik nicht entspricht: dies hat Helmholtz selbst gesehen und hervorgehoben. Die logische Tradition pflegt als das eigentliche und hervorstechende Merkmal des Begriffs seine »Allgemeinheit« anzusehen: Das Allgemeine aber erscheint ihr als das »vielen Gemeinsame«. Wie könnte eine solche Gemeinsamkeit dort walten, wo es sich statt um Vergleichung eines Gegenstandes mit anderen vielmehr um seine Konstituierung, um die Gewinnung des Gedankens von einem individuellen Objekt handelt? Helmholtz hätte indes diesen Einwand mit Recht zurückweisen dürfen: Denn er birgt, näher betrachtet, eine Petitio principii in sich. Ist doch ebenjene Allgemeinheit, die hier als die notwendige Bedingung des Begriffs angesehen wird, nicht sowohl ein gesichertes Ergebnis der logischen Analyse, als sie vielmehr ein latentes Postulat bedeutet, unter dem die Logik, als »formale« Logik, seit ihren ersten Anfängen gestanden hat. Die moderne Entwicklung der Logik hat die Fragwürdigkeit ebendieses Postulats mehr und mehr erkannt und ans Licht gestellt. Die Auffassung, daß der Begriff notwendig die Vorstellung einer »Gattung« in sich schließen und daß alle Verhältnisse, die zwischen Begriffen obwalten können, sich zuletzt auf ein einziges Grundverhältnis der »Subsumtion«, der Über- und Unterordnung von Arten und Gattungen, zurückführen lassen müssen, ist in der neueren Logik von den verschiedensten Seiten her bestritten worden.5 Gibt man diese Auf4 Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik, S. 591 ff. u. 948 [Zitate S. 591–593, 601 u. 948]. 5 Man vgl. z. B. Wilhelm Wundt, Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkenntniss und der Methoden wissenschaftlicher Forschung, Bd. I: Erkenntnisslehre, 2., umgearb. Aufl., Stuttgart 1893, S. 99 ff.; Christoph Sigwart, Logik, Bd. I:
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fassung auf und versteht man unter dem Begriff mit Kant nichts anderes als die »Einheit der | Regel«,6 durch die eine Mannigfaltigkeit von Inhalten zusammengehalten und in sich selbst verknüpft wird – so ist klar, daß schon der Aufbau unserer Wahrnehmungs- oder Anschauungswelt einer solchen Einheit nicht entbehren kann. Denn erst durch sie heben sich innerhalb der Anschauung selbst bestimmte Gebilde heraus; erst durch sie werden in ihr feste Zusammengehörigkeiten geschaffen, kraft deren vielfältige und voneinander qualitativ verschiedene Erscheinungen als Bestimmungen eines und desselben Objekts genommen werden. Das Entscheidende hierbei liegt offenbar nicht darin, daß an diesen Erscheinungen ein Gemeinsames herausgelöst und daß sie unter einer Allgemeinvorstellung befaßt werden, sondern daß sie eine gemeinschaftliche Funktion erfüllen – daß sie, eben in ihrer durchgängigen Verschiedenheit, nichtsdestoweniger auf einen bestimmten Zielpunkt gerichtet sind und auf ihn hinweisen. Die Form dieses »Hinweisens« aber ist freilich eine andere in der sinnlich-anschaulichen Welt als in der Welt des im engeren Sinne »logischen« Begriffs. Denn der Hinweis, der in der Wahrnehmung oder Anschauung nur geübt wird: er soll im Begriff gewußt werden. Diese neue Art der Bewußtheit ist es, die den Begriff, als Gebilde des reinen Denkens, erst wahrhaft konstituiert. Auch die Inhalte der Wahrnehmung und die der reinen Anschauung können, als be stimmte Inhalte, nicht gedacht werden, ohne eine charakteristische Form der Bestimmung selbst – ohne einen »Gesichtspunkt«, unter den sie gestellt und im Hinblick auf den sie als einander zugehörig betrachtet werden. Aber der Blick der Wahrnehmung oder Anschauung ruht hierbei auf den miteinander verglichenen oder sonst in irgendeiner Weise einander zugeordneten Elementen selbst, nicht aber auf der Art, auf dem Modus ihrer Zuordnung. Erst der logische Begriff ist es, der diesen letzteren selbst heraushebt. Er zuerst vollzieht jene Umwendung, kraft deren das Ich sich von den Objekten, die in einer Sicht stehen und vermöge ihrer erfaßt werden, der Weise des Sehens, dem Charakter der Sicht selbst zuwendet. Erst dort, wo diese spezifische Art der »Reflexion« geübt wird, stehen wir im eigentlichen Bereich des Denkens und in dessen Mittel- und Brennpunkt. Und von hier aus ergibt sich auch sogleich die prägnante Bedeutung, die dem Begriff innerhalb des Problems der »symbolischen Formung« zukommt. Denn jetzt stellt sich uns dieses Problem Die Lehre vom Urtheil, vom Begriff und vom Schluss, 2., durchges. u. erw. Aufl., Freiburg i. Brsg. 1889, S. 319 ff. u. ö. 6 [Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 616 (A 105).]
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nicht nur von einer neuen Seite her dar – sondern es ist auch in eine andere logische Dimension eingetreten. Man pflegt die Grenze zwischen »Anschauung« und »Begriff« in der Weise zu ziehen, daß man die Anschauung als »unmittelbare« Beziehung auf den Gegenstand nimmt und von ihr das mittel | bare »diskursive« Verfahren des Begriffs unterscheidet. Aber schon die Anschauung ist in dem Sinne »diskursiv«, daß sie nirgends beim Einzelnen stehenbleibt, sondern nach einer Totalität strebt, die sie nicht anders erreicht als dadurch, daß sie eine Mannigfaltigkeit von Elementen durchläuft, um sie zuletzt in einen Blick zu versammeln. Der Begriff jedoch stellt gegenüber dieser Form der anschaulichen Synthesis eine neue und höhere Potenz des »Diskursiven« auf. Er folgt nicht einfach den festen Richtlinien, die ihm die »Ähnlichkeit« der Erscheinungen oder eine sonstige anschaulich faßbare Beziehung zwischen ihnen an die Hand gibt – er ist kein gebahnter We g, sondern er ist eine Funktion der Bahnung selbst. Die Anschauung geht bestimmte Wege der Verknüpfung – und eben hierin besteht ihre reine Form und ihr Schematismus. Der Begriff jedoch greift nicht nur in dem Sinne über sie hinaus, daß er von diesen Wegen weiß, sondern daß er selbst sie weist: Er beschreitet nicht nur einen schon angebauten, schon bekannten Weg, sondern er hilft ihn bereiten. Ebendiese seine Grundkraft ist es freilich, die ihn, vom Standpunkt eines strikten »Empirismus« aus, ein für allemal mit dem Makel der »Subjektivität« zu belasten scheint. Durch die gesamte positivistische und empiristische Erkenntnislehre hindurch zieht sich dieser Verdacht und dieser Vorwurf. Schon bei Bacon ist ebendies der wesentliche Einwand, der gegen alles begriffliche Denken erhoben wird, daß es sich nicht bei der Wirklichkeit der Erfahrung, als einer rein gegebenen, beruhigt – daß es diese Wirklichkeit, statt sie rein zu empfangen, vielmehr in irgendeinem Sinne umbildet und sie in dieser Umbildung verfälscht. So wird die Freiheit des Begriffs und seine Selbsttätigkeit als bloße Willkür verstanden. Der tiefere Grund dieses Vorwurfs aber liegt darin, daß der Empirismus ebendiese Freiheit selbst keineswegs in ihrer vollen Bedeutung und in ihrer ganzen Weite nimmt, sondern daß er sie als eine rein kombinatorische versteht. Der Begriff kann keinen neuen Inhalt der Erkenntnis setzen und hervorbringen; er kann nur die einfachen Ideen, die ihm von der Empfindung dargeboten werden, in mannigfacher Weise verschieben und sie nach Belieben verbinden und trennen. So werden aus den eigentlichen Urdaten der Erkenntnis abgeleitete Phänomene erzeugt, die aber nichts anderes als Resultate der Mischung sind und die demgemäß die ganze Unbeständigkeit bloßer Mischprodukte an sich tragen. »Gemischte Modi«
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(mixed modes) – so formuliert Locke diese Grundauffassung – entstehen überall dort, wo der Verstand sich nicht damit begnügt, das in der inneren oder äußeren Wahrnehmung Vor | liegende zu erfassen, sondern wo er aus ihm neue Verbindungen formt, die lediglich ihm selbst angehören. Für diese Modi gibt es keine Vorbilder, keine Originale, weder in der sinnlichen Empfindung noch in der Welt der wirklichen Gegenstände. »Betrachten wir diese Ideen genauer […] so finden wir, daß sie einen ganz anderen Ursprung haben. Der Geist übt oft eine aktive Kraft aus, indem er vielfältige Verknüpfungen vollzieht; denn ist er einmal mit einfachen Ideen versehen, so kann er sie in der verschiedensten Art zusammenfassen und dadurch neue komplexe Ideen herstellen, ohne danach zu fragen, ob sie in der Natur in der von ihm angenommenen Weise der Zusammensetzung tatsächlich bestehen. Aus diesem Grunde werden diese Ideen Begriffe (notions) genannt: als hätten sie ihr Urbild und ihren dauernden Bestand mehr in den menschlichen Gedanken als in der Realität der Dinge. [Begriffe dieser Art] haben ihre Einheit von nichts anderem als von dem Akt des Geistes, der verschiedene einfache Ideen zusammenstellt und sie als ein komplexes Ganze nimmt, das aus ihnen, als Teilen, besteht.« 7 Mit dieser Anerkennung, die der Begriff in Lockes System des Empirismus findet, wird er freilich auf eine so schmale und unsichere Basis gestellt, daß der erste Angriff genügt, um seinen Bestand und seine Geltung zu erschüttern. Berkeley verfährt hier schärfer und konsequenter, wenn er auch dieses bedingte Zugeständnis wieder zurücknimmt – wenn er im Begriff nicht sowohl eine selbständige Quelle der Erkenntnis als vielmehr den Quell aller Täuschung und alles Irrtums sieht. Liegt der Grund aller Wahrheit in den einfachen Sinnesdaten, so können, sobald dieser Grund verlassen wird, keine anderen als bloße Scheingebilde entstehen. In dieses Verdikt, das über den Begriff überhaupt gefällt wird, werden von Berkeley die Begriffe jeglicher Art und jeglichen logischen Ranges eingeschlossen – ja es sind gerade 7 John Locke, An Essay concerning Human Understanding (Buch 2, Kap. 22, Abschn. 1–4), hrsg. v. Alexander Campbell Fraser, 2 Bde., Oxford 1894, Bd. I, S. 381 ff. [S. 381–383: »[…] if we attentively consider these ideas […] we shall find their original quite different. The mind often exercises an active power in making these several combinations. For, it being once furnished with simple ideas, it can put them together in several compositions, and so make variety of complex ideas, without examining whether they exist so together in nature. And hence I think it is that these ideas are called notions: as if they had their original, and constant existence, more in the thoughts of men, than in the reality of things […] it has its unity from an act of the mind, combining those several simple ideas together, and considering them as one complex one, consisting of those parts […]«].
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die scheinbar »exaktesten« Begriffe, die Begriffe der Mathematik und der mathematischen Physik, gegen die es sich in erster Linie wendet. Sie alle sind nicht Wege zur Realität, zur Wahrheit und Wesenheit der Dinge, sondern Abwege von ihr; sie schärfen den Geist nicht, sondern sie machen ihn stumpf für die einzige wahrhafte Wirklichkeit, die uns in den unmittelbaren Perzeptionen gegeben ist. Aber eben in dieser radikalen Absage an den Begriff bereitet sich nun, historisch wie systematisch, eine eigentümliche Umkehr, eine wahrhafte Peripetie des Gedankens vor. Berkeley glaubt durch seine Kritik den Begriff an seiner Wurzel getroffen zu haben – aber denkt man diese Kritik zu Ende, so ergibt sie vielmehr ein für sein Verständnis und für | seine Würdigung höchst fruchtbares positives Moment. Denn nicht der Begriff als solcher ist es, dem hier der Lebensfaden abgeschnitten wird – sondern was durch einen scharfen Schnitt beseitigt wird, ist vielmehr die Verbindung, in welcher er sich bisher, kraft einer jahrhundertealten logischen und psychologischen Tradition, mit der »Allgemeinvorstellung«, mit der »general idea« befand. Diese letztere wird entschlossen beseitigt, wird als innerlich widerspruchsvolles Gebilde erkannt. Die »allgemeine« Idee, das Bild eines Dreiecks, das weder rechtwinklig noch spitzwinklig noch stumpfwinklig und das zudem dies alles zugleich sein soll, ist eine leere Erdichtung. Aber indem Berkeley diese Erdichtung bestreitet, hat er damit, gegen seine eigene Grundabsicht, vielmehr erst für eine andere und tiefere Auffassung des Begriffs den Boden bereitet. Denn was auch er bei aller Bekämpfung der allgemeinen Vorstellung bestehen läßt, ist die Allgemeinheit der repräsentativen Funktion. Ein einzelnes konkret-anschauliches Gebilde, ein Dreieck mit dieser bestimmten Seitenlänge und Winkelgröße, kann nichtsdestoweniger für alle anderen Dreiecke einstehen, kann sie für den Geometer vertreten. Aus der anschaulichen Vorstellung eines Dreiecks wird somit sein »Begriff« – nicht indem wir gewisse Bestimmungen, die in ihr enthalten sind, schlechthin auslöschen, sondern indem wir sie als variabel setzen. Was die verschiedenen Gebilde, die wir als »Fälle« ein und desselben Begriffs ansehen, miteinander zusammenhält, ist sonach nicht die Einheit eines Gattungsbildes, sondern es ist die Einheit einer Regel der Veränderung, kraft deren aus dem einen Fall der andere und zuletzt die Totalität der überhaupt »möglichen« Fälle sich ableiten läßt. Wenn Berkeley die Einheit des Gattungsbildes verwirft, so hat er doch diese »Einheit der Regel« nicht bestritten.8 Damit aber muß sich alsbald die Frage 8
Zu diesem positiven Kern der Berkeleyschen Begriffstheorie vgl. die Dar-
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erheben, ob und inwiefern diese zugestandene Einheit auf dem Boden einer reinen »Vorstellungspsychologie« begründbar ist. Die Regel ist und gilt – ohne daß die Art ihrer Geltung sich selbst in einem konkreten Vorstellungsbilde, in einer direkten »Perzeption« sichtbar machen ließe. Wenn Berkeley daher nach irgendeinem sinnlich-anschaulichen Substrat für sie sucht, so kann er dieses Substrat nirgends anders als im Wort, im Namen finden. Aber dieser Nominalismus löst das Begriffsproblem nicht, sondern schiebt es nur weiter zurück. Denn der Name wird zum Namen erst dadurch, daß er die Fähigkeit besitzt, etwas zu bezeichnen und zu »bedeuten«. Nimmt man ihm diese Funktion der Bedeutung, so | hat man ihn um seinen Charakter als Name gebracht, so hat man ihn zum bloßen sinnlichen Klang herabgesetzt – beläßt man sie ihm, so steht, im Rätsel ebendieses nominalen Bedeutens, wieder das ganze Rätsel des »Begriffs« auf. Statt das letztere auf dem Umweg des Namens zu erfassen, dürfen und müssen wir es somit direkt in den Mittelpunkt und in den Brennpunkt der Untersuchung rücken, indem wir die Frage stellen, was ebenjene Art der »Repräsentation«, was jene »Stellvertretung« besagt, die auch die empiristische Anschauung und die empiristische Kritik dem Begriff belassen mußte. Und hier scheint es vorerst am nächsten zu liegen, dieses Grundverhältnis dadurch zu erfassen, daß man es auf ein quantitatives Verhältnis reduziert. Die Bestimmung, daß der Begriff das »Eine im Vielen« sei, fordert, wie es scheint, von selbst zu einer derartigen Quantifizierung heraus. Diese Bestimmung geht auf die ersten Anfänge des Begriffsproblems, geht auf seine eigentliche Entdeckung in der Sokratischen »Induktion« und in der Platonischen Dialektik zurück. Und sie zählt fortan zu dem klassischen Grund- und Urbestand der Logik und der Philosophie überhaupt. Auch Kant definiert den Begriff, um ihn von der reinen Anschauung zu scheiden, als eine Vorstellung, die in einer unendlichen Menge von verschiedenen möglichen Vorstellungen als ihr gemeinschaftliches Merkmal enthalten sei, mithin diese unter sich enthält.9 Soll dieses Merkmal bestimmt, soll es in seiner Bedeutung erkannt werden, so scheint der sicherste, wo nicht der einzige Weg, der zu diesem Ziele hinführt, darin zu bestehen, daß der »discursus« wirklich vollzogen, daß die Menge, an der das Gemeinsame hervortreten soll, tatsächlich durchlaufen wird. Man stelle die Elemente dieser Menge einfach nebeneinander: Und man stellung dieser Theorie in meiner Schrift über das Erkenntnisproblem, Bd. II, S. 297 ff. [ECW 3, S. 247 ff.]. 9 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 59 [B 39 f.].
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wird unmittelbar an ihrer bloßen Aufzählung die Form ihrer Einheit auffinden, man wird in und an ihnen zugleich das logische »Band« erfassen, das sie miteinander zusammenhält. Für die sensualistische Psychologie des Begriffs drängt sich eine derartige Auffassung von selbst auf: Denn für sie geht, wie die Einheit des Ich, so auch die Einheit des Begriffs in ein bloßes »Bündel von Vorstellungen« auf. Aber noch von einer ganz anderen, ja, wie es scheint, von der genau entgegengesetzten Seite her, wird diese Reduktion gefordert und begünstigt. Je weiter die Mathematisierung der Logik fortschritt, um so mehr trat in ihr das Bestreben hervor, den »Inhalt« eines Begriffs von seinem Umfang her zu erfassen und ihn zuletzt durch ebendiesen Umfang zu ersetzen. Denn nur in dem Maße, als dies gelang, schien das | Ziel der mathematischen Logik erreicht werden – schienen die qualitativen Momente des Begriffs der Herrschaft der quantitativen Betrachtung unterworfen werden zu können. Einer exakten mengentheoretischen Betrachtung schien der Begriff erst dadurch zugänglich zu werden, daß man ihn im strengen Sinne als »Inbegriff« definierte, indem man ihn als eine »Klasse« von Elementen nahm, die untereinander keine andere als eine rein kollektive Einheit bilden. Erst damit war, wie man annahm, für die Logik dieselbe Leistung vollbracht, die die Naturwissenschaft in ihrem Gebiete seit langem vollzogen hatte und durch die sie erst zum Rang einer strengen Erkenntnis erhoben worden war. Die Homogenisierung der Logik war erreicht: Das wechselseitige Verhältnis und die wechselseitige Bestimmung der Begriffe war auf die Grundregeln eines allgemeinen Klassenkalküls zurückgeführt. In diesem Sinne hat insbesondere Schröder in seiner »Algebra der Logik« die Logik als reine »Gebietslogik« aufzubauen gesucht. Sie hat lediglich das Ineinanderfallen oder Nichtineinanderfallen von Klassen zu untersuchen, wobei die Klasse als ein Aggregat der Elemente, die sie umfaßt, zu denken ist. Was diese Elemente miteinander verknüpft, ist nichts anderes als die bloße UndRelation: eine Relation, von der Russell sagt, daß sie ebensowohl einen Teelöffel mit der Zahl 3 wie eine Chimäre und einen vierdimensionalen Raum miteinander verbinden kann.10 Freilich haben sich gegen ebendiese Auffassung und Behandlung des Begriffs im eigenen Lager der mathematischen Logik schon früh gewichtige kritische Einwände erhoben. Kein Geringerer als Frege war es, der Schröder entgegengehalten hat, daß der Gebietekalkül, bei dem die Grundbeziehung die des Teils zum Ganzen ist, von der Logik ganz getrennt 10 Vgl. Bertrand Russell, The Principles of Mathematics, Bd. I [mehr nicht erschienen], Cambridge 1903 (Kap. 6, § 71), S. 71.
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werden müsse. »In der That«, so schreibt er, »halte ich dafür, dass der Begriff seinem Umfange logisch vorangeht, und betrachte den Versuch als verfehlt, den Umfang des Begriffes als Klasse nicht auf den Begriff, sondern auf die Einzeldinge zu stützen. Auf diesem Wege gelangt man wohl zu einem Gebietekalkul, aber nicht zu einer Logik.« Hier wird das Verhältnis von Mathematik und Logik in einer prinzipiell anderen Richtung gesehen und begründet, als es bei Schröder der Fall war: Der Zusammenhang zwischen beiden wird nicht von seiten des Klassenbegriffs, sondern von seiten des Funktionsbegriffs erfaßt und der Begriff seinem Wesen nach selbst als Funktion verstanden und definiert.11 | Die moderne Logik der Mathematik hat dieser Auffassung dadurch Rechnung getragen, daß sie auch dort, wo sie am Grundbegriff der Klasse und an den Voraussetzungen des Klassenkalküls festhielt, neben ihn, als ein durchaus selbständiges Glied, den Relationskalkül treten ließ. In Russells Behandlung der mathematischen Prinzipienlehre tritt allmählich immer deutlicher und bestimmter der logische Primat des Relationsbegriffs vor dem Klassenbegriff hervor. »Eine sorgfältige Analyse des mathematischen Denkens«, so heißt es schon in den »Principles« vom Jahre 1903, »zeigt, daß den eigentlichen Gegenstand dieses Denkens bestimmte Relationstypen bilden. Die Logik der Relationen hängt daher unmittelbarer als die Klassenlogik mit der Mathematik zusammen, und ein theoretisch genauer und adäquater Ausdruck mathematischer Wahrheiten ist nur mit ihrer Hilfe möglich. […] Es war ein philosophischer Irrtum, wenn man gewöhnlich annahm, daß Aussagen über Relationen weniger fundamental seien als Aussagen über Klassen, und dieser Irrtum führte dazu, daß man die Relationen so zu behandeln suchte, als wären sie eine Art von Klassen.«12 Ist einmal in diesem Sinne die Relation als das Grund- und 11 Daß Frege diese seine eigene Grundauffassung nicht streng und folgerecht festgehalten, sondern sie wieder durch eine rein quantitative Auffassung des Begriffs ver | drängt hat, ist neuerdings von Wilhelm Burkamp in seiner Schrift: Begriff und Beziehung. Studien zur Grundlegung der Logik, Leipzig 1927 treffend gezeigt worden. Vgl. insbes. die 4. Studie: Klasse und Zahl in der Begriffslogik. Die angeführten Sätze Gottlob Freges finden sich in seiner »Kritischen Beleuchtung einiger Punkte in E. Schröders Vorlesungen über die Algebra der Logik«, die im »Archiv für systematische Philosophie« 1 (1895), S. 433–456 [Zitat S. 455] erschienen ist; vgl. Burkamp, Begriff und Beziehung, S. 198. 12 Russell, The Principles of Mathematics (Kap. 2, § 27), S. 23 f. [»A careful analysis of mathematical reasoning shows (as we shall find in the course of the present work) that types of relations are the true subject-matter discussed, however a bad phraseology may disguise this fact; hence the logic of relations has a more immediate bearing on mathematics than that of classes or propositions, and any
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Wesensmoment der mathematischen Begriffe und des Begriffs überhaupt anerkannt, so läßt sich der Versuch, den Inhalt des Begriffs von seinem Umfang aus verständlich zu machen, nicht länger aufrechterhalten. Russell selbst fährt zwar fort, den Begriff rein als Klasse von Elementen zu bestimmen; aber er muß hierbei ausdrücklich eine doppelte Definition der Klasse unterscheiden. Es gibt, wie er betont, zwei Wege, um zu einer Bestimmung von Klassen zu gelangen: der eine, indem man ihre Glieder einzeln aufweist und sie bloß aggregativ, durch ein einfaches »und«, miteinander verbindet – der andere, indem man ein allgemeines Merkmal, eine Bedingung angibt, der alle Glieder der Klasse genügen sollen. Diese letztere Erzeugung der Klasse ist es, die Russell als die »intensionale« der ersteren, der Erklärung durch die »Extension«, gegenüberstellt. Und es bleibt nicht bei dieser bloßen Gegenüberstellung, sondern es erweist sich allmählich immer deutlicher, daß die Definition durch die Intension vor der durch die Extension den Vorrang behauptet. | Sie hat zunächst den Vorzug der größeren logischen Allgemeinheit: Denn sie allein gestattet es, auch solche Klassen einzubeziehen, die eine nicht abzählbare Menge von Elementen in sich schließen. Dieser Unterschied scheint freilich von Russell zunächst wieder nivelliert und in seiner Bedeutung abgeschwächt zu werden, indem er ihn als einen rein psychologischen Unterschied betrachtet. »Klassen«, so erklärt er, »können entweder extensional oder intensional definiert werden: D. h., wir können entweder die Art des Gegenstandes, der eine Klasse ist, oder aber die Art des Begriffs, der eine Klasse bezeichnet (denotes), definieren […] Obwohl jedoch der allgemeine Begriff ›Klasse‹ auf diese zwiefache Weise definiert werden kann, so können doch gewisse besondere, nicht-endliche Klassen nur intensional, d. h. vermöge der Bezeichnung ihrer Objekte durch diese oder jene Begriffe definiert werden. Ich glaube indes, daß diese Unterscheidung rein psychologisch ist. Logisch scheint die extensionale Erklärung gleich anwendbar auf unendliche Klassen zu sein; aber praktisch würde, wenn wir sie versuchen wollten, der Tod unserm löblichen Eifer ein Ziel setzen, bevor wir unsern Zweck erreicht hätten.«13 Aber, soviel ich sehe, hat gerade Russells theoretically correct and adequate expression of mathematical truths is only possible by its means. […] This view is derived, I think, probably unconsciously, from a philosophical error: it has always been customary to suppose relational propositions less ultimate than class-propositions (or subject-predicate propositions, with which class propositions are habitually confounded), and this has led to a desire to treat relations as a kind of classes.«]. 13 A. a. O. (Kap. 6, § 71), S.69 [»Class may be defined either extensionally or intensionally. That is to say, we may define the kind of object which is a class, or
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Logik die hier proklamierte Gleichstellung in ihrem weiteren Ausbau nicht aufrechtzuerhalten vermocht. Mehr und mehr ergibt sich in ihr, daß die Definition durch die Intension nicht nur einen subjektiven, sondern einen objektiven Wertvorzug besitzt – daß sie nicht nur ein πC τεCον πCς µGς, sondern ein echtes πC τεCον τ0 φσει darstellt. Denn es ist ersichtlich, daß man, ehe man daran geht, die Elemente einer Klasse zusammenzufassen und sie extensiv durch Aufzählung anzugeben, eine Entscheidung darüber fällen muß, welche Elemente als der Klasse zugehörig zu betrachten sind: Und diese Frage kann nicht anders als auf Grund des Klassenbegriffs, im »intensionalen« Sinne des Wortes, beantwortet werden. Die Glieder, die in der Klasse vereinigt werden, erscheinen dadurch miteinander zusammengehalten, daß sie sämtlich eine bestimmte Bedingung erfüllen, die sich allgemein formulieren läßt. Und der Inbegriff selbst erscheint jetzt nicht als bloße Summe von Individuen, sondern durch ebendiese Bedingung definiert, deren Bedeutung für sich erfaßt und ausgesprochen werden kann, ohne daß danach gefragt zu werden braucht, in wieviel Individuen, ja ob sie sich überhaupt in irgendeinem Individuum erfüllt. »Wenn ich einen Satz ausspreche mit dem grammatischen Subjekte ›alle Menschen‹«, hat Frege gegen Schröder betont, »so will ich damit durchaus nichts von einem mir ganz unbekannten Häuptlinge im Innern Afrikas aussagen. | Es ist also ganz falsch, dass ich mit dem Worte ›Mensch‹ diesen Häuptling irgendwie bezeichne […]«14 Es liegt im Sinne der gleichen Grundauffassung, wenn Russell selbst in den »Principia mathematica« ausdrücklich betont, daß eine Extension ein unvollständiges Symbol sei, dessen Gebrauch erst durch die Beziehung zu einer Intension Sinn gewinne.15 Was die Klasse in sich selbst zusammenhält, das ist, nach der hier entwickelten Theorie, der Umstand, daß alle in ihr vereinigten Glieder als Variable einer bestimmten Satzfunktion (propositional function) zu denken sind: Diese letztere also, nicht aber der bloße Gedanke der Menge als eines reinen Kollektivums erscheint als der Kern des Begriffs. the kind of concept which denotes a class […] But although the general notion can be defined in this two-fold manner, particular classes, except when they happen to be finite, can only be defined intensionally, i. e. as the objects denoted by such and such concepts. I believe this distinction to be purely psychological: logically, the extensional definition appears to be equally applicable to infinite classes, but practically, if we were to attempt it, Death would cut short our laudable endeavour before it had attained its goal.«]. 14 [Frege, Kritische Beleuchtung, S. 454.] 15 Alfred North Whitehead/Bertrand Russell, Principia mathematica, Bd. I, Cambridge 1910, S. 72; Näheres bei Burkamp, Begriff und Beziehung, S. 186 f.
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Die Satzfunktion als solche ist hierbei streng von einem bestimmten Einzelsatz, von einem Urteil im gewöhnlichen logischen Sinne, zu unterscheiden. Denn was sie uns gibt, ist vorerst nur eine Schablone für Urteile, dagegen selbst kein Urteil, da ihr das entscheidende Merkmal des letzteren fehlt, da sie an sich selbst weder wahr noch falsch ist. Wahrheit oder Falschheit haften immer nur an dem einzelnen Urteil, in dem ein bestimmtes Prädikat auf ein bestimmtes Subjekt bezogen wird, während die Satzfunktion nichts von solcher Bestimmtheit enthält, sondern nur ein generelles Schema aufstellt, das erst der Erfüllung mit bestimmten Werten bedarf, um den Charakter einer Einzelaussage zu erhalten. »Eine Satzfunktion«, so definiert Russell, »ist ein Ausdruck, der eine oder mehrere unbestimmte Elemente enthält in der Art, daß, wenn für diese unbestimmten Elemente Werte eingesetzt werden, daraus ein Urteil entsteht. Sie ist mit anderen Worten eine Funktion, deren Werte Urteile sind.« In diesem Sinne ist jede mathematische Gleichung ein Beispiel für eine Satzfunktion. Nehmen wir etwa die Gleichung x2 – 2x – 8 = 0, so wird dieser Ausdruck wahr, wenn wir an Stelle der zunächst ganz unbestimmt gelassenen Werte von x die beiden Wurzeln der Gleichung einsetzen, während er für alle anderen Werte falsch ist.16 Legt man diese Bestimmungen zugrunde, so läßt sich jetzt für den Begriff der »Klasse« eine allgemeine, rein »intensionale« Definition geben. Betrachten wir alle x, die so beschaffen sind, daß sie zum Typus einer gewissen Satzfunktion φ (x) gehören, und fassen wir die Werte von x zusammen, die sich als »wahre« Werte für diese Funktion erweisen, so haben wir damit kraft der Funktion φ (x) eine bestimmte Klasse de | finiert. In diesem Sinne ergibt jede Satzfunktion eine Klasse: die Klasse der x, die so beschaffen sind, daß sie φ (x) sind – wobei ebendieses: »so daß« sich nicht weiter in andere Bestimmungen zerlegen läßt, sondern als eine Bedeutung sui generis, als eine »logische Indefinible« anzuerkennen ist. Jede Klasse wird zu etwas Definitem erst durch Angabe einer Satzfunktion, die wahr ist für die Glieder der Klasse und falsch für alle anderen Dinge.17 Damit aber ist gegenüber dem Bestreben, das, was die Logik einen »Begriff« nennt, in eine kollektive Menge aufzulösen, vielmehr umgekehrt die Menge wieder auf den Begriff gegründet. Vgl. Bertrand Russell, Introduction to Mathematical Philosophy (1919), London 21922, S. 155 f. [»A ›propositional function‹, in fact, is an expression containing one or more undetermined constituents, such that, when values are assigned to these constituents, the expression becomes a proposition. In other words, it is a function whose values are propositions.«]. 17 Vgl. ders., The Principles of Mathematics (Kap. 7, § 80 u. 84); ders., Introduction to Mathematical Philosophy (Kap. 17), S. 181 ff. u. s. 16
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Hier hat uns daher der bloße Logikkalkül als solcher nicht weitergeführt: Es zeigt sich, daß er die reine Bedeutungsanalyse nicht zu ersetzen, sondern daß er sie immer nur auf die strengste und einfachste Formel zu bringen vermag. Ist also von dieser Seite her zwar eine analytische Klärung, nicht aber eine wahrhafte »genetische Definition« des Begriffs zu erwarten, so scheint doch in einer anderen Hinsicht die Mathematik an diesem Punkte der Logik die Wege bahnen zu können. Denn wenngleich die Philosophie, gemäß den allgemeinen Bestimmungen von Kants »Methodenlehre der reinen Vernunft«, auch hier das Heil nicht von einer »Nachahmung der Methode« der Mathematik erwarten darf,18 so bietet diese ihr doch diejenigen Inhalte, an denen sich der spezifische Sinn der reinen Begriffsfunktion am klarsten ablesen und wahrhaft adäquat erfassen läßt. Nur in seiner »exakten« mathematischen Fassung scheint der Begriff in voller Deutlichkeit herauszutreten: Hier und nur hier scheint »in großer Schrift« geschrieben zu stehen, was er ist, was er bedeutet und leistet. Ich selbst bin in einer früheren Untersuchung diesen Weg gegangen: Ich habe am Paradigma der mathematischen und der mathematisch-physikalischen Begriffe die allgemeine Bestimmung der Begriffsfunktion überhaupt aufzuzeigen versucht. Gegen eine solche Betrachtung läßt sich freilich einwenden, daß sie einen Teil für das Ganze nimmt. Eine wahrhaft logische und phänomenologische Analyse des Begriffs – so mag man einwerfen – wird versuchen müssen, ihn in seiner Bedeutungstotalität, in der Gesamtheit seiner einzelnen Leistungen und Leistungsphasen zu ergreifen, während die Mathematik und die exakte Wissenschaft ihn zwar allenfalls in seiner Vollendung, aber eben damit auch nur an seinem Ende, zu erkennen gibt. Muß nicht dieses Ende mit dem Anfang verknüpft, muß nicht das Ganze der mittleren und vermittelnden Stadien überblickt und | durchmessen werden, damit eine erschöpfende Bestimmung des Begriffs erreicht wird? Wirklich sind einige Logiker so weit gegangen, daß sie dasjenige, was sie den »logischen Begriff« nannten, vom »wissenschaftlichen Begriff« nicht nur unterschieden, sondern daß sie ihn diesem letzteren geradezu als eine Art Gegenpol gegenübergestellt haben. 18 [S. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 493 (B 754 f.). Zur wörtlichen Rede von der »Nachahmung der Methode« s. auch ders., Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral. Zur Beantwortung der Frage, welche die Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin auf das Jahr 1763 aufgegeben hat, in: Werke, Bd. II, hrsg. v. Artur Buchenau, Berlin 1912, S. 173–202: S. 184 (Akad.-Ausg. II, 283) sowie ders., Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen, in: Werke, Bd. II, S. 203–242: S. 205 (Akad.-Ausg. II, 167).]
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Der logische und der wissenschaftliche Begriff – so lehrt Wundt – bilden die entgegengesetzten Endpunkte der Entwicklung des Denkens: Mit dem logischen Begriff beginnt dasselbe, mit dem wissenschaftlichen schließt es jeweils eine bestimmte Richtung seiner Tätigkeit ab. Der logische Begriff ist nur an zwei Grundbedingungen gebunden: Er verlangt Bestimmtheit des Inhalts und logischen Zusammenhang mit anderen Begriffen; der wissenschaftliche Begriff verlangt, darüber hinaus, daß die Erkenntnis in ihm zu einem gewissen, wenigstens relativen, Abschluß gelangt ist, daß sie sich nach allen Seiten hin in ihrer Geltung gerechtfertigt hat und dadurch zur Stufe der Allgemeingültigkeit erhoben ist.19 Die Struktur des »logischen« Begriffs als solchen aus der des »wissenschaftlichen« Begriffs ableiten und ablesen zu wollen: dies scheint daher auf eine Verwechslung von Genus und Spezies hinauszulaufen. Diesem Einwande können wir uns, wie es scheint, um so weniger entziehen, als eines der wichtigsten Ergebnisse unserer Untersuchung eben darin besteht, daß wir gewisse Arten geistiger Formung anerkennen müssen, die sich in ihrer Prägung und Eigenart von der des wissenschaftlichen Begriffs scharf unterscheiden und die doch andererseits keineswegs der gedanklichen Bestimmtheit schlechthin entbehren.20 Muß nicht diese Einsicht nunmehr auf die Auffassung der Logik selbst zurückwirken – müssen wir nicht erwarten, auch hier ein komplexes und differenziertes Ganzes von Denkund Erkenntnisformen statt eines einzigen und einheitlichen Typus des »Begriffs überhaupt« zu finden? In der Tat hat unsere gesamte vorangehende Betrachtung uns immer von neuem die Tatsache vor Augen gerückt, daß das, was wir die symbolische Formung der Wahrnehmungs- und der Anschauungswelt nannten, keineswegs erst beim »abstrakten« Begriff, geschweige erst bei einer der höchsten Ausprägungen desselben, beim exakt-wissenschaftlichen Begriff einsetzt. Wir mußten, um die Art dieser Formung und ihre Grundrichtung zu verstehen, den | Punkt der Frage weit tiefer ansetzen: Wir mußten aus den Dimensionen des wissenschaftlichen Weltbegriffs in die des »natürlichen Weltbegriffs« zurückgehen. Aber eben aus diesem Rückgang hat sich nun für uns eine weitere Lehre ergeben, die das Ergebnis der früheren Analyse des »exakten« Begriffs nicht sowohl verschiebt, als sie es Wundt, Logik, Bd. I, S. 95 ff. Eine ähnliche Auffassung wie Wundt hat neuerdings Gerard Heymans vertreten: Vgl. seinen Aufsatz »Zur Cassirerschen Reform der Begriffslehre« und meine Gegenbemerkungen »Zur Theorie des Begriffs. Bemerkungen zu dem Aufsatz von G. Heymans«, in: Kant-Studien 33 (1928), S. 109–128 u. 129–136 [s. ECW 17]. 20 Vgl. hierzu bes. meine Schrift »Die Begriffsform im mythischen Denken«, Leipzig/Berlin 1922 (Studien der Bibliothek Warburg, Bd. 1) [s. ECW 16]. 19
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vielmehr von einer neuen Seite her bestätigt. Denn es hat sich uns hierbei gezeigt, daß die Erweiterung des Problemgebiets, die wir vornehmen mußten, nichtsdestoweniger den reinen Problembestand, wie wir ihn früher am Beispiel der mathematischen Relationsbegriffe aufzuweisen suchten, unangetastet läßt. An welchem Punkte der Erkenntnis wir die Frage auch einsetzen lassen, ob wir bis zu ihren höchsten Stufen hinauf- oder bis in ihre untersten Schichten hinabgehen, ob wir die Anschauung oder das reine Denken, ob wir die sprachliche oder die logisch-mathematische Begriffsbildung befragen: Immer finden wir in ihnen jenes »Eine im Vielen« wieder, das sich uns, als ein seinem Sinn nach Identisches, in den verschiedensten Stufen der Konkretion darstellt und ausprägt. Und dieses Übergreifend-Eine ist in all diesen Fällen nicht sowohl die Einheit der Gattung, unter welche die Arten und Individuen subsumiert werden, als vielmehr die Einheit der Beziehung, kraft deren ein Mannigfaltiges sich als innerlich zusammengehörig bestimmt. Diese Grundform der Beziehung ist von hervorragenden Mathematikern als Kern des Zahlbegriffs und damit als Kern des mathematischen Denkens überhaupt bezeichnet worden;21 aber sie ist in keiner Weise auf diesen Bereich beschränkt. Sie wirkt im kleinsten wie im größten: Sie beherrscht die Gesamtheit des Erkennens vom einfachsten sinnlichen Wiederfinden und Wiedererkennen bis hinauf zu jenen höchsten Konzeptionen des Gedankens, in denen er alles Gegebene überschreitet, in denen er, über die bloße »Wirklichkeit« der Dinge hinausgehend, sein freies Reich des »Möglichen« errichtet. In ihr daher muß der »Begriff« begründet und verankert werden. »Begreifen« und »Beziehen« erweisen sich der schärferen logischen und erkenntniskritischen Analyse überall als Korrelata, als echte Wechselbegriffe.22 Diese Korrelation als | solche bleibt bestehen, gleichviel in welchem »Weltbegriff« wir uns bewegen; gleichviel, ob wir es mit den empirischen »Dingen« unserer Wahrnehmungs- und Vgl. Dedekind, Was sind und was sollen die Zahlen? (s. oben, S. 298). Diese These, die ich in meiner Schrift »Substanzbegriff und Funktionsbegriff« (Berlin 1910) [ECW 6] vertreten und näher begründet habe, wird durch die neuesten Untersuchungen über das Begriffsproblem, die in Wilhelm Burkamps Schrift »Begriff und Beziehung« enthalten sind, in allen wesentlichen Punkten bestätigt. Burkamp vollzieht, in einer eingehenden Kritik der Lehren Schröders, Freges und Russells, in aller Entschiedenheit den Schritt von der bloßen Klassenlogik zu einer reinen Beziehungslogik. Auch für ihn sind die Denkfunktionen der Setzung, der Identität, der Verschiedenheit und | der Beziehung, wie sie die Grundvoraussetzung für die Zahlform bilden, so auch die Voraussetzung für jede reine Form überhaupt: »Sie sind ein tieferes Fundament, auf dem sich alle Form erst aufbauen kann.« (Burkamp, Begriff und Beziehung, 4. u. 5. Studie, § 80, 86 u. 95 ff. [Zitat S. 213]). 21 22
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Anschauungswelt, mit den »Hypothesen« der Naturwissenschaft oder mit den »Konstruktionen« der reinen Mathematik zu tun haben. Der Inhalt des Gedachten berührt und verändert hier nicht die reine Form des Gedankens: sowenig wie, nach Descartes’ bekanntem Vergleich, das Licht der Sonne ein anderes und verschiedenes wird durch die verschiedenen Gegenstände, die es erleuchtet. Denn der Aufbau einer »Welt« – sie mag nun als ein Inbegriff sinnlicher oder logischer, realer oder idealer Gegenstände genommen werden – ist eben niemals anders als nach bestimmten Prinzipien der Gliederung und Gestaltung möglich. Und der Begriff tut nichts anderes, als daß er diese gestaltenden Momente für sich herausstellt und daß er sie für den Gedanken fixiert. Er stellt irgendeine bestimmte Richtung und eine bestimmte Norm des »discursus« auf: Er gibt den »Gesichtspunkt« an, unter dem eine Mannigfaltigkeit von Inhalten, mögen sie nun der Wahrnehmung, der Anschauung oder dem reinen Denken angehören, gefaßt und vermöge dessen sie »zusammengesehen« werden. Die Irrungen in der logischen und erkenntniskritischen Theorie über das Wesen des Begriffs gehen letzten Endes darauf zurück, daß man ihn nicht in dieser Weise als reinen Gesichtspunkt, sondern als ein sichtbares Ding nahm: als ein Etwas, das entweder in der Sinnenwelt oder neben oder über ihr heimisch sein sollte. Beide Parteien, die sich in der großen »Gigantomachie« um den Begriff gegenüberstehen, haben hier im gleichen Sinne gefehlt: die einen, indem sie den Begriff gleichsam mit Händen zu erfassen suchten, die anderen, indem sie ihn in einen übersinnlichen Ort verwiesen, aber fortfuhren, ihn als ein Substantielles, an ebendiesem Ort Vorhandenes zu denken. Es ist bezeichnend, daß Platon dort, wo er sich der Erkenntnis der reinen Relationsnatur des Begriffs am meisten nähert, wo er die ursprüngliche Form seiner Ideenlehre durch den Gedanken und die Forderung der κοινωνα τ3ν γεν3ν vertieft, beide Auffassungen verwirft: daß er sich hier, im »Sophistes«, ebensowohl gegen die Begriffsblindheit der Sensualisten und Materialisten wie gegen den Begriffsrealismus der »Ideenfreunde« wenden muß.23 Aber auch die Gegenbewegung gegen diesen Begriffsrealismus, auch der »Nominalismus« des Mittelalters und der | neueren Zeit ist keineswegs von den Ketten frei, deren er zu spotten pflegt. Denn auch er hascht, wo er die Natur des Begriffs zu bestimmen sucht, im Grunde nach Schatten. Weil er den Begriff als Ding nicht zu finden vermag, darum macht er ihn zum bloßen Laut, zum flatus vocis. Auch dieser, auch das Wort der Sprache, wird jedoch hierbei noch immer als eine wenngleich sekundäre Art des Daseins behandelt, statt daß die reine 23
Vgl. Platon, Sophistes, 245 E ff.
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Funktion der Bedeutung an ihm herausgestellt und eben darin sein »objektiver« Gehalt begründet würde. Immer wieder wird so, von Materialisten und Spiritualisten, von Realisten und Nominalisten, wo sie den Sinn des Begriffs festzustellen und festzuhalten suchen, in irgendeine Sphäre des Seins zurückgegriffen. Eben damit aber wird die tiefere Einsicht in den Symbolgehalt der Sprache wie in den der Erkenntnis verfehlt: Denn diese besteht darin, daß alles Sein nur vom Sinn her und vermittelst des Sinnes faßbar und zugänglich ist. Wer daher den Begriff selbst begreifen will – der darf ihn nicht gleich einem Gegenstand greifen wollen. Hier liegt demgemäß der Punkt, an dem sich uns der innere Widerspruch der sensualistischen Grundansicht der Erkenntnis am deutlichsten enthüllt. Es hat idealistische Logiker gegeben, die die Welt der Erscheinung, die Welt der Sinne, der sensualistischen Auffassung überlassen und preisgeben zu dürfen meinten, um dadurch um so sicherer die »intellektuelle« Welt vor aller Vermischung mit dem Sinnlichen reinzuhalten und sie als selbständige, eigenen Gesetzen unterstehende Sphäre zu behaupten. Unser Grundproblem hat uns hingegen von Anfang an auf den entgegengesetzten Weg geführt: Es zeigte uns immer bestimmter, daß der Sensualismus außerstande ist, eine in sich einheitliche und widerspruchslose Auffassung der Sinnenwelt selbst zu gewinnen. Hier galt es, ihm auf dem Gebiet, das er von jeher als seinen eigensten unangefochtenen Besitz in Anspruch genommen hat, zu begegnen – ihn nicht von dem Gehalt der »Idee« her, sondern vom Gehalt der sinnlichen Erscheinung selbst her aus den Angeln zu heben. Denn was deren Analyse ergab, war ebendies, daß ihr Erscheinen selbst, ihre »Präsentation«, ohne ein abgestuftes und gegliedertes System rein repräsentativer Funktionen nicht möglich ist. Der Inbegriff des Sichtbaren erforderte, um sich als Ganzes, als Totalität eines anschaulichen Kosmos konstituieren zu können, bestimmte Grundformen der »Sicht« – die, wenn sie sich an den sichtbaren Gegenständen aufweisen ließen, doch in keiner Weise mit ihnen verwechselt werden, die nicht selbst als sichtbare Objekte genommen werden durften. Ohne die Beziehungen der Einheit und Andersheit, der Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit, der | Gleichheit oder Verschiedenheit kann die Welt der Anschauung keine feste Gestalt gewinnen: Aber ebendiese Beziehungen selbst gehören hierbei nur insofern zum Bestand dieser Welt, als sie die Bedingungen für ihn, nicht aber einen Teil von ihm ausmachen. Und ebendies Verhältnis, das sich uns in der Grund- und Urschicht der anschaulichen Erkenntnis gezeigt hat, findet nun seine Bewährung und Bestätigung, wenn wir zu anderen und »höheren« Stufen des Denkens und Begreifens weitergehen. Die Welt der reinen »Bedeu-
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tung« bringt hier zur Welt der »Darstellung« nichts prinzipiell Fremdes hinzu: Sie entfaltet nur, was in dieser »der Möglichkeit nach« bereits enthalten ist. Auf der anderen Seite ist freilich ebenjener Fortgang von der »Potenz« zum »Akt« die schwierigste Leistung der Erkenntnis. Denn jetzt handelt es sich darum, die Funktionen des »Hinweises«, die in den Gebilden der anschaulichen Wirklichkeit beschlossen liegen, aus dieser ihrer Verschlossenheit zu befreien und sie rein als Weisen des funktionalen Geltens selber zu begreifen. Es wird eine Theorie dieses Geltens erfordert: eine Formenlehre, die die verschiedenen Arten der Beziehung, die bereits im Anschaulichen walten und die hier in concreto aufweisbar sind, einerseits isoliert und die sie andererseits in ihrer wechselseitigen Bestimmbarkeit, in ihrer Abhängigkeit voneinander, begreift. So sahen wir etwa, daß für den Aufbau der Raumwelt bestimmte Grundnormen gelten und daß dieser Aufbau nur dadurch möglich ist, daß sich die einzelnen räumlichen Wahrnehmungen fort und fort an gewissen Grundgestalten »orientieren«.24 Aber erst die geometrische Erkenntnis erfaßt das Gesetz, dem diese Gestalten unterstehen, und spricht es als solches in objektiver Bestimmtheit aus. Und auch hier hat die Theorie des Begriffs ständig darauf zu achten, daß sie die Form der Bestimmung nicht mit den Inhalten verwechselt, die durch dasselbe erst bestimmbar werden: daß sich ihr die beiden Sphären des Gesetzes und des Gesetzten nicht miteinander vermengen. Beide müssen, wenngleich durchgängig aufeinander bezogen, doch in ihrer Bedeutung scharf getrennt bleiben. Die symbolische Sprache des Logikkalküls kann hier der Bedeutungsanalyse zu Hilfe kommen: Denn sie stellt uns die gedankliche Unterscheidung, auf die es hierbei ankommt, gewissermaßen unmittelbar vor Augen. Denken wir den Begriff nicht durch Aufzählung dessen, was unter ihn fällt, sondern rein intensional durch Angabe einer bestimmten Satzfunktion definiert, so enthält diese Satzfunktion φ (x) zwei Momente in sich, die einander offenbar nicht gleichartig sind. Die allgemeine Form der Funktion, | wie sie durch den Buchstaben φ bezeichnet wird, hebt sich scharf ab von den Wer ten der Variablen x, die in diese Funktion als »wahre« Werte eingehen können. Die Funktion bestimmt den Zusammenhang dieser Werte, aber sie ist nicht selbst einer von ihnen: Das φ von x ist der Reihe der x, den x1 x2 x3 usf. nicht homogen. »Es muß bemerkt werden«, so hebt auch Russell in seiner Lehre von der Satzfunktion hervor, »daß gemäß der hier vertretenen Auffassung das φ in φx keine selbständige und ablösbare Wesenheit ist: Es lebt in den Urteilen von 24
Vgl. oben, S. 175 ff.
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der Form φx und kann deren Auflösung nicht überleben. […] Wäre nämlich φ eine ablösbare Wesenheit (a distinguishable entity), so gäbe es ein Urteil, in dem φ von sich selbst ausgesagt würde und das wir durch φ (φ) bezeichnen könnten: Es gäbe ebenso auch ein Urteil: nicht φ (φ), durch welches das Urteil φ (φ) verneint würde. In diesem Urteil könnten wir φ als variabel betrachten und würden auf diese Weise eine Satzfunktion erhalten. Nun entsteht die Frage: Kann die Aussage, die in dieser Satzfunktion enthalten ist, von ihr selbst ausgesagt werden? Die Aussage bedeutet die Nicht-Aussagbarkeit von sich selbst: Kann sie also von sich selbst ausgesagt werden, so kann sie es nicht; und kann sie es nicht, so kann sie es. Dieser Widerspruch wird vermieden vermöge der Einsicht, daß der funktionale Teil einer Satzfunktion nicht selbst eine unabhängige Wesenheit ist.«25 Hier lebt in der Form einer bekannten logischen Paradoxie eine Schwierigkeit wieder auf, die nicht nur die Logik seit jeher bewegt, sondern die tief in die gesamte Entwicklung der Metaphysik eingegriffen hat: Ist es doch nichts anderes als das alte Universalienproblem, das jetzt in veränderter Gestalt vor uns hintritt. Wie immer dieses Problem gelöst worden ist, ob man die Universalien als den Einzeldingen vorausgehend oder ob man sie auf die Einzeldinge folgend oder als »in ihnen enthalten« dachte: Immer zeigen alle diese vermeintlichen Lösungen den gleichen methodischen Grundfehler. Sie schieben einem reinen Bedeutungsverhältnis ein Verhältnis unter, wie es zwischen empirischen Dingen oder Vorgängen besteht. Denn nur zwischen diesen kann ein »Vor« oder »Nach«, ein »Innerhalb« oder »Außerhalb« ausgesagt werden. Es ist das Schicksal fast aller Parteien in dem Streit um die Universalien gewesen, daß sie diese Metaphern des Vor und Nach, des Innen und Außen für gültige logische, wenn nicht für metaphysische Bestimmun25 Russell, The Principles of Mathematics (Kap. 7, § 85), S. 88 [»It is to be observed that, according to the theory of propositional functions here advocated, the φ in the φx is not a separate and distinguishable entity: it lives in the propositions of the form φx, and cannot survive analysis. […] If φ were a distinguishable entity, there would be a proposition asserting φ of itself, which we may denote by φ (φ); there would also be a proposition not-φ (φ), denying φ (φ). In this proposition we may regard φ as a variable; we thus obtain a propositional function. The question arises: Can the assertion in this propositional function be asserted of itself? The assertion is non-assertibility of self, hence if it can be asserted of itself, it cannot, and if it cannot, it can. This contradiction is avoided by the recognition that the functional part of a propositional function is not an independent entity.«] [Vom Originaltext Russells abweichend, verwendet Cassirer das griechische Zeichen φ zur Bezeichnung der Satzfunktion. Da beide Zeichen gebräuchlich sind, wurde diese Abweichung belassen].
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gen genommen haben. All diese metaphorischen Wendungen aber können nicht länger täuschen, sobald man sich einmal klargemacht hat, daß das | »Allgemeine« und das »Besondere« nicht ihrem Sein, sondern ihrem Sinn nach voneinander getrennt sind und daß der Unterschied von Sinndimensionen sich niemals auf solche Differenzen, wie sie in den Dimensionen des Räumlichen und Zeitlichen gelten, zurückführen und in ihnen adäquat aussprechen läßt. Von allen Lösungen, die hier versucht wurden, erscheint als die relativ befriedigendste noch immer diejenige, die das Sein der Universalien in den Einzeldingen sucht: »Universalia […] non sunt res subsistentes, sed habent esse solum in singularibus […]«26 Denn hier ist wenigstens die äußerliche Trennung vermieden; hier wird in einem vom Raume entlehnten Bild doch die strenge Korrelation, die Wechselbeziehung zwischen dem Allgemeinen und Besonderen aufrechterhalten. Ebendiese Korrelation verwickelt indes alsbald in neue Schwierigkeiten und Mißstände; denn sie birgt die Gefahr in sich, daß man sie mit der Homogenität der aufeinander bezogenen Momente verwechselt. Das begrifflich Allgemeine wird dann zu einem bloß Gemeinsamen: zu einem Etwas, das zwar nicht selbst ein eigenes und neues Ding ist, wohl aber eine in den Dingen vorhandene Ähnlichkeit ausdrückt. Auf diese Kategorie der Ähnlichkeit, der »similitudo«, scheint jetzt die Bedeutung des Allgemeinen reduziert werden zu können. Aber auch damit wird der Sinn des Begriffs als reinen Relationsbegriffs ungebührlich verengt: Denn im System der Relationen spielt die Ähnlichkeit nur die Rolle eines Spezialfalls, der nicht zum Range des »Typus« der begrifflichen Beziehung schlechthin erhoben werden kann. Ein Mannigfaltiges läßt sich keineswegs allein im Hinblick auf seine Ähnlichkeit vergleichen und zusammenfassen: Sondern dieser Form der Zusammenfassung treten andere, gleichberechtigte gegenüber, die nach völlig anderen Gesichtspunkten orientiert, die durch andere Arten der »Hinsicht« bestimmt sind. Und jede solche Hinsicht, jede Relation R1 R2 R3 usf., darf hier den gleichen Anspruch erheben: Jede von ihnen definiert einen völlig legitimen »Begriff«.27 Im Hinblick auf das allgemeine Bedeutungsmoment, das der Begriff aufstellt und heraushebt, ist alles, was unter dieses Moment fällt, nicht nur ähnlich, sondern gleich: Die einzelnen Exemplare müs26 Thomas von Aquin, Contra gentiles (Buch 1, Kap. 65) [Verifiziert nach: Thomas von Aquin, De veritate catholicae fidei contra gentiles (Opera omnia, Bd. V), Parma 1855, S. 44]. 27 Zur Begründung vgl. die näheren Ausführungen in »Substanzbegriff und Funktionsbegriff« (Kap. 1), bes. S. 18 ff. [ECW 6, S. 13 ff.].
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sen eben jedes für sich, um als besondere »Fälle« eines Begriffs gedacht zu werden, den ganzen Begriff, d. h. die Gesamtheit der Bedingungen, die er in sich schließt, erfüllen. Aber diese Gleichheit der Hinsicht erfordert keineswegs, daß die Elemente der Vielheit, die durch | den Begriff zusammengeschlossen werden, irgendeinen gemeinsamen Bestand aufweisen: Denn die Hinsicht selbst ist nichts Dingliches, was in ihnen ganz oder zum Teil enthalten sein kann, was irgendwie nach der Analogie des Räumlichen in ihnen »steckt«. Steckt denn etwa die Funktionsgleichung in irgendeiner Weise in den einzelnen Werten der Variablen, die wir als »wahre Werte« in sie einsetzen können? Die Gleichung einer ebenen Kurve läßt sich als der »Begriff« von ebendieser Kurve bezeichnen: Denn in ihr haben wir eine Satzfunktion vor uns, die für alle Werte der Koordinaten der Punkte der Kurve wahr, für andere Werte dagegen falsch ist.28 Durch diese Bedingung werden die einzelnen Punkte der Kurve zu einer Einheit zusammengefaßt, die aber an ihnen keine andere Gemeinsamkeit bezeichnet als eben diejenige, die in dieser Form der Zuordnung besteht. Ist das Gesetz einer solchen Zuordnung aufgestellt, so scheidet sich ihm gegenüber die Gesamtheit der »möglichen« Raumpunkte alsbald in zwei scharf voneinander geschiedene Klassen: in die Punkte, die die in diesem Gesetz ausgesprochene Beziehung erfüllen, und in diejenigen, die sie nicht erfüllen. Was die Anschauung als eine besondere Gestalt mit irgendwelchen räumlichen Kennzeichen und Eigenschaften erfaßt, das erscheint jetzt in der Analysis des Denkens auf eine allgemeine Regel der Zugehörigkeit zurückgeführt. Und dies gilt nicht nur für die mathematischen Begriffe, sondern es stellt einen Wesenszug aller echten begrifflichen Strukturen dar. Denn immer erscheint es als die Grundaufgabe des Begriffs, das in der Anschauung Verstreute, ja das vom Standpunkt ebendieser Anschauung völlig Disparate dadurch zusammenzuführen – συνγειν ες ν, wie Platon es nennt –, daß ein neuer ideeller Bezugspunkt für dasselbe aufgestellt wird. Indem das Besondere, das zuvor Auseinanderstrebende sich nach diesem Bezugspunkt richtet, wird ihm in dieser Einheit der Richtung eine neue Einheit des »Wesens« aufgeprägt – wobei ebendieses Wesen selbst nicht ontisch, sondern logisch, als eine reine Bestimmung der Bedeutung, zu nehmen ist. Die Konvergenz, durch die die sinnliche oder anschauliche Fremdheit überwunden wird, kommt nicht dadurch zustande, daß ein substantiell Gleiches oder Übereinstimmendes an den Elementen der Mehrheit aufgezeigt wird, sondern dadurch, daß sie, wie immer voneinander verschieden, als Momente eines Sinn28
Vgl. Russell, Introduction to Mathematical Philosophy, S. 156.
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zusammenhanges genommen werden, daß jedes an seinem Teil und an seiner besonderen Stelle die Gesamtheit dieses Sinnes und seine Funktion konstituiert. | Faßt man die Einheit des Begriffs in dieser Art, so zeigt sich freilich, daß sie – um einen Terminus zu verwenden, den Kant in einem anderen Zusammenhang geprägt hat – zunächst niemals etwas anderes als eine »projektierte Einheit« sein kann. Denn der Begriff stellt lediglich einen Gesichtspunkt der Vergleichung und Zuordnung auf, ohne etwas darüber zu besagen, ob im »Dasein« etwas vorgefunden wird, was sich der von ihm gegebenen Bestimmung fügt. Schon aus diesem Grunde ist es ersichtlich, daß und warum seine zureichende Erklärung niemals von der Betrachtung seines bloßen Umfangs aus, von der Betrachtung des Einzelnen oder der Einzelnen, gewonnen werden kann. Denn es ist keineswegs sicher, daß der von ihm aufgestellten Einheit ein Einzelnes entspricht, daß irgendein Besonderes »unter sie fällt«. In der Behandlung der mathematischen Logik, die den Begriff auf die »Klasse« zu reduzieren suchte, ist es die Einführung und Einordnung der »Null-Klasse« gewesen, die sich immer mit besonderen Schwierigkeiten verbunden zeigte. Die »Null-Klasse« konnte in einer vollständigen logischen Theorie des Begriffs und in einer logischen Theorie der Zahl nicht entbehrt werden – und sie blieb andererseits für jede rein »extensionale« Betrachtung mit Paradoxien und Widersprüchen belastet. Ebendiese Paradoxien sind es gewesen, die hier einen Umschwung eingeleitet haben, die z. B. Russell veranlaßt haben, die bloß extensionale Auffassung als unzureichend anzusehen und sie durch die »intensionale« zu ergänzen und zu vertiefen. Denn eine Klasse, die keine Elemente hat, läßt sich offenbar nicht durch Angabe ihrer Elemente definieren – sie läßt sich nur noch intensional vermöge einer bestimmten Satzfunktion bezeichnen.29 Die gewöhnliche Abstraktionstheorie des Begriffs erweist ihre Schranke unter anderem auch dadurch, daß sie die Elemente, aus denen der Begriff sich aufbauen, von denen er »abstrahiert« werden soll, als ge gebene Elemente ansetzen muß. Soll der Begriff an einer Reihe von Einzelheiten das Gemeinsame herausheben und das Verschiedenartige fallenlassen, so muß er zunächst diese Einzelheiten selbst vor sich hinstellen, so muß er sie als sinnliche oder anschauliche Bestimmtheiten »haben«, ehe er sie in seine eigene Form umprägen kann. Er kann demgemäß immer nur bezeichnen, was ist – nicht aber das, was 29 In Russells Logik ist die Null-Klasse als die Klasse aller x definiert, die irgendeiner Satzfunktion φx genügen, die für alle Werte von x falsch ist: Näheres s. The Principles of Mathematics (Kap. 2, § 25).
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»nicht ist«. So ist es denn auch dieses Postulat, das am Anfang aller Logik steht – das den Grundgedanken der Eleatischen Logik ausmacht. Aber auf Parmenides folgen Demokrit und Platon: Und beide erobern – der eine im Bereich der Physik, der andere im Bereich der Dialektik – dem | Nichtsein ein neues Recht und einen neuen Sinn. Das System des Wissens, die Gemeinschaft und Verflechtung der Begriffe – so lehrt der Platonische »Sophistes« – wird nicht erreicht, solange man sich nicht entschließt, Sein und Nichtsein als gleichberechtigte und gleich notwendige Momente anzuerkennen. Jeder Einzelbegriff schließt neben einer Aussage über das Sein eine Fülle von Aussagen über das Nichtsein in sich: Jedes »Ist« in einem prädikativen Satze kann erst dann völlig verstanden werden, wenn man ihm ein »Ist-nicht« korrelativ zugeordnet denkt.30 In der Tat kann der Begriff zu der ideellen Bestimmung des Wirklichen nicht gelangen, solange er lediglich in den Grenzen ebendieses Wirklichen selbst verweilt. Seine eigentliche und höchste Leistung verlangt, daß er von der Betrachtung des »Wirklichen« zu der des »Möglichen« fortgeht – und ebendies gelingt ihm nur, wenn er auch vor dessen Gegenteil, vor dem »Unmöglichen«, nicht zurückschreckt. Die Geschichte der Wissenschaft lehrt überall, welche eminente Bedeutung die Konzeption des »Nicht-Möglichen« haben kann: und wie gerade sie es ist, die in vielen Fällen den freien Überblick über das Reich des Möglichen und über dessen systematische Gestaltung und Gliederung erst erschließt. Ist der Begriff ein bloßer »Gesichtspunkt« der Beziehung und Zuordnung, so muß es ihm freistehen, auch Widerstreitendes miteinander zu verknüpfen: eben damit er an dieser Verknüpfung den Widerstreit erkennen und seinen Grund durchschauen lernt. So ist es durchaus fruchtbar und sinnvoll, einen Begriff wie den des »regulären Dekaeders« zu fassen – geht doch eben an dem Nichtsein, das er in sich schließt, dem Denken eine neue Einsicht über das Sein der geometrischen Welt, über die Struktur des Räumlichen auf. Wir sagten früher, daß der Begriff nicht sowohl ein gebahnter Weg ist, in dem das Denken fortschreitet, als er vielmehr eine Methode, ein Verfahren der Bahnung selbst bildet. In dieser Bahnung kann das Denken völlig selbständig verfahren: Es bindet sich nicht an feste Zielpunkte, die im Gegebenen schon fertig vorliegen, sondern es stellt neue Ziele auf und fragt, ob ein Weg und welcher Weg zu ihnen hinführt. In der Sprache der symbolischen Logik drückt sich dies darin aus, daß der »Satzfunktion«, in welcher sich der Begriff begründet, an
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Vgl. Platon, Sophistes, bes. 248 E ff.
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sich weder Wahrheit noch Falschheit zukommt, daß es in ihr zunächst noch offenbleibt, ob es bestimmte Werte der Variablen x gibt, für die diese Funktion gilt. Eine solche Satzfunktion intendiert zwar eine bestimmte Bedeutung, aber sie erfüllt sie noch nicht: Sie gibt keine feste und fertige Antwort, sondern stellt nur die Richtung der Fra ge fest. Aber aller Erkenntnis | muß eben eine solche Feststellung der Frage vorangehen, wenn eine klare und sichere Antwort gefunden werden soll. Ehe nicht, wie es im Begriff geschieht, bestimmte Visierlinien der Erkenntnis aufgestellt sind, kann die Forschung nicht einsetzen – können die gültigen Beziehungen im Bereich des empirischen wie des idealen Seins nicht bestimmt werden. In dieser Hinsicht ist es bezeichnend, daß in der Geschichte der Philosophie der »Begriff« selbst zuerst in der Form der Frage heraustritt. Als der »Entdecker« des allgemeinen Begriffs wird Sokrates von Aristoteles bezeichnet. Ebendiese Entdeckung gibt sich indes bei ihm nicht sowohl als eine neue Art des Wissens denn als eine Art des Nichtwissens. In der Sokratischen Frage nach dem »Was ist?« (τ στι) ist die Methode der Sokratischen »Hinführung«, der λ γοι !πακτικο", beschlossen. Und so bleibt auch in der entwickelten Erkenntnis jeder neu gewonnene Begriff ein Versuch, ein Ansatz, ein Problem: Sein Wert besteht nicht sowohl darin, daß er bestimmte Gegenstände »abbildet«, als vielmehr darin, daß er eine neue logische Perspektive eröffnet und kraft ihrer der Erkenntnis einen neuen Durchblick und Überblick über das Ganze eines bestimmten Fragekomplexes verstattet. Wenn daher unter den logischen Grundfunktionen das Urteil einen abschließenden Charakter besitzt, so kommt dem Begriff, im Unterschied hierzu, wesentlich die Funktion des Aufschließens zu. Er wirft die Fragen auf, deren endgültige Entscheidung dem Urteil zusteht; er ist nur der Ansatz einer Gleichung, deren Lösung von der Analyse eines bestimmten idealen Gegenstandsbereichs oder von der fortschreitenden Erfahrung erwartet wird. In diesem Sinne kann ein Begriff innerhalb der Erkenntnis wirksam und fruchtbar sein, lange bevor er selbst exakt »definiert«, d. h. zu einer vollkommenen und endgültigen Bestimmung gebracht worden ist. Denn eben hierin besteht eine seiner wesentlichen Aufgaben, die Problematik der Erkenntnis nicht vorzeitig zur Ruhe kommen zu lassen, sondern sie in ständigem Fluß zu erhalten, indem er sie auf neue Ziele lenkt, die er vorerst hypothetisch vorwegnehmen muß. Wieder zeigt sich hier, daß der Begriff weit weniger abstraktiv als vielmehr prospektiv ist: Er fixiert nicht nur schon Bekanntes und stellt seine allgemeinen Umrisse fest, sondern er hält beständig Ausschau nach neuen unbekannten Verknüpfungen. Er nimmt nicht nur die Ähnlichkeiten oder Zusammenhänge auf, die die
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Erfahrung ihm darbietet, sondern er schlägt neue Verbindungen: Er ist eine freie Linienführung, die immer von neuem versucht werden muß, um die innere Organisation des Reichs der empirischen Anschauung wie die des logisch-idealen Gegenstandsbereichs klar heraustreten zu lassen. | Damit ergibt sich sofort, warum jede Theorie des Begriffs, die ihn aus rein reproduktiven Tendenzen zu erklären und auf diese zu beschränken sucht, notwendig versagen muß. Schon im Gebiet der Anschauung und der reinen »Darstellungsfunktion« hat sich diese Einschränkung als unmöglich erwiesen; schon hier mußte jede Theorie der empirischen Wahrnehmung, und der empirischen Erkenntnis überhaupt, auf Schritt und Tritt die Funktion der »produktiven Einbildungskraft« zu Hilfe rufen. Im Begriff steht diese Leistung der produktiven Einbildungskraft in gesteigerter und potenzierter Form vor uns. Man verfehlt daher schon sein einfaches »Was«, sobald man versucht, ihn in eine Summe von Reproduktionen, in einen bloßen Inbegriff von Gedächtnisbildern zu verwandeln. Schon die einfache phänomenologische Besinnung erhebt hier Einspruch: Nimmt man den »Begriff« als das, als was er sich unmittelbar gibt, so steht er der Erinnerungsvorstellung als etwas völlig anderes, als etwas unvertauschbar Eigenes gegenüber. Man muß hinter die Sphäre des Bewußtseins zurückgehen, man muß von der reinen Logik und von der Phänomenologie auf die Physiologie rekurrieren, um die Gleichstellung des Begriffs mit dem Gedächtnisbild aufrechterhalten zu können. Er erscheint alsdann als das Ergebnis der »unbewußten« Spuren und Residuen, die von früheren Sinneswahrnehmungen im Gehirn zurückgeblieben sind. Aber abgesehen davon, daß hierbei der schlichte Sinn der logischen Frage verkannt, daß die Logik in Hirnmetaphysik verwandelt wird – so würde der Begriff, wenn dies seine wirkliche Aufgabe sein sollte, diese Aufgabe sehr schlecht erfüllen. Es gälte alsdann in Wahrheit der Spott Bacons, daß derjenige, der meint, die Wirklichkeit im begrifflichen Denken erfassen zu können, ihm vorkomme wie ein Mann, der, um einen entfernten Gegenstand besser zu erkennen, auf einen hohen Turm steigen und von dort nach ihm Ausschau halten wollte – während es ihm doch freistünde, an den Gegenstand selbst heranzugehen und ihn aus unmittelbarer Nähe zu beobachten. Hier ist das eine richtig gesehen, daß die charakteristische »Einstellung« des Begriffs in der Tat eben darin besteht, daß er, im Unterschied von der direkten Wahrnehmung, sein Objekt in die Ferne, in eine Art ideeller Distanz rücken muß, um es überhaupt in seinen Blickpunkt zu bringen. Er muß die »Präsenz« aufheben, um zur »Repräsentation« zu gelangen. Aber diese Wandlung, die er vollzieht,
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hat für uns nicht mehr jenen rein negativen Sinn, den sie für den strikten Positivismus haben muß. Denn die Analyse der Wahrnehmung und die der anschaulichen Erkenntnis hat uns gezeigt, daß schon in ihr selbst eben | dieser Übergang gefordert und innerhalb bestimmter Grenzen vollzogen ist. Die Begriffsfunktion bringt also keinen Bruch in das Ganze der Erkenntnis – sie führt nur eine Grundtendenz weiter, die sich schon in den ersten Stufen der sinnlichen Erkenntnis, des wahrnehmenden Wissens wirksam erwies. Und in ebendieser Weiterführung vollzieht sich nun erst die eigentliche Beglaubigung und Rechtfertigung dieser Tendenz. Man hat gegen die Kritik der Abstraktionstheorie, die ich durchzuführen versucht habe, den Einwand erhoben, daß sie zwar zutreffe, wenn man von den höchstentwickelten Begriffen, den Begriffen der Mathematik und der mathematischen Physik, ausgehe; daß sie aber versage, sobald man die Vorstufen der wissenschaftlichen Erkenntnis ins Auge fasse, sobald man jene Begriffsbildungen zugrunde lege, die sich, ganz abseits von den Zielen der Wissenschaft, schon in unserm »natürlichen«, durch Theorien noch nicht veränderten und nicht beschwerten Weltbild vorfinden. Hier bleibe die These der Abstraktionstheorie voll in Kraft: Denn der »anschauliche Begriff« entwickele sich in der Tat aus dem »allgemeinen Erinnerungsbild«, das uns aus einer Reihe konkreter sinnlicher Wahrnehmungen zurückgeblieben ist. Mir scheint indes, daß diese Ehrenrettung, wie sie von Max Brod und Felix Weltsch in ihrer Schrift »Anschauung und Begriff« versucht worden ist, gerade durch die Schärfe und Prägnanz, mit welcher hier die wesentlichen Züge der »abstraktiven« Auffassung des Begriffs herausgearbeitet sind, die Dialektik, in welche diese Auffassung zuletzt immer wieder geraten muß, nur um so klarer erkennen läßt. Denn die eigentliche und die für die Erkenntnis wesentliche Leistung, die der Begriff gemäß dieser Grundanschauung vollzieht, soll darin liegen, daß er die scharfen, individuell bestimmten Bilder, die die Empfindung und die Wahrnehmung liefern, zu unscharfen und verschwommenen Vorstellungen umformt. Diese Verschwommenheit gilt als die notwendige Bedingung für den Begriff – sie ist das Daseinselement, in dem er bestehen soll, und sozusagen die Lebensluft, in der allein er atmen kann. Brod und Weltsch suchen in eingehenden psychologischen Analysen aufzuzeigen, wie die Wahrnehmung und die anschauliche Vorstellung allmählich in dieses Element eingeht. Als Medium fungiert hier die Stufe der Erinnerung: Denn in ihr beginnt jene Verwischung der Grenzen zwischen den einzelnen Sinneseindrücken, die vom Begriff aufgenommen und weiter fortgesetzt wird. »In der Tat ergibt die Selbstbeobachtung, wie selten eigentlich spezielle Erinnerungsbilder sind, d. h. solche, in denen das
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Gedächtnis eines einmaligen, förmlich punktuellen Erlebnisses mit Sicherheit von dem Einfluß nachfolgender | ähnlicher Erlebnisse rein geblieben ist. Fast immer repräsentiert ein Erinnerungsbild eine ganze Reihe von Eindrücken. Die Erinnerung an einen Freund stellt diesen in vielen Beziehungen zu mir zugleich dar. Denke ich an eine Landschaft, so steht sie vor mir, wie ich sie oft und oft gesehen habe, in verschiedener Ausdehnung, Beleuchtung, Stimmung. Es hören aber diese Bilder, die so vieles von einander Abweichendes vorstellen, deshalb nicht etwa auf, anschaulich zu sein. Das allgemeine Erinnerungsbild entspricht also in der Tat der […] Bedingung, daß zur Rettung der Welt aus ihrer ins Unendliche fortschreitenden Zerkleinerung Vorstellungen auftreten müssen, die das in abweichenden Detailbildern Zerfallende wieder zu höherer Einheit verbinden. Diese Mission vollbringt das allgemeine Erinnerungsbild […] als verschwommene Vorstellung , die vermöge ihrer Deutbarkeit in viele scharfe, voneinander abweichende Vorstellungen diese Vorstellungen in sich begreift. […] In der Art, wie die scharfen und die verschwommenen Partien in diesem allgemeinen Erinnerungsbild abwechseln, ist gleichsam ein Abdruck sämtlicher von uns erlebten Vorstellungen gegeben, sie alle erscheinen repräsentiert durch die besondere Schichtung des Verschwommenen im allgemeinen Erinnerungsbild.« Um diesen Sachverhalt zu bezeichnen, führen Brod und Weltsch ein bestimmtes Symbol, das Symbol A + x, ein. Hierbei bedeutet A dasjenige, was den mannigfachen erlebten Vorstellungen, also z. B. der Landschaft in verschiedenen Beleuchtungen und Stimmungen, gemeinsam war, während das Verschiedenartige in x verschwimmt. »So haben wir in der Verschwommenheit das Hilfsmittel gefunden, durch das zwei scheinbar entgegengesetzte, bisher als krasse Widersprüche angeführte Eigenschaften in eins gebracht werden, das ›Anschauliche‹ und das ›Abstrakte‹. Es gibt eben anschauliche und dabei doch abstrakte Vorstellungen: die verschwommenen Vorstellungen von der Form (A + x).« Und damit sei nun auch erst der Grund zu einer wahrhaften Psychologie des Denkens gelegt – sofern wir das Denken nicht willkürlich auf das Gebiet der wissenschaftlichen Erkenntnis einengen, sondern es in der Totalität seiner lebendigen Äußerungen zu erfassen suchen. Es besteht alsdann in nichts anderem als in »dem lebendigen Spiel der (A + x)-Gebilde«: »Es scheint […] sichergestellt, daß wir in verschwommenen allgemeinen Anschauungen denken […]«31 31 Max Brod/Felix Weltsch, Anschauung und Begriff. Grundzüge eines Systems der Begriffsbildung, Leipzig 1913, S. 72 ff. u. 144 [Zitate S. 72 f., 75, 77 u. 144].
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Damit ist jedoch der gordische Knoten des Begriffsproblems nicht | gelöst, sondern zerhauen. Denn sollte es wirklich eine »Rettung« vor der unendlichen Vielfältigkeit und Zersplitterung der Einzeleindrücke sein, wenn wir uns vor ihnen in die Verschwommenheit einer Gesamtvorstellung flüchten? Wollen und können wir denn dieser Vielheit überhaupt entsagen – oder besteht nicht gerade der Sinn der Begriffsbildung darin, daß sie uns in dem Labyrinth des vielen und Besonderen einen Ariadnefaden in die Hand gibt? Der echte Begriff wendet sich von der Welt der Anschauung nur darum ab, um desto sicherer zu ihr zurückzuführen: Er dient der Bestimmung, der Determination des Besonderen selbst. Man kann hiergegen nicht einwenden, daß diese Funktion eben nur den höchsten, den streng wissenschaftlichen Begriffen innewohne. Denn wenngleich sie erst in diesen in voller Prägnanz heraustritt, wenn sie in ihnen am klarsten erfaßbar und der logischen Analyse unmittelbar zugänglich ist, so bleibt sie doch nicht auf sie beschränkt. Vielmehr eignet sie schon jenen Vorstufen und Keimzellen des theoretisch-wissenschaftlichen Begriffs, die von Brod und Weltsch als »anschauliche Begriffe« bezeichnet werden. Sind doch auch diese letzteren nicht sowohl Gattungsbegriffe, als sie vielmehr Begriffe der Verknüpfung sind. Sie stellen nicht unscharfe Gemeinbilder der Dinge hin, sondern sie schlagen Brücken zwischen dem, was sich in der Wahrnehmung als bloß Einzelnes und relativ Vereinzeltes gibt. So ist z. B. der anschauliche Begriff der Farbe kein Gattungsbild, in dem rot und blau, gelb und grün irgendwie unklar ineinanderschillern; sondern durch ihn wird aus dem Ganzen der sinnlichen Erlebnisse ein charakteristisches Gebiet herausgehoben und durch ein bestimmtes Relationsmoment, durch die Beziehungen zum Licht und durch die zum Auge, »definiert«. Wie wäre eine solche Einsicht in die Ordnung, in die Gliederung, in die konkreten Differenzen des vielen möglich, wenn der Begriff wesentlich in einer Abwendung von ihnen, wenn er in der Nivellierung dieser Differenzen bestände?32 | Und ist es nicht Nivellierung, wenn die UnterNäheres hierzu in meiner Schrift »Substanzbegriff und Funktionsbegriff«, S. 23 ff. [ECW 6, S. 17 ff.]. – »Von individuellen Dingen«, so heißt es jetzt auch bei Burkamp in Übereinstimmung mit der dort vertretenen Grundanschauung, »steigen wir auf zu ›Begriffen‹ wie ›Stuhl‹, ›Hund‹, wiederum zu noch höheren Begriffen wie ›Lebewesen‹, ›Körper‹, ›Masse‹. Von individuellen Zuständen steigen wir auf zu den Begriffen der ›Elektrizitätsmenge‹, der ›Stromstärke‹, der ›Energie‹. Von den individuellen Zahlen steigen wir auf zu den Begriffen der Primzahl, der ›Zahl‹ überhaupt. Zwischen diesen Begriffen setzen wir das verflechtende Gesetz. […] Aber Sinn bekommt diese Gesetzgebung erst dadurch, daß wir zu den niederen Stufen zurücksteigen können. Was gesetzlich für Körper 32
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schiede, statt kraft des Begriffs verstanden und aus ihm hergeleitet zu werden, in ihm vielmehr verschwimmen sollen? Fragen wir aber, statt bei dem systematischen Gegensatz in der Auffassung des Begriffs als solchem stehenzubleiben, nach den tieferen Gründen dieses Gegensatzes – so sehen wir uns hier wieder auf unser zentrales Problem, auf das Problem der Repräsentation, zurückgewiesen. Die Auffassung der Repräsentation und der »Bedingungen ihrer Möglichkeit« beherrscht und bestimmt die Auffassung des Begriffs. Wenn Brod und Weltsch in ihrer Theorie zu der »verschwommenen Vorstellung« greifen, so geschieht dies ausdrücklich deshalb, weil nur eine solche, nur eine nicht durchgängig bestimmte, sondern gewissermaßen in allen Farben spielende Vorstellung ihnen die Kraft zu besitzen scheint, stellvertretend für eine Mehrheit von Inhalten einzutreten. Diese relative Unbestimmtheit einer Vorstellung scheint es allein zu sein, die ihre D eutbarkeit begründet – die ihr die Möglichkeit verleiht, jetzt in diesem, jetzt wieder in einem anderen »Sinne« genommen zu werden. »Die Eigenschaft der Verschwommenheit, deutbar zu sein«, so wird daher geschlossen, »gibt dem (A + x) im Keime das Hauptcharakteristikon des Begriffes, das seinen Theoretikern so unsagbar viel Schwierigkeiten gemacht hat: den Begriffsumfang neben dem Begriffsinhalt […] Wie […] soll eine einzige Vorstellung beschaffen sein, um viele Gegenstände zu nennen? – Die Antwort, die wir auf Grund alles Vorhergegangenen geben können, lautet: Indem ein (A + x) innerhalb der Grenzen, die sein A seinem x gebietet, sich in verschiedene Vorstellungen verwandeln kann, indem es also ohne Schwierigkeit mit diesen rezenten, voneinander abweichenden Vorstellungen durch ein Identitätsurteil sich verknüpfen läßt, nennt es die diesen Vorstellungen entsprechenden Gegenstände. Die Eigenschaft des (A + x), Subjekt verschiedener Identitätsurteile sein zu können, ermöglicht die Funktion des Begriffes ›zu nennen‹.« So können in mir etwa zwei deutlich voneinander abweichende individuelle Bilder: das Bild des liegenden Hundes (L) und das des stehenden Hundes (S) und Masse gilt, das wird jetzt auf Grund der begriffslogischen Gesetzlichkeit auch für ›Stuhl‹ und ›Teppich‹ gültig, schließlich auch für den individuellen Stuhl, | der mir gelegentlich in die Quere kommt. Dieser individuelle Stuhl ist mir jetzt in seinem Sein bereichert durch die Verflechtungen aller Begriffe, unter denen er steht. […] Der Grund der Bereicherung des Individuellen liegt bei allem diesem im Wissen des Generellen, der Gesetze, die für den generelleren Begriff gelten. Diese Bereicherung des Wissens vom Besonderen und besonders vom Individuellen ist der Zweck der ganzen Hierarchie der Begriffe […] Für die unteren Stufen arbeiten wir in den höheren Stufen.« (Burkamp, Begriff und Beziehung [1. Studie], S. 2 f.).
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gegeben sein. Bilde ich aber nun aus L und S und den anderen mir bekannten Positionen eines bestimmten Hundes sein (A + x), d. h., löse ich aus ihnen | eine verschwommene Gesamtvorstellung »des« Hundes heraus, so kann zu dieser bald die Vorstellung des Liegens (x1), bald die des Stehens (x2) hinzutreten und demgemäß das A + x als solches für mich jetzt ein (A + x1), jetzt ein (A + x2) »bezeichnen«.33 Eben damit aber läßt sich, wenn wir auf unsere früheren Erwägungen zurückblicken, der Gegensatz, der zwischen unserer Auffassung der Repräsentation und der hier vertretenen besteht, auf seinen schärfsten Ausdruck bringen. Denn was wir beständig zu bekämpfen hatten, war ebendiese Annahme, daß der symbolische Gehalt einer Vorstellung, daß das, was ihr eine bestimmte Bedeutung verleiht, sich überhaupt als etwas an ihr selbst, als ein reeller unterscheidbarer Teil von ihr aufweisen lasse. »Bedeuten« und »Dasein« sind nicht in dem Sinne homogen, daß sie als Komponenten einer Vorstellung aufgezeigt werden könnten und diese aus sich »zusammensetzten«. Schon die Formel, die hier als Ausdruck des Begriffs gewählt wird, muß fragwürdig erscheinen, sofern sie das A und das x, den Ausdruck des »Allgemeinen« und den des »Besonderen« oder »Einzelnen« durch ein einfaches Pluszeichen verbindet. Lassen sich denn wirklich in diesem Sinne Allgemeines und Besonderes, läßt sich der Inhalt des Begriffs und sein Umfang, läßt sich das, was im Begriff »gemeint«, und das, was in der Wahrnehmung oder der sinnlichen Anschauung »gegeben« ist, zueinander addieren? Durch die Vorstellung von einer solchen Addition wird die »organische« Einheit, die den Begriff kennzeichnet und auszeichnet, in ein rein aggregatives Beisammen verwandelt. In der Satzfunktion φ (x), die einen bestimmten Begriff bezeichnet, steht der Ausdruck für die Funktion selbst und der für die einzelnen Werte, die durch sie zusammengefaßt werden, nicht auf gleicher Linie: Die »Momente«, die hier aufeinander bezogen werden, können nicht als Elemente einer Summe gedacht werden. Es ist in sich widerspruchsvoll, den Ausdruck φ (x) dadurch faßbar machen zu wollen, daß man ihn in getrennt existierende Bestandteile zerlegt – daß man aus dem φ (x) ein φ + x macht. Denn das Funktionszeichen φ ist nicht der Ausdruck für eine einzelne numerische Größe, die sich mit anderen Größen der Variablen durch elementare arithmetische Operationen verbinden ließe. Wir haben früher den »Begriff« dem »allgemeinen Glied« einer Reihe verglichen, durch welches die Regel der Aufeinanderfolge in ihren einzelnen Gliedern bezeichnet wird. Dieses Gesetz der Reihe schränkt die einzelnen Elemente, die ihr an33
Brod/Weltsch, Anschauung und Begriff, S. 77 f. [vgl. S. 73].
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gehören, auf bestimmte Bedingungen ein; aber es bildet nicht selber ein Glied der Reihe. Wird eine | arithmetische Reihe von der Form n 1 2 3 4 2 3 4 5 usf. durch den allgemeinen Ausdruck n+1 bezeichnet, so stellt n dieses n+1 nicht mehr eine Einzelgröße dar; es steht vielmehr für das Ganze der Reihe, sofern dieses nicht als bloße Summe von Teilen, sondern als ein charakteristisches Relationsgefüge genommen wird. In ähnlicher Weise wird, um ein geometrisches Beispiel zu wählen, der »Allgemeinbegriff« des Kegelschnitts nicht dadurch gewonnen, daß Bilder der individuellen Kreise, Ellipsen, Parabeln und Hyperbeln ineinanderfließen und sich zu einem verschwommenen Gesamtbild vereinen – sondern dadurch, daß Kreis und Ellipse, Hyperbel und Parabel als durchaus bestimmte und determinierte geometrische Formen festgehalten, zugleich aber in einen neuen Beziehungszusammenhang gerückt werden: daß sie alle die Richtung und die charakteristische »Sicht« auf den geraden Kegel hin erhalten, an dem sie sich als Resultate der verschiedenen Schnitte, die sich durch ihn hindurchführen lassen, ergeben können. Und das gleiche gilt dem Prinzip nach auch von den einfachsten Fällen »anschaulicher Begriffe«. Auch sie bilden niemals ein bloßes Konglomerat von sinnlichen Eindrücken und Erinnerungsvorstellungen, sondern sie enthalten eine eigentümliche »Artikulation« derselben, sie stellen eine Form ihrer Gliederung dar. In ihnen wird Getrenntes »zusammengesehen« – nicht in der Art, daß seine Bestandstücke miteinander vermengt werden, sondern daß sein Zusammenhang mit Rücksicht auf irgendein verknüpfendes Moment festgehalten wird. Wenn die griechische Sprache den Mond als den »Messenden« (µ#ν), die lateinische Sprache ihn als den »Leuchtenden« (luna) benennt, so liegt dieser verschiedenen Benennung ein verschiedener »anschaulicher Begriff« zugrunde – aber dieser wirkt sich in beiden Fällen nur als Motiv der Vergleichung und Zuordnung, als »Gesichtspunkt« aus, der nicht selbst wieder als ein, sei es deutlich, sei es verschwommen Sichtbares gegeben ist. Und hierbei gilt es zunächst gleichviel, ob dieser Gesichtspunkt sich im weiteren Fortgang der Erkenntnis behaupten oder ob er in ihrem objektiven Aufbau durch einen anderen Modus des Sehens aufgehoben werden wird. Solche Änderungen geben zwar den Inhalt des Begriffs und seine wissenschaftliche Geltung, nicht aber seine bloße Form an. Wenn etwa einzelne Sprachen den Schmetterling als »Vogel« bezeichnen, so muß die Verknüpfung, die damit ausgedrückt wird, freilich gelöst werden, sobald das Denken dazu fortschreitet, die Ordnungen der | Lebewesen nach bestimmten »naturwissenschaftlichen«, nach morphologischen oder physiologischen Kriterien systematisch zu beschreiben – aber der ursprüngliche Gesichtspunkt der Zuord-
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nung, der, statt auf derartige Kriterien, lediglich auf das anschauliche Moment des »Fliegens« hinzielte, ist dadurch nicht schlechthin als sinnlos erklärt, sondern stellt nur einen anderen Maßstab des Sinnes dar, der vom Standpunkt der wissenschaftlichen Zusammenschau durch einen anderen und vollkommeneren ersetzt werden muß. Der Umstand, daß beim Übergang von den anschaulichen zu den wissenschaftlichen Begriffen ein solcher Wechsel des Maßstabes sich als notwendig ergibt, beweist keineswegs, daß die Operation des Messens als solche nicht schon in den »vorwissenschaftlichen« Begriffen geübt wird – daß nicht auch sie bereits bestimmten Grundregeln des beziehentlichen Denkens überhaupt folgen. Die Theorie von Brod und Weltsch läßt hingegen zum mindesten den vorwissenschaftlichen Begriff – denn für den wissenschaftlichen schränkt sie ihre These in sehr wichtigen, ja entscheidenden Punkten ein34 – aus einem bloßen Zusammenfluß von Vorstellungs- und Erinnerungsbildern entstehen. Das Bewußtsein gleicht in dieser Theorie einer photographischen Platte, auf der im Laufe der Zeit verschiedene Bilder erzeugt werden, die einander überdecken und sich miteinander vermischen, um schließlich in ein einziges unscharfes Gesamtbild überzugehen.35 Aber selbst wenn man diesen Vergleich als Ausdruck für den genetischen Prozeß der Begriffsbildung gelten lassen will: so bleibt noch immer nicht abzusehen, wie dadurch die logische Funktion des Begriffs, seine Fähigkeit, verschiedene individuelle Anschauungen zu »benennen« und zu bezeichnen, verständlich werden soll. Denn der Umstand, daß er aus den einzelnen Eindrücken entstanden ist, vermöchte ja für sich allein dem Begriff niemals die Kraft zu verleihen, ebendas, woraus er hervorgegangen ist, auch zu repräsentieren. Zugegeben, daß ein solches Gesamtbild sich auf der photographischen Platte bildet: So wird diese doch niemals dazu gelangen können, es als solches zu wissen, es auf die einzelnen Elemente, aus denen es erwachsen ist, zurückzubeziehen. Eine solche Beziehung würde ja eben verlangen, daß der Prozeß, in dem der Begriff gewonnen worden ist, gewissermaßen rückgängig gemacht wird, daß die Elemente, aus denen er sich zusammensetzt, wieder aus der Vermischung, die sie eingegangen sind, befreit und voneinander gesondert würden. Wenn wir | der photographischen Platte die Tätigkeit der Vermischung all der einzelnen Eindrücke, die auf sie gemacht werden, zusprechen: Vgl. hierzu bes. die kritische Auseinandersetzung mit meiner Schrift »Substanzbegriff und Funktionsbegriff« [ECW 6] bei Brod und Weltsch, Anschauung und Begriff, S. 234 ff. 35 Vgl. hierzu bes. a. a. O., S. 74 f. 34
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sollen wir ihr dann auch die Kraft der Sonderung zutrauen? Und doch ist es ebendies, was in der »Repräsentation« im strengen Sinne vorausgesetzt und verlangt wird. Jede Funktion der »Darstellung« schließt einen Akt der Identifizierung und einen solchen der Unterscheidung in sich – und zwar muß beides nicht als ein bloßes Nacheinander, sondern als echtes Ineinander gedacht, muß die Identitätssetzung in der Unterscheidung, die Unterscheidung in der Identitätssetzung vollzogen werden. Für diese Art der »Systole« und »Diastole«, der »Synkrisis« und »Diakrisis« der Begriffe versagen alle Analogien, die von der Dingwelt und von dem Geschehen und Wirken in ihr hergenommen sind. Hier führt nur die umgekehrte Problemstellung weiter: Hier müssen wir mit dem, was der Begriff bedeutet, beginnen, um zu dem, als was er sich in der gegenständlichen Erkenntnis bewährt und was er für den Aufbau derselben leistet, fortzugehen. Dagegen kann der geistige Grundakt der »Repräsentation«, des Meinens eines »Allgemeinen« im Einzelnen, niemals dadurch verstanden werden, daß man ihn in Teile zerlegt und ihn gewissermaßen in diese zerbricht. Man behält dann nicht etwa die Fragmente, die Bruchstücke der Repräsentation in der Hand, sondern man ist damit aus dem Umkreis ihres Sinnes überhaupt herausgetreten zu einem bloßen Dasein, von welchem aus in die Sphäre des Sinnes kein Weg mehr zurückführt.36 |
36 Zur Ergänzung verweise ich hier auf die ausführlicheren Darlegungen in meiner Abhandlung »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie«, S. 55 ff. [s. ECW 17].
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kapitel ii. Begriff und Gegenstand Es bildet eine der wichtigsten Errungenschaften der »Kritik der reinen Vernunft«, daß durch sie das Problem des Verhältnisses von »Begriff« und »Gegenstand« eine ganz neue Fassung und einen prinzipiell veränderten methodischen Sinn erhalten hat. Diese Wandlung war dadurch möglich, daß Kant an ebendiesem Punkte den entscheidenden Übergang von der »allgemeinen« Logik zur »transzendentalen« Logik vollzieht. Durch diesen Übergang erst wird die Lehre vom Begriff aus der Erstarrung gelöst, in die sie in der traditionellen Behandlung mehr und mehr geraten war. Die Leistung des Begriffs erscheint jetzt nicht mehr als eine bloß zergliedernde und formale, sondern als eine produktive und aufbauende Leistung. Er ist nicht länger ein mehr oder weniger entferntes und abgeblaßtes Abbild von irgendeiner an sich bestehenden, absoluten Wirklichkeit; er ist zu einer Voraussetzung der Erfahrung und damit zu einer Bedingung der Möglichkeit ihrer Objekte geworden. Die Gegenstandsfrage ist für Kant zu einer Geltungsfrage, zu einer Frage nach dem »quid juris« geworden: Über das »quid juris« des Gegenstands aber kann nicht entschieden werden, ehe nicht die andere Frage nach dem quid juris des Begriffs beantwortet ist. Denn der Begriff ist die letzte und höchste Staffel, zu der die Erkenntnis sich im Fortgang des gegenständlichen Bewußtseins erhebt. Der Synthesis der »Apprehension in der Anschauung« und der »Reproduktion in der Einbildung« muß als eigentlicher Schlußstein im Aufbau der »objektiven« Erkenntnis die »Synthesis der Rekognition im Begriff« hinzugefügt werden.37 Einen »Gegenstand« erkennen heißt nichts anderes, als das Mannigfaltige der Anschauung einer Regel zu unterwerfen, die es in bezug auf seine Ordnung bestimmt. Das Bewußtsein einer solchen Regel aber und der Einheit, die durch sie gesetzt ist: dies und nichts anderes ist der Begriff. »Also muß ein transszendentaler Grund der Einheit des Be | wußtseins in der Synthesis des Mannigfaltigen aller unserer Anschauungen, mithin auch der Begriffe der Objekte überhaupt, folglich auch aller Gegenstände der Erfahrung angetroffen werden, ohne welchen es unmöglich wäre, zu unsern Anschauungen irgendeinen Gegenstand zu denken; denn dieser ist nichts mehr als das Etwas, davon der Begriff eine solche Notwendigkeit der Synthesis ausdruckt.«38 37 38
[Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 612–618 (A 98–110).] A. a. O., S. 616 [A 106].
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Durch diese gemeinsame Rückbeziehung des Begriffsproblems und des Gegenstandsproblems auf das Problem der synthetischen Einheit ist nunmehr der Begriff von Anfang an auf eine weitere Basis als in der »allgemeinen Logik« gestellt. Es genügt jetzt in keiner Weise mehr, ihn als bloßen Gattungsbegriff, als »conceptus communis« zu nehmen. Denn diesem fehlt gerade das charakteristische und entscheidende Moment: Er ist ein bloßer Ausdruck der analytischen, nicht aber der synthetischen Einheit des Bewußtseins. Aber nur vermöge einer vorausgedachten möglichen synthetischen Einheit läßt sich die analytische vorstellen. »Eine Vorstellung, die als verschiedenen gemein gedacht werden soll, wird als zu solchen gehörig angesehen, die außer ihr noch etwas Verschiedenes an sich haben; folglich muß sie in synthetischer Einheit mit anderen (wenngleich nur möglichen) Vorstellungen vorher gedacht werden, ehe ich die analytische Einheit des Bewußtseins, welche sie zum conceptus communis macht, an ihr denken kann.«39 Und hieraus ergibt sich nun auch alsbald eine weittragende und fruchtbare Einsicht für den Charakter des Dingbegriffs. Die ältere Metaphysik und Ontologie nimmt die Einheit des Dinges als »substantielle« Einheit: Das Ding ist ihr dasjenige Identische, das im Wechsel der Zustände beharrt. Es steht also diesen Zuständen, es steht den »Akzidenzien« als ein Selbständiges, für sich Seiendes gegenüber; es ist der feste Kern, an den die Akzidenzien nur von außen her herantreten. Die transzendentale Logik aber verwandelt auch hier die analytische Einheit des Dinges in eine synthetische. Das Ding ist ihr nicht mehr ein sozusagen stofflicher Faden, an dem die veränderlichen Bestimmungen aufgereiht werden: Sondern es drückt sich in ihm vielmehr das Verfahren, es drückt sich in ihm die Form der Reihung selbst aus. »Wenn wir untersuchen, was denn die Beziehung auf einen Gegenstand unseren Vorstellungen für eine neue Beschaffenheit gebe und welches die Dignität sei, die sie dadurch erhalten, so finden wir, daß sie nichts weiter tue, als die Verbindung der Vorstellungen auf eine gewisse Art notwendig zu machen und sie einer Regel zu unter | werfen; daß umgekehrt nur dadurch, daß eine gewisse Ordnung in dem Zeitverhältnisse unserer Vorstellungen notwendig ist, ihnen objektive Bedeutung erteilet wird.«40 Nicht das »Objekt« als absolutes Objekt, sondern die »objektive Bedeutung« also bildet fortan das Zentralproblem: Nicht nach der Beschaffenheit des Gegenstandes, als eines »Dinges an sich«, sondern nach der Möglichkeit der »Beziehung auf einen Gegenstand« wird gefragt. 39 40
A. a. O., S. 115 f. Anm. [B 133 f. Anm.]. A. a. O., S. 181 [B 242 f.].
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Diese Beziehung kommt dadurch und nur dadurch zustande, daß die Erkenntnis bei der einzelnen Erscheinung, wie sie ihr in einem individuellen Hier und Jetzt gegeben ist, nicht stehenbleibt, sondern daß sie sie in den »Kontext« der Erfahrung verwebt. Und der Begriff ist es, der fort und fort an diesem Gewebe wirkt, der die tausend Verbindungen schlägt, auf denen die Möglichkeit der Erfahrung beruht. Er betätigt sich zunächst darin, daß er die Diskretion der empirischen Einzeldata überwindet – daß er sie in ein Kontinuum, das Kontinuum des Raumes und der Zeit, vereint. Aber ebendieses vermag er nur, indem er feste und allgemeingültige Regeln der Zuordnung zwischen ihnen schafft – indem er das Beisammen im Raume und das Nacheinander in der Zeit bestimmten Gesetzen unterwirft. Der Zusammenschluß, den die einzelnen Wahrnehmungen im Begriff und kraft desselben erfahren, konstituiert für uns den Gedanken der »Natur«: Denn dieser besagt nichts anderes als das Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist. Damit ist der Gegenstand der »Transzendenz«, im metaphysischen Sinne des Wortes, entrückt; aber er ist zugleich – und dies erst charakterisiert die kritische Erkenntnislehre – als ein schlechthin, als ein prinzipiell Unanschauliches bestimmt. Denn wie, gemäß den Eingangssätzen der transzendentalen Ästhetik, das, worinnen sich die Empfindungen allein ordnen, nicht selbst wiederum Empfindung sein kann, so kann die Regel, die die mannigfachen Anschauungen miteinander verknüpft, nicht selbst wiederum Anschauung sein. Den konstanten Werten der Anschauung gegenüber wird daher das, was wir den »Gegenstand« nennen, zum bloßen X, zu einem rein gedachten Einheitspunkt. »Was versteht man denn, wenn man von einem der Erkenntnis korrespondierenden, mithin auch davon unterschiedenen Gegenstande redet? Es ist leicht einzusehen, daß dieser Gegenstand nur als etwas überhaupt = X müsse gedacht werden, weil wir außer unserer Erkenntnis doch nichts haben, welches wir dieser Erkenntnis als korrespondierend gegenüber setzen könnten.«41 Es bedurfte dieser Fassung des Gegenstandsgedankens, um eine strenge und genaue | Korrelation von »Begriff« und »Gegenstand« zu stiften. Ein Begreifen des Gegenstands ist jetzt nicht mehr in dem Sinne möglich, daß dieser letztere vom Denken tatsächlich umgriffen, von ihm erfaßt und umfaßt würde. An Stelle all solcher bildlichen Beschreibungen der Grundbeziehung der Erkenntnis tritt ein rein ideelles Verhältnis: ein Verhältnis des Bedingens. Der Begriff bezieht sich auf das Objekt, weil und sofern er die notwendige und unerläßliche Vorausset41
A. a. O., S. 615 [A 104].
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zung der Objektivierung selbst ist: weil er jene Funktion darstellt, für die allein es Gegenstände, für die es konstante Grundeinheiten im Wandel der Erfahrung geben kann. Ist einmal diese Einsicht erreicht, so verlieren damit alle Darstellungen der Erkenntnis, die das allgemeine logische Bedingungsverhältnis, das hier aufgewiesen ist, wieder in ein spezielles Dingverhältnis umzusetzen und durch dasselbe zu verdeutlichen suchen, ihre Geltung, ja ihren Sinn. Erkenntnis und Gegenstand stehen sich nicht mehr gleich räumlichen Objekten, als ein »Hüben« und »Drüben«, als ein »Diesseits« und »Jenseits« gegenüber. Vielmehr sind alle derartigen Bezeichnungen, die jahrhundertelang die Fassung und Formulierung des Erkenntnisproblems beherrscht haben, als schlechthin inadäquat, als bloße Metaphern erkannt. Der Gegenstand ist weder draußen noch drinnen, weder jenseits noch diesseits – denn das Verhältnis zu ihm ist keine ontisch-reale, sondern eine symbolische Relation. Unter den modernen Psychologen und Erkenntnistheoretikern ist es insbesondere Theodor Lipps gewesen, der auf Wegen, die von denen Kants weit abweichen, wieder zu einer scharfen und prägnanten Formulierung des hier vorliegenden Grundproblems vorgedrungen ist. Auch bei ihm wird freilich das Verhältnis von »Bewußtsein« und »Gegenstand« zunächst noch durchaus in der räumlichen Bildersprache dargestellt, kraft deren beide als voneinander getrennte »Sphären« erscheinen. Das Bewußtsein muß, um sich einen Gegenstand gegenüberzustellen und sich auf ihn zu beziehen, über sich selbst »hinausgreifen«; und ebendieser Fortgang und Übergang, dieser Griff ins »Transzendente«, ist seine eigentümliche Funktion. Es ist seinem eigentlichsten Wesen nach ebendies »Springen über seinen Schatten«. Diese anfängliche Beschreibung aber wird von Lipps alsbald dadurch berichtigt, daß ihr bloß metaphorischer Charakter ausdrücklich zugestanden wird. Denn die Tatsache, daß der Bewußtseinsinhalt sich auf etwas Gegenständliches richtet und daß er dieses Gegenständliche repräsentiert, darf, wie jetzt von ihm hervorgehoben wird, mit einer Relation zwischen Ursache und Wirkung nicht verwechselt werden. Das »Bezeichnen« kann nie und | nimmer als Spezialfall des Bewirkens aufgefaßt noch aus der allgemeinen Form des Wirkens abgeleitet werden. »[D]ie Beziehung zwischen der Erscheinung im strengen Sinne dieses Wortes [z. B. dem Empfindungsinhalt eines Schalles] und dem ihr zugrunde liegenden Realen [der Schallwelle im physikalischen Sinne] ist keine kausale Beziehung, sondern sie ist eine Beziehung vollkommen eigener Art, eine Beziehung des Symboles zu dem darin Symbolisierten. Und diese symbolische Beziehung oder Relation besteht in der nicht weiter beschreibbaren
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Tatsache, daß ich in dem Empfindungsinhalt, Schall genannt, oder aus ihm heraus, zunächst einen, ihm gleichen Gegenstand denke und für wirklich halte, dann diesen wirklichen Gegenstand dem Kausalgesetze gemäß in Schallwellen umdenke. Bei diesem Umdenken bleibt jene eigenartige symbolische Relation, jenes Denken eines wirklichen Gegenstandes in einem Inhalte, jene Beziehung der Repräsentation […] bestehen. Dies ist nicht verwunderlich, da ja in jenem Umdenken die Schallwellen an die Stelle des zuerst für objektiv wirklich Gehaltenen getreten sind, oder, weil eben dies letztere in sie nur umgedacht ist.«42 Wir heben diese Sätze heraus, weil in ihnen mit besonderer Klarheit und mit besonderem Nachdruck auf den Angelpunkt hingewiesen wird, um den sich, in der Geschichte der Philosophie wie in ihrem System, das Begriffsproblem sowohl wie das Gegenstandsproblem dreht. Beide sind häufig als bloße Parallelprobleme behandelt worden: Die Ordnung der »Ideen« sollte neben der der »Dinge« einhergehen und ihr Punkt für Punkt entsprechen. Diese scheinbaren Parallelen bestimmen indes aus sich heraus einen gemeinsamen Punkt: Sie zielen auf das Grundphänomen der »Repräsentation« ab. Aber zugleich gilt es jetzt innerhalb dieses allgemeinen Phänomens eine schärfere Scheidung durchzuführen. Es hat sich bereits ergeben, wie der Begriff, noch bevor er seine explizite, eigentlich logische Formung erfährt, seine Leistung bereits mitten im Gebiet der Anschauung vollzieht. Er faßt die Grundmomente der Anschauung zusammen, er verknüpft sie und bezieht sie aufeinander – aber alle Beziehungen, die auf diese Weise entstehen, erfüllen sich doch immer wieder in einzelnen konkreten Gebilden und treten an ihnen, als deren Bestimmungen, hervor. Sie sind keine bloß abstrakten Relationen, die im reinen »Wissen« ergriffen werden: Sondern sie verdichten sich zu Ge | stalten der anschaulichen Wirklichkeit und stellen sich als solche vor uns hin. Wir sahen, daß Helmholtz in seiner Wahrnehmungstheorie die Mitwirkung des »Begriffs« an ebendieser primären Gestaltenbildung hervorhob, ja daß er hierin eine seiner wesentlichen Leistungen erblickte.43 Aber von den »anschaulichen Begriffen«, die nichts anderes als die »lebendige Vorstellung des Gesetzes« einer konkreten Folge von Anschauungsbildern sind, muß freilich der Begriff in seiner engeren und 42 Theodor Lipps, Inhalt und Gegenstand; Psychologie und Logik, in: Sitzungsberichte der philosophisch-philologischen und der historischen Klasse der K. B. Akademie der Wissenschaften zu München (1905), S. 511–669: S. 594; vgl. bes. den Abschnitt »Das Denken und die Gegenstände«, in: ders., Leitfaden der Psychologie, 3., teilweise umgearb. Aufl., Leipzig 1909, S. 12. 43 Vgl. oben, S. 329 ff.
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strengeren Fassung, in seinem spezifisch logischen Charakter, unterschieden werden. Hier haftet seine Bedeutung nicht mehr an einem anschaulichen Substrat, an irgendeinem Datum oder Dabile – sondern sie wird als solche in einem bestimmten Relationsgefüge, innerhalb eines Systems von »Urteilen« und »Wahrheiten«, gedacht. Und ebendiesem doppelten Sinn, dieser Potenzierung, die sich im Begriff aufweisen läßt, entspricht nun auch eine zwiefache Gestaltung des Gegenstandsbewußtseins. Die erste Phase der Gegenstandsbildung faßt das objektive Sein als ein durchaus anschauliches Sein – als ein solches, das den Grundordnungen der Anschauung, den Ordnungen von Raum und Zeit, angehörig und ihnen eingegliedert ist. Es »steht« in diesen Ordnungen – es besitzt einen bestimmten räumlichen Umriß und eine feste zeitliche Dauer. Aber in dem Maße, als die wissenschaftliche Erkenntnis fortschreitet und als sie sich ihre eigenen methodischen Werkzeuge schafft, lockert sich mehr und mehr das Band, das den Begriff unmittelbar mit der Anschauung verbindet. Er bleibt nicht mehr an die »Wirklichkeit« der Dinge gebunden, sondern erhebt sich zur freien Konstruktion des »Möglichen«. Was sich nie und nirgend hat begeben – gerade dies zieht er in den Kreis der Betrachtung und stellt es als Norm und gedanklichen Maßstab auf. Ebendieser Zug ist es, der die »Theorie«, im strengen Sinne des Wortes, von der bloßen Anschauung trennt. Sie vollendet sich als reine Theorie erst, indem sie die Schranken der Anschauung durchbricht. Keine Theorie, insbesondere keine exakte, keine mathematische Theorie des Naturgeschehens ist möglich, ohne daß sich das reine Denken vom Mutterboden der Anschauung loslöst, ohne daß es zu Gebilden fortgeht, die prinzipiell unanschaulicher Natur sind. Und nun geschieht der letzte entscheidende Schritt – nun werden ebendiese Gebilde zu den eigentlichen Trägern des »objektiven« Seins. Weil nur an ihnen die Gesetzlichkeit des Seins sich aussprechen läßt: darum konstituieren sie nun eine neue Art von Objekten, die, gegenüber denen der ersten Stufe, als Objekte höherer Ordnung zu bezeichnen sind. Die Wissenschaft muß, | sobald sie zur kritischen Einsicht in ihr eigenes Verfahren gelangt ist, sobald sie dasselbe nicht nur übt, sondern auch begreift, jeden Versuch abwehren, eine Gleichheit oder Ähnlichkeit zwischen ihren Gegenständen und denen der »unmittelbaren« Wahrnehmung oder Anschauung herzustellen. Sie erkennt, daß die einen sich zwar durchgängig auf die andern beziehen, aber daß sie sich niemals auf sie zurückführen lassen. Denn jede solche Rückführung würde gerade die spezifische Leistung des wissenschaftlichen Denkens rückgängig machen – würde das Begreifen der Welt und des Weltzusammenhanges in eine bloße Verdoppelung des Gegebenen verwandeln.
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Aber die Erkenntnis der Differenz, die hier vorliegt, schließt freilich zugleich ein logisches Dilemma in sich. Denn widerspricht nicht – so läßt sich jetzt fragen – die innere Vielgestaltigkeit, die damit innerhalb des Gegenstandsbewußtseins aufgewiesen ist, eben seiner eigentlichen Aufgabe? Muß nicht der Gegenstand, wenn überhaupt, als ein schlechthin eindeutiger gedacht werden? Die Mannigfaltigkeit, die Bewegung, der Übergang von einer Stufe zur anderen: dies alles scheint somit nur in das Bewußtsein selbst zu fallen, aber eben nicht jenes Sein zu betreffen, auf das es sich richtet und das es in sich auszudrücken strebt. Das Sein zum mindesten kann nur als Gegenpol und Gegensatz zur Bewegung, kann nur als ihr feststehendes, unveränderliches und unverrückbares Ziel verstanden werden. In ihm also scheint es keine Differenzierungen und Abstufungen mehr geben zu können, sondern hier gilt lediglich die einfache Alternative: Hier gilt das στι $ οκ στι des Parmenides. Bloße »Gedanken« mögen leicht beieinander wohnen und sich nach verschiedenen Graden ihrer Allgemeinheit abstufen lassen – aber im Reich der »Sachen«, die sich hart im Raume stoßen, findet eine solche Verträglichkeit nicht statt. Hier muß, wo eines Platz nimmt, das andere weichen: Hier gilt es eine klare Entscheidung zu treffen zwischen dem, was mit dem Anspruch der »Wirklichkeit« auftritt. Und jede derartige Entscheidung schließt zugleich ein Opfer in sich. Wir haben zu wählen zwischen den »immanenten« Inhalten des Bewußtseins, zwischen der Wirklichkeit, wie sie sich der unmittelbaren Empfindung, der Wahrnehmung, der Anschauung darbietet – und jenem anderen, über sie hinausgreifenden, »transzendenten« Sein, zu dem die Theorie, zu dem der wissenschaftliche Begriff uns hinführt. Halten wir an diesem Sein als dem eigentlichen und wahrhaften fest, so droht sich jene erste Welt in eine bloße Phantasmagorie der Sinne aufzulösen. Von den »subjektiven« Qualitäten der Farbe, des Tones usf. bleibt in der »realen« | Welt der naturwissenschaftlichen Gegenstände nichts zurück. Auf der anderen Seite aber werden, wenn man das Gewicht der »Wirklichkeit« auf die andere Schale der Waage verlegt, die »Objekte« der Theorie, die Atome und Elektronen, zu bloßen Abstraktionen: Die »Materie« der Naturwissenschaft kann sich vor der reinen Perzeption nicht rechtfertigen und zerschellt gleichsam an ihr. Und doch enthält ebendieses Entweder-Oder, wie es uns immer wieder in der Geschichte des Erkenntnisproblems begegnet, schon eine versteckte dogmatische Voraussetzung in sich, denn es postuliert eben das, was erst zu erweisen wäre; es schließt eine Petitio principii ein. Die substantielle Weltansicht freilich sucht im »Sein« ein schlechthin Feststehendes: Sie nimmt es als eine Eigenschaft, als ein Prädikat, das gewissen
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Subjekten zuzusprechen, anderen dagegen abzusprechen ist. Für eine »kritische« Auffassung der Erkenntnis aber gilt diese Alternative nicht mehr; denn für sie hat das Sein überhaupt aufgehört, ein »reales Prädikat« zu bezeichnen. Was hier der »Gegenstand« der Erkenntnis genannt wird, das erhält seine bestimmte Bedeutung erst dadurch, daß es auf eine bestimmte Form, auf eine Funktion der Erkenntnis bezogen wird. Und zwischen diesen Funktionen selber findet nicht ein bloßer Wettstreit oder Widerstreit statt, sondern sie stehen zueinander im Verhältnis der korrelativen Entsprechung und der korrelativen Ergänzung. Jede von ihnen verneint nicht einfach die andere, noch vernichtet sie sie; sondern sie nimmt sie auf, um sie jeweils in einen anderen systematischen Zusammenhang zu stellen und sie von ihm aus neu zu gestalten und neu zu bestimmen. Und ebendiese Art der Zusammenfassung ist es, in der allein die Erklärung und Begründung des »Gegenstandes« der Erkenntnis gefunden werden kann. Wenn der letztere, gemäß dem Kantischen Wort, nichts anderes ist als »das Etwas, davon der Begriff eine solche Notwendigkeit der Synthesis ausdruckt«, so kann die Frage nach seinem Sein nicht unabhängig von der Frage beantwortet werden, was diese Notwendigkeit der Synthesis bedeutet und auf welchen Bedingungen sie beruht. Es ist im Rahmen dieser Grundauffassung keineswegs widersprechend, daß diese Bedeutung als solche nicht mit einem Schlage »da ist«, sondern daß sie sich in einer Stufenfolge von Ansätzen erst konstituiert – daß sie eine Reihe verschiedener Sinnphasen durchläuft, ehe sie ihre eigentliche, ihre adäquate Bestimmung erreicht. So herrscht im Bereich der Geltung eine ganz andere Komplexion und ein anderes »Ineinander« der verschiedenen Geltungsmomente und Geltungsmöglichkeiten, als es in der Ebene des bloßen »Seins« zu denken wäre. Daß »der« Gegenstand als | einer gedacht werden soll: dies schließt nicht aus, daß ebendiese Einheit selbst, als funktionale Einheit, sich fortschreitend aufbaut. Sie muß eine Reihe von Bestimmungen durchlaufen, und sie geht in keiner von ihnen, sie geht weder in irgendeinem Einzelglied noch in einem Endglied der Reihe, in welchem sie sich definitiv abschließt, auf: Ist sie doch ebendas allumfassende Prinzip der Reihe, nach dem sich der Fortgang von Glied zu Glied bestimmt. Demgemäß zeigte sich schon an dem bloßen Wahrnehmungsobjekt, daß es keineswegs unmittelbar gegeben ist, sondern daß es nur vermittelst der Wahrnehmung dargestellt, daß es nur in ihr »repräsentiert« werden kann. Erst vom Standpunkt einer solchen Darstellung läßt sich von der Einheit eines »Dinges« reden. Die aktuelle Wahrnehmung als Prozeß weiß in ihrem steten Fließen von einer
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derartigen Einheit nichts. Jeder Inhalt, der in ihr auftaucht, wird alsbald wieder von einem anderen verdrängt – jede Gestalt, die sich zu bilden scheint, wird wieder in den Strudel des Prozesses hinein- und mit ihm fortgerissen. Daß nichtsdestoweniger die jeweilig veränderlichen und die durchaus lückenhaften und fragmentarischen Data der Wahrnehmung zum Ganzen eines »Gegenstandes« sich fügen: dies ist nur dadurch möglich, daß sie, statt als bloße Bruchstücke genommen zu werden, als einander »zugehörig« angesehen, daß sie als verschiedene Ausdrücke eines bestimmten Sinnganzen betrachtet werden. Der Weg dieser Betrachtung überschreitet das direkt Gegebene in einer doppelten Richtung. Der erste Schritt besteht darin, daß die Wahrnehmungsinhalte unter den Gesichtspunkt der Kontinuität – der zweite, daß sie unter den Gesichtspunkt der Kohärenz gerückt werden. Selbst der strikte Sensualismus hat sich der Anerkennung dieses Tatbestandes nicht entziehen können: Selbst Hume lehrt, daß das »Ding« nicht schlechthin ein Bündel von Einzelperzeptionen ist, sondern daß erst kraft des Begriffs der Stetigkeit und der Kohärenz der Gedanke eines mit sich identischen Objekts entsteht. Nur muß er seiner Grundansicht gemäß ebendiesen Begriff selbst als bloße Fiktion erklären – als eine Täuschung der Einbildungskraft, der diese nach allgemeinen psychologischen Gesetzen notwendig unterliegt, der wir aber keinerlei objektiv-logischen Wert beimessen dürfen.44 Aber daß damit die eigentliche Dignität und die eigentlich begründende Kraft, die der reinen Synthesis innewohnt, verkannt wird: dies hat die »Kritik der reinen Vernunft« vor allem in dem Abschnitt erwiesen, in welchem sie die »Wirklichkeit« als »Postulat des empirischen Denkens« erklärt.45 Ein solches | Postulat ist es, wenn wir die flüchtigen und sich verflüchtigenden sinnlichen Eindrücke gleichsam stehen heißen – wenn wir ihnen einen Bestand zusprechen, der über die Zeitspanne ihres unmittelbaren Daseins und ihrer unmittelbaren Gegebenheit hinausgeht. Dieser Bestand reicht zunächst, rein qualitativ betrachtet, über die Reichweite der Wahrnehmung als solcher noch nicht hinaus: Es ist der Inhalt der Wahrnehmung selbst, der als solcher wiederholt und sozusagen mit einem bestimmten Index der »Dauer« versehen wird. Aber bei dieser Art der zeitlichen »Ergänzung« und Integration bleibt der Gedanke nicht stehen. Er verlängert den Inhalt nicht einfach über sich selbst und über die Zeitstrecke hinaus, in der er aktuell gegeben ist, sondern er faßt auch seine Veränderungen ins Auge und fragt nach dem Gesetz derselben. Diese Ver44 45
Vgl. Hume, A Treatise of Human Nature (Buch 1, Teil 4, Abschn. 2). [Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 195 ff. (B 265 ff.).]
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änderungen sollen, sofern sie eintreten, nicht beliebig erfolgen, sondern sie werden als bestimmten Regeln unterstehend gedacht. Mit dieser Forderung aber sieht sich das Denken nunmehr genötigt, einen weiteren Schritt zu vollziehen. Denn es zeigt sich, daß die Aufstellung exakter Regeln der Veränderung nicht gelingt, solange wir dabei stehenbleiben, die Elemente, für welche diese Regeln gelten sollen, durch ebendieselben Bestimmungen, die in der bloßen Wahrnehmung auftreten, zu definieren. Die Definition muß erweitert und vertieft werden: Die besondere Qualität, das Sosein der Wahrnehmung darf für die Bestimmung des Seins ihres Gegenstandes keine Schranke bilden. Die Erkenntnis sieht sich, wenn ihr die Erscheinungen deutbar bleiben, wenn sie ein verständliches Ganze für sie bilden sollen, zu einer weiteren folgenschweren Umgestaltung gedrängt. Sie muß nicht nur zwischen den Wahrnehmungsinhalten selbst neue Verknüpfungen stiften, sondern sie muß auch, um diese Verknüpfungen auf einen streng begrifflichen Ausdruck zu bringen, die bisherigen Inhalte in ihrer Beschaffenheit verändern. Der Sinnenwelt wird jetzt eine »ideale« Welt, eine Welt der Bedeutung und der reinen Theorie, unterbaut, weil nur für die Gebilde dieser letzteren sich jene Gesetze des Zusammenhangs formulieren lassen, deren es bedarf, um die einzelnen Erscheinungen als Erfahrungen lesen zu können. Damit erst hat die Erkenntnis »Gegenstände« im strengen Sinne gewonnen – Inhalte, die ihr wahrhaft standhalten und sich einer eindeutigen Ordnung einfügen. So muß notwendig, um ins Gebiet des reinen Wissens vorzudringen, der Gehalt der Wahrnehmung von Grund aus umgestaltet, so muß er im eigentlichen Sinne »transzendiert« werden. Aber diese Be deutungstranszendenz darf nicht mit einer ontischen Transzendenz verwechselt | werden; denn sie untersteht einem völlig anderen Prinzip als diese. Der Übergang ist ein Übergang im Sinn, nicht im Sein – und als solcher kann er nicht von der Fundamentalrelation aus, die die Beziehungen innerhalb des Seins beherrscht und regelt, begriffen und durch sie zureichend erklärt werden. Die symbolische Beziehung des »Meinens«, die Art, wie die »Erscheinung« sich auf den »Gegenstand« bezieht und ihn in dieser Beziehung ausdrückt, wird verfehlt, sobald man sie als Sonderfall einer kausalen Beziehung zu denken, sobald man sie dem »Satz vom Grunde« einzufügen und unterzuordnen sucht. Was hier die Einsicht in die spezifische Differenz erschwert, was immer von neuem dazu verlockt, reine Bedeutungsverhältnisse auf Kausalverhältnisse zurückzuführen und aus ihnen zu erklären – dies ist vor allem eine Äquivokation, die im Begriff des »Zeichens« selbst und im Gebrauch desselben besteht. Husserl
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hat scharf betont, daß ein grundsätzlicher Unterschied zwischen den echt symbolischen, den eigentlich signifikativen Zeichen und den bloß »anzeigenden« Zeichen zu machen ist. Nicht allen Zeichen wohnt Bedeutung in dem Sinne ein, in welchem wir z. B. ein Wort als Träger einer Bedeutung denken. Auch im Kreise des natürlichen Daseins oder Geschehens kann ein Ding oder ein Ereignis zum Zeichen für ein anderes werden, sobald es mit ihm durch irgendeine konstante empirische Beziehung, insbesondere durch die Beziehung von »Ursache« und »Wirkung«, verbunden ist. In dieser Weise kann etwa der Rauch das Feuer, der Donner den Blitz »bezeichnen«. Aber derartige Zeichen drücken, wie Husserl hervorhebt, nichts aus – es sei denn, daß sie neben der Funktion des Anzeigens noch eine Bedeutungsfunktion erfüllen. »Das Bedeuten ist nicht eine Art des Zeichenseins im Sinne der Anzeige.«46 Die Gefahr der Verwischung und Nivellierung ebendieses Grundunterschiedes aber tritt immer wieder ein, sobald man die Funktion des Zeichens, statt sie als eine primäre und universale Funktion zu verstehen, unter irgendeinen speziellen Gesichtspunkt der Betrachtung rückt – sobald man sie insbesondere von vornherein ausschließlich sub specie der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung sieht. Weil diese letztere unter der Norm und Herrschaft des kausalen Denkens steht, so pflegt sie auch unwillkürlich alle Probleme, die sie ergreift, gewissermaßen in die Sprache der Kausalität zu übertragen und sie sich durch diese Übertragung überhaupt erst faßbar zu machen. Mit besonderer Deutlichkeit tritt der Prozeß dieser Umsetzung in Helmholtz’ Erkenntnislehre hervor. Von allen modernen Physikern ist Helmholtz derjenige, der vielleicht am schärfsten | betont hat, daß die Begriffe der mathematischen Physik keinerlei Anspruch darauf erheben dürfen, den realen Objekten zu gleichen, sondern daß sie nur als Zeichen für diese Objekte fungieren können. »Unsere Empfindungen«, so begründet er diese Anschauung, »sind […] Wirkungen, welche durch äußere Ursachen in unseren Organen hervorgebracht werden, und wie eine solche Wirkung sich äußert, hängt natürlich ganz wesentlich von der Art des Apparats ab, auf den gewirkt wird. Insofern die Qualität unserer Empfindung uns von der Eigenthümlichkeit der äußeren Einwirkung, durch welche sie erregt ist, eine Nachricht giebt, kann sie als ein Zeichen derselben gelten, aber nicht als ein Abbild. Denn vom Bilde verlangt man irgend eine Art der Gleichheit mit dem abgebildeten Gegenstande, von einer Statue Gleichheit der Form, von einer Zeichnung Gleichheit der perspectivischen Projection im Gesichtsfelde, 46
Husserl, Logische Untersuchungen, 2. Theil, S. 23 ff. [Zitat S. 23].
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von einem Gemälde auch noch Gleichheit der Farben. Ein Zeichen aber braucht gar keine Art der Ähnlichkeit mit dem zu haben, dessen Zeichen es ist. Die Beziehung zwischen beiden beschränkt sich darauf, daß das gleiche Object unter gleichen Umständen zur Einwirkung kommend, das gleiche Zeichen hervorruft, und daß also ungleiche Zeichen immer ungleicher Einwirkung entsprechen.«47 In dieser Verwendung des Zeichenbegriffs gehen indessen zwei verschiedene Auffassungen und Betrachtungsweisen unvermerkt und unvermittelt ineinander über. Auf der einen Seite steht das Zeichen in seiner rein »deiktischen« Funktion: als ein Etwas, das auf einen Gegenstand hinweist, ihn intendiert und meint. Aber ebendieses Etwas wandelt sich andererseits in eine Bestimmung, die von ebendiesem Gegenstand bewirkt ist. Das »intentionale« Objekt, auf das sich die Wahrnehmung bezieht und das sie in sich darstellt, ist damit zu einem realen Ding geworden, das sich irgendwie »hinter« ihr verbirgt und das nur indirekt, vermittels eines Schlusses von der Wirkung auf die Ursache, für die Erkenntnis erfaßbar ist. Aus der Sphäre des reinen »Bedeutens« treten wir damit in die des mittelbaren Folgerns und Schließens ein – und wir sehen uns damit freilich zugleich der ganzen Unsicherheit überantwortet, die all solchen bloß mittelbaren Prozessen innewohnt. Näher betrachtet zeigt sich, daß die Kausalfunktion in Helmholtz’ Wahrnehmungstheorie und im Aufbau seiner Erkenntnislehre eine zweifache und im Grunde zwiespältige Funktion zu erfüllen hat. Sie ist die »Bedingung der […] Begreiflichkeit der Natur«,48 weil es erst durch sie möglich wird, die Mannigfaltigkeit der empirischen Beobachtungen zu einer streng einheitlichen Ordnung zusammenzufügen und | damit zu Begriffen von empirischen »Gegenständen« zu gelangen. Sodann aber werden wir durch die Form des kausalen Denkens auf einen ganz anderen Weg gedrängt: Statt den reinen Zusammenhang der Phänomene als solchen zu erfassen, sollen wir von ihnen als Wirkungen auf ihre unbekannten und in ihrem Ansich für immer unerkennbaren Gründe zurückschließen. Und für diese beiden durchaus verschiedenen Motive wird in Helmholtz’ Lehre der Begriff des »Zeichens« in Anspruch genommen. Die Empfindung dient als Zeichen: zunächst in dem Sinne, daß das, worauf sie hinweist, nichts anderes als der Kontext der Erfahrung selbst ist. »Vor der Wahrnehmung [und unabhängig von ihr] eine Erscheinung ein wirkliches Ding nennen«, so hatte die »Kritik der reinen Vernunft« diesen Sachverhalt formuliert, »bedeutet [daher] entweder, daß 47 48
Helmholtz, Handbuch der Physiologischen Optik, S. 586. [S. oben, S. 166 Anm. 61.]
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wir im Fortgange der Erfahrung auf eine solche Wahrnehmung treffen müssen, oder es hat gar keine Bedeutung. […] Fangen wir nicht von Erfahrung an oder gehen wir nicht nach Gesetzen des empirischen Zusammenhanges der Erscheinungen fort, so machen wir uns vergeblich Staat, das Dasein irgendeines Dinges erraten oder erforschen zu wollen.«49 Man kann sagen, daß die gesamte Begründung der »Physiologischen Optik«, wie sie durch Helmholtz vollzogen worden ist, diese Kantischen Sätze als methodisches Vorbild und gleichsam als ihr Motto genommen hat. Auch für Helmholtz besteht der einzige Charakter der »Wirklichkeit«, den wir von den Erscheinungen mit Sicherheit aussagen können, in dem Nachweis ihrer Verknüpfung nach durchgängigen empirischen Gesetzen. Daneben aber steht unvermittelt die andere Auffassung, durch die Helmholtz wieder in alle Schwierigkeiten der »Projektionstheorie« zurückgeworfen wird. Die Zeichen, die für uns ein Gegenständliches bedeuten, sollen selbst vom Gegenstande her bewirkt sein – und die Aufgabe der Erkenntnis scheint nun in nichts anderem zu bestehen, als ebendiesen Prozeß des Wirkens gewissermaßen umzukehren. Der Weg des Wirkens geht von »außen« nach »innen«; der Weg des Wissens muß das Innere wieder in ein Äußeres verwandeln, muß von der gegebenen Empfindung auf ein Nichtgegebenes und Nicht-Gebbares, auf ein »Jenseits« der Empfindung zurückschließen. Aber schon der Ansatz dieses Schlusses bleibt problematisch. Denn die kausale Abhängigkeit, in welcher die »Empfindung« vom »Dinge« stehen soll, würde sie an sich noch keineswegs zum Zeichen des Dinges tauglich machen. Die reale Beziehung, die hier angenommen wird, enthält als solche noch keinerlei hinreichenden Grund für die repräsentative Beziehung, die durch sie | erklärt werden soll. Die Empfindung müßte, um auf den Gegenstand hindeuten und um ihn darstellen zu können, nicht nur eine Wirkung von ihm sein, sondern sie müßte sich auch als dessen Wirkung wissen – und ebendie Möglichkeit eines derartigen Wissens bleibt unverständlich, solange wir nicht den Kreis der bloß »anzeigenden« Zeichen verlassen und in den Kreis der echten, der eigentlich und ursprünglich »signifikativen« Zeichen eintreten. Der tiefere systematische Grund der hier auftretenden Schwierigkeiten aber liegt in dem Umstand, daß überhaupt der Versuch unternommen wird, ein prinzipiell unanschauliches Verhältnis dadurch erklären zu wollen, daß man zu Analogien seine Zuflucht nimmt, die der Welt der anschaulichen Objekte und den Beziehungen, die unter ihnen obwalten, entnommen sind. Die Eigenart und der spe49
Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 351 u. 199 [B 521 u. 273 f.].
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zifische Sinn der reinen Bedeutungskategorie, durch welche die »Beziehung der Vorstellung auf ihren Gegenstand« konstituiert wird, läßt sich nicht dadurch verständlich machen, daß man ihr irgendwelche Seinsbestimmungen – mag es sich nun um Bestimmungen der Kausalität oder um solche der Gleichheit oder Ähnlichkeit zwischen Dingen oder um Verhältnisse des »Ganzen« zum »Teil« handeln – unterschiebt.50 Statt auf irgendwelche Eigenschaften gegebener Dinge, statt auf das Bild einer schon vorhandenen Wirklichkeit, muß man hier vielmehr auf die reinen Bedingungen der Setzbarkeit einer »Wirklichkeit« überhaupt zurückgehen. Weil und sofern der reine Begriff zu diesen Bedingungen gehört, kann sich das Denken in ihm und kraft seiner auf Objekte beziehen, kann es gegenständliche Bedeutung für sich in Anspruch nehmen. Am klarsten tritt dies heraus, wenn wir den Begriff im strengen logischen Sinne als Satzfunktion fassen und wenn wir ihn durch eine solche definieren. Die Formel einer solchen Satzfunktion φ (x) läßt sich benutzen, um an ihr all jene theoretischen Gegensätze aufzuzeigen, die in der Auffassung des Begriffsproblems und in der des Gegenstandsproblems bestehen, und um diese Gegensätze auf einen scharfen und prägnanten Ausdruck zu bringen. Die eine Ansicht, die sensualistische, glaubt die Funktion des Begriffs, wie die des Gegenstandes, damit erfassen zu können, daß sie die Werte der Variablen, die in diese Funktion eingehen, ins Auge faßt und daß sie diese Werte einfach koordiniert. Sie nimmt das φ so, als wenn es selbst ein x oder als wenn es allenfalls die bloße Summe der x, ein x1 + x2 + x3 usf., wäre. Die andere Auffassung geht von der | Unterscheidung der in der Satzfunktion verknüpften Momente aus: Sie spricht dem Begriff eine selbständige logische Gültigkeit zu, wie sie dem Gegenstand eine selbständige »transzendente« Realität beilegt und ihn dadurch von den »immanenten« Gegebenheiten des Bewußtseins scharf absondert. Aber beides glaubt sie zuletzt nur dadurch sichern zu können, daß sie die Funktion φ (x) sozusagen mitten durchschneidet. Der Relation φ wird nicht nur eine eigentümliche »Dignität« zugestanden, sondern sie wird zu einem »absoluten«, zu einem abgelösten und unbedingten Sein erhoben. Ebendiese Relation jedoch hat ja ihren Sinn und Gehalt in nichts anderem als darin, daß sie das Moment heraushebt, in bezug auf welches die einzelnen Werte der Veränderlichen als bestimmbar und als bestimmt angesehen werden. Es bleibt freilich dabei, daß die Funktion φ und die Werte der Variablen einem ganz verschiedenen Denktypus angehören und daß sie sich somit niemals aufeinander reduzieren lassen: Aber diese Irre50
Vgl. hierzu oben, S. 112–114 u. 360 f.
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duzibilität besagt andererseits keineswegs, daß sie voneinander trennbar wären. So geht z. B. die Einheit des »Dinges« niemals in einer einzelnen »Erscheinung«, etwa in einer besonderen räumlichen Ansicht von ihm, auf – sondern sie ist erst durch die Totalität der möglichen Ansichten und durch die Regel ihrer Verknüpfung bestimmbar. Jede einzelne Erscheinung »repräsentiert« das Ding, ohne jemals, als einzelne, mit ihm wahrhaft koinzidieren zu können. In diesem Sinne gilt auch für den »kritischen« Idealismus, daß die bloße »Erscheinung« notwendig über sich selbst hinausweist, daß sie »Erscheinung von etwas« ist. Aber dieses Etwas bedeutet kein neues Absolutum, kein ontisch-metaphysisches Sein. Denn sowenig das Darstellende und das Dargestellte, das Präsente und Repräsentierte miteinander identisch sind, so ergibt doch immer nur dieses in bezug auf jenes und jenes in bezug auf dieses einen verständlichen Sinn. Die Funktion »gilt« für die Einzelwerte, eben weil sie kein Einzelwert »ist« – und andererseits »sind« die Einzelwerte nur, sofern sie zueinander in der durch die Funktion ausgedrückten Verknüpfung stehen. Das Einzelne, Diskrete besteht selbst nur in Hinsicht auf den Zusammenhang, den es in irgendeiner Form des Allgemeinen, mag darunter nun die Allgemeinheit des »Begriffs« oder die des »Gegenstandes« verstanden werden, besitzt – und ebenso kann das Allgemeine sich nur am Besonderen manifestieren und sich nicht anders denn als Ordnung und Regel für das Besondere beglaubigen und bewähren. So sehen wir uns zuletzt, um die spezifische Gültigkeit des Begriffs und um den Charakter der empirischen Gegenständlichkeit zu verstehen, auf die Bedeutungsfunktion zurückgewiesen – die, ohne in sich selbst | irgendwie gespalten zu sein, sich doch aus prinzipiell verschiedenen Sinnmomenten aufbaut. Denn kein echter Sinn ist als solcher schlechthin einfach, sondern er ist eins und doppelt – und diese Polarität, die in ihm liegt, zertrennt und zerstört ihn nicht, sondern sie stellt vielmehr erst seine eigentliche Erfüllung dar. |
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kapitel iii. Sprache und Wissenschaft – Dingzeichen und Ordnungszeichen Die bisherigen Betrachtungen, die sich auf den Zusammenhang zwischen dem Begriffsproblem und dem Gegenstandsproblem bezogen, haben uns in die allgemeinen Prinzipienfragen der Logik und Erkenntniskritik zurückgeführt – aber fast kann es scheinen, als seien wir damit von unserem Wege abgelenkt worden und als hätten wir unser eigentliches systematisches Hauptziel aus den Augen verloren. Denn unsere Frage sollte nicht auf das logische Bedeutungsproblem noch auf das erkenntniskritische Problem als solches gerichtet sein, sondern beide nur in ihrer Beziehung zu einem Dritten, zum Problem des Zeichens und der Bezeichnung, erfassen. Je mehr wir uns indes in die Struktur des Begriffs und in die der gegenständlichen Erkenntnis als solche vertiefen – um so ferner scheint uns dieses letztere Problem zu rücken. Denn wie weit man den Gedanken des »Nominalismus« auch treiben mag: Immer erweist es sich als unmöglich, das Bedeutungsproblem einfach im Problem der Bezeichnung aufgehen zu lassen und es ohne Rest aus ihm abzuleiten. Die Bedeutung bleibt als ein logisch Wesenhaftes, als das eigentliche πC τεCον τ0 φσει stehen. Sie erweist sich als der Kernpunkt und Mittelpunkt, während die Bezeichnung ihr gegenüber mehr und mehr in eine bloß »periphere« Stelle gedrängt wird. Je bestimmter in der modernen Logik der Gehalt des Begriffs als eines reinen Relationsgefüges herausgearbeitet wird, um so schärfer pflegt demgemäß die Folgerung gezogen zu werden, daß gegenüber dem ideellen Sinn dieses Gefüges der Name ein Sekundäres, ein »Äußerliches« bleibt. »Ein Begriff«, so heißt es z. B. bei Burkamp, »ist […] ein Relationsgefüge, das auf unbestimmt Verschiedenes beziehbar ist. Dieser Begriff wird für unser Denken eine Einheit und in wichtigen Fällen mit einem Namen bezeichnet. Der Name, das Wort ist aber so wenig der Begriff wie mein Name ich selbst bin. Der Name | ist etwas Äußerliches für den Begriff, hat nichts mit dem Wesen eines Begriffs zu tun. […] Verstehe ich eine neue maschinelle Einrichtung, so ist sie mir ein Begriff, ohne daß ich ihr einen Namen gegeben zu haben brauche. Der funktionale Zusammenhang, übertragbar auf unbestimmt Verschiedenes, ist der Begriff. Der Name ist ein zweckmäßiges Anhängsel. Er dient in erster Linie als Kurzzeichen51 und als Ausdrucksmittel für den Begriff.«52 Ein »Kurzzeichen« dieser Art kann – so scheint es – kei51 52
[Cassirer: Kennzeichen] Burkamp, Begriff und Beziehung (1. Studie), S. 7.
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nerlei selbständigen Wert, keine »Autonomie« für sich in Anspruch nehmen. Seine Aufgabe ist lediglich die der Stellvertretung – und jegliche Erkenntnis muß irgendwann einmal lernen, eine solche Stellvertretung zu entbehren und den Dingen selbst, in ihrem reinen »Ansich«, ins Auge zu blicken. Sie wird Erkenntnis im strengen Sinne erst dadurch, daß sie sich hierzu versteht – daß sie die Hülle abwirft, in die die Sprache und das Wort sie immer dichter einzuspinnen droht. Aber eben hierin stellt sich nun im Verhältnis der sprachlichen und der wissenschaftlichen Begriffsbildung dieselbe Dialektik dar, die uns früher in einem ganz anderen geistigen Gebiet: im Fortgang vom mythischen zum religiösen Bewußtsein entgegentrat. Auch das religiöse Bewußtsein konnte die mythische Bildwelt, aus der es sich losringt und der es sich gegenüber- und entgegenstellt, nicht entbehren. Es mußte vielmehr seinen Weg mitten durch diese Bildwelt nehmen; es konnte die mythischen Gestalten nicht in der Art besiegen, daß es sie verleugnete und wegwarf, sondern daß es an ihnen festhielt und sie eben hierdurch mit einem neuen Sinne durchdrang.53 In der Beziehung der Wissenschaft und ihrer »reinen Logik« auf die Sprache läßt sich der gleiche Gegensatz wiedererkennen. Alle strenge Wissenschaft verlangt, daß der Gedanke sich vom Zwange des Wortes befreit, daß er ihm gegenüber selbständig und mündig wird. Aber auch dieser Akt der Befreiung kann nicht schlechthin in einer Abkehr von der Welt der Sprache erreicht werden. Der Weg, den die Sprache beschritten hat, kann nicht verlassen, sondern er muß bis zu seinem Ende verfolgt und über dieses Ende hinaus fortgesetzt werden. Der Gedanke drängt über die Sphäre der Sprache hinaus: Aber er nimmt eben hierin eine Tendenz auf, die in ihr selbst ursprünglich beschlossen liegt und die von Anfang an in ihrer eigenen Entwicklung als lebendiges Motiv wirksam war. Diese Tendenz wird jetzt nur in ihrer vollen Kraft und Reinheit herausgearbeitet, wird gleichsam aus ihrer bloßen Poten | tialität befreit und in volle Wirksamkeit umgesetzt. Aber darin liegt zugleich, daß auch die neue geistige Wirklichkeit, die jetzt ersteht, daß auch die höchste Energie des reinen wissenschaftlichen Begriffs nach wie vor durch ein geheimes Band mit der Sprache verknüpft bleibt. So hoch sich der reine Begriff auch über die Sinnenwelt in das Reich des Ideellen und »Intelligiblen« erheben mag – er kehrt zuletzt doch immer in irgendeiner Weise zu jenem »welt- und erdgemäß[en]«54 Organ zurück, das er an der Sprache besitzt. Der Akt der Lösung von der Spra53 Vgl. hierzu den Schlußabschnitt des zweiten Teils der »Philosophie der symbolischen Formen« [ECW 12]: Die Dialektik des mythischen Bewußtseins. 54 [Goethe, Faust. Zweiter Theil, S. 329.]
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che, der unumgänglich ist, erweist sich als durch die Sprache selbst bedingt und als durch sie vermittelt. Denn der Fortgang vom Sprachbegriff zum wissenschaftlichen Begriff besteht nicht in einer Negation, in einer einfachen Umkehr der geistigen Prozesse, auf denen die Bildung der Sprache beruht, sondern in einer Fortsetzung und einer ideellen Steigerung derselben. Dieselbe geistige Grundkraft, die aus den »anschaulichen« Begriffen die sprachlichen Begriffe hervorgehen ließ, prägt zuletzt diese letzteren in die Form des »wissenschaftlichen« Begriffs um. Wir sahen, wie schon im Gebiet der »natürlichen Weltansicht« die Funktion der Repräsentation waltet. Nur durch sie konnte sich die Welt der Sinne zu einer Welt der »Anschauung« und der »Vorstellung« formen. Aber ebendieser Formungsprozeß erwies sich hier der »Materie« des Sinnlichen noch durchaus verhaftet. Auch wenn sie als reines Mittel der Darstellung gebraucht wurde, schien die Vorstellung, rein stofflich betrachtet, aus demselben Stoffe wie dem der Sinnenwelt zu bestehen. Und aus diesem zwiespältigen Verhältnis erwuchs immer aufs neue die Gefahr einer nivellierenden Rückbildung: Die Sonderung zwischen Inhalt und Funktion drohte, kaum daß sie sich durchgesetzt hatte, wieder verlorenzugehen. Denn solange die Repräsentation, die Darstellung als solche, noch eines bestimmten Anschauungsbildes als ihres Trägers bedarf, hebt sie sich nicht scharf und prinzipiell von diesem ihrem Substrat ab. Der Blick des Geistes verfängt sich hier noch allzuleicht in die Einzelheiten ebendieses Bildes selbst, statt daß er dasselbe nur als Ausgangs- und Durchgangspunkt, als Medium der »Bedeutung« nähme. Erst die Sprache bringt hierin eine neue und entscheidende Wendung. Das Sprachwort unterscheidet sich eben darin vom sinnlichen Anschauungsbild, daß es sozusagen mit keiner eigenen sinnlichen Materie mehr belastet ist. Betrachtet man es seinem bloßen sinnlichen Bestand nach, so erscheint es als ein Verschwebendes und Unbestimmtes: Es ist ein Spiel von jedem Hauch der Luft. Aber gerade dies Ungreifbare und Flüchtige an ihm begründet zugleich – vom Stand | punkt der reinen Darstellungsfunktion gesehen – seine Überlegenheit über die unmittelbar-sinnlichen Inhalte. Denn das Wort besitzt sozusagen keine für sich bestehende, selbständige »Masse« mehr, mit der es der Energie des beziehentlichen Denkens Widerstand leisten könnte. Es ist für jegliche Form offen, die der Gedanke ihm aufprägen will: Ist es doch selbst kein An-sich-Seiendes, kein Konkretes und Substantielles, sondern empfängt seinen Sinn erst vom prädikativen Satz und vom Zusammenhang der Rede aus.55 55
Dies gilt freilich strenggenommen erst auf einer Stufe, auf der das Wort klar
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Erst in der lebendigen Dynamik der Rede empfängt das Wort seinen eigentümlichen Gehalt, erst hier wird es zu dem, was es ist. Eben hierin erweist sich die Sprache immer wieder als das mächtige und unentbehrliche »Vehikel« des Gedankens – als das Schwungrad gleichsam, das ihn in den Kreis ihrer eigenen unablässigen Bewegung aufnimmt und ihn mit sich fortreißt. Der einzelnen sinnlichen Anschauung bleibt eben wegen ihrer konkreten Fülle und ihrer statischen Bestimmtheit diese freie Beweglichkeit versagt. Ein »Denken ohne Worte« kann daher freilich nicht geleugnet werden: Aber dieses Denken bleibt stets dem Einzelnen, dem hier und jetzt Gegebenen in weit höherem Maße verhaftet, als es beim sprachlichen Denken der Fall ist. Erst in diesem letzteren hebt sich die eigentliche Niveaufläche des Begriffs klar und bestimmt von der Sphäre des Wahrnehmbaren und des anschaulich Vorstellbaren ab. Die reine Nennfunktion des Wortes führt, platonisch gesprochen, den ersten scharfen Schnitt zwischen dem Reich der λ γοι und dem der πCγµατα.56 So schafft das Wort zwar nicht den Begriff, aber ebensowenig ist es ein bloßes äußeres Anhängsel zu ihm. Es bildet vielmehr eines der wichtigsten Mittel für seine Aktualisierung – für seine Ablösung vom unmittelbar Wahrgenommenen und Angeschauten. Mag diese Ablösung immerhin wie eine Art Sündenfall der Erkenntnis erscheinen, durch den sie aus dem Paradies des Konkreten und Individuellen vertrieben wird: Sie ist eben damit zugleich der Beginn jener ins Grenzenlose fortschreitenden Arbeit des Geistes, in der er sich seine Welt erst erringt und gestaltet. Sucht man sich die Art und die Richtung dieses Prozesses von seiten | einer genetischen Betrachtungsweise zu verdeutlichen, so zeigt sich, daß die Tatsachen der Entwicklungspsychologie mit den Ergebnissen, zu denen wir durch die rein systematische Analyse geführt wurden, durchaus in Einklang stehen. Auch in der individuellen Entwicklung läßt sich, wie es scheint, noch deutlich der Punkt aufweisen, an dem die beiden Welten sich scheiden, an dem die Wendung von den »bloßen« anschaulichen »Allgemeinvorstellungen« zu den sprachlichen »Begriffen« sich vollzieht. Die ersteren lassen sich und scharf in seinem rein repräsentativen und symbolischen Charakter erfaßt ist – auf der also der Name nicht mehr, wie im mythischen Denken, als realer Teil der Sache, die er bezeichnet, genommen wird. Solange das letztere der Fall ist, bleibt auch für den Namen die substantielle Festigkeit und die substantielle Bindung durchaus bestehen: Die mythische »Hypostase« schafft ihn selbst zur dämonischen Wesenheit um (vgl. hierzu bes. Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, S. 54 ff. [ECW 12, S. 49 ff.]). 56 Platon, Phaidon 99 D ff.
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psychologisch als »schematisierte Vorstellungen« beschreiben, »die tatsächlich noch ›Vorstellungen‹ sind, d. h. eine anschauliche Bestimmtheit haben, deren Erscheinungsweise aber nicht mehr so detailliert und individualisiert wie die der einzelnen Gedächtnisvorstellungen ist. Sie sind gleichsam sinnliche Abstraktionen, Vereinfachungen, die doch noch innerhalb der sinnlichen Anschauung bleiben […]« Die fortschreitende Entwicklung aber greift sodann über dieses Stadium hinaus. »Das Schema hat noch eine gewisse, wenn auch noch so vage, Ähnlichkeit mit der Anschauung, an die es immerhin erinnerte . Allmählich verliert sich das Bedürfnis danach, Gemeintes durch Ähnliches darzustellen, und es genügt ein solcher Rest von Anschaulichkeit, um die Bezugnahme auf den Gegenstand, also die Intention, zu bezeichnen: aus dem Schema wird das bloße Zeichen. « Mit dieser Wendung erst sind wir ins Gebiet der Sprache und des eigentlichen begrifflichen Denkens eingetreten.57 Zu einem analogen Ergebnis wird man geführt, wenn man die Eigenart der menschlichen Sprache gegen jene Formen und Arten der »Semantik« abzugrenzen sucht, wie sie sich, mehr oder minder deutlich, schon im Tierreich ausgebildet findet. Auch im Leben der tierischen Gemeinschaften läßt sich erkennen, wie das einzelne Tier mit seinen Artgenossen durch bestimmte »Zeichen« in Verbindung tritt. Eine Biene kehrt etwa von einem Fundort, den sie entdeckt hat, zum Stock zurück, um hier durch bestimmte Bewegungen, durch eine Art »Werbetanz«, den sie ausführt, Genossen zu einem neuen Flug zu werben. Jedem von ihnen gibt sie hierbei eine Probe des spezifischen Blütenduftes, den sie an dem Fundort gesammelt, mit; und diese dient nun den Ausschwärmenden als Mittel der »Orientierung«, als »Erkennungszeichen«, durch welches sie zur Ursprungsstelle des Duftes hingeleitet werden. Sucht man diese Art der Zeichengebung und der »Verständigung« durch Zeichen von der »Darstellungsfunktion« der menschlichen Sprache zu unterscheiden, so wird man auf zwei wesentliche Bestimmungen hingeführt. »Konzentrieren wir«, so führt Bühler aus, »unser kri | tisches Denken auf die Zeichenfunktion dieses mitgegebenen Blütenduftes. Er mag, wenn […] die Suchenden ihren Instinkten folgend das Flugfeld abstreichen, ähnlich wirksam sein wie bei uns ein dem Gedächtnis eingeprägtes Erkennungszeichen. Genau gesehen aber fehlen der ganzen Einrichtung zwei Momente, auf denen der unvergleichliche Freiheitsgrad und der so gut wie unbegrenzte Anwendungsbereich der menschensprachlichen Bezeichnungen beruhen. Nämlich erstens 57 Näheres s. bei Stern, Psychologie der frühen Kindheit, S. 301 ff. [Zitate S. 301 f.].
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die Entstofflichung der Zeichen. Denn es ist und bleibt ja der reale Duftstoff der Blüten, welcher die Kommunikation der Bienen bestreitet, während die Kennzeichen im Bereich der menschlichen Namengebung einen Verkehr ohne Stoffproben ermöglichen. […] Erst dann, wenn [die Empfängerin der Stoffprobe] imstande wäre, ihren Gedächtniseindruck anderen [Artg]enossen […] zu vermitteln, ohne wieder etwas von der alten Stoffprobe zu benötigen , erst mit dieser Unabhängigkeit wäre […] die Vergleichsbasis mit der Menschensprache erreicht.« Dazu kommt als weitere Bedingung das Moment der »Ablösbarkeit«. Die »Namen«, deren sich die menschliche Sprache bedient, sind kein Teil der Sache mehr, auf die sie hinweisen: Sie hängen nicht als reale Eigenschaften, als »Akzidenzien« an ihr, sondern gehören einem selbständigen, rein ideellen Gebiet an. Beides zusammengehalten: der Schritt von der Stoffprobe zum echten Zeichen und die prinzipielle Ablösbarkeit des Zeichens von den Dingen, für die es als Zeichen fungiert, macht erst die Besonderheit und den charakteristischen Sinn und Wert der menschlichen Sprache aus.58 Und ebendiese beiden Momente sind es nun auch, auf denen der weitere Fortgang: der Fortgang von den »Wortzeichen« der Sprache zu den reinen »Begriffszeichen« der theoretischen Wissenschaft wesentlich beruht. In dieser letzteren ist vollendet, was in den ersteren begonnen und angelegt war. Denn so klar das Wort sich von den Einzelinhalten der Anschauung scheidet, sosehr es diesen als ein Selbständiges, mit einem bestimmten »logischen« Gehalt Begabtes, gegenübertritt – so hält es sich doch stets, mit klammernden Organen, an der Anschauungswelt als Ganzem fest. Auch dort, wo es als reiner Beziehungsausdruck fungiert, wo es nicht mehr in irgendeinem Sinne als Hinweis auf ein Gegebenes dient, sondern statt dieser deiktischen Leistung eine rein prädikative Leistung erfüllt, tritt diese seine Gebundenheit zutage. Wir haben im Aufbau der Sprache immer wieder verfolgen können, wie die prädikative Funktion aus der deiktischen erwächst und sich nur allmählich und schrittweise aus ihr entfaltet. Alle logische Verhältnisbestimmung entnimmt zum mindesten | die Mittel ihrer sprachlichen Formung der Sphäre der anschaulichen, insbesondere der räumlichen Verhältnisse. Selbst die Kopula des Urteils, selbst das »Ist« des rein prädizierenden Satzes, erschien in dieser Weise mit anschaulichem Gehalt gleichsam gesättigt: Das logische »Sein« und »Sosein« ließ sich nicht anders aussprechen als dadurch, daß es in irgendeine Art des anschaulichen »Daseins« umgesetzt wurde. So wird die Sprache, wie durch einen inneren Zwang, 58
Bühler, Die Krise der Psychologie, S. 51 ff. [Zitat S. 52].
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immer wieder dazu geführt, die Grenze zwischen »Essenz« und »Existenz«, zwischen dem begrifflichen »Wesen« und der anschaulichen »Wirklichkeit« zu verwischen.59 Die Entwicklung bestimmter sprachlicher Suffixe hat uns klar vor Augen geführt, wie der Kern der formalen »Bedeutung« dieser Suffixe allmählich aus einer sinnlichen »Materie« herausgeschält werden muß – wie der Sinn der formalen Beziehung nicht anders als mittels gewisser Stoffworte zu erfassen ist.60 Hier geht die wissenschaftliche Begriffsbildung und die wissenschaftliche »Terminologie« einen Schritt weiter. Der Gebrauch des Zeichens wird in ihr von allen einschränkenden sinnlichen Bedingungen befreit. Der Prozeß der »Entstofflichung« wie der der »Ablösung« schreitet fort: Das Zeichen entreißt sich gleichsam der Sphäre der Dinge, um zum reinen Beziehungs- und Ordnungszeichen zu werden. Jetzt geht es auf kein einzelnes Gebilde mehr, das es unmittelbar »vorstellig« machen, das es in seinem anschaulichen Umriß gleichsam vor das Auge des Geistes hinstellen will. Sein Absehen ist vielmehr auf die Herausstellung eines Allgemeinen, einer Form- und Strukturbestimmung, gerichtet, die am Einzelbeispiel erscheinen, aber sich in ihm niemals erschöpfen kann. Um dieses Allgemeine zu erfassen, dazu genügt es nicht, besondere Inhalte, wie sie sich der unmittelbaren Wahrnehmung oder Anschauung darbieten, aufzugreifen und sie mit einem sprachlichen Merkzeichen, einem »Namen« zu versehen, noch auch, im Sinne der klassifizierenden sprachlichen Begriffsbildung, größere Gruppen von Erscheinungen zu Einheiten zusammenzufassen. Die Zusammenfassung muß vielmehr einem bestimmten systematischen Plane folgen: Sie muß methodisch vom »Einfachen« zum »Komplexen« fortschreiten. Durch diese Forderung sieht sich die »Semantik« der Wissenschaft über das Gebiet der »natürlichen« Sprache hinausgedrängt. Sie kann ihre Bezeichnungen nicht länger diesem Gebiet entnehmen, sondern sie muß dazu übergehen, sie sich, in der von ihr geforderten Vollständigkeit und Eindeutigkeit, selbst zu schaffen. Die »Aktivität« des Zeichens, | die ursprünglich in ihm beschlossen liegt und die bereits dem Wort der Sprache sein eigentümliches geistiges Gepräge gab,61 tritt damit erst in voller Reinheit und in voller Kraft hervor: Der Akt der geistigen Formung greift nicht an irgendeinen beliebigen und zufälligen, von außen gegebenen Stoff an, sondern er gibt sich selbst den Stoff, dessen er 59 Vgl. hierzu Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil (Kap. IV u. V), bes. S. 289 ff. [ECW 11, S. 295 ff.]. 60 Vgl. a. a. O., S. 278 ff. [ECW 11, S. 283 ff.]. 61 Vgl. a. a. O., S. 19 ff. u. ö. [ECW 11, S. 17 ff. u. ö.].
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bedarf und dem er das Siegel seiner eigenen Bestimmung aufdrücken kann. So zeigt sich hier auf der einen Seite klar und scharf die D ifferenz, die zwischen der sprachlichen und der wissenschaftlichen Begriffsbildung besteht – aber andererseits läßt diese Differenz die Kontinuität zwischen beiden bestehen. Denn so weit sich der wissenschaftliche Begriff auch vom sprachlichen entfernt und sich über ihn erhebt, so bedeutet doch der Übergang vom einen zum anderen keine eigentliche µετβασις ες &λλο γ'νος. Ist es doch ebender »Logos«, der in der Sprachbildung selbst von Anfang an wirksam war, der sich, beim Fortgang zur wissenschaftlichen Erkenntnis, aus den einschränkenden Bindungen, die ihm anfänglich anhafteten, befreit – der aus seiner impliziten Gestalt in seine explizite Gestalt übergeht. Anders freilich muß sich dies Verhältnis darstellen, sofern man in der Sprache nicht sowohl ein logisches als vielmehr ein rein ästhetisches Gebilde sieht – sofern man sie aus der Sphäre der reinen »Intuition« nicht nur emporsteigen läßt, sondern sie dieser dauernd und wesentlich verhaftet denkt. Für eine Sprachphilosophie, die in dieser Weise nicht das logische, sondern das ästhetische Moment in den Mittelpunkt rückt, muß der Unterschied zwischen sprachlichem und logischem Denken mehr als ein bloßer Unterschied – muß er als eine wahrhafte Kluft erscheinen. »Es gibt vom sprachlichen zum logischen Denken«, so betont demgemäß Voßler, »keine behaglichen, sanften, unmerklichen Übergänge, ja überhaupt keinen Fortgang, keine aufnoch absteigende Stufenfolge; nur Abkehr. […] Was im logischen Denken lebendig werden soll, muß im sprachlichen absterben und erstarren. Der Gedanke kann nicht anders zum Begriff werden, als indem er aus der Larve seines sprachlichen Vorlebens ausschlüpft und die tote Puppe abwirft. Diese […] Abfälle oder Hülsen sind keine unmittelbar sinnvollen Sprachformen mehr, sondern nur eine Art Spuren oder Fußstapfen, die der Logos bei seinem Absprung hinterlassen hat. Man kann an ihrem formelhaften, blassen und starren Aussehen, an ihrem grammatischen Schematismus nachträglich die Arbeit noch studieren und erkennen, die der logische Gedanke hat leisten müssen, | um sich aus dem sprachlichen zu befreien.«62 Aber so treffend dieses Bild ist, so liegt doch in ihm noch eine andere systematische Folgerung beschlossen als diejenige, die Voßler aus ihm gezogen hat. Denn zugegeben, daß sich beim Fortgang von der Sprache zum logischen Begriff eine echte Transformation vollzieht – ist nicht diese 62 Karl Voßler, Geist und Kultur in der Sprache, Heidelberg 1925 (Kap. 8: Sprache und Wissenschaft), S. 220 ff. [Zitate S. 220 u. 223].
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Transformation selbst noch Evolution? Mag der Logos in der Sprache nur wie im Puppenstand erscheinen – sind nicht trotzdem in ihm bereits die Kräfte wirksam, die ihn dereinst befähigen werden, die Schale, in der er eingeschlossen liegt, zu durchbrechen? Auch Voßler wird, soviel ich sehe, in der Verfolgung seines eigenen Grundgedankens zu einer derartigen Anschauung hingeführt. Denn so scharf er den Gegensatz und die Spannung zwischen Sprache und Wissenschaft betont, so weist er doch andererseits darauf hin, daß, gerade auf der Stufe der größten Entfernung und Entfremdung beider, eine Umkehr einsetzt – daß jetzt ein »spekulative[r] oder reflexive[r] Wendepunkt« eintritt. Indem an diesem Wendepunkt der abstrakte Begriff dialektisch wird, entdeckt damit das logische Denken erst sein eigenes Wesen – und zugleich seine Einheit mit dem sprachlichen. Aber wie könnte das Denken diese Einheit entdecken, wenn sie ihm nicht in irgendeiner Weise, wenngleich latent, »zum Grunde läge«? Voßler selbst spricht hier von einer »Rückkehr des Denkens zu sich selbst, und zwar in der Weise, daß die sprachliche Denkrichtung, die zunächst frei vom Zweifel und äußerlich war […] aus ihrem Traum aufgeschreckt und kritisch erleuchtet wird durch den logischen Begriff. Dieser zerstört und negiert sie also nicht; er hält sie nur auf in ihrem nachtwandlerischen Gang, um sie über den Weg zu orientieren.« 63 Diese Formulierung von Voßlers These brauchen wir, auf Grund des Ergebnisses unserer systematischen Untersuchung, in keiner Weise zu bestreiten. Nur das eine müssen wir ihr gegenüber betonen, daß jener »reflexive Wendepunkt«, von dem Voßler spricht, zwar erst jenseits der Sprache erreicht wird, daß er aber nichtsdestoweniger in ihr selbst, in ihrem Diesseits, bereits erkennbar und in gewissem Sinne vorbereitet und antizipiert ist. Denn das Sprachwort selbst ist niemals als ein bloßes Erzeugnis der Intuition zu denken, sondern schließt einen Akt der »Reflexion« in sich. Das erste Merkmal der Besinnung war, wie Herder betont, »Wort der Seele«, war ein Aufwachen aus dem »schwebenden Traum der Bilder«, der bloß sinnlichen | Erlebnisse.64 Es liegt in der Wesensart des Geistes selbst beschlossen, daß seine »Rückkehr zu sich selbst« nicht in einem einzelnen isolierten Höhepunkt seiner Entwicklung erfolgt, sondern daß sie das Ganze dieser Entwicklung beherrscht und bestimmt. Immer wieder setzt hier, gleichsam in verschiedener Höhenlage, derselbe charakteristische Prozeß ein – und er ist es, der ebensowohl die Trennung A. a. O., S. 227 ff. [Zitate S. 227 u. 229 f.]. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 35, vgl. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 95 [ECW 11, S. 94 f.]. 63 64
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zwischen der Welt der »unmittelbaren« Anschauung und der der sprachlichen Begriffe wie andererseits die Ablösung der logisch-wissenschaftlichen Begriffe von den Sprachbegriffen herbeiführt. Denn der Prozeß der »Merkmalfindung«, der qualifizierenden Begriffsbildung nimmt in der Sprache seinen Ausgang, um freilich erst in der Wissenschaft in feste und systematische Bahnen gelenkt zu werden. Was dort wie von ungefähr begonnen wurde, das wird hier methodisch auf ein bestimmtes Ziel gerichtet. Schon der Sprachbegriff, schon die primäre Funktion der »Benennung«, ist nicht möglich, ohne daß ein »Eines im Vielen« erfaßt und mit dem geistigen Blick fixiert wird. Eine Mannigfaltigkeit wahrgenommener oder angeschauter Inhalte wird unter einen bestimmten »Gesichtspunkt« gerückt und kraft desselben zu einer Einheit zusammengesehen. Jeder einzelne Sprachbegriff stellt auf diese Weise einen bestimmten Mittelpunkt und Brennpunkt fest, in dem die Strahlen aus den verschiedenen Gebieten des anschaulichen Seins sich sammeln und sich gewissermaßen wechselseitig durchdringen. Aber all diese Zentren stehen noch für sich; sie bilden kein einheitliches und homogenes Ganze. Der Sprach- und Denkraum stellt sich zunächst mehr als ein Aggregat denn als ein System dar: Er besteht aus einzelnen Orten und Stellen, die miteinander noch in keiner durchgängigen und stetigen Verknüpfung stehen. In dem Maße, als die Sprache in ihrer Entwicklung fortschreitet, wird freilich dieser Mangel mehr und mehr behoben. Denn der Prozeß des Sprechens besteht nicht lediglich darin, daß fort und fort neue »Namen« geprägt, neue Einzelbedeutungen gewonnen werden, sondern daß diese letzteren untereinander in Beziehung treten und sich gegenseitig bestimmen. Jeder prädikative Satz ist der Ansatz zu einer solchen Bestimmung. In ihm wird das Subjekt auf das Prädikat wie dieses auf jenes bezogen und das eine durch das andere determiniert. Der Einzelbegriff empfängt seinen vollständigen Sinn erst durch diese niemals abbrechende Arbeit der Determination. Die unabsehbar mannigfaltigen Verflechtungen, die er im Ganzen der Rede eingeht, geben ihm erst seinen Gehalt und seine Gestalt. Eben darin liegt freilich, daß diese | Gestalt niemals als schlechthin feste und bleibende, als endgültig fixierte gedacht werden darf. Sie besteht nur, indem sie sich im Fluß der Rede, in ihrem Herüber und Hinüber, in ihrem Hin- und Herwogen herstellt und behauptet. Die Sprache gleitet nicht in einem zuvor bestimmten Strombett ruhig dahin, sondern sie muß sich in jedem Punkte ihr Bett immer wieder neu graben – sie ist das lebendige Strömen selbst, das immer neue, gesteigerte Gestalten aus sich heraustreibt. Hierin liegt ihre eigentliche und ursprüngliche Stärke; aber zugleich liegt hier, vom Standpunkt des Begriffs und
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des begrifflichen Denkens aus, ihr Mangel. Denn der Begriff im strengen Sinne will ebendiesem Wallen und Wogen ein Ziel setzen: Er verlangt Festigkeit und Eindeutigkeit. Alles Unbestimmte und Unscharfe, das die Sprache in ihrem Werden dulden muß, soll in seinem Sein überwunden und getilgt sein. Wenngleich daher auch der Begriff die Darstellung in einem symbolischen »Zeichen« braucht und verlangt, so nimmt er doch nicht mit jedem beliebigen Zeichen vorlieb, sondern stellt ganz bestimmte Forderungen auf, denen die Welt der Zeichen, in die er sich versenkt, zu genügen hat. Die erste dieser Forderungen ist das Postulat der Identität: Für »denselben« Inhalt soll stets »dasselbe« Zeichen gewählt werden. Der »Spielraum« der Bedeutung, der für die Sprache wesentlich ist und der ihr ihre Bewegung erst ermöglicht, der Umstand, daß ein Wort bald in diesem, bald in jenem »Sinne« genommen werden kann, muß jetzt bewußt getilgt werden. Zwischen »Zeichen« und »Bedeutung« wird eine strenge, eindeutige Zuordnung angestrebt. Und in diesem grundlegenden Postulat ist zugleich eine andere Forderung beschlossen. Jeder neue Begriff, der im wissenschaftlichen Denken aufgestellt wird, ist von vornherein auf das Ganze dieses Denkens, auf das Ganze der möglichen Begriffsbildungen bezogen. Was er bedeutet und ist – das hängt von seiner Geltung in diesem Ganzen ab. Alle »Wahrheit«, die ihm zugesprochen werden kann, ist an diese ständige und durchgängige Bewährung gegenüber der Gesamtheit der Denkinhalte und Denksetzungen gebunden. Aus dieser Forderung an den Begriff ergibt sich für die Begriffszeichen die Forderung, daß sie ein in sich geschlossenes System bilden müssen. Es genügt nicht, daß den einzelnen Denkinhalten beliebige einzelne Zeichen zugeordnet werden: Sondern sie alle müssen in einer festen Ordnung stehen, derart, daß der gesamte Inbegriff der Zeichen sich nach einer Regel gliedert. Wie ein Denkinhalt durch den andern bedingt erscheint, wie er in ihm »sich gründet«, so muß auch ein Zeichen im andern gegründet, d. h. nach einem bestimmten Gesetz des Aufbaus | aus ihm ableitbar sein. Diese Forderung ist freilich in voller Strenge nur dort erfüllbar, wo der Begriff selbst allen Anforderungen der »Exaktheit« genügt, wo er einer »Definition« fähig ist, die ihn nach allen Seiten hin umgrenzt und bestimmt. Aber die Tendenz auf eine solche Bestimmung waltet im Begriff auch dort, wo die Natur der Gegenstände, auf die er sich richtet, ihrer vollen Durchführung Schranken setzt. Der Begriff wendet sich auch dort, wo er der konkreten individuellen Anschauung noch ganz nahezustehen, wo er sich ihr hinzugeben und sie auszuschöpfen strebt, niemals an diese Anschauung als einzelne, sondern er sucht sie in das Kontinuum seiner Formen aufzunehmen
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und sie aus diesem Kontinuum zu verstehen. Der besondere Begriff strebt nach der »Gemeinschaft der Begriffe« – das besondere Eidos oder Genos richtet sich, platonisch gesprochen, auf die κοινωνα τ3ν γεν3ν. Dieses Streben kann sich in einer bloßen Mannigfaltigkeit von Zeichen, wie die Worte der Sprache es sind, nicht befriedigen, sondern es verlangt, daß die Zeichen selbst eine bestimmte Struktur besitzen, derzufolge sie nicht nur nebeneinander stehen, sondern auch auseinander sich entfalten und nach einem bestimmten Prinzip übersehbar werden. Soll das Zeichen die neue Aufgabe, die ihm hier gestellt ist, erfüllen, so ist hierfür freilich erforderlich, daß es sich weit schärfer und energischer, als es im Gebiet der Sprache geschah, aus dem Kreise des anschaulichen Daseins löst. Auch das Wort der Sprache mußte sich über diesen Kreis erheben; aber es kehrte doch stets wieder zu ihm zurück. Es entfaltet seine Kraft in der reinen Funktion des »Hinweisens«, aber es bleibt hierbei bestrebt, den Gegenstand, auf welchen sich der Hinweis bezieht, zuletzt in irgendeiner Weise unmittelbar zu vergegenwärtigen. Wir sahen, wie die Sprache in der Bildung ihrer deiktischen Partikeln, die für sie zum Ausgangspunkt bestimmter grammatischer Urformen werden, immer wieder in dieser Weise verfährt. Wo diese Partikeln – die das »Hier« und »Dort«, die die räumliche Nähe und Entfernung vom Redenden, die die Richtung vom Sprechenden zum Angesprochenen oder die entgegengesetzte Richtung bezeichnen – zuerst hervortreten, da haftet ihnen noch eine ganz sinnliche Tönung an. Sie sind aufs engste verschmolzen mit der direkten Geste des Zeigens, durch welche aus dem Kreise des unmittelbar Wahrgenommenen ein einzelner Gegenstand herausgehoben wird. Die erste Bildung der Raumworte der Sprache, die Bildung der demonstrativen Pronomina, des Artikels usf. läßt überall noch diese primäre Einheit von Sprache und Gebärde erkennen. | All diese Worte sind ursprünglich nichts anderes als Lautmetaphern, die ihre Bedeutung erst aus dem Ganzen der anschaulichen Situation empfangen, in welcher sie ausgesprochen werden.65 Und selbst dort, wo die Sprache sich längst von dieser Bindung ans Sinnlich-Gegenwärtige gelöst, wo sie sich zur Beziehung rein intellektueller und »abstrakter« Begriffe erhoben hat, bleibt in ihr dieser Zug zum Bildhaften bestehen. Sie strebt auch hier danach, dem Begriff einen Körper zu geben, ihn in bestimmten leibhaften Zügen zu erfassen. Der Sensualismus pflegt auf diesen »metaphorischen« Charakter alles Sprechens hinzu65 Näheres s. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 130 ff., 137 ff., 149 ff., 162 ff. u. ö. [ECW 11, S. 130 ff., 137 ff., 149 ff., 163 ff. u. ö.].
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weisen, um hieraus die Folgerung zu ziehen, daß auch alles Denken in seiner Wurzel sinnlich bestimmt und sinnlich gebunden sei.66 Aber dieser Schluß wäre, wenn überhaupt, nur dann gültig, wenn die Symbolik, deren sich das Denken bedient und deren es auch als »reines« Denken nicht entraten kann, auf die Sprache allein angewiesen wäre. Die Entwicklung des Denkens aber lehrt vielmehr das Umgekehrte: Sie zeigt, daß der Gedanke nicht nur die Zeichen nutzt, die die Sprache ihm, als fertig geprägte, darbietet, sondern daß er selbst sich, sobald er in eine neue Form eingetreten ist, die ihm gemäße Form der Zeichen erschafft und gibt. Und diese reinen »Begriffszeichen« unterscheiden sich von den Worten der Sprache eben dadurch, daß ihnen keinerlei anschaulicher »Nebensinn« mehr anhaftet – daß sie keine sinnliche Farbe, kein individuelles »Kolorit« mehr an sich tragen. Sie sind aus Mitteln des »Ausdrucks« und aus Mitteln der anschaulichen »Darstellung« zu reinen Bedeutungs trägern geworden. Was in ihnen »gemeint« und intendiert ist, das steht außerhalb des Kreises der wirklichen, ja der möglichen Wahrnehmung. Die Sprache kann diesen Kreis niemals endgültig verlassen und durchbrechen: Denn auch dort, wo sie als Rede, als objektiver »Logos«, auf ein schlechthin Unsinnliches gerichtet ist, kann sie doch dieses Unsinnliche immer nur vom Standpunkt des Redenden bezeichnen. Sie ist niemals Aussage schlechthin, sondern immer lebt in ihr zugleich ein Modus, eine individuelle Form des Sagens, in der das sprechende Subjekt sich selbst ausspricht. Alle lebendige Rede schließt diese Doppelheit, diese Polarität von Subjekt und Objekt, in sich. In ihr wird nicht nur auf bestimmte Sachverhalte hingedeutet, sondern in ihr prägt sich die Stellung des Subjekts zu diesen Sachverhalten aus. In unzähligen feinsten Nuancen, im Wechsel der dynamischen Akzente, im Tempo und Rhythmus, in den Wandlungen und Schwebungen der »Satzmelodie« | gelangt diese innere Anteilnahme des Ich am Inhalt des Gesprochenen zum Ausdruck. Die Rede dieses »Gefühlstons« entkleiden zu wollen, hieße ihren Herzschlag, ihren Puls und Atem vernichten. Aber andererseits gibt es freilich ein Stadium in der Entwicklung des Geistes, in dem ebendieses Opfer von ihm gefordert wird. Er muß zu einer reinen Erfassung der Welt fortschreiten, in der alle Besonderheiten, die sich aus der Rücksicht auf den Erfassenden selbst ergeben, getilgt sind. Sobald diese Forderung einmal gestellt und sobald sie bewußt in ihrer Notwendigkeit anerkannt ist, müssen die Säulen des Herkules, die die Sprache aufgestellt hat, überschritten werden. Und mit diesem Übergang erst erschließt sich das Gebiet der eigentlichen, 66
Vgl. a. a. O., S. 73 ff. [ECW 11, S. 70 ff.].
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der strengen »Wissenschaft«. In ihren symbolischen Zeichen und Begriffen ist alles ausgelöscht, was irgendwie bloßen Ausdruckswert besitzt. Hier soll kein einzelnes Subjekt mehr, sondern hier soll lediglich die Sache selbst »zur Sprache kommen«. Das scheint auf der einen Seite freilich eine ungeheure Verkümmerung zu bedeuten: Denn die Bewegung der Sprache scheint nunmehr angehalten, ihre »innere Form« scheint zur bloßen Formel erstarrt zu sein. Aber was dieser Formel an Lebensnähe und an individueller Fülle mangelt – das ersetzt sie auf der anderen Seite durch ihre Universalität, durch ihre Weite und ihre allgemeine Gültigkeit. In dieser Allgemeinheit sind nicht nur die individuellen, sondern auch die nationalen Unterschiede aufgehoben. Der Pluralbegriff der »Sprachen« besteht nicht länger zu Recht: Er ist verdrängt und ersetzt durch den Gedanken der Characteristica universalis, die als »Lingua universalis« auf den Plan tritt. Und damit erst stehen wir nun auch an der Geburtsstätte der mathematischen und der mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Vom Standpunkt unseres allgemeinen Problems läßt sich sagen, daß diese Erkenntnis genau an dem Punkte einsetzt, an dem der Gedanke die Hülle der Sprache durchbricht – aber nicht, um nunmehr schlechthin hüllenlos, um bar jeglicher symbolischen Einkleidung zu erscheinen, sondern um in eine prinzipiell andere Symbolform einzugehen. Das Wort der Sprache in seiner Variabilität, in seiner Wandelbarkeit und schillernden Vieldeutigkeit, muß nun dem reinen »Zeichen« in seiner Bestimmtheit und seiner Bedeutungskonstanz Platz machen. »Vor den mathematischen und naturwissenschaftlichen Begriffen«, so betont auch Voßler, »gelten alle Sprachen als etwas Äußeres gleich; diese Begriffe sind fähig, sich in jeder Sprache anzusiedeln, da sie nur in der äußeren Sprachform Wohnung nehmen, die innere aber aufzehren und | entleeren. Die mathematischen Begriffe des Kreises, des Dreiecks, der Kugel, der Zahl usw., oder die naturwissenschaftlichen der Kraft, des Stoffes, des Atoms usw. gedeihen zur vollen und strengen Wissenschaftlichkeit gerade dadurch, daß alles Anschauliche, alles Phantastische, alles mythische und sprachliche Denken, das in ihnen etwa noch spuken kann, ausgetilgt wird.«67 Und doch bedeutet diese Austilgung im Leben des Geistes keinen Bruch, sondern gerade in ihr tritt die Einheit des Gesetzes, dem er in seiner Entwicklung folgt, zutage. Denn ebender Prozeß der »Entstofflichung« und der »Ablösung«, der sich in den Anfängen der Sprache als wirksam erwies, kehrt jetzt auf einer neuen Stufe wieder und erfährt nunmehr eine dialektische Zuspitzung, eine Verschärfung und 67
Voßler, Geist und Kultur in der Sprache, S. 225.
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Potenzierung. Zwischen dem wissenschaftlichen Begriff und dem Sprachbegriff scheint freilich ein Abgrund zu klaffen – aber näher betrachtet ist dieser Abgrund die gleiche Kluft, die das Denken schon einmal überspringen mußte, ehe es zum sprachlichen Denken werden konnte. Blicken wir auf jene Beispiele tierischer »Semantik« zurück, von denen früher die Rede war, so zeigte sich als ihre wesentliche Schranke der Umstand, daß sie ganz einem einzelnen Augenblick und einer einzelnen gegenwärtigen Wahrnehmungssituation verhaftet blieben. Diese Gebundenheit an das Hier und Jetzt ist für alle Formen der »Mitteilung« innerhalb des Kreises des tierischen Lebens bezeichnend. Wenn die einzelne Biene von einem Blütenduft, den sie gefunden, den Genossen ihres Stockes Kunde gibt, so erfolgt diese Kundgabe durch das Medium einer reellen, einer stofflichen »Mitteilung«. Der Duft muß von dem Ort, an dem er sich befindet, in das Wahrnehmungsfeld der Genossen, die zum Fluge angeworben werden, versetzt, er muß, im wörtlichen Sinne, dorthin »übertragen« werden, um als Signal und Antrieb für das Ausschwärmen zu dienen. Mögen an diese einfache Form sich allmählich kompliziertere anschließen, mag durch Einschaltung von Mittelgliedern ein »Kontakt höherer Ordnung« hergestellt werden: Immer ist es die sinnlich-anschauliche Anwesenheit des Objekts, die diesen Kontakt erst schließt, die dem Zeichen seine »Verständlichkeit« gibt.68 Erst die menschliche Sprache überwindet diese Bindung an die unmittelbar gegebene und vorhandene sinnliche Situation: Erst sie vermag wahrhaft in die räumliche oder zeitliche Ferne zu greifen. Und dieses Greifen in die Ferne wird ihr zum Anfang alles Begreifens überhaupt.69 Aber der Gedanke gelangt schließlich | an einen Punkt, an dem auch dieses Streben in die Weite des Raumes und der Zeit nicht mehr genügt, sondern an dem von ihm ein Fortschritt und Überschritt von prinzipiell anderer und schwierigerer Art verlangt wird. Jetzt muß er sich nicht nur vom Hier und Jetzt, von dem jeweiligen Ort und jeweiligen Augenblick, losreißen, sondern über das Ganze von Raum und Zeit, über die Grenzen der anschaulichen Darstellung und Darstellbarkeit überhaupt hinausgreifen. Wie vom Mutterboden der Anschauung, so löst er sich nun auch vom Mutterboden der Sprache ab. Und doch könnte ihm ebendiese letzte und höchste Anstrengung nicht gelingen, wenn er nicht zuvor durch die Schule der Sprache hindurchgegangen wäre. In Vgl. hierzu die Ausführungen von Bühler, Die Krise der Psychologie, S. 41 ff. 69 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 126 f. [ECW 11, S. 125–127]. 68
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ihr hat er die Kraft gesammelt und konzentriert, die ihn schließlich über sie selbst hinaushebt. Die Sprache war es, die ihn den Kreis des anschaulichen Daseins durchmessen lehrte; die ihn vom sinnlich Einzelnen zum Ganzen, zur Totalität der Anschauung erhob. Jetzt befriedigt er sich auch in dieser Ganzheit nicht mehr; sondern er stellt über sie hinaus die Forderung der Notwendigkeit und der Allgemeingültigkeit auf. Ihr vermag die Sprache nicht mehr zu genügen: Denn sosehr auch in ihrem Aufbau die ursprünglichen Kräfte der »Vernunft« walten, so stellt doch jede besondere Sprache je eine eigene »subjektive Weltansicht« dar, von der sie sich nicht lösen kann noch will. Vielmehr ist ebendiese Verschiedenheit, diese Differenzierung erst das Medium, in dem sie sich entfalten – ist sie gleichsam die Luft, in der allein sie atmen kann. Gehen wir dagegen von den Worten der Sprache zu den Charakteren der reinen Wissenschaft, insbesondere zu den Symbolen der Logik und der Mathematik fort, so scheint uns hier gewissermaßen ein luftleerer Raum zu umfangen. Aber zugleich zeigt sich, daß hierdurch die Bewegung des Geistes nicht gehemmt und vernichtet ist, sondern daß er sich hier vielmehr erst wahrhaft als das entdeckt, was das Prinzip, was den Anfang der Bewegung in sich selbst hat. Das »Vehikel« der Wortsprache, dem er sich so lange überlassen hatte, trägt ihn nun nicht weiter – aber er selbst fühlt sich stark und kräftig genug, den Flug zu wagen, der ihn zu einem neuen Ziel hintragen soll. Versuchen wir die einzelnen Stadien dieses Weges gesondert zu verfolgen, so müssen wir mit einem Prozeß beginnen, der auf den ersten Blick noch ganz dem Gebiet der Sprachbildung selbst anzugehören scheint oder zum mindesten in ihm tief verwurzelt ist. Alle exakte Begriffsbildung nimmt von dem Bereich der Zahl, von der Bestimmung und Bezeichnung der »natürlichen Zahlenreihe« ihren Ausgang. Die Folge der Zahlzeichen ist das erste Beispiel und der bleibende Prototyp für alle | reinen »Ordnungszeichen«. Aber wenn in dieser Weise die reine Form der Wissenschaft mit der Form der Zahl beginnt – so gehört doch andererseits der Anfang der Zahl selbst einer anderen und weit früheren Schicht als der der strengen wissenschaftlichen Begriffsbildung an. Gibt es doch keine Phase der Sprachbildung, in der nicht schon irgendein Ansatz der Zahlbildung sich aufweisen ließe, in der nicht, wenn auch mit noch so »primitiven« Mitteln, der Unterschied zwischen Einheit und Mehrheit erfaßt und durch bestimmte sprachliche Mittel fixiert wäre. Die Form der Zahl und des Zählens ist daher das eigentliche Bindeglied, an welchem man sich den Zusammenhang zwischen sprachlichem und wissenschaftlichem Denken wie den charakteristischen Gegensatz zwischen beiden
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am deutlichsten vergegenwärtigen kann. Geht man in die ersten Ursprünge des Zählens zurück, so gelangt man in ein Gebiet, in welchem die Sprache noch gar nicht zu ihrer selbständigen Bedeutung, zu ihrer »Autonomie« gelangt zu sein scheint. Lautsprache und Gebärde haben sich hier voneinander noch nicht gesondert, sondern greifen aufs nächste ineinander ein. Der Sinn des Zählakts kann nicht anders als in der Ausführung einer zugehörigen körperlichen Bewegung, einer spezifischen »Zahlgeste« erfaßt werden. Demnach reicht auch der Kreis der Zahlen und des Zählbaren nicht weiter als der Kreis dieser Bewegungen. So erscheint auf dieser Stufe die Zahl weit mehr als ein »Handbegriff« denn als ein »Denkbegriff«. Wir haben an der Gestaltung der Zahlworte in den Sprachen der »Naturvölker« diese Bindung überall aufzeigen können. Es zeigte sich, daß gerade in ihnen der reine objektive »Darstellungssinn« am weitesten zurücktritt: Sie dienen nicht sowohl der Bezeichnung eines »objektiven« Sachverhalts, als sie vielmehr bestimmte Direktiven und sozusagen Imperative für gewisse Bewegungsverläufe sind. Der Name für »fünf« besagt etwa, daß die Hand, an der gezählt wird, geschlossen – der für »sechs«, daß von der einen Hand zur andern »hinübergesprungen« werden soll.70 Weiter als hier scheint die »Bindung ans Subjekt« und die Befangenheit in ihm kaum gehen zu können: muß doch dieses nicht nur als individuelles Ich, sondern geradezu als dieser bestimmte materielle Leib gegenwärtig und sinnlich erfaßbar sein, damit die einzelnen Stufen des Zählakts voneinander unterschieden werden können. Und doch tritt bei schärferer Analyse selbst in dieser primitivsten Art der Zählung ein Motiv heraus, das in eine andere und neue Richtung weist. Denn mögen die anfänglichen Zahlworte in ihrer sprachlichen Ge | staltung auch noch so sinnlich und »stoffhaft« erscheinen, so tut dies doch der Funktion, die sie zu erfüllen haben, keinen Abbruch. Sie lehnen sich aufs engste an Dingworte an: Die Namen für die Hand, für die Finger und Zehen usf. werden zugleich als Eigennamen für bestimmte Zahlen gebraucht. Dennoch ist es nicht die Hand oder der Finger selber, der mit dem Aussprechen des betreffenden Zahlwortes »gemeint« ist und auf den die sprachliche Intention sich richtet. Vielmehr kommt alles darauf an, daß die einzelnen Dingnamen jeweilig in einer bestimmten Folge wiederholt werden, die als solche fest eingeprägt sein muß, so daß die einzelnen Namen stets in derselben Ordnung wiederkehren. Sobald diese Bedingung erfüllt ist, wächst jegliches Element, das dieser Folge angehört, über seine anfängliche Bedeutung 70 Näheres s. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 183 ff. [ECW 11, S. 185 ff.], vgl. bes. Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, S. 155 ff.
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hinaus: Während es zunächst bloßes Dingzeichen war, ist es jetzt zum Stellenzeichen geworden. Wenn die Eingeborenen von Neuguinea beim Zählen erst die Finger der linken Hand, dann die Handwurzel, den Ellbogen, die Schulter, den Nacken, die Brust nennen, so hat doch dies Aussprechen der Namen der einzelnen Körperteile nicht die Absicht, auf sie als sinnliche Gegenstände hinzuweisen, sondern es dient vielmehr der Unterscheidung der einzelnen Stadien des Zählakts selbst. Der Dingname fungiert als »Index« der Zählung: Er zeigt innerhalb der Gesamtreihe einen »früheren« oder »späteren« Schritt an. Der Umfang, in welchem eine derartige Unterscheidung möglich ist, mag hierbei aufs äußerste beschränkt sein, so daß etwa nur das erste und zweite oder allenfalls das dritte und vierte Glied der Reihe mit einem selbständigen Namen belegt wird, während jenseits desselben nur ein vager Ausdruck für »unbestimmt viele« zur Verfügung steht. Aber noch in dieser äußersten Einengung läßt sich ein neuer Ansatz und Einsatz des Gedankens erkennen. Denn das Wort der Sprache ist jetzt zum Ausdruck einer, wenn auch noch so einfachen, geistigen Operation geworden. Noch lehnt es sich ständig und gleichsam ängstlich an die Anschauung einzelner sinnlicher Gegenstände an; aber es erfaßt an ihnen zugleich, obwohl zunächst noch unbestimmt und unsicher, ein Moment ihrer »Form« – ein Moment, das sich nicht auf das einfache »Was« dieser Gegenstände bezieht, sondern auf die Art, in der sie sich in sich selbst ordnen und in der sie sich wechselweise einander zuordnen lassen. Der wissenschaftliche Begriff der Zahl entsteht, indem dieser erste Anfang von allen zufälligen Schranken befreit und ins schlechthin Allgemeine erhoben wird. Er erfordert ein universelles System von Ordnungszeichen, das von einer anfänglichen Setzung aus nach einem be | stimmten, allgemeingültigen Prinzip fortschreitet. Diesem Fortschritt dürfen keine äußeren Grenzen mehr gesetzt sein: Die Menge der »Dinge«, die sich für uns in der sinnlichen Wahrnehmung oder in der anschaulichen Vorstellung unterscheiden lassen, darf nicht mehr der Maßstab für die Bildung der Ordnungszeichen sein. Diese tragen jetzt vielmehr einen rein ideellen Charakter: Sie bezeichnen, um mit Leibniz zu sprechen, Ordnungen des Möglichen, nicht des Wirklichen. Die Betrachtung der Sprache hat uns freilich darüber belehrt, welche Schwierigkeiten dieser »Wendung zur Idee« entgegenstehen – welchen Hemmnissen und welchen ständigen Rückschlägen der Gedanke, auf diesem seinem Wege zu sich selber, ausgesetzt ist. Schritt für Schritt lassen sich hier die Übergänge und Vermittlungen aufweisen. Die Zahl hat zunächst keinen selbständigen, keinen rein »abstrakten« Sinn, sondern sie kann nur am Gezählten erscheinen und ist
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mit allen Besonderungen, allen Partikularitäten desselben behaftet. Sie bezieht sich nicht unterschiedslos auf »Gegenstände überhaupt«, sondern je auf eine einzelne Klasse von Gegenständen, so daß für verschiedene Gegenstandsarten verschiedene Zahlworte gebraucht werden müssen. Personen und Sachen, belebte und unbelebte Dinge, flache oder lange oder runde Objekte erfordern zu ihrer Bezeichnung je eine eigene Gruppe von Zahlworten. Der mathematische Zahlbegriff aber unterscheidet sich eben dadurch vom Zahlwort der Sprache, daß er sich aus allen diesen Verschlingungen und Verstrickungen gelöst hat. Er hat die Heterogenität, die dem Gedanken durch die Mannigfaltigkeit der Objekte aufgedrängt und aufgezwungen zu werden scheint, überwunden und ist zur Homogenität, zum Genus und Eidos »der« Zahl durchgedrungen.71 Die einzelnen Zahlen haben jetzt, abgesehen von ihrem Stellenwert, kein ablösbares Sein, keine »Individualität« im Sinne konkreter Gegebenheit, mehr. Und indem der Gedanke in dieser Weise die reine Form der Zahlbeziehung von allem, was in sie eintreten kann, unterscheidet, so folgt für ihn weiterhin, daß diese Form als solche unbeschränkt anwendbar ist. Es ergibt sich jetzt eine sozusagen qualitative und quantitative Unendlichkeit der Zahl: die letztere, weil die Operation, aus der die einzelne Zahl hervorgeht, immer wieder auf ihr Resultat angewandt werden kann, die erstere, weil das Prinzip, kraft dessen die Ordnung und Reihung erfolgt, von der besonderen Beschaffenheit des Inhalts, an dem die Reihenbeziehung sich darstellt, unabhängig ist. »Es ist ein altes Wort«, so heißt es in einem Leibnizschen | Fragment zur allgemeinen Charakteristik, »daß Gott alles nach Maß, Gewicht und Zahl geschaffen habe. Es gibt jedoch Dinge, die unwägbar sind; nämlich diejenigen, die keine Potenz oder Kraft besitzen; es gibt auch Dinge, die ohne Teile sind und die somit keine Messung zulassen. Dagegen gibt es nichts, was sich der Zahl entzieht. Daher ist die Zahl sozusagen eine metaphysische Figur, und die Arithmetik ist eine Art Statik des Universums, in der die Kräfte der Dinge erforscht werden.«72 Diese ontologische Universalität der Zahl wurzelt darin, daß in ihr ein schlechthin allgemeiner ideeller Maß71 Näheres s. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 188 ff. [ECW 11, S. 190 ff.]. 72 Gottfried Wilhelm Leibniz, Scientia generalis. Characteristica, in: Philosophische Schriften, Bd. VII, S. 1–247: S. 184 [»Vetus verbum est, Deum omnia pondere, mensura, numero fecisse. Sunt autem quae ponderari non possunt, scilicet quae vim ac potentiam nullam habent; sunt etiam quae carent partibus ac proinde mensuram non recipiunt. Sed nihil est quod numerum non patiatur. Itaque numerus quasi figura metaphysica est, et Arithmetica est quaedam Statica Universi, qua rerum potentiae explorantur.«].
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stab der Betrachtung gewonnen ist. Dieser Maßstab ist überall anwendbar, wo irgendeine Mannigfaltigkeit von Inhalten, sie mag im übrigen beschaffen sein, wie sie will, die Bedingung erfüllt, daß sich Elemente in ihr fixieren und daß sie sich nach einem bestimmten Gesichtspunkt gliedern und ordnen lassen. Platon hat in seiner Naturphilosophie den Raum als die Urform alles materiellen Seins bezeichnet, weil er das »Aufnahmeprinzip«, das πC3τον δεκτικ ν für alles Stoffliche bilde – weil alle materiellen Gestaltungen nur besondere Bestimmungen der allgemeinen Raumform seien. In ähnlicher Weise bildet das Reich der Zahlen gleichsam die Aufnahmestätte für alles Begreifen und Erfassen konkreter Ordnungen. An dem universalen Zeichensystem, das er in der Zahl besitzt, gewinnt der Gedanke erst die Möglichkeit, alles Sein, auf das er sich richtet, als ein durchgängig bestimmtes zu erfassen und es unter dem Gesichtspunkt des Allgemeinen und Notwendigen zu begreifen. Es gehört zu den markantesten Zügen im Bilde der modernen Mathematik, daß sie diese logische Universalität des reinen Begriffs der Zahl erkannt und daß sie auf ihr das System der Analysis aufgebaut hat. Auch heute noch gehen freilich die Versuche der Begründung des Zahlbegriffs im einzelnen weit auseinander. Aber deutlich hebt sich in den Arbeiten von Cantor und Dedekind, von Frege und Russell, von Peano und Hilbert die charakteristische methodische Richtung heraus, in welcher diese Begründung zu suchen ist. Während noch vor wenigen Jahrzehnten ein Denker vom Range von Helm holtz eine Ableitung des Zahlbegriffs versuchen konnte, die im wesentlichen in empiristischen Bahnen verlief, so läßt sich heute sagen, daß der eigentliche Empirismus in diesem Gebiet mehr und mehr an Boden verloren hat. Seit Freges klassischer Beweisführung gegen Mills »Arithmetik der Pfeffernüsse und Kieselsteine« scheint hier eine abschließende Klärung erreicht zu sein. Wie Frege die »Anzahl« definiert und ableitet, kann sie nicht mehr als Eigenschaft an | einem »Dinge« überhaupt, geschweige an einem sinnlich wahrnehmbaren Gegenstande, bezeichnet, sondern nur noch als Eigenschaft eines Begriffs bestimmt werden. »Wenn ich sage: ›der Wagen des Kaisers wird von vier Pferden gezogen,‹«, so heißt es in Freges »Grundlagen der Arithmetik«, »so lege ich die Zahl vier dem Begriffe ›Pferd, das den Wagen des Kaisers zieht,‹ bei.«73 Dedekind geht hier einen anderen Weg; aber auch für ihn steht fest, daß der Zahl73 Gottlob Frege, Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl, Breslau 1884, S. VII [»Pfefferkuchen- oder Kieselsteinarithmetik«] u. 59.
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begriff als ein »unmittelbarer Ausfluß der reinen Denkgesetze« anzusehen ist.74 Und Russells gesamte Prinzipienlehre der Mathematik ist auf den Nachweis gerichtet, daß es, um den Sinn des Zahlbegriffs zu bestimmen und sicherzustellen, keiner anderer Voraussetzungen als der rein »logischen Konstanten« bedarf. Selbst der mathematische »Intuitionismus« bildet gegen diese Grundrichtung der Betrachtung keine Gegeninstanz. Denn so scharf er sich, in seiner Auffassung des Verhältnisses von Mathematik und Logik und in der Bestimmung ihres beiderseitigen Rangverhältnisses, von der formalistischen und logizistischen Richtung unterscheidet, so ist doch jene »Urintuition«, aus der er die Zahl hervorgehen läßt, alles andere als eine Anschauung von empirischen Objekten. Auch Brouwer geht in seinem Versuch der Begründung einer rein intuitionistischen Mathematik keineswegs von der Vorstellung von Dingen, sondern von der Setzung einer Grundbeziehung aus, aus welcher er den Begriff der Ordnung und damit den Begriff der Zahl entstehen läßt. »Eine Spezies P«, so definiert er, »heißt virtuell geordnet, wenn für die Elemente einer Teilspezies […] der Elementepaare (a, b) von P eine als ordnende Relation zu bezeichnende asymmetrische Relation definiert ist, welche wir durch ›a < b‹ oder ›a vor b‹ oder ›a links von b‹ oder ›a niedriger als b‹ oder ›b > a‹ oder ›b nach a‹ oder ›b rechts von a‹ oder ›b höher als a‹ ausdrücken, und welche [ganz bestimmte allgemein und exakt zu bezeichnende] ›Ordnungseigenschaften‹ besitzt […]«75 Stellt man dieser Entwicklung des Zahlproblems innerhalb der reinen Mathematik seine Auffassung und Gestalt in der Philosophie und in der Erkenntniskritik gegenüber, so ergibt sich hier freilich ein anderes Bild. Weit schärfer als zuvor treten jetzt die systematischen Gegensätze in der Grundanschauung hervor. Selbst wenn man innerhalb des Kreises der »kritischen« Philosophie stehenbleibt, scheinen diese Gegensätze | unversöhnlich. Nach der systematischen Gliederung der »Kritik der reinen Vernunft« gehört die Lehre von der Zahl weder der transzendentalen Ästhetik noch der transzendentalen Logik an. Sie bildet vielmehr ein Mittel- und Bindeglied, das beide miteinander verknüpft. Kant definiert die Zahl als das reine Schema der Größe als eines Begriffs des Verstandes, weil sie die sukzessive Addition von einem zu einem (Gleichartigen) zusammenbefaßt. So ist sie nichts anderes als die »Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen einer Vgl. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 181 [ECW 11, S. 183]. 75 Luitzen Egbertus Jan Brouwer, Zur Begründung der intuitionistischen Mathematik. II, in: Mathematische Annalen 95 (1926), S. 453–472: S. 453. 74
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gleichartigen Anschauung überhaupt«, dadurch, daß das Bewußtsein die Zeit selbst in der Apprehension der Anschauung erzeugt.76 Die Weiterbildung dieser Grundauffassung konnte in zwei verschiedenen Richtungen erfolgen, je nachdem der Nachdruck auf das Moment des »Verstandes« oder auf das der »Sinnlichkeit«, auf das Motiv der Synthesis oder auf das der Anschauung gelegt wurde. Geschah das erste, so erschien die Zahl nicht nur als ein Gebilde des reinen Denkens, sondern geradezu als dessen Prototyp und Ursprung. Sie entsprang nicht nur aus den reinen Gesetzmäßigkeiten des Denkens, sondern sie bezeichnete den primären Urakt, auf den diese letzten Endes zurückgehen. »Es kann ja«, so betont demgemäß der logische Idealismus, »für das Denken nichts geben, das ursprünglicher wäre als es selbst, das Denken, das heißt das Setzen von Beziehung. Was man auch sonst als Grund der Zahl in Anspruch nehmen möchte, würde eben dies, das Beziehungsetzen, einschließen und kann als Grund der Zahl nur darum erscheinen, weil es den wahren Grund, das Beziehungsetzen, als Voraussetzung enthält.« 77 Zu dieser Auffassung steht die Ansicht, die von Rickert in seiner Schrift »Das Eine, die Einheit und die Eins« entwickelt wird, in schneidendem Gegensatz. Denn nach ihr läßt sich die Zahl nicht nur nicht in Elemente des Logischen auflösen, sondern sie bildet vielmehr das Musterbeispiel des »Alogischen«, an dem sich dessen Wesen für den Erkenntniskritiker am reinsten erfassen und am klarsten aufzeigen läßt. Irgendeinen noch so elementaren arithmetischen Begriff oder eine noch so elementare arithmetische Wahrheit aus rein logischen Prämissen ableiten zu wollen, bleibt daher ein hoffnungsloser Versuch. »Selbst ein Satz wie 1 = 1 setzt bereits ein nur erlebbares oder nur anschaubares, intuitives, von der logischen Form der ›Einheit‹ lediglich umschlossenes und im übrigen alogisches Moment voraus.« 78 Alles Bemühen, von den Voraus | setzungen der reinen Logik aus in das Wesen der Zahl einzudringen, scheint durch diese These an der Wurzel abgeschnitten zu sein. Und doch gewinnt auch hier das Problem ein anderes Ansehen, sobald man Rickerts Theorie nicht lediglich von seiten ihres Ergebnisses, sondern von seiten ihrer methodischen und sachlichen Begründung betrachtet. Denn es zeigt sich alsdann, daß das Moment, in welchem diese Theorie sich scharf von der Grundansicht des »logischen Idealismus« Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 144 [B 182]. Natorp, Die logischen Grundlagen, S. 99. 78 Heinrich Rickert, Das Eine, die Einheit und die Eins. Bemerkungen zur Logik des Zahlbegriffs, 2., umgearb. Aufl., Tübingen 1924 (Heidelberger Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 1), S. 87. 76 77
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scheidet und kraft dessen sie ihr entgegentritt, weit weniger in Rickerts Auffassung der Zahl als in seiner Auffassung vom Wesen des »Logos« liegt. Was die Zahl angeht, so lehnt auch Rickert jeden Versuch einer »empiristischen« Begründung, jede Ableitung ihres Sinnes und Gehalts aus den »Dingen« der empirischen Wirklichkeit, mit voller Klarheit und Entschiedenheit ab. Ihre Unabhängigkeit von der Erfahrung, ihre »Apriorität« und »Idealität«, bleibt unangetastet. Wenn er sie trotzdem als ein »alogisches« Gebilde bezeichnet, so besagt dies in seiner Sprache nichts anderes, als daß der Gegenstand »Zahl« gegenüber dem logischen Gegenstand, der durch »Einheit« und »Andersheit«, durch »Identität« und »Verschiedenheit« konstituiert wird, einen Inhalt sui generis darstellt. Identität und Unterschied bilden das logische Minimum, ohne welches sich keine Art von Gegenständlichkeit denken läßt; aber dieses Minimum reicht nicht aus, um den Begriff der numerischen »Eins«, um den Begriff der »Quantität« und den der Zahlenreihe, als einer geordneten Folge von Elementen, aufzubauen. »In weiterem Sinne ›logisch‹«, so betont Rickert, »sind gewiß auch die Erkenntnisse der Mathematik, wie alle rein theoretischen Erkenntnisse überhaupt. Aber es muß doch etwas Besonderes geben, das in ihnen zum reinen Logos hinzutritt und daraus den spezifisch mathematischen Logos macht. Oder fällt etwa die mathematische Ratio […] mit der rein logischen Ratio zusammen? Ist das Verfahren der Mathematiker nicht vielmehr nur in einem ganz besonderen Sinne ›rational‹?« 79 So gefaßt besteht das Problem, das Rickert sich stellt, zweifellos zu Recht – nur daß es freilich kein eindeutiger und adäquater Ausdruck dieses Problems ist, wenn die Zahl darum, weil sie im Logischen nicht aufgeht, als ein »Alogisches« bezeichnet wird. Denn dieser Ausdruck erweckt immer wieder den Anschein, als sei im Wesen der Zahl nicht nur etwas anderes, über die rein logische Identität und Verschiedenheit Hinausgehendes gesetzt, sondern als sei dieses andere auch in irgendeiner Weise »denkfremd«, als sei es dem Logischen entgegengesetzt. Die bloße Besonderung schließt aber einen solchen Gegen | satz in keiner Weise in sich; die spezifische Differenz fällt nicht aus der Gattung heraus, noch hebt sie diese auf, sondern sie enthält vielmehr eine nähere Bestimmung der Gattung selbst. Auch der logische Idealismus ist weit entfernt davon, eine einfache Koinzidenz der Zahl mit dem »Logischen« zu behaupten: Er sieht vielmehr nur die Zahl als eine Determination ebendieses Logischen an.80 A. a. O., S. 4. Hier muß allerdings zugestanden werden, daß bei Natorp, gegen den sich Rickerts Beweisführung in der Neubearbeitung seines »Logos«-Aufsatzes 79 80
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Faßt man das Logische im Sinne Rickerts, sieht man also Identität und Verschiedenheit als die einzigen im strengen Sinne »logischen« Kategorien an, so kann kein Zweifel sein, daß diese Kategorien für sich allein unzureichend sind, das Reich der Zahl und des Mathematischen überhaupt aus sich hervorgehen zu lassen. Rickerts Beweisführung hätte sich, soweit sie lediglich diesen Satz erhärten soll, noch wesentlich vereinfachen und verschärfen lassen, wenn er sich der Hilfsmittel bedient hätte, die der moderne Logikkalkül, insbesondere der Relationskalkül, hierfür an die Hand gibt. Denn Identität und Verschiedenheit sind, in der Sprache dieses Kalküls ausgedrückt, symmetrische Relationen, während zum Aufbau des Zahlenreichs wie für den Begriff einer geordneten Folge überhaupt eine asymmetrische Relation unerläßlich ist.81 Versteht man dagegen den | Begriff der hauptsächlich richtet, beide Gesichtspunkte nicht scharf getrennt sind. Wenn Natorp versucht, den Begriff der Zahl schon aus der »Synthesis des Mannigfaltigen« schlechthin abzuleiten, d. h. zu zeigen, wie das bloße Enthaltensein verschiedener »Arten« in einer »Gattung« bereits ein numerischer Unterschied sei, so scheinen mir die Einwände, die Rickert gegen diesen Versuch erhebt, völlig stichhaltig zu sein (vgl. bes. Das Eine, die Einheit und die Eins, S. 27 ff.). Der »numerische« Unterschied besagt ohne Zweifel mehr, und er besagt etwas anderes als der »generische« Unterschied. Aber andererseits kann aus der Nichtkoinzidenz von »Quantität« und »Begriff« nicht gefolgert werden, daß die Quantität in den Begriff ein ihm selbst fremdes, ein »alogisches« Element hineinbringe. Es ist vielmehr derselbe Grundakt des »beziehentlichen Setzens« – des Setzens, das zugleich ein Unterscheiden ist –, auf dem die Synthesis des Begriffs wie die der Zahl beruht, nur daß dieser logische Akt sich in der Zahl anders als im Begriff »spezifiziert«, d. h. unter einen anderen determinierenden »Gesichtspunkt« – den Gesichtspunkt der Reihe und der Reihenordnung – rückt (zur näheren Begründung s. die folgenden Ausführungen im Text). 81 Daß der Begriff einer »Ordnung zwischen Elementen« sich analytisch auf das Bestehen einer asymmetrischen transitiven Relation zwischen ihnen zurückführen läßt und daß er notwendig eine Relation von dieser Form voraussetzt, hat insbesondere Russell gezeigt; vgl. bes. Kap. 24 und 25 der »Principles of Mathematics« und »Introduction to Mathematical Philosophy« (Kap. 4). – Auch Aloys Müller geht in seiner Schrift »Der Gegenstand der Mathematik mit besonderer Beziehung auf die Relativitätstheorie«, Braunschweig 1922, von Rickerts Terminologie und Rickerts Grundvoraussetzung aus: daß nämlich mit Identität und Verschiedenheit »die Charakteristik des | spezifisch Logischen, des ›logischen Urphänomens‹, vollendet« sei (S. 31). Es ist unter dieser Voraussetzung nur konsequent, wenn er zu der Folgerung kommt, daß es in der logischen Sphäre keine »Reihe« gebe noch geben könne, so daß sie des wichtigsten und schlechthin unerläßlichen Moments für den Aufbau der Zahl ermangele (a. a. O., S. 34). Nicht diese Folgerung als solche, sondern die Prämisse, aus der sie fließt, wird von der Erkenntniskritik des »logischen Idealismus« bestritten: Sein Begriff von »Logik« ist ein anderer und wesentlich reicherer, als er es bei Rickert und Aloys Müller ist. Es könnte freilich scheinen, als sei mit dieser Einsicht die gesamte Streit-
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»logischen Form« in seiner vollen Allgemeinheit, nimmt man ihn als Ausdruck der »Beziehbarkeit schlechthin«, dem alle Einzelarten der Beziehung – die »transitiven« wie die »intransitiven«, die symmetrischen wie die nichtsymmetrischen und asymmetrischen – als Sonderfälle sich eingliedern, so kann der Zahl die Einfügung in dieses universelle System nicht bestritten werden. Sowenig sie es er | schöpft, sowenig fällt sie andererseits aus ihm heraus – vielmehr bildet sie in ihm einen Grund- und Eckstein, den man aus dem Gesamtgebäude nicht herauslösen kann, ohne seine Festigkeit und Sicherheit zu gefährden. Denn eben weil die Zahl das Schema der Ordnung und Reihung überhaupt darstellt, sieht sich das Denken immer wieder auf sie frage auf einen bloß terminologischen Unterschied zurückgeführt und damit sachlich unfruchtbar geworden: Denn muß es nicht jedem Denker freistehen, in welchem Sinne er den Terminus des »Logischen« verwenden will? In der Tat soll dieses Recht nicht angefochten werden: Nur das eine wäre zu bedenken, daß, wenn man Rickerts Terminologie annimmt, die Logik selbst – in ihrer »klassischen« Form wie in ihrer modernen Gestaltung, die sie durch Peirce und Boole, durch Frege und Peano, durch Schröder und Russell erhalten hat – nicht mehr als die Lehre vom »logischen Gegenstand« bezeichnet werden dürfte. Denn historisch betrachtet hat es niemals eine Wissenschaft der Logik gegeben, die sich auf das, was Rickert den »rein logischen Gegenstand« nennt [vgl. Das Eine, die Einheit und die Eins, S. 8], beschränkt hätte. Eine solche Beschränkung findet sich allenfalls im Anfang der Logik, bei Parmenides, vor, für den sich in der Tat das Gesamtproblem der Logik in Identität und Verschiedenheit, in »Sein« und »Nichtsein« erschöpft. Aber schon Platons »Sophistes« greift weit über dieses »Urphänomen« des einen und andern hinaus. Denn hier ist es der Gedanke der Ideen-»Gemeinschaft«, der κοινωνα τ3ν γεν3ν, der im Mittelpunkt steht und der erst eine Wissenschaft der Logik ermöglicht. Diese Gemeinschaft stützt sich auf das Verhältnis der systematischen Abhängigkeit der Begriffe und Urteile voneinander, auf die Beziehung von »Grund« und »Folge«, die zwischen ihnen besteht. Dieses logische »Folgen« aber läßt sich aus der bloßen Identität und Verschiedenheit ebensowenig ableiten, als dies für das »Folgen« in der Zahlenreihe möglich ist. Wie das Zahlverhältnis, so ist schon das Grundverhältnis der »Implikation« der bloßen Einheit und Andersheit gegenüber etwas Neues und Eigenes. Noch deutlicher tritt der Abstand zutage, wenn man von jener neuen Form der »Logik«, die geschichtlich auf Leibniz zurückgeht, seinen Ausgang nimmt. Denn diese will das Ganze der »reinen Formen«, der apriorisch gültigen Verknüpfungen überhaupt, erfassen und für jede von ihnen die spezifischen Gesetze, denen sie gehorchen, aufstellen und durch einen symbolischen Kalkül sicherstellen. Daß hierfür jenes logische Minimum, als welches Rickert den »rein logischen Gegenstand« bestimmt, niemals ausreichen kann, daß und wie weit es überschritten werden muß – davon kann man sich einen lebendigen Eindruck verschaffen, wenn man die konkrete moderne Gestalt dieser »Logik« betrachtet, wie sie z. B. in Russells und Whiteheads systematischer Zusammenfassung sich darstellt.
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zurückgewiesen, sobald es den Inhalt des Seins als geordneten zu erfassen sucht. Hier besitzt es das grundlegende Mittel seiner »Orientierung«; die ideelle Achse gleichsam, um welche es die Welt dreht. Wo immer ihm eine Mannigfaltigkeit »gegebener« Inhalte gegenübertritt, da versucht das Denken an ihnen diese Umwendung in seine eigene ideale Norm. Im ersten Enthusiasmus der philosophischen und wissenschaftlichen Entdeckung der Zahl sprechen die Pythagoreer dieses Grundverhältnis in der Art aus, daß die Zahl das Sein ist. Denn alles Sein ist nicht anders als in der Form der Bestimmtheit, der »Wohlordnung« zu denken: Bestimmtheit und Wohlordnung aber gibt es nur dort, wo die Zahl die Herrschaft führt. Aber neben der Grundformel, die die metaphysische Identität von Sein und Zahl ausspricht, findet sich schon bei den Pythagoreern eine andere, methodisch schärfere und vorsichtigere. In ihr wird die Zahl nicht mehr als das Sein schlechthin, sondern als die »Wahrheit des Seins« bezeichnet. Die Natur der Wahrheit und die der Zahl sind einander wesensverwandt: Die eine läßt sich nur an der anderen und aus ihr erkennen. Die weitere Entwicklung der theoretischen Erkenntnis zeigt freilich, daß die logische Form als solche sich auf das Gebiet der Zahl und des Zählbaren nicht einschränkt. Das Reich dieser Form erstreckt sich vielmehr so weit, als das Gebiet und das Gesetz der notwendigen Verknüpfung reicht. Das Zahlenreich liefert den deutlichsten Beleg für eine Mannigfaltigkeit, die sich streng gesetzlich aufbaut, die aus einer Grund- und Ursetzung und aus einem Prinzip, das den Fortschritt von ihr zu einer zweiten, von dieser zu einer dritten usf. regelt, in eindeutiger Weise und in systematischer Vollständigkeit hervorgeht. Wo immer fortan dem Gedanken ein Aufbau von gleichem begrifflichem Typus entgegentritt – da besitzt er an ihm ein Analogon der Zahl. Leibniz geht in seinen frühesten philosophischen Grundkonzeptionen von dem Entwurf einer universellen Arithmetik aus; aber er erweitert ihn alsbald zum Entwurf einer allgemeinen Kombinatorik. Diese braucht sich nicht auf Zahlen als solche, sie kann sich ebensowohl auf Gebilde ganz anderer Art, z. B. auf Punkte, erstrecken – wofür Leibniz in der Gestaltung seiner Analysis situs, die ein reiner Punktkalkül ist, ein Beispiel gegeben hat. Immer | und überall, wo eine ursprüngliche erzeugende Relation besteht und wo sie so geartet ist, daß sie das Ganze eines Gebiets vollständig bestimmt, ist die wesentliche Voraussetzung für die Herrschaft der logischen Form gegeben. Die Bedingung für diese Herrschaft ist, daß durch wiederholte Anwendung der Grundrelation jedes Element der Mannigfaltigkeit in einer geregelten Folge von Denkschritten erreicht und vermöge dieser Folge »definiert« werden kann. Die Form, in diesem
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ihrem allgemeinsten Sinne genommen, geht also niemals in der Setzung des »einen« und »andern« und in der Unterscheidung beider auf, sondern sie fordert die Bestimmbarkeit des einen durch das andere. Wo immer diese Bestimmbarkeit nicht nur empirisch »gegeben« ist, sondern wo sie aus einem notwendigen, für alle Elemente gültigen Gesetz »sich ergibt«, da ist ein streng deduktiver Fortgang von Glied zu Glied und eine Synopsis über die Allheit der Glieder in einem einzigen synthetischen Überblick möglich – und diese spezifische Art des Blicks, nicht aber irgendeine besondere Inhaltlichkeit, die sich in einem einzelnen Moment und Merkmal ausdrücken ließe, ist es, was den Gegenstand als logisch-mathematischen Gegenstand bestimmt. Schritt für Schritt hat sich die moderne Logik und die moderne Mathematik der Erfüllung dieses Ideals genähert – aber die Aufstellung des Ideals war, lange vor dieser seiner konkreten Erfüllung, durch die systematische Philosophie geleistet worden. In überraschender Weite und Allgemeinheit und in einer geradezu prophetischen Klarheit ist die Grundkonzeption schon bei Descartes ausgesprochen.82 »Larvatae nunc scientiae sunt«, so lautet ein Tagebuchblatt des 22jährigen Descartes, »quae, larvis sublatis, pulcherrimae apparerent: catenam scientiarum pervidenti non difficilius videbitur eas animo retinere quam seriem numerorum.« 83 Die Wissenschaften, die bisher ein Nebeneinander, ein Aggregat bildeten, sollen zu einer »Kette« zusammengeschlossen werden, in der jedes einzelne Glied in das andere übergreift und durch eine strenge Regel mit ihm verbunden ist. Aus ebendiesem Begriff der »Kette« heraus, der bei Descartes den Keim zu einer neuen Form der Wissenschaftslehre überhaupt in sich schließt, hat noch Dedekind seine neue prinzipielle Grundlegung der Arithmetik vollzogen. Bei Descartes aber geht der Gedanke zunächst in der Richtung weiter, daß von dem festen methodischen Gesichtspunkt aus, der hier gewonnen ist, eine andere und tiefere Einsicht in den Gegenstand der exakten Wissenschaft erwächst. Arithmetik und | Geometrie, Statik und Mechanik, Astronomie und Musik scheinen es mit sehr verschiedenen Objekten zu tun zu haben: Und doch sind sie alle, näher betrachtet, nur Momente, nur verschiedenartige Auswirkungen und Ausprägungen ein und derselben Erkenntnisform. Diese Erkenntnisform ist es, von der die allgemeine Wissenschaftslehre, die Zum Folgenden vgl. meine Schrift über das Erkenntnisproblem, Bd. I, S. 445 ff. [ECW 2, S. 370 ff.]. 83 René Descartes, Cogitationes privatae, in: Œuvres inédites, hrsg. v. Louis Alexandre Foucher de Careil, Paris 1859, S. 1–57: S. 4. 82
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Mathesis universalis, handelt. Sie bezieht sich nicht auf die Zahl, auf die räumliche Form, auf die Bewegung als solche, sondern sie erstreckt sich auf alles, was sich nach »Ordnung und Maß« bestimmt. Und in dieser Bestimmung erscheint, schon bei Descartes, der Ordnungsbegriff als das allgemeinere, der Maßbegriff als das speziellere Motiv. Alle Messung, die wir in einer Mannigfaltigkeit vornehmen, ist zuletzt in einer bestimmten Ordnungsfunktion gegründet – aber nicht alles Geordnete ist, ohne die Hinzunahme besonderer Voraussetzungen, meßbar. Die eigentlich entscheidende Charakteristik des »Gegenstands« der Mathematik drängt sich daher mehr und mehr in den einen Grundbegriff der Ordnung zusammen. Bei Leibniz ist dieser gedankliche Prozeß vollendet – und es ist zugleich in voller Schärfe die weitere Forderung gestellt, daß der Ordnung des Gedachten eine genau bestimmte Ordnung von Zeichen entsprechen muß. Nur kraft dieser letzteren erringt sich der Gedanke den wahrhaften systematischen Überblick über das Ganze seiner ideellen Gegenstände. Jede einzelne Denkoperation muß durch eine analoge Operation in den Zeichen ausdrückbar und durch die allgemeinen Regeln, die für die Verknüpfung der Zeichen festgestellt sind, nachprüfbar sein. Mit diesem Postulat ist der Standpunkt der modernen »Mathesis universalis« erreicht. In dieser ist, sosehr sie eine durchgehende »Formalisierung« des gesamten mathematischen Gedankenprozesses verlangt, die »Beziehung auf den Gegenstand« keineswegs aufgegeben: Aber die Gegenstände selbst sind keine konkreten »Dinge« mehr, sondern sie sind reine Relationsformen. Nicht das »Was« des Verknüpften, sondern das »Wie« der Verknüpfung entscheidet darüber, ob eine bestimmte Mannigfaltigkeit dem Kreis der »mathematischen Gegenstände« angehört. »Wenn wir eine gewisse Klasse von Relationen haben«, so faßt ein moderner Mathematiker diese Grundanschauung zusammen, »und wenn die einzige Frage, die wir stellen, die ist, ob gewisse geordnete Gruppen von Objekten diese Relationen erfüllen oder nicht: dann werden die Ergebnisse dieser Forschungen ›mathematisch‹ genannt.«84 In dieser Fassung des | Begriffs des Mathematischen ist dasselbe über sein anfängliches 84 Maxime Bôcher, The Fundamental Conceptions and Methods of Mathematics, in: Bulletin of the American Mathematical Society. A Historical and Critical Review of Mathematical Science 11 (1905), S. 115–135: S. 127 [»If we have […] a certain class of relations, and if the only questions which we investigate are whether ordered groups of these objects do or do not satisfy the relations, the results of the investigation are called mathematics.«]; vgl. hiermit insbesondere Gregor Itelsons Definition der Mathematik als der »Wissenschaft von den geordneten Gegenständen« | (s. Louis Couturat, IIme congrès de philosophie. – Genève. Comptes rendus critiques. II: Logique et philosophie des sciences.
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»klassisches« Gebiet, über das Gebiet der »Quantität« und der »Größe« hinaus, prinzipiell erweitert. Als »scientia de qualitate in genere« wird die Kombinatorik schon bei Leibniz definiert 85 – wobei er die Qualität im allgemeinsten Sinne mit der »Form« gleichsetzt. Tatsächlich weist denn auch die moderne Mathematik eine ganze Reihe von Disziplinen auf, bei denen von einer Betrachtung oder Vergleichung extensiver »Größen« nicht mehr die Rede sein kann. In der Geometrie steht neben der »metrischen« Geometrie die projektive, als ein selbständiges und autonomes Gebilde, das zu seinem Aufbau in keiner Weise der speziellen Größenrelation, des Gesichtspunkts des Größer- oder Kleiner-Seins, bedarf. Das gleiche gilt von der Analysis situs und von jener geometrischen Charakteristik, wie sie durch Leibniz begründet und in unmittelbarer Weiterführung seiner Grundgedanken von Hermann Graßmann ausgebaut worden ist. Selbst im Gebiet der Arithmetik erweist sich jetzt die Bestimmung durch den Größenbegriff als zu eng. Die Theorie der Substitutionen tritt nicht nur den Theorien der Zahl, wie sie die elementare Arithmetik entwickelt, zur Seite, sondern es ergibt sich, daß die Grundlehren dieser letzteren sich in voller Strenge erst aus der Substitutionstheorie ableiten lassen.86 Und von hier führt sodann der Weg zu jenem Begriff weiter, von dem man gesagt hat, daß er vielleicht der für die Mathematik des neunzehnten Jahrhunderts am meisten charakteristische Begriff sei.87 Denn aus den Untersuchungen über Gruppen von Buchstabenvertauschungen entwickelt sich der allgemeine Begriff einer GrupSéances de section et séances générales, in: Revue de métaphysique et de morale 12 (1904), S. 1037–1077: S. 1040 [»la science des objets ordonnés«]). – Näheres s. bei Aurel Voss, Über das Wesen der Mathematik. Rede, gehalten am 11. März 1908 in der öffentl. Sitzung der K. Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 3., erw., mit Anm. vers., verb. u. anastatisch gedruckte Aufl., Leipzig/Berlin 1922, S. 26 f. 85 [S. Leibniz, Scientia generalis. Characteristica, S. 50: »De Combinatoria speciali, seu scientia formarum, sive qualitatum in genere sive de simili et dissimili.«] 86 Vgl. hierzu die Darstellung der Arithmetik durch Otto Stolz (Vorlesungen über allgemeine Arithmetik. Nach den neueren Ansichten, 1. Theil: Allgemeines und Arithmetik der reellen Zahlen, Leipzig 1885) und Alfredo Capelli (Sulla genesi combinatoria dell’aritmetica, in: Giornale di matematiche di Battaglini per il progresso degli studi nelle università italiane 39 [1901], S. 81–102); Näheres s. z. B. bei Otto Hölder, Die mathematische Methode. Logisch erkenntnistheoretische Untersuchungen im Gebiete der Mathematik, Mechanik und Physik, Berlin 1924, S. 173 ff. 87 Vgl. hierzu Hermann Weyl, Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft (Handbuch der Philosophie, bearb. v. Alfred Baeumler u. a., hrsg. v. Alfred Baeumler u. Manfred Schröter, Abt. II: Natur / Geist / Gott, Abh. A), München/ Berlin 1927, S. 23.
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pe von Operationen und damit die neue Disziplin der Gruppentheorie. Mit dieser Disziplin wird nicht nur dem bisherigen System der Mathematik ein wichtiges Gebiet »adjungiert«, sondern es zeigt sich in ihrem weiteren Ausbau immer deutlicher, daß hier ein neues, weit ausgreifendes Motiv des mathematischen Denkens gefunden ist. Felix Kleins berühmtes »Erlanger Programm« zeigt, wie die »innere Form« der Geometrie unter der Einwirkung dieses Motivs sich wandelt. Die Geometrie ordnet sich hier als Spezialfall der Invariantentheorie unter. Was die verschiedenen Geometrien miteinander verknüpft, ist der Umstand, daß jede | von ihnen gewisse Grundeigenschaften räumlicher Gebilde betrachtet, die sich in bezug auf bestimmte Transformationen als invariant erweisen; was sie voneinander unterscheidet, ist die Tatsache, daß es je eine besondere Transformationsgruppe ist, durch welche jede dieser Geometrien charakterisiert wird.88 Daß die Gruppentheorie in dieser Weise in die Gesamtauffassung der Geometrie und weiterhin in die Gestaltung anderer grundlegender mathematischer Disziplinen eingegriffen hat – man braucht nur an die Bedeutung zu erinnern, die die Lie sche Theorie der Transformationsgruppen für die Theorie der Differentialgleichungen gewonnen hat –: dies legt schon an sich die Vermutung nahe, daß ihr auch im allgemein erkenntniskritischen Sinne eine Sonderstellung zuzuweisen ist. In der Tat zeigt sich denn auch, daß zwischen dem Grundbegriff der Zahl und dem der Gruppe ein innerer methodischer Zusammenhang besteht. Erkenntniskritisch gesehen nimmt der letztere gewissermaßen auf einer höheren Stufe der Betrachtung das gleiche Problem wieder auf, von dem der Zahlbegriff seinen Ausgang nahm. Die Schöpfung der natürlichen Zahlenreihe begann damit, ein erstes »Element« zu fixieren und eine Regel anzugeben, durch deren wiederholte Anwendung immer neue Elemente erzeugbar wurden. Sie alle wurden dadurch zu einem einheitlichen Ganzen zusammengeschlossen, daß jede Verknüpfung, die wir mit Elementen der Zahlenreihe vollziehen, selbst wieder eine neue »Zahl« definiert. Wenn wir die »Summe« zweier Zahlen a und b oder ihre »Differenz«, ihr »Produkt« usf. bilden, so fallen die Werte a + b, a – b, a · b nicht aus der Grundreihe heraus, sondern gehören ihr selbst als bestimmte Stellen an oder lassen sich doch mittelbar nach festen Regeln auf die Stellen der Grundreihe beziehen. So weit wir daher, in immer erneuten Synthesen, auch fortschreiten mögen, so sind wir doch sicher, daß der logische Rahmen, in dem sich unsere Betrachtung bewegt, wie sehr er sich auch erweitern mag, niemals völlig gesprengt werden wird. Der 88
Vgl. Klein, Vergleichende Betrachtungen (s. oben, S. 178).
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Gedanke des in sich einheitlichen »Zahlenreichs« besagt ebendies, daß die Verbindung noch so vieler arithmetischer Operationen letzthin wieder auf arithmetische Elemente zurückführt. In der Gruppentheorie ist es derselbe Gesichtspunkt, der nunmehr zu strenger und wahrhafter Allgemeinheit erhoben wird. Denn in ihr ist sozusagen der Dualismus von »Element« und »Operation« aufgehoben: Die Operation selbst ist zum Element geworden. Eine Gesamtheit von Operationen bildet eine Gruppe, wenn je zwei Umformungen, die wir | sukzessiv vornehmen, auf ein bestimmtes Ergebnis hinführen, das auch durch eine einzige, der Gesamtheit angehörige Operation erreichbar ist. Die »Gruppe« ist demnach nichts anderes als der exakte Ausdruck dafür, was unter einem »geschlossenen« Operationsbereich, unter einem Operationssystem zu verstehen ist. Die Theorie der Transformationsgruppen – sei es, daß wir sie auf endliche diskrete Gruppen oder auf kontinuierliche Transformationsgruppen bezogen denken – läßt sich somit, logisch betrachtet, als eine neue »Dimension« der Arithmetik bezeichnen: Sie ist eine Arithmetik, die sich nicht mehr auf Zahlen, sondern auf »Formen«, auf Relationen und Operationen, bezieht. Und auch hier zeigt sich, daß das tiefere Eindringen in die Welt der Formen und ihre innere Gesetzlichkeit stets zugleich einen neuen Schritt in der Richtung aufs »Reale«, in dem Fortgang unserer Wirklichkeitserkenntnis bedeutet. Leibniz’ Wort: »le reel ne laisse pas de se gouverner […] par l’ideal et l’abstrait« bewährt sich auch an diesem Punkte.89 Wie Kepler von der Zahl gesagt hat, daß sie das »Auge des Geistes« sei, durch welches uns die Wirklichkeit erst sichtbar werde, so gilt auch von der Gruppentheorie, die man als das glänzendste Beispiel rein intellektueller Mathematik bezeichnet hat,90 daß durch sie bestimmte physikalische Zusammenhänge erst vollständig deutbar geworden sind. Durch den Begriff der Gruppe ist es Minkowski gelungen, die Problematik der speziellen Relativitätstheorie auf eine rein mathematische Form zu bringen und sie damit von einer ganz neuen Seite her zu erhellen. Auch weiterhin ist es die gruppentheoretische Auffassung der »Raummetrik« gewesen, die in der Erörterung der Grundfragen der neueren Physik zu wichtigen Aufschlüssen geführt hat, indem sie bestimmte Erkenntnisse, die hier gewonnen waren, ihres bloß »zufälligen« Charakters entkleidete und sie unter einem allgemeinen systematischen Gesichtspunkt zu behandeln erlaubte.91 [S. oben, S. 50 Anm. 1.] Vgl. Weyl, Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft, S. 23. 91 Näheres hierüber s. ders., Raum – Zeit – Materie. Vorlesungen über allgemeine Relativitätstheorie (§ 18), 4., erw. Aufl., Berlin 1921, S. 124 ff. 89 90
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Suchen wir, auf Grund dieser allgemeinen theoretischen Erwägungen, die Stellung der Zahl im Gesamtsystem der Mathematik noch einmal zusammenfassend zu bestimmen, so zeigt es sich, daß es für diese Bestimmung notwendig ist, zwei Momente, die sich in der geschichtlichen Entwicklung des Problems einander oft gekreuzt und die sich vielfältig ineinander verschlungen haben, klar voneinander zu sondern. Schon in der Pythagoreischen Lehre findet sich im Ausdruck des Grundgedankens ein eigentümliches Schwanken. Der Grund- und Hauptformel, nach welcher alles Seiende seinem Wesen nach Zahl ist, stehen andere Formeln | zur Seite, nach denen jegliches Sein die Zahl »nachahmt« und kraft dieser Nachahmung an ihr teilhat. In den Fragmenten des Philolaos wird nicht nur gesagt, daß die Dinge Zahlen sind, sondern daß alles Erkennbare, wie immer es übrigens beschaffen sei, seine Zahl hat. 92 Dieses »Haben« der Zahl erscheint auf den ersten Blick als ein schwer zu fassendes, als ein seltsam zwiespältiges Verhältnis. Denn es schließt Einheit und Andersheit, Identität und Verschiedenheit in sich – es hält »Sein« und »Zahl« auseinander, um sie doch gleichzeitig aneinander zu messen und sie miteinander unlöslich zu verknüpfen. Immer wieder droht aus dieser ursprünglichen Spannung der Motive ein dialektischer Widerstreit aufzubrechen. Erst die moderne Mathematik hat die Mittel geschaffen, um die Spannung aufrechtzuerhalten und um ihrer gleichzeitig gedanklich Herr zu werden. Sie hat die Polarität, die sich hier auftut, begriffen; aber sie hat sie zugleich zur reinen Korrelation weiterentwickelt. Es zeigt sich jetzt, daß der Gegenstandsbereich, mit dem es die Mathematik zu tun hat, sich nicht auf die bloße Quantität, auf die Zahl oder Größe, reduzieren läßt; auf der anderen Seite aber bleibt die ständige Rückbeziehung aller mathematischen Gegenstände auf die Zahl und ihre grundlegende Ordnungsform erhalten. Derselbe Weg, der über die Zahl hinausführt, führt daher auch ständig auf sie zurück. Man muß beide Tendenzen zusammennehmen, um einen Einblick in die gedankliche Struktur der modernen Mathematik zu gewinnen. Mag sie, dem Objekte nach, noch so weit über das Zahlenreich hinausgehen – so bleibt sie ihm doch methodisch verhaftet. »Die alte Erklärung der Mathematik als der Lehre von Zahl und Raum«, so betont Hermann Weyl, »hat man, der neueren Entwicklung unserer Wissenschaft entsprechend, für zu eng befunden; dennoch ist kein Zweifel, daß auch in solchen Disziplinen wie der reinen Geometrie, der Vgl. Philolaos, Fragm. 4, V. 19–21, zit. nach: Diels, Fragmente, S. 250: »κα" πντα γα µ)ν τ) γιγνωσκ µενα *Cιµν χοντι, ο γ)C οã ν τε οδ-ν ο.τε νοη0µεν ο0τε γνωσ0µεν &νευ τοτου.« 92
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Analysis situs, der Gruppentheorie usw. zu den behandelten Gegenständen von vornherein die natürlichen Zahlen in Beziehung gebracht werden.«93 So bleibt gerade in der Erweiterung, die die neuere Mathematik erfahren hat, der Zug zur »Arithmetisierung« erhalten; ja er tritt in ihr mit besonderer Schärfe hervor. Alle großen Denker, die der Mathematik des neunzehnten Jahrhunderts ihr geistiges Gepräge gegeben haben, haben an dieser stetig fortschreitenden | Arbeit mitgewirkt. Gauß , der die Mathematik die Königin der Wissenschaften nannte, bezeichnete die Arithmetik als Königin der Mathematik.94 In demselben Sinne hat Felix Klein eine durchgehende »Arithmetisirung der Mathematik« gefordert.95 Auch die endgültige Sicherung der mathematischen Erkenntnis schien an diesen Weg gebunden. So wurde z. B. der Beweis für die Widerspruchslosigkeit der Geometrie von Hilbert in der Weise geführt, daß er ein Verfahren aufwies, durch welches die Elemente und Sätze der Geometrie sich auf eine rein arithmetische Mannigfaltigkeit in eindeutiger Weise abbilden lassen. Ergibt sich dann, daß und warum in einer solchen Mannigfaltigkeit keine Widersprüche auftreten können, so erscheint eben damit zugleich die »Kohärenz« des geometrischen Gebiets gesichert. So erscheint für Hilbert die Zahlordnung als die letzte Fundamentalschicht jenes »Axiomatischen Denkens«, das für die Mathematik als solche charakteristisch ist. Das Verfahren der axiomatischen Methode überhaupt besteht in einer ständigen Tieferlegung der Fundamente der einzelnen Wissensgebiete – eine wahrhaft radikale Begründung und Festigung aber kann erst dann als erreicht gelten, wenn es gelungen ist, die Axiome eines Gebiets in den Axiomen der Zahl zu verankern. »Alles, was Gegenstand des wissenschaftlichen Denkens überhaupt sein kann«, so beschließt Hilbert seine Darlegungen, »verfällt, sobald es zur Bildung einer Theorie reif ist, der axiomatischen Methode und damit mittelbar der Mathematik. Durch Vordringen zu immer tieferliegenden Schichten von Axiomen […] gewinnen wir auch in das Wesen des wissenschaftlichen Denkens selbst immer tiefere Einblicke und werden uns der Einheit unseres Wissens immer mehr bewußt. In dem Zeichen der axiomatischen Methode erscheint die Mathematik berufen zu einer führenden Rolle in der Wissenschaft 93 Hermann Weyl, Das Kontinuum. Kritische Untersuchungen über die Grundlagen der Analysis, Leipzig 1918, S. 17. 94 Wolfgang Sartorius von Waltershausen, Gauss zum Gedächtniss, Leipzig 1856, S. 79 (zit. nach: Voss, Über das Wesen der Mathematik, S. 113). 95 Felix Klein, Ueber Arithmetisirung der Mathematik, in: Nachrichten von der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Geschäftliche Mittheilungen aus dem Jahre 1895, Göttingen 1895, S. 82–91.
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überhaupt.«96 Man erkennt in alledem, daß es nicht sowohl die Zahl als Denk inhalt als vielmehr die Zahl als Denktypus ist, wodurch die spezifische Eigenart der modernen Mathematik bestimmt wird. Aber wenn in dieser Weise die »reine Mathematik« geradezu als die »Wissenschaft von den Zahlen« und die Zahlen weiterhin als »von uns geschaffene Zeichen für ordnende Tätigkeiten97 unseres Verstandes« definiert werden,98 so erhebt sich damit um so dringender die Frage nach dem Wahrheitsgehalt dieser Zeichen | selbst. Sind sie bloße Zeichen, denen keine objektive Bedeutung zukommt, oder haben sie ein fundamentum in re? Und wenn das letztere zutrifft – wo haben wir dieses Fundament zu suchen? Wird es uns fertig von der »Anschauung« geliefert – oder muß es, abseits und unabhängig von allen Gegebenheiten der Anschauung, in selbständigen Akten der Vernunft, in einer reinen Spontaneität des Denkens gewonnen und gesichert werden? Mit diesen Fragen stehen wir im Mittelpunkt und im geistigen Brennpunkt des methodischen Kampfes, der gegenwärtig wieder um den Sinn und Gehalt der mathematischen Grundbegriffe geführt wird. Wir können hier nicht auf die Einzelheiten dieses Kampfes noch auf seinen Ursprung eingehen: Wir stellen uns lediglich die Frage, was er für unser eigenes Grundproblem, für das Problem des »symbolischen Denkens«, bedeutet und welche Lehren für dieses Problem er in sich birgt. |
David Hilbert, Axiomatisches Denken, in: Mathematische Annalen 78 (1918), S. 405–415: S. 415. 97 [Cassirer: Fähigkeiten] 98 Vgl. Voss, Über das Wesen der Mathematik, S. 29 ff. u. 106 ff. [Zitate S. 29]. 96
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kapitel iv. Der Gegenstand der Mathematik I. Formalistische und intuitionistische Begründung der Mathematik Ehe wir den Gegensatz von »Formalismus« und »Intuitionismus« in seiner gegenwärtigen methodischen Zuspitzung betrachten, blicken wir auf seine geschichtlichen Voraussetzungen und Vorbereitungen zurück. Bei diesem Rückblick ist für uns nicht nur ein historisches, sondern auch ein systematisches Interesse bestimmend. Es scheint, als hätte manches Mißverständnis zwischen den streitenden Richtungen vermieden werden, als hätte der Kern des Gegensatzes deutlicher herausgeschält werden können, wenn man sich in beiden Lagern bewußt gewesen wäre, daß das Problem, um das es sich hier handelt, in der Logik und in der Philosophie eine lange Vorgeschichte hat. Schon bei Aristoteles findet sich eine Bemerkung, die darauf hinweist, daß er das Wesen der geometrischen Definition nicht in einer bloßen Begriffserklärung, sondern in einer Erklärung sieht, die ein Existenztheorem und einen Existenzbeweis in sich schließt. Die Bedeutung des Wortes »Dreieck« setze der Geometer voraus – aber er beweise, daß es ein Dreieck gibt.99 Auch sonst ist der Begriff der geometrischen »Konstruktion«, in der Fassung, die die antike philosophische und mathematische Theorie ihm gibt, aufs engste mit dem Problem des Existenzbeweises verknüpft.100 Und die »Renaissance« der mathematischen Denkweise, wie sie sich im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert vollzieht, setzt an ebendiesem Punkte wieder ein. Spinoza und Hobbes, Tschirnhaus und Leibniz arbeiten hier in der gleichen Richtung: Für | sie alle gewinnt das Problem der genetischen oder, wie sie es nennen, der »kausalen« Definition eine weit über das Gebiet des Mathematischen hinausgreifende, systematisch-philosophische Bedeutung.101 Leibniz ist es, der mit seiner methodischen Klarheit »τ µ2ν γ)C σηµανει τ τCγωνον, 4λαβεν, 5 γεωµ'τCης, 6τι δ’ ςι, δεκνυσιν.« (Aristoteles, Analytica posteriora B [Abschn. 7], 92 B, Z. 15 f.) [Cassirer zitiert Aristoteles unter Angabe der Bekker-Paginierung. Die Verifizierung erfolgt nach: Aristoteles, Analytica posteriora, in: Opera, durchges. v. Immanuel Bekker, hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I, Berlin 1831, S. 71–100: S. 92]. 100 Näheres s. bei Hieronymus Georg Zeuthen, Die geometrische Construction als »Existenzbeweis« in der antiken Geometrie, in: Mathematische Annalen 47 (1896), S. 222–228. 101 Die näheren Belege hierfür sind in meiner Schrift über das Erkenntnisproblem, Bd. II, S. 49 ff., 86 ff., 127 ff. u. 191 f. [ECW 3, S. 38 ff., 67 ff., 101 ff. u. 158 f.] gegeben. 99
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und Meisterschaft alle diese Bestrebungen in eins faßt und der ihnen ihren Ort im Gesamtaufbau der Logik bestimmt. Der Streit zwischen »Nominalismus« und »Realismus«, der die gesamte mittelalterliche Logik beherrscht hatte, nimmt jetzt eine neue Form an: Er wird gewissermaßen aus der Dürre der Spekulation erlöst und mitten in die konkrete Arbeit der exakten Wissenschaft hineinversetzt. Hobbes hatte versucht, die Wahrheit der mathematischen Grundbegriffe wie ihre Allgemeinheit als eine bloß verbale Wahrheit und Allgemeinheit zu erweisen. Sie gründet sich nach ihm nicht in der Sache, sondern im Wort; sie beruht lediglich auf einer Übereinkunft über sprachliche Zeichen. Dieser Anschauung hält Leibniz den Gedanken entgegen, daß das Zeichen selbst, sofern es bedeutungsvolles Zeichen sein wolle, an bestimmte objektive Bedingungen gebunden sei. Die Symbole und Charaktere der Mathematik können nicht aufs Geratewohl gebildet noch nach subjektivem Belieben miteinander verknüpft werden, sondern sie gehorchen bestimmten Normen der Verknüpfbarkeit, die ihnen von der Notwendigkeit der Sache vorgeschrieben werden. Diese »Sache«, an der sie sich ständig zu orientieren haben und deren innere Wahrheit sie zum Ausdruck bringen wollen, ist freilich nicht in der Art eines empirischen »Dinges« zu denken, sondern als der Bestand bestimmter Beziehungen, die unter reinen Ideen obwalten. An ihnen hat alle mathematische Begriffsbildung und alle mathematische Zeichengebung ihren Halt und ihr inneres Maß. Die Verknüpfung der Charaktere muß den objektiven Relationen der Ideen entsprechen.102 »Ars characteristica est ars ita formandi atque ordinandi characteres, ut referant cogitationes, seu ut eam inter se habeant relationem, quam cogitationes inter se habent. Expressio est aggregatum characterum rem quae exprimitur repraesentantium. Lex expressionum haec est: ut ex quarum rerum ideis componitur rei exprimendae idea, ex illarum rerum characteribus componatur rei expressio.«103 Das Verhältnis zwischen der mathematischen »Formel« und dem Sachverhalt, auf den sie sich richtet, ist damit eindeutig fest | gelegt. Die Formel erhält ihre signifikative Funktion erst durch ihre Intention auf den Sachverhalt – andererseits soll sie so beschaffen sein, daß sie alle wesentlichen Züge des letzteren in sich faßt und sie in einem prägnanten und exakten Ausdruck enthält.
Vgl. bes. Gottfried Wilhelm Leibniz, Meditationes de cognitione veritate et ideis (in: Hauptschriften, Bd. I, S. 22–29). 103 Die Leibniz-Handschriften der Königlichen öffentlichen Bibliothek zu Hannover, hrsg. v. Eduard Bodemann, Hannover/Leipzig 1895, S. 80 f. 102
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Gegenstand der Mathematik. Formalismus und Intuitionismus
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Der Aufbau der Welt der mathematischen Zeichen, die Schaffung der einzelnen Charaktere und ihre Verbindung, steht demnach für Leibniz von Anfang an unter einer bestimmten einschränkenden Bedingung: Die »Möglichkeit« des Gegenstandes der Verknüpfung muß sichergestellt sein. Denn nicht jede Verknüpfung von Denkelementen und den ihnen zugeordneten Zeichen ergibt ein mögliches Denkobjekt. Gibt es doch unter den Denkinhalten solche, die, wenn man sie synthetisch zu vereinen sucht, einander in dieser Synthesis nicht näher bestimmen und determinieren, sondern statt dessen einander aufheben. Nicht jeder faktisch vollziehbaren Kombination von Zeichen entspricht daher ein »an sich« mögliches, ein logisch bestimmtes und logisch gegründetes Gebilde. Dieser »Grund«, das »fundamentum in re«, muß vielmehr für die jeweilige Begriffsbildung stets besonders gelegt und besonders erwiesen werden. Die Definition darf somit nicht als eine fertige, vollendete hingegeben werden, die den Gegenstand, auf den sie zielt, lediglich durch Angabe eines Merkmals oder einer Summe von Merkmalen bezeichnet. Denn hierbei besteht immer die Gefahr, daß diese Summe sich aus Komponenten zusammensetzt, die einander wechselseitig zunichte machen. Besonders dringend wird diese Gefahr, wenn wir uns im Gebiet einer unendlichen Mannigfaltigkeit bewegen. Es kann alsdann stets der Fall eintreten, daß wir auf dem Wege von Begriffsbildungen, die im Bereich des Endlichen durchaus zulässig und unverfänglich sind, zu Bestimmungen gelangen, die einen Widerspruch zu dem Strukturprinzip der Mannigfaltigkeit in sich schließen. So können wir z. B., wenn uns eine endliche Reihe voneinander verschiedener Zahlen gegeben ist, in ihr stets eine »größte Zahl« angeben; aber auf das unendliche Ganze der Zahlen übertragen, schließt der Begriff des »Größten« einen Widerspruch in sich. Analoges gilt für Begriffsbildungen wie die des »kleinsten Bruches« oder der »kleinsten Geschwindigkeit«. Leibniz bleibt indes bei solchen Einzelbeispielen von Begriffen, deren Elemente miteinander unverträglich sind, nicht stehen, sondern er benutzt sie, um aus ihnen eine allgemeine Folgerung abzuleiten. Jeder Begriff, der ein mathematisches Objekt nur dadurch zu bezeichnen und zu bestimmen versucht, daß er eine einzelne Eigenschaft, die ihm zukommen soll, namhaft macht, bewegt sich auf einer schlüpfrigen Bahn. Denn die bloße Angabe solcher | charakterisierender Merkmale gibt uns noch keinerlei Gewähr dafür, daß ihr im Gebiet der Denkinhalte etwas entspricht. Definieren wir z. B. den Kreis als eine ebene Kurve, die so beschaffen ist, daß sie, bei gegebenem Umfang, ein Maximum an Flächeninhalt umschließt, so bleibt stets die Frage offen, ob es, unter den Voraussetzungen unserer Geometrie,
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eine solche Kurve »gibt«, und wenn dies der Fall ist, ob die angegebene Bedingung nur durch eine Art von Kurven erfüllbar ist. In dem ersten Fall ist durch unsere Erklärung überhaupt kein geometrisches Gebilde, in dem zweiten ist es nicht vollständig und eindeutig bestimmt. Der Zweifel hieran kann auf keine andere Art behoben werden als dadurch, daß eine bestimmte Erzeugungsweise, ein »modus generandi« der Kreislinie angegeben wird und daß durch einen strengen deduktiven Beweis die gesuchte Eigenschaft als notwendig in dieser Erzeugungsweise enthalten und als durch sie mitgesetzt erwiesen wird. Jetzt erst geht die Definition, die früher einen bloß nominalen Charakter trug, in eine echte »Realdefinition« über, d. h. in eine solche, die den Gegenstand aus seinen konstitutiven Elementen aufbaut. Der Geschlossenheit und der inneren Folgerichtigkeit dieses Aufbaus aber können wir nach Leibniz wiederum auf keine andere Weise gewiß werden als dadurch, daß wir jedem Denkschritt, der hier vollzogen wird, eine analoge Operation in den Zeichen entsprechen lassen. Wenn wir jeder einfachen »Idee« ein einfaches Zeichen zuordnen und wenn wir ferner gewisse allgemeine Regeln der Verknüpfung dieser Zeichen aufstellen, so gewinnen wir damit eine symbolische Sprache, die ihre eigenen Gesetze hat. Die Verletzung dieser Gesetze, wie sie sich in der Bildung »unmöglicher« Gegenstandsbegriffe ergibt, müßte sich dann für uns an der Form der Zeichen selbst verraten, so daß wir den latenten logischen Widerspruch nunmehr an einem direkten sinnlich faßbaren Symptom entdecken und an ihm sichtbar machen könnten. Ein Verhältnis, das der reinen Begriffswelt angehört, ist damit im Bilde für uns faßbar geworden – wir haben den Gedanken gewissermaßen gezwungen, aus seiner inneren Werkstatt herauszutreten und sich uns, in seinen Verflechtungen und Komplexionen, unmittelbar zu manifestieren.104 Durch diese Theorie der mathematischen Definition und des mathematischen Gegenstands wird somit zwischen »Sinnlichkeit« und »Ver | nunft« ein scharf bestimmtes, präzises Verhältnis hergestellt. Beide Gebiete sind aufs klarste voneinander geschieden: Sie können sich nicht miteinander vermischen noch an irgendeinem Punkte ineinander übergehen. Kein mathematischer Inhalt entspringt als solcher der Sinnlichkeit – denn dieser fehlt das charakteristische Merkmal, das 104 Zum Ganzen s. meine Schrift »Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen« (Kap. 1) [ECW 1]; über die Stellung und Bedeutung des Symbolbegriffs bei Leibniz vgl. jetzt besonders den Aufsatz von Dietrich Mahnke, Leibniz als Begründer der symbolischen Mathematik, in: Isis. International Review devoted to the History of Science and Civilization. Quarterly Organ of the History of Science Society 9 (1927), S. 279–293.
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konstitutive Prinzip des Mathematischen. Ein Inhalt muß, um als mathematischer Inhalt gelten zu können, distinkt erfaßt sein, d. h., er muß sich aus einfachen, an sich gewissen Grundelementen der Erkenntnis in derselben Weise aufbauen lassen, wie sich jede Zahl in eindeutiger Weise als ein Produkt von Primzahlen darstellen läßt. Die sinnlichen Erlebnisse sind einer derartigen durchgängigen Zerlegung nicht fähig; bei ihnen müssen wir zuletzt stets bei irgendwelchen Gesamtheiten haltmachen, die sich nicht weiter in ihre konstitutiven Momente, in ihre bestimmenden »Gründe« auflösen lassen, sondern nur noch »konfus« von uns erfaßt werden. Aus dieser Trennung der »distinkten« und der »konfusen« Erkenntnis ergibt sich unmittelbar, daß für Leibniz kein einziger, wahrhaft mathematischer Gegenstand sich in der Sinnlichkeit gründet. Dies gilt nicht nur für die Zahl, sondern es gilt in nicht minderer Strenge für die geometrische Ausdehnung. Auch sie ist keineswegs ein Datum der Wahrnehmung, sondern eine reine Verstandesidee (une idée de l’entendement pur).105 Aber wenngleich damit der »Verstand« als Ursprungsort und Quellpunkt alles Mathematischen erklärt wird – so steht doch für Leibniz andererseits fest, daß die menschliche Erkenntnis in der Region der »intelligiblen« mathematischen Gegenstände erst heimisch werden und in ihr nur dann festen Fuß fassen kann, wenn sie die Hilfe der sinnlichen Zeichen nicht verschmäht. Aller menschlichen Erkenntnis liegen ursprüngliche Einsichten der reinen Vernunft zugrunde: Aber sie vermag sich dieser Urintuitionen der Vernunft nicht anders zu bemächtigen noch sie für sich festzuhalten als dadurch, daß sie sie sich in Bildern, in Symbolen faßbar macht. Das Intuitive bleibt hierbei immer das »dem Wesen nach« erste, das πC τεCον τ0 φσει; aber das Symbolische erweist sich andererseits insofern als unentbehrlich, als es das »für uns erste«, das πC τεCον πCς µGς, darstellt. Unser endlicher Verstand ist und bleibt ein der Bilder bedürftiger Verstand: Er würde sich unfehlbar im Labyrinth des Denkbaren verlieren, wenn ihm nicht durch die allgemeine Charakteristik ein Ariadnefaden in die Hand gegeben würde. So bildet in der rein logischen Ordnung, in der Ordnung der »Gegenstände«, das Intuitive immer das eigentliche Fundament; aber wir können von uns aus nicht anders zu | dieser Basis zurückdringen als dadurch, daß wir unsern Weg durch das Medium der Sinnlichkeit, durch die mittlere Schicht des Symbolischen nehmen.106 Vgl. bes. Gottfried Wilhelm Leibniz, Nouveaux essais sur l’entendement, par l’auteur du systeme de l’harmonie preestablie (Buch 2, Kap. 13 ff.), in: Philosophische Schriften, Bd. V, Berlin 1882, S. 39–509. 106 Vgl. hierzu bes. die Stelle aus einer Handschrift des Jahres 1675, die 105
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Dieses in sich so klare und einfache Verhältnis zwischen der mathematischen »Vernunft« auf der einen, der »Sinnlichkeit« auf der anderen Seite gestaltet sich freilich schwieriger und komplexer, sobald wir den Schritt von Leibniz zu Kant vollziehen. In einem Punkte zwar erscheint die Kantische Lehre von der Mathematik als die direkte und geradlinige Fortsetzung der Leibnizischen – auch sie macht die Konstruierbarkeit der mathematischen Grundbegriffe zu einer notwendigen Bedingung ihrer Wahrheit und Gültigkeit. Dieser Gesichtspunkt rückt für Kant schon früh, schon in den Schriften der vorkritischen Zeit, in den Mittelpunkt der mathematischen Methodenlehre. Kein mathematischer Begriff kann durch bloße »Abstraktion« vom Gegebenen gewonnen werden; er schließt stets einen freien Akt der Verknüpfung, einen Akt der »Synthesis« in sich. Der Erweis der »Möglichkeit« dieser Synthesis ist die notwendige, aber er ist zugleich auch die hinreichende Bedingung für die Wahrheit des mathematischen Gegenstandes. »Ein Kegel mag sonst bedeuten, was er wolle; in der Mathematik entstehet er aus der willkürlichen Vorstellung eines rechtwinklichten Triangels, der sich um eine Seite dreht. Die Erklärung entspringet hier und in allen andern Fällen offenbar durch die Synthesin.«107 So wird zuletzt alle mathematische Demonstration auf Konstruktion gegründet. Die philosophische Erkenntnis ist Vernunfterkenntnis aus Begriffen – die mathematische aus der Konstruktion der Begriffe. Aber wenn Kant in dieser Weise das Moment der konstruktiven Erzeugung als einen Grund- und Urcharakter an aller mathematischen Begriffsbildung ansieht, so hat doch die Gliederung der Erkenntnis, die bei ihm durch dieses Moment herbeigeführt und begründet wird, eine andere Gestalt, als es bei Leibniz der Fall war. Der Schnitt verläuft jetzt an einer anderen Stelle des Gesamtsystems. Für Leibniz handelte es sich darum, die reine Vernunfterkenntnis von der sinnlichen Erkenntnis nach ihrem Rechtsgrund scharf abzuscheiden, zugleich aber beide in ihrem | Gebrauch durch das Mittelglied der »allgemeinen Charakteristik« eng aneinanderzubinden. Mathematisches und logisches Denken rücken hierbei auf dieselbe Seite: Sie gehören der Welt des reinen Verstandes, des Mahnke (Leibniz als Begründer der symbolischen Mathematik, S. 286) mitteilt: »Habemus ideas simplicium, habemus tantum characteres compositorum. […] Non possumus facile judicare de rei possibilitate ex cogitabilitate eius requisitorum, quando singula eius requisita cogitavimus atque in unum conjunximus […] etsi ope characterum unire possimus […] quod non potest fieri nisi sentiendo sive imaginando simul characteres omnium.« 107 Immanuel Kant, Über die Deutlichkeit der Grundsätze, S. 176 (Akad.Ausg. II, 276).
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intellectus ipse, an. Beiden steht die Welt der Wahrnehmung, der bloßen »Tatsachenwahrheiten« gegenüber; aber dieser Unterschied kann an keinem Punkte zum Gegensatz, zu einem wahrhaften Widerstreit zwischen ihnen werden. Denn das metaphysische Grundprinzip der Leibnizischen Philosophie, das Prinzip der »prästabilierten Harmonie«, gilt auch für das Verhältnis von Vernunft und Erfahrung. Keine reine Vernunftwahrheit kann aus Erfahrung, aus der Betrachtung sinnlicher Einzelbeispiele, gewonnen werden; aber jede gilt ohne jegliche Einschränkung für die Erfahrung. Zwischen Logik und Mathematik einerseits und der empirisch-physikalischen Erkenntnis andrerseits kann somit niemals ein Zwiespalt entstehen: Das Problem der Anwendbarkeit der Mathematik hat im Aufbau von Leibniz’ System keine Stelle. Ebendieses Problem aber ist es, das Kant, schärfer als je zuvor, stellt und aus welchem ihm die endgültige Gestalt seiner »kritischen« Lehre erwächst. Er verwirft die dogmatische Entscheidung der »prästabilierten Harmonie«; er fragt nach dem Grund der Möglichkeit der Übereinstimmung zwischen apriorischen Begriffen und empirischen Tatsachen. Und die Antwort auf diese Frage gewinnt er durch die Einsicht, daß auch der empirische Gegenstand, als Gegenstand, nicht schlechthin gegeben ist, sondern daß er ein Moment der mathematischen Konstruktion in sich schließt. Empirische Gegenständlichkeit kommt nur auf Grund einer Ordnung des Empirischen zustande: Diese selbst aber ist nur kraft der reinen sinnlichen Anschauung von Raum und Zeit möglich. Dieser Begriff der reinen Anschauung will sich gleich weit entfernt von der »Sensifizierung« der Erkenntnis durch Locke wie von ihrer »Intellektualisierung« durch Leibniz halten. Das Mathematische besitzt jetzt keine schlechthin abgelöste logische Dignität mehr; sondern seine Bedeutung, sein »quid juris« tritt vollständig erst in dem hervor, was es für den Aufbau der empirischen Erkenntnis leistet. Ohne die ständige Beziehung, ohne den Hinblick auf diese Leistung würde die Lehre vom »reinen Raum« und von der »reinen Zeit« nichts mehr und nichts Besseres als »die Beschäftigung mit einem bloßen Hirngespinst« sein. Kant geht jetzt so weit, zu erklären, daß die rein mathematischen Begriffe für sich allein überhaupt nicht Erkenntnisse seien, außer sofern man voraussetzt, daß es Dinge gibt, die sich nur der Form der reinen sinnlichen Anschauung gemäß uns darstellen lassen.108 | Die Wahrheit der mathematischen Ideen wird somit aufs engste mit ihrer empirischen Erfüllung verknüpft, ja an diese Erfüllung gebunden. Die Methodik des konstruktiven Aufbaus hat sich damit ein neues Gebiet 108
Ders., Kritik der reinen Vernunft, S. 124 [B 147, Zitat S. 153 (B 196)].
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erobert; sie ist gewissermaßen in das Reich der Erfahrungserkenntnis selbst vorgetragen worden. Aber dies hat zugleich zur Folge, daß, verglichen mit der Leibnizischen Erkenntnislehre, der Abstand zwischen logischer und mathematischer Erkenntnis sich wesentlich erweitert hat. Das Denken, sofern es sich nicht auf die reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit bezieht, wird zu einem Inbegriff bloß analytischer Sätze, die zwar keinen Widerspruch in sich schließen, die aber ebensowenig auf irgendeinen Gehalt, auf positive Fruchtbarkeit für das Ganze der Erkenntnis, Anspruch erheben können. Damit aber zeigt sich, daß der Forderung der »Konstruierbarkeit« innerhalb des Kantischen Systems eine zwiefache Bedeutung innewohnt. Auf der einen Seite nämlich ist in ihr nichts weiter gesetzt und behauptet als ebenjenes Moment, das wir bereits in Leibniz’ Lehre von der »genetischen Definition« wirksam fanden: Alles »Gegebene« soll aus einer »erzeugenden Regel« verstanden und hergeleitet werden. Auf der anderen Seite aber heißt für Kant einen Begriff »definieren« ihn unmittelbar in der Anschauung darstellen, d. h. ihn an einem räumlichen oder zeitlichen Schema erfassen. Der »Sinn« der mathematischen Begriffe erscheint jetzt an diese Form der Schematisierung gebunden. So hat hier die »reine Sinnlichkeit« im Gesamtaufbau der Mathematik eine ganz andere Stellung als bei Leibniz gewonnen. Die Sinnlichkeit ist aus einem bloßen Darstellungsmittel, was sie bei Leibniz war, zu einem selbständigen Erkenntnisgrund geworden: Die Anschauung hat fundierenden und legitimierenden Wert erhalten. Für Leibniz ist das Gebiet der intuitiven Erkenntnis, die sich auf die objektive Verknüpfung der Ideen bezieht, vom Gebiet der symbolischen Erkenntnis, in dem wir es, statt mit den Ideen selber, mit deren stellvertretenden Zeichen zu tun haben, gesondert: Aber die Intuition, auf die er zurückgeht, bildet keine Gegeninstanz zum Logischen, sondern schließt vielmehr das Logische wie das Mathematische als besondere Formen in sich. Für Kant hingegen verläuft die Grenze nicht zwischen dem intuitiven und dem symbolischen Denken, sondern zwischen dem »diskursiven« Begriff und der »reinen Anschauung«, wobei der Gehalt des Mathematischen allein durch diese letztere geliefert und gegründet werden kann. Betrachtet man den methodischen Gegensatz, der damit gegeben | ist, vom Standpunkt der modernen Mathematik – so muß man sagen, daß diese letztere nicht auf dem von Kant, sondern auf dem von Leibniz gewiesenen Wege weitergeschritten ist. Es ist insbesondere die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrie gewesen, die sie auf diesen Weg hinwies. Die Mathematik ist dank den neuen Problemen, die sich von hier aus ergaben, mehr und mehr zu einem »hypothe-
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tisch-deduktiven System« geworden, dessen Wahrheitswert rein in seiner inneren logischen Geschlossenheit und Folgerichtigkeit besteht, nicht aber in irgendwelchen inhaltlichen anschaulichen Aussagen gründet. Sie beruft sich auf die Anschauung nicht mehr als positives Beweis- und Begründungsmittel; sondern sie gebraucht sie nur, um eine konkrete Repräsentation der allgemeinen Relationszusammenhänge zu geben, die sie im reinen Denken aufbaut. Und solcher Repräsentationen gibt es, wie sie zeigt, nicht nur eine, sondern im allgemeinen unendlich viele: so daß ein bestimmtes System von »Axiomen« sich keineswegs nur in einem einzigen Gebiet anschaulicher Data erfüllt, sondern ganz verschiedenartiger Erfüllungen fähig ist. Die Verschiedenheit dieser Darstellungen wird nicht bestritten: Aber sie hat aufgehört, eine mathematisch bedeutsame Tatsache zu sein. Denn all die mannigfachen anschaulichen Gebiete bezeichnen, mathematisch gesehen, nur ein Objekt und eine Form: Sie sind sämtlich untereinander »isomorph«, sofern dieselben Beziehungen R, R usf. gleichmäßig in ihnen allen gelten und sofern ebendiese Geltung reiner Beziehungen – nach der neuen Auffassung, die im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert zur ganz allgemeinen Geltung und Durchführung gelangt ist109 – das einzige ist, was eine mathematische Form als solche konstituiert. Schon einer der Begründer der modernen »symbolischen Logik«, George Boole, hat den Begriff der »formalen Wissenschaft« genau in dem Sinne bestimmt, der später durch die Entwicklung der »abstrakten« Mathematik durchgängig bestätigt worden ist. Er betont, daß die Geltung der Prozesse der Analysis nicht von der Interpretation der vorkommenden Symbole, sondern nur von den Gesetzen ihrer Verknüpfung abhängig sei. Um so überraschender muß es auf den ersten Blick erscheinen, daß all die Schwierigkeiten, die sich im Begriff und Problem der »Anschauung« zusammenfassen, in den letzten Jahrzehnten innerhalb der Mathematik selbst wieder aufgebrochen sind und daß sie hier einen immer größeren Raum gewonnen haben. Heute steht der Kampf wieder auf des Messers | Schneide: Und mit ihm scheint das Verhältnis von Mathematik und Logik aufs neue vieldeutig und fragwürdig geworden zu sein. Auf der einen Seite steht die Auffassung derer, die die reine Mathematik nicht nur in der Logik begründen, 109 Über den geschichtlichen Gang dieser Entwicklung vgl. z. B. die Belege und Nachweise bei Federigo Enriques, Zur Geschichte der Logik. Grundlagen und Aufbau der Wissenschaft im Urteil der mathematischen Denker, übers. v. Ludwig Bieberbach, Leipzig/Berlin 1927 (Wissenschaft und Hypothese, Bd. 26), S. 159 ff. u. 166 ff.
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sondern die sie ganz in sie zurücknehmen wollen – die die Möglichkeit, zwischen beiden irgendeinen Trennungsstrich zu ziehen, prinzipiell bestreiten.110 Dieser Ansicht aber steht eine andere gegenüber, die das Eigenrecht und den eigenen Sinn des Mathematischen so nachdrücklich und energisch behauptet, daß damit nicht nur der »Gegenstand« der Mathematik von dem der Logik unabhängig wird, sondern daß selbst gegen die fundamentalen Prinzipien der »klassischen« Logik, wie gegen den »Satz vom ausgeschlossenen Dritten«, ein Angriff von seiten der Mathematik gewagt werden kann. Die Logik in ihrer gewöhnlichen Gestalt erscheint von diesem Standpunkt aus so wenig als das Fundament allen Denkens, daß es völlig autonome Denkhandlungen gibt, die aus ihr nicht ableitbar sind. Nicht sie ist es, die den eigentlichen Grund der Wahrheit legt – sie trägt vielmehr letzten Endes alles, was ihr an Bedeutung und Wahrheit innewohnt, von einer anderen Instanz, von der Gewißheit einer mathematischen Urintuition zu Lehen. Für Brouwer, der diese Grundauffassung am schärfsten vertritt, steht am Anfang alles Denkens das Denken der Zahl: Und aus der Lehre von der Zahl, aus der Arithmetik, sind erst die elementaren Regeln der Logik abstrahiert worden. Hierbei beziehen sich jedoch Mathematik wie Logik ursprünglich auf nichts anderes als auf endliche Mengen. Sie stellen Regeln für derartige Mengen auf, und sie lassen keine anderen Prozesse zu als solche, die zu einem bestimmten »Abschluß«, zu einer endgültigen Entscheidung gebracht werden können. Sobald diese Schranke überschritten wird und das Denken zu Konzeptionen fortgeht, die den Begriff des Unendlichen in sich schließen, steht es vor einem völlig neuen Problem, demgegenüber seine bisherigen Zurüstungen versagen. Die moderne | Analysis hat nach Brouwer vergeblich versucht, dieses Problems Herr zu werden; sie hat sich, je weiter sie fortschritt, nur um so mehr in Paradoxien und Widersprüche verstrickt. Die Heilung dieser Widersprüche kann nicht von der Ausbildung neuer Denk mittel, sondern 110 Vgl. etwa die charakteristische Äußerung Russells (Introduction to Mathematical Philosophy, S. 194): »Mathematics and logic, historically speaking, have been entirely distinct studies. Mathematics has been connected with science, logic with Greek. But both have developed in modern times: logic has become more mathematical and mathematics has become more logical. The consequence is that it has now become wholly impossible to draw a line between the two; in fact, the two are one. They differ as boy and man: logic is the youth of mathematics and mathematics is the manhood of logic. This view is resented by logicians who, having spent their time in the study of classical texts, are incapable of following a piece of symbolic reasoning, and by mathematicians who have learnt a technique without troubling to inquire into its meaning or justification. Both types are now fortunately growing rarer.«
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nur von der kritischen Einschränkung der möglichen Denkobjekte erwartet werden. Die Mengenlehre wird erst dann eine widerspruchsfreie Form gewinnen, wenn sie nicht mehr versucht, das Denken künstlich über seine natürlichen Grenzen hinauszutreiben, sondern sich statt dessen bewußt und ausdrücklich auf finite Prozesse beschränkt.111 Hier sieht sich somit die moderne Mathematik vor ein echtes methodisches Dilemma gestellt, demgegenüber sie sich zu entscheiden hat. Und wie immer diese Entscheidung ausfallen mag: auf jeden Fall scheint sie einen Verzicht in sich schließen zu müssen. Will die Mathematik ihren alten Ruhm der »Evidenz« behaupten, so kann dies, wie es scheint, nicht anders geschehen als dadurch, daß sie zum Urquell dieser Evidenz, zu der Grundintuition der ganzen Zahl zurückgeht. Aber diese Rückkehr scheint andererseits für sie nicht anders als mit einem schweren intellektuellen Opfer erkauft werden zu können, das ihr weite und fruchtbare Gebiete, die sich die klassische Analysis Schritt für Schritt erobert hatte, ein für allemal zu verschließen droht. Noch ist, innerhalb der Mathematik selbst, die endgültige Lösung dieses Widerstreits nicht abzusehen.112 Aber wie sie auch immer ausfallen wird, so bedeutet, vom Standpunkt der reinen Erkenntniskritik aus betrachtet, schon die Tatsache des Widerstreits ein wichtiges und fruchtbares Problem: Denn an dem labilen Gleichgewicht, das er hier vor sich sieht, kann sich der Erkenntniskritiker mit besonderer Deutlichkeit die Natur der verschiedenen gedanklichen Kräfte zum Bewußtsein bringen, die am Aufbau der modernen Mathematik mitgewirkt und die ihre heutige Gestalt bestimmt haben.
111 Vgl. Luitzen Egbertus Jan Brouwer, Intuitionism and Formalism, in: Bulletin of the American Mathematical Society. A Historical and Critical Review of Mathematical Science 20 (1914), S. 81–96; ders., Über die Bedeutung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten in der Mathematik, insbesondere in der Funktionentheorie, in: Journal für die reine und angewandte Mathematik 154 (1925), S. 1–7. 112 Auf die Einzelheiten des Kampfes zwischen »Intuitionismus« und »Formalismus« in der heutigen Mathematik kann im Rahmen unseres systematischen Grundproblems nicht näher eingegangen werden; Näheres hierüber s. z. B. bei Hermann Weyl, Die heutige Erkenntnislage in der Mathematik, in: Symposion. Philosophische Zeitschrift für Forschung und Aussprache 1 (1927), S. 1–32.
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II. Der Aufbau der Mengenlehre und die »Grundlagenkrise« der Mathematik Die »Paradoxien der Mengenlehre«, die den ersten entscheidenden Anstoß zu einer Revision der Grundprinzipien der modernen Analysis ge | geben haben, sind dem mathematischen Denken in verschiedenartigen Formen entgegengetreten – aber sie lassen sich, rein methodisch betrachtet, auf eine einheitliche begriffliche Formel bringen. Jede dieser Paradoxien schließt die Frage in sich, ob und in welchem Ausmaß es zulässig ist, durch bloße Angabe eines begrifflichen »Merkmals« einen Kreis von Gegenständen abzugrenzen, derart, daß die gedachte Gesamtheit dieser Gegenstände ein eindeutig bestimmtes und gültiges mathematisches »Objekt« darstellt. In den Anfängen der Mengenlehre glaubte sich das mathematische Denken noch ohne Arg dieser Art der Objektbildung überlassen zu dürfen: Eine Menge schien als einheitlicher, in sich klarer Gegenstand bestimmt zu sein, wenn irgendein Kriterium angegeben wurde, auf Grund dessen sich für jedes beliebige Ding entscheiden ließ, ob es der Menge als Element angehört oder nicht. Durch diese einzige Forderung erschien die Menge als »definiert« und ihre »Existenz«, als legitimer mathematischer Gegenstand, gesichert. Was die Zugehörigkeit des »Elements« zur Menge betrifft, so genügte es übrigens, wenn sie prinzipiell entscheidbar war, ohne daß die tatsächliche Entscheidbarkeit für jeden Einzelfall verlangt wurde: Die Menge der »transzendenten Zahlen« z. B. »existiert« in dem oben angegebenen Sinne, auch wenn sich, nach dem gegenwärtigen Stande der mathematischen Erkenntnis, nicht angeben läßt, ob die Zahl ππ zu ihr gehört oder nicht.113 Gemäß dieser Grundauffassung ist eine Menge ihrem reinen Bestand nach »gegeben«, wenn durch irgendeine definierende Bestimmung aus dem Kreis des Denkbaren ein gewisses Gebiet herausgehoben und dessen sämtliche Elemente in einem Inbegriff vereinigt gedacht werden. Die Art dieser Vereinigung ist hierbei an keine einschränkenden Bedingungen gebunden. Die Gleichheit in bezug auf die definierende Eigenschaft ist der einzige Zusammenhang, der von den Gliedern der Menge verlangt wird. Ist sie vorhanden, so bedarf es keines sonstigen »inneren Bandes« mehr, das diese Glieder miteinander verknüpft. Die Menge ist von Anfang an durch die Form der bloßen »Aggregation«, nicht durch die eines spezifischen »Systems« 113 Vgl. hierzu und zum Folgenden Adolf Fraenkel, Zehn Vorlesungen über die Grundlegung der Mengenlehre (Vorl. 1 u. 2), Leipzig/Berlin 1927 (Wissenschaft und Hypothese, Bd. 31).
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gekennzeichnet: Sie besagt im Grunde ebendies, daß sich, unabhängig von jeder Rücksicht auf die qualitative Sinn-»Verwandtschaft«, jegliches mit jeglichem zusammenfassen und zu einem Ganzen, zu einer begrifflichen Gesamtheit vereinen läßt. Vergegenwärtigt man sich diesen Ausgangspunkt der Mengenlehre, so kann es nicht Wunder nehmen, daß die Anwendung derselben zuletzt | auf gewisse Schranken stoßen mußte, die man als Schranken des »spezifischen Sinnes« bezeichnen könnte. Nimmt man überhaupt an, daß im Reich des Denkbaren irgendwelche spezifischen Sinngesetze gelten, so werden diese der beliebigen Zusammenfassung von »allem mit allem« früher oder später eine Grenze setzen müssen. Es werden sich gewisse Grundgesetze der Verknüpfung ergeben, durch die bestimmte Einheitsbildungen als zulässig, als sachlich gültig erkannt werden, während anderen diese Gültigkeit bestritten werden muß. Bildungen der letzteren Art sind es, die sich dem mathematischen Denken des neunzehnten Jahrhunderts in den Antinomien der Mengenlehre offenbart haben. Über die Lösbarkeit dieser Antinomien wie über die Wege, die zu ihrer Lösung einzuschlagen seien, gingen die Ansichten zunächst noch weit auseinander: Aber das eine stand fortan fest, daß die bisherige »ungebundene« Definition von Mengen aufgegeben werden mußte. Hierbei lag es in der Richtung des »axiomatischen Denkens«, daß die Bindung, die nunmehr als unerläßlich erkannt war, anfänglich in einem selbst wieder rein »formalen« Sinne verstanden wurde. Die Willkür in der Definition von Mengen, wie die Zulassung von Aussagen über ihre Elemente, wurde durch Aufstellung bestimmter Axiome derart eingeschränkt, daß Widersprüche innerhalb der Mengentheorie vermieden werden konnten, während andererseits, trotz der auferlegten Beschränkungen, die Tragweite und die Anwendungsfähigkeit dieser Theorie unangetastet blieb.114 Durch logische Sicherungen solcher Art schien den technischen Erfordernissen der Mathematik in jeder Hinsicht genügt werden zu können. Zermelos »Untersuchungen über die Grundlagen der Mengenlehre« und Russells Typenlehre haben diesen Weg beschritten. Durch die letztere z. B. wird einem bestimmten Verfahren der Mengenbildung – dem sogenannten »nichtprädikativen« Verfahren, bei dem ein Begriff, der einer gewissen Gesamtheit als Glied angehört, derart gekennzeichnet wird, daß in seine Definition ebenjene Gesamtheit als Ganzes eingeht – der Zugang zur legitimen Ma114 Ernst Zermelo, Untersuchungen über die Grundlagen der Mengenlehre. I., in: Mathematische Annalen 65 (1908), S. 261–281; vgl. bes. Hilbert, Axiomatisches Denken, S. 411 ff.
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thematik verwehrt.115 Es wird festgestellt, daß keine Gesamtheit Glieder enthalten darf, die nur mittels der Gesamtheit selbst definierbar sind. Aber selbst wenn es gelingen mag, durch Aufstellung derartiger Verbote das Auftreten von Widersprüchen zu vermeiden, so bleibt doch | diesem Verfahren gegenüber immer noch eine prinzipielle Frage zurück. Denn die Axiomatik stellt zwar ein bestimmtes Verbot rein inhaltlich vor uns hin, belehrt uns aber nicht über seinen eigentlichen, seinen methodischen »Grund«. Die Geltung eines bestimmten Axioms – z. B. die Geltung des Satzes, den Russell als »ReduzibilitätsAxiom« eingeführt hat – erweist sich zwar in seinen günstigen Fol gen, in der Ausschaltung der »paradoxen« Mengenbildungen – aber sie wird nicht selbst in ihrer inneren Notwendigkeit verstanden. Wir erfassen zwar ihr »Daß«, nicht aber ihr »Warum«. So wird durch die Axiomatik gewissermaßen nur das Auftreten eines bestimmten Krankheits symptoms vermieden, aber es bleibt stets das Bedenken bestehen, ob damit die Krankheit selbst, die sich in diesem Symptom äußerte, nun auch wahrhaft in ihrem Kern erkannt und besiegt worden ist. Und solange hierüber keine Gewißheit besteht, muß immer mit ihrem Hervorbrechen an einer anderen Stelle gerechnet werden. »[D]er Zaun der Axiomatik«, so hat man dies Verhältnis drastisch ausgedrückt, »bewahrt, um mit Poincaré zu sprechen, die legitimen Schafe der einwandfreien Mengenlehre davor, einen Angriff der paradoxienbehafteten Wölfe auf ihre umfriedete Hürde befürchten zu müssen. Gegen die Dauerhaftigkeit des Zaunes ist kein Bedenken möglich. Wer aber garantiert, daß innerhalb des Zaunes nicht unversehens einige Wölfe zurückgeblieben sind, die, heute von uns noch nicht bemerkt, eines Tages auf die Schafherde losbrechen und aufs neue wie zu Beginn dieses Jahrhunderts das inzwischen umzäunte Reich verwüsten könnten? M. a. W.: wie sichern wir uns davor, daß die Axiome verborgen in sich selbst Keime tragen, die, sobald sie durch Schlüsse hinreichend miteinander in Wechselwirkung gesetzt sind, noch unbekannte Widersprüche erzeugen mögen?«116 Das Bestreben, zu einer solchen nicht nur vorübergehenden, sondern endgültigen Sicherung zu gelangen, mußte die moderne Mathematik wieder zum Mittel- und Kernpunkt des Streites, zum Problem der mathematischen Definition und der mathematischen »Existenz« zurückführen. Der Unterschied von Nominal- und RealdefiBertrand Russell, Mathematical Logic as based on the Theory of Types, in: American Journal of Mathematics 30 (1908), S. 222–262; ders., Introduction to Mathematical Philosophy (Kap. 13). 116 Fraenkel, Zehn Vorlesungen, S. 153. 115
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nitionen, wie Leibniz ihn bereits klar und scharf fixiert hatte,117 trat damit wieder in seine Rechte. Nicht jegliche Vereinigung in Worten ausdrückbarer Merkmale genügt, um einen mathematischen Gegenstand zu bestimmen und dessen »Möglichkeit« zu verbürgen. Vielmehr muß in jedem Fall, um diese Möglichkeit sicherzustellen, den Worten selbst ihr Sinn substituiert und von den | Kriterien dieses Sinnes aus die Entscheidung getroffen werden.118 Mit unendlichen Gesamtheiten insbesondere läßt sich nicht operieren, ohne daß zuvor die Vorfrage gestellt und beantwortet ist, in welcher Weise und kraft welcher Mittel derartige Gesamtheiten dem Denken überhaupt »gegeben« sein können. Die »paradoxen« Mengen zeigen mit besonderer Deutlichkeit, daß dieses »Geben« niemals ein bloß kollektiver Akt ist, daß es nicht durch das »Zusammenraffen« beliebiger Elemente, die nur durch irgendeine gemeinsame »Eigenschaft« bestimmt sind, geschehen kann. Denn die Forderung, all das zusammenzufassen, was an dieser Eigenschaft teilhat, stellt zunächst ein bloßes Postulat auf, ohne daß die Erfüllbarkeit desselben in irgendeiner Weise garantiert wäre. Erst die nicht bloß kollektive, sondern »konstitutive« Einheit eines Gesetzes, durch welches der Aufbau der Menge bestimmt wird, kann prinzipiell über den Zweifel an der Möglichkeit der Erfüllung hinweghelfen: Denn das Gesetz umfaßt nicht nur eine Unendlichkeit möglicher Anwendungsfälle, sondern es läßt sie Vgl. oben, S. 412 ff. Durch die prinzipielle Forderung einer solchen Sinnsubstitution wird, soviel ich sehe, gewissen Paradoxien der Mengenlehre von vornherein die Spitze abgebrochen. Faßt man z. B. das bekannte Richardsche Paradoxon ins Auge, so wird hier von der Betrachtung solcher natürlicher Zahlen ausgegangen, die der Bedingung genügen, daß sie durch ein bestimmtes Mindestmaß von Silben, also etwa durch höchstens 30 Silben in deutscher Sprache, »definierbar« sind. Es wird dann weiter gezeigt, daß ein Begriff wie der Begriff der »kleinste[n] natürliche[n] Zahl, die nicht mit dreißig oder weniger Silben definierbar ist«, einen Widerspruch in sich schließt – sofern ja eben, durch die angegebene Wortverbindung, diese Zahl in weniger als dreißig Silben definiert wird. (Näheres s. bei Fraenkel, Zehn Vorlesungen über die Grundlegung der Mengenlehre, S. 22 ff.) Man könnte dieser »Antinomie« – die von ihrem Urheber Richard selbst lediglich als eine reductio ad absurdum bestimmter mathematischer Begriffsbildungen, nicht aber als eine ernsthafte sachliche Schwierigkeit aufgestellt worden ist – entgegenhalten, daß sie schon deshalb keinen eigentlichen »Widersinn« in sich schließen kann, weil sie sich gar nicht in der Sphäre des überhaupt »möglichen« mathematischen Sinnes bewegt. Denn die sinnvolle Definition eines mathematischen Gegenstands in Worten kann offenbar nur dadurch gegeben werden, daß man statt der bloßen Worte deren Bedeutungsintention einsetzt und das Objekt durch sie bestimmt sein läßt – nicht aber dadurch, daß man die Worte oder Silben zählt, aus denen die Definition, als ein rein sprachliches Gebilde, sich zusammensetzt. 117 118
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aus sich hervorgehen. Mit dieser Einsicht aber kehrt die moderne Mathematik, auf durchaus eigenen und neuen Wegen, im Grunde wieder zu dem Punkt zurück, von dem Leibniz als Methodiker des mathematischen Denkens seinen Ausgang genommen hatte. Wieder ist jetzt der Zusammenhang erkannt, der zwischen der echten »Realdefinition« und der »genetischen Definition« besteht. In diesem Sinne betont auch Weyl, daß man, um zu einer wahrhaft sicheren und tragfähigen Grundlage der Analysis zu gelangen, von dem reinen | Ver fahren der »Iteration« seinen Ausgang nehmen müsse. Die reine Zahlenlehre wird wieder zum Kernstück der Mathematik, so daß die Kategorie »natürliche Zahl« mitsamt der auf sie bezüglichen ursprünglichen Relation, durch welche die Beziehung des »unmittelbaren Folgens« in der Ordnung der Zahlen ausgedrückt wird, den »absoluten Operationsbereich« der Mathematik bestimmt. Dem Prozeß der Iteration, des ins Unendliche möglichen Fortgangs in einer Reihe, lassen sich die grundlegenden Einsichten über die natürlichen Zahlen entnehmen, auf denen die gesamte reine Mathematik sich logisch aufbaut.119 Was in dieser Grundlegung erkenntniskritisch wesentlich und entscheidend ist, ist der Umstand, daß erst mit ihr der Primat des Funktionsbegriffs vor dem Dingbegriff in vollem Umfang anerkannt ist. Wenn die Mathematik auf die »Urintuition« der Zahl zurückgeführt wird, so bedeutet doch diese Intuition in keiner Weise mehr eine Anschauung konkreter Dinge, sondern sie wird als Anschauung eines reinen Verfahrens gefaßt. Wovon ausgegangen wird, das ist ein bestimmtes Gebiet von Operationen: Und diese Operationen erst leiten zu den Individuen hin, die wir als »Zahlen« bezeichnen. Der »Bestand« dieser Individuen ist durch nichts anderes erwiesen und auf keinem anderen Wege erweisbar als dadurch, daß ein Prinzip aufgewiesen ist, demgemäß sie ins Unendliche nach einer im voraus bestimmten Regel setzbar sind. Diese Art ihrer Setzung allein ist es, die ihre volle gedankliche Beherrschung ermöglicht: Denn das Wissen vom »Gesetz« geht hier in strengem Sinne dem Wissen vom »Gesetzten« voran. Aus dem Operationsbereich der Zahl entfaltet sich erst der Dingbereich des Zählbaren und Gezählten. Nur wenn er sich mit diesem idealistischen Gedanken durchdringt und sich als Ausdruck desselben versteht, wird der moderne »Intuitionismus« seine Kraft für die Kritik der Grundlagen der Mathematik voll entfalten und bewähren können. Der Idealismus selbst muß hierbei freilich als streng »objektiver« Idealismus verstanden werden: Der Gegen119
Vgl. Weyl, Das Kontinuum (§ 3, 5 u. 6), S. 8 ff. u. 17 ff.
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standsbereich der Mathematik darf nicht auf den psychologischen Akt des Zählens, sondern er muß auf die reine Idee der Zahl gegründet werden. Irre ich nicht, so ist es die schärfere Erfassung und Betonung ebendieses Moments, was Weyls Fassung des »Intuitionismus« vor der Fassung Brouwers den Vorrang gibt. Auch Brouwers Grundlegung der Analysis geht vom Prozeß der »Iteration« aus. Die Analysis beginnt nach Brouwer mit der Setzung einer Mannigfaltigkeit, die derart beschaffen ist, daß sie durch eine einzige ordnende Relation | vollständig bestimmt wird.120 Das Prinzip der intuitionistischen Mathematik besteht dann darin, daß alle Gegenstandsbereiche, auf die sie sich erstreckt, mittelbar auf dieses Ur- und Grundschema zu beziehen und nach seinem Vorbild zu gestalten sind. Es folgt daraus, daß, wo immer die Mathematik von »Existenz« redet und wo sie ein bestimmtes Existenztheorem ausspricht, nicht dieses Theorem als solches das Wertvolle ist, sondern die im Beweise geführte Konstruktion. In diesem Sinne sagt Brouwer, daß die gesamte Mathematik »weit mehr ein Tun, denn eine Lehre« sei.121 Aber hier bedarf es zuvor der näheren Erklärung darüber, was im Bereich der Mathematik und innerhalb ihrer Grenzen unter dem Begriff des Tuns selbst zu verstehen ist. Das mathematische »Tun« ist ein rein intellektuelles Tun, das nicht in der Zeit verläuft, sondern das ein Grundmoment, auf dem die Zeit selbst beruht, das Moment der »Reihung«, erst selbst ermöglicht. Die Grundoperation, auf der sich das Zahlenreich gründet, darf somit nicht in einen Inbegriff von Einzelhandlungen aufgelöst werden, die im Verhältnis des empirischen »Nacheinander« zueinander stehen, so daß sie nur »nach und nach« ein Ganzes aufzubauen vermögen. Hier ist vielmehr das Ganze in aller Strenge »vor« den Teilen: in dem Sinne, daß das Prinzip der Operation, daß ihr erzeugendes Gesetz am Anfang steht und daß jegliche Einzelsetzung erst von ihm aus ihren Sinn erhält. Der Fortgang von Glied zu Glied innerhalb der Reihe erschafft dieses Prinzip nicht, sondern er expliziert es nur; er ist gewissermaßen die Auslegung dessen, was es ist und bedeutet. Das mathematische »Tun« ist demgemäß immer ein schlechthin universelles Tun, das in einer einzigen Grundsetzung eine Unendlichkeit möglicher Teilakte befaßt und sie vollständig übersehbar macht. Die ordnende Relation, von welcher aus120 Brouwer, Zur Begründung der intuitionistischen Mathematik, S. 463; vgl. oben, S. 397. 121 [S. Hermann Weyl, Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik (Vorträge, gehalten im mathematischen Kolloquium Zürich), in: Mathematische Zeitschrift 10 (1921), S. 39–79: S. 55.]
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gegangen wird, steckt ein für allemal einen Gesamtbereich möglicher Gegenstände ab, ohne daß es zur Gewinnung und Sicherung dieses Bereichs erforderlich wäre, die Einzelgegenstände in ihrer Individualität aufzuweisen und sie in diesem Sinne zu »konstruieren«. In Brouwers Vertretung des »Intuitionismus« scheint es indes, als ob diese beiden Gesichtspunkte nicht scharf auseinandergehalten würden. Er verlangt, wie es scheint, für jede mathematische Aussage von der Form: »es gibt« die Begründung in einem Einzelakt des »Gebens« – aber eben damit drohen sich für ihn die Grenzen des rein ideellen und des empirischen Gebens zu verwischen. Um diese Grenzen zu bezeichnen, kann man auf eine Unter | scheidung zurückgreifen, die Leibniz in einem anderen Problemzusammenhang geschaffen und durchgeführt hat. In seiner Kritik der Newtonschen Begriffe des absoluten Raumes und der absoluten Zeit geht er davon aus, daß diesen Begriffen die objektive physikalische Bedeutung abzusprechen ist, weil sie sich niemals in einer tatsächlichen Beobachtung belegen lassen. Ein Begriff, der sich nicht in konkreter Erfahrung zu legitimieren vermag, bleibt leer – es läßt sich ihm kein bestimmter und eindeutiger physikalischer »Gegenstand« zuordnen. Wenn wir z. B. von einer Veränderung sprechen, die das Universum in bezug auf die Art seiner »absoluten Bewegung« erfährt, so ist jede Annahme einer solchen Veränderung physikalisch bedeutungslos, sofern es für uns keinerlei Mittel gibt, ihr Sein oder Nichtsein zu konstatieren. Die Grenzen der Beobachtung sind demnach zugleich die Grenzen dessen, was wir als physische Realität bezeichnen können und dürfen. Dem Einwand aber, daß es Vorgänge in der Welt geben könne, ohne daß sie für uns mit den Mitteln unserer empirischen Forschung konstatierbar zu sein brauchen, begegnet Leibniz nun mit einer methodischen Verschärfung seiner ursprünglichen These. Die Elemente, aus denen sich für uns die Wirklichkeit der Natur, die Wirklichkeit der physikalischen Gegenstandswelt, aufbaut, brauchen keineswegs so beschaffen zu sein, daß sie sich einzeln durch unmittelbare Wahrnehmung erfassen lassen, aber sie müssen nichtsdestoweniger der mittelbaren Bewährung durch irgendein Datum der Erfahrung zugänglich sein. Nicht die aktuale, sondern die mögliche Beobachtung, nicht die »observation«, sondern die »observabilité« sei hier das Entscheidende.122 Man könnte im gleichen Sinne sagen, daß über die Gültigkeit eines mathematischen Gegenstandes nicht seine wirkliche, 122 Streitschriften zwischen Leibniz und Clarke (5. Schreiben, Abschn. 52), in: Philosophische Schriften, Bd. VII, S. 345–440: S. 403 (Näheres in meiner Schrift »Leibniz’ System«, S. 246 ff. [ECW 1, S. 219 ff.]).
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wohl aber seine mögliche Konstruktion, seine »Konstruktibilität« entscheide. Der Durchführung der aktualen Konstruktion bedarf es nicht, sobald das Denken sich aus einem allgemeinen Gesetz, aus einer Einsicht in die apriorische Struktur eines bestimmten Gebiets, der Konstruktionsmöglichkeit versichert hat. In der Sprache der Mengenlehre läßt sich der Grundunterschied, auf den wir hier hinzielen, am klarsten bezeichnen, wenn man an die verschiedenen Bedeutungen erinnert, die der Begriff der »definiten Menge« im Laufe der Entwicklung der Mengentheorie angenommen hat. In den Anfängen der Theorie wird dieser Begriff so weit gefaßt, daß eine Menge als hinreichend bestimmt angesehen wird, wenn von jedem beliebigen Objekt | des Denkens mit Sicherheit feststeht, ob es zu den Elementen der Menge zu zählen ist oder nicht. Jede in diesem Sinne elementardefinite Gesamtheit stellt für uns den Bestand einer Menge dar. Die Paradoxien der Mengenlehre nötigen dann, diese uneingeschränkte Verwendung des Mengenbegriffs fallenzulassen: Die Forderung der Elementardefinitheit wird durch die Forderung der Umfangsdefinitheit ersetzt. Nicht jeder durch Angabe einer Eigenschaft oder eines Gesetzes definierte Inbegriff konstituiert jetzt als solcher schon einen gültigen mathematischen Gegenstand; sondern wir müssen von diesem Inbegriff weiterhin verlangen, daß er ein ideal geschlossener sei, so daß es außerhalb eines gewissen abgeschlossenen Kreises von Dingen, der sich durch ein bestimmtes Konstruktionsprinzip abgrenzen läßt, keine Elemente der Menge mehr gibt. Noch einen Schritt weiter ist dann Brouwer gegangen, indem er lediglich entscheidungsdefinite Gesamtheiten zuläßt, für welche die Frage, ob in ihnen Elemente von vorgegebener Eigenschaft vorkommen, sich stets durch rein finite Prozesse zur Entscheidung bringen läßt.123 Dem Begriff der »Konstruktibilität«, wie wir ihn hier zu fassen versucht haben, würde die Forderung der »Umfangsdefinitheit«, aber nicht notwendig die der »Entscheidungsdefinitheit« entsprechen. Denn die letztere verlangt die wirklich vollzogene und zum Abschluß geführte Konstruktion, während die erstere sich mit der ideellen Möglichkeit der Konstruktion begnügt. »Ist […] eine im Gebiet der natürlichen Zahlen sinnvolle Eigenschaft«, so präzisiert Weyl den Unterschied seiner Auffassung von derjenigen Brouwers, »so daß es an sich fest123 Zu dieser dreifachen Abstufung des Mengenbegriffs vgl. Oskar Becker, Beiträge zur phänomenologischen Begründung der Geometrie und ihrer physikalischen Anwendungen, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 6 (1923), S. 385–560: S. 403 ff.; s. auch Fraenkel, Zehn Vorlesungen, S. 38 ff.
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steht, ob, wenn n irgendeine solche Zahl ist, der Zahl n zukommt oder nicht, so soll es nach Brouwer mit der Frage: Gibt es eine Zahl von der Eigenschaft oder nicht? ähnlich bestellt sein wie im Falle der Zahlfolgen; und das, obwohl der Begriff der natürlichen Zahl ja im Gegensatz zu dem der Folge […] umfangs-definit ist […] Brouwer begründet seine Ansicht damit, daß man keinen Grund hat zu dem Glauben, jede derartige Existentialfrage lasse sich entscheiden […] In bewußtem Gegensatz dazu habe ich bei meinem Versuch der Grundlegung der Analysis die Meinung vertreten: es komme nicht darauf an, ob wir mit gewissen Hilfsmitteln, z. B. den Schlußweisen der formalen Logik, imstande sind, eine Frage zur Entscheidung zu bringen, sondern wie sich die Sache an sich ver | hält ; es sei die natürliche Zahlenreihe und der auf sie bezügliche Existenzbegriff in der Weise Fundament der Mathematik, daß es für eine im Gebiet der Zahlen sinnvolle Eigenschaft immer an sich feststehe, ob Zahlen von der Art existieren oder nicht.«124 Auf die Möglichkeit und das Recht zu derartigen »an sich« gültigen Aussagen wird man in der Tat nicht Verzicht leisten können, ohne damit die objektive »Idee« der Zahl in den subjektiven Zählakt und damit das Prinzip des Idealismus in das des Psychologismus aufgehen zu lassen. Weyl selbst scheint freilich in der Unterschätzung des Generellen und »Abstrakten« noch zu weit zu gehen, wenn er Aussagen von der allgemeinen Form des »es gibt« überhaupt nicht als Urteile im eigentlichen Sinne, sondern höchstens als »Urteilsabstrakte« gelten läßt. Der Satz »2 ist eine gerade Zahl« ist nach ihm ein wirkliches, einem Sachverhalt Ausdruck gebendes Urteil – während der andere, daß es »eine gerade Zahl [gibt]«, nur ein aus diesem Urteil gewonnenes Urteilsabstrakt sei. Ein solches lasse sich mit einem Stück Papier vergleichen, welches das Vorhandensein eines Schatzes anzeigt, ohne jedoch den Ort, an dem er sich befindet, zu verraten. Eigentlicher Erkenntniswert läßt sich einem solchen Papier nicht beimessen: Denn realen Wert, den Lebensmitteln in der Volkswirtschaft vergleichbar, hat nur das Unmittelbare, das schlechthin Singuläre; alles Generelle nimmt nur mittelbar daran teil.125 Aber – so ließe sich das Bild, das hier gebraucht wird, weiterführen und umwenden – : Gehört denn wirklich zu den »realen« volkswirtschaftlichen Werten nur dasjenige, was in einem gegebenen Augenblick greifbar vorliegt, was sich als ein direkt vorhandenes und direkt nutzbares Gut darstellt? Muß nicht auch hier zwischen
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Weyl, Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik, S. 53. A. a. O., S. 54.
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dem, was in diesem Sinne real gegeben, und dem, was unter bestimmten Bedingungen realisierbar ist, unterschieden werden? Die Erkenntniskritik kann nicht versuchen, den Kredit des »Allgemeinen« zu bestreiten oder zu erschüttern: Sondern sie hat sich nur die Frage zu stellen, wie er in der rechten Weise fundiert werden kann. Mag sein, daß das »Generelle« im Sinne Weyls nicht als klingende Münze, sondern immer nur als ein Repräsentatives und Stellvertretendes, als eine bloße Zahlungsanweisung angesehen werden kann, so benimmt ihm dies doch nichts von seinem Wert, sofern nur seine »Einlösung« verbürgt und sichergestellt ist. Die Mathematik zum mindesten kann solcher rein repräsentativen Werte nirgends entbehren – so wahr sie sich nicht auf Einzel | aussagen einschränken kann, sondern ein System rein funktionaler Bestimmungen darstellt. Sie verlangt für die Gültigkeit ihrer allgemeinen Sätze niemals die Erfülltheit mit einem bestimmten singulären Gehalt, sondern lediglich die Erfüllbarkeit. Den wahrhaft universellen Grundurteilen der Mathematik aber ist ebendiese Erfüllbarkeit gesichert: Sie sind konkret-allgemein in dem Sinne, daß sie eine allumfassende Regel und zugleich deren unendlich vielfältige Anwendungsfälle in ein und demselben geistigen Blick zu umfassen erlauben. Das Singuläre des Anwendungsfalls begründet hierbei die Regel nicht, sondern belegt sie nur; an ihm stellt sie sich dar, ohne in ihm ihrer Bedeutung nach aufzugehen. Insofern sind allgemeine Urteile, die sich auf Existenzialsachverhalte beziehen, keineswegs, wie Weyl behauptet, »eine leere Erfindung der Logiker«. Denn wenn die generellen »Urteilsanweisungen«, wie er selbst zugibt und hervorhebt, eine unendliche Fülle wirklicher Urteile in ihrem Innern bergen, ja wenn sie »den Rechtsgrund für alle aus ihnen ›einzulösenden‹ singulären Urteile [formulieren]« – so kann doch wohl dieser Rechtsgrund selbst nicht aus dem bloßen Nichts stammen, sondern muß ein »objektives« Fundament besitzen.126 Auch der moderne mathematische Intuitionismus scheint indes nicht selten der Gefahr zu unterliegen, die in dem philosophischen Streit über das »Universalienproblem« so oft hervorgetreten ist. Seine begründete Kritik des Pseudo-Allgemeinen, des Allgemeinen des »abstrakten Begriffs«, greift auch auf das Echt-Allgemeine, auf das Allgemeine des konstruktiven Prinzips über. Beide aber sind, gerade wenn eine strenge Begründung der Mathematik und der »exakten Wissenschaft« gelingen soll, scharf voneinander zu trennen. Niemals kann eine solche Begründung gelingen, wenn man die Bedeutung des
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[A. a. O., S. 54 u. 56 f.]
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Allgemeinen abschwächt, wenn man sie in die des Singulären aufgehen läßt: Nur das eine kann und darf gefordert werden, daß diese Bedeutung nicht einfach »abstrahiert«, nicht zu einem abgelösten Sein gemacht, sondern daß sie in steter Berührung mit dem Besonderen gehalten und in durchgängiger Beziehung auf dasselbe gedacht wird. Diese Form des »Konkret-Allgemeinen« wird auch dann verkannt und verfehlt, wenn man sie als ein bloß Sekundäres und Abgeleitetes ansieht, das in irgendeiner Weise wieder auf die Wirklichkeit der »Dinge« reduziert werden muß. Der Versuch einer derartigen Reduktion ist nicht nur für gewisse empiristische Ableitungen des Zahlbegriffs, sondern auch für eine bestimmte Richtung innerhalb des reinen »Logizismus« bezeichnend. Empirismus und Logizismus begegnen sich hier in einer gemeinsamen »realistischen« Voraussetzung: Sie glauben beide, die reine | Gültigkeit der Zahl nicht anders sicherstellen zu können als dadurch, daß sie sie in einer vorausgegebenen Schicht des real Vorhandenen begründen. Der Empirismus geht hierbei auf die Existenz konkret-sinnlicher Mengen zurück: Er sucht die reinen Zahlaussagen so zu deuten, daß sie zu nichts anderem als zu Aussagen über unmittelbare Gegebenheiten der Wahrnehmung oder Anschauung werden. Denkt man diese Auffassung zu Ende, so wird die Arithmetik zu einem Teil der Physik. Mill verfuhr daher völlig konsequent, wenn er die arithmetischen Wahrheiten als abhängig vom Erfahrungsmaterial und vom Erfahrungs»milieu« ansah – wenn er folgerte, daß der Satz, daß 1 + 1 = 2 ist, für Bewohner des Sirius, die vielleicht unter anderen empirischen Bedingungen leben, keine notwendige Geltung zu haben brauche. Heute ist, nach Freges einschneidender Kritik, eine solche Art der »Begründung« der Arithmetik wohl allgemein verlassen. Aber der Aufbau der reinen Zahlenlehre, den Frege und die Logiker, die seinem Wege folgten, gegeben haben, entfernt sich nicht minder – wenngleich in einer völlig anderen Richtung – von dem Ideal einer wahrhaft »autonomen« Arithmetik. Denn auch hier ruht die letzte und eigentliche Wahrheit der Zahl nicht in ihr selbst, sondern in etwas anderem: Die Aussagen über Zahlen erhalten ihren objektiven Sinn und ihre objektive Gültigkeit erst dadurch, daß sie als Aussagen über Klassen erkannt werden. Die Existenz solcher Klassen, die jetzt freilich nicht mehr als sinnliche, sondern als rein begriffliche Mannigfaltigkeiten genommen werden, bildet die Grundlage für alle Sätze der reinen Zahlenlehre. Wie Mill von der Schicht der empirischen Dinge, so geht demnach Frege von bestimmten Begriffsdingen aus, die er als unumgänglich notwendiges Substrat des reinen Zahlenreichs betrachtet. Ohne ein solches Substrat würde nach ihm die Zahl gewissermaßen ihren Halt im Sein ver-
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lieren und völlig im Leeren schweben.127 Aber der rein funktionale Grundsinn der Zahl wird in gleicher Weise verkannt, wenn man ihn aus der empirischen »Existenz« der Dinge wie wenn man ihn aus der logischen »Essenz« der Begriffe abzuleiten sucht. Denn in beiden Fällen bedeutet die Zahl keine ursprüngliche Form der Setzung mehr, sondern erfordert etwas Vorausgegebenes und Vorausgesetztes. Auch für Russells Ableitung des Zahlbegriffs aus dem Klassenbegriff ist dieser Realismus kennzeichnend. Das erste ist ihm nicht der Begriff der Zahl, sondern | der Begriff der Gleichzahligkeit – und dieser läßt sich nicht anders denn als eine Eigenschaft bestimmter Klassen, nämlich als die Eigenschaft ihrer Elemente, sich einander gegenseitig eindeutig zuordnen zu lassen, definieren. So drückt z. B. der Begriff »Zwei« nichts anderes aus als eine Bestimmung, die sich an gewissen Dinggruppen – an den Dingen, die wir als »Paare« zu bezeichnen pflegen – unmittelbar vorfindet und von ihnen abstrahieren läßt, wie die Zahl »Zwölf« eine gemeinsame Eigenschaft aller »Dutzende« bezeichnet. Die Bedeutung der »Zwölf« hängt vom Sein der »Dutzende« ab: Denn die Zahl als solche kann nur als »Klasse von Klassen«, die durch die Beziehung der Äquivalenz miteinander verbunden sind, gedacht werden. Auch hier folgt also die Beziehung dem wenn auch noch so logisch gefaßten und logisch gereinigten Sein – statt daß aus ihr, aus dem Grundbestand der Beziehung, das Sein und seine Ordnung und Gliederung hergeleitet würde.128 Gegenüber all diesen Versuchen ist es ein Verdienst des »Intuitionismus«, daß er den Primat der Beziehung wiederherstellt und ihn zur grundsätzlichen Anerkennung bringt. Auf jeden Versuch, die Fundamente der reinen Zahlenlehre dadurch tiefer zu legen, daß man diese Lehre als bloßen Spezialfall einer allgemeinen Mengenlehre denkt und die Reihe der natürlichen Zahlen aus dem Klassen- und Mengenbegriff logisch »deduziert«, wird jetzt bewußt Verzicht geleistet. An Stelle einer solchen Deduktion tritt die »vollständige Induktion«. Dieser Name kann freilich Bedenken wecken; scheint er doch die Mathematik, statt an die Logik, an die empirische Wissenschaft heranzurücken und sie in einem Grundverfahren dieser Wissenschaft verankern zu wollen. Aber die »Induktion«, um die es sich hier hanZu dieser rein methodischen Analogie in Mills und Freges Begründung des Zahlbegriffs vgl. auch die treffenden Bemerkungen von Burkamp, Begriff und Beziehung (§ 77), S. 208 f. 128 Daß der »Realismus« des Klassenbegriffs den eigentlichen Kern und die Grundvoraussetzung von Russells Theorie der Zahl bildet, ist mit Recht von Léon Brunschvicg in seiner Kritik der Logistik hervorgehoben worden (Les étapes de la philosophie mathématique, Paris 21922, S. 394 ff. u. 412 ff.). 127
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delt, ist von dem Verfahren der »empirischen Verallgemeinerung«, das sonst durch diesen Terminus bezeichnet zu werden pflegt, durch einen scharfen Schnitt getrennt. Sie hat in sich den geschichtlich-ursprünglichen Sinn des Wortes: den Sinn der !παγωγ#, der »Hinführung« bewahrt. Die »Hinführung« wäre dieses Namens nicht wert, sie bliebe ein bloßes Tappen im Dunkeln, wenn sie nicht über ein allgemeines Richtmaß verfügte. Die echte mathematische Induktion sucht demnach nicht erst den Weg zum Allgemeinen, sondern sie weist diesen Weg; ja sie ist dieser Weg selbst. Und ihr eigentlicher Wegweiser ist nicht jener »induktive Schluß«, der von einer gegebenen Vielheit von | Fällen zu einer hypothetischen Vermutung oder Behauptung über die Allheit der Fälle fortschreitet, sondern der sogenannte »Schluß von n auf n+1«. In diesem Schluß werden nicht Bestimmungen, die an singulären Fällen, an einzelnen Zahlen gefunden und bewiesen worden sind, zusammengelesen und auf andere, gleichfalls singuläre Fälle übertragen, sondern es wird gewissermaßen in das absolute Prinzip der Zahl zurückgegangen: Es wird erkannt, daß dieselbe Grundbeziehung, die innerhalb der Zahlenreihe ein Glied mit seinem »unmittelbaren Nachfolger« verbindet, sich durch das Ganze dieser Reihe fortsetzt und sie in allen ihren Teilen bestimmt. Insofern liegt in der Tat – wie insbesondere Poincaré immer wieder betont hat – dem Prinzip der »vollständigen Induktion« eine echte »Synthesis a priori« zugrunde.129 Auch für Weyl ist dieses Prinzip einer weiteren Begründung weder bedürftig noch fähig, weil sich in ihm nichts anderes als die mathematische Urintuition, die Intuition des »immer noch eins« darstellt.130 Alle sogenannten »rekurrenten Beweise«131 in der Mathematik verfolgen kein anderes Ziel, als daß sie ein bestimmtes mathematisches Problem bis zu dieser letzten Erkenntnisquelle zurückleiten und es damit dem Punkte zuführen, an dem sich mit Gewißheit über dasselbe entscheiden läßt. Nicht irgendwelche Dingverhältnisse, sondern immer nur reine Setzungsverhältnisse – Verhältnisse, die auf die Funktionen der Einheitssetzung und VerHenri Poincaré, La science et l’hypothèse, Paris o. J. [1903] (Bibliothèque de philosophie scientifique); ders., Science et méthode, Paris 1908 (Bibliothèque de philosophie scientifique) (dt. Ausg.: Wissenschaft und Hypothese, dt. Ausg. mit erl. Anm. v. Ferdinand u. Lisbeth Lindemann, Leipzig 1904 [Wissenschaft und Hypothese, Bd. 1] u. Wissenschaft und Methode, autoris. dt. Ausg. mit erl. Anm. v. Ferdinand u. Lisbeth Lindemann, Leipzig/Berlin 1914 [Wissenschaft und Hypothese, Bd. 17]). 130 Vgl. Weyl, Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik, S. 58. 131 Zur methodischen Eigenart der »rekurrenten Beweise« vgl. z. B. die Darstellung bei Hölder, Die mathematische Methode, S. 298 u. 304. 129
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schiedenheitssetzung, der Reihung und Zuordnung zurückgehen – können die Apriorität der mathematischen Urteile und die ihnen eigentümliche spezifische »Evidenz« begründen. Die Logistik hat sich in ihrem Versuch, den Zahlbegriff aus dem Mengenbegriff abzuleiten, immer mit besonderem Nachdruck gegen den Vorwurf verwahrt, daß jeder solche Versuch eine Petitio principii in sich schließe: Sie hat darauf hingewiesen, daß der Sinn, in dem die Logik von »Identität« und »Unterschied« spreche, keineswegs schon die numerische Eins und die numerische Vielheit in sich fasse und daß es daher einen entschiedenen Fortschritt der Erkenntnis bedeute, wenn es gelinge, den »numerischen« Sinn auf den rein logischen zu reduzieren.132 Aber gleichviel wie es um das formale Recht dieses Vorwurfs der Petitio principii stehen mag: Das eine läßt sich | schwerlich bestreiten, daß die Deduktion des Zahlbegriffs aus dem Klassenbegriff im erkenntniskritischen, im streng »transzendentalen« Sinne ein 0στεCον πC τεCον in sich schließt. Denn um den Klassenbegriff mit einem bestimmten Gehalt zu erfüllen, muß man in ihn immer schon die Denkfunktionen der Setzung, der Identität, der Verschiedenheit hineinlegen – also die gleichen Beziehungen, die zur Konstitution des Zahlbegriffs erforderlich sind und aus denen dieser sich, ohne den Umweg über die »Klasse« zu nehmen, direkt gewinnen läßt.133
III. Die Stellung des »Zeichens« in der Theorie der Mathematik Blicken wir jetzt noch einmal auf die verschiedenen Begründungsversuche der Zahl zurück, die in der modernen Mathematik hervorgetreten sind, so liegt der auffallendste Zug in all diesen Versuchen vielleicht darin, daß uns jeder zuletzt an einen Punkt hinführt, an dem die Kompetenz der reinen Mathematik zu versagen droht. Der mathematischen Problematik tritt schließlich eine Problematik von ganz anderem Sinn und Ursprung gegenüber: Die Entscheidung scheint der reinen Mathematik aus der Hand genommen zu werden und der »Weltanschauung« des einzelnen Forschers überlassen werden zu müssen. Schon Paul DuBois-Reymond hat in seiner »Allgemeinen Functionentheorie« diese paradoxe Folgerung gezogen – schon er hat erklärt, daß der 132 Vgl. z. B. Louis Couturat, Die philosophischen Prinzipien der Mathematik (Kap. 2), übers. v. Carl Siegel, Leipzig 1908 (Philosophisch-soziologische Bücherei, Bd. 7); Russell, The Principles of Mathematics (Kap. 15, § 127 ff.), S. 132 ff. 133 Vgl. hierzu z. B. Burkamp, Begriff und Beziehung (4. Studie: Klasse und Zahl in der Begriffslogik), S. 182 ff.
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Kampf zwischen dem »Idealisten« und »Empiristen« sich nicht nach streng objektiven, allgemeingültigen Kriterien entscheiden lasse, sondern daß hier ein Gebiet erreicht sei, an dem das philosophische Glaubensbekenntnis des einzelnen in sein Recht trete. So hat man denn in der Tat die Brouwersche Lehre gelegentlich als den »zu Ende gedachte[n] Idealismus in der Mathematik«134 bezeichnet – während die Lehren von Frege und Russell eine unverkennbare Verwandtschaft mit bestimmten Richtungen des scholastischen »Realismus« an sich tragen. Wie jedoch im mittelalterlichen Universalismus das Problem in eine neue Phase eintritt, sobald in der Philosophie Wilhelm von Ockhams eine neue Lehre, die Lehre des sogenannten »Terminismus«, auf den Plan tritt, so scheint eine analoge Entwicklung sich auch heute im Lager der reinen Mathematik zu vollziehen. In dem Kampf um die »Objektivität« der Mathematik tritt gewissermaßen ein Frontwechsel ein, sobald die Frage, statt direkt auf die mathematischen Gegenstände, vielmehr auf die mathematischen Zeichen hin gerichtet wird. Jenseits von »Idealismus« und »Realismus« erhebt sich jetzt der »Formalismus« als eine selbstän | dige Macht. Und mit ihm erst erscheint die Gefahr einer Gebietsüberschreitung der Mathematik, einer methodischen µετβασις ες &λλο γ'νος endgültig überwunden. Die Mathematik scheint ihre bedrohte Autonomie nur dadurch retten und wiedergewinnen zu können, daß sie sich entschließt, zu einer reinen Lehre von den »Zeichen« zu werden. In der gegenwärtigen Mathematik ist es Hilbert, der diese Konsequenz am schärfsten gezogen hat. Er steht in scharfem Kampf wider den Intuitionismus, gegen welchen er die »klassische« Form der Analysis und der Mengenlehre wieder zu Ehren zu bringen sucht. Aber auf der anderen Seite war es die äußerste kritische Vorsicht gegenüber der »ungebundenen« Mengenbildung, war es das Mißtrauen gegen die »transfiniten« Schlußweisen der Mengentheorie, woraus seine Lehre erwuchs. So wendet er sich, wie gegen den Intuitionismus, auch gegen den »extremen Begriffsrealismus«, den er in Freges Lehre verkörpert sieht. Und Dedekinds Idee, die endliche Zahl auf das Unendliche, auf das »System aller Dinge«, zu gründen, erscheint ihm zwar glänzend und bestechend, aber er betont aufs schärfste, daß durch die Paradoxien der Mengenlehre die Ungangbarkeit dieses Weges außer Zweifel gesetzt sei.135 Nichtsdestoweniger hieße es die Eigenart von Hilberts Lehre verken[Weyl, Die heutige Erkenntnislage in der Mathematik, S. 24.] David Hilbert, Neubegründung der Mathematik. Erste Mitteilung, in: Abhandlungen aus dem mathematischen Seminar der Hamburgischen Universität 1 (1922), S. 157–177: S. 162. 134 135
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nen, wenn man in ihr lediglich einen Ausgleich und einen Mittelweg zwischen zwei gedanklichen Extremen sehen wollte. Was sie geben will, ist vielmehr eine neue intellektuelle Gesamtorientierung. Das abstrakte Operieren mit allgemeinen Begriffsumfängen und -inhalten hat, wie Hilbert betont, das mathematische Denken immer wieder auf Irrwege verlockt: Es gilt, mit dieser Methode entschlossen zu brechen und einen Weg zu finden, auf dem das Denken nicht nur nach einem bestimmt vorgezeichneten Plane fortschreiten, sondern auf dem es auch jeden seiner Schritte gleichzeitig einer Nachprüfung unterwerfen kann. Eine solche kritische Instanz ist es, die Hilbert in seiner »Beweistheorie« zu schaffen versucht. In ihr ist der Grundgedanke von Leibniz’ »allgemeiner Charakteristik« von neuem aufgenommen und auf einen prägnanten und zugespitzten Ausdruck gebracht. Der Prozeß der »Bewährung« ist von der Seite des inhaltlichen Denkens nach der des »symbolischen« Denkens verschoben. Als Vorbedingung für die Anwendung logischer Schlüsse und für die Betätigung logischer Operationen müssen uns immer schon gewisse sinnlich-anschauliche Charaktere in der Vorstellung gegeben sein. An ihnen gewinnt das Denken erst einen sicheren Leitfaden, an welchem es sich fortbewegen | muß, wenn es sich von aller Täuschung freihalten will. »Indem ich diesen Standpunkt einnehme«, so faßt Hilbert diese seine Grundansicht zusammen, »sind mir – im genauen Gegensatz zu Frege und Dedekind – die Gegenstände der Zahlentheorie die Zeichen selbst, deren Gestalt unabhängig von Ort und Zeit und von den besonderen Bedingungen der Herstellung des Zeichens sowie von geringfügigen Unterschieden in der Ausführung sich von uns allgemein und sicher wiedererkennen läßt. Hierin liegt die feste philosophische Einstellung, die ich zur Begründung der reinen Mathematik – wie überhaupt zu allem wissenschaftlichen Denken, Verstehen und Mitteilen – für erforderlich halte: am Anfang – so heißt es hier – ist das Zeichen. « 136 Macht man mit dieser Einstellung Ernst, so scheint freilich die gesamte reine Mathematik nunmehr in ein bloßes Spiel aufzugehen. Denn wenn die Zeichen nicht etwa bloß die vermittelnde Rolle spielen, daß uns durch sie bestimmte ideale Sachverhalte repräsentiert werden, sondern wenn sie selbst und die Art ihrer Zusammenstellung, die Art, in der sie sich zu anschaulichen Gruppen und »Formeln« vereinen, den Gegenstand der mathematischen Betrachtung bilden – so bleibt diese Betrachtung fortan in sich selbst gefangen. Sie bewegt sich mit vollkommener Sicherheit in ihrem Kreise – aber diese Bewegung hat keinen Richtpunkt mehr, auf den sie abzielt. Für diese seine Grund136
A. a. O., S. 163.
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auffassung glaubt sich Hilbert auf keinen Geringeren als auf Kant berufen zu können. Der Sinn der »transzendentalen Ästhetik« scheint ihm eben darin zu bestehen, daß bloße Logik nie und nimmer die Mathematik erschaffen könne, sondern daß hierfür stets der Halt an der »Anschauung« notwendig und unerläßlich sei. Aber diese letztere selbst wird von ihm keineswegs im Sinne der »reinen Anschauung« Kants – sie wird nicht als »apriorische Form«, sondern als ein Ganzes konkret-sinnlicher Daten genommen. »Soll das logische Schließen sicher sein, so müssen sich die […] Objekte vollkommen in allen Teilen überblicken lassen und ihre Aufweisung, ihre Unterscheidung, ihr Aufeinanderfolgen oder Nebeneinandergereihtsein ist mit den Objekten zugleich unmittelbar anschaulich gegeben als etwas, das sich nicht noch auf etwas anderes reduzieren läßt oder einer Reduktion bedarf. [I]n der Mathematik sind Gegenstand unserer Betrachtung die konkreten Zeichen selbst, deren Gestalt unserer Einstellung zufolge unmittelbar deutlich und wiedererkennbar ist.«137 Man hat sich bisweilen auf diese Sätze berufen, um Hilbert selbst zu einer Art von »Intuitionisten« zu | stempeln. Aber diese scheinbare Analogie verschwindet, sobald man näher in die Voraussetzungen von Hilberts System eingeht. Denn die Anschauung steht innerhalb dieses Systems an einer ganz anderen Stelle und ist von völlig anderem Gebrauch als in der intuitionistischen Begründung der Mathematik. Sie spielt nicht, wie in dieser, eine aktive, sondern eine passive Rolle – sie ist eine Art der »Gegebenheit«, nicht eine Art des »Gebens«. Für den Intuitionisten bedeutet die »Urintuition« der ganzen Zahl ein konstruktives Prinzip, aus dessen fortgesetzter Anwendung eine unendliche Mannigfaltigkeit von Zahlindividuen sich erzeugt – für Hilbert erschöpft sich die Aufgabe der Anschauung darin, daß sie uns mit gewissen außerlogischen diskreten Objekten versieht, die wir, so wie sie als unmittelbares Erlebnis vor allem Denken da sind, einfach hinzunehmen haben.138 Zwar können auch die Zeichen in Hilberts symbolischer Mathematik nicht schlechthin als singuläre Dinge verstanden werden, die lediglich durch einen einfachen Akt des Hinweisens, als ein »Dies« und »Das«, als ein τ δε τι, aufzeigbar sind. Denn sie können in gewissen Bestimmungen – z. B. nach dem Material, aus dem sie gebildet sind, nach ihrer Farbe, ihrer Größe usf. – in weitem Maße variieren, ohne darum aufzuhören, »dieselben« Zeichen zu sein. An sich verschiedene sinnliche Inhalte können also als das »gleiche« Zeichen fungieren: Ihr 137 Ders., Über das Unendliche, in: Mathematische Annalen 95 (1925), S. 161– 190: S. 170 f. 138 Vgl. ders., Neubegründung der Mathematik, S. 162 f.
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Wiedererkennen wird nicht dadurch aufgehoben, daß sie in untergeordneten Einzelzügen voneinander abweichen. Nichtsdestoweniger bleibt es in aller Strenge dabei, daß das mathematische Denken nicht etwa darauf angewiesen ist, den Zeichen irgendeine abstrakte »Bedeutung« zu substituieren, sondern daß es sich an ihnen, als konkretanschaulichen Gebilden, festhält und sich vermittelst dieser Gebilde auf seinem Wege orientiert. Die »Formalisierung« der mathematischen Schlußprozesse muß nach Hilbert bis zu einem solchen Grade durchgebildet werden, daß jeder Widerspruch im Denken sich unmittelbar im Auftreten bestimmter Zeichenkonstellationen verrät. Ist die allgemeine »Beweistheorie« einmal bis zu diesem Punkte vorgedrungen, so ist das Denken von jeglicher inhaltlichen Betrachtung entlastet. Etwaige Widersprüche, in die es sich verstrickt hat, brauchen jetzt nicht mehr mühsam in einem schwierigen »diskursiven« Prozeß als solche entdeckt zu werden – sondern sie springen gewissermaßen unmittelbar »in die Augen«. Wo immer innerhalb eines Beweises Formeln von einer bestimmten, durch die allgemeine Theorie verpönten Beschaffenheit auftreten, da läßt sich an ihnen das Auftreten des Widerspruches feststellen | – wenn sich umgekehrt ergibt, daß in einer noch so weit getriebenen Schlußkette niemals derartige »verbotene« Formeln vorkommen können, so ist eben hierdurch die Widerspruchslosigkeit dieser Kette erwiesen und sichergestellt. Hier scheint daher der moderne mathematische »Terminismus« in genau der gleichen Richtung weitergetrieben zu werden, die für die Entwicklung des logischen Terminismus des Mittelalters bestimmend geworden ist. Wie für diesen letzteren die Worte der Sprache zu leeren Schällen, zu »flatus vocis«, wurden, so werden für den ersteren die Zeichen zu bloßen anschaulichen Figuren, denen kein selbständiger »Sinn« innewohnt. Die Gegner von Hilberts Theorie haben mit ihren Einwänden immer wieder an diesem Punkte eingesetzt. Wenn die Mathematik durch Hilberts Beweistheorie in ihrer Wahrheit gesichert wird – so haben sie eingeworfen –, so wird sie doch eben damit zugleich in eine ungeheure Tautologie verwandelt: Denn die Geltung, die ihr jetzt zugestanden wird, ist nicht mehr diejenige einer objektiven Erkenntnis, sondern die einer bloßen konventionellen Spielregel – durchaus vergleichbar den Regeln, die für das Schachspiel gelten. Für den Intuitionisten drückt sich in den mathematischen Symbolen eine wesentliche Grundrichtung und Beschaffenheit des menschlichen Intellekts aus – für den Formalisten seien sie nichts anderes als »Zeichen auf dem Papier«.139 139 Vgl. Weyl, Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft, S. 44 ff. und Weyls Aufsatz über »Die heutige Erkenntnislage in der Mathematik« (S. 24 ff.).
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Aber Weyl, der diesen Einwand erhebt, gerät freilich selbst wieder in Schwierigkeiten, sobald er die negative These des Konventionalismus zu überwinden und sie durch eine positive Behauptung zu ersetzen sucht. Auf zwei verschiedenen Wegen versucht er den mathematischen Symbolen eine objektive Bedeutung zu sichern, indem er sie das eine Mal im Hinblick auf die physikalischen Anwendungen, das andere Mal sub specie der Metaphysik betrachtet. Soll Mathematik eine »ernsthafte Kulturangelegenheit« bleiben – so folgert er –, so müsse sich doch mit dem Hilbertschen Formelspiel irgendein Sinn verknüpfen lassen. Aber wo ist nun das Jenseits, auf das sich die Symbole der Mathematik richten? »Ich finde es nicht, wenn ich nicht die Mathematik sich völlig mit der Physik verschmelzen lasse und annehme, daß die mathematischen Begriffe von Zahl, Funktion usw. (oder die Hilbertschen Symbole) prinzipiell in der gleichen Art an der theoretischen Konstruktion der wirklichen Welt teilnehmen wie die Begriffe Energie, Gravitation, Elektron u. dgl.« Aber damit ist es nicht genug: Denn auch den transfiniten Bestandteilen der Mathematik, die weit über die Erfordernisse der Physik | hinausgreifen, soll ja eine selbständige Bedeutung beigelegt werden. Von dem Gedanken einer solchen Bedeutung können wir nicht lassen – aber wir dürfen uns freilich nicht verhehlen, daß wir damit in ein Gebiet eingetreten sind, das sich nicht mehr schauen, sondern an das sich nur noch – glauben läßt. »In der Theorie gelingt es dem Bewußtsein, ›über den eigenen Schatten zu springen‹, den Stoff des Gegebenen hinter sich zu lassen, das Transzendente darzustellen; aber, wie sich von selbst versteht, nur im Symbol. Theoretische Gestaltung ist etwas Anderes als anschauende Einsicht; ihr Ziel nicht minder problematisch wie das der künstlerischen Gestaltung. Über den Idealismus, der den erkenntnistheoretisch verabsolutierten naiven Realismus zu zerstören berufen ist, erhebt sich ein drittes Reich […] Wenn ich die phänomenale Einsicht als Wissen bezeichne, so ruht die theoretische auf dem Glauben – dem Glauben an die Realität des eigenen und fremden Ich oder die Realität der Außenwelt oder die Realität Gottes.«140 Hier haben wir in schärfster Zuspitzung den Gegensatz vor uns, der den Methodenstreit innerhalb der modernen Mathematik beherrscht. Die mathematischen Zeichen können entweder als Selbstzweck, als die eigentlichen Gegenstände der mathematischen Erkenntnis angesehen werden, oder es muß ihnen irgendeine Art von geistigem Leben eingehaucht werden – und dieses Leben scheint ihnen 140 Vgl. ders., Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft, S. 50 ff., ders., Die heutige Erkenntnislage in der Mathematik, S. 30 ff. [Zitate S. 30 f.].
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nur dadurch zuteil werden zu können, daß sie auf etwas anderes außerhalb ihrer selbst bezogen und als symbolische Darstellungen dieses anderen verstanden werden. Wird jedoch einmal dieser Weg beschritten, wird den mathematischen Gebilden ein »transienter« Sinn beigelegt, so scheint es für den Gedanken keine Grenze mehr geben zu können – von der transienten wird er unaufhaltsam zur transzendenten Bedeutung weitergetrieben. Jetzt aber, nachdem wir durch die Betrachtung der heutigen Erkenntnislage in der Mathematik bis zu diesem Punkte vorgedrungen sind, gilt es an ihm innezuhalten und wieder auf unsere eigene systematische Problemstellung zurückzublicken. Was uns diese Problemstellung gelehrt hat, ist ebendies, daß die Disjunktion, vor welcher wir hier stehen, nicht eindeutig und nicht vollständig ist. Immer wieder sind wir im Laufe unserer Untersuchung zu der Einsicht geführt worden, daß der echte und wahrhafte Begriff des »Symbolischen« sich den herkömmlichen metaphysischen Einteilungen und Dualismen nicht fügt, sondern daß er ihren Rahmen sprengt. Das Symbolische gehört niemals dem »Diesseits« oder »Jenseits«, dem Gebiet der »Immanenz« oder »Transzendenz« an: Sondern | sein Wert besteht eben darin, daß es diese Gegensätze, die einer metaphysischen Zweiweltentheorie entstammen, überwindet. Es ist nicht das eine oder das andere, sondern es stellt das »eine im anderen« und das »andere im einen« dar. So konstituiert die Sprache, der Mythos, die Kunst je ein selbständiges und charakteristisches Gefüge, das seinen Wert nicht dadurch erhält, daß in ihm ein äußeres und jenseitiges Dasein irgendwie »abgespiegelt« erscheint. Ihr Gehalt wird ihnen vielmehr dadurch zuteil, daß sie, je nach einem eigenen ihnen innewohnenden Bildungsgesetz, eine eigentümliche und selbständige, in sich geschlossene Welt des Sinnes aufbauen. So wirkt in ihnen allen, wie sich zeigte, ein Prinzip der »objektiven« Formung und Gestaltung. Sie sind Weisen des »Werdens zum Sein«, der γ'νεσις ες οσαν, wie Platon sagt. Wenden wir diese allgemeine Einsicht nunmehr auf die Welt des Mathematischen an, so sehen wir uns auch hier der Alternative enthoben, die Symbole der Mathematik in »bloße« Zeichen, in anschauliche Figuren ohne Sinn, aufgehen lassen zu müssen oder ihnen einen transzendenten Sinn unterzulegen, den nur der metaphysische oder religiöse »Glaube« erreichen kann. Denn in beiden Fällen würden wir die ihnen eigentümliche Bedeutung verfehlen. Diese besteht nicht in dem, was sie an sich »sind«, noch in etwas, was sie »nachbilden«, sondern in einer spezifischen Richtung des ideellen Bildens selbst – nicht in einem äußeren Objekt, auf das sie zielen, sondern in einer bestimmten Weise der Objektivierung. Die Welt der mathematischen Formen ist eine
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Welt von Ordnungsformen, nicht von Dingformen. Ihre »Wahrheit« kann daher nicht dadurch bestimmt werden, daß wir den Zeichen, in welchen sie sich darstellt, ihre signifikative Bedeutung nehmen und gewissermaßen nur ihren sachlich-physischen Gehalt übriglassen141 – noch auch dadurch, daß wir irgendwelche existierende Einzelgegenstände aufweisen, denen diese Zeichen unmittelbar entsprechen. Der spezifische Wert des Mathematischen kann vielmehr nur dadurch erkannt, sein »quid juris« kann nur dadurch aufgewiesen werden, daß man ihm seine Stelle im Ganzen des Objektivationsprozesses der Erkenntnis zuweist. Es ist ein notwendiges Moment in diesem Prozeß, nicht aber ein Teil und Abbild einer transzendenten Wirklichkeit – mag diese nun als physisch oder als metaphysisch angesehen werden. Halten wir an diesem Gesichtspunkt, der uns durch das Ganze | unserer Betrachtung vorgeschrieben ist, fest, so klären sich von ihm aus die Schwierigkeiten, die, wie wir gesehen haben, das Verhältnis des Mathematischen zum Logischen wie das Verhältnis des Mathematischen zum »anschaulichen« Sein umgeben. Die Unterschiede, die hier bestehen, treten erst dann in wahrhafter Schärfe hervor, wenn man sie nicht als dingliche, sondern als funktionale Unterschiede versteht und wertet. Die logische Welt, die mathematische Welt wie die empirisch-gegenständliche Welt: sie alle haben insofern eine gemeinsame Grundlage, als es ein und dieselbe Urschicht reiner Beziehungsformen ist, in der sie sämtlich wurzeln. Ohne diese Formen, ohne kategoriale Bestimmungen wie Einheit und Andersheit, wie Gleichheit und Unterschied, wäre es sowenig möglich, ein Ganzes logischer Gegenstände wie einen Inbegriff mathematischer Gegenstände oder eine Ordnung empirischer Objekte zu denken. Aber vom Logischen zum Empirischen, von der reinen Denkform zum Gegenstand der Erfahrung führt ein bestimmter Stufengang, in dem das Mathematische als ein unentbehrlicher Durchgangspunkt erscheint. Dem logischen Gegenstand gegenüber weist der mathematische bereits eine Fülle neuer, »konkreter« Bestimmungen auf; denn der Form der Setzung, der Unterscheidung, der Beziehung überhaupt fügt er eine bestimmte Setzungsart, fügt er jenen spezifischen Modus des Setzens und Ordnens hinzu, der sich im System der Zahlen und in der »natürlichen Zahlenreihe« darstellt. Nach der anderen Seite hin aber 141 Vgl. z. B. Hilbert, Neubegründung der Mathematik, S. 163: »[A]uf dieser rein anschaulichen Basis der konkreten Zeichen [soll] die Wissenschaft der Zahlentheorie zustande kommen […] Diese Zahlzeichen, die Zahlen sind und die Zahlen vollständig ausmachen, sind selbst Gegenstand unserer Betrachtung, haben aber sonst keinerlei Bedeutung.«
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erweist sich dieser neue Modus als die unerläßliche Vorbereitung und Vorbedingung, um zu einer Ordnung der Wahrnehmungswelt und damit zu jenem Gegenstand, den wir den Gegenstand der »Natur« nennen, zu gelangen. Auch hier indes liegt die objektive Bedeutung des Mathematischen nicht darin, daß es in der Natur, in der physischen Welt irgendwelche unmittelbare Korrelate besitzt, sondern darin, daß es diese Welt ihrer Struktur nach aufbaut und sie damit ihrer Gesetzlichkeit nach verstehen lehrt. In diesem Sinne weist der logische Gegenstand auf den mathematischen, der mathematische auf den empirisch-physikalischen Gegenstand hin – nicht als könnte in irgendeinem verständlichen Sinne der eine als Kopie oder Nachbildung des anderen angesehen werden, wohl aber darum, weil jeder von ihnen ein bestimmtes Stadium der Gegenstandssetzung vertritt und weil das Prinzip der Einheit der Erkenntnis die Forderung in sich schließt, alle diese Stadien nicht getrennt, sondern in wechselseitiger Beziehung aufeinander zu begreifen. Erst von dieser grundsätzlichen Einsicht aus läßt sich eine wahrhaft befriedigende Antwort auf die Frage nach dem »Wahrheitswert« der | mathematischen Symbole gewinnen. Denn jetzt brauchen wir, um zu einer solchen Antwort zu gelangen, die mathematischen Begriffe nicht unmittelbar an der »absoluten« Wirklichkeit der Dinge zu messen, sondern der Vergleich betrifft lediglich die mathematische Er kenntnisform auf der einen, die logische und die physikalische Erkenntnisform auf der anderen Seite. Und das Ergebnis dieses Vergleichs besteht zuletzt darin, daß keine dieser Formen für sich allein, sondern daß sie nur in ihrem Zusammenhang und in ihrem wechselseitigen Ineinandergreifen das objektive »Sein« und die Sphäre der objektiv-theoretischen Geltung aufbauen – daß also keiner von ihnen eine schlechthin isolierte Wahrheit und Gültigkeit zukommt, sondern daß sie diese immer nur im Ganzen, im Stufengang und System der Erkenntnis, besitzen. So können wir auch nicht mit Weyl das Gebiet der »anschauenden Einsicht« durch einen scharfen Schnitt von dem der »theoretischen Gestaltung« scheiden und das eine dem »Wissen«, das andere dem »Glauben« zuweisen. Denn es gibt für uns keine losgelösten, an sich bestehenden anschaulichen »Erlebnisse«, die nicht schon mit irgendwelchen theoretischen Bedeutungsfunktionen erfüllt und ihnen gemäß gestaltet wären – wie es andererseits nichts bloß Bedeutungsgemäßes gibt, das nicht seine Erfüllung irgendwie im Anschaulichen suchen und finden müßte. Wir können »Bedeutung« nicht anders als durch Rückbeziehung auf die »Anschauung« erfassen – wie uns Anschauliches nie anders als im »Hinblick« auf Bedeutung »gegeben« sein kann. Halten wir hieran fest, so entgehen wir damit
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der Gefahr, daß das Symbolische unserer Erkenntnis sich in sich selber spaltet, daß es gewissermaßen in einen »immanenten« und einen »transzendenten« Bestandteil auseinanderbricht. Das Symbolische ist vielmehr Immanenz und Transzendenz in einem: sofern in ihm ein prinzipiell überanschaulicher Gehalt in anschaulicher Form sich äußert. Auch der Wert, den ein streng »formalistischer« Aufbau der Mathematik besitzt, rückt damit in ein neues Licht. An sich kann dieser Wert kaum überschätzt werden: Es dürfte kaum zuviel gesagt sein, wenn man behauptet, daß die Mathematik ihren alten Rang und Ruf als »strenge Wissenschaft« nur dann wird rechtfertigen und bewahren können, wenn die Aufgabe ihrer »Formalisierung«, wie Hilbert sie versteht, wahrhaft zu Ende geführt werden kann. Denn damit hätte sich wieder jenes logische Wunder begeben, das im Wesen des Mathematischen selbst gegründet liegt: Die Frage nach dem Unendlichen wäre der endlichen Entscheidung, der Entscheidung durch »finite« Prozesse zugänglich gemacht. | Hilbert selbst bezeichnet es als den eigentlichen Vorzug seiner Theorie, daß durch sie die Idee des Unendlichen mittels des Endlichen methodisch begründet und gesichert werde.142 Aber wie gebieterisch auch die Vollendung der Mathematik die Durchführung und die reine Ablösung des streng formalistischen Gesichtspunkts verlangen mag – so fällt doch andererseits dieses mathematisch-technische Interesse nicht mit dem rein erkenntniskritischen zusammen. Die Erkenntniskritik muß zuletzt wieder die Herstellung der Einheit zwischen den beiden Grundmomenten verlangen, die die mathematische Abstraktion mit Recht auseinanderlegt. In der Tat schließen sich, erkenntniskritisch verstanden, »Formalismus« und »Intuitionismus« keineswegs aus und sind gegeneinander nicht disparat. Denn ebendas, was in der reinen Intuition seiner Bedeutung nach erfaßt ist, muß durch den Prozeß der Formalisierung festgehalten und aufbewahrt, muß als stets verfügbarer Besitz dem Denken einverleibt werden. In diesem Sinne hat schon Leibniz, einer der konsequentesten Vertreter des streng formalistischen Standpunkts, die »intuitive« und die »symbolische« Erkenntnis nicht voneinander getrennt, sondern beide unlöslich miteinander verknüpft. Die erstere schafft nach ihm die Grundlagen der Mathematik – die letztere sorgt dafür, daß von diesen Grundlagen aus durch lückenlose Beweisketten zu den Folgerungen weitergegangen wird. Das Denken bedarf auf diesem seinem Wege nicht des ständigen Hinblicks auf die idealen Sachverhalte
142
Vgl. Hilberts Aufsatz »Über das Unendliche«.
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selbst: Es kann sich, auf weite Strecken hin, damit begnügen, an Stelle der Operation mit den »Ideen« die Operation mit den »Zeichen« zu setzen. Aber schließlich muß es freilich einmal an einem Punkt anlangen, an dem es nach dem »Sinn« der Zeichen fragt – an dem es eine inhaltliche Interpretation dessen fordert, was in den Zeichen ausgedrückt und dargestellt wird. So wird der mathematische Symbolismus von Leibniz dem Fernrohr oder dem Mikroskop verglichen. Wie sehr durch beide das Sehen des Menschen auch gefördert wird, so kann es doch durch sie nicht ersetzt werden. Die mathematische Erkenntnis beruht, als eine Form des intellektuellen Sehens, auf einer ursprünglichen und selbständigen Funktion der Vernunft, die sich der symbolischen Charaktere nur als Werkzeug bedient. Auch die gewaltige Erweiterung und Vertiefung, die der mathematische Formalismus durch Hilbert erfahren hat, zwingt, soviel ich sehe, nirgends dazu, diese prinzipielle Entscheidung umzustoßen. Denn der Aufbau und Ausbau seines Zeichensystems wäre Hilbert nicht möglich gewesen, wenn er nicht hierbei die | Begriffe der Ordnung und der Reihenfolge als »Urbegriffe« zugrunde gelegt hätte. Die Hilbertschen Zahlen sind, auch wenn sie als bloße Zeichen genommen werden, immer schon Stellenzeichen: Sie sind mit einem bestimmten »Index« versehen, der die Art ihres Aufeinanderfolgens kenntlich macht. Selbst wenn wir also die einzelnen Zeichen als nichts anderes denn als rein anschaulich gegebene außerlogische diskrete Objekte ansehen, so stehen doch ebendiese Objekte in ihrer Gesamtheit nicht einfach als voneinander unabhängige Elemente nebeneinander, sondern sie besitzen eine bestimmte Gliederung. Gehen wir von der 0 als Anfangszeichen aus, so gelangen wir von hier aus in einem bestimmten Fortgang zu einem »nächsten« Zeichen 0, von diesem zu 0, zu 0 usf. Dies heißt zuletzt nichts anderes, als daß die einzelnen Zeichen, um sicher voneinander unterschieden zu werden, gemäß einer bestimmten Ordnung auseinandergehalten werden müssen – und dieses Auseinanderhalten ist im Grunde schon ein »Zählen« im inhaltlichen Sinne des Wortes. Die Striche, die wir benutzen, um 0 von 0, 0 von 0 usw. zu sondern, fungieren hier bereits als Zahlen im Sinne einer rein »ordinalen« Ableitung des Zahlbegriffs. Im ganzen läßt sich sagen, daß dem »intuitiven« Denken die Grundlegung des mathematischen Gebäudes, dem symbolischen Denken dagegen sein Ausbau und seine Sicherung zufällt. Beide Aufgaben gehören, erkenntniskritisch betrachtet, gewissermaßen verschiedenen Ebenen an. Für Hilbert gilt der Satz, daß »am Anfang das Zeichen war«, weil und sofern er es als die wesentliche Aufgabe seiner Theorie ansieht, daß sie den Irrtum verhüten, daß sie das mathematische Denken vor Widerspruch bewahren
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soll. Aber was der Abwehr des Irrtums dient, das ist damit noch nicht der volle hinreichende Grund der Wahrheit. Dieser kann zuletzt doch nur in bestimmten synthetischen Verknüpfungen des Denkens gefunden werden, die den Aufbau eines bestimmten Gegenstandsbereichs begründen und die Beherrschung dieses Bereichs durch allgemeine Gesetze ermöglichen. Leibniz hat neben einer analytischen Logik, die eine vollständige und lückenlose Übersicht über das Gefundene gibt und dessen systematische Zusammenhänge darstellt, eine »Logica inventionis«, eine Logik des Erfindens, gefordert. Im Sinne dieser Unterscheidung ließe sich sagen, daß der Formalismus ein unentbehrliches Instrument für die Logik des Gefundenen ist, daß er dagegen das Prinzip des mathematischen »Findens« nicht aufdeckt. Hilbert spricht gelegentlich davon, daß seine Theorie das Ziel verfolge, die Staatsmacht der Mathematik vor allen »Putschversuchen«, wie sie gegenüber der klassischen Analysis versucht worden seien, für | alle Zeiten sicherzustellen.143 Aber auch wenn die Beweistheorie dieses ihr Ziel einmal vollständig erreicht haben wird, wird dem Logiker und Erkenntniskritiker noch immer die Frage erlaubt sein, ob die Kräfte, die hier zum Schutze der mathematischen Staatsmacht aufgerufen werden, dieselben sind, die die Herrschaft der Mathematik im Reich des Geistes begründet haben und die sie ständig erweitern und mehren. Der Formalismus ist ein unvergleichliches Mittel zur »Disziplin« der mathematischen Vernunft – aber er vermag für sich allein ihren Bestand nicht zu erklären noch ihn im »transzendentalen« Sinne zu rechtfertigen. Auf der anderen Seite bedeutet es eine seiner wesentlichen Leistungen, daß er ein Problem wieder aufnimmt, mit welchem die Philosophie der Mathematik seit ihrer Neubegründung durch Descartes ständig gerungen hat, und daß er dieses Problem einer endgültigen Entscheidung zuführt. Descartes unterscheidet zwei Grundquellen der mathematischen Gewißheit: die Intuition und die Deduktion. Die erstere liefert die Prinzipien, die keiner weiteren Begründung fähig noch bedürftig sind, da sie durch das »Licht der Vernunft« unmittelbar einleuchten. Dieses Licht läßt keine Minderung oder Verdunkelung zu: Was es überhaupt erfaßt, das erfaßt es auch ganz und ungeteilt und mit unbedingter Klarheit und Gewißheit. Anders dagegen steht es mit denjenigen Sätzen, die nicht aus sich selbst einleuchten, sondern erst durch ein mittelbares Beweisverfahren aus an sich evidenten Axiomen abgeleitet werden. Denn hier ist das Denken genötigt, rein »diskursiv« zu verfahren: Es überschaut die Ideen, die es 143
Vgl. ders., Neubegründung der Mathematik, S. 160.
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miteinander verbindet, nicht in einem Blick, sondern verknüpft sie durch eine größere oder geringere Zahl von Mittelgliedern, die es zwischen sie stellt. Da aber diese Mittelglieder sich dem Geiste niemals in wahrhafter Einheit, niemals »zumal« darbieten, sondern da er nur sukzessiv, von einem zum anderen, fortschreiten kann, so unterliegt er in diesem sukzessiven Prozeß der Unsicherheit, mit der alles Werden behaftet ist. Er darf, wenn er von einem Glied des Beweises zum nächsten fortgeht, die vorausgehenden Glieder nicht aus den Augen verlieren, sondern er muß sie reproduzieren – und er kann andererseits der Genauigkeit dieser Reproduktion niemals völlig gewiß sein. Statt auf die Gewißheit der Intuition ist er jetzt auf die Sicherheit und auf die Treue des Gedächtnisses angewiesen, damit aber einer Erkenntnisfunktion ausgeliefert, die prinzipiell jeglichem Zweifel offensteht. Denn Des | cartes’ methodischer Zweifel gipfelt in der Vorschrift, keinem Vermögen des Geistes zu trauen, wenn wir auch nur einmal erfahren haben, daß es uns in Irrtümer und Trugschlüsse verstricken kann: Welches Vermögen aber wäre solchen Trugschlüssen mehr ausgesetzt als die bloß reproduktive, die Erinnerungsgewißheit? So droht jetzt die Deduktion, und damit der Kern des mathematischen Beweisverfahrens, ein für allemal der Skepsis anheimzufallen. Hier setzt jene Cartesische Fiktion des »bösen Dämons« ein, der uns auch in den scheinbar sichersten Schlußfolgerungen täuschen und irreführen könnte. Denn selbst bei formal richtiger Anwendung aller Regeln des Denkens bleibt doch stets die Möglichkeit bestehen, daß die Inhalte des Denkens, statt in identischer Bestimmtheit wiederholt zu werden, sich unvermerkt wandeln und daß sie uns gewissermaßen unter den Händen vertauscht werden. Es ist bekannt, daß es für Descartes aus diesem Labyrinth keinen erkenntnistheoretischen, sondern nur noch einen metaphysischen Ausweg gibt: Die Berufung auf die »Wahrhaftigkeit Gottes« muß den Zweifel mehr niederschlagen, als daß sie ihn wahrhaft zu beschwichtigen und zu lösen vermöchte. Eben an diesem Punkte aber setzt nun die Fortbildung der Technik und Methodik des mathematischen Beweises durch Leibniz ein. Es läßt sich auch rein geschichtlich verfolgen, wie Descartes’ Skepsis gegen die Sicherheit des deduktiven Verfahrens die eigentlich bewegende und treibende Kraft für Leibniz’ »Beweistheorie« geworden ist. Soll der mathematische Beweis wahrhaft stringent sein, soll ihm wirkliche Überzeugungskraft innewohnen, so muß er aus der Sphäre der bloßen Erinnerungsgewißheit gelöst und über sie hinausgehoben werden. An die Stelle der Sukzession der Denkschritte muß eine reine Simultaneität des Überblicks treten. Nur das symbolische Denken vermag diese Leistung zu vollbringen. Denn
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die Natur desselben besteht eben darin, daß es nicht mit den Denkinhalten selber operiert, sondern jedem Denkinhalt ein bestimmtes Zeichen zuordnet, und daß es kraft dieser Zuordnung eine Verdichtung erreicht, durch welche es möglich wird, alle Glieder einer komplexen Beweiskette in eine einzige Formel zu konzentrieren und sie mit einem Blick, als eine gegliederte Gesamtheit, zu umfassen. Dieser Grundgedanke der Leibnizischen Charakteristik ist es, der in Hilberts »Formalisierung« der logischen und mathematischen Schlußprozesse seine Wiederauferstehung erlebt hat und der jetzt, dank der Erweiterung des Gebiets der Mathematik und der außerordentlichen Verfeinerung und Vertiefung ihrer Begriffsmittel, erst zu einer wirklichen Durchführung reif geworden zu sein scheint. Man versteht von hier aus, warum Hilbert allen | Nachdruck darauf legt, daß die Objekte, auf die die mathematischen Schlußfolgerungen sich beziehen, derart geartet sein müssen, daß sie sich in all ihren Teilen vollkommen überblicken und daß sie sich allgemein und sicher wiedererkennen lassen. Nicht die Dinge, sondern die Zeichen allein sind es, die eine solche »Rekognition« ermöglichen und die damit das Denken von den Gefahren und Zweideutigkeiten einer bloßen Reproduktion prinzipiell unabhängig machen.
IV. Die »idealen Elemente« und ihre Bedeutung für den Aufbau der Mathematik Wenden wir uns nun von der Theorie des mathematischen Beweises wieder dem Gegenstandsbereich der Mathematik zu und fragen wir nach den gedanklichen Kräften, die sich im Aufbau dieses Bereichs wirksam erwiesen haben, so sind es insbesondere die Entwicklung des Grenzbegriffs und die Theorie der »idealen Elemente«, die sich als methodisch wichtige Grundmotive herausheben. Was den Grenzbegriff anlangt, so gehört auch er zu jenen Fundamentalbegriffen, die, ehe sie im Bereich der Wissenschaft ihren Eingang finden, im Kreise des philosophischen Denkens entdeckt werden und die innerhalb desselben ihre erste Bestimmung erfahren. Zahl und Grenze sind es, die als Wechselbegriffe in der Philosophie der Pythagoreer auftreten. Dabei muß, sofern hier überhaupt von einem »Früher« oder »Später« geredet werden kann, der Grenze der logische und metaphysische Primat vor der Zahl eingeräumt werden. Die Zahl erhält im Pythagoreischen System ihre entscheidende Stellung und ihre Grundbedeutung erst dadurch, daß sie allein die Erfüllbarkeit desjenigen Postulats darstellt, das sich im
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Begriff der Grenze ausspricht. »Grenze« und »Unbegrenztes«, π'Cας und &πειCον sind die beiden Pole des Seins und die beiden Pole des Wissens. Die Macht der Zahl über das Sein aber liegt darin begründet, daß sie zwischen ihnen die Brücke schlägt. Indem das Unbestimmte und Unendliche in die Ordnung der Zahl eingeht, fügt es sich damit der Gewalt der Form. Aus dieser Synthese entsteht und in ihr besteht alle Harmonie des Alls. Die Gewißheit dieser Harmonie wird bei den Pythagoreern noch von keinem Zweifel angetastet: Sie bildet vielmehr das Urfaktum, auf dem alle philosophische wie alle mathematische Erkenntnis ruht. Aber es liegt im Wesen der philosophischen Erkenntnis selbst, daß sie sich auf die Dauer nicht auf dieses Faktum stützen kann, ohne es eben damit selbst in ein Problem | zu verwandeln. Diese Verwandlung ist bei Platon erfolgt. Auch für ihn bilden die Grenze und das Unbegrenzte die beiden Grundbestimmungen, um die sein gesamtes Denken kreist. In den Werken des späten Alters wird das Gegensatzpaar von π'Cας und &πειCον geradezu als die Ursprungsstelle alles »Logischen«, als das ewige und unsterbliche »Pathos des Begriffs« selbst bezeichnet. Aber die Spannung zwischen den beiden entgegengesetzten Polen hat sich jetzt wesentlich verschärft. Denn der Gegensatz zwischen »Bestimmung« und »Unbestimmtem« faßt nun den anderen Gegensatz in sich, der nach der Platonischen Grundlehre zwischen der Welt der Idee und der Welt der Erscheinungen besteht. Zwischen diesen beiden Welten ist niemals eine eigentliche »Harmonie« im strengen Wortsinne möglich: Ist es doch ebender Sinn der Idee, daß keine Erscheinung gegeben werden kann, die ihr in wirklicher Strenge »kongruiert«. Die Beziehung zwischen beiden schließt also stets ihre notwendige Distanz, ihre prinzipielle »Andersheit« in sich. Und alle »Teilhabe« der Erscheinung an der Idee kann diesen Abgrund nicht überbrücken, kann das Moment der -τεC της nicht auslöschen. Aus diesem Urgegensatz bricht für Platon der Gegensatz zwischen der Welt des Wissens und der des empirischen Daseins stets aufs neue hervor. Alles Wissen ist seiner Form und seinem Wesen nach auf Bestimmung gerichtet, während alles Dasein als solches der Unbestimmtheit preisgegeben und überantwortet ist: Wenn dort der Gedanke in einem festen und endgültigen Sein zur Ruhe kommt, so herrscht hier der niemals aufzuhaltende noch in scharfe Grenzen einzuschließende Fluß des Werdens.144 Es ist geschichtlich merkwürdig und systematisch denkwürdig, wie diese Platonische Entscheidung auf Jahrhunderte hinaus nicht nur die Problemstellung der Metaphysik beherrscht hat, sondern wie sich 144
Vgl. bes. Platon, Philebos 15 B ff.
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ihr Einfluß immer von neuem innerhalb der wissenschaftlichen Ma thematik geltend gemacht hat. Noch im neunzehnten Jahrhundert stellt Paul DuBois-Reymond in seiner »Allgemeinen Functionentheorie« die Wahrheitsfrage für die mathematischen Gegenstände fast ganz im platonischen Sinne. Aber er wagt für diese Frage keine endgültige und eindeutige Antwort mehr, sondern er läßt die Wahl zwischen zwei einander entgegengesetzten Grundrichtungen der Betrachtung, zwischen »Idealismus« und »Empirismus«. Jener geht nach ihm den Weg der »Transzendenz«, dieser den Weg der »Immanenz«. Der Empirismus sieht in der Zahl ein Mittel der Bestimmung; aber er treibt die Bestimmung nicht weiter, als die Natur der Erfahrungsobjekte es gestattet. Sie | bleibt für ihn immer an die Schranken gebunden, die jeder faktischen, jeder konkreten Messung gesetzt sind. Der Prozeß des Messens kann immer feiner und schärfer gestaltet, aber er kann nicht über alle Grenzen, innerhalb deren eine anschauliche Unterscheidung noch möglich ist, hinausgetrieben werden, ohne daß er dadurch seinen faßbaren »Sinn« verlöre. Der »Idealist« hingegen geht von einer Auffassung und Definition des mathematischen »Sinnes« aus, durch die dieser als frei, als prinzipiell unabhängig von allen Bedingungen der empirischen Bewährung erklärt wird. Ihm gilt ein Gebilde, wie ein unendlicher, nichtperiodischer Dezimalbruch, nicht nur bis zu dem Grade bestimmt, bis zu dem die tatsächliche »Ausrechnung« seines Wertes jeweilig vorgedrungen ist, sondern er spricht ihm, darüber hinaus, eine durchgängige und vollständige objektive Bestimmtheit – ein Sein »an sich« zu. Der Gegensatz, der damit aufgerichtet ist, ist nach der Theorie DuBois-Reymonds, sofern er überhaupt entscheidbar ist, so doch sicher keiner rein mathematischen Entscheidung mehr fähig: Er gehört einem Gebiet an, in dem nicht mehr das mathematische Wissen, sondern statt seiner der philosophische »Glaube« das letzte Wort zu sprechen hat.145 So befremdlich und paradox dieses Urteil auf den ersten Blick erscheinen mag – so scheint es doch durch die Entwicklung, die die Theorie der mathematischen Erkenntnis in den letzten Jahrzehnten genommen hat, im weiten Maße bestätigt worden zu sein. Denn noch immer erscheint, in der Frage nach der Wahrheit und Gültigkeit der »idealen Elemente«, die Mathematik in zwei Lager, in eine »nominalistische« und in eine »realistische« Ansicht geteilt, ohne daß bisher ein Weg gewiesen wäre, zwischen beiden auf Grund rein mathematischer Kriterien zu entscheiden. 145 Näheres zur Theorie DuBois-Reymonds und zur erkenntnistheoretischen Kritik dieser Theorie s. in meiner Schrift: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 162 ff. [ECW 6, S. 132 ff.].
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Einzelne hervorragende Forscher sprechen so, als handle es sich hier um eine Frage, auf welche die Antwort, statt aus dem logischen Gewissen der Mathematik, vielmehr nur aus dem – ethischen Gewissen des Mathematikers und aus seiner »Weltanschauung« gewonnen werden könne. Auf der anderen Seite wird diese Verschiebung des Schwerpunkts der mathematischen Wahrheitsfrage, erkenntniskritisch betrachtet, um so bedenklicher, je weiteren Raum und je größere Bedeutung die »idealen Elemente« im Aufbau der modernen Mathematik gewonnen haben. An Versuchen zu ihrer Einschränkung, ja zu ihrer völligen Unterdrückung hat es freilich nicht gefehlt. Das Wort Kroneckers, daß die ganze Zahl von Gott geschaffen, alles übrige | dagegen bloßes Menschenwerk sei, ist bekannt. Und doch scheint es, wenn man die Entwicklung des mathematischen Denkens von der Antike bis zur Gegenwart verfolgt, ebendieses »Menschenwerk« zu sein, dem dieses Denken seine höchsten Triumphe verdankt. Aus dieser Problemlage heraus mußte immer wieder der Wunsch entstehen, die idealen Elemente, deren Gebrauch und deren Fruchtbarkeit nicht zu bestreiten war, auch in ihrem logischen Fundament sicherzustellen und sie in den letzten Grundlagen des mathematischen Denkens zu verankern. So hat insbesondere Hilbert neuerdings wieder aufs schärfste betont, daß eine wirkliche Durchführung der Theorie der Mathematik niemals möglich ist, wenn man sich nicht entschließt, zu den »finiten« Aussagen der Mathematik die »idealen« Aussagen zu »adjungieren«. Das Recht zu einer solchen »Adjungierung« ist für den Mathematiker hinlänglich gesichert, wenn er auf der einen Seite zeigen kann, daß die neuen Gegenstände, die er aufnimmt, denselben formalen Gesetzen der Verknüpfung gehorchen, die für die alten festgestellt waren, und wenn er weiterhin den Nachweis zu führen vermag, daß, durch die Hinzunahme der neuen idealen Elemente, in dem alten engeren Bereich niemals Widersprüche entstehen können – daß also die Beziehungen, die sich bei Elimination der idealen Gebilde für die alten Gebilde herausstellen, stets im alten Bereiche gültig sind.146 Die philosophische Kritik der Erkenntnis aber wird hier noch eine andere und schärfere Forderung stellen müssen. Ihr kann es nicht genügen, wenn die neuen Elemente sich den alten gegenüber in dem Sinne als gleichberechtigt erweisen, daß sie mit ihnen eine widerspruchslose Verbindung eingehen – daß sie einfach neben sie treten und sich in diesem Nebeneinander behaupten können. Diese bloß formelle Vereinbarkeit würde für sich allein noch nicht die Gewähr für 146
Vgl. Hilberts Aufsatz »Über das Unendliche«, S. 174 ff. u. 179.
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einen wahrhaft innerlichen Zusammenschluß, für einen in sich homogenen logischen Aufbau der Mathematik ergeben. Ein solcher ist vielmehr erst dann hergestellt und gesichert, wenn sich zeigt, daß die neuen Elemente nicht einfach, als Gebilde von anderer Art und Herkunft, den alten »adjungiert« werden, sondern daß sie eine systematisch-notwendige Entfaltung der letzteren sind. Und der Beweis dieses Zusammenhangs läßt sich wiederum nicht anders führen als durch den Nachweis, daß zwischen den neuen und den alten Elementen gewissermaßen eine logische Urverwandtschaft besteht: in | der Art, daß die neuen Elemente zu den früheren nichts hinzubringen als das, was schon in deren ursprünglichem Sinn enthalten ist und in diesem implizit beschlossen liegt. Es muß erwartet werden, daß sie diesen Sinn, statt ihn prinzipiell zu verändern und durch etwas anderes zu ersetzen, vielmehr erst zu seiner allseitigen Entwicklung und zur vollständigen Klärung bringen. Und diese Erwartung wird, wenn man die Eigenart der »idealen Elemente«, wie sie nacheinander in der Geschichte der Mathematik zutage getreten sind, im besonderen betrachtet, nirgends enttäuscht. Jeder Schritt, der das Gebiet der Mathematik, der den Kreis ihrer Gegenstände erweitert hat, ist immer zugleich ein Schritt auf dem Wege zu ihrer tieferen prinzipiellen Begründung, zur Tieferlegung ihrer Fundamente gewesen. Nur weil und sofern beide Richtungen der Betrachtung sich wechselseitig unterstützen, wird die innere Geschlossenheit des Mathematischen durch das ständige Wachstum seiner Gebilde nicht gefährdet, sondern vielmehr immer klarer und strenger bestätigt. Denn jede neue Ausdehnung, jede Extensivierung kommt hier zugleich einer logischen Intensivierung gleich. Der einmal gesicherte Bestand breitet sich nicht etwa nur gleichsam flächenhaft aus; sondern in jedem neuen Gegenstandskreise wird eine wachsende Verfestigung und eine radikalere Begründung des Gesamtbestandes, der mathematischen »Wahrheit« als solcher, erreicht. Unter diesen Gesichtspunkt muß auch die entscheidende Leistung der »idealen Elemente« zuletzt gestellt und von ihm aus muß sie begriffen und gerechtfertigt werden. Damit aber ergibt sich nun eine merkwürdige Umkehrung der erkenntniskritischen Aufgabe an diesem Punkt. Denn diese Aufgabe besteht jetzt, schärfer gesehen, nicht mehr darin, die neuen Elemente auf die alten zurückzuführen und sie aus diesen zu »erklären« – sondern sie geht vielmehr dahin, das Neue als gedankliche Vermittlung zu benutzen, kraft deren die eigentliche Bedeutung des Alten erst wahrhaft erfaßt, kraft deren dieses selbst, in einer zuvor nicht erreichten Allgemeinheit und Tiefe seines Wesens, erkannt werden kann. In diesem Sinne läßt sich sagen, daß der logische Weg der Mathematik
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nicht dahin geht, den idealen Elementen ein eigenes Recht und einen eigenen Raum neben den anderen zu erkämpfen – sondern daß sie in ihnen erst das eigentliche Ziel ihrer Begriffsbildung erreicht, daß sie zu einem kritischen Verständnis dessen gelangt, was diese Begriffsbildung ist und was sie vermag. Selbst wenn man annimmt, daß die »Ratio essendi« der idealen Gebilde im Bereich der alten Gebilde gesucht werden muß, so liegt doch die »Ratio cognoscendi« der letzteren in den idealen Elementen. Denn diese bedeuten die Auf | deckung einer Urschicht des mathematischen Denkens, in welcher nicht nur dieses oder jenes Individualgebiet mathematischer Objekte, sondern in der das gedankliche Verfahren der mathematischen Objektivierung selbst wurzelt. In der Setzung der idealen Elemente beschreitet dieses Verfahren keinen schlechthin neuen Weg – es löst sich vielmehr nur von gewissen »zufälligen« Schranken los, an die es sich anfänglich noch gebunden hatte, und wird sich seiner ganzen Kraft und Weite erst wahrhaft bewußt. Auf allen Einzelgebieten, in denen die Einführung idealer Elemente ihre Bedeutung erwiesen hat, läßt sich dieser charakteristische Prozeß der Ablösung, der logischen Emanzipation verfolgen. Das Denken durfte hier den Weg durch das scheinbar »Unmögliche« nicht scheuen: Denn nur durch ihn konnte es zu einem wahrhaft freien und allseitigen Überblick über seine eigenen, in ihm selbst zunächst verschlossenen Möglichkeiten geführt werden. Die Entdeckung des »Imaginären« in der Mathematik und die verschiedenen Versuche, die zu seiner logischen Rechtfertigung unternommen wurden, stellen ein klassisches Beispiel für diese Grundrichtung des mathematischen Denkens dar. Das Imaginäre erscheint, wo es in der Geschichte der Mathematik zuerst auftritt, durchaus als Fremdling und als Eindringling – aber dieser Fremdling erlangt allmählich nicht nur völliges Bürgerrecht, sondern durch ihn wird nun erst ein weit tieferes Wissen von den Prinzipien und von den Fundamenten der mathematischen Staatsverfassung gewonnen. So hat Hermann Graßmann durch den Gebrauch, den er von Zahlen mit beliebig vielen Einheiten macht, einen neuen Begriff der Geometrie, als einer wahrhaft allgemeinen »Ausdehnungslehre«, geschaffen. Auf der anderen Seite zeigte sich, daß erst durch Einführung der imaginären Größen der Zugang zu einer wirklichen Systematisierung der Algebra gefunden werden konnte: Erst nach dieser Einführung konnte der Beweis für den »Fundamentsatz der Algebra« in Strenge geführt werden. Der logische Prüfstein für die Berechtigung des neuen Elements liegt in allen diesen Fällen darin, daß die neue Dimension der Betrachtung, in die wir mit ihm eintreten, uns die Verhältnisse, die innerhalb der früheren
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Dimension gelten, nicht etwa ferner rückt, sondern daß sie den Blick für sie wesentlich verschärft. Der Rückblick, den wir von dem neu erschlossenen Gebiet auf das alte Gebiet werfen, gibt uns dieses letztere selbst erst in seinem ganzen Umfange gedanklich zu eigen und lehrt uns seine feineren Strukturformen kennen und verstehen. So ist es der Begriff der komplexen Zahl gewesen, der dazu geführt hat, eine Fülle bisher unbekannter | Beziehungen zwischen »reellen« Größen aufzudecken und in wirklicher Allgemeinheit zu beweisen. Mit diesem Begriff war also nicht nur ein neues mathematisches Gegenstandsgebiet erschlossen, sondern es war vor allem auch eine neue geistige »Perspektive« gewonnen, die die Gesetzlichkeit der reellen Zahlen in ganz anderer Weise als bisher erkennbar und durchsichtig machte. Hier bewährte sich innerhalb der Mathematik das Goethische Wort, daß jeder neue Gegenstand, richtig betrachtet, zugleich ein neues Organ des Sehens in uns aufschließt. In gleicher Weise hat z. B. die Kummersche Entdeckung der Idealzahlen innerhalb der Zahlentheorie gewirkt. Unter den ganzen algebraischen Zahlen ergaben sich jetzt bestimmte Teilbarkeitsgesetze von überraschend einfacher Form, durch welche es gelang, Zahlgebilde, die auf den ersten Blick keinerlei innere »Verwandtschaft« zueinander zu besitzen scheinen, nichtsdestoweniger zu ideellen Gesamtheiten, zu bestimmten »Zahlkörpern« zu vereinen. Und es zeigte sich weiterhin, daß die Lehre von der Teilbarkeit der ganzen Zahlen, wie sie hier begründet wurde, nicht auf dieses ursprüngliche Anwendungsfeld beschränkt blieb, sondern daß sie sich auf ein weiteres Gebiet, auf die Lehre von den rationalen Funktionen, fast vollständig übertragen ließ. So erweist sich die Einführung der idealen Elemente, wenn man auf die Geschichte der Mathematik hinblickt, überall als »durch das Faktum bewährt«. Aber die Erkenntniskritik kann freilich bei diesem bloßen Faktum nicht stehenbleiben, sondern sie muß ihre Frage auf die Möglichkeit dieses Faktums richten. Denn es ist ein keineswegs einfaches, auf den ersten Blick durchschaubares Verhältnis, das sich hier in der Beziehung der verschiedenen mathematischen Gegenstandsbereiche offenbart. Daß innerhalb der Mathematik die neuen Gegenstände nicht einfach neben die alten treten, sondern daß sie deren Aspekt innerlich verändern und umgestalten, daß sie ihnen eine andere Erkenntnisform aufprägen – dies ist und bleibt ein eigenartiges intellektuelles Phänomen, das seine Deutung und Erklärung nur finden kann, wenn man auf das ursprüngliche Motiv der mathematischen Gegenstandsbildung überhaupt zurückgeht. In der Tat wird man den Schlüssel für das eigentliche Verständnis der sogenannten »idealen« Gebilde eben darin zu suchen haben, daß
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die Idealität keineswegs erst bei ihnen beginnt, sondern daß sie in ihnen nur in prägnanter Schärfe und mit besonderem Nachdruck hervortritt. Gibt es doch keinen einzigen wahrhaft mathematischen Begriff, der sich schlechthin auf vorgegebene oder vorgefundene Gegenstände bezieht, sondern muß doch jeder, um im Kreise des Mathematischen überhaupt | seine Stelle zu finden, ein Prinzip der »synthetischen Erzeugung« in sich schließen. Immer geht hier die Setzung einer allgemeinen Relation voraus – und aus ihrer allseitigen Durchführung entwickelt sich erst, im Sinne der »genetischen Definition«, der jeweilige Objektbereich. Die Einführung noch so komplizierter idealer Gebilde setzt daher im Grunde nur fort, was schon in den ersten »Elementen« der Mathematik begonnen und vorweggenommen ist. Auch Hilbert weist darauf hin, daß die Methode, der die idealen Gebilde ihre Entstehung verdanken, sich bis in die Elementargeometrie zurückverfolgen läßt.147 Denn hier wie dort wird derselbe, sich dem Prinzip nach gleichbleibende, logische Denkakt erfordert. Er besteht darin, daß eine Fülle möglicher Beziehungen in einen einzigen »Gegenstand« zusammengefaßt und kraft dieses Gegenstandes repräsentiert wird. Ohne solche ideale Repräsentation ist kein einziges noch so einfaches mathematisches Objekt möglich. Die »idealen« Gebilde, im spezifischen Sinne des Wortes, können daher allenfalls als »Gegenstände höherer Ordnung« bezeichnet werden, aber sie sind von den »elementaren« Gegenständen keineswegs durch eine Kluft geschieden. In diesen wie in jenen wirkt sich das gleiche Verfahren aus – der Unterschied besteht nur darin, daß in den idealen Elementen dies Verfahren gewissermaßen im Extrakt, in seiner reinen Quintessenz, hervortritt. Denn hat sich uns nicht schon bei dem denkbar »einfachsten« Gegenstand der reinen Mathematik, schon beim Aufbau der »natürlichen Zahlenreihe«, die ordnende Relation als das erste, das in ihr und kraft ihrer Geordnete als das zweite und Abgeleitete erwiesen? Ist dies einmal eingesehen, so hindert nichts, diese ordnende Relation auch über das Gebiet hinaus anzuwenden, innerhalb dessen sie sich zuerst betätigt hat. Es zeigt sich jetzt, daß ihre Bedeutung, ihre schöpferische Energie nicht in ihrem Werk aufgeht noch in diesem untergeht. Das Verfahren, auf dem die Zahlbildung letztlich beruht, erschöpft sich nicht in dem einfachen Gebilde der ganzen Zahlen – wenngleich dieses selbst bereits ein unendliches und unendlich vielfältiges Gefüge darstellt. Vielmehr kann jedes neue System von Beziehungen, das innerhalb dieses Gefüges vorgefunden, d. h. aus der erzeugenden Urrelation abgeleitet 147
Hilbert, Über das Unendliche, S. 166.
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wird, selbst wieder zum Ausgangspunkt für eine neue Setzung und für ganze Gruppen solcher Setzungen werden. Der Gegenstand untersteht hier keinen anderen Bedingungen als denen der mathematischen Synthesis selbst: Er ist und besteht, sofern die mathematische Synthesis gilt. Und über diese Geltung entscheidet keine außenstehende, keine transzendente »Wirklichkeit« | der Dinge, sondern einzig die immanente Logik der mathematischen Relationen selbst. Damit haben wir das einfache Prinzip erfaßt, auf das sich zuletzt die Geltung und die Wahrheit aller idealen Elemente zurückführen läßt. Wenn schon die Elementargebilde der Mathematik, wenn schon die einfachen arithmetischen Zahlen sowie die Punkte und Geraden der Geometrie sich nicht als einzelne »Dinge« verstehen, sondern immer nur als Glieder eines Relationssystems definieren lassen – so bilden die idealen Gebilde gewissermaßen »Systeme von Systemen«. Sie sind aus keinem anderen gedanklichen Stoffe als jene elementaren Gegenstände gewoben, sondern unterscheiden sich von diesen nur in der Art der Verflechtung, in der größeren Feinheit ihrer begrifflichen Komplexion. Die Urteile, die wir über die idealen Elemente fällen, lassen sich demgemäß stets so fassen, daß sie sich in Urteile innerhalb der ersten Gegenstandsklasse zurückverwandeln lassen: nur daß jetzt als Subjekte dieser Urteile nicht mehr einzelne Gegenstände, sondern Gruppen und Gesamtheiten derselben fungieren. So kann man z. B. jede »Irrationalzahl«, statt sie als ein einfaches für sich bestehendes und für sich bestimmtes mathematisches »Ding« zu nehmen, im Sinne der bekannten Dedekind schen Ableitung als einen »Schnitt«, als eine vollständige Einteilung des Systems der rationalen Zahlen definieren, wobei dieses System als Ganzes vorausgesetzt wird und als Ganzes in die Erklärung der irrationalen Zahl eingeht. Die »Erweiterung« des ursprünglichen Zahlbereichs erfolgt dann nicht in dem Sinne, daß den früheren Individuen andere und neue hinzugefügt werden, sondern daß, statt mit diesen Individuen, vielmehr mit unendlichen Mannigfaltigkeiten, mit Zahlsegmenten gerechnet wird und daß diese Segmente es sind, die den neuen Begriff der »reellen Zahl« konstituieren.148 Allgemein zeigt sich, daß jede »neue« Zahlart, zu deren Bildung das mathematische Denken sich gedrängt sieht, sich jedesmal durch ein System von Zahlen einer früheren Art definieren und sich in ihrem Gebrauch durch dieses System ersetzen läßt.149 Zu dieser Begriffsbestimmung der »reellen Zahl« als eines Zahlsegments vgl. bes. Russell, The Principles of Mathematics (Kap. 33, § 258 ff.), S. 270 ff.; ders., Introduction to Mathematical Philosophy, S. 72 ff. 149 Näheres hierüber z. B. bei Hölder, Die mathematische Methode, S. 209. 148
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Schon bei der Einführung der Bruchzahl tritt dies hervor: Denn der Bruch kann – wie namentlich Jules Tannery betont hat – nicht als eine Vereinigung gleicher »Teile der Einheit« erklärt werden, da die numerische Einheit als solche keine Teilung und Zerstückelung zuläßt, sondern er muß vielmehr als ein Inbegriff (ensemble) von zwei | ganzen Zahlen genommen werden, die zueinander in einer bestimmten Ordnung stehen. Solche »Inbegriffe« bilden alsdann eine neue Art von mathematischen Gegenständen, für die sich die Gleichheit, das Größer oder Kleiner sowie die einzelnen arithmetischen Operationen der Addition, der Subtraktion usf. definieren läßt.150 Auch die Einführung der idealen Elemente in der Geometrie ruht auf demselben Prinzip. In Staudts »Geometrie der Lage« geschieht die Einführung der »uneigentlichen« Elemente dadurch, daß zunächst an einer Schar paralleler Geraden ein Moment herausgehoben wird, hinsichtlich dessen alle dieser Schar angehörigen Einzelgebilde übereinstimmen, und daß dieses Moment als ihre gemeinsame »Richtung« fixiert wird. In derselben Weise wird allen untereinander parallelen Ebenen eine identische Eigenschaft, eine gemeinsame »Stellung« zugeschrieben. Die Begriffsbildung geht dann in der Art weiter, daß eine Gerade nicht nur durch zwei Punkte, sondern ebensowohl durch einen Punkt und eine Richtung, eine Ebene, statt durch drei Punkte, auch durch zwei Punkte und eine Richtung, durch einen Punkt und zwei Richtungen oder schließlich durch einen Punkt und eine Stellung als völlig bestimmt angesehen wird. Auf diese Art sieht sich Staudt dazu geführt, die logische Äquivalenz einer Richtung mit einem Punkt, einer Stellung mit einer Geraden zu behaupten.151 Auch hier ist es demnach nicht notwendig, die »uneigentlichen« Elemente als Individuen einzuführen, die neben den »eigentlichen« Punkten irgendeine geheimnisvolle »Existenz« führen sollen – sondern was immer sich von ihnen aussagen, was sich, im Sinne einer logisch und mathematisch bedeutsamen Wahrheit, von ihnen behaupten läßt, ist nichts anderes als der Bestand ebenjener Beziehungen, die sie in sich verkörpern und ausdrücken. Aber das symbolische Denken der Mathematik begnügt sich nun freilich nicht dabei, diese Beziehungen nur in abstracto zu erfassen, sondern es fordert und erschafft für den logisch-mathematischen Sachverhalt, der in ihnen vorliegt, ein bestimmtes Zei chen – und es behandelt zuletzt dieses Zeichen selbst wieder als einen vollgültigen, als einen legitimen mathematischen Gegenstand. Das 150 Jules Tannery, Introduction à la théorie des fonctions d’une variable, Paris 1886, S. VIII; vgl. auch Voss, Über das Wesen der Mathematik, S. 36 Anm. 1. 151 Georg Karl Christian von Staudt, Geometrie der Lage, Nürnberg 1847.
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Recht zu dieser Umsetzung kann nicht fraglich sein – sofern man sich nur daran erinnert, daß von Anfang an die »Gegenstände« der Mathematik nicht der Ausdruck für etwas Dinghaftes, etwas substantiell Existierendes sind, sondern daß sie nichts anderes als Funktionsausdrücke, als »Ordnungszeichen« | sein wollen und sein können. Jeder Fortgang zu neuen, zu komplexeren Ordnungsbeziehungen schafft daher im Grunde eine neue Gattung mathematischer »Gegenstände«, die mit den alten nicht durch irgendeine Art von anschaulicher »Ähnlichkeit« noch durch den Besitz eines gemeinsamen, isoliert aufzeigbaren »Merkmals« verbunden sind, sondern die ihnen insofern logisch verwandt und gleichartig sind, als sie nach einem wesentlich gleichartigen gedanklichen Prinzip gebildet und aufgebaut sind. Eine andere und eine tiefere »Gleichartigkeit« aber, eine strengere »Homogenität«, als sie hier gewährleistet ist, kann weder gefordert noch erwartet werden: Denn die »Art« jedes mathematischen Gegenstandes steht nicht vor dem Prinzip seiner Erzeugung an sich fest, sondern wird erst durch die erzeugende Relation bestimmt, auf der er beruht. Daß aber überhaupt eine derartige Konzentration, eine solche Zusammendrängung eines ganzen Systems mathematischer Aussagen in einen Punkt möglich ist: dies gehört zu den fruchtbarsten, ja zu den eigentlich entscheidenden Momenten der mathematischen Begriffs- und Theorienbildung überhaupt. Denn damit erst vermag die mathematische Methode der Fülle der Gestalten, die sie aus ihrem eigenen Grunde erzeugt, Herr zu werden und ihnen, so wie sie sich immer mannigfaltiger und reicher zudrängen, standzuhalten. Sie braucht diese Fülle nun nicht mehr in eine vage generische Allgemeinheit zu verflüchtigen; sie gibt sich ihr vielmehr, als konkreter Ganzheit und konkreter Bestimmtheit, hin, da sie sicher ist, sie eben in dieser Konkretion beherrschen und durchdringen zu können. Jede Wissenschaft, die den Bereich ihrer Gegenstände nicht synthetisch und konstruktiv erzeugt, sondern die diese Gegenstände irgendwie empirisch »vorfindet«, kann die Mannigfaltigkeit ihrer Objekte nicht anders in ihren methodischen Blickpunkt bringen als dadurch, daß sie sie gewissermaßen Schritt für Schritt durchmißt. Sie muß diese Mannigfaltigkeit ergreifen, so wie sie sich dem empirischen Wissen unmittelbar gibt; sie muß Wahrnehmung an Wahrnehmung, Beobachtung an Beobachtung reihen, wobei der Zusammenschluß all dieser Einzelheiten zu einem systematischen Ganzen zwar stets gefordert wird, diese Forderung selbst aber eine gedankliche Vorwegnahme, eine Art Petitio principii bleibt. Jeder neue Aspekt der empirischen Forschung schließt eine neue »Seite« des Gegenstands auf. Die Rich-
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tung auf das Ganze, die auch hier stets gewahrt bleiben muß, sofern das empirische Denken nicht als bloßes Herumtappen, sondern als Denken, als einheitfordernde und einheitsetzende Funktion, verstanden wird, erweist sich darin, daß die einzelnen Teile sich zuletzt zu irgendeinem Gesamtbild »ergänzen« – aber | diese Ergänzung selbst behält hier immer nur einen vorläufigen Charakter. Es bleibt zuletzt doch ein »Stück in Stücken«, das uns hier gegeben wird: Denn das Denken geht nicht von der ursprünglichen Erfassung eines Ganzen aus, um dieses dann in seine Einzelbestimmungen zu entwickeln, sondern es versucht, nach und nach ein Ganzes aufzubauen, indem es sich den empirischen Einzeldaten anschmiegt. Auch die Mathematik wäre keine synthetisch-progressive Wissenschaft, wenn ihr Gesamtbesitz von Anfang an fertig, und wie mit einem Blick überschaubar, vor ihr läge. Auch ihr intellektueller Fortgang besteht in einem ständigen Vorstoß in neue, bisher unbekannte und unzugängliche Gebiete. Mit jedem neuen Instrument des Denkens, das sie sich erschafft, eröffnen sich ihr neue Bestimmungen ihres Gegenstandsbereichs. So handelt es sich auch in ihr nirgend um bloße Auseinanderlegung, um analytische »Auswicklung« des Bekannten, sondern um echte Entdeckung. Und doch trägt andererseits ebendiese Entdeckung selbst hier einen methodisch eigentümlichen Zug. Der Weg führt nicht einfach von bestimmten ein für allemal feststehenden Anfängen zu immer mannigfaltigeren und reicheren Folgerungen weiter: Sondern jedes neue Gebiet, das von den Anfängen aus erschlossen und erobert wird, läßt auch sie selbst in einem anderen und neuen Lichte erscheinen. Der Fortgang des Denkens schließt hier stets auch seine eigene Umkehr in sich: Er ist zugleich Rückgang in sich selbst. Denn der Bestand und der Sinn, der intellektuelle Gehalt der mathematischen »Prinzipien« tritt vollständig erst in ihrer Leistung hervor – so daß jede Bereicherung dieser Leistung immer zugleich eine neue Tiefe der Prinzipien selbst sichtbar macht. So kann man sagen, daß die gesamte Erweiterung, die der Zahlbegriff im Lauf der Geschichte des mathematischen Denkens erfahren hat, indem von der ganzen Zahl zur gebrochenen, von der Rationalzahl zur Irrationalzahl, von der reellen Zahl zur imaginären Zahl übergangen wurde, keineswegs auf einer bloß willkürlichen »Verallgemeinerung« beruht, sondern daß sich hierin das »Wesen« der Zahl selbst expliziert und sich immer tiefer in seiner objektiven Allgemeinheit erfaßt.152 Wie Heraklit von der Physis, von der wirkenden Natur 152 Zur näheren Begründung vgl. »Substanzbegriff und Funktionsbegriff« (Kap. 2) [ECW 6].
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gesagt hat, daß in ihr der »Weg nach oben« und der »Weg nach unten« derselbe sei, so ist in der idealen Begriffswelt der Mathematik der Weg zur Peripherie und der Weg zum Zentrum der gleiche. Hier gibt es keinen eigentlichen Wettstreit und Widerstreit zwischen einer zentripetalen und einer zentrifugalen Tendenz des Denkens, sondern beide fordern und fördern einander | wechselseitig. Und in diesem geistigen Zusammenschluß des polar Entgegengesetzten liegt auch die eigentliche, die erkenntniskritisch bedeutsamste Leistung der »idealen Elemente« der Mathematik. Sie alle sind nicht sowohl neue Elemente, als sie vielmehr neue Synthesen sind. Der Pendelschlag des mathematischen Denkens vollzieht sich sozusagen in einer doppelten Bewegung: in dem Ausschlag nach der Relation und in dem Ausschlag nach dem »Gegenstand« hin. Dieses Denken löst alles Sein immer wieder in reine Beziehungen auf; aber es vereint auf der anderen Seite auch stets von neuem eine Totalität von Beziehungen zu dem Begriff eines Seins. Dies gilt nicht nur für die Klassen der Objekte, mit denen es die Mathematik zu tun hat: Es gilt auch für ihre einzelnen Disziplinen. Denn immer zeigt sich, daß die Einführung eines neuen, wahrhaft fruchtbaren idealen Elements in der Mathematik ein ganz neues wechselseitiges Verhältnis dieser Disziplinen und einen engeren und tieferen Zusammenschluß zwischen ihnen zur Folge hat. Ihr starres Auseinander, ihre Sonderung nach Objekten, die einander relativ fremd gegenüberstehen, erweist sich jetzt als Schein: Der Gedanke der »Mathesis universalis« behauptet sich siegreich gegen alle Versuche, dieses Ganze zu zerstücken und in bloße Teilgebiete zu zerlegen. So ist – um nur an ein Hauptbeispiel zu erinnern – durch die tiefere Erkenntnis des Imaginären nicht nur die mathematische Einzelforschung aufs reichste befruchtet worden, sondern es wurde damit auch eine Scheidewand beseitigt, deren Aufrichtung den Einblick in die systematischen Zusammenhänge der einzelnen Gebiete erschwert und hintangehalten hatte. Denn das Imaginäre machte vor keinem dieser Einzelgebiete halt, sondern es durchdrang sie alle mit der neuen Denkform, die es in sich schloß. Seine erste geschichtliche Anwendung scheint es zunächst noch auf die Arithmetik und Algebra, insbesondere auf die Gleichungslehre, zu beschränken: Seit Cauchy ist es dem logischen Bestand der algebraischen Analysis ein für allemal eingefügt. Aber seine Entwicklung bleibt hierbei nicht stehen. In Poncelets Aufbau der projektiven Geometrie hat das Imaginäre bereits die Lehre vom Raum erobert und eine ganz neue Form geometrischer Betrachtung erzeugt. Und hier erscheint es keineswegs mehr als ein bloßes Beiwerk oder Außenwerk, sondern es wird bewußt in das Zentrum der geometrischen Begriffsbildung gerückt:
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Stützt doch Poncelet seinen Gebrauch des Imaginären auf ein ganz allgemeines Prinzip, das er als das Prinzip der »Permanenz der mathematischen Relationen« definiert.153 Der höchste | Triumph des Imaginären aber besteht sodann darin, daß es unaufhaltsam auch in die Physik, in die Theorie der »Wirklichkeitserkenntnis«, eindringt: Denn auch in ihr erweist sich der Gebrauch der Funktionen von komplexen Variablen als ein unentbehrliches Hilfsmittel der mathematischen Bestimmung. Jetzt schlingt sich um die verschiedenen Inhalte und um die verschiedenen Provinzen des mathematischen Wissens ein ganz neues Band: An Stelle ihrer mehr oder weniger willkürlichen Abscheidung ist ein Verhältnis wechselseitiger Erhellung getreten, das sie nicht nur selbst in ein neues Licht rückt, sondern durch welches gewissermaßen die »absolute« Natur des Mathematischen als solche, die allen seinen Besonderungen voraus- und zugrunde liegt, in einem strengeren und tieferen Sinne erfaßt werden kann. Hält man an dieser Einsicht fest, so ist mit ihr auch jeder »Fiktionalismus« in der Beurteilung und Bewertung der idealen Elemente an der Wurzel abgeschnitten. Denn der Kern ihrer Objektivität kann jetzt nicht mehr in gegebenen Einzelinhalten gesucht werden, die ihnen entsprechen, sondern nur in einem rein systematischen Bestand: in der Wahrheit und Gültigkeit eines bestimmten Relationenkomplexes. Ist diese Wahrheit gesichert, so ist damit das einzig mögliche objektive Fundament für sie aufgewiesen: Ein anderes kann für sie nicht nur nicht gefunden, sondern auch nicht mit Sinn und Fug gesucht werden. Der Sinn der idealen Elemente läßt sich niemals in einzelnen »Vorstellungen«, die auf ein konkretes, anschaulich faßbares Objekt gehen, sondern er läßt sich immer nur in einem komplexen Urteilsgefüge aufzeigen und faßbar machen. Die Form der mathematischen Objektivierung bringt es freilich mit sich, daß dieses Gefüge nun selbst zum Gegenstand gemacht und als Gegenstand behandelt wird – aber die strenge Scheidewand zwischen ihm und den empirischen »Dingen« wird dadurch nicht eingerissen, sondern sie bleibt nach wie vor bestehen. Diese Scheidewand verläuft nicht innerhalb des Gebiets des Mathematischen, so daß sie in ihm einen Kreis »uneigentlicher« Gebilde von den »eigentlichen« absonderte –
153 Jean Victor Poncelet, Traité des propriétés projectives des figures. Ouvrage utile a ceux qui s’occupent des applications de la géométrie descriptive et d’opérations géométriques sur le terrain, Paris 1822; Näheres bei Dimitry Gawronsky, | Das Kontinuitätsprinzip bei Poncelet, in: Philosophische Abhandlungen. Hermann Cohen zum 70sten Geburtstag (4. Juli 1912) dargebracht, Berlin 1912, S. 65–84 [Zitat a. a. O., S. 67: »permanence des relations mathématiques«].
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sondern sie trennt das Ganze der mathematischen Welt von der empirischen Dingwelt ab. Man muß sich daher entweder entschließen, alles Mathematische mit dem Makel der Fiktion zu behaften, oder man muß ihm, bis hinauf in seine höchsten und »abstraktesten« Setzungen, prinzipiell den gleichen Wahrheits- und Gültigkeitscharakter einräumen. Die Trennung in eigent | liche und uneigentliche, in angeblich »reale« und angeblich »fiktive« Elemente bleibt dagegen stets eine Halbheit, die, falls man mit ihr Ernst macht, die methodische Einheit der Mathematik zerstören müßte. Auf der anderen Seite ist es ebendiese methodische Einheit, die durch die Setzung der idealen Elemente und durch die Stellung, die sie im Ganzen der Mathematik gewinnen, stets aufs neue bezeugt und gewährleistet wird. Wir haben dies zuvor an der Einführung der imaginären Größen verfolgen können; aber diese stellen nur ein Paradigma, ein Einzelbeispiel für einen weit allgemeineren Sachverhalt dar. Denn überall, wo das mathematische Denken sich – zumeist nach langen Vorbereitungen und nach vielfältigen tastenden Versuchen – dazu entschließt, einen reichen Begriff von Beziehungen, die es zuvor einzeln betrachtet und untersucht hatte, in einen geistigen Brennpunkt zu versammeln und mit einem Symbol zu bezeichnen, da rückt, kraft dieses intellektuell-symbolischen Grundakts, nun auch das zuvor weit Entlegene und scheinbar Zusammenhangslose zu einem Ganzen zusammen – zu einem Ganzen, das zunächst nichts anderes als das Ganze eines Problems zu sein pflegt, das aber schon als solches die Gewähr der künftigen Lösung in sich schließt. Ein solcher logischer Prozeß ist es gewesen, aus welchem, als seine reifste Frucht, die Analysis des Unendlichen erwachsen ist. Weder die Newtonsche Entdeckung der Fluxionsrechnung noch die Leibnizsche der Infinitesimalrechnung hat dem mathematischen Problembestand ihrer Zeit einen völlig neuen inhaltlichen Zug hinzugefügt. Der entscheidende Begriff der Fluxion wie der des Differentials und des Differentialquotienten war vielmehr durch die vorangehende Entwicklung bis ins letzte vorbereitet. Er hatte sich bereits auf den verschiedensten Gebieten – in der Begründung der Dynamik durch Galilei, in der Lehre von den Maxima und Minima bei Fermat, in der Theorie der unendlichen Reihen, in dem sogenannten »umgekehrten Tangentenproblem« usf. – betätigt, ehe er allgemein erkannt und allgemein fixiert war. Newtons Zeichen: x· und Leibniz’ Zeichen: dy dx leisten zunächst nichts anderes, als daß sie diese Fixierung vollziehen: Sie bezeichnen einen gemeinsamen Richtpunkt für Untersuchungen, die zuvor auf getrennten Wegen verliefen. In dem Augenblick, als dieser Richtpunkt einmal bestimmt
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und in einem Symbol festgehalten war, erfolgte gleichsam eine Kristallisation der Probleme: Von allen Seiten her schießen sie jetzt zu einer logisch-mathematischen Form zusammen. Abermals erweist das Symbol hier jene Kraft, die wir immer und überall, auf den verschieden | sten Gebieten, vom Mythos hin bis zur Sprache und zur theoretischen Erkenntnis, an ihm aufzeigen konnten: die Kraft der Verdichtung. Es ist, als würde durch die Schöpfung des neuen Symbols eine gewaltige Energie des Denkens aus einer relativ diffusen Form in eine konzentrierte Form übergeführt. Die wechselseitige Spannung zwischen den Begriffen und Problemen der algebraischen Analysis, der Geometrie, der allgemeinen Bewegungslehre war seit langem vorhanden: Aber erst durch die Schaffung des Algorithmus der Newtonschen Fluxionsrechnung und der Leibnizischen Differentialrechnung entlädt sich diese Spannung, und der Funke springt über. Von nun ab war der weiteren Entwicklung die Bahn geebnet und der Weg vorgeschrieben: Sie brauchte nur das, was in den neugeschaffenen Symbolen aufgewiesen und implizit gesetzt war, zur vollständigen expliziten Erkenntnis zu erheben. Ebendiese Leistung ist es auch gewesen, an welcher sich zuletzt der Vorrang der Leibnizischen Form der Analysis vor der Newtonschen Form erwiesen hat. Auch die Newtonsche Fluxionsrechnung strebt nach einer freien Überschau über das Ganze der Probleme, nach einer wahrhaft universellen Fassung des Begriffs der Größe und des Begriffs der stetigen Veränderung. Aber diesem Streben sind hier von Anfang an bestimmte Schranken gesetzt. Denn Newton kommt von der Mechanik her und zielt letzten Endes immer wieder auf die Mechanik hin. Es ergibt sich hieraus, daß sein Denken, auch wo es sich scheinbar in ganz abstrakten Bahnen bewegt, doch immer der mechanischen Analogien bedarf und sich an ihnen festhält. Sein allgemeiner Begriff des Werdens ist daher ganz am Phänomen der Bewegung orientiert. So ist der Begriff der Fluxion, auf welchem Newtons Analysis beruht, dem Galileischen Begriff des Moments der Geschwindigkeit nachgebildet und trägt noch immer bestimmte charakteristische Einzelzüge von ihm zu Lehen. Leibniz’ Methode erscheint demgegenüber formaler und abstrakter. Denn auch er kommt zwar von der Dynamik her – aber die Dynamik selbst soll ihm nur als Vorstufe und als Eingangstor zu der neuen Metaphysik dienen, nach der er strebt. So ist er genötigt, sie von Anfang an in voller Allgemeinheit zu nehmen und aus dem Begriff der Kraft, den er zugrunde legt, alle anschaulichen, von der körperlichen Bewegung hergenommenen Nebenvorstellungen auszuschalten. Sein Begriff der Veränderung, auf dem er die Analysis aufbaut, ist daher nicht mehr mit einem bestimmten, konkret-
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anschaulichen Gehalt erfüllt und behaftet, sondern er ruht auf jenem »Prinzip der allgemeinen Ordnung« (»Principe de l’ordre general«), das er als »Prinzip der Kontinuität« bezeichnet und definiert.154 Hier wer | den somit nicht, wie es in Newtons Methode der »ersten und letzten Verhältnisse« geschieht, die Grundprobleme der Analysis in die Form des Bewegungsproblems übersetzt, sondern die Theorie der Bewegung ist von Anfang an als ein bloßer Spezialfall gedacht, der – ebenso wie die Theorie der Reihen oder wie die geometrischen Probleme der Quadraturen von Kurven – einer ganz universellen logischen Regel unterstellt wird. In diesem Sinne haben für Leibniz die Arithmetik, die Algebra, die Geometrie und die Dynamik überhaupt aufgehört, selbständige Wissenschaften zu sein: Sie sind zu bloßen »Proben« (échantillons) der universellen Charakteristik geworden.155 Vom Standpunkt dieser Charakteristik, die die allgemeine und allgemeingültige Sprache der Mathematik sein will, erscheinen jetzt alle früheren Ansätze, wie sie in den Einzelgebieten erreicht waren, nur noch als besondere Idiome. Die Logik der Wissenschaften kann und soll diese bloße Idiomatik überwinden: Denn sie besitzt die Kraft, zu den letzten grundlegenden Relationen des Denkens hinabzusteigen, die in allen Verknüpfungen des Besonderen implizit enthalten sind und auf denen das Recht dieser Verknüpfungen beruht. So geht aus der Universalität des Zeichens die echte Universalität des Denkens hervor. Wenn Leibniz zur Rechtfertigung seiner Einführung und seines Gebrauchs der »unendlich kleinen« Größen mit Vorliebe auf das Beispiel des Imaginären verweist, so läßt sich im Zusammenhang unseres Problems diese Analogie erst in ihrem eigentlichen logischen Grunde verstehen. Das Gemeinsame und Verbindende liegt hier in der Symboltheorie, die Leibniz als idealistischer Logiker geschaffen hat und die er im Aufbau der Mathematik überall voraussetzt. In ihr laufen zuletzt alle Fäden zusammen, die seine Gestaltung der Einzelwissenschaften mit der allgemeinen Wissenschaftslehre und diese wieder mit seinem Gesamtsystem der Philosophie verknüpfen. Blicken wir nun noch einmal auf das Ganze der mathematischen Begriffsbildung zurück, so zeigt sich, wie diese Begriffsbildung innerhalb ihrer Gesamtentwicklung dem Weg treu geblieben ist, den ihr schon in den ersten Anfängen der wissenschaftlichen Mathematik 154 [Gottfried Wilhelm Leibniz, Lettre de M. L. sur un principe general utile à l’explication des loix de la nature par la consideration de la sagesse divine, pour servir de replique à la reponse du R. P. D. Malebranche, in: Philosophische Schriften, Bd. III, Berlin 1887, S. 51–55: S. 52.] 155 Vgl. Brunschvicg, Les étapes de la philosophie mathématique, S. 199.
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Platon mit wahrhaft seherischer Klarheit gewiesen hat. Das Ziel, das sie verfolgt und dem sie sich ständig genähert hat, ist das Ziel der »Bestimmung« – der Überwindung des &πειCον durch das π'Cας gewesen. Alle mathematische Begriffsbildung beginnt damit, daß der Gedanke sich zwar nicht schlechthin vom anschaulich Gegebenen und anschaulich Vorstellbaren loslöst, daß er sich aber von dem Fließenden und Unbestimmten | der Anschauung zu befreien sucht. An die Stelle des Ineinanderschillerns und des unmerklichen Ineinander-Übergehens der sinnlich-anschaulichen Data setzt sie scharfe und klare Sonderungen. Solche Sonderungen sind, solange wir im Kreise der bloßen Wahrnehmung oder Anschauung stehenbleiben, nirgends vorhanden. Hier gibt es keine »Punkte«, keine »Linien« und »Flächen« in dem Sinne, den die Mathematik mit diesen Begriffen verbindet. Das axiomatische Denken der Mathematik ist es, das selbst erst die möglichen Subjekte für jede echt mathematische Aussage setzt. In diesem Sinne hat Felix Klein die Axiome geradezu als Forderungen definiert, vermöge deren wir uns über die Ungenauigkeit der Anschauung oder über deren begrenzte Genauigkeit zu unbegrenzter Genauigkeit erheben.156 Ebenso betont z. B. Weyl in seiner Entgegensetzung des »anschaulichen« und des »mathematischen« Kontinuums, daß zu diesem letzteren in keiner andern Weise zu gelangen ist als dadurch, daß der fließenden Anschauung kraft des Denkens exakte Elemente unterbreitet werden – daß der Gedanke der unbestimmten Vielheit des Anschaulichen den strengen Begriff der »reellen Zahl« supponiert. Und hierbei handelt es sich, wie er nachdrücklich hervorhebt, nicht etwa um eine »schematisierende Vergewaltigung« oder um eine einfache Leistung praktischer Denkökonomie, sondern um eine Tat der Vernunft, die durch das Gegebene hindurch und über dasselbe hinweggreift.157 Das eigentliche intellektuelle Wunder der Mathematik aber besteht nun darin, daß dieser »Durchgriff«, der schon ihren Anfang bestimmt, in ihr selbst nirgends ein Ende findet, sondern daß er sich stets auf neue, und auf immer höherer Stufe, wiederholt. Er allein ist es, der sie davor bewahrt, zu einem Inbegriff bloß analytischer Sätze zu erstarren und zur leeren Tautologie herabzusinken. Die Einheit und die Geschlossenheit der mathematischen Methodik beruht darauf, daß die schöpferische Urfunktion, der sie ihre Entstehung verdankt, innerhalb ihrer selbst an keinem Punkte zum Still-
156 Felix Klein, Nicht-Euklidische Geometrie. I. Vorlesung, gehalten während des Wintersemesters 1889–90, Göttingen 1892, S. 355. 157 Vgl. Weyl, Das Kontinuum, bes. S. 37 f. u. 65 ff. [Zitat S. 70].
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stand kommt, sondern daß sie sich in immer neuen Formen betätigt und sich in dieser Betätigung als ein und dasselbe, als unzerstörbare Ganzheit behauptet.158 |
158 Das vorstehende Kapitel über die mathematische Begriffsbildung war bereits abgeschlossen, als, im Herbst 1927, die Arbeit von Oskar Becker über »Mathematische Existenz« erschien (Mathematische Existenz. Untersuchungen zur Logik und Ontologie mathematischer Phänomene, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 8 [1927], S. 439–809). Es hieße der Bedeutung der Beckerschen Arbeit nicht gerecht werden, wenn ich den Versuch unternehmen wollte, mich hier nachträglich und im Vorübergehen mit ihr auseinanderzusetzen. Eine solche Auseinandersetzung könnte nur auf einem | anderen Boden als auf dem unseres eigenen systematischen Grundproblems mit Erfolg in Angriff genommen werden. Nur das eine sei daher hier bemerkt, daß ich Becker den Ausgangspunkt seiner Untersuchung, daß ich ihm jenes Prinzip, das er das »phänomenologische Zugangsprinzip« nennt, durchaus zugestehe. »Zu jeder Gegenständlichkeit«, so formuliert er es, »gibt es (im Prinzip, d. h. abgesehen von ›technischen‹ Schwierigkeiten) einen Zugang. Damit erst ist jegliche Gegenständlichkeit als Phänomen charakterisiert und dem schlechthin universalen Anspruch der transzendentalen Phänomenologie (für die jedes Sein mit Konstituiertsein gleichbedeutend ist) Genüge geschehen.« (A. a. O., S. 502 Anm.) Auch mit der Konsequenz, die Becker aus diesem Prinzip zieht, mit der Behauptung des Primats des Zahlbegriffs vor dem Mengenbegriff (vgl. bes. a. a. O., S. 559 ff.) stimme ich, wie die obigen Ausführungen zeigen, völlig überein. Was mir dagegen durch Beckers Argumentation nicht erwiesen und was mir auch aus der heutigen Problemlage der Mathematik in keiner Weise erweisbar scheint, ist die Notwendigkeit und das Recht, jenes allgemeine »Reihenprinzip«, auf dem sich das Zahlgebiet aufbaut, mit dem Phänomen der Zeit in der Weise zu verknüpfen, wie es in Beckers Arbeit durchgehend geschieht. Selbst wenn man »die entscheidende Rolle der Zeitlichkeit für den Seinscharakter der mathematischen Gegenstände« (s. a. a. O., S. 637 ff.) anerkennt, so bedeutet doch die Zeitlichkeit, die hier in Frage kommt, nichts anderes als das allgemeine Schema der »Ordnung in der Folge« (»order in progression« nach dem Ausdruck William Rowan Hamiltons [Lectures on Quaternions: Containing a Systematic Statement of a New Mathematical Method; of which the Principles were communicated in 1843 to The Royal Irish Academy; and which has since formed the Subject of Successive Courses of Lectures, delivered in 1848 and Subsequent Years, in The Halls of Trinity College, Dublin: With Numerous Illustrative Diagrams, and with some Geometrical and Physical Applications, Dublin/London/Cambridge 1853, S. (2)]). Mit der »historischen« Zeit oder mit der »Erlebniszeit« des Mathematikers darf diese »objektive« Zeit der Mathematik in keiner Weise vermengt werden (vgl. Becker, Mathematische Existenz, S. 657 ff.). Die Betrachtung der modernen Mathematik rechtfertigt, soviel ich sehe, heute so wenig wie je zuvor den Versuch, den »transzendentalen« Idealismus ins Anthropologische umzuwenden. Das »Subjekt«, auf welches die reinen Konstruktionsprinzipien der Mathematik und damit das Reich der mathematischen Gegenständlichkeit zurückzubeziehen ist, bleibt das »Ich denke« von Kants »transzendentaler Apper-
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zeption«, also jenes »reine Ich«, der »Ich-Pol«, von dem auch Husserl ursprünglich ausgeht. Becker hingegen sucht den Gehalt und Bestand der Mathematik vielmehr auf eine bestimmte Art und Richtung »faktischer Lebensphänomene« zurückzuführen: Er sieht die mathematische »Existenz« letzthin in bestimmten »Weise[n] des faktischen Lebens« gegründet (a. a. O., S. 621 ff. [Zitate S. 623 f.]). Gegen diese Begründung auf eine bloße Daseinsfaktizität wird, wie ich glaube, die Mathematik kraft der Grundforderung der »Objektivität«, die ihr innewohnt, immer Einspruch erheben müssen. In einer neueren Arbeit »Über den sogenannten ›Anthropologismus‹ in der Philosophie der Mathematik«, die mir erst während der Korrektur des vorliegenden Bandes zugänglich war (Über den sogenannten »Anthropologismus« in der Philosophie der Mathematik [Eine Erwiderung in Sachen der »Mathematischen Existenz«], in: Philosophischer Anzeiger 3 [1929], S. 369–387), spricht Becker davon, daß bereits die Marburger Neukantianer das Problem der philosophischen Grundlegung der Mathematik mit Recht von einem »idealistischen« Ansatz aus zu fassen versucht hätten; sie seien aber daran gescheitert, »daß sie die Idee des Erkenntnissubjekts zu unbestimmt ansetzten, bzw. selbst die bereits erreichte Bestimmtheit der Subjektivität nicht in der konkreten Problemstellung zum Tragen brachten« (a. a. O., S. 381). Soll dieser Vorwurf der »Unbestimmtheit« des Ansatzes, der hier gegen den »logischen Idealismus« erhoben wird, nichts anderes besagen als dies, daß der logische Idealismus eine Vermischung der »reinen« Subjektivität mit Bestimmungen der Subjektivität des »Menschen« ablehnt, so scheint er mir auf einer Petitio principii zu beruhen. Der logische Idealismus geht von der Analyse der mathematischen »Gegenstände« aus, und er sucht die eigenartige Bestimmtheit | dieser Gegenstände dadurch zu erfassen, daß er sie aus der Eigenart der mathematischen »Methode«, der mathematischen Begriffsbildung und Problemstellung, erklärt. Was diese Methode selbst »ist«: das entnimmt er hierbei lediglich ihrer immanenten Leistung. In ebendieser Leistung aber findet sich die Subjektivität, sofern sie als die konkrete Subjektivität des Mathematikers verstanden wird, als konstitutives Moment nicht vor; sie ist vielmehr in ihr bewußt eliminiert. Wenn Becker versucht, diesen Sachverhalt zu leugnen – wenn er die These vertritt, daß schon die bloße Definition der Mathematik (als der Wissenschaft, die das Unendliche mit endlichen Mitteln beherrschen soll) sofort und notwendig auf den Mathematiker selbst zurückweise (a. a. O., S. 379), so erscheint mir eine solche Folgerung nirgends in dem »Bestand« der mathematischen Erkenntnis selbst gegründet, sondern nur durch eine künstliche Interpretation dieses Bestandes erreichbar zu sein. Denn auch in der angeführten Definition der Mathematik liegt der Nachdruck nicht sowohl auf der Tatsache, daß die Mathematik sich der »endlichen Mittel« bedient, als vielmehr darauf, daß sie kraft ihrer und durch sie das Unendliche beherrscht. Geht man dem Problem dieser Beherrschung und der Frage nach ihrer »Möglichkeit« nach, so wird man auf eine durchaus andere »Zeitform« geführt als diejenige, in der sich die »Existenz des Menschen«, als notwendig endliche Existenz, bewegt. Zu den »sehr bestimmten und konkreten Strukturen« (Tod, Geschichtlichkeit, »Freiheit«, »Schuldigsein«), die Beckers Analysen sichtbar machen wollen, führt, soviel ich sehe, weder vom Gegenstand der Mathematik aus noch von ihrer Methode aus ein Zugang: Die » wesensmäßige und einsichtige Beziehung […] zwischen der Sinnstruktur des Mathematischen« als solchen und »dem Seinsinn des endlichen Wesens Mensch« (vgl. a. a. O., S. 383) ist, wie mir scheint, aus dem heutigen Problembestand der Mathematik so wenig wie aus irgendeinem früheren abzulesen und zu erweisen. |
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kapitel v. Die Grundlagen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis I. Empirische und konstruktive Mannigfaltigkeiten Der Aufbau des Zahlenreichs zeigt uns in typischer Reinheit und Vollendung das Beispiel eines Gegenstandsgebiets, das sich aus einer grundlegenden Urrelation heraus gestaltet und durch sie vollständig übersehbar und bestimmbar ist. Der Gedanke geht von einer reinen Beziehung aus, die zunächst von der denkbar einfachsten Form zu sein scheint – die nichts anderes als eine Reihung von Denkelementen durch ein Gesetz der Folge, das ihnen auferlegt wird, in sich schließt. Aber aus diesem elementaren Gesetz quellen nun immer weitere und komplexere Bestimmungen, die sich wiederum in streng gesetzlicher Weise miteinander verflechten, bis schließlich aus dem Ganzen dieser Verflechtungen der Inbegriff der »reellen Zahlen« entsteht, in dem der Wunderbau der Analysis gegründet ist. Nirgends besteht hier die Gefahr, zu absoluten Schranken der Erkenntnis oder zu inneren Widersprüchen zu gelangen, solange die mathematische Erkenntnis nur ihrem eigenen konstruktiven Prinzip treu bleibt – solange sie keine anderen »Gegenstände« zuläßt als solche, die sie unmittelbar aus diesem Prinzip heraus zu gewinnen und abzuleiten vermag. Es ist die Grundform der Beziehung selbst, die einen bestimmten Bereich von Gegenständen setzt und abgrenzt und die ihn in ebendieser Bestimmung für die Erkenntnis zu einem theoretisch beherrschbaren Ganzen macht. Aber diese Art der gedanklichen Beherrschung scheint sofort gebrochen zu sein, wenn wir das Gebiet des Mathematischen überschreiten – wenn wir den Schritt vom »Idealen« ins »Reale« wagen. Denn hier beginnt das Reich der »Materie«, die sich der reinen »Form« gegenüber- und entgegenstellt. An Stelle einer ursprünglichen Einheit, die sich gesetzmäßig in eine Vielheit entfaltet und auseinanderlegt, stehen wir nunmehr vor | einer Mannigfaltigkeit, die lediglich als solche, als vorhandene Mehrheit vor uns ausgebreitet liegt. Diese Mannigfaltigkeit ist – zum mindesten in der Art, in der sie sich uns unmittelbar darbietet – nicht »konstruierbar«: Wir müssen sie als schlichte Gegebenheit hinnehmen. Ebendiese Gegebenheit scheint der spezifische, der auszeichnende Charakter zu sein, durch welchen sich das »Physische« vom bloß »Mathematischen« unterscheidet. Hier baut sich nicht in der Konsequenz, in der inneren Folgerichtigkeit des reinen Denkens, eine Gegenstandswelt für uns auf, sondern hier gibt sich uns ein äußeres »Dasein«, durch die Vermittlung der
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Empfindung und der sinnlichen Anschauung, zu eigen. Und diese Art der Aneignung kann nicht anders als fragmentarisch und stückhaft sein. Wir müssen – nicht nach einem vorausbestimmten Plane, sondern wie es die an sich planlose, die zufällige »Beobachtung« mit sich bringt – von einem Punkt dieses Daseins zum andern schreiten: zufrieden damit, wenn wir am Ende des Weges alle diese Punkte durch eine Linie verbinden können, deren Form sich allgemein beschreiben und ausdrücken läßt. Und wir müssen jeden Augenblick gewärtig sein, diese Form durch eine andere zu ersetzen, sobald das neu zuströmende »Material« es fordert, sobald die »Data«, auf die unsere intellektuelle Synthesis sich stützt, sich verändern. Gegenüber dieser Art der empirischen Gebundenheit scheint somit der theoretische Gedanke als solcher zunächst machtlos zu sein. Natura non vincitur nisi parendo – nicht indem der Gedanke seine allgemeine Form der Natur aufzwingt, sondern indem er sich in ihre einzelnen Gestaltungen vertieft und sie Zug für Zug nachzuzeichnen sucht, vermag er allein das Wissen von diesen Gestaltungen zu gewinnen. Die Überschau über sie erfolgt jetzt nicht mehr in einem fest begrenzten, von Anfang an geschlossenen Horizont, sondern mit jeder Erweiterung des inhaltlichen Gesichtskreises scheint sich auch die Art der Betrachtung wandeln, scheint sich die »Visierlinie« verschieben zu müssen. So tritt uns das, was wir die »Natur«, was wir das »Dasein der Dinge« nennen, zunächst niemals anders denn als eine bloße »Rhapsodie von Wahrnehmungen« 159 entgegen. Diese Wahrnehmungen mögen sich wie auf einer Schnur aufreihen und sich in ihrem Beisammen und Nacheinander beschreiben lassen – aber diese Art ihrer Herzählung bleibt nichtsdestoweniger von jener charakteristischen Grundform der Reihung, wie wir sie im Fortschritt der ganzen Zahlen ausgedrückt fanden, scharf geschieden. Denn hier folgt nicht ein Glied auf das andere, indem es zugleich aus ihm folgt, d. h., indem es nach einer allgemein feststellbaren, für das Ganze der Reihe gültigen Regel aus dem vor | hergehenden Gliede ableitbar ist. Der Weg, der Fortschritt, die Methode wird vielmehr zu einem bloßen Fortgang, zu einer bloß empirischen Sukzession. Damit aber ist die Beziehung von »Individualität« und »Allgemeinheit« von Grund aus verändert. Auch jede einzelne Zahl ist ein Begriffsindividuum: ein Gegenstand mit eigenen, ihm allein zugehörigen Merkmalen und Bestimmungen. Aber ebendiese Eigenheit kommt ihr nicht an sich, sondern nur im System der Zahlen zu: Sie ist gegründet in den reinen Ordnungsbe-
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[Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 152 (B 195).]
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ziehungen, in denen die einzelne Zahl zur Gesamtheit der möglichen Zahlen steht. So ist auch das Individuelle hier als reiner Stellenwert gedacht und fixiert. Die einzelne Wahrnehmung aber will etwas anderes und will mehr sein als eine bloße Stelle in einer Reihe. Sie steht gewissermaßen für sich und auf sich – und ihre Bedeutung beruht eben auf dieser ihrer Besonderheit. Zwar fügt auch sie sich jenem Ganzen ein, das wir als das Ganze des Raumes und der Zeit bezeichnen. Aber sie erfüllt dieses Ganze, sie erfüllt den einzelnen »Punkt« des Raumes, in dem sie sich befindet, und den einzelnen »Moment« der Zeit mit einem einmaligen und einzigartigen Inhalt, der sich auf die bloße Bestimmung des »Wo« und »Wann« nicht reduzieren läßt. Eben hierin tritt der Charakter der bloßen »Gegebenheit« immer wieder zutage. Jede Wahrnehmung ist als solche unmittelbar nur einem Beobachter und unter dessen besonderen räumlich-zeitlichen Bedingungen gegeben. Es ist keineswegs selbstverständlich, ja es ist zunächst gar nicht abzusehen, wie sie aus dieser Isolierung heraustreten, wie sie sich mit anderen Wahrnehmungen »verknüpfen« kann. Denn gerade diese Verknüpfung scheint eine Zusammenfassung von Elementen zu verlangen, die nicht nur zufällig, sondern grundsätzlich als ungleichartig gedacht werden müssen. Ohne die ihr innewohnende Heterogenität scheint die Wahrnehmung nicht Wahrnehmung sein zu können, weil sie ohne sie die qualitative Besonderung, die zu ihrem Wesen gehört, einzubüßen droht: Mit dieser Heterogenität scheint sie sich niemals wahrhaft der Form des Systems zu fügen, die eine Bedingung für die Möglichkeit des Wissens, des theoretischen Be greifens überhaupt darstellt. In dieser Antinomie liegt der erste Anfang, der dialektische Keim für alle naturwissenschaftliche Begriffsbildung beschlossen. Denn freilich wirft das Denken, sobald es vom Gebiet der mathematischen Gegenstände in das der »physischen« Gegenstände übertritt, seine eigene Form und seine eigenen Voraussetzungen nicht weg – sondern es sucht nunmehr, diese Voraussetzungen gerade an dem Widerstand, den sie vom | »Gegebenen« aus erfahren, zu bewähren. Und es entdeckt jetzt an ebendiesem Widerstand in sich selber eine neue Kraft, die bisher wie verschlossen in ihm ruhte. Es stellt an sich die Forderung, gleichsam das Unmögliche zu leisten: das »Gegebene« so zu behandeln und so zu betrachten, als wäre es nicht denkfremd, sondern als wäre es vom Denken selbst gesetzt und kraft seiner konstruktiven Bedingungen erzeugt. Die Form der bloß faktischen Mannigfaltigkeit, in der sich die Wahrnehmung zunächst darbietet, soll in die Form einer begrifflichen Mannigfaltigkeit umgewandelt werden. Das konkrete physikalische Denken, wie es sich in der Geschichte der Natur-
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erkenntnis darstellt und auswirkt, fragt nicht danach, ob eine solche Umwandlung möglich sei, sondern es verwandelt das Problem alsbald in ein Postulat. Es setzt die begriffliche Aporie, die hier vorliegt, in die Tat um. Mit einer solchen Tat des Denkens beginnt jegliche naturwissenschaftliche Begriffsbildung. Die »diskursive« Natur des Denkens bewährt sich darin, daß es sich nicht damit begnügt, die Reihe des Gegebenen anzunehmen und hinzunehmen, sondern daß es diese Reihe wirklich »durchlaufen« will. Und es kann sie nicht anders durchlaufen, als indem es zugleich nach einer Regel des Übergangs fragt, die vom einen Glied zum andern fortführt. Diese keineswegs unmittelbar gegebene, sondern lediglich geforderte und gesuchte Regel bleibt das Kennzeichen, kraft dessen sich die eigentümliche »Faktizität« des naturwissenschaftlichen Denkens von jeder anderen Form der bloßen Tatsachenerkenntnis unterscheidet. Auch die vérités de fait, wie sie im physikalischen Denken aufgefunden und festgestellt werden, sind noch von der Besonderheit der physikalischen »Ratio« her bestimmt und gleichsam mit ihr imprägniert. Dies tritt sofort und schlagend zutage, wenn man die »Tatsachen« der Physik denen eines anderen Gebiets, wenn man sie etwa den Fakten der Geschichte gegenüberstellt. Hier bewährt sich alsbald die Wahrheit und Tiefe von Goethes Wort: Das Höchste wäre es zu erkennen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Es gibt keine Faktizität an sich als ein absolutes, ein für allemal feststehendes und unveränderliches Datum: Sondern was wir ein Faktum nennen, muß immer schon in irgendeiner Weise theoretisch orientiert, muß im Hinblick auf ein gewisses Begriffssystem gesehen und durch dasselbe implizit bestimmt sein. Die theoretischen Bestimmungsmittel treten nicht nachträglich zum bloß Tatsächlichen hinzu, sondern sie gehen in die Definition des Tatsächlichen selbst ein. So ist es der spezifische gedankliche Blickpunkt, der von Anfang an die »Fakta« der Physik von denen der Geschichte scheidet. »Carlyle sagt einmal irgendwo«, so bemerkt | Henri Poincaré in seiner Schrift »La science et l’hypothèse«, »daß das Faktum allein entscheidend sei. Johann ohne Land ist hier vorbeigegangen: Das ist bewunderungswürdig, das ist eine Realität, für die ich alle Theorien der Welt hingeben würde. […] Das ist die Sprache des Historikers. Der Physiker würde vielmehr sagen: Johann ohne Land ist hier vorbeigegangen; das ist mir sehr gleichgültig, da er hier nicht wieder vorbeikommen wird.«160 In dieHenri Poincaré, La science et l’hypothèse (Kap. 9), S. 168 [»Carlyle a écrit quelque part quelque chose comme ceci: ›Le fait seul importe; Jean sans Terre a passé par ici, voilà ce qui est admirable, voilà une réalité pour laquelle je donne160
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ser prägnanten Formulierung erfassen wir sofort den Grundgegensatz zwischen zwei methodischen Urbedeutungen der Tatsächlichkeit. Auch wo der Physiker einen einzelnen Vorgang beschreibt, der an einen bestimmten Ort des Raumes und an einen bestimmten Augenblick der Zeit gebunden ist, ist es nicht die Einzelheit als solche, die er sucht; sondern er betrachtet sie sub specie ihrer Wiederholbarkeit. Nicht daß hier und jetzt etwas geschehen, will er feststellen, sondern die Frage geht auf die Bedingungen des Geschehens. Sie lautet, ob bei Festhaltung dieser Bedingungen der gleiche Vorgang sich an anderen Orten und zu anderen Zeiten beobachten lassen oder wie er sich, unter bestimmter Variation dieser Bedingungen, verändern werde. Es ist somit, auch dort wo ein einzelner Tatbestand untersucht und geprüft wird, niemals dieser Tatbestand allein, sondern es ist die Regel, nach der er als wiederkehrend gedacht wird, worauf die Betrachtung letzten Endes abzielt. Die Form dieser Regel steht einstweilen noch dahin – und wir müssen uns hüten, über sie allzu frühzeitig eine bestimmte Aussage machen zu wollen. Es gab eine Epoche der Physik, in der es den Anschein hatte, als sei diese Form endgültig fixiert. In der Einleitung zu seinem grundlegenden Aufsatz »Über die Erhaltung der Kraft« (1847) stellt Helmholtz den allgemeinen Kausalsatz als diese Urform physikalischen Denkens hin. Er ist ihm die Conditio sine qua non der naturwissenschaftlichen Problemstellung selbst – die Bedingung der »Begreiflichkeit der Natur«.161 Auf Grund des heutigen Standes der Physik wird auch die Erkenntniskritik hierüber vorsichtiger und zurückhaltender urteilen müssen. Die Frage, ob alle Naturerklärung notwendig auf »kausale« Gesetze eines bestimmten Typus hinführen müsse oder ob sie bei bloßen »Wahrscheinlichkeitsgesetzen« sich beruhigen könne und müsse, läßt sich, wie immer sie entschieden werden mag, jedenfalls nicht durch einen einfachen Machtspruch des Denkens entscheiden. Nur die Versenkung in das begriffliche Ordnungsgefüge der Physik selbst kann hier die Entscheidung bringen, kann uns lehren, wie innerhalb des naturwissenschaftlichen Denkens sich der Bereich der rein »dynamischen« | Gesetzmäßigkeiten gegen das Gebiet, in dem bloß »statistische« Gesetzmäßigkeiten gelten, abgrenzt.162 Aber auch dort, wo das physikarais toutes les théories du monde‹. […] C’est là le langage de l’historien. Le physicien dirait plutôt: ›Jean sans Terre a passé par ici; cela m’est bien égal, puisqu’il n’y repassera plus‹.«]. 161 [S. oben, S. 166 Anm. 61.] 162 Vgl. bes. Max Planck, Dynamische und statistische Gesetzmäßigkeit. Rede, gehalten bei der Feier zum Gedächtnis des Stifters der Friedrich-WilhelmsUniversität Berlin am 3. August 1914, Leipzig 1914; wieder abgedruckt in: ders.,
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lische Denken nicht den Anspruch erhebt, einen Vorgang streng kausal begreifen zu wollen, wo es sich mit der Aufstellung statistischer Regeln begnügt, ist und bleibt es doch immer nicht der Vorgang selbst, sondern das Regelhafte des Vorgangs, worauf dies Denken wesentlich gerichtet ist. Und das Urteil, das diese Regelhaftigkeit feststellt, läßt sich niemals in eine bloße Summe, in ein Aggregat von Aussagen über Einzelfälle auflösen. Der strenge »Empirismus« freilich muß seiner Grundtendenz gemäß eine solche Auflösung versuchen. Für Mach z. B. scheint die Aufstellung des Fallgesetzes in der Tat nichts anderes zu bedeuten als die Zusammenfassung einer großen Zahl konkreter Einzelbeobachtungen, die bei dieser Vereinigung keine weitere Änderung erfahren als diejenige, daß sie in einen gemeinsamen sprachlichen Ausdruck gefaßt werden. Die Form des Galileischen Gesetzes s = 1/2 gt2 gilt hier lediglich als die abgekürzte Bezeichnung für eine Tabelle, in welcher bestimmten individuellen Werten von s bestimmte individuelle Werte von t zugeordnet werden. Lediglich die Forderung der Denkökonomie, die einen möglichst sparsamen Gebrauch von Zeichen verlangt, kann es begründen und rechtfertigen, daß wir, statt diese Tabelle explizit für alle bisher beobachteten Fälle vorzulegen, einen allgemeinen formelhaften Ausdruck wählen, der doch seine konkrete Bedeutung erst erhält, wenn wir an Stelle der unbestimmten Veränderlichen bestimmte numerische Werte einsetzen. Gilt diese Betrachtungsweise, so wäre durch sie die physikalische Tatsächlichkeit doch wiederum auf eine bloß historische zurückgeführt: Der Unterschied zwischen beiden beträfe nicht die Sache selbst, sondern lediglich die Zeichen, deren wir uns zur Darstellung der jeweiligen Sachverhalte bedienen. Aber auch wenn wir dem radikalen Empirismus in dieser Betrachtungsweise folgen, so erhebt sich gerade hier, im Zusammenhang unseres allgemeinen Problems, eine neue Frage. Die »Philosophie der symbolischen Formen« hat uns durchgängig gezeigt, daß das »Zeichen« niemals eine bloß zufällige und äußere Hülle für den Gedanken ist, sondern daß sich im Gebrauch des Zeichens eine bestimmte Wendung, eine Grundtendenz und Grundform des Denkens selber ausprägt. Immer bleibt also die Frage offen, aus welcher Tendenz des physikalischen Denkens die Notwendigkeit quillt, eine | bestimmte Zeichensprache, die Zeichensprache der mathematischen »Formel«, aus allen anderen herauszuheben und vor allen anderen zu bevorzugen. Wir werden nach allen Einsichten, die wir über die Sprache selbst und ihre geistige Konstitution gewonnen Physikalische Rundblicke. Gesammelte Reden und Aufsätze, Leipzig 1922, S. 82–102.
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haben, nicht länger annehmen können, daß hier bloße Gründe der »Bequemlichkeit« obwalten; wir müssen einen tieferen und innerlicheren Bezug von Denkform und Sprachform zum mindesten vermuten. Ob diese Vermutung oder, wenn man will, dieses systematische »Vorurteil« sich bestätigt: dies kann uns freilich nur die eindringende Analyse der physikalischen Begriffsbildung und der physikalischen Zeichengebung selbst lehren. Der Weg führt auch hier über die Auffassung der Zeichen zur Auffassung der Sache, des Bezeichneten, weiter: Die Betrachtung und Zergliederung der Symbole, in denen sich die physikalischen Urteile aussprechen und in denen sie erst zu der ihnen gemäßen Form gelangen, soll uns die Art und den Charakter der physikalischen »Gegenständlichkeit« verständlich machen. Es ist das Verdienst Pierre Duhems, daß er in seinem Werk über die Theorie der Physik diesen Weg zuerst beschritten hat. Mit außerordentlicher Schärfe und Klarheit werden in diesem Werk all die ideellen Vermittlungen aufgezeigt, die durchlaufen werden müssen, wenn aus der bloßen Beobachtung einzelner Erscheinungen physikalische Sätze und physikalische Urteile gewonnen werden sollen. Es wird gezeigt, daß der Aufbau einer bestimmten Symbolwelt es ist, der erst den Zugang zur Welt der physikalischen »Realität« ermöglicht. Jedes der besonderen Symbole, die hier geschaffen werden, aber setzt seinerseits wieder, als sein eigentliches Fundament, das Ursymbol der »reellen Zahl« voraus.163 Was sich uns zunächst als eine rein faktische Mannigfaltigkeit und als eine faktische Verschiedenheit von Sinneseindrücken darstellt, das erhält physikalischen Sinn und physikalischen Wert erst dadurch, daß wir es auf den Bereich der Zahl »abbilden«. Man wird dieser Abbildung und dem höchst komplexen Formgesetz, unter dem sie steht, freilich nicht gerecht, wenn man sie in einem bloß inhaltlichen Sinne versteht – wenn man von der Annahme ausgeht, daß es, um in die Welt der Physik einzutreten, genüge, daß man den einzelnen, in der Wahrnehmung gegebenen Inhalten Inhalte von anderer Art und Prägung unterschiebt. Jeder besonderen Wahrnehmungsklasse werde einfach je ein besonderes Substrat zugeordnet, das erst der vollständige Aus | druck seiner echten, seiner eigentlich physikalischen »Wirklichkeit« ist. Was sich dem Temperatursinn als Wärmeempfindung darstellt, das wird seiner physikalischen »Wahrheit« nach als Molekularbewegung erkannt – was dem 163 Näheres über Duhems Theorie der physikalischen Gegenständlichkeit s. oben, S. 24 ff.; vgl. auch Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 21923, S. 189 ff. [ECW 6, S. 154 ff.].
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Auge als Farbe gegeben ist, das wird als Ätherschwingung bestimmt. Aber diese Art der Übertragung, in der gewissermaßen stückhaft, Glied für Glied, der unmittelbare Wahrnehmungsinhalt in einen anderen, mittelbaren umgesetzt wird, erschöpft bei weitem nicht den Grundsinn der physikalischen Methodik. Für diese handelt es sich vielmehr darum, die Wirklichkeit der sinnlichen Erscheinungen, der Farben und Töne, der Tast- und Temperaturempfindungen, als Ganzes auf einen neuen geistigen Maßstab zu beziehen und sie vermöge dieser Beziehung in eine andere Dimension der Betrachtung zu erheben. Es ist daher im Grunde niemals die einzelne »Empfindung«, der wir ihr bestimmtes objektiv-physikalisches »Substrat« gegenüberstellen können; sondern was sich miteinander vergleichen, was sich aneinander »messen« läßt, das ist auf der einen Seite die Gesamtheit der Phänomene der Beobachtung, auf der anderen Seite das Gesamtsystem der Begriffe und Urteile, in denen die Physik die Ordnung und Gesetzlichkeit der »Natur« ausspricht. Es hat eine Epoche in der Geschichte der Physik gegeben, in der man glaubte, den wissenschaftlichen »Materialismus« dadurch überwinden zu können, daß man die Vorstellung eines einheitlichen Grundstoffes durch andere Vorstellungen ersetzte, die aber gleichfalls dinglich-substantiell gefaßt waren. An Stelle der substantiellen Materie trat die substantielle Energie oder der substantielle Äther. Aber eine eigentliche erkenntniskritische Vertiefung wurde auf diesem Wege nicht erreicht. Sie trat erst ein, als man den Begriff der physikalischen »Abbildung« überhaupt näher analysierte und ihn schärfer in seiner Bedeutung und seiner Leistungsfähigkeit bestimmte. Jetzt erst wurde deutlich, daß die Abbildung niemals unmittelbar von einem Element der »Wahrnehmungsreihe« zu einem Element der physikalischen »Begriffsreihe« überspringen und beide auf ihre direkte »Ähnlichkeit« oder »Entsprechung« untersuchen kann. Eine solche Entsprechung kann vielmehr immer nur zwischen der Totalität der empirischen Beobachtungsdata und der Totalität der theoretischen Begriffsmittel, der physikalischen Gesetze und Hypothesen, gesucht werden. Erst dadurch, daß sie sich diesen Sachverhalt immer deutlicher zum Bewußtsein brachte und daß sie aus ihm die logischen Konsequenzen zog, hat die moderne Physik den Materialismus nicht nur im ontologischen Sinne, sondern in einem umfassenderen | methodischen Sinne überwunden. Sie verzichtete jetzt mehr und mehr auf jene Form der »Erklärung« der Naturerscheinungen, die lediglich darin besteht, daß an Stelle bestimmter Gruppen konkreter, sinnlich aufzeigbarer Phänomene ihre abstrakten geometrischen Repräsentanten oder ihre mechanischen »Modelle« treten. Aber die Abkehr von dieser Form
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der Erklärung bedeutete nur scheinbar einen Schritt zu jenem Positivismus, der in den physikalischen Gesetzen nichts anderes als eine bloße »Beschreibung« des Naturgeschehens sieht. Der Unterschied trat sofort hervor, sobald man, statt lediglich das negative Moment zu betonen, auf die positive Bestimmung hinblickte, sobald man auf die spezifische Eigenart der Beschreibungsmittel reflektierte. Diese Mittel sind jener Art der »Tatsächlichkeit«, die für den Positivismus das alleinige Kriterium der »Wirklichkeit« ausmacht, entrückt: Sie gehören derselben Sphäre wie die Gebilde des reinen mathematischen Denkens an. Die Anerkennung dieser ursprünglichen Dualität ist die notwendige Bedingung für das Verständnis jener »Harmonie«, die der naturwissenschaftliche Begriff verlangt und die er stiftet. Diese Harmonie bedeutet mehr und sie bedeutet etwas prinzipiell anderes als bloße Übereinstimmung: Sie ist ein echt synthetischer Akt, der Entgegengesetztes miteinander verknüpft. In jedem echten physikalischen Begriff und in jedem physikalischen Grundurteil liegt eine solche »Synthesis des Entgegengesetzten« beschlossen. Denn immer handelt es sich darum, zwei verschiedene Mannigfaltigkeitsformen aufeinander zu beziehen und gewissermaßen miteinander zu durchdringen. Von einer bloß empirischen, von einer schlechthin »gegebenen« Vielheit wird ausgegangen: Aber das Ziel der theoretischen Begriffsbildung ist darauf gerichtet, sie in eine rational überschaubare, in eine »konstruktive« Vielheit zu verwandeln. Diese Verwandlung ist niemals abgeschlossen – aber sie wird stets von neuem und mit immer komplexeren Mitteln in Angriff genommen. Die erkenntnistheoretische Grundfrage nach der Möglichkeit der »Anwendung« der mathematischen Begriffe auf die Natur geht letzten Endes auf diesen Sachverhalt und auf das Problem, das er in sich schließt, zurück. Die Schwierigkeit dieser Anwendung beruht darauf, daß sie nur auf Grund einer bewußten µετβασις ες &λλο γ'νος möglich scheint; daß in ihr den Phänomenen gewissermaßen gewaltsam ein anderer Ordnungstypus aufgedrückt werden muß als der, dem sie ursprünglich angehören. Stellen wir uns freilich, statt auf den Standpunkt einer realistischen Metaphysik, auf den Standpunkt der »Philosophie der symbolischen Formen« – so verliert die Umbildung, die wir hier vor uns sehen, alsbald | einen großen Teil der Paradoxie, die ihr anhaftet. Denn ebendies ist es, was die »Philosophie der symbolischen Formen« gezeigt und was sie von den verschiedensten Seiten her immer aufs neue bestätigt hat: daß sich alles geistige Leben und alle geistige Entwicklung nicht anders als in solchen Umbildungen, in derartigen intellektuellen Metamorphosen vollziehen kann. Eine solche Metamorphose war es,
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durch welche bereits der Anfang und die Möglichkeit der Sprache bedingt war: Denn auch die Sprache kann nicht einfach gegebene Eindrücke oder Vorstellungen »bezeichnen«, sondern der Akt der bloßen Benennung schließt immer zugleich eine Formveränderung, eine geistige Umsetzung in sich. Wir sahen, wie diese Umsetzung sich in dem Maße, als die Sprache fortschreitet, als sie gleichsam »zu sich selbst kommt«, immer schärfer akzentuiert. Der Halt am Gegebenen und die »Ähnlichkeit« mit ihm geht mehr und mehr verloren: Aus der Phase des »mimischen« und des »analogischen« Ausdrucks schreitet die Sprache zur rein symbolischen Formung fort.164 Die wissenschaftliche Erkenntnis wiederholt, in einer anderen Dimension der Betrachtung, den gleichen Weg. Auch sie gewinnt die »Nähe« zur Natur nur dadurch, daß sie auf sie verzichten lernt – daß sie sich das Gegebene in eine ideelle Ferne rückt. Nicht in dieser Entfernung, in dieser geistigen Distanzsetzung als solcher liegt also hier das eigentliche Problem – wohl aber handelt es sich darum, die besondere Richtung, in welcher die Arbeit des physikalischen Denkens fortschreitet, klar zu bestimmen und sie von anderen Grundrichtungen der Formung scharf zu unterscheiden. Die Einsicht in diesen Unterschied kann nicht anders gewonnen werden als dadurch, daß man nicht nur das Ziel, dem dieses Denken zustrebt, in seiner Allgemeinheit erfaßt, sondern daß man auch den Weg, der zu ihm hinführt, in seine einzelnen Stadien zerlegt. Wir dürfen es uns nicht verdrießen lassen, diesen Weg gewissermaßen Schritt für Schritt nachzugehen: Denn nur indem wir ihn im eigentlichen Sinne »durchmessen«, kann er von uns beschrieben werden. Was Goethe einmal von der Darstellung großer Menschen sagt: daß die Quelle immer nur beschrieben werden könne, indem sie fließt, das gilt in einem allgemeinen Sinne von jedweder lebendigen Bewegung des Geistes. Die Natur ihres Fortschritts kann nicht lediglich formelhaft und abstrakt definiert, sondern sie muß in ihrer Aktualität, in der Energie der Bewegung selbst, ergriffen werden. Das methodische Gesetz des »Procedere« läßt sich nicht anders als am konkreten Prozeß selber, an seinen Anfängen und | seiner Fortentwicklung, seinen Wendungen und Wandlungen, seinen geistigen Krisen und Peripetien deutlich machen. Der dogmatische Empirismus wie der dogmatische Rationalismus scheitern beide daran, daß sie dieser Aktualität, diesem reinen Prozeßcharakter der Erkenntnis nicht gerecht werden können. Sie heben 164 Näheres s. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 136 ff. [ECW 11, S. 136 ff.].
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diesen Charakter auf, indem sie die Polarität, die die eigentlich treibende Kraft der Erkenntnis, die das Prinzip ihrer Bewegung selbst ist, verleugnen. Diese Polarität wird vernichtet, wenn man die gegensätzlichen Momente, statt sie aufeinander zu beziehen und sie gedanklich miteinander zu vermitteln, vielmehr aufeinander zurückzuführen sucht. Der Empirismus tut dies, indem er die konstruktiven Begriffe ins »Gegebene« aufgehen läßt – der Rationalismus, indem er umgekehrt in jeder Gegebenheit als solcher lediglich die Form ihrer begrifflichen Bestimmtheit heraushebt. Aber in beiden Fällen kommt es zu einer Nivellierung der Grundgegensätze, in deren Gegeneinander der Gegenstandsbereich der physikalischen Erkenntnis sich erst eigentlich aufbaut. Die nackte Koinzidenz schiebt sich an die Stelle der wahrhaft fruchtbaren Korrelativität. Das Zeugende, das wahrhaft Schöpferische des Begriffs wird damit ebensowohl wie das der Erfahrung verkannt: Denn beide entfalten die Kräfte, die in ihnen liegen, nur, indem sie sich aneinander messen. Die Folge der »Wahrnehmungen«, die empirische Reihenform der Koexistenz und der Sukzession, stellt die Frage, die mit den Mitteln der begrifflichen, der konstruktiven Reihenform zu bewältigen ist. Sie stellt ein Neben- und Nacheinander auf, das fortschreitend in ein Ineinander umgesetzt werden soll. Eine Gesamtheit von Gliedern a, b, c, d …, die zunächst lediglich in dem »Daß«, in der Tatsächlichkeit ihres räumlich-zeitlichen Zusammenseins gegeben sind, sollen als einander »zugehörig« erkannt, sollen durch eine Regel verknüpft werden, auf Grund deren sich das »Hervorgehen« des einen aus dem andern bestimmen und vorhersehen läßt. Dieses Gesetz des Hervorgehens ist in der unmittelbaren Art, in der die Wahrnehmungen »da sind«, niemals mitgegeben: Es muß ihnen zunächst rein gedanklich, rein hypothetisch unterlegt werden. Die Elemente a, b, c, d … werden derart zu ordnen gesucht, daß sie als Glieder einer Folge x1 x2 x3 x4 … gedacht werden können, die durch ein bestimmtes »allgemeines Glied« gekennzeichnet ist. Aus der Einsetzung besonderer Größen in dieses allgemeine Glied soll jetzt der Einzelfall sich ergeben, soll er im eigentlichen Sinne »resultieren«. Aber dieses Resultat besteht niemals schlechthin: Sondern es ist immer aufs neue und durch immer verfeinerte Methoden der Reihung zu gewinnen | und sicherzustellen. Der Prozeß der Beziehung der empirischen Reihenform auf die mathematisch-ideelle bricht nirgends ab: Aber andererseits geht an keinem Punkte die eine unmittelbar in die andere über, sondern beide bleiben ihrer Struktur nach voneinander deutlich geschieden. Man erkennt auch in diesem Zusammenhange, in welchem Sinne die mathematisch-physikalische Begriffsform mit der Erfahrung »anhebt«, ohne doch aus ihr zu »ent-
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springen«. Die Erfahrung geht voran, indem sie die Aufgabe formuliert: Aber die Lösung dieser Aufgabe kann nicht von ihr erwartet werden, sondern muß aus der eigenen Grundrichtung des mathematisch-konstruktiven Denkens erfolgen. Die Wahrnehmung ist und bleibt, platonisch gesprochen, der »Paraklet« dieses Denkens – aber sie erzeugt die Kräfte nicht, die sie erweckt. In solchem Gegenspiel der Kräfte entsteht und festigt sich erst die physikalische Objektwelt. Immer wieder ist es die Berührung mit der empirischen Anschauung und ihrer unmittelbaren »Wirklichkeit«, die den mathematisch-physikalischen Begriff erst zu seiner Selbstentwicklung bringt, die ihn nötigt, seine eigenen, tief verschlossenen »Möglichkeiten« vollständig herzugeben. Und in diesem Prozeß der Selbstentfaltung wird er freilich alsbald wieder über die Grenzen der anfänglichen Frage hinausgetrieben. Er schafft nicht nur das Gerüst für die jeweilig vorliegenden empirischen Probleme, sondern er greift in die Zukunft voraus; er stellt die intellektuellen Mittel für »mögliche« Erfahrungen in Bereitschaft und weist den Weg, diese rein theoretisch konzipierte Möglichkeit in Wirklichkeit, in Aktualität umzusetzen. Schon im Aufbau des Zahlbereichs selbst, das uns bisher als der eigentliche Prototyp einer rein konstruktiv begründbaren Ordnung gegolten hat, tritt diese Doppelbewegung hervor. Das Reich der »reellen Zahlen« hätte sich in der Form, die es in der modernen Analysis gewonnen hat, nicht konstituieren können, wenn die ganze Zahl in der Bedeutung, in der die Pythagoreer sie als Urprinzip des Denkens wie des Seins festgestellt hatten, nicht ständig über ihre eigenen Grenzen hinausgedrängt hätte, wenn sie nicht fortschreitend »erweitert« worden wäre. Die Notwendigkeit einer solchen Erweiterung des ursprünglich gesetzten Zahlbegriffs ergab sich dadurch, daß dieser Begriff die Antwort auf Fragen zu geben suchte, die nicht rein innerhalb seiner eigenen Sphäre entstanden waren, sondern die die anschauliche Welt, die Welt der Größen, an ihn stellte. Es sind zunächst die Probleme der Längenmessung, die die Zahl gewissermaßen zwingen, den ihr anfangs gesteckten Kreis zu durchbrechen – die zur Entdeckung des Irrationalen hinführen. Dieses selbst erscheint hierbei anfänglich, wie sich schon aus seiner Be | zeichnung ergibt, als ein der Zahl selbst und dem ihr innewohnenden Logos Fremdartiges: Es ist ein &λογον und &CCητον. Aber eben an diesem ihrem Gegensatz entdeckt nun die Zahl erst wahrhaft die in ihr liegende intellektuelle Kraft und den inneren Reichtum, den sie in sich birgt. Die weitere Entwicklung geht dahin, die Welt der Größen nicht einfach als eine neue und andere der Welt der Zahlen gegenüberzustellen, sondern den Fortgang, der anfangs durch einen äußeren Anstoß veranlaßt war, in
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einen innerlich notwendigen, in einen begrifflich geforderten Fortgang zu verwandeln. Die neuere Analysis steht am Ende dieses logischen Prozesses. Dedekind spricht als das Fundament seiner gesamten Theorie des Irrationalen ausdrücklich den Satz aus, daß es möglich sei, ohne jede Vorstellung von meßbaren Größen, durch ein endliches System einfacher Denkschritte, sich zur Schöpfung des reinen stetigen Zahlbereiches zu erheben – und daß es erst mit diesem gedanklichen Hilfsmittel alsdann möglich werde, die Vorstellung vom stetigen Raume zu einer deutlichen auszubilden.165 Und auch für Cantor bildet diese Auffassung das Prinzip und das treibende Motiv für den Aufbau seiner Theorie des Kontinuums.166 Für den Zahlbegriff, wie er sich in der modernen Analysis gestaltet, ist es daher charakteristisch, daß er auch gegenüber den Gebieten konkret-anschaulichen Seins, mit denen die Zahl durch ihre gesamte geistige Geschichte aufs engste verflochten ist, ja denen sie innerlich verwoben zu sein scheint, seine unbedingte »Autonomie« behauptet. Nach der Seite der Begründung hin soll er fortan rein auf sich selbst stehen. Die gleiche Beziehung, die hier an einem klassischen Beispiel hervortritt, beherrscht durchweg das Verhältnis von konstruktiver und empirischer Begriffsbildung, von Erfahrung und mathematisch-physikalischer »Theorie«. Immer wieder erweist sich die empirische Anschauung als das eigentliche befruchtende Element der Theorie – aber der Prozeß der Befruchtung verlangt andererseits einen keim- und triebkräftigen Samen der Theorie selbst. Die Berührung mit der Welt der Anschauung treibt das Denken nicht schlechthin über sich selbst hinaus, sondern führt es vielmehr dazu, tiefer in sich selbst, in seinen eigenen »Grund« zurückzugehen. Und aus diesem Fundament heraus entwickelt es nun die neuen Formen, die dem komplexen Gefüge des anschaulichen Seins gerecht werden können. Die Geschichte der exakten | Naturwissenschaft lehrt an immer neuen Beispielen, wie nur das, was in dieser Weise aus dem Grund des Denkens erwächst, sich letzten Endes der Erfahrung gewachsen zeigt. Man könnte mit einem der chemischen Begriffssprache entnommenen Bilde sagen, daß der sinnlichen Anschauung für die Ausbildung der naturwissenschaftlichen Theorie eine wesentlich »katalytische« Leistung zukommt. Sie ist unentbehrlich für den Prozeß der exakten Begriffsbildung – aber 165 Richard Dedekind, Stetigkeit und irrationale Zahlen, Braunschweig 21892; vgl. bes. das Vorwort zu Dedekinds Schrift »Was sind und was sollen die Zahlen?«, S. XIII. 166 S. z. B. Georg Cantor, Grundlagen einer allgemeinen Mannichfaltigkeitslehre. Ein mathematisch-philosophischer Versuch in der Lehre des Unendlichen, Leipzig 1883, S. 29.
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in dem Produkt, das aus diesem Prozeß hervorgeht, gleichsam in der logischen Substanz des exakten Begriffs, ist sie nicht mehr als selbständiger Bestandteil enthalten und aufweisbar. Je weiter dieser Begriff fortschreitet, um so mehr erscheinen in ihm die sinnlichanschaulichen Bestimmungen, von denen er seinen Ausgang nahm, zwar nicht vergessen oder vernichtet, aber in eine ganz neue Art der »Formung« aufgenommen – und dieser Formwechsel ist nicht nur eine äußerliche Beziehung, die die übrigens unveränderten Elemente der sinnlichen Anschauung zueinander eingehen, sondern er greift diese Elemente selbst an ihrer Wurzel an; er gibt ihnen eine neue Bedeutung und in dieser ein neues »Sein«. Wir greifen, um diesen Weg der intellektuell-symbolischen Formung sichtbar werden zu lassen, hier zunächst ein einzelnes Beispiel heraus, an welchem sich die allgemeine Richtung des Weges gewissermaßen unmittelbar ablesen läßt. Die Physik kann die ihr eigentümliche Gegenstandswelt nicht aufbauen, ohne daß sie hierbei neben den Grundbegriff der Zahl einen anderen konstitutiven Grundbegriff: den Begriff des Raumes, stellt. Beide Elemente können erst in ihrer wechselseitigen Durchdringung wirksam werden; und so eng ist die Verflechtung zwischen ihnen, daß auch die ursprüngliche Entdeckung des wissenschaftlichen Begriffs der Zahl ganz in ihrem Zeichen steht. Für die Pythagoreer ist das Motiv der Zahl von dem des Raumes noch untrennbar: Die Verhältnisse der Zahlen selbst lassen sich nicht anders entwickeln und darstellen als dadurch, daß sie als räumliche Verhältnisse, als Beziehungen zwischen Punkten, aufgewiesen werden. Aber so bedeutsam und so fruchtbar sich diese Synthese von Raum und Zahl für die Geschichte des mathematischen und naturwissenschaftlichen Denkens auch erweist, so liegt in ihr doch, rein logisch betrachtet, der Keim zu einer Problematik und Dialektik, die in der griechischen Philosophie schon in den Aporien des Zenon hervorbrach.167 Denn selbst wenn man annimmt, daß der Raum, | daß die Form der »äußeren« Anschauung, sich der Herrschaft des Logos fügt – so ist doch der Logos des Raumes notwendig ein anderer als der der Zahl. Beide sind in ihrer gedanklichen Struktur scharf und deutlich voneinander geschieden. Die Mannigfaltigkeit der räumlichen Punkte und Stellen steht dem Bewußtsein unmittelbar keineswegs als eine frei erzeugte, als eine synthetisch aufgebaute Mannigfaltigkeit gegenüber. Hier läßt sich nicht, wie bei der Zahl, mit der Bestimmung 167 Für den Zusammenhang der Zenonischen Aporien mit den Problemen der Pythagoreischen Mathematik sei auf meine Darstellung der griechischen Philosophie in Dessoirs »Lehrbuch der Philosophie« verwiesen [s. ECW 16].
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einer allgemeinen Ordnungsform, mit der Ordnungsform der »Folge«, beginnen, um von ihr aus, in einem strengen und lückenlosen Zusammenhang von Denkschritten, die gesamte Fülle der besonderen Beziehungen zu entwickeln. Vielmehr scheint der Raum, mit dieser Art der Ableitung verglichen, immer den Charakter des »Alogischen«, des in der reinen Tätigkeit des Ordnens, des Unterscheidens und Beziehens nicht Erschöpfbaren zu behalten. Es bleibt ein nicht auflösbarer Restbestand zurück: Die spezifische »Form« des Raumes läßt sich nicht konstruktiv erzeugen, sondern nur als eine Weise der Gegebenheit hinnehmen. Hier ist daher eine Schranke gesetzt, die keine noch so weit getriebene »Rationalisierung« überschreiten kann, sondern die sie, an irgendeinem Punkte ihrer Entwicklung, notwendig anerkennen muß. Und gerade die Tendenz zu einer durchgängigen Logifizierung der Mathematik, die die moderne Entwicklung der Analysis beherrscht, scheint diese Schranke nicht beseitigt, sondern nur um so schärfer als solche erkannt zu haben. Für Russell, der zwischen dem Reich der Zahlen und dem Reich der rein logischen Form keinerlei Grenzscheide zuläßt, dessen ganzes Bemühen vielmehr auf den Nachweis gerichtet ist, daß der Begriff der Zahl sich aus rein logischen Konstanten aufbauen läßt, tut sich in dem Augenblick, in dem das Raumproblem auftritt, gewissermaßen ein logischer Hiatus auf. Die »abstrakte« Geometrie zwar ist auch für ihn ein rein mathematisches und somit streng logisches Gebilde: Ihr Gegenstand unterscheidet sich von dem der reinen Zahlenlehre durch nichts anderes als dadurch, daß sie, im Vergleich zu dieser, komplexere Reihenformen, daß sie Reihen von zwei oder mehr Dimensionen untersucht. Aber dieses rein begriffliche, hypothetisch-deduktive System der Geometrie enthält auch keinerlei Bestimmung über den wirklichen, den »aktualen« Raum (actual space). Diese Bestimmung kann vielmehr immer nur der Erfahrung entnommen werden, so daß die Wissenschaft vom Raume, in diesem letzteren Sinne verstanden, zu einem Zweig der Physik, der empirischen Naturwissenschaft wird.168 Aber ebendort, wo die beiden | Gebiete sich scheiden, wo das »reine Denken« gleichsam am Ende seiner Kräfte angelangt zu sein scheint, tritt nun sein Sinn und Ziel in einer neuen Richtung zutage. Denn nun bewährt sich am Problem des Raumes das gleiche Grundverhältnis, wie wir es allgemein zwischen »konstruktiven« und »empirischen« Mannigfaltigkeiten gültig fanden. Das Gesetz einer empirischen Mannigfaltigkeit kann nicht festgestellt, kann nicht durch Erfahrung »gefunden« werden, außer sofern es bereits theoretisch gesucht und 168
Vgl. Russell, The Principles of Mathematics, bes. Kap. 44, § 352 ff., S. 372 ff.
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damit, in einer ganz bestimmten Hinsicht, theoretisch vorweggenommen wird. Ohne eine solche ideelle Antizipation würde die Mannigfaltigkeit der empirischen Wahrnehmung sich niemals zu einer räumlichen »Form« zusammenschließen. Die Erfahrung am Räumlichen und vom Räumlichen ist selbst nicht anders möglich als dadurch, daß wir ihr, als besonderer Erfahrung, gewisse allgemeine Ordnungsund Maßsysteme unterbauen. Solche Ordnungs- und Maßsysteme von verschiedenem gedanklichen Typus sind es, die wir in den verschiedenen Arten der »projektiven«, der »deskriptiven«, der »metrischen« Geometrie besitzen. Alle diese Systeme enthalten zunächst keinerlei Aussage über »wirkliche« Dinge oder über faktische Tatbestände – sie stellen nichts als reine »Möglichkeiten«, als die ideelle Bereitschaft für die Ordnung des Faktischen auf. Die Erfahrung als solche enthält in sich kein Prinzip der Erzeugung solcher Möglichkeiten, sondern ihre Rolle beschränkt sich darauf, zwischen ihnen, zur Anwendung auf den jeweilig vorliegenden konkreten Einzelfall, eine Auswahl zu treffen. Nicht die Konstitution, sondern die Determination ist ihre eigentliche Leistung. Je weiter das Reich der Möglichkeiten reicht, das der Gedanke selbständig und selbsttätig aufgebaut hat, um so weniger verschließt er sich sozusagen in sich selbst, sondern um so mehr steht er der Erfahrung und ihrer determinierenden Funktion offen. Die hypothetisch-deduktiven Systeme der Geometrie als solche stehen demgemäß auf derselben logischen Linie wie die reinen Zahlbegriffe. In ihre Grundlegung, in die Aufstellung ihrer »Axiome« geht die Erfahrung als konstitutiver Faktor sowenig ein, wie sie etwa in die Schaffung des Bereichs der komplexen Zahlen eingeht.169 Wenn diese von der Erfahrung unabhängigen 169 In dieser Grundauffassung des Verhältnisses von »Geometrie« und »Erfahrung« stehe ich, soviel ich sehe, unter den modernen Physikern Max Theodor Felix von Laue am nächsten. Vgl. Laue, Die Relativitätstheorie, Bd. II: Die allgemeine Relativitätstheorie und Einsteins Lehre von der Schwerkraft, Braunschweig 1921 (Die Wissenschaft. Sammlung von Einzeldarstellungen aus den Gebieten der Naturwissenschaft und der Technik, Bd. 68), S. 29: »[…] Riemann [tat] 1864 den später für die allgemeine Relativitätstheorie grundlegend wichtig gewordenen Schritt [statt der einfachen Abstandsformel der euklidischen Geometrie
ds = √ d x12 + d x22 + d x32 ] eine homogene quadratische Funktion der dxi mit beliebigen Funktionen der xi als Koeffizienten,
ds2 = ∑ γik dxi dxk ik
als Quadrat des Linienelementes anzusetzen. Man kann diesen Ansatz den verallgemeinerten pythagoreischen Satz nennen. Jede Wahl der Funktionen γik bestimmt eine besondere Art von Geometrie. […] Wir […] wollen an dieser
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Systeme | für die Erfahrung fruchtbar gemacht werden sollen, wenn zwischen den Begriffselementen der Geometrie und den Daten, die die Beobachtung liefert, eine Beziehung geschaffen werden soll, so bedarf es hierzu zunächst einer bestimmten gedanklichen Vermittlung. Denn keineswegs läßt sich die eine Reihe der andern unmittelbar vergleichen oder auf ihre »Ähnlichkeit« mit der anderen untersuchen. Zwischen empirischen und idealen Elementen besteht – wie schon der eigentliche Entdecker des Ideellen, wie schon Platon aufs schärfste erkannt und ausgesprochen hat – kein mögliches Verhältnis der »Ähnlichkeit«, des völligen oder teilweisen Zusammenfallens. Auch alle Gemeinschaft, die sich zwischen ihnen stiften läßt, alle κοινωνα oder παCουσα, hebt den grundsätzlichen Charakter der »Andersheit«, der -τεC της zwischen ihnen, nicht auf. An Stelle der Ähnlichkeit oder Kongruenz tritt hier die spezifisch eigene und die spezifisch neue Grundbestimmung der »Teilhabe«. Diese Teilhabe des Physischen am Arithmetischen und Geometrischen kann nicht anders erreicht und nicht anders begründet werden als dadurch, daß wir bestimmten physikalischen »Dingen« oder Vorgängen bestimmte mathematische Begriffe zuordnen, ohne daß diese Zuordnung ein Verhältnis der Identität zwischen ihnen behauptet. Sind einmal ganz allgemein die Grundbegriffe und Axiome bestimmter Geometrien festgestellt, so kann gefragt werden, ob es Elemente der physikalischen Erfahrung gibt und welche es sind, die in ihrem Verhalten diesen Begriffen und Axiomen gemäß sind. So wird etwa ein gewisser Vorgang, der Vorgang der Lichtausbreitung, dazu benutzt, um ein physisches »Analogon« zu dem zu gewinnen, was in einem bestimmten hypothetisch-deduktiven System der »reinen« Geometrie als »gerade Linie« definiert ist. Erst durch die Herstellung solcher analogischer Beziehungen erhält der Begriff der »Meßbarkeit« einen fest umgrenzten Sinn: Erst durch sie geht aus der ideellen arithmetischen Zahlordnung und der allgemeinen geo | metrischen Raumordnung eine bestimmte Maßordnung hervor. Diese letztere entspringt genau an dem Punkte, an dem durch die Anknüpfung der geometrischen Begriffe an physikalische Erfahrungen diese Begriffe aus dem Stadium ihrer abstrakten Losgelöstheit heraustreten und eine bestimmte »BinStelle nur erwähnen, daß in diese ganze Entwickelung der Geometrie, von Euklid bis Riemann, nirgends etwas Physikalisches mit hineingesprochen hat. Rein aus gewissen Axiomen wurde geschlossen. Diese Axiome selbst sind gewiß nicht die einzig möglichen, der menschliche Geist kann auch andere schaffen. Aber bei ihrer Aufstellung bedarf er einer Entlehnung aus der Erfahrung ebensowenig wie etwa bei Schaffung des Begriffs der komplexen Zahl; die Geometrien sind daher alle a priori.«
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dung« mit dem »Wirklichen«, mit dem Dasein der physischen Phänomene, eingehen. Aber auch diese Bindung betrifft keineswegs die Gültigkeit der Begriffe und Axiome als solche; sie betrifft nur den Gebrauch, den wir von ihnen in der Bestimmung der Erfahrungselemente machen. Wir stützen nicht die Voraussetzungen und Prinzipien der euklidischen Geometrie auf die Erfahrungen von starren Körpern – sondern wir benutzen diese Erfahrungen, um kraft ihrer physikalische »Entsprechungen« für die idealen Aussagen dieser Geometrie zu gewinnen. Mit der Art dieser Entsprechungen, mit einer veränderten Entscheidung darüber, welche Körper wir als starr, welche Bewegungen wir als geradlinig ansehen wollen, wechselt die Maßbestimmung, die wir zugrunde legen, und damit die Form der »Geometrie«. In diesem Sinne – aber auch nur in ihm – enthält jede »konkrete« Geometrie, jede Geometrie, die durch eine feste Maßbestimmung charakterisiert ist, bereits gewisse physikalische Voraussetzungen und Forderungen in sich: Aber der Umstand, daß sie sich nur auf dem Wege solcher Forderungen mit empirischem Gehalt erfüllt, bedeutet keineswegs, daß sie in ebendiesem Gehalt logisch gegründet ist. Die universelle Ordnung der Zahl und die universelle Geometrie, als Wissenschaft der »möglichen« Raumformen überhaupt, muß vorangehen, damit eine bestimmte physikalische Maßordnung sich konstituieren kann. In dieser Weise hat schon Leibniz in Sätzen von größter Prägnanz und Schärfe das methodische Verhältnis des »Abstrakten« und »Konkreten« bestimmt. »[Q]uoyqu’il soit vray«, so bemerkt er gegen Locke, »qu’en concevant le corps, on conçoit quelque chose de plus que l’espace, il ne s’en suit point qu’il y a deux étendues, celle de l’espace et celle du corps; car c’est comme lorsqu’en concevant plusieurs choses à la fois, on conçoit quelque chose de plus que le nombre, savoir res numeratas, et cependant il n’y a point deux multitudes, l’une abstraite, savoir celle du nombre, l’autre concrete, savoir celle des choses nombrées. On peut dire de même qu’il ne faut point s’imaginer deux étendues, l’une abstraite, de l’espace, l’autre concrete, du corps; le concret n’estant tel que par l’abstrait.«170 Hier ist die strenge idealistische Folgerung gezogen: Das Reich der »Idee« ist in seiner Selb | ständigkeit, in seiner originären Bedeutung anerkannt, ohne daß die Anerkennung dieses Bedeutungsgehalts die Behauptung einer abgesonderten Existenz des »reinen« Raumes, neben der empirisch-körperlichen Welt, in sich schließt. Im übrigen bewährt es sich auch hier wieder, daß die Beziehung, die zwischen der Welt der »reinen Formen« und der Welt der »Dinge« 170
Leibniz, Nouveaux essais (Buch 2, Kap. 4), S. 115.
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hergestellt wird, niemals von der Art ist, daß wir einem einzelnen »Ding« eine einzelne »Form« entsprechen lassen, sondern daß diese beiden Gefüge immer nur als Ganzes aufeinander bezogen und aneinander gemessen werden können. Hieraus scheint sich freilich in der Bestimmung und Festlegung des Einzelnen eine Freiheit zu ergeben, die fast an Willkür streift. Ob wir, um dem Begriff der »Geraden« einen bestimmten physikalischen Gehalt zu geben, an den Vorgang der Lichtausbreitung anknüpfen oder ob wir eine andere Festsetzung treffen, scheint zunächst lediglich eine Sache der Wahl, der freien Vereinbarung zu sein. Auch diese Vereinbarung wird in irgendeiner Weise »gegründet« sein müssen: Sie wird, scholastisch gesprochen, ein »fundamentum in re« haben. Aber dieses Fundament läßt sich nicht in der Art eines Einzeldinges, eines individuellen »Dies« und »Das«, aufweisen, sondern es ergibt sich immer erst aus der Gesamtheit und aus der synthetischen Verknüpfung der Erfahrungen. Wir wählen diejenigen Annahmen, auf Grund deren sich eine »einfache« und eine systematisch-vollständige Erklärung der Naturerscheinungen gewinnen läßt. Und da beides, diese »Einfachheit« wie diese systematische Geschlossenheit, immer nur relativ ist, so bleibt stets die Möglichkeit offen, daß wir durch eine geeignete Variation des ursprünglichen Ansatzes zu einem anderen und befriedigenderen Ergebnis gelangen können. Aber durch diesen Verzicht auf »absolute« Geltung wird den intellektuellen Symbolen der Mathematik und der exakten Naturwissenschaft nichts von ihrer objektiven Bedeutung entzogen. Denn diese Bedeutung gewinnen sie nicht durch die transzendenten Objekte, die hinter ihnen stehen und die sie abbilden, sondern durch ihre Leistung, durch die Funktion der »Objektivierung«, die sich in ihnen vollzieht. Mag diese Funktion niemals an ihr Ende, an ein eigentliches Nonplusultra gelangen, so steht doch ihre Richtung fest. Die Unabschließbarkeit des Weges hebt die Bestimmtheit dieser Richtung nicht auf: Denn eben durch die Beziehung auf »unendlich ferne« Punkte werden Richtungen definiert. Es zeigt sich in diesem Zusammenhang aufs neue, wie auch alle unsere Natur erkenntnis – sofern es sich in ihr eben um Naturerkenntnis, d. h. um ein ideelles Ziel und eine ideelle Aufgabe han | delt – zuletzt auf einem Akt der Freiheit, auf einem »Standpunkt, den die Vernunft sich gibt«,171 beruht. Aber auch hier ist, wie überall, die wahrhafte Freiheit kein Gegensatz [S. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 318 (Akad.-Ausg. IV, 458): »[…] Standpunkt, den die Vernunft sich genötigt sieht, außer den Erscheinungen zu nehmen […]«. S. auch a. a. O., S. 310 u. 314 (Akad.-Ausg. IV, 450 u. 455).] 171
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zur Bindung, sondern vielmehr ihr Anfang und Ursprung. Das erste: die Wahl gewisser empirischer Elemente, die wir bestimmten konstruktiven Gebilden entsprechen lassen, steht uns frei – aber beim zweiten und bei allem Folgenden sind wir Knechte, es sei denn, daß der Gedanke in einem neuen Akt das Ganze der ineinandergreifenden Folgerungen aufhebt und mit einem völlig neuen Ansatz beginnt. Denn freilich liegt es im Wesen der empirischen Mannigfaltigkeit selbst, daß sie niemals im strengen Sinn in die rein konstruktive aufgeht. Sie ist niemals zu Ende »konstruiert« – aber sie muß stets als ins Unbestimmte hin »konstruierbar« gedacht werden. So reißt der empirischen »Gegebenheit« gegenüber der Faden des Denkens nirgends ab, aber ebensowenig kann er je zu Ende gesponnen werden: Denn dieser Abschluß würde nicht die Vollendung des Gewebes, sondern seine Vernichtung bedeuten, weil er dem »Sinn« der Erfahrung als eines fortschreitenden Bestimmungsprozesses zuwider wäre.172 Zugleich aber läßt sich am Problem des Naturraumes, des Raumes der objektiv-physikalischen Messung, die Dimension des Gedankens, in der wir uns hier bewegen, deutlich aufzeigen und von anderen Dimensionen der Betrachtung unterscheiden. Der Raum als solcher, als eine bloße »Möglichkeit des Beisammen« gedacht, hat an sich noch keine bestimmte und eindeutige Form, sondern er steht den verschiedenartigsten Weisen der Formung gleich offen. Platon hat in seiner Naturphilosophie den Raum das πC3τον δεκτικν genannt: Er ist ihm das schlechthin Empfängliche und Bildsame, die Unterlage für alle Bestimmung, die erst durch die Gesetzgebung der »Idee« eine feste Bestimmtheit und Gestalt erhält. Der Aufbau der Philosophie der symbolischen Formen hat uns diese innere Bildsamkeit, die dem Motiv des Raumes innewohnt, in noch erweitertem Maße kennen gelehrt. Denn indem die Philosophie der symbolischen Formen ihrem Grundprinzip gemäß den Kreis des Ideellen nicht auf das Gebiet der theoretischen Erkenntnis einschränkt, indem sie die Kraft und Wirksamkeit des Ideellen in andere, tiefer zurückliegende Schichten, insbesondere in das Gebiet des sprachlichen und des mythischen Denkens, zurückverfolgt, ergibt sich ihr, daß jedem dieser Gebiete auch eine eigentümliche Weise der »Räumlichkeit« entspricht. Immer steht die Form des »Beisammen« unter einem gestaltenden Gesetz, | ohne das sie sich nicht zu konstituieren vermöchte – aber jedesmal geht der Prozeß der Gestaltung andere Wege. Jetzt stehen wir an dem Punkt, an dem es sich darum handelt, den Übergang zu verstehen, der von 172 Zur näheren Begründung vgl. meine Schrift »Substanzbegriff und Funktionsbegriff« (Kap. 7), S. 410 ff. [ECW 6, S. 334 ff.].
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dem empirischen »Anschauungsraum« zum »Begriffsraum« der theoretischen Physik hinführt. Wir erinnern uns hierbei, wie sehr ebendieser empirische »Anschauungsraum« selbst sich schon mit bestimmten symbolischen Elementen erfüllt und durchdrungen zeigte – wie stark insbesondere die Form des sprachlichen Denkens an seiner Gestaltung mitwirkt und wie tief sie seine gesamte Struktur bestimmt. Den Kreis der bloßen »Gegebenheit« haben wir somit in ihm längst hinter uns gelassen; der Prozeß des Aufbaus hat schon dort begonnen, wo die Sprache ihre ersten Raumworte, wo sie die hinweisenden Fürworte für das »Da« und »Dort«, für die Nähe und Ferne prägt. Beim Fortgang zum Raum der abstrakten Geometrie und zum Raum der objektiven Naturerkenntnis aber nimmt nun diese Prägung selbst einen ganz neuen Charakter an. Auch hier liegen zunächst gewisse elementare Unterschiede des Beieinander zugrunde, die den Raum als ein System rein »topologischer« Bestimmungen kennzeichnen. Wir erfassen Verhältnisse der »Nachbarschaft« von Punkten, des »Auseinanderliegens«, des Sichschneidens oder -kreuzens von Linien, der »Inzidenz« von Flächen oder Raumstücken. Aber aus diesem mannigfachen und vielverschlungenen Gewebe löst nun der Gedanke allmählich bestimmte Fäden heraus. Er tritt mit eigenen Voraussetzungen und eigenen Forderungen an die Anschauung heran, und er erschafft damit für sie neue Systeme der »Orientierung«. Je nach der Art dieser Voraussetzungen entfaltet sich aus dem ursprünglichen, rein topologischen Raum der »projektive« oder der »metrische« Raum. Die Form dieses letzteren ist dabei von einer Maßsetzung abhängig, die – in dem zuvor betrachteten Sinne – als eine frei gewählte erscheint. Wir bestimmen einen Körper, den wir als »starr«, als in seinen Abmessungen unveränderlich ansehen, wir sprechen einer empirisch vorliegenden »Linie« den Charakter der »Geradheit« zu. Durch solche Akte der Maßsetzung und der Gradensetzung entstehen verschiedene »Räume«, deren jeder durch ein besonderes Gefüge ausgezeichnet ist. Auch die rein topologische Auffassung schließt eine Lehre von den Verknüpfungen räumlicher Gebilde in sich; auch hier wird etwa eine einfach zusammenhängende Fläche von einer mehrfach zusammenhängenden unterschieden, und es werden ganz bestimmte mathematische Kriterien für diesen Unterschied angegeben. Aber die Betrachtung verweilt lediglich bei den Beziehungen der Nachbarschaft oder des stetigen Zusammenhangs der Raumgebilde, ohne daß in sie ein be | stimmter Begriff von ihrer Größe oder Gestalt einginge. Beide, Größe und Gestalt, werden erst bestimmbar, indem neue Denksetzungen, neue »Hypothesen« hinzutreten, deren Eigenart erst die jeweilige Form einer »Geometrie« konsti-
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tuiert.173 Überschauen wir nun noch einmal rückblickend die Gesamtentwicklung, die das Raummotiv erfährt, so ergibt sich erst jetzt die ganze Spannweite zwischen den Gegensätzen, die hierbei durchlaufen werden müssen. Es gibt kaum eine einzige Grundrichtung und Grundkraft des Geistes, die nicht in irgendeiner Weise an diesem gewaltigen Bildungsprozeß mitwirkte und die ihn nicht innerhalb bestimmter Phasen beherrscht. Empfindung und Anschauung, Gefühl und Phantasie, produktive Einbildungskraft und konstruktiv begriffliches Denken sind hier gleich sehr beteiligt – und die Art, in der sie ineinandergreifen und in der sie sich wechselweise bedingen, schafft jedesmal eine neue Gestalt des Raumes. Zugleich aber zeigt sich, wie dieser gesamte Prozeß bei all seiner inneren Vielgestaltigkeit zugleich eine bestimmte gleichbleibende Richtung innehält – wie die »Auseinandersetzung« zwischen Ich und Welt in ihm allmählich immer deutlicher und in immer stärkerer Bewußtheit hervortritt. Das mythische Bewußtsein des Raumes bleibt noch ganz in der Sphäre des subjektiven Gefühls beschlossen und ist in ihr gleichsam eingesponnen. Und doch entfaltet sich schon in ihm aus den elementaren Gegensätzen des primären Lebensgefühls ein Bild bestimmter Seinsgegensätze, ein Gegeneinander und Auseinander kosmischer Kräfte. Die Sprache treibt diese Sonderung weiter und vertieft sie: Der mythische »Ausdrucksraum« bildet sich durch ihre Vermittlung zum »Darstellungsraum« um. Aber erst das begriffliche, das geometrische und das physikalische Denken vollzieht den letzten entscheidenden Schritt. Immer energischer werden in ihm alle rein »anthropomorphen« Bestandteile zurückgedrängt, werden sie durch streng »objektive« Bestimmungen, die sich aus einer allgemeingültigen | Methodik des Zählens und Messens ergeben, ersetzt. Und mit dieser Zurückdrängung werden nicht nur alle Elemente, die aus der Gefühls- und Willenssphäre stammen, ausgeschaltet, sondern auch die Bilder, die reinen Schemata der Anschauung werden mehr und mehr beseitigt. 173 Die knappste und zugleich schärfste erkenntniskritische Analyse dieses Sachverhalts ist, soviel ich sehe, von Rudolf Carnap in seiner Schrift: Der Raum. Ein Beitrag zur Wissenschaftslehre, Berlin 1922 (Kant-Studien, Ergänzungsh. 56) gegeben worden. Carnap unterscheidet auf der einen Seite scharf den »formalen« Raum, der ein reines Beziehungs- oder Ordnungsgefüge ist, vom »Anschauungsraum« und vom »physischen Raum«, um sodann weiter zu zeigen, wie innerhalb jeder dieser drei Raumarten ein bestimmter »Unterschied« zwischen dem »topologischen«, dem »projektiven« und dem »metrischen« Raum zu machen ist. Ich gehe auf diese Unterschiede – da es sich im Zusammenhang unseres Problems nur um das Prinzip der Unterscheidung als solches, nicht um die konkreten Differenzen selbst handelt – hier nicht näher ein, sondern verweise für sie auf Carnaps eindringende Darstellung.
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Vom »Ausdrucksraum« und vom »Darstellungsraum« wird zu einem reinen »Bedeutungsraum« übergegangen.174 Um diesen Übergang zu ermöglichen, bedarf es indes noch einer ganzen Reihe anderer wichtiger Vermittlungen. Die Geschichte der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaft belehrt uns darüber, wie stetig und folgerecht, aber auch wie allmählich und langsam sich dieser Umbildungsprozeß vollzogen hat. Wir verfolgen hier nicht diesen geschichtlichen Gang, sondern wir versuchen am System der Naturerkenntnis, wie es sich uns in der modernen Physik darstellt, die einzelnen Momente auszusondern und aufzuweisen, in denen das Ziel, dem dieser Prozeß zustrebt, wie die Mittel, deren er sich bedient, ersichtlich werden. II. Prinzip und Methode der physikalischen Reihenbildung Die physikalische Begriffsbildung beginnt nicht mit einem völlig amorphen Material, mit einem »Mannigfaltigen« überhaupt, das ihr nur als solches, aber ohne jegliche Art von Ordnung, gegeben wäre. Solange wir überhaupt im Kreis der Phänomene stehenbleiben, stoßen wir nirgends auf ein solches völlig strukturloses Mannigfaltige. Auch die elementarste sinnliche Schicht, bis zu der wir zurückgehen können, bietet uns die Vielheit, die sie in sich faßt, immer schon als eine solche, die durch irgendein Reihenprinzip bestimmt ist. Der physikalische Begriff besäße für die Arbeit, die er zu leisten hat, keinen Angriffspunkt und keine Handhabe, wenn er nicht an diese Reihung in den sinnlichen Phänomenen selber anknüpfen könnte. Er läßt es freilich bei der Reihenform, die sich ihm hier darbietet, nicht bewenden; er begnügt sich nicht damit, sie beschreibend festzuhalten, sondern er verwandelt sie und prägt sie um. Aber ebendiese Umprägung wäre ihm nicht möglich, wenn nicht die Wahrnehmung selbst bereits gewisse Strukturelemente in sich schlösse. Sie teilt sich in bestimmte Wahrnehmungskreise ab, innerhalb deren kein bloßes »Beieinander«, sondern ein ursprüngliches »Zueinander« der einzelnen Bestimmungen besteht. Beziehungen der Ähn | lichkeit oder der Unähnlichkeit, der Verwandtschaft oder Gegensätzlichkeit, der Abstufung und Gliederung heben sich heraus. So ist jede sinnliche Mannigfaltigkeit, rein als solche, nicht nur als ein Aggregat verschiedener Einzelelemente gegeben, sondern sie drückt in ihrem einfachen Bestand zugleich einen bestimmten Mannigfaltigkeitstypus aus. 174 Vgl. hierzu die näheren Ausführungen in meinem Aufsatz: Das Symbolproblem [s. ECW 17].
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Die Welt der Farben etwa zeigt sich in dreifacher Hinsicht gegliedert, sofern sich an jeder Farbe ihr Farbenton, ihre Helligkeit und ihre Sättigung unterscheiden läßt. Die Gesamtheit der Verhältnisse, die auf Grund dieser ursprünglichen Beziehungsmomente zwischen Farben bestehen können, läßt sich in bekannter Weise durch bestimmte geometrische Schemata, z. B. durch das Farbenoktaeder, repräsentieren. Der Sinn dieser Schemata liegt nicht darin, daß durch sie das Phänomen der Farbenmannigfaltigkeit auf etwas anderes, das ganz außerhalb seines Kreises liegt, auf ein System geometrischer Formen zurückgeführt wird: Vielmehr handelt es sich in ihnen um die rein symbolische Darstellung von Beziehungen, die der Farbe als solcher eigentümlich sind, die in ihrer Grundbeschaffenheit, in ihrem sinnlich-anschaulichen Sosein, beschlossen und impliziert sind. Es gibt für uns kein »einzelnes« sinnliches Datum, das nicht – wenngleich in verschiedenen Graden der Ausprägung – in solchen Verflechtungen mit anderen stünde und das nicht dadurch einer allgemeinen, wenngleich zunächst rein sinnlich-anschaulichen Ordnung eingefügt wäre. In diesem Sinne ist es ein Vorurteil, an dem nicht minder die traditionelle Theorie des »Rationalismus« wie die des »Sensualismus« krankt, wenn man die Sphäre der »Allgemeinheit« erst beim Begriff, der hierbei als logischer Gattungsbegriff verstanden zu werden pflegt, beginnen läßt. Denn schon innerhalb der konkreten Besonderung der sinnlichen Phänomene selbst gehen, von einem Besonderen zum andern, bestimmte Fäden der Verknüpfung hin und her, durch die sich das Einzelne »zum Ganzen webt«. Selbst der strikte Sensualismus, dessen erkenntnistheoretische Grundabsicht darauf gerichtet ist, die Welt der Wahrnehmung und der Anschauung in ihre einzelnen Elemente, in die Atome der »Empfindung«, aufgehen zu lassen, konnte an dem Faktum dieser ursprünglichen Ganzheit nicht achtlos vorbeigehen. Hume sieht sich, schon in der ersten Aussprache und Begründung seines erkenntnistheoretischen Haupt- und Leitsatzes, daß es keine »Idee« geben könne, die nicht in einer ursprünglichen »Impression« gegründet wäre, zur Anerkennung eines Tatbestandes hingedrängt, der eine schwer zu beseitigende Gegeninstanz gegen dieses Grundprinzip aller sensualistischen Psychologie in sich schließt. Wäre dieser Satz in vollem | Umfange gültig, so bliebe das Bewußtsein auf bloße Reproduktionen eingeschränkt; jede Kraft zur Konstruktion wäre ihm ein für allemal versagt. Und doch scheint andererseits diese radikale Folgerung, selbst wenn wir uns im Umkreis des bloß sinnlichen Bewußtseins halten, durch die Erfahrung nicht bestätigt zu werden. Denn es lassen sich sinnliche »Vorstellungen« aufweisen, die nicht einfach Kopien und Abdrücke früherer Empfindungen sind,
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sondern eine, wenn auch noch so bescheidene, »Erzeugung« neuer Eindrücke in sich schließen. Werden uns zwei Farbnuancen dargeboten und werden wir aufgefordert, uns eine dritte vorzustellen, die »zwischen« ihnen liegen soll, so sind wir imstande, ein Bild dieser mittleren Farbqualität in uns zu entwerfen, auch wenn wir diese Qualität niemals zuvor als unmittelbaren Sinneseindruck erlebt haben. Es zeigt sich hierin, daß die Mannigfaltigkeit der Eindrücke selbst eine Art von »innerer Form« in sich schließt – eine Regel der Verknüpfung, die uns erlaubt, innerhalb dieser Mannigfaltigkeit nicht nur »Wirkliches« an »Wirkliches«, eine aktuale Empfindung an eine andere, zu reihen, sondern auch von Wirklichem auf »Mögliches« überzugreifen. Wir vermögen durch eine reine Leistung der »Einbildungskraft« auch solche Stellen einer sinnlichen Gesamtheit, die die direkte Erfahrung für uns leer gelassen hat, mit einem bestimmten Inhalt zu erfüllen. Hume selbst stellt freilich dieses Problem nur auf, um es alsbald wieder beiseite zu schieben: Die einzelne Ausnahme, die sich ihm aufdrängt und die er zugesteht, vermag nach ihm die Gültigkeit des allgemeinen Prinzips, daß Vorstellungen nichts anderes als Kopien von Eindrücken sein können, nicht umzustoßen.175 Die geschichtliche Weiterbildung der Elementenpsychologie aber, die zuletzt zu ihrer systematischen Überwindung führte, hat eben an diesem Punkte eingesetzt. Hier knüpft die Theorie des »indirekten Vorstellens« an, wie sie in der Schule Brentanos ausgebildet worden ist – und hier liegen zugleich die Keime zu einer neuen und tieferen »Psychologie der Relationen«, in der die Grundformen der Beziehung in ihrer selbständigen Bedeutung erfaßt und als »Gegenstände höherer Ordnung« anerkannt werden.176 Die Psychologie ist zu einer wirklichen Klärung des Grundgehalts der Relationen erst in dem Maße gelangt, als sie sich zu der Einsicht | durchrang, daß die reinen Beziehungen ein Problem sui generis darstellen: daß die Formmomente, die sie in sich schließen, sich niemals auf bloße Inhaltsmomente zurückführen lassen, sondern vielmehr die konstitutiven Voraussetzungen
Vgl. Hume, A Treatise of Human Nature (Buch 1, Teil 1, Abschn.1). Vgl. bes. Alexius Meinong, Hume-Studien. I. Zur Geschichte und Kritik des modernen Nominalismus, in: Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 87 (1877), S. 185–260 sowie seine Aufsätze »Zur Psychologie der Komplexionen und Relationen«, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 2 (1891), S. 245–265 und »Ueber Gegenstände höherer Ordnung und deren Verhältniß zur inneren Wahrnehmung«, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 21 (1899), S. 182–272. 175 176
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bilden, auf Grund deren der Inhalt, als bestimmter Inhalt, uns allein »gegeben« werden kann.177 An die einfachen Grundverhältnisse der »Ähnlichkeit« oder »Unähnlichkeit«, der »Nähe« oder »Ferne«, wie sie sich schon an den sinnlichen Phänomenen selbst aufweisen lassen, knüpft die Bildung der Sprachbegriffe an. Aber andererseits hat sich uns im Lauf unserer Untersuchung gezeigt, wie schon mit diesen Begriffen eine neue Wendung der Gesamtauffassung einsetzt. Denn der Akt der Benennung bedeutet zugleich eine neue Gliederung, die die Phänomene erfahren: Die sprachliche Bezeichnung geht Hand in Hand mit einer inneren Umgestaltung der Wahrnehmungswelt. Jetzt reiht sich nicht mehr einfach ein konkret bestimmter »Eindruck« an einen anderen; sondern die fließend immer gleiche Reihe wird in charakteristischer Weise abgeteilt. Es bilden sich bestimmte Zentren heraus, auf welche das Mannigfaltige bezogen und um die es gruppiert wird. Der Name »Rot« oder »Blau« fungiert als Name erst, indem er auf ein solches Zentrum hinweist – er meint nicht diese oder jene einzelne Rot- oder Blaunuance, sondern er drückt eine spezifische Weise aus, in der eine unbestimmte Vielheit solcher Nuancen in eins gesehen und gedanklich in eins gesetzt wird. Das Rot und das Blau sind nicht mehr Namen für individuelle Farberlebnisse; sondern Bezeichnungen für bestimmte Farbkategorien. Der Abstand, der zwischen dieser »kategorialen« Fassung und Durchformung und den unmittelbaren sinnlichen »Kohärenzerlebnissen« besteht, tritt, wie wir gesehen haben, besonders scharf und prägnant zutage, wenn man die Änderungen betrachtet, die die Wahrnehmungswelt und ihre Struktur unter dem Einfluß pathologischer Störungen der Sprachfunktion erfährt.178 Dennoch greift die Sprache als solche noch nicht prinzipiell über den Kreis des anschaulich Vorstellbaren hinaus. Sie hebt an der Anschauung selber bestimmte Grundmomente heraus, und sie fixiert diese Momente, ohne sie jedoch zu transzendieren. »Das« Rot oder »das« Blau besitzt freilich in der Welt der sinnlichen Eindrücke kein Korrelat mehr, das ihm direkt entspricht; aber nichtsdestoweniger gibt es unbestimmt viele Farbeindrücke, die die Bedeutung des Rot oder Blau konkret erfüllen, die als | besondere »Fälle« dessen, was der allgemeine Name meint, aufgewiesen werden können. Aber auch dieses Band zwischen dem »Allgemeinen« und »Besonderen« löst sich, sobald wir ins Gebiet der mathematisch-physikalischen Begriffe 177 Näheres hierüber im letzten Kapitel meiner Schrift »Substanzbegriff und Funktionsbegriff«, S. 433 ff. [ECW 6, S. 353 ff.]. 178 Näheres s. oben, zweiter Teil, Kap. VI.
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eintreten. Schon der Ansatz dieser Begriffe versetzt uns in eine andere Sphäre. Hier wird nicht nur das Gegebene selbst in bestimmter Weise abgeteilt und um feste Mittelpunkte gesammelt, sondern hier wird es in eine Form umgegossen, die seiner ursprünglichen Gegebenheitsweise geradezu entgegengesetzt ist. Denn nirgends können wir in den sinnlichen Phänomenen als solchen zu wahrhaft »exakten« Bestimmungen gelangen: Vielmehr liegt es im Wesen dieser Phänomene, daß sie mit einer gewissen Vagheit behaftet bleiben müssen. Wenn wir sie voneinander unterscheiden und absondern, so hat doch jeder Unterschied, den wir hier antreffen, eine »Unterschiedsschwelle« – eine Grenze, über die er nicht hinausgetrieben werden kann, ohne dadurch in sich selbst unkenntlich und bedeutungslos zu werden. Der mathematisch-physikalische Begriff beginnt damit, daß er diese Tatsache der Schwelle beseitigt. Er setzt und fordert scharfe Grenzen, wo die Wahrnehmung durchweg nur fließende Übergänge zeigt. Die neue Ordnungsform, die damit entsteht, ist keineswegs ein »Abbild« der früheren, sondern sie gehört einem durchaus anderen Gesamttypus an. Diese Divergenz äußert sich in eigentümlichen Paradoxien, die alsbald hervortreten, wenn man versucht, die Beziehungen, die innerhalb einer sinnlichen Mannigfaltigkeit obwalten, unmittelbar in die Sprache des mathematisch-physikalischen Begriffs zu übersetzen. Bezeichnet man etwa diejenigen Elemente der Mannigfaltigkeit als »gleich«, die in ihr selbst, sofern sie als sinnliche genommen wird, nicht mehr unterscheidbar sind: so bleibt diese Bestimmung der Gleichheit von dem »idealen« Sinn des Begriffs innerhalb der Mathematik wie durch eine Kluft geschieden. Die »Gleichheit«, die sich von sinnlichen Inhalten aussagen läßt, erfüllt gerade die entscheidende Bedingung nicht, unter der die mathematische Gleichheit steht und durch welche sie erst wahrhaft konstituiert wird. Ein wahrgenommener Inhalt a kann von einem anderen b, dieser wiederum von einem dritten c ununterscheidbar sein, so daß in dem zuvor angegebenen Sinne a und b sowie b und c als »gleich« zu bezeichnen wären, ohne daß hieraus die Ununterscheidbarkeit von a und c zu folgern wäre. Die Geltung der »Gleichung« a = b und b = c zieht hier keineswegs die Folgerung a = c nach sich: Die Gleichheit ist nicht, wie im Zahlenreich, und im Gebiet des »exakten« Denkens überhaupt, eine transitive Relation. Man erkennt schon aus diesem einen Beispiel, daß | es sich beim Übergang von der bloßen Wahrnehmung zur mathematisch-physikalischen Bestimmung keineswegs darum handelt, die Unterschiede des »Gegebenen« einfach durch Unterschiede des »Gedachten« zu ersetzen, sondern daß hier vielmehr die Gesamtauffassung, daß der Maßstab der Betrachtung
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als solcher, eine Wandlung erfährt. Worin besteht diese Wandlung, und welches sind die einzelnen Phasen, die sie durchläuft? Der erste Schritt wurde bereits bezeichnet, als es sich darum handelte, das Ziel und die Tendenz der rein mathematischen Begriffsbildung zu erfassen. Wir sahen, daß es für diese Begriffsbildung charakteristisch ist, daß sie auch dort, wo sie sich auf die Anschauung bezieht, bei ihr nicht stehenbleibt. Hier liegt der Kern jener »axiomatischen« Methode, die in der modernen Entwicklung der Mathematik mehr und mehr in ihrer spezifischen Bedeutung und in ihrer zentralen Wichtigkeit erkannt worden ist. Axiome gelten nicht von gegebenen anschaulichen Elementen: Sie sind vielmehr, gemäß der früher erwähnten Formulierung Felix Kleins, »Forderungen […] vermöge deren wir uns über die Ungenauigkeit der Anschauung oder über die Begrenztheit der Genauigkeit der Anschauung zu unbegrenzter Genauigkeit erheben«.179 Dieser Forderungscharakter wird nicht aus der Anschauung entlehnt, er bildet vielmehr eine ursprüngliche Bestimmung des Denkens, die der Anschauung als Norm vorgehalten wird. Die Gültigkeit eines Axioms wird nicht auf eine vorgegebene Beschaffenheit von Elementen gestützt, sondern die Axiome sind es, gemäß denen die Elemente gesetzt und durch die sie in ihrer Natur und Wesenheit bestimmt werden. So gibt es etwa in Hilberts Axiomatik keine selbständigen Inhalte mehr, die wir als Punkte oder Gerade bezeichnen können und von denen es sich nachträglich erweist, daß für sie ganz bestimmte geometrische Grundrelationen gelten: Sondern was ein Punkt, eine Gerade ist, wird erst durch ebendiese Relationen selbst festgelegt. Der Sinn der Elemente geht nicht, als ein zuvor fertiger, in das Axiom ein, sondern er wird erst durch dasselbe konstituiert. Demnach handelt es sich in der Aufstellung eines einzelnen Axioms oder eines Systems von Axiomen keineswegs nur darum, das »Wie« der Verknüpfung zwischen zuvor bekannten, in irgendeiner Weise anschaulich »gegebenen« Inhalten zu bezeichnen, sondern das »Was« des zu Verknüpfenden selbst ist es, das durch die Axiome gewonnen und durch sie logisch sichergestellt wird. Der logische Forderungscharakter, der dem Axiom innewohnt, kann sich unmittelbar an keinem sinnlich oder anschaulich vorhandenen Inhalt erfüllen; aber dieser Mangel wird da | durch ersetzt, daß nun umgekehrt aus ebendiesem Forderungscharakter heraus ein ihm gemäßer Inhalt bestimmt, daß er durch ihn geradezu »definiert« wird. Aber wenn diese Art der impliziten Definition für die reine Mathematik genügen mag, so ist damit freilich die Frage, auf welchem Wege sie für die Physik 179
[Klein, Nicht-Euklidische Geometrie, S. 355.]
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fruchtbar gemacht werden kann, zunächst noch in keiner Weise geklärt. Die Mathematik kann sich bei der Trennung, bei dem χωCισµ ς des rein Gedanklichen vom Anschaulichen begnügen – die Physik aber verlangt zwischen beiden ein Verhältnis der »Teilhabe«, der µ'εξις. Diese Teilhabe ist nur dann möglich, wenn es gelingt, das »Gegebene« selbst sub specie des Geforderten zu sehen. Niemals zwar kann zwischen beiden ein einfaches Verhältnis der Kongruenz stattfinden: Wohl aber muß es möglich sein, gewisse Reihen im »Gegebenen« anzuknüpfen, deren Weiterverfolgung auf ebendie Momente hinleitet, die der Gedanke in seiner rein konstruktiven Arbeit als Grundlagen der Bestimmung überhaupt herausgestellt hat. Diese Beziehung wird dadurch ermöglicht, daß wir an Stelle der einzelnen »Reihenwerte«, wie wir sie durch Beobachtung oder empirische Messung feststellen können, die Grenzwerte einsetzen, nach denen die Reihe, als Gesamtreihe, konvergiert. Kein physikalisches »Gesetz« wäre ohne einen solchen Substitutionsprozeß in wirklicher Strenge aussprechbar und begründbar. Die »klassischen« Theorien der Naturwissenschaft bieten uns auf Schritt und Tritt Belege für dieses Verfahren des »Übergangs zur Grenze« dar. Es genügt, Begriffe wie die des »starren Körpers«, des »idealen Gases«, der »inkompressiblen Flüssigkeit«, des »vollkommenen Kreisprozesses« usf. als Beispiele der hier obwaltenden Methodik zu nennen.180 Erst kraft der geistigen Metamorphose, die sie durch diese Methodik erfahren, werden die Inhalte der unmittelbaren Beobachtung zu möglichen Subjekten für physikalische Urteile. Im Hinblick auf den Raum muß zunächst der bloße Wahrnehmungs- oder Vorstellungsraum, in dem es noch keinerlei scharf voneinander abgegrenzten »Elemente«, keine »Punkte«, »Linien« oder »Flächen« gibt, durch ein frei erzeugtes Schema unterbaut und durch dasselbe ersetzt werden. Der geometrische Logos greift durch das Gegebene hindurch und über das Gegebene hinweg.181 Diese logische Tat ist es, die auch den Begriff des »physischen« Körpers und des »physischen« Ereignisses erst eigentlich bedingt und ermöglicht – | sofern man diese Begriffe hier nicht sowohl in ihrem substantiellen als vielmehr in ihrem funktionalen Sinne nimmt, sie also nicht in erster Linie als Ausdruck eines einfachen Daseins oder Geschehens, sondern als Ausdruck einer bestimmten Ordnung, eines spezifischen Modus der Betrachtung anÜber »Idealisierungen in der Physik« vgl. z. B. die näheren Ausführungen bei Hölder, Die mathematische Methode (§ 135), S. 398 ff. 181 Vgl. die früher angeführten Worte Hermann Weyls in seiner Schrift über »Das Kontinuum« (s. oben, S. 465). 180
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sieht. So kann z. B. die klassische Mechanik zu strengen Gesetzen der Bewegung nicht anders gelangen als dadurch, daß sie die Grenzidee des »materiellen Punktes« schafft. Die Regeln, die sie aufstellt, handeln nicht unmittelbar von den »wirklichen« Bewegungen gegebener »Körper«, sondern sie beziehen sich auf diese Grenzidee und erst durch sie hindurch auf einen konkret-empirischen Inhalt. Und was für die Mechanik gilt, das gilt nicht minder für alle anderen Hauptteile der theoretischen Physik überhaupt. Dem Newtonschen Gesetz der Massenanziehung entspricht etwa in der Elektrizitätslehre das Coulombsche Gesetz, nach welchem die punktförmig zu denkenden elektrischen oder magnetischen Massen im direkten Verhältnis der Massen und im umgekehrten Verhältnis des Quadrats ihrer Entfernung aufeinander einwirken. Daß eine Aussage dieser Art nicht im strengen Sinne »erfahrbar«, daß sie nicht durch irgendeine unmittelbare Beobachtung verifizierbar ist, liegt auf der Hand.182 Umbildungen solcher Art sind es, die uns dazu befähigen, an Stelle des Pseudo-Kontinuums, das uns in den sinnlichen Wahrnehmungen selber gegeben ist, ein echtes Kontinuum zu setzen. Und erst durch die Beziehung auf ein solches echtes Kontinuum – letzten Endes auf diejenige Grundreihe, die die Analysis als das »Kontinuum aller reellen Zahlen« definiert – wird die Wahrnehmung für die mathematischphysikalische Behandlung und Bestimmung reif. So reich und vielseitig, so komplex und verwickelt die physikalische Methodik auch erscheinen mag, so wird sie doch stets durch dieses eine wesentliche Ziel bestimmt. Von hier aus gesehen gibt es nicht mehr jenen schroffen Gegensatz zwischen »Induktion« und »Deduktion«, wie er im Streit der erkenntnistheoretischen Schulen behauptet und formuliert zu werden pflegt. »Induktion« und »Deduktion«, »Erfahrung« und »Denken«, »Experiment« und »Rechnung« erscheinen vielmehr lediglich als verschiedene, jedoch gleich unentbehrliche Momente der physikalischen Begriffsbildung selbst – Momente, die sich zuletzt in der Lösung einer einzigen Aufgabe: in der Umsetzung des Gegebenen in die Form einer reinen Zahlmannigfaltigkeit begegnen und miteinander zusammenschließen. | Die notwendige Vorbereitung für diesen allgemeinen gedanklichen Prozeß besteht darin, daß zunächst die Sonderung der einzelnen Wahrnehmungskreise, die uns die empirische Anschauung darbietet,
182 Vgl. hierzu z. B. die treffenden Ausführungen von Henri Pierre Maxime Bouasse in einem Aufsatz »Physique générale« (in: ders. u. a., De la méthode dans les sciences, Paris 1909, S. 73–110).
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festgehalten wird, daß aber innerhalb jedes dieser Kreise an Stelle der fließenden Übergänge exakte, zahlenmäßig streng fixierbare Bestimmungen treten. Auch die Welt des Physikers teilt und gliedert sich anfangs nach den Unterschieden, die die Empfindung unmittelbar an die Hand gibt. Sie läßt zunächst die Differenzen, die hier vorgefunden werden, bestehen, und sie baut ihnen gemäß ein bestimmtes architektonisches Schema der wissenschaftlichen Erkenntnis auf. Den Lichtund Farbenempfindungen wird die Optik, der Wärmeempfindung wird die Thermodynamik, der Tonempfindung wird die Akustik als die ihr entsprechende theoretische Instanz zugeordnet. Aber schon hierbei müssen die Sinnesinhalte, um in das neugeschaffene Schema eingehen zu können, zuvor eine durchgreifende Wandlung erfahren haben. Statt des unbestimmten »Mehr« oder »Weniger«, »Näher« oder »Ferner«, »Stärker« oder »Schwächer«, das wir an ihnen selbst unmittelbar erfassen können, muß eine Skala numerischer Werte, muß eine Abstufung des Grades treten. Die Sinnesempfindung als solche ist einer derartigen strengen Abgrenzung in »Grade« nicht fähig, sondern sie wird es erst durch eine gedankliche Übertragung. Eine solche Übertragung ist es, vermöge deren z. B. aus der bloßen Wärmeempfindung der Begriff der Temperatur, aus der bloßen Tast- und Muskelempfindung der Begriff des Druckes sich herausgestaltet. Die gewaltige intellektuelle Arbeit, die in solchen Umformungen enthalten ist, ist unverkennbar – und sie kann auch von einer streng »empiristisch« gerichteten Erkenntnistheorie nicht übersehen oder geleugnet werden. An einem Werk wie an Ernst Machs »Principien der Wärmelehre« kann man sich mit besonderer Deutlichkeit zum Bewußtsein bringen, wie weit der Abstand ist, der zwischen der einfachen »Empfindung« der Wärme und dem strengen Begriff der Temperatur besteht, den die moderne Thermodynamik in immer größerer Schärfe herausgearbeitet hat. Aber die theoretische Physik bleibt bei dieser Leistung, so komplex sie ist und so schwierige gedankliche Vermittlungen sie erfordert, nicht stehen. Ihre eigentliche und schwierigste Aufgabe besteht keineswegs ausschließlich in der Erhebung der sinnlichen »Qualitäten« zu mathematischen, zu exakt definierbaren Größen. Vielmehr setzt erst, nachdem diese vorbereitende Arbeit geleistet ist, ihre eigentliche Grundfrage: die Frage nach dem Zusammenhang und nach der funktionalen Verknüpfung der einzelnen Qualitätenkreise, ein. Sie sollen nicht | in ihrem bloßen Auseinander oder Nebeneinander erfaßt, sondern sie sollen als gesetzlich bestimmbare und beherrschbare Einheit gedacht werden. Planck hat in seinem Vortrag über die »Einheit des physikalischen Weltbildes« den geschichtlichen Weg verfolgt, auf dem die Physik sich diesem Ziel
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fortschreitend genähert hat, und er hat weiterhin gezeigt, wie ebendieser entscheidende methodische Fortschritt nur dadurch zu gewinnen war, daß der theoretische Gedanke sich mehr und mehr von den Schranken löste, die ihm durch seine anfängliche Anknüpfung an den unmittelbaren Inhalt der Sinnesempfindungen und an die in diesem Gebiet herrschende Gliederung gesetzt waren. Erst in dem Maße, als er diese zufälligen Bindungen von sich abstreifte, vermochte er zu seiner eigenen wesentlichen Form durchzudringen. »[D]ie Signatur der ganzen bisherigen Entwicklung der theoretischen Physik«, so faßt Planck sein Gesamtergebnis zusammen, »ist eine Vereinheitlichung ihres Systems, welche erzielt ist durch eine gewisse Emanzipation von den anthropomorphen Elementen […] Bedenkt man […] andererseits, daß doch die Empfindungen anerkanntermaßen den Ausgangspunkt aller physikalischen Forschung bilden, so muß diese bewußte Abkehr von den Grundvoraussetzungen immerhin erstaunlich, ja paradox erscheinen. Und dennoch liegt kaum eine Tatsache in der Geschichte der Physik so klar zutage wie diese. Fürwahr, es müssen unschätzbare Vorteile sein, welche einer solchen prinzipiellen Selbstentäußerung wert sind!«183 Die Paradoxie, die hier aufgezeigt wird, wird gemildert, wenn man erwägt, daß sie keineswegs der physikalischen Begriffsbildung allein anhaftet, sondern daß sich in ihr ein Wesens- und Grundzug des »Logos« überhaupt bekundet. Immer muß der Logos, um zu sich selbst zu gelangen, durch eine derartige scheinbare Selbstentäußerung hindurchgehen. Schon die Entwicklung der Sprache zeigt uns, wie sie nur in der Abkehr vom Sinnlich-Bildhaften zu der ihr eigenen und wesentlichen Form: zur Form der symbolischen Darstellung, durchdringen kann.184 Für die Physik aber besteht der in erkenntniskritischer Hinsicht wesentliche Ertrag dieser Wendung darin, daß sie erst durch sie zu ihrem spezifischen Gegenstandsproblem und Gegenstandsbegriff gelangt. Hier liegt die Grenzscheide, die das »Objekt« im Sinne der Physik von dem bloßen »Ding« der sinnlichen Wahrnehmung trennt. Auch der Gegenstand der Wahrnehmung ist ja als solcher aufs schärfste vom bloßen Wahr | nehmungsinhalt geschieden: Er wird nicht selbst empfunden oder wahrgenommen, sondern schließt einen Akt der rein intellektuellen Synthesis in sich. Aber die Synthesis, die seine verschiedenen 183 Max Planck, Die Einheit des physikalischen Weltbildes. Vortrag, gehalten am 9. Dezember 1908 in der naturwissenschaftlichen Fakultät des Studentenkorps an der Universität Leiden, in: ders., Physikalische Rundblicke, S. 1–37: S. 6. 184 Vgl. z. B. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 135 ff. [ECW 11, S. 135 ff.].
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Bestimmungen zusammenhält, ist von einer anderen und gewissermaßen anspruchsloseren Art, als es jene Form der Einheitssetzung ist, die sich im physikalischen Objektbegriff vollzieht. Im »Ding« der naiven Anschauung beziehen sich die einzelnen Elemente, die einzelnen »Eigenschaften« zwar aufeinander, aber sie bilden in dieser Beziehung noch ein relativ lockeres Gefüge. Die eine Eigenschaft steht neben der andern – sie ist mit ihr durch kein anderes Band als durch das Band des zufälligen empirischen Beisammenseins, insbesondere durch das Beisammensein an einer bestimmten Raumstelle, definiert. He gels »Phänomenologie des Geistes« sieht in dieser Äußerlichkeit und Lockerheit des Eigenschaftsverbandes geradezu das Charakteristikum des empirisch-phänomenalen Dinges. »Dieß Salz ist einfaches Hier, und zugleich vielfach; es ist weiß, und auch scharf, auch kubisch gestaltet, auch von bestimmter Schwere, und so weiter. Alle diese vielen Eigenschaften sind in einem einfachen Hier , worin sie sich also durchdringen; keine hat ein anderes Hier , als die andere, sondern jede ist allenthalben in demselben, worin die andere ist; und zugleich, ohne durch verschiedene Hier geschieden zu seyn, afficiren sie sich in dieser Durchdringung nicht; das weiße afficirt oder verändert das kubische nicht, beide nicht das scharfe, und so weiter, sondern da jede selbst einfaches Sichaufsichbeziehen ist, läßt sie die andern ruhig und bezieht sich nur durch das gleichgültige Auch auf sie. Dieses Auch ist also das reine Allgemeine selbst, oder das Medium, die sie so zusammenfassende Dingheit . « 185 Der strikte Empirismus hat von jeher versucht, den Dingbegriff bei dieser seiner ersten Stufe festzuhalten. Wie das Ich ihm als ein »Bündel von Perzeptionen« erscheint, so erscheint ihm das Ding als ein bloßes Bündel getrennter und ungleichartiger Eigenschaften. Und er betont, daß auch die Objektbegriffe der strengen Wissenschaft diesen Sachverhalt nicht aufzuheben, daß sie die hier gesetzte Schranke niemals zu überschreiten vermögen. Locke sieht eben hierin den prinzipiellen und unaufheblichen Unterschied, der zwischen der rein mathematischen Gegenstandswelt und der Welt der physischen Gegenstände besteht. Im Mathematischen herrscht nach ihm allenthalben das Prinzip der notwendigen Verknüpfung: Hier stehen die einfachen Ideen, aus denen sich ein komplexes Gebilde aufbaut, nicht nur nebeneinander, sondern wir begreifen in voller Strenge und mit intuitiver Gewißheit, | wie die eine aus der andern hervorgeht und in der andern gegründet ist. Eine solche Art der Fundierung und des einsichtigen Zusammenhangs aber ist uns, wo es sich um die Bestimmung eines empirischen 185
Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 84.
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Gegenstands handelt, schlechthin versagt. Sosehr wir die gedanklichen Instrumente der Auffassung auch erweitern und verschärfen mögen, sosehr wir über die unmittelbare Sinneswahrnehmung hinaus zu allgemeinen Begriffen und allgemeinen Theorien fortschreiten: Zuletzt müssen wir doch immer bei der Feststellung bloßer Koexistenzen enden, die wir einfach als solche hinzunehmen haben. Daß die Substanz, die wir mit dem Namen »Gold« zu bezeichnen pflegen, neben ihrer gelben Farbe eine bestimmte Härte, ein bestimmtes spezifisches Gewicht usf. besitzt, daß sie sich in bestimmter Weise zu anderen Substanzen verhält, z. B. in Königswasser löslich ist – dies alles haben wir einfach der Erfahrung zu entnehmen, ohne den Grund dieser Verknüpfung einsehen zu können. »Ich leugne nicht«, so folgert Locke, »daß jemand, der an methodische und regelmäßige Beobachtung gewöhnt ist, besser als ein anderer imstande sein wird, einen Blick in die Natur der Körper zu tun, und daß er ihre noch unbekannten Eigenschaften richtiger voraussagen wird: Und doch ist all dies Sache der bloßen Meinung, nicht aber Sache wirklich sicherer Erkenntnis. Dieser Weg, unsere Erkenntnis der Substanzen lediglich vermöge des Experiments und der Geschichte (only by experience and history) zu gewinnen und zu vermehren, ist der einzige, den die Schwäche unseres Wissens, innerhalb der Schranken, denen wir in dieser Welt unterworfen sind, uns erlaubt – und dies läßt mich befürchten, daß die Naturwissenschaft niemals zum Rang einer wirklichen Wissenschaft wird erhoben werden können. Immer werden wir nur eine sehr dürftige allgemeine Erkenntnis über die Arten der Körper und ihre verschiedenen Eigenschaften gewinnen können. Wir können uns experimentelle und historische Kenntnisse erwerben, aus denen wir praktisch nützliche Folgerungen ziehen und für die Bedürfnisse des Lebens besser vorsorgen können: Aber weiter, fürchte ich, reichen unsere Fähigkeiten nicht, noch werden sie jemals hierüber hinausgehen können.«186 186 Locke, An Essay concerning Human Understanding (Buch 4, Kap. 12, Abschn. 10), Bd. II, S. 349 f. [»I deny not but a man, accustomed to rational and regular experiments, shall be able to see further into the nature of bodies, and guess righter at their yet unknown properties, than one that is stranger to them: but yet, as I have said, this is but judgment and opinion, not knowledge and certainty. This way of getting and improving our knowledge in substances only by experience and history, which is all that the weakness of our faculties in this state of mediocrity which we are in in this world can attain to, makes me suspect that natural philosophy is not capable of being made a science. We are able, I imagine, to reach very little general knowledge concerning the species of bodies, and their several properties. Experiments and historical observations we may have, from
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Tritt man an die moderne theoretische Physik mit der Frage heran, ob und wie weit sich in ihr diese Voraussage Lockes erfüllt und bewährt habe, so kann man sich auch an diesem Punkt von neuem deutlich machen, welch ein weiter Abstand zwischen den Aussagen des »Empirismus« und dem Tatbestand der eigentlichen, der konkreten »Empirie«, | zu bestehen pflegt. Zwar in einem rein negativen Moment, in der Abwendung von einem bestimmten metaphysischen Erkenntnisideal, stimmen beide überein. Auch die moderne Physik hat den Anspruch aufgegeben, »[i]ns Innre der Natur« zu dringen, wenn unter diesem »Inneren« der letzte substantielle Urgrund verstanden wird, aus dem sich die empirischen Phänomene ableiten. Sie stellt sich keine andere und keine höhere Aufgabe als die Aufgabe, »Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrung[en] lesen zu können«.187 Aber sie zieht andererseits die Grenze zwischen der sinnlichen »Erscheinung« und der wissenschaftlichen »Erfahrung« weit schärfer, als es in den Systemen des dogmatischen Empirismus – ob man hierbei nun an Locke und Hume oder an Mill und Mach denkt – geschieht. In dem, was diese Systeme als reine Tatsächlichkeit, als »matter of fact« beschreiben, läßt sich kein wesentlicher methodischer Unterschied mehr zwischen dem »Faktischen« der theoretischen Naturwissenschaft und dem »Faktischen« der Geschichte erkennen. Wir sahen soeben, wie in den angeführten Sätzen Lockes beide Bestimmungen sich miteinander vermischen und unmerklich ineinander überfließen. Aber eben mit dieser Nivellierung wird das eigentliche Problem der physikalischen »Tatsächlichkeit« an der Wurzel abgeschnitten. Die Tatsachen der Physik stehen denen der Historie nicht gleich – weil jene auf ganz anderen Voraussetzungen und auf ganz anderen gedanklichen Vermittlungen beruhen als diese. Läßt man den Inbegriff dieser Vermittlungen weg, so hat man damit nicht etwa den Kern der physikalischen Tatsächlichkeit rein herausgeschält, man hat ihn vielmehr zerstört, sofern man ihn um seine spezifische Bedeutung gebracht hat. Hier zeigt sich eine eigenartige Dialektik in der Entwicklung des Empirismus selbst. Denn der Schlag, den er gegen das »Rationale« zu führen gedachte, fällt nun auf ihn selber zurück. Der Empirismus glaubt, das Recht der Erfahrung, als der eigentlichen Grundlage aller Erkenntnis, nicht anders und nicht beswhich we may draw advantages of ease and health, and thereby increase our stock of conveniences for this life; but beyond this I fear our talents reach not, nor are our faculties, as I guess, able to advance.«]. 187 [Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 235 (B 334) u. ders., Prolegomena (§ 30), S. 64 (Akad.-Ausg. IV, 312).]
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ser sichern zu können als dadurch, daß er die Erfahrung rein auf sich selbst stellt. Sie soll nicht länger – so drückt Locke es einmal aus – auf erborgtem oder erbetteltem Grunde ruhen, sondern als völlig unabhängige autonome Erkenntnisquelle anerkannt werden. Aber der Schnitt, der hier geführt wird und der dazu bestimmt war, die Sphäre des »Aposteriori« scharf und klar von der des »Apriori« loszulösen, trifft nun keineswegs allein die apriorischen Momente, sondern mit ihnen zugleich die Form der empirischen Begriffsbildung selbst. Bei der durchgängigen Korrelation zwischen dem »Besonderen« und dem »Allgemeinen«, dem »Fak | tischen« und »Rationalen« kommt jeder Versuch, den einen dieser Faktoren aus dem gedanklichen Gesamtverband, in dem er steht, abzutrennen, der Vernichtung seiner positiven Bedeutung gleich. Das Faktische besteht eben niemals »an sich« als ein vorausgegebenes, völlig indifferentes M aterial der Erkenntnis, sondern es geht immer schon als kategoriales Moment in den Prozeß der Erkenntnis ein. Und dieses Moment erhält seinen Sinn erst durch den anderen Pol, auf den es sich bezieht – durch die Strukturform, auf die es hinzielt und die es an seinem Teil mit aufbauen hilft. Erst unter diesem Gesichtspunkt tritt der ganze Reichtum an Bestimmungen, den der Begriff des »Faktischen« in sich faßt, tritt die Fülle und Feinheit der Unterscheidungen, die es in sich birgt, klar hervor. Gemäß der Form, der sie sich eingliedert, wandelt sich nun auch die Grundbedeutung der reinen »Tatsächlichkeit« selbst. Das Rationale ist nicht der logische Gegensatz zum Tatsächlichen, sondern eines seiner wesentlichen Bestimmungsmittel – und je nach dem Wandel dieses Bestimmungsmittels erfüllt sich das Tatsächliche selbst mit einem verschiedenen geistigen Gehalt. Es wird zum Faktum der Physik, zum Faktum der beschreibenden Naturwissenschaft, zum Faktum der Geschichte, je nach der theoretischen Frage, die an es gerichtet wird, und je nach den besonderen Voraussetzungen, die schon in jede dieser charakteristischen Frageformen eingehen. Beschränken wir uns hier auf die physikalische Problemstellung, so tritt sofort hervor, wie schon durch deren ursprüngliche Grundrichtung das »Gegebene« der Sinneswahrnehmung eine durchgreifende Umgestaltung erfährt. Denn die »Data« der Physik sind keineswegs mehr die einfachen Empfindungen als solche, sowenig wie die Objekte, von denen sie handelt und deren »Existenz« sie behauptet, sich in bloße Verbände sinnlicher Qualitäten auflösen lassen. Solange wir auf dem Boden des bloßen Wahrnehmungsbewußtseins stehenbleiben, scheint sich der strikten Durchführung der These: esse = percipi kein ernstliches Hindernis in den Weg zu stellen. Auch der »Gegenstand« scheint, innerhalb dieser Sphäre, wenngleich er sich niemals in
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der Form einer einzelnen Perzeption aufweisen läßt, doch als bloßes Aggregat von »einfachen Ideen« definierbar zu sein. Die Einheit des Gegenstands erscheint demgemäß hier zuletzt als eine lediglich nominale Einheit. »Durch den Gesichtssinn«, so heißt es bei Berkeley, »erhalte ich die Licht- und Farben-Ideen in ihren verschiedenen Abstufungen und qualitativen Modifikationen, durch den Tastsinn percipiere ich z. B. Härte und Weichheit, Hitze und Kälte, Bewegung und Widerstand […] Der Geruchssinn | verschafft mir Gerüche, der Geschmackssinn Geschmacksempfindungen, der Sinn des Gehörs führt dem Geiste Schallempfindungen zu in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit nach Ton und Zusammensetzung. Da nun beobachtet wird, dass einige von diesen Empfindungen einander begleiten, so geschieht es, dass sie mit Einem Namen bezeichnet [werden: Und dies hat zur Folge, daß wir sie] als Ein Ding betracht[en] Ist z. B. beobachtet worden, dass eine gewisse Farbe, Geschmacksempfindung, Geruchsempfindung, [eine bestimmte] Gestalt und Festigkeit vereint auftreten, so werden sie für ein bestimmtes Ding gehalten, welches durch den Namen Apfel bezeichnet wird, [während a]ndere Gruppen von Ideen […] einen Stein, einen Baum, ein Buch und ähnliche sinnliche Dinge [bilden]«188 Aber wie immer man über diese nominalistische Auflösung des »Gegenstands« der Wahrnehmung urteilen mag – der »Gegenstand« der Physik wird durch sie schon deshalb nicht getroffen, weil in ihm etwas völlig anderes gemeint und gesetzt ist als eine einfache Zusammenfassung sinnlicher Ideen. Auch er bildet ein komplexes Ganze – aber nicht ein Ganzes von Eindrücken, sondern einen Inbegriff von Zahl- und Maßbestimmungen. Jegliche Komponente dieses Gegenstands muß, bevor sie zu seinem Aufbau benutzt werden kann, eine Art von Transsubstantiation erfahren haben: Sie muß sich aus einem bloßen »Eindruck« der Sinne in einen reinen Maßwert verwandelt haben. Nicht Geschmäcke oder Gerüche, Gehörs- oder Gesichtsempfindungen bilden hier mehr die Bausteine des Gegenstandes, sondern an ihre Stelle sind Elemente ganz anderer Art getreten. Das Ding hat auch als individuelles Ding aufgehört, ein konkretes Beisammen sinnlicher Eigenschaften zu sein: Es ist zu einer Gesamtheit von »Konstanten« geworden, deren jede es innerhalb eines bestimmten Systems von Größen charakterisiert. Es »besteht« 188 George Berkeley, A Treatise concerning the Principles of Human Knowledge (Teil 1, § 1), in: Works, Bd. I, S. 211–347: S. 257 f., die Übersetzung nach der deutschen Ausgabe: Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, übers. u. mit Anm. vers. v. Friedrich Ueberweg, Leipzig 41917 (Philosophische Bibliothek, Bd. 20), S. 21.
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nicht länger aus Duft oder Geschmack, aus Farbe oder Ton, sondern sein Bestand und sein individueller Unterschied gegen andere Dinge gründet sich in solchen reinen Größenwerten. Die »Natur« eines Körpers, im physikalischen Sinne des Wortes, wird nicht durch die Art seiner sinnlichen Erscheinung, sondern durch sein Atomgewicht, seine spezifische Wärme, seinen Brechungsexponenten, seinen Absorptionsindex, seine elektrische Leitungsfähigkeit, seine magnetische Suszeptibilität usf. bestimmt. Diese Umwandlung in den Prädikaten des Dinges scheint freilich das Subjekt selber, dem alle diese Bestimmungen als anhaftend gedacht werden, zunächst noch unberührt zu lassen. Denn die Art der | Verbindung, die zwischen den einzelnen physikalischen und chemischen Konstanten besteht, ist, auf den ersten Blick, der Verbindung, wie sie unter den sinnlichen Eigenschaften angetroffen wurde, in keiner Weise überlegen, ist nicht fester »gegründet« als diese. Auch hier scheinen wir uns vielmehr mit der einfachen Hinnahme eines Neben- und Beieinander begnügen zu müssen, ohne tiefer in das »Warum« desselben hineinblicken zu können. Und doch zeigt andererseits die gesamte Entwicklung, die die Physik und Chemie namentlich in den letzten Jahrzehnten genommen hat, daß sie auf die Frage nach diesem »Warum« keineswegs verzichtet hat. Sie ist nicht dabei stehengeblieben, das Beisammen der Konstanten rein empirisch festzustellen, sondern sie ist zur Aufstellung allgemeiner Systemzusammenhänge übergegangen, aus denen heraus sie das Auftreten bestimmter Komplexe »verständlich« zu machen suchte. Diese Verständlichkeit besagt freilich nicht, daß, im Sinne eines dogmatischen Substanzbegriffs, die »Akzidenzien« und »Modi« aus dem » Wesen der Substanz« begriffen und hergeleitet werden sollten, wohl aber, daß gewisse universelle Gesetze gesucht wurden, nach denen sich der Zusammenhang der Konstanten verschiedener Art bestimmt. Auf Grund solcher Gesetze wurden nunmehr Gebiete, die zuvor als völlig ungleichartig galten, aus einem Gesichtspunkt heraus gesehen und gestaltet – wurde das scheinbar Heterogenste nicht nur als analog, sondern geradezu als identisch erkannt. Erst noch zögernd und in der Beschränkung auf einzelne Probleme, dann immer bewußter und entschiedener und mit der Wendung ins Allgemeine und Allgemeinste, tritt diese gedankliche Grundtendenz der modernen Physik heraus. Die Konstanten, die das physikalische und chemische Verhalten der besonderen Stoffe beschreiben, rücken zunächst näher aneinander: Es gelingt, die einen von ihnen mit den anderen durch feste Beziehungen zu verknüpfen. So finden z. B. Dulong und Petit schon im Jahre 1819 eine ganz bestimmte Beziehung, die zwischen dem Atomgewicht eines festen Elements und sei-
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ner spezifischen Wärme besteht: Die spezifische Wärme eines Elements ist seinem Atomgewicht umgekehrt proportional. Diese Relation findet dann ihre theoretische Bestätigung und Erklärung, indem es Richarz gelingt, sie als Folge aus der kinetischen Theorie der Wärme abzuleiten. Auf der anderen Seite blieb jedoch zunächst eine Spannung zwischen »Theorie« und »Erfahrung« insofern bestehen, als es sich zeigte, daß das Produkt aus dem Atomgewicht und der spezifischen Wärme, das nach dem Dulong-Petitschen Gesetz für alle festen Elemente denselben Wert haben sollte, erheblich abweicht, wenn man einige Elemente mit niedrigem Atom | gewicht betrachtet. Diese Abweichungen ließen sich erst verstehen, als Einstein die Beobachtung, die hier vorlag, abermals in einen neuen theoretischen Gesamtzusammenhang rückte, indem er die Grundanschauungen der Quantentheorie auf die Wärmetheorie der festen Körper anwandte. Auf Grund dieser Betrachtungsweise ergab sich jetzt ein neuer Zusammenhang zwischen der spezifischen Wärme eines festen Körpers und der sogenannten »absoluten Temperatur«, wie er in dem Satz von Debye festgelegt wird. Ein analoges »Zusammenrücken« von Konstanten trat ein, als es Maxwell gelang, die Beziehung zwischen den Konstanten, die das optische Verhalten bestimmter Substanzen kennzeichnen, und den Konstanten für ihr elektrisches Verhalten festzustellen. Auf Grund der elektromagnetischen Lichttheorie ergab sich, daß die Dielektrizitätskonstante eines Mittels dem Quadrate des Brechungsexponenten gleich ist. Aber auch diese Relation galt empirisch zunächst nur in eingeschränktem Maße: Eine genaue empirische Bewährung für sie ließ sich nur bei Gasen, dagegen z. B. nicht bei Alkohol oder Wasser finden. Auch hier jedoch haben die »Ausnahmen«, die die Erfahrung darzubieten schien, die Gültigkeit der allgemeinen, auf Grund theoretischer Erwägungen aufgestellten Regel nicht umzustoßen vermocht; sie haben vielmehr nur dahin gewirkt, daß diese Regel selbst eine genauere Bestimmung erfuhr. Die scheinbaren Abweichungen erklärten sich, als der Begriff der Dielektrizitätskonstante durch die Elektronentheorie der Dispersion eine schärfere Fassung und Determination erhielt.189 Ein weiteres besonders markantes und auch in rein methodischer Hinsicht aufschlußreiches Beispiel für den prinzipiellen Fortschritt, der durch das Ineinssehen bisher als verschieden betrachteter Konstanten erzielt zu werden pflegt, liegt in der Art des Zusammenhangs vor, der durch die Ein189 Zum Tatsächlichen vgl. hier z. B. die Darstellung bei Arthur Haas, Das Naturbild der neuen Physik (1., 3. u. 4. Vortrag), 2., wesentl. verm. u. verb. Aufl., Berlin/Leipzig 1924.
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steinsche Gravitationstheorie zwischen den Begriffen der schweren und der trägen Masse hergestellt wurde. Der rein empirische Zusammenhang war hier seit langem erkannt und durch die Versuche von Eötvös und Zeemann mittels der Torsionswaage sichergestellt. Aber das Entscheidende in Einsteins Theorie bestand darin, daß durch sie die Äquivalenz von träger und schwerer Masse, die bisher als ein unbegriffenes Faktum, als eine Art »Kuriosum«, dastand, eine ganz neue gedankliche Deutung erfuhr. Die Gleichheit von träger und schwerer Masse, die in der alten Theorie als nichts anderes denn als ein bloßer »Zufall« erschien, wurde von Einstein zu einem streng gültigen Prinzip erhoben: Und aus diesem Prinzip | heraus wurde nun ein Grundgesetz gefunden, das die Trägheitserscheinungen und die Gravitationserscheinungen gleichmäßig umfaßt.190 In allen diesen Beziehungen und Verknüpfungen ist es der allgemeine Schematismus des Zahlbegriffs, dem die entscheidende Vermittlung zufällt. Die Zahl fungiert sozusagen als das abstrakte Medium, in welchem die verschiedenen Sinnesgebiete einander begegnen und dem gegenüber sie ihre spezifische Ungleichartigkeit aufgeben. So wird z. B. durch die Maxwellsche Theorie das Phänomen des Lichts mit den elektrischen Phänomenen in eins gesetzt, weil sich für beide Phänomene, sobald wir sie in Zahlen auszudrücken und durch sie exakt zu bezeichnen versuchen, die gleiche Art der Bezeichnung ergibt. Die Kluft, die zwischen den optischen Erscheinungen und den elektrischen Erscheinungen als solchen zu bestehen scheint, schließt sich, sobald erkannt wird, daß eine bestimmte Konstante c, die in den Maxwellschen Gleichungen auftritt, der Größe der Lichtgeschwindigkeit im leeren Raume genau gleich ist. Es ist die Form dieser rein numerischen Relation, durch welche die Heterogenität der sinnlichen Eigenschaften überbrückt und eine Homogenität des physikalischen »Wesens« hergestellt wird. »Freilich ist das Wesen der elektromagnetischen Vorgänge«, so bemerkt Planck hierzu, »uns um keine Spur verständlicher wie das der optischen. Wer aber der elektromagnetischen Theorie des Lichtes als einen Nachteil anrechnen wollte, daß sie an die Stelle eines Rätsels ein anderes setzt, der verkennt die Bedeutung dieser Theorie. Denn ihre Leistung besteht eben darin, daß sie zwei Gebiete der Physik, die bis dahin getrennt voneinander behandelt werden mußten, zu einem einzigen vereinigt hat, daß also alle Näheres in den bekannten Darstellungen der allgemeinen Relativitätstheorie, vgl. z. B. Laue, Die Relativitätstheorie, Bd. II, S. 2 ff. u. 18 ff., Erwin Freundlich, Die Grundlagen der Einsteinschen Gravitationstheorie, 3., erw. u. verb. Aufl., Berlin 1920, S. 35 ff. 190
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Sätze, welche für das eine Gebiet gelten, ohne weiteres auch auf das andere anwendbar sind – ein Erfolg, der der mechanischen Lichttheorie […] nicht gelungen ist und nicht gelingen konnte.« Die Identität, auf die die theoretische Physik ausgeht, ist eben nicht eine solche des substantialen »Urgrundes« der Erscheinungen, sondern eine solche ihrer mathematischen Darstellung, also ihrer symbolischen Repräsentation. Je mehr demnach ihr Zeichensystem sich vervollkommnet, je vollständiger es ihr gelingt, die Gesamtheit der Erscheinungen kraft dieses Systems zu umfassen und jedem Einzelphänomen seine bestimmte Stelle in ihm anzuweisen, um so weiter ist sie auf dem ihr eigentümlichen Wege der »Erklärung« fort | geschritten. Heute erweist sich dieser Fortschritt der Erklärung, der im Grunde kein anderer als der der strengen reihenmäßigen Verknüpfung und Darstellung ist, darin, daß es tatsächlich eine Grundreihe zu sein scheint, durch die die Mannigfaltigkeit all dessen, was sich als physikalisches Geschehen bezeichnen läßt, erfaßt und umspannt wird. Der Begriff und die moderne Theorie der Strahlung hat erlaubt, Gebiete und Vorgänge zusammenzufassen, die zuvor völlig auseinanderlagen. Indem zunächst erkannt wurde, daß alle Gesetze, die für die leuchtenden Strahlen gelten – die Gesetze der Reflexion und Brechung, der Interferenz und Polarisation, der Emission und Absorption – in genau der gleichen Weise für die wärmenden Strahlen zutreffen, war damit, im Sinne der zuvor betrachteten allgemeinen Voraussetzung, zwischen beiden eine gedankliche »Union« gestiftet, durch die die qualitative Differenz der Empfindungen, in denen sich uns Wärme und Licht kundgeben, überwunden war. Beide unterscheiden sich fortan – im »objektiven« Sinne des physikalischen Urteils – durch nichts anderes mehr als durch einen reinen Zahl- und Stellenwert, durch einen bestimmten Index, der die »Wellenlänge« beider Arten von Strahlen bezeichnet. An diese Vereinigung zwischen den leuchtenden und den wärmenden Strahlen fügten sich auf der anderen Seite des Spektrums die chemisch wirksamen ultravioletten Strahlen an; bis schließlich, durch die Entdeckung der Hertzschen Wellen auf der einen, der Röntgenstrahlen und der Gammastrahlen auf der anderen Seite, das Gebiet der Strahlungsvorgänge eine abermalige Erweiterung erfuhr, die zugleich eine um so tiefere und bedeutsamere Vereinheitlichung in sich schloß.191 Es 191 Näheres in dem knappen Überblick über die Gesamtentwicklung, den Max Planck in seinem Vortrag »Das Wesen des Lichts« gegeben hat (Das Wesen des Lichts. Vortrag, gehalten in der Hauptversammlung der Kaiser-WilhelmGesellschaft am 28. Oktober 1919, Berlin 1920); wieder abgedruckt in: ders., Physikalische Rundblicke, S. 129–147 [Zitat S. 136].
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ergibt sich jetzt, daß die Gesamtheit aller Strahlungsvorgänge sich streng einheitlich repräsentieren läßt; daß es sich in allen Fällen von Strahlung um elektromagnetische Wellen handelt, die sich untereinander nur durch bestimmte Größenwerte, durch ihre Periode, unterscheiden. Das Vorgangsgebiet, das uns unmittelbar durch sinnliche Wahrnehmung bezeugt und zugänglich ist, erscheint innerhalb dieses Gesamtsystems nur als ein Ausschnitt, der relativ zum Ganzen von außerordentlich geringem Ausmaß ist. Das sichtbare Spektrum, das die Farben des Regenbogens von Rot bis Violett umfaßt, nimmt innerhalb des Gesamtspektrums den Raum einer einzigen Oktave ein, während erst 8 bis 16 Oktaven jenseits des Violett das Gebiet der Röntgenstrahlen und etwa dreißig Oktaven jenseits des Rot | das Gebiet der Wellen der drahtlosen Telegraphie beginnt.192 Es ist die konsequente Durchbildung der spezifisch physikalischen Denkform und der Symbolik, die sich diese Form als die ihr angemessene Sprache in stetigem Fortgang erschaffen hat, durch welche diese gewaltige Erweiterung gewonnen worden ist, durch welche die Grenzen der Empfindung als bloß zufällige »anthropomorphe« Grenzen erkannt und als solche ausgeschaltet werden konnten. Einen wie selbständigen Anteil an dieser gesamten Entwicklung das letztere Moment besitzt, wie bedeutsam die Ausbildung einer wissenschaftlichen Formelsprache für die Aufstellung einer universellen Systematik der Naturgegenstände und der Naturvorgänge zu werden vermag, läßt sich auch von anderer Seite her erweisen. Die Chemie ist zur »exakten« Wissenschaft nicht nur durch die ständige Verfeinerung ihrer Maßmethoden geworden, sondern vor allem auch durch die Verschärfung dieses ihres gedanklichen Instruments, durch den Weg, den sie von der einfachen chemischen Formel bis zur Strukturformel durchmessen hat. Ganz allgemein besteht der wissenschaftliche Wert einer Formel nicht nur darin, daß sie gegebene empirische Tatbestände zusammenfaßt, sondern daß sie neue Tatbestände gewissermaßen hervorlockt. Sie stellt Probleme von Zusammenhängen, von Verknüpfungen und Reihenbildungen auf, die der unmittelbaren Beobachtung vorauseilen. So wird sie zu einem der hervorragendsten Mittel dessen, was Leibniz die »Logik der Entdeckung«, die logica inventionis, genannt hat. Schon die einfache chemische Formel, in der lediglich die Art der in einem bestimmten Näheres s. z. B. bei Haas, Das Naturbild der neuen Physik, S. 15 ff. sowie bei Bernhard Bavink, Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaft. Eine Einführung in die moderne Naturphilosophie, 2., vollständig neu bearb. u. erw. Aufl., Leipzig 1921, S. 98 ff. 192
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Molekül enthaltenen Atome sowie deren Anzahl angegeben wird, ist gleichsam erfüllt mit fruchtbaren systematischen Hinweisen. Wurden etwa, in der Sprache dieser Formel, gewisse bekannte Verbindungen von Chlor, von Wasserstoff und Sauerstoff als Cl O H, Cl O3 H, Cl O4 H bezeichnet, so drängte sich schon in dieser bloßen Zusammenstellung die Frage nach dem »fehlenden Glied« dieser Reihe, nach einer Verbindung Cl O2 H auf, die nun erst, nachdem gewissermaßen ihr Ort im voraus bestimmt worden war, auch empirisch auffindbar wurde. Hier erweist sich der Erkenntniswert, der jeglicher methodisch aufgebauten wissenschaftlichen Sprache als solcher innewohnt. Sie ist niemals eine bloße Bezeichnung für Gegebenes und Vorhandenes, sondern ein Wegweiser in neues, bisher nicht erforschtes Gebiet; sie leitet zu einem Prozeß der »Interpolation« und »Extrapolation«. »Man ersieht | hieraus«, so schließt der Autor, dem ich das obige Beispiel entnehme, »wie sich in der chemischen Formelsprache, von Stufe zu Stufe, eine immer nähere Übereinstimmung zwischen den Symbolen und der Wirklichkeit herstellt und wie diese Sprache, die ursprünglich lediglich die Zusammensetzung der Stoffe gemäß ihren Gewichtsverhältnissen beschreiben sollte, nunmehr die Art ihrer Erschaffung beschreibt und uns den Einblick in sie aufzwingt. Es handelt sich nicht mehr um ein Verfahren der Bezeichnung, sondern um einen Leitfaden für die Entdeckung, um eine Methode der Synthese. […] Unsere Klassifikation gewinnt ein neues Gesicht: Sie bedeutet nicht länger eine Ordnung, die wir in der Art, wie sie uns die Natur oder der Zufall der Beobachtungen liefert, hinnehmen, sondern sie wird zu einer von uns selbst geschaffenen, zu einer deduktiven Ordnung. Und ebendies trägt dazu bei, der Chemie ihren eigentümlichen Charakter zu geben.«193 Noch deutlicher tritt dieser Charakter zutage, wenn wir die chemische Formel auf derjenigen Stufe ihrer Entwicklung betrachten, auf der sie zur eigentlichen »Konstitutionsfor-
193 André Job in dem Aufsatz »Chimie« in dem Sammelband »De la méthode dans les sciences« von Bouasse u. a., S. 111–147: S. 126 [»On y voit comment de proche en proche par complication graduelle la correspondance s’établit entre la réalité et les symboles, et comment ce langage qui, primitivement, ne prétendait raconter que la composition pondérale des espèces raconte maintenant et suggère leurs modes de création. – Ce n’est plus seulement un procédé d’écriture, c’est un guide pour la découverte, et une méthode pour la synthèse. […] Notre classification change d’aspect: ce n’est plus simplement un ordre accepté sur les données que la nature ou le hasard de l’observation nous apporte. C’est un ordre créé par nous, un ordre déductif, comme une coordination idéale que nous réalisons ensuite nous-mêmes dans les faits. Et cela contribue encore à donner à la chimie son caractère propre.«].
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mel« wird. Eine Konstitutionsformel, wie diejenige, die Baeyer für das Indigo gegeben hat, setzt an Stelle der bloß empirischen Beschreibung einen echt genetischen Aufbau: Sie wird zu einer Aussage nicht nur über das »Daß«, sondern auch über das »Wie«, indem sie die Verbindung, um die es sich handelt, gleichsam vor unserm innern Auge erstehen läßt. Und daß diese Wendung zur »Genese« nicht nur ein vereinzeltes Motiv darstellt, das gleichsam sporadisch in besonderen Gebieten der Wissenschaft auftritt, sondern daß wir in ihr einen Grundzug der physikalischen und chemischen Begriffsbildung selbst zu sehen haben: dies wird unmittelbar deutlich, sobald wir die größten systematischen Errungenschaften betrachten, die dieser Begriffsbildung im Laufe des letzten Jahrhunderts beschieden gewesen sind. Die Aufstellung des »natürlichen Systems der Elemente«, wie sie im Jahre 1870 durch Lothar Meyer und Mendelejeff versucht wurde, bildet auch in rein gedanklicher und methodischer Hinsicht einen wichtigen Wendepunkt. Denn hier war schärfer und bewußter als zuvor die Forderung gestellt, die Mannigfaltigkeit der Elemente und die Verschiedenheit, die sich in ihren physikalischen und chemischen Eigenschaften ausdrückt, nicht einfach hinzunehmen, sondern einen Gesichtspunkt zu finden, von dem aus diese Mannigfaltigkeit sich übersehen und gliedern, sich nach einem festen | Prinzip ordnen ließ. Als solches ordnendes Prinzip wurde zunächst das Atomgewicht gewählt. Reiht man sämtliche bekannten Elemente nach wachsender Größe ihrer Verbindungsgewichte aneinander, so erhält innerhalb dieser Reihe jedes Element eine gewisse Stelle zugewiesen, die durch eine für dasselbe charakteristische Zahl, durch seine »Ordnungszahl«, bezeichnet wird. Bei dieser Gruppierung der Elemente nach ihren Ordnungszahlen zeigte sich, daß die wichtigsten Eigenschaften der Elemente eine eigentümliche Periodizität aufweisen; sie sind nicht wahllos über das Gesamtgebiet verstreut, sondern folgen in ihrem Auftreten einer festen Regel der Wiederkehr. Die bekannte Kurve der Atomvolumina, wie sie Lothar Meyer aufgestellt hat, zeigt in anschaulicher Deutlichkeit das Bestehen und die Art dieser Regel. Die Elemente, die auf analogen Stellen dieser Kurve – auf ihrem aufsteigenden oder absteigenden Ast, bei einem ihrer Maxima oder Minima – liegen, erweisen sich auch in ihren wichtigsten chemischen und physikalischen Eigenschaften, in ihrer Valenz, ihrer Flüchtigkeit, Dehnbarkeit, elektrischen und thermischen Leitungsfähigkeit usf. als einander analog. Daß diese Abhängigkeit der Eigenschaften von der »Ordnungszahl« einen tieferen systematischen »Grund« haben, daß sie irgendwie in der »Natur« des Atoms selbst verankert sein müsse,
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ist eine Voraussetzung, von der schon die ersten Entdecker des periodischen Systems beherrscht waren und die ihnen als das eigentliche Motiv, als die heuristische Maxime ihrer Forschung diente. Aber diese Maxime war anfangs noch weit entfernt von einer eigentlichen »konstitutiven« Bedeutung. Denn der Zusammenhang zwischen dem Atomgewicht oder Atomvolumen eines Elements und seinem besonderen chemisch-physikalischen Verhalten war selbst zunächst lediglich als Tatsache festgestellt, ohne daß sich von dieser Tatsache eine wahrhaft befriedigende theoretische Rechenschaft geben ließ. So fungierten in den tabellarischen Darstellungen des natürlichen Systems die Ordnungszahlen, die jedem Element beigegeben wurden, zunächst einfach als konventionelle Marken, von denen sich innerhalb bestimmter Grenzen die Eigenschaften der Elemente ablesen ließen, die aber noch keinen bestimmten physikalischen Sinn in sich schlossen. Der weitere Fortgang der Theorie aber bestand nun eben darin, daß in immer höherem Maße dieser »Sinn« erkannt und herausgearbeitet und daß eben damit erst die konventionelle Ordnung in eine eigentlich systematische umgeprägt wurde. Der erste Schritt auf diesem Wege bestand in der Gewinnung eines neuen, schärferen Ordnungsprinzips, das sich der Spektroskopie der Röntgenstrahlen entnehmen ließ. Versuchte man | die verschiedenen Elemente nach ihren charakteristischen Röntgenspektren in eine Reihe zu ordnen, so ergab sich, daß innerhalb dieser Reihe die Verschiebung der einzelnen Linien von einem Element zum andern in der Richtung zunehmender Schwingungszahl mit einer Gesetzmäßigkeit erfolgt, die der Regelmäßigkeit, die sich in der Aufreihung nach zunehmenden Atomgewichten ergeben hatte, bei weitem überlegen war. Nach dem von Moseley im Jahre 1913 aufgestellten Gesetz ändert sich die Quadratzahl aus der Schwingungszahl einer charakteristischen Röntgenlinie fast genau linear mit der Ordnungszahl des chemischen Elements. Diese Tatsache ließ von Anfang an eine tiefe physikalische Bedeutung ebendieser Ordnungszahl vermuten: Denn nach den modernen theoretischen Grundanschauungen ist der Ort für die Entstehung des Röntgenspektrums das eigentliche Atominnere, der Kern des Atoms, während die optischen Spektren sowie die chemischen Eigentümlichkeiten auf mehr »äußerlichen«, auf peripheren Eigenschaften des Atoms beruhen.194 Die Bekanntschaft mit weiteren empiFür alle Einzelheiten dieser Gedankenentwicklung, die hier nicht besonders verfolgt zu werden braucht, verweise ich auf die Darstellung bei Arnold Sommerfeld, Atombau und Spektrallinien (Kap. 3), 4., umgearb. Aufl., Braunschweig 1924 sowie auf Fritz Paneth, Das natürliche System der chemischen Ele194
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rischen Tatsachen, insbesondere die Entdeckung der sogenannten »Isotopen« und die Ausbildung der Isotopentheorie, führten sodann dazu, daß das Atomgewicht, von dem die Gliederung des natürlichen Systems zunächst ausgegangen war, seine beherrschende Stellung in der Chemie verlor und daß diese nunmehr an einen anderen Begriff, an den Begriff der »Kernladung«, überging. Schon Moseley selbst hatte diesen Begriff in den Mittelpunkt der Systematik gestellt: Er hatte die »Ordnungszahl« einfach als diejenige Zahl gedeutet, die die positive Ladung des Atomkerns angibt. Diese Größe der Kernladung erscheint nunmehr als das eigentliche und endgültige Reihenprinzip. Die »Nummer«, die ein Element im periodischen System getragen hatte, seine »Ordnungszahl« wird jetzt einfach durch die Zahl seiner Kernladung ersetzt – und diese gibt wiederum die Zahl der den Kern umgebenden Elektronen an (van den Broek 1913). Als die gesuchte physikalische Bedeutung der »Ordnungszahl« ergibt sich somit die Annahme, die die Grundlage der Bohrschen Atomtheorie bildet, daß die positive elektrische Ladung des Atomkerns von Element zu Element je um eine Einheit zunimmt. »Der Atombau wird auf elektrischem Wege einheitlich von innen heraus bis an die Atomperipherie hin durch die | Größe der Kernladung geregelt.«195 »Wir haben ein Ziel erreicht«, so faßt Sommerfeld in seinem Werk über »Atombau und Spektrallinien« den geistigen Ertrag dieser Entwicklung zusammen, »das vor zehn Jahren noch in nebelhafter Ferne zu liegen schien: eine Theorie des periodischen Systems.«196 Betrachtet man den rein logischen Charakter dieser Theorie, so erkennt man, wie die Leistung, die in ihr vollbracht ist, sich zwar streng im Kreise des Beobachtbaren, des empirischen Feststellbaren hält – wie sie aber nichtsdestoweniger über jenen resignierten »Empirismus«, wie ihn Locke in seiner Substanzenlehre vertreten hatte,197 weit hinausgeht. Sie definiert die Substanz keineswegs als ein bloßes Aggregat von Eigenschaften, die durch kein »inneres Band« miteinander verknüpft sind – aber sie faßt andererseits dieses innere Band nicht als ein »vinculum substantiale« im Sinne einer dogmatischen Metaphysik, sondern sie fragt lediglich nach der »Notwendigkeit« der Verknüpfung im Sinne ihrer durchgreifenden Allgemeinheit und Gesetzlichkeit. Diese Gemente (in: Handbuch der Physik, unter red. Mitw. v. Richard Grammel u. a. hrsg. v. Hans Geiger u. Karl Scheel, Bd. XXII: Elektronen – Atome – Moleküle, bearb. v. Walter Bothe u. a., red. v. Hans Geiger, Berlin 1926, S. 520–563). 195 Näheres bei Paneth, Das natürliche System, S. 551 ff.; Sommerfeld, Atombau und Spektrallinien (Kap. 2 u. 3), S. 73 ff. u. 168 ff. [Zitat S. 173]. 196 Sommerfeld, Atombau und Spektrallinien (Kap. 3, § 4), S. 179. 197 S. oben, S. 502 f.
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setzlichkeit ist niemals durch die Beobachtung vereinzelter »Tatsachen« zu gewinnen, so weit diese auch getrieben werden mag, sondern ihre Feststellung bedarf jederzeit bestimmter konstruktiver Gesichtspunkte und konstruktiver Prinzipien. Sowenig diese Gesichtspunkte dem empirischen Material aufgezwungen werden können, sowenig können sie ihm selber unmittelbar entnommen werden. Die Begriffsbildung der Physik und Chemie erweist sich daher ebenso als echt »genetische« Begriffsbildung, wie dies innerhalb der reinen Mathematik galt. Aber die Genesis, auf die hier ausgegangen wird, ist gewissermaßen nicht kategorischer, sondern hypothetischer Art. Wir beginnen nicht mit dem allgemeinen Reihengesetz, um aus ihm die Mannigfaltigkeit der Elemente hervorgehen zu lassen, sondern wir begnügen uns damit, der »gegebenen« Mannigfaltigkeit in verschiedenen gedanklichen Ansätzen versuchsweise ein ordnendes Prinzip zu unterbreiten, um damit Schritt für Schritt die bloß empirische Vielheit in eine »rationale« umzugestalten.198 | Dieses Prinzip selber ist uns niemals schlechthin »gegeben«, wohl aber ist es beständig »aufgegeben« – und in der immer vollkommeneren Lösung dieser Aufgabe besteht eine der wesentlichen Leistungen aller Naturtheorie. Die moderne Form dieser Theorie zeigt in der Art, wie sie sich geschichtlich entwickelt hat, mit besonderer Deutlichkeit, wie der Übergang von den »individuellen Konstanten« zu den »universellen Konstanten« sich vollzieht und wie ebendieser Fortgang eines der wichtigsten und fruchtbarsten Motive des gesamten naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozesses bildet. So steht z. B. am Beginn der modernen SpektroskopiedasGesetz,das Balmer imJahre1885fürdas Spektrum des Wasserstoffes aufgestellt hat. Dieses Gesetz besagt, daß die Wellenlängen der verschiedenen Linien dieses Spektrums sich durch die Formel 1λ = R ( 14 – 1n2 ) ausdrücken lassen, in welcher R eine Konstante und n eine ganze Zahl bedeutet. Die Größe R, die in dieser Formel auftritt, 198 Wie stark dieser Charakter der physikalischen Begriffsbildung und der physikalischen Methode den modernen Theoretikern bewußt ist, zeigt z. B. eine Äußerung Sommerfelds. »Wir brauchen kaum zu betonen, daß wir uns mit dieser Spekulation« über die neuen theoretischen Ausblicke, die die radioaktiven Verschiebungssätze und die Isotopentheorie eröffnen, »zunächst von dem Boden der Tatsachen entfernen […] Trotzdem sind solche Betrachtungen heutzutage unabweislich. Der Nachweis der | Isotopen bei nicht-radioaktiven Stoffen fordert geradezu auf, nach genetischen Zusammenhängen im periodischen System zu spüren und die Verschiebungssätze auf das ganze System auszudehnen; er macht es höchst wahrscheinlich, daß auch die Kerne etwas Zusammengesetztes, Konstruierbares sind. Damit eröffnet sich uns ein neues Gebiet der Forschung […] die Kernphysik.« (Atombau und Spektrallinien, S. 167).
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betrachtete Balmer selbst hierbei noch als eine dem Wasserstoff eigentümliche Grundzahl, und er stellte der künftigen Forschung die Aufgabe, analoge Zahlen auch für andere Elemente aufzufinden. Die weitere Verfolgung des Problems zeigte indes, daß die gleiche Grundzahl, wie sie hier für den Wasserstoff festgestellt worden war, in den Spektren aller anderen Elemente wiederkehrt. Balmers Formel erschien nunmehr als bloßer Spezialfall eines allgemeingültigen Gesetzes, das in der Gestalt, die ihm durch Rydberg und Ritz gegeben worden ist, zur Grundlage der gesamten Spektroskopie geworden ist. In der Rydbergschen Formel 1λ = A – (n +Rα) oder in der verallgemeinerten Ritzschen Formel: 1λ = R ( 1n – 1n ) bedeutet nunmehr die Zahl R eine universelle Konstante, die für die Spektren aller Elemente gilt. Diese »RydbergRitzsche Zahl« bezeichnet somit jetzt keine Besonderheit des Wasserstoffs mehr, sondern sie weist auf einen ganz allgemeinen Zusammenhang hin. Welcher Art dieser Zusammenhang ist, ließ sich jedoch nur durch eine abermalige Erweiterung des gesamten Problemansatzes feststellen. Indem Niels Bohr | in seinem Aufsatz »Über das Wasserstoffspektrum« (1913)199 dazu überging, die Spektralgesetze nicht nur in sich selbst zu erforschen, sondern vor allem ihren Zusammenhang mit andern Eigenschaften der Elemente zu ermitteln, wurde er damit zu einer Auffassung des Atombaus geführt, die die Erfahrungen, welche durch das Studium der Wärmestrahlung sowie durch das Studium der radioaktiven Erscheinungen gewonnen worden waren, mit den spektroskopischen Tatsachen verknüpfte und die ihm gestattete, alle diese Erfahrungen nunmehr aus einem prinzipiellen Gesichtspunkt heraus zu deuten. Jetzt erst war eine strenge Theorie der Balmerserie erreicht, deren größter Triumph darin bestand, daß sie nicht nur die Balmersche Formel selbst herzuleiten, sondern auch die universelle Konstante R exakt zu berechnen vermochte.200 Alle »Zufälligkeit«, die dieser Konstanten bisher noch anzuhaften schien, fällt mit dieser Berechnung von ihr ab: Sie ist nunmehr – innerhalb der hypothetischen Voraussetzungen, auf die sich Bohrs Theorie gründet – als »notwendig« erkannt. Und diese »Notwendigkeit« bedeutet letzten Endes wiederum nichts anderes, als daß sie fortan nicht mehr für sich selbst und auf sich selbst steht, sondern daß sie auf andere Zahlgrößen von universeller Bedeutung zurückgeführt wird. Die n
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199 Wieder abgedruckt in: Niels Bohr, Drei Aufsätze über Spektren und Atombau, Braunschweig 21924 (Sammlung Vieweg. Tagesfragen aus den Gebieten der Naturwissenschaft und der Technik, H. 56), S. 1–19. 200 Näheres über die Bohrsche Theorie der Balmerserie s. bes. bei Sommerfeld, Atombau und Spektrallinien (Kap. 2, § 4).
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Balmersche wie die Rydberg-Ritzsche Zahl ist durch ihre Einfügung in den allgemeinen gedanklichen Rahmen der Quantentheorie, durch ihre Anknüpfung an die Größe h, das sogenannte Plancksche Wirkungsquantum, erst im eigentlichen Sinne »verständlich« geworden. Der dogmatische Empirismus mag hiergegen vielleicht einwenden, daß mit dieser gesamten Entwicklung so gut wie nichts gewonnen sei: sei doch das Plancksche Wirkungsquantum selber zuletzt nichts anderes als ein bloßes Faktum – eine Tatsache, die wir einfach hinzunehmen haben, ohne sie irgendwie tiefer »begreifen« zu können. Aber abgesehen davon, daß ein derartiger Einwand der künftigen Entwicklung der physikalischen Theorie vorgreifen und ihr eine willkürliche Schranke setzen würde, ist mit ihm ebender charakteristische logische Wesenszug der physikalischen Theorie verkannt. Denn sowenig diese Theorie das Faktische überhaupt zu überschreiten vermag, so besteht doch ihr Sinn und Wert eben darin, daß sie uns innerhalb dieses Gebiets verschiedene Grade und Stufen der Faktizität selbst kennen und daß sie sie aufs feinste unterscheiden lehrt. | Die Theorie wird um ihren gesamten Ertrag gebracht, wenn man alle diese Unterschiede wieder in eins zusammenfließen läßt.201 Der theoretische Gedanke ist es, der den einzelnen Erscheinungen ein verschiedenes »Niveau« bestimmt und der sie, kraft dieser Differenzen ihres Niveaus, zu ordnen und zu gliedern gestattet. Was in der Synthesis, die der populäre »Dingbegriff« vollzieht, noch dicht beieinander liegt, das erfährt in den Objektbegriffen der theoretischen Wissenschaft, die sich auf exakte Gesetzesbegriffe gründen, eine scharfe und klare Sonderung. Diese wachsende Sonderung ist das wesentliche Ergebnis, auf das der scheinbar entgegengesetzte Prozeß, der Prozeß der fortschreitenden »Verallgemeinerung«, überall hinzielt. Der moderne Physiker vermag auf die Frage, worin das eigentliche »Objektive« der Natur besteht, keine andere Antwort zu geben, als daß er die »universellen Konstanten« namhaft macht, bei deren Feststellung seine Forschung endet, und daß er andererseits den Weg von diesen universellen Konstanten bis zu den Individualkonstanten, zu den besonderen Dingkonstanten, hinab verfolgt. An der Spitze seines Systems stehen gewisse unveränderliche Größen, wie die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum, das elementare Wirkungsquantum usf., die insofern von aller bloß »subjektiven« Bedingtheit befreit sind, als sie sich von der Beschaffenheit und von dem Standpunkt eines einzelnen Beobachters als unabhängig erweisen.202 Der Weg der physikali201 202
Vgl. hierzu oben, S. 470 ff. Näheres hierüber bei Max Planck, Die Stellung der neueren Physik zur
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schen Objektivation der Erscheinungen besteht in dem Aufstieg von den bloßen Materialkonstanten, von der Besonderheit der Dingeinheiten zu der Allgemeinheit umfassender Gesetzeseinheiten. Der Gang, den die moderne Quantentheorie genommen hat, ist hierfür besonders bezeichnend. Planck selbst hat in dem allgemeinen Überblick, den er über »Die Entstehung und bisherige Entwicklung der Quantentheorie« gegeben hat,203 darauf hingewiesen, wie seine ersten prinzipiellen Erwägungen und seine ersten Versuche an das von Gustav Kirchhoff aufgestellte Gesetz der Wärmestrahlung anknüpften. Durch dieses Gesetz war festgestellt, daß die Wärmestrahlung in einem von beliebigen emittierenden und absorbierenden, gleichmäßig temperierten Körpern begrenzten Hohlraum von der besonderen Beschaffenheit dieser Körper völlig unabhängig ist; es war damit der Bestand einer allgemeinen Funktion erwiesen, die nur von der Temperatur und Wellenlänge, | aber von keinerlei besonderen Eigenschaften irgendeiner Substanz abhängt. Die weitere Verfolgung des damit gestellten physikalischen Problems aber ging wiederum über die Bestimmung zweier wichtiger universeller Konstanten. Gemäß dem Stefan-Boltzmannschen Gesetz, wonach das Emissionsvermögen eines Körpers der vierten Potenz seiner absoluten Temperatur proportional ist, ergab sich die Verhältniszahl zwischen diesen beiden Werten als eine für alle Körper gleichbleibende Zahl, die man als die Stefansche Konstante bezeichnete, während weiterhin das von Wien im Jahre 1893 entdeckte Verschiebungsgesetz eine neue Konstante, die als das Produkt von Wellenlänge und absoluter Temperatur definiert ist, kennen lehrte. Alle die Fragen, die hier gesondert verfolgt worden waren, aber schlossen sich nun erst zusammen und fanden eine überraschende Lösung durch die grundlegende Konzeption der Quantentheorie, wie sie Planck im Jahre 1900 ausbildete. Aus dem Planckschen allgemeinen Strahlungsgesetz, das sich auf dieser Konzeption aufbaut, folgten zwei Gleichungen, die die empirisch ermittelten Werte der Stefanschen und der Wienschen Konstante mit zwei grundlegenden Größen: mit der Größe des elementaren Wirkungsquantums und mit der Größe für die Masse des Wasserstoff-
mechanischen Naturanschauung. Vortrag, gehalten am 23. September 1910 auf der 82. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Königsberg i. Pr., Leipzig 1910; wieder abgedruckt in: ders., Physikalische Rundblicke, S. 38–63. 203 Ders., Die Entstehung und bisherige Entwicklung der Quantentheorie. Nobel-Vortrag, gehalten vor der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften zu Stockholm am 2. Juni 1920, Leipzig 1920; wieder abgedruckt in: ders., Physikalische Rundblicke, S. 148–168.
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atoms verknüpften.204 Eine Fülle besonderer Gebiete und besonderer Probleme war jetzt aus einem theoretischen Motiv heraus gedeutet und verstanden. Erst wenn man die grundlegenden physikalischen Begriffe nicht sowohl als Ausdrücke für bloße »Tatsachen« als vielmehr als Ausdrücke für derartige Motive versteht, kann man ihrer Leistung in erkenntniskritischer Hinsicht gerecht werden; kann man insbesondere den Vorrang erkennen, den diese Begriffe vor den Dingbegriffen der »naiven« Weltansicht besitzen. Wo diese allenfalls »verbinden«, da »verknüpfen« jene – wo diese ein Beisammen von Eigenschaften, als bloßen Eigenheiten, schaffen, da gehen jene zu echten universellen Einheitssetzungen über. Diese Synthesis, diese neue Ordnungsform, schließt erst jene Welt für uns auf, die wir die Welt der physischen Körper und der physischen Ereignisse nennen, und sie weist uns den Standort an, von dem aus wir sie als Ganzes, als ein in sich geschlossenes Gefüge, betrachten und überschauen können. |
III. »Symbol« und »Schema« im System der modernen Physik205 Wir halten in der Analyse der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung inne, um rückwärts zu schauen und um die Ergebnisse dieser Analyse an unser allgemeines Grundproblem anzuknüpfen. Wir sahen, wie die Form der physikalischen Reihenbildung und die neue Ordnung, die durch sie geschaffen wird, zugleich eine neue »Beziehung auf den Gegenstand« setzt und begründet. Die physikalischen Grundbegriffe sind echt synthetische Begriffe in dem Sinne, wie Kant die letzteren definiert: Sie sind »Begriffe der Verknüpfung, und dadurch des Objekts selbst«.206 Aber wenn für die Erkenntniskritik die Aufweisung dieser Wechselbeziehung zwischen Begriffsform und Gegenstandsform, zwischen der »Natur« in formaler und in materialer Bedeutung genügt, so gehört für die Philosophie der symbolischen Formen das Problem, um das es sich hier handelt, von Anfang an einem weiteren Umkreis an. Wenn sie nach der Möglichkeit der mathematischen Naturwissenschaft fragt, so gilt ihr diese doch nur als ein Sonderfall der Objektivierung überhaupt. Die Welt Näheres s. z. B. bei Fritz Reiche, Die Quantentheorie. Ihr Ursprung und ihre Entwicklung, Berlin 1921 sowie bei Haas, Das Naturbild der neuen Physik (4. Vortrag). 205 [In der dieser Ausgabe zugrunde liegenden Vorlage von 1929 ist diese Überschrift durch eine weitere Ordinalzahl (»1.«) ergänzt, der im Text dann jedoch keine weiterführende Untergliederung folgt.] 206 Vgl. Kant, Prolegomena (§ 39), S. 79 (Akad.-Ausg. IV, 326). 204
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der exakten Wissenschaft erscheint ihr nicht sowohl als der Anfang als vielmehr als das Ende eines Objektivationsprozesses, dessen Wurzeln in andere und frühere Schichten der Gestaltung hinabreichen. Jetzt entsteht für uns die Aufgabe, den ideellen »Bestand« der physikalischen Welt mit dem »Bestand« jener früheren Schichten zu vergleichen – nach ihrer Verknüpfung und Sonderung, nach ihrer Gemeinschaft und ihrer spezifischen Differenz zu fragen. Gibt es im Aufbau der drei Formwelten, wie wir ihn bisher verfolgt haben, irgendein gemeinsames Urmotiv – und welches sind die geistigen Wandlungen und Umbildungen, die charakteristischen Metamorphosen, die dieses Motiv beim Übergang von den mythischen Begriffen zu den Sprachbegriffen, von diesen zu den physikalischen Gesetzesbegriffen erfährt? An jedem geistigen Werden läßt sich eine doppelte Bestimmung unterscheiden. Es ist dem natürlichen, dem rein »organischen« Werden insofern verwandt, als es, wie dieses, dem Gesetz der Stetigkeit gehorcht. Die folgende Phase bedeutet der früheren gegenüber nicht etwas schlechthin Fremdartiges, sondern sie ist nur die Erfüllung dessen, was in dieser bereits angedeutet und angelegt war. Auf der anderen Seite schließt indes dieses Ineinandergreifen der einzelnen Phasen ihr klares und scharfes Gegen | einander nicht aus. Denn jede neue Phase stellt eine eigentümliche und prägnante Forderung, stellt eine neue Norm und eine neue »Idee« des Geistigen selbst auf. So kontinuierlich der Fortgang erscheint, so verschieben sich in ihm doch ständig die geistigen Bedeutungsakzente – und aus jeder dieser Verschiebungen geht ein neuer »Gesamtsinn« der Wirklichkeit hervor. Wir können die Richtung dieser Akzentverschiebung im Prozeß der symbolischen Gestaltung in einer kurzen Formel bezeichnen, indem wir innerhalb derselben drei Stadien und gleichsam drei Dimensionen unterscheiden.207 Von der Sphäre des Ausdrucks hatten wir schon früher die Sphäre der Darstellung unterschieden. Aber beiden gliedert sich nunmehr ein drittes Gebiet an: Denn wie die Welt der Darstellung sich von der des bloßen Ausdrucks löste, wie sie ihr gegenüber ein neues Prinzip aufstellte, so wächst zuletzt auch sie über sich selbst hinaus und geht in eine Welt der reinen Bedeutung über. Wir werden zu zeigen haben, wie dieser Übergang es ist, in dem sich die Form der wissenschaftlichen Erkenntnis erst eigentlich kon207 Zum Folgenden vgl. die eingehendere Darstellung in meinem Vortrag über »Das Symbolproblem« [s. ECW 17]. Der Vortrag, der auf dem dritten Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft in Halle (1927) gehalten wurde, ist jetzt in Dessoirs »Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft« erschienen; einige Ausführungen aus ihm sind im folgenden übernommen.
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stituiert, in dem ihr Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff sich endgültig von dem der »naiven Weltansicht« scheidet. Aber auch hier erfolgt – sowenig wie dies bei dem Fortgang vom »Ausdruck« zur »Darstellung« der Fall war – die Ablösung mit einem Schlage. Wie mit klammernden Organen hält sich vielmehr der Gedanke an ebenjenem Gebiet fest, über das er doch, durch das innere Gesetz und durch die notwendige Tendenz seiner Selbstentfaltung, fort- und weitergetrieben wird. In diesem Gegeneinander zweier Bewegungen, in dieser Dialektik baut sich die Welt des naturwissenschaftlichen Begriffs auf. Nicht unmittelbar verläßt dieser Begriff die Sphäre der »Anschauung« und die der sprachlichen Darstellung: Aber in dem Maße, als er sie mit sich selber, mit seiner eigenen Form durchdringt, prägt er ihr zugleich einen anderen Charakter auf. Die Art dieser Umprägung tritt erst dann deutlich heraus, wenn wir nicht dabei stehenbleiben, sie in ihrem bloßen Ergebnis zu betrachten. Wir müssen sie, statt sie im bloßen Produkt aufzuweisen, mitten im Produzieren selbst aufsuchen und sie in der Art und Richtung dieses Produzierens verfolgen. Die Sonderung wird erst dann wahrhaft sicht | bar und verständlich, wenn wir über alle Misch- und Übergangsformen, die uns das Fertige, das Gewirkte darbietet, zu den bildenden Kräften selbst durchdringen und sie in ihrem Wirken vor uns hinstellen, wenn wir unsere Frage statt an das bloße Ergon vielmehr an die »Energien« richten, auf denen die neue Form der Gestaltung beruht. Die erste Form, in der ein empfindendes und fühlendes Subjekt eine Umwelt »hat«, besteht darin, daß es diese Welt als eine Mannigfaltigkeit von »Ausdruckserlebnissen« besitzt. Lange bevor die Umwelt dem Subjekt als ein Komplex von »Dingen« mit objektiven Merkmalen, mit festen Qualitäten und Eigenschaften, gegeben ist, hat sie sich in dieser Weise gegliedert.208 Was immer wir »Existenz« oder »Wirklichkeit« nennen, das gibt sich uns zunächst nicht anders als in reinen Ausdrucksbestimmtheiten zu eigen. Schon hier also sind wir über jene Abstraktion der »bloßen« Empfindung, von der der dogmatische Sensualismus auszugehen pflegt, hinaus. Denn der Inhalt, den das Subjekt als ihm selbst »gegenüberstehend« erlebt, ist keineswegs ein bloß äußerlicher in der Art, daß er, mit Spinoza zu sprechen, einem »stummen Bild auf einer Tafel« gleicht.209 Er ist gleichsam transparent; er gibt uns unmittelbar in seinem Dasein und in seinem Sosein Kunde Vgl. oben, S. 66 ff. [Baruch de Spinoza, Ethica ordine geometrico demonstrata (Teil 2, Lehrsatz 49, Anm.), in: Opera quae supersunt omnia, hrsg. v. Karl Hermann Bruder, Bd. I, Leipzig 1843, S. 149–416: S. 264: »veluti picturas in tabula mutas«.] 208 209
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von einem innern Leben, das durch ihn hindurchscheint. An dieses Urphänomen des Ausdrucks knüpft die Formung, wie sie sich in der Sprache, in der Kunst, im Mythos vollzieht, überall an; ja die beiden letzteren scheinen ihm so nahezubleiben, daß man versucht sein könnte, sie ganz in dieser Sphäre festzuhalten. So hoch sich Mythos und Kunst in ihren Gestaltungen auch erheben mögen, so bleiben sie doch dauernd in dem Erdreich der primären, der ganz »primitiven« Ausdruckserlebnisse verwurzelt. Die Sprache freilich macht, schärfer als beide, die neue Wendung, den Übergang in eine neue »Dimension« erkennbar. Zwar kann auch an ihrer Verknüpfung mit der Welt des Ausdrucks kein Zweifel bestehen. Selbst den Worten hochentwickelter Sprachen wohnt immer noch ein gewisser Ausdruckswert, ein bestimmter »physiognomischer« Charakter inne.210 Aber damit ist immer nur ein einzelnes Motiv bezeichnet, über das die Sprache hinausgreifen muß, um sich in ihrem eigentlichen geistigen Bestand zu konstituieren. Denn nicht das Wort, sondern der Satz ist das | eigentliche sprachliche Grundgebilde, ist das, worin sich die Form der sprachlichen »Aussage« vollendet. Und jeder reine Aussagesatz schließt eine bestimmte Setzung in sich: Er geht auf einen »objektiven« Sachverhalt, den er beschreiben und festhalten will. Das »Ist« der Kopula ist die reinste und prägnanteste Ausprägung für diese neue Dimension der Sprache, für ihre reine »Darstellungsfunktion«. Auch von ihr gilt freilich, daß sie, so hoch man ihren rein intellektuellen Wert auch bemessen muß, anfangs noch gleichsam verhaftet an den Körpern klebt. Alle sprachliche Darstellung bleibt an die Welt der Anschauung gebunden und kehrt immer wieder zu ihr zurück. Anschauliche »Merkmale« sind es, die der Prozeß der sprachlichen Benennung herauslöst und die er festhält. Auch dort, wo die Sprache zu ihren höchsten, spezifisch gedanklichen Leistungen fortschreitet, wo sie, statt Dinge oder Eigenschaften, Vorgänge oder Handlungen zu benennen, vielmehr reine Beziehungen und Verhältnisse bezeichnet, geht dieser rein signifikative Akt über bestimmte Schranken der konkret-anschaulichen Darstellung zunächst nicht hinaus. Immer wieder schiebt sich der logischen Bestimmung ein Bild, ein Schema der Anschauung unter. Selbst das »Ist« des prädikativen Aussagesatzes wird Vgl. hierzu besonders die neueren Arbeiten von Heinz Werner, Über allgemeine und vergleichende Sprachphysiognomik, in: Bericht über den X. Kongreß für experimentelle Psychologie in Bonn vom 20.–23. April 1927, hrsg. v. Erich Becher, Jena 1928, S. 184–186; ders., Über die Sprachphysiognomik als einer neuen Methode der vergleichenden Sprachbetrachtung, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 1. Abt.: Zeitschrift für Psychologie 109 (1929), S. 337–363. 210
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sprachlich zumeist derart bezeichnet, daß ihm ein anschaulicher Nebensinn anhaftet – das gedankliche Verhältnis wird durch ein räumliches, durch ein Da- oder Dort-Sein, die Geltung der Beziehung wird durch eine Existenzaussage ersetzt.211 So ist alle logische Determination, die der Sprache eignet, ursprünglich in ihrer Fähigkeit und Kraft zur »Demonstration« beschlossen. An die demonstrativen Fürwörter, an die Bezeichnung eines bestimmten Ortes, eines »Hier« oder »Dort« knüpft der Objektivierungsprozeß der Sprache an. Der Gegenstand, auf den sie zielt, ist ihr im aristotelischen Sinne ein τ δε τι: ein Etwas, das vor dem Sprechenden steht und auf das sich mit dem Finger hinzeigen läßt. Die Substantivierung, die Dingsetzung selbst pflegt sich solcher sprachlichen Bildungen zu bedienen, die – wie der bestimmte Artikel – nichts anderes als Weiterentwicklungen der hinweisenden Pronomina sind.212 Es ist das Gebiet des Raumes, in welchem die Sprache gewissermaßen zuerst Fuß faßt und von dem aus sie ihre Herrschaft fortschreitend über das Ganze der anschaulichen Wirklichkeit ausdehnt. In diesem Fortgang konnten wir weiterhin eine dreifache Stufenfolge unterscheiden. Die Sprache hält den Bezug auf die anschauliche Welt zunächst darin fest, daß sie sich unmittelbar mit ihrem Inhalt | erfüllt, daß sie diesen Inhalt gewissermaßen in sich selber einströmen läßt. Bald sucht sie, in onomatopoetischen Bildungen, einen bestimmten objektiven Vorgang wiederzugeben, bald hält sie bestimmte physiognomische Charaktere, die ihr begegnen, fest und macht sie durch gewisse elementare Unterschiede der Lautbildung – durch den schärferen oder stumpferen Konsonanten, durch die hellere oder dunklere Tönung des Vokals – kenntlich. Und auch dort, wo die Sprache auf solche direkte Nähe zu den sinnlichen Eindruckswerten und Gefühlswerten verzichtet, wo sie die Lautwelt als eine Welt eigener Gerechtsame behandelt, wohnt ihr noch vielfach das Bestreben inne, zum mindesten in den Verhältnissen der Laute die Verhältnisse der äußeren Gegenstände in irgendeiner Weise zum Ausdruck zu bringen. Der »mimische« Ausdruck geht in den »analogischen« Ausdruck über. Der eigentliche intellektuelle Abschluß des Prozesses der Sprachbildung aber führt auch über diese Phase hinaus. Er ist erst dort erreicht, wo die Sprache zum rein symbolischen Ausdruck wird, wo auch der Schein irgendeiner – sei es unmittelbaren oder mittelbaren – »Ähnlichkeit« zwischen ihrer Welt und der Welt der unmittelbaren Wahrnehmung geschwunden ist. Erst dort, wo sie 211 Vgl. hierzu bes. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 286 ff. [ECW 11, S. 292 ff.] und oben, S. 82–84 . 212 Vgl. hierzu bes. a. a. O., S. 149 ff. [ECW 11, S. 149 ff.].
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diese scharfe und klare Abhebung, diese Distanz erringt und festhält, ist die Sprache völlig zu sich selbst gelangt; erst jetzt kann sie sich als autonome Bildung des Geistes bewähren und sich als solche verstehen.213 Stellen wir nunmehr der Entwicklung der Sprachform die Entwicklung der Begriffsform im naturwissenschaftlichen Denken gegenüber, so bewegen wir uns hier von Anfang an in einer anderen Niveaufläche. Der Unterschied bekundet sich vor allem darin, daß die naturwissenschaftliche Begriffsbildung, gleichviel auf welcher Stufe wir sie betrachten mögen, über die Welt des bloßen »Ausdrucks« prinzipiell hinaus ist. Schon die bloße Aufgabe einer Erkenntnis der Natur schließt, mit so unvollkommenen Mitteln sie auch immer in Angriff genommen werden mag, eine bewußte Entfernung von dieser Welt in sich. Eine »Natur« als Gegenstand des Wissens, der denkenden Betrachtung und Erforschung, ist für den Menschen erst gegeben, sobald er gelernt hat, den Schnitt zwischen ihr und der eigenen Welt des »subjektiven« Gefühls zu vollziehen. »Natur« ist das Beständige und Gleichförmige, das in seiner Wiederkehr erfahren, das aus dem Strom der Erlebnisse herausgelöst und ihnen als ein Wesen von eigenem Bestand gegenübergestellt wird. Aber die Ablösung von der Sphäre des subjek | tiven Affekts läßt anfangs die Sphäre der unmittelbaren Empfindung noch unangetastet. Von ihr scheint sich das Subjekt nicht lösen zu können, ohne damit zugleich alle Berührung mit der Wirklichkeit und allen Halt an ihr zu verlieren. Nachdem einmal die Distanz zwischen »Ich« und »Welt« gesetzt und nachdem sie als solche erkannt ist, scheint kein anderer Weg übrigzubleiben, sie zu überwinden, als der Weg, den die sinnliche Wahrnehmung weist. Sie ist »Wahrnehmung«, sofern wir in ihr nicht lediglich unsere eigene Beschaffenheit, sondern die objektive Form, das Sein des Gegenstandes selbst gewahr werden. So klammert sich der theoretische Begriff in seinen Anfängen an die Wahrnehmung, um sie gleichsam auszuschöpfen, um sich des gesamten Wirklichkeitsgehalts, der in ihr beschlossen liegt, zu bemächtigen. Aber im Fortgang zu diesem Ziel tritt nun auch hier jene eigentümliche »Peripetie« ein, wie Platon sie an sich selbst erfahren und wie er sie als das notwendige Schicksal aller theoretischen Erkenntnis beschrieben hat. An Stelle der Hinwendung zu den Dingen, zu den πCγµατα, tritt die Rückwendung zu den Ideen, zu den λ γοι.214 Hier wird die Kluft von neuem aufgerissen: Das Band zwischen »Begriff« und »Wirklichkeit« wird mit vollem 213 214
Näheres hierzu s. a. a. O., S. 135 ff. [ECW 11, S. 135 ff.]. Platon, Phaidon 99 D ff.; vgl. oben, S. 380.
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Bewußtsein zerschnitten. Über die Wirklichkeit, als einer Wirklichkeit der »Erscheinung«, erhebt sich ein neues Reich: das Reich der reinen »Bedeutung«; und in ihm ist fortan alle Sicherheit und Festigkeit, alle endgültige Wahrheit der Erkenntnis gegründet. Auf der anderen Seite kann indes die Welt der »Ideen«, der »Bedeutungen«, wenngleich sie auf alle »Ähnlichkeit« mit der empirisch-sinnlichen Welt verzichtet, der Beziehung auf sie nicht entraten. Die Begründer der exakten Wissenschaft in der neueren Zeit, die modernen Platoniker, wie Galilei und Kepler, fordern diese Beziehung nicht nur, sondern sie stellen sie auf einem neuen Wege her. Sie gehen von bestimmten Grundbegriffen, von Voraussetzungen und »Hypothesen« aus, die als solche keinerlei unmittelbare »Entsprechung« im Sinnlich-Wirklichen besitzen, die aber nichtsdestoweniger den Anspruch erheben, das »Gefüge« ebendieser Wirklichkeit, ihre durchgehende Ordnung kenntlich zu machen. Nicht dem einzelnen Begriff und der einzelnen Voraussetzung, sondern dem System dieser Voraussetzungen kommt diese Leistung zu. So zeigt sich auch hier, daß die moderne Wissenschaft erst dadurch wahrhaft systematisch wird, daß sie sich entschließt, im strengen Sinne symbolisch zu werden. Je weiter sie die »Ähnlichkeit« mit den Dingen aus den Augen zu verlieren scheint: um so bestimmter, um so deutlicher und faßbarer | wird ihr die Gesetzlichkeit des Seins und Geschehens. Aber auch die Begründer der »klassischen« Mechanik, auch Galilei und Kepler, Huyghens und Newton, stehen erst am Anfang, nicht am Ende dieser Entwicklung. Ihre Leistung besteht wesentlich darin, daß sie den Schritt von der empirischen Anschauung zur »reinen Anschauung« vollziehen: daß sie die Welt nicht als eine Mannigfaltigkeit von Wahrnehmungen, sondern als eine solche von Gestalten, von Figuren und Größen, fassen. Auch dieser »figürlichen Synthesis« haftet jedoch noch eine bestimmte Beschränkung, die Beschränkung auf die »Gegebenheit« des reinen Raumes an. Er ist es, der zum Vorbild und Schema für den Aufbau all der geometrischen und mechanischen Einzelmodelle dient, auf welche die klassische Physik die Vielheit der empirischen Erscheinungen zurückführt und in denen sie den eigentlichen Prototyp aller wissenschaftlichen Naturerklärung sieht. Der Fortgang von der mechanischen Naturanschauung zum modernen »elektrodynamischen« Weltbild führt indes noch einen Schritt weiter. Er schafft einen Typus des Naturbegreifens, in dem nicht nur die besonderen Sinnesdaten ausgeschaltet sind, sondern in dem auch die Anlehnung an die Welt der »Anschauung« in ihrer früheren Form aufgegeben ist. Die höchsten universellen Naturbegriffe sind jetzt so gestaltet, daß sie sich jeder Möglichkeit einer direkten Veranschauli-
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chung entziehen. Die Funktion, die sie erfüllen, der spezifische »Sinn«, der ihnen eignet, besteht darin, daß sie allgemeine und allgemeinste Zuordnungsprinzipien enthalten, deren Gehalt aber keinerlei unmittelbarer Darstellung in der Anschauung fähig ist. Wenden wir daher – was freilich nur mit einem gewissen methodischen Vorbehalt möglich ist – die Kategorien, zu denen uns die Betrachtung der Sprachform hingeleitet hat, auf die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Begriffsform an, so läßt sich sagen, daß auch hier eine gleichsam »mimische« Phase am Anfang steht, daß sodann der Durchgang durch eine »analogische« Phase erfolgt, bis erst zuletzt die endgültige, die eigentlich symbolische Form der Begriffsbildung erreicht wird. Damit aber haben wir zunächst freilich nicht mehr als ein abstraktes Schema gewonnen, das einstweilen noch der Bewährung und der konkreten Erfüllung harrt. Wir suchen hier diese Erfüllung nicht dadurch zu gewinnen, daß wir dem geschichtlichen Gang der Naturerkenntnis folgen,215 | sondern dadurch, daß wir gewissermaßen nur den Reflex der letzteren in den philosophischen Systemen betrachten. Drei große Namen: die Namen Aristoteles, Descartes und Leibniz, sind es, in die wir den Fortschritt der allgemeinen Naturtheorie und ihrer logischen Form zusammenfassen können. Die Aristotelische Physik ist das erste Beispiel einer eigentlichen Wis senschaft der Natur. Man könnte freilich meinen, daß dieser Ruhmestitel nicht ihr, sondern daß er mit größerem Recht den Begründern der Atomistik gebührt. Aber wenngleich die Atomistik, in den Begriffen des Atoms und des »leeren Raumes«, eine schlechthin grundlegende Konzeption und einen methodischen Rahmen für alle künftige Naturklärung geschaffen hat, so blieb ihr doch die Ausfüllung dieses Rahmens versagt. Denn sie vermochte in ihrer antiken Gestalt das eigentliche und fundamentale Naturproblem, das Problem des Werdens, nicht zu bewältigen. Die Atomistik löst das Problem des Kör pers, indem sie alle sinnlichen »Eigenschaften« auf rein geometrische Bestimmungen, auf die Gestalt, die Lage und Ordnung der Atome zurückführt. Aber sie enthält zunächst kein allgemeines Denkmittel für die Darstellung der Veränderung – kein Prinzip, aus dem sich die Wechselwirkung der Atome begreiflich machen und gesetzlich bestimmen läßt.216 Erst Aristoteles, für den die Natur, die φσις, Für die eigentliche Geschichte des modernen Naturbegriffs, auf die hier nicht im einzelnen eingegangen werden kann, muß ich auf die eingehende Darstellung in meiner Schrift über das Erkenntnisproblem [ECW 2 u. 3] verweisen. 216 Wie sehr dieser Mangel die wissenschaftliche Entwicklung der Atomistik 215
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eben dadurch ausgezeichnet und vom bloßen Produkt der Kunst unterschieden ist, daß sie in sich selbst ein Prinzip der Bewegung besitzt, dringt zu einer wirklichen Analyse des Phänomens der Bewegung selbst vor. Diese Analyse aber trägt, rein methodisch betrachtet, einen doppelten und einen eigentümlich zwiespältigen Charakter. Sie ist durchaus logisch orientiert: Sie erklärt das Werden, indem sie es auf die letzten und allgemeinsten Begriffsbestimmungen der Aristotelischen Metaphysik, auf »Stoff« und »Form«, zurückführt. Aber sie muß andererseits diese höchsten Kategorien, um sie auf die konkreten Naturerscheinungen anwendbar und für deren Erklärung fruchtbar zu machen, überall an Beobachtungen und Erfahrungen anknüpfen, die sie einfach der sinnlichen Sphäre entnimmt. Die Aristotelische Lehre von den Elementen geht über dieses Gebiet nicht prinzipiell hinaus. Sie ordnet und klassifiziert die sinnlichen Data, sie faßt sie in Gruppen zusammen, aber sie nimmt an ihnen selbst keinen eigentlichen Gestaltwandel, keine gedankliche Umprägung vor. In dieser Hin | sicht reichen die Grundbegriffe der Aristotelischen Physik in ihrer Funktion und Leistung kaum weiter als die rein sprachlichen Merkmalsbegriffe. Schon die Sprache teilt die Mannigfaltigkeit der sinnlichen Phänomene in bestimmte Merkmalskreise auf: Sie schafft die Gegensatzpaare von »schwer« und »leicht«, von »kalt« und »warm«, von »feucht« und »trocken« usf. An diese Gegensatzpaare knüpft die Aristotelische Physik überall an. Sie gelten ihr als letzte, keiner weiteren Zergliederung fähigen oder bedürftigen Bestimmungen, auf denen sie ihrerseits die Lehre von den Grundbestandteilen, den στοιχε1α, aufbaut. Aus der Verbindung der Qualitäten des Warmen und Trockenen geht das Feuer, aus der des Warmen und Feuchten geht die Luft hervor; während die Verknüpfung des Kalten und Feuchten das Wasser, die des Kalten und Trockenen die Erde ergibt. Und jedem dieser Elemente entspricht weiterhin eine bestimmte Bewegungsart, die ihm nicht bloß zufällig anhaftet, sondern aus seinem inneren Wesen, aus seiner substantiellen Form, stammt. Das Feuer, als das absolut leichte Element, strebt seiner Natur nach nach oben, die Erde als das absolut schwere Element nach unten, während der ätherischen Substanz, aus der die Himmelskörper gebildet sind, wie sie selbst ungeworden und unvergänglich ist, auch die ewige, anfangs- und endlose Bewegung, die Bewegung im Kreise zukommt. So sehen wir, wie in dieser Physik sinnliche Erfahrungen, die aus der beeinflußt und wie er sie auf Jahrhunderte hintangehalten hat, läßt sich vor allem aus der ausgezeichneten Darstellung von Kurd Lasswitz (Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton, 2 Bde., Hamburg/Leipzig 1890) ersehen.
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unmittelbaren Beobachtung aufgegriffen werden, logische Bestimmungen und teleologische Prinzipien und Normen noch eine relativ ungeschiedene Einheit bilden. Vielleicht war es ebendiese Indifferenz, diese unmittelbare »Konkretion« des Empirischen und des rein Gedanklichen, was dem Aristotelischen Natursystem seinen Vorrang sicherte und was seinen Sieg für Jahrhunderte hinaus entschied. In ihr stellte sich etwas anderes und etwas Bedeutsameres als eine bloße Einzelleistung dar – in ihr war eine bestimmte Denkform, durch welche die naturwissenschaftliche Begriffsbildung notwendig hindurchgehen mußte, zur typischen, zur eigentlich »klassischen« Ausprägung gelangt. Die neuere Philosophie beginnt damit, daß sie diese Denkform auflöst, indem sie nicht ihre Ergebnisse, sondern ihre Voraussetzungen bestreitet. Das neue Wahrheitskriterium, auf dem die Philosophie Descartes’ sich aufbaut, zerstört die Herrschaft des Weltbildes der »substantiellen Formen«. Auf Wahrheit, auf echten Erkenntniswert hat nur Anspruch, was sich »klar und distinkt« einsehen läßt – klare und distinkte Einsicht aber läßt sich vom Sinnlichen als solchem niemals gewinnen. So darf in die Bildung der echten Naturbegriffe der sinnliche | Inhalt als solcher nicht länger eingehen. Er muß bis auf den letzten Rest getilgt und durch rein mathematische, durch Zahl- und Größenbestimmungen ersetzt werden. Der Weg, den Descartes hierfür einschlägt, ist bekannt. Alle Qualitäten der Empfindung werden aus dem objektiven Bilde der Natur verbannt: Sie drücken lediglich die Beschaffenheit des wahrnehmenden Subjekts, nicht die Beschaffenheit des Gegenstandes aus. Nicht nur Geruch und Geschmack, Farbe und Ton sind damit als objektive Merkmale beseitigt, sondern auch Beschaffenheiten wie Härte oder Schwere haben nunmehr aufgehört, notwendige und konstitutive Eigenschaften des Naturkörpers zu sein. Was wir mit diesem Namen belegen, das steht prinzipiell auf ein und derselben Linie mit all den anderen sinnlichen Qualitäten, die wir dem Naturkörper auf das unmittelbare Zeugnis der Wahrnehmung hin zuzusprechen pflegen. Auch Schwere und Härte fallen dahin, wenn wir die subjektive Berührungs- und Muskelempfindung ausgeschaltet denken. In einer Welt, in der alle Körper, die wir zu berühren suchen, mit derselben Geschwindigkeit, mit der wir ihnen unsere Hände nähern, von uns zurückweichen würden, könnten wir zu keiner Vorstellung der Härte oder des Widerstands mehr gelangen. Und doch würde die »objektive« Definition des Körpers auch in dieser Welt dieselbe wie in der unsrigen sein: Denn sie faßt nichts anderes als die rein geometrischen Bestimmungen, die Bestimmungen der Länge, Breite und
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Tiefe in sich.217 So ist, was wir Materie zu nennen pflegen, seinem reinen Seinscharakter nach auf den Raum, auf die Ausdehnung reduziert. Und damit ist für alle exakte Naturerkenntnis eine neue Norm aufgerichtet. Von einem Begreifen der Natur, von einer wahrhaften Einsicht in ihr Sein und ihre Gesetzlichkeit, kann nur dort gesprochen werden, wo es uns gelingt, ihre inhaltliche Fülle und Mannigfaltigkeit durch eine Mannigfaltigkeit der Form, durch einen geometrischen Schematismus zur Darstellung zu bringen. Alle Elemente der Empfindung sind in diesem Schematismus durch Elemente der reinen Anschauung ersetzt. Schon in seiner ersten methodisch grundlegenden Schrift, in den »Regulae ad directionem ingenii«, hat Descartes diesen Ersatz der »Empfindung« durch rein anschauliche Schemata gefordert.218 Und man kann sagen, daß | seine gesamte Physik – von der Schrift »Le monde« bis zu den »Principia philosophiae« hin – nichts anderes als die Verfolgung und der folgerechte Ausbau dieser einen Grund- und Leitidee gewesen ist. Der Weg zu einer »rationalen« Analyse der Naturerscheinungen führt durch die räumliche Anschauung hindurch – wo sie uns verläßt, wo die geometrische Konstruierbarkeit der Phänomene aufhört, da hat auch unsere Einsicht ihr Ende erreicht. Aber eben an diesem Punkte setzt nun Leibniz’ Kritik an der Cartesischen Physik ein. Denn Leibniz kommt ursprünglich nicht von der Geometrie, sondern von der Arithmetik her – und diese selbst gilt ihm nur als Spezialfall der Kombinatorik. Von hier aus erfüllt sich ihm der Begriff der Form mit einem neuen universellen Gehalt. Es ist der »Form« keineswegs wesentlich, daß sie sich als Raumform manifestieren muß; vielmehr ist sie prinzipiell und in erster Linie Vgl. bes. René Descartes, Principia philosophiae (Teil 1, Abschn. 53, Teil 2, Abschn. 4 u. ö.), in: Œuvres, Bd. VIII/1, Paris 1905, S. 1-329. 218 Vgl. ders., Regulae ad directionem ingenii, in: Œuvres, Bd. X, Paris 1908, S. 49–488: S. 441 u. 447: »Ex quibus facile concluditur non parum profuturum, si transferamus illa, quae de magnitudinibus in genere dici intelligemus, ad illam magnitudinis speciem, quae omnium facillime et distinctissime in imaginatione nostra pingetur: hanc vero esse extensionem realem corporis abstractam ab omni alio, quam quod sit figurata […] per se […] est evidens, cum in nullo alio subjecto distinctius omnes proportionum | differentiae exhibeantur […] Maneat ergo ratum et fixum, quaestiones perfecte determinatas […] facile posse et debere ab omni alio subjecto separari, ac deinde transferri ad extensionem et figuras [Nam] certum est omnes proportionum differentias, quaecumque in alijs subjectis existunt, etiam inter duas vel plures extensiones posse inveniri […]«. Näheres zu diesem Begriff der geometrischen »Abbildung« und seiner Bedeutung für den Aufbau des Cartesischen Systems der Physik s. Erkenntnisproblem, Bd. I, S. 457 ff. [ECW 2, S. 379 ff.]. 217
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logische Form. Eine strenge Gesetzlichkeit der Form, die ein exaktes Begreifen ermöglicht, besteht überall dort, wo eine Mannigfaltigkeit durch irgendeine ordnende Relation, wie immer diese im einzelnen beschaffen sein mag, beherrscht und bestimmt wird. Den Inbegriff dieser Relationen in systematischer Vollständigkeit aufzustellen und jeder einzelnen von ihnen ihre Struktur, ihren allgemeinen logischen »Typus« zu bestimmen, wird zur Aufgabe von Leibniz’ Wissenschaftslehre. Damit ist auch das Problem des Naturgegenstandes und der Naturerkenntnis von Anfang an in einen weiteren gedanklichen Rahmen eingespannt. Die »Realität« des Phänomens, seine »objektive« Beschaffenheit, beruht nicht länger auf bloß geometrischen Bestimmungen, sondern wird erst in einem weit komplexeren Bestimmungsmodus erreicht. »Wir besitzen in den Phänomenen kein anderes Kriterium der Realität, noch dürfen wir ein anderes verlangen, als daß sie ebensowohl untereinander wie auch mit den ewigen Wahrheiten übereinstimmen. […] Eine andere Wahrheit oder Wirklichkeit als die, die ebendies leistet, sucht man vergeblich: Die Skeptiker können nichts anderes fordern und die Dogmatiker nichts anderes versprechen.«219 Unter diesen »ewigen Wahrheiten« bilden die Axiome der Geometrie nur einen Sonderfall, den wir keineswegs zum Prüfstein und | zur Norm der Naturerkenntnis überhaupt erheben dürfen. Von diesem neu gewonnenen Standpunkt aus vollzieht Leibniz an den Grundlagen des Cartesischen Natursystems eine nicht minder scharfe Kritik, als sie Descartes selbst an der Physik des Aristoteles vollzogen hatte. Wie dieser der Aristotelischen Naturerklärung vorgehalten hatte, daß sie die Schranken der sinnlichen Empfindung nicht als solche erkannt und sie nicht grundsätzlich überschritten habe, so hält Leibniz der Cartesischen Definition der Substanz entgegen, daß sie sich rein innerhalb der Grenzen des anschaulich Darstellbaren halte und daß sie damit die »Einbildungskraft«, die »Imagination« zur Richterin über den Verstand mache. Eine wahrhafte Theorie der Natur aber könne erst erlangt werden, wenn wir gelernt haben, von beiden Schranken: den sinnlichen sowohl wie den anschaulichen, abzusehen. Von der Mechanik müssen 219 Gottfried Wilhelm Leibniz, Brief an Burcher de Volder vom 19. Januar 1706, in: Philosophische Schriften, Bd. II, S. 281–283: S. 282 f. [Zitat S. 283: »Neque aliam in phaenomenis habemus aut optare debemus notam realitas, quam quod inter se pariter et veritatibus aeternis respondent.«]; ders., Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum, in: Philosophische Schriften, Bd. IV, S. 350–392: S. 356 u. ö. [Zitat S. 356: »Alia in illis veritatis aut realitatis frustra expetitur, quam quae hoc praestat, nec aliud vel postulare debent Sceptici vel dogmatici polliceri.«].
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wir zur Dynamik, von der bloßen »Anschauung« zum Begriff der Kraft fortschreiten, welch letzterer sich nicht nur jeder Versinnlichung, sondern auch jeder unmittelbaren Veranschaulichung entzieht. »Niemand glaube, daß er die Natur des Körpers richtig erfaßt habe, solange er nicht eingesehen hat, daß jener grobe, lediglich in der Einbildungskraft gegründete Begriff der körperlichen Substanz, nach dem sie in der bloßen Ausdehnung bestehen soll, unvollkommen, um nicht zu sagen falsch ist. […] Denn außer der Größe und der Undurchdringlichkeit muß im Körper etwas angenommen werden, worauf sich die Betrachtung der Kräfte stützt. […] So müssen wir außer den rein mathematischen, der Anschauung zugänglichen Grundlagen noch andere metaphysische Grundlagen anerkennen, die lediglich durch den reinen Verstand erfaßbar sind, und müssen der materiellen Masse noch ein höheres, gewissermaßen formales Prinzip hinzufügen. Denn die Gesamtheit der Wahrheiten über körperliche Dinge läßt sich aus bloß arithmetischen und geometrischen Grundsätzen, aus den Axiomen vom Teil und vom Ganzen, von groß und klein, von Figur und Lage, nicht ableiten; sondern hierzu bedürfen wir noch anderer Sätze über Ursache und Wirkung, über Tun und Leiden.«220 Was somit Leibniz der Cartesischen Lehre zum Vorwurf macht, ist, daß auch sie noch immer verhaftet an den Körpern, an dem Bilde der ausgedehnten Masse, klebt. Seine Physik sollte den letzten entscheidenden Schritt tun: Sie sollte den Gedanken wie von dem Zwang der sinnlichen Wahrnehmung so auch von der Befangenheit im Bildlichen befreien. Damit erst schien wahrhaft der Weg zu einer universellen Erkenntnis | der Natur eröffnet. Der Grundsatz der Leibnizschen Erkenntnislehre »Nihil est in intellectu, quod non [antea] fuerit in sensu, excipe: nisi ipse intellectus«221 sollte sich auch hier bewähren: 220 Ders., Specimen dynamicum pro admirandis naturae legibus circa corporum vires et mutuas actiones detegendis et ad suas causas revocandis. Pars I, in: Mathematische Schriften, Bd. VI, Halle 1860, S. 234–246: S. 236 u. 241 [»[…] nec quisquam se corporis naturam tenere satis putet, nisi animum talibus adverterit intellexeritque imperfectam, ne dicam falsam esse notionem illam substantiae corporeae crassam et ab imaginatione sola pendentem ac philosophiae corpuscularis […] quod in corpore praeter magnitudinem et impenetrabilitatem poni debeat aliquid, unde virium consideratio oriatur […] Hinc igitur, praeter pure mathematica et imaginationi subjecta, collegi quaedam metaphysica solaque mente perceptibilia esse admittenda, et massae materiali principium quoddam superius, et ut sic dicam formale addendum, quandoquidem omnes veritates rerum corporearum ex solis axiomatibus logisticis et geometricis, nempe de magno et parvo, toto et parte, figura et situ, colligi non possint, sed alia de causa et effectu, actioneque et passione accedere debeant […]«]. 221 [Ders., Nouveaux essais, S. 100.]
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Die letzten Aussagen über das »Wesen« der Wirklichkeit sollten in rein »intelligiblen« Wahrheiten gegründet werden. Aber die philosophische Forderung, die damit gestellt war, hat sich in der Geschichte der Physik zunächst nicht tiefer ausgewirkt. Was Leibniz der empirischen Physik gegeben hat, das beschränkt sich im wesentlichen auf seine Formulierung des Satzes der »Erhaltung der lebendigen Kraft«, die der Entdeckung des Prinzips der Erhaltung der Energie die Wege gebahnt hat.222 Ihn selbst aber führt sein Kraftbegriff einen anderen Weg: Er leitet ihn, statt zum Problem der »Materie« und zu dem des physischen Körpers, vielmehr zum Problem der »Monade« zurück. Diese metaphysische Wendung konnte für den Fortgang des naturwissenschaftlichen Denkens keinen unmittelbaren Ertrag haben. Dieses Denken folgt vielmehr in seinem geschichtlichen Gang zunächst jener anderen strengeren Methodik der »Induktion«, wie sie Newton in seinen »Mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie« gelehrt hatte. Und auf Newton, nicht auf Leibniz, greift auch der nächste große philosophische Systematiker der Naturerkenntnis zurück. Damit ergibt sich im Fortgang der philosophischen Prinzipienlehre zunächst eine eigentümliche Rückwendung: Der Leibnizschen Tendenz zur »Intellektualisierung« tritt Kants Begriff der »reinen Anschauung« gegenüber. In ihr scheint die unbedingte Herrschaft der geometrischen Konstruktion, die Leibniz bestritten hatte, wieder zu Ehren gebracht. Denn kein Begriff des Verstandes kann Anspruch auf empirische Wahrheit, auf objektive Gültigkeit erheben, es sei denn, daß er sich in der Anschauung »schematisiert«. Und dieses »realisierende« Schema ist zugleich »restringierendes« Schema: Es hält den Begriff innerhalb der Schranken der räumlich-zeitlichen Darstellbarkeit fest. Jetzt ergibt sich jene Wechselbeziehung und Wechselbestimmung zwischen transzendentaler Ästhetik und transzendentaler Logik, die den gesamten Aufbau der Vernunftkritik bestimmt. Auf der anderen Seite aber kann auch Kant nicht umhin, als Logiker, als Analytiker des reinen Verstandes, die Funktion der reinen Verstandesbegriffe derart zu definieren, daß sie einen weiteren und allgemeineren Sinn erhalten, daß sie zwar in ihrem Gebrauch, nicht aber in ihrer Bedeutung auf das Gebiet der An | schauung eingeschränkt erscheinen. So schließt z. B. der Begriff der Substanz lediglich die Form einer intellektuellen Synthesis in sich, die als solche nicht-anschaulicher Art ist. Er ist der oberste unter den reinen Verhältnisbegriffen, die den Gegen222 Näheres über diesen Zusammenhang s. in meiner Schrift über »Leibniz’ System« (Kap. 6), S. 302 ff. [ECW 1, S. 271 ff.].
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stand der Erfahrung konstituieren; er gehört zu den »Analogien der Erfahrung«, durch welche allein die Gesamtheit der sinnlichen Erscheinungen zu einem einheitlichen Gefüge, zu einem »Kontext« zusammengeschlossen werden kann. Aber um ebendiese Leistung vollbringen zu können, bedarf er freilich der Anknüpfung an bestimmte räumlich-zeitliche Schemata. Damit wird die Beharrlichkeit – in der Form der Raumkonstanz und in der der Dingkonstanz – zur notwendigen Bedingung, unter welcher allein Erscheinungen als Gegenstände in einer möglichen Erfahrung bestimmbar sind. »Ein Philosoph wurde gefragt: wieviel wiegt der Rauch? Er antwortete: Ziehe von dem Gewichte des verbrannten Holzes das Gewicht der übrigbleibenden Asche ab, so hast du das Gewicht des Rauchs. Er setzte also als unwidersprechlich voraus: daß selbst im Feuer die Materie (Substanz) nicht vergehe, sondern nur die Form derselben eine Abänderung erleide.«223 In dieser Gleichsetzung des systematischen Grundsatzes der Substantialität mit der Annahme der »Materie« als eines beharrlichen Etwas, das sich durch all seine zeitlichen Wandlungen hindurch als »dasselbe«, als mit sich identisch wiedererkennen läßt, liegt indes eine innere Schwierigkeit des kritischen Systems. Denn das Prinzip, auf das Kant seine »transzendentale Deduktion der Kategorien« stützt, reicht für sich allein nicht hin, um diese Gleichsetzung zu begründen. Nach ihm besteht die Natur, als erscheinende Natur, aus lauter Verhältnissen: Aber »es sind darunter […] beharrliche [und dauernde], dadurch uns ein […] Gegenstand gegeben wird«.224 Diese Art der Konstanz erfordert an sich nichts anderes als die Möglichkeit, im Fluß des Werdens bestimmte gleichbleibende Beziehungen herauszuheben, gewisse universelle »Invarianten« festzuhalten. Und diese Forderung ist mit der Setzung eines stofflichen Substrats, das wir als die Unterlage für alle Veränderungen anzusehen haben, in keiner Weise gleichbedeutend: Die Vorstellung von etwas Beharrlichem im Dasein ist – wie Kant selbst gelegentlich prägnant ausspricht – nicht einerlei mit der beharrlichen Vorstellung.225 Daß sich nichtsdestoweniger für Kant selbst die Umsetzung des formalen Prinzips der Substanz in den Begriff der »Materie«, in die Annahme eines räumlich Unveränderlichen, | ohne Schwierigkeit vollzieht, ist wesentlich durch sein geschichtliches Verhältnis zur Newtonschen Lehre mitbedingt. Ganz im Sinne dieser Lehre erklärt er die materielle Substanz als dasjenige im Raume, was für sich, d. i. 223 224 225
Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 172 [B 228]. [A. a. O., S. 239 (B 341).] Vgl. a. a. O. (Vorrede), S. 31 Anm. [B XLI Anm.].
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abgesondert von allem anderen, was außer ihm im Raume existiert, beweglich ist.226 Das Axiom, daß der Raum selber und das Raumerfüllende, das stofflich Wirkliche in ihm, sich in dieser Weise voneinander absondern, daß sie sich begrifflich gewissermaßen in zwei scharf voneinander geschiedene Seinsweisen aufspalten lassen, wird hierbei dem System der »klassischen Mechanik« entnommen. Aber damit wird freilich Kants Lehre von der »reinen Anschauung« und mit ihr das gesamte Verhältnis, das er zwischen »transzendentaler Analytik« und »transzendentaler Ästhetik« annimmt, mit einer Schwierigkeit behaftet, die deutlich zutage treten mußte, sobald einmal ebendieses Axiom selbst ins Wanken geriet – sobald der Übergang von der klassischen Mechanik zur allgemeinen Relativitätstheorie sich vollzog. Wir haben uns bisher damit begnügt, das methodische Problem, dessen Entwicklung wir hier verfolgen, mittelbar zu betrachten: Wir haben es in der Spiegelung zu erfassen gesucht, die es in den philosophischen Systemen erfährt. Gehen wir indes nunmehr zu der Fortbildung des Problems im neunzehnten Jahrhundert über, so verläßt uns dieser Leitfaden. Denn in diesem Jahrhundert gibt es kein großes repräsentatives philosophisches Gedankensystem mehr, an welchem wir den Stand der naturwissenschaftlichen Prinzipien- und Methodenlehre gewissermaßen direkt ablesen können. An die Stelle einer philosophischen Synthese ist jetzt eine Fülle von Einzelansätzen getreten, die auf den ersten Blick keine Richtung auf ein gemeinsames Ziel erkennen lassen. Und doch ist es andrerseits ebendie theoretische Physik selbst gewesen, die, in ihrem eigenen immanenten Fortgang, gleichsam eine neue Visierlinie gewonnen, die sich, über alle Zersplitterung der Einzellehren hinweg, allmählich immer deutlicher eine neue Norm der Gesamtauffassung erarbeitet hat. Diese Norm ist vor allem dadurch gekennzeichnet, daß in ihr das Verhältnis zwischen »Begriff« und »Anschauung« eine neue Bestimmung erhält und daß es, gegenüber dem Ideal der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, auf das die klassische Mechanik hinzielte, eine wesentliche Verschiebung erfährt. In den Anfängen zwar behauptet die Forderung der Anschaulichkeit noch durchweg ihren Vorrang. Das Begreifen einer Naturerscheinung wird ihrer Darstellung durch ein anschauliches Mo | dell gleichgesetzt. Und die Physik scheint hierbei um den Ausbau all dieser Einzelmodelle weit mehr als um die Frage ihrer Verknüpfung und ihrer systematischen Vereinbarkeit besorgt zu sein. Nicht selten werden von ein und demselben Denker, bei dem Versuch der Erklärung 226 Vgl. ders., Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (Dynamik, Lehrsatz 5), in: Werke, Bd. IV, S. 367–485: S. 407 (Akad.-Ausg. IV, 502 f.).
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desselben Phänomens oder nahe verwandter Phänomenkreise, völlig verschiedene bildliche Darstellungen einfach nebeneinandergestellt. Auch eine in prinzipieller Hinsicht so grundlegende Arbeit, wie Maxwells Schrift über »Elektrizität und Magnetismus« findet an einer solchen Anreihung an sich ganz heterogener Bilder, die in bunter Folge, in einem fast kaleidoskopischen Wechsel, vor uns vorüberziehen, keinen Arg.227 Maxwell selbst folgt hierin noch einer Tradition, zu deren prinzipieller Überwindung gerade sein Werk die ersten und wichtigsten Keime enthält. Der wahre Sinn der Frage: »Verstehen wir einen Vorgang der Natur, oder verstehen wir ihn nicht?«, so hat einmal William Thomson diese traditionelle Ansicht knapp und scharf formuliert, »scheint mir auf die andere Frage hinauszulaufen, ob wir ein mechanisches Modell aufbauen können, das den Vorgang in all seinen Teilen wiedergibt.«228 Dennoch fehlte es in der Physik des neunzehnten Jahrhunderts keineswegs an gedanklichen Kräften, die dieser Ansicht von Anfang an entgegenwirkten. Wenn man die geistige Gesamtstruktur dieser Physik bezeichnen will, so wird man sie weniger eine Physik der Bilder und Modelle als eine Physik der Prinzipien nennen müssen. Um Prinzipien, nicht um Bilder, um die Zusammenfassung der verschiedenen Formen der Naturgesetzlichkeit in eine höchste allumfassende Regel ging der eigentliche, der methodisch wesentliche Streit. Vom Prinzip der Erhaltung der Energie bis zum allgemeinen Relativitätsprinzip läßt sich in dieser Hinsicht eine bestimmte und eindeutige gedankliche Entwicklungslinie verfolgen. Ein Prinzip aber steht, was die Möglichkeit seiner rein anschaulichen Begründung und Interpretation betrifft, von vornherein auf einer anderen Linie als ein bloßer Naturbegriff. Was den letzteren betrifft, so kann stets der Versuch gemacht werden, ihn einfach als eine »Abstraktion« aus den unmittelbar gegebenen sinnlich-anschaulichen Data zu deuten und ihn somit, gemäß der herrschenden Ansicht vom Wesen einer solchen Abstraktion, zuletzt in eine bloße Summe solcher Data aufgehen zu lassen. Ein Prinzip der Naturerklärung aber gehört, wie immer es im ein | zelnen beschaffen sein mag, gewissermaßen schon seiner allgemeinen logischen Dimension nach, einem 227 Vgl. hierzu insbesondere die Darstellung und Kritik Pierre Duhems in seiner Schrift: Les théories électriques de J. Clerk Maxwell. Étude historique et critique, Paris 1902. 228 William Thomson, Notes of Lectures on Molecular Dynamics and the Wave Theory of Light, Baltimore 1884, S. 132 (zit. nach: Duhem, La théorie physique, S. 112 [»Il me semble que le vrai sens de cette question: Comprenons-nous ou ne comprenons-nous pas tel sujet de Physique? est celui-ci: Pouvons-nous construire un modèle mécanique correspondant?«]).
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andern Kreise der Geltung an. Es spricht sich nicht in einem Begriff, sondern in einem Urteil aus: Es findet erst in einem allgemeinen Satz seinen Ausdruck. Und jeder solche Satz schließt einen spezifischen Setzungsmodus in sich. Seine Beziehung auf die Welt der anschaulichen Phänomene ist eine durchaus mittelbare: Sie geht durch das Medium der »Bedeutung« hindurch. Der Sinn des Prinzips muß sich zuletzt empirisch und somit anschaulich erfüllen; aber diese Erfüllung ist niemals direkt möglich, sondern kann nur in der Weise geschehen, daß aus der Annahme seiner Gültigkeit durch eine hypothetische Deduktion andere Sätze hergeleitet werden. Keiner dieser Sätze, keines der einzelnen Stadien in diesem logischen Fortgang, braucht hierbei einer direkten anschaulichen Interpretation fähig zu sein. Nur als logische Gesamtheit läßt sich die Reihe der Folgerungen auf die Anschauung beziehen und an ihr bewähren und rechtfertigen. Wenn wir daher auch hier wieder das physikalische Denken dem sprachlichen Denken vergleichen wollen, so ließe sich sagen, daß der Fortgang vom »Modell« zum »Prinzip« eine analoge gedankliche Leistung in sich schließt, wie sie die Sprache vollzieht, indem sie vom Wort zum Satz fortgeht: Mit der Anerkennung des Vorrangs des Prinzips vor dem Modell gelangt die Physik gewissermaßen erst dazu, in Sätzen statt in Worten zu denken. In der Physik des neunzehnten Jahrhunderts läßt sich der Wettstreit zwischen diesen beiden Motiven bisweilen in unmittelbarer Deutlichkeit an konkreten Einzelbeispielen aufweisen. Vor allem sind es die verschiedenen Richtungen in der Auffassung und Begründung des Energieprinzips, die diesen Wettstreit klar erkennen lassen. Bei Helmholtz erscheint der Satz von der »Erhaltung der Kraft« als eine einfache Folgerung aus den Grundvoraussetzungen der mechanischen Weltansicht. Diese steht a priori fest: Sie ist eine »Bedingung der […] Begreiflichkeit der Natur«. Die Aufgabe der physikalischen Wissenschaft bestimmt sich dahin, die Naturerscheinungen zurückzuführen auf unveränderliche anziehende und abstoßende Kräfte, deren Intensität von der Entfernung abhängt. Geht man von diesem Postulat sowie von der Gültigkeit der Newtonschen allgemeinen Bewegungsgesetze aus, so erscheint damit der Satz von der Erhaltung der Energie seinem wesentlichen Gehalt nach auf den mechanischen Satz von der Erhaltung der lebendigen Kräfte reduziert.229 Aber | diese Reduktion ist nicht das Ziel, das Robert Mayer sich in seiner Darstellung und in seinem Beweis des Energieprinzips stellt. Für ihn bedeutet dasselbe nichts anderes als eine universelle Beziehung, die die verschiedenartigen Gebiete physi229
Vgl. Helmholtz, Über die Erhaltung der Kraft, S. 6 ff. [Zitat S. 6].
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kalischer Erscheinungen miteinander verknüpft, die sie quantitativ vergleichbar und durch einander meßbar macht. Die Geltung und Wahrheit dieser Beziehung hängt hierbei keineswegs davon ab, daß die Zurückführung aller besonderen Phänomene auf mechanische Vorgänge gelingt. Das Prinzip sagt aus, gemäß welchen festen Zahlverhältnissen sich Wärme in Bewegung, Bewegung in Wärme ver wandelt, aber es behauptet damit in keiner Weise, daß die Wärme ihrem physikalischen Wesen nach nichts anderes als Bewegung ist. Der Wert des Energiesatzes besteht vielmehr nach Robert Mayer eben darin, daß er uns in den Stand setzt, Verschiedenartiges exakt zu ver gleichen, ohne in diesem Vergleich und durch ihn seine Verschiedenheit preiszugeben. Wie Bewegung sich in Fallkraft, Fallkraft in Bewegung umsetzt, ohne daß man daraus den Schluß ziehen kann, daß beide miteinander identisch sind, so gilt das gleiche für alle Gebiete von Phänomenen, deren Verknüpfung durch feste Maßzahlen, durch bestimmte Äquivalenzwerte der Energiesatz uns lehrt.230 Die Energetik des 19. Jahrhunderts hat, wie bekannt, an diese Bemerkung des ersten Entdeckers des Energieprinzips angeknüpft, um, gestützt auf sie, einen wahrhaften Bildersturm im Gebiet der Physik zu entfesseln. Aber die Kritik, die z. B. Wilhelm Ostwald in diesem Zusammenhang gegen die kinetische Wärmetheorie gerichtet hat,231 verfehlt – ganz abgesehen von der physikalischen Bedeutung dieser Theorie – auch in rein erkenntniskritischer Hinsicht den eigentlichen Kern der Frage. Denn diese Frage betrifft nicht sowohl den Inhalt der Naturtheorie als vielmehr ihre Form, ihren Aufbau und ihr logisches Gefüge. Nicht darum kann es sich handeln, mechanische Hypothesen überhaupt ausschalten oder ihre Fruchtbarkeit in bestimmten Einzelfällen bestreiten zu wollen, sondern die Frage kann nur dahin gehen, welche Stellung wir diesen Hypothesen im Gesamtsystem der Physik zu geben und welchen logischen Rang wir ihnen einzuräumen haben. Sind sie notwendige Bedingungen der physikalischen Begriffsbildung und notwendige Obersätze | der physikalischen Theorienbildung überhaupt, oder gibt es über ihnen andere höhere Sätze, an denen 230 Vgl. bes. Robert Mayer, Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur (1842), in: ders., Die Mechanik der Wärme. In gesammelten Schriften, hrsg. v. Jacob Johann Weyrauch, 3., ergänzte u. mit historisch-litterarischen Mitteilungen vers. Aufl., Stuttgart 1893, S. 23–30: S. 28 sowie Mayers Briefe an Wilhelm Griesinger vom 5. und 6. Dezember 1842 u. vom 20. Juli 1844, in: ders., Kleinere Schriften und Briefe. Nebst Mittheilungen aus seinem Leben, hrsg. v. Jacob Johann Weyrauch, Stuttgart 1893, S. 185–194 u. 222–226: S. 187 u. 225. 231 Vgl. Wilhelm Ostwald, Vorlesungen über Naturphilosophie. Gehalten im Sommer 1901 an der Universität Leipzig, Leipzig 1902, S. 210 ff. u. ö.
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sie gemessen werden müssen? Der Streit, der lange Zeit um diese Frage geführt worden ist, kann heute im allgemeinen als entschieden gelten. Den Wandel in der Grundanschauung, der sich hier langsam und stetig vollzogen hat, kann man sich vielleicht am besten am Beispiel Plancks verdeutlichen. In seiner ersten Schrift über »Das Princip der Erhaltung der Energie« vom Jahre 1887 steht Planck im allgemeinen noch durchaus auf dem Boden der »mechanischen Weltansicht«. Diese gilt ihm noch als das regulative Prinzip aller physikalischen Forschung überhaupt. Nichtsdestoweniger hat Planck auf eine eigentliche mechanische Ableitung des Energieprinzips schon hier verzichtet. Wenn es sich darum handelt, die Rangordnung der Prinzipien und ihre Stelle im Fortgang der Deduktion festzustellen, so entscheidet er sich für den Vorrang des Erhaltungsprinzips in seiner allgemeinsten, durch keine besondere Deutung eingeschränkten Form. »Wenn man bedenkt«, so schreibt er, »dass die mechanische Naturanschauung schon von Alters her, lange vor dem Bekanntwerden des Energieprincips, in der Naturphilosophie eine bedeutende Rolle spielte […] wenn man ferner übersieht, wie ungemein anschaulich sich von dem mechanischen Standpunkt aus die Definition des Begriffes der Energie, die Formulierung und endlich der Beweis des Princips geben lässt, so ist es sehr wohl erklärlich, dass gerade dieser Beweis unter den deductiven Methoden den Vorzug erhalten hat […] Demungeachtet möchte es mir scheinen, als ob man mit grösserem Rechte das Princip der Erhaltung der Energie zur Stütze der mechanischen Naturanschauung, als umgekehrt die letztere zur Grundlage der Deduction des Energieprincips machen würde, da doch dies Princip weit sicherer begründet ist, als die wenn auch noch so plausible Annahme, dass jede Veränderung in der Natur sich auf Bewegung zurückführen lässt.« 232 Noch weit schärfer, als es bereits hier geschieht, wird sodann von Planck, etwa ein Vierteljahrhundert später, das Verhältnis bestimmt. In seinem Vortrag über »Die Stellung der neueren Physik zur mechanischen Naturanschauung« vom Jahre 1910 ist der methodisch entscheidende Schluß gezogen, ist der Primat der »Prinzipien« vor den »Modellen« anerkannt und nach allen Seiten hin durchgeführt. Der eigentliche Maßstab für die Bewertung einer physikalischen Hypothese – so wird jetzt ausdrücklich betont – kann niemals in ihrer Anschaulichkeit, sondern er muß in ihrer Leistungsfähigkeit gesucht werden. Nicht die Einfachheit des Bildes, | sondern die Einheitlichkeit der Erklärung, die Subsumtion der Gesamtheit der Naturerscheinungen unter allbefassende oberste Regeln gibt den Ausschlag. Von dieser Erwägung aus ergibt sich jetzt 232
Max Planck, Das Princip der Erhaltung der Energie, Leipzig 1887, S. 136 f.
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ein Aufbau der Naturtheorie, der nicht nur die Postulate, auf denen die mechanische Weltansicht sich gründet, sondern auch das Prinzip der Erhaltung der Energie an Allgemeinheit weit übertrifft. Es gilt zunächst, den durch das Prinzip der Relativität geforderten Schritt zu tun, nach welchem die vier »Dimensionen« der physikalischen Welt grundsätzlich gleichberechtigt und miteinander vertauschbar sind. Als das oberste physikalische Gesetz, als die Krone des gesamten Natursystems, ergibt sich alsdann das Prinzip der kleinsten Wirkung, welches die vier Weltkoordinaten in vollkommen symmetrischer Anordnung enthält. »Von diesem Zentralprinzip strahlen symmetrisch nach vier Richtungen vier ganz gleichwertige Prinzipien aus, entsprechend den vier Weltdimensionen; den räumlichen Dimensionen entspricht das (dreifache) Prinzip der Bewegungsgröße, der zeitlichen Dimension entspricht das Prinzip der Energie. Niemals war es früher möglich, die tiefere Bedeutung und den gemeinsamen Ursprung dieser Prinzipien soweit zurück bis zur Wurzel zu verfolgen.« Das »Prinzip der kleinsten Wirkung« gibt in der Tat insofern einen neuen und umfassenden Aspekt der Totalität der Natur, als sich aus ihm das Prinzip der Erhaltung der Energie als Folgerung ergibt, während nicht umgekehrt jenes aus diesem sich ableiten läßt. Und was sein Verhältnis zur mechanischen Weltansicht betrifft, so zeigt sich, daß es von ihr in seiner Bedeutung und in seinem Gebrauch völlig unabhängig ist. Gerade in seiner Anwendung auf das Gebiet der »außermechanischen Physik« konnte es seine Fruchtbarkeit erweisen – wie z. B. Larmor und Schwarzschild die Grundgleichungen der Elektrodynamik und Elektronentheorie aus dem Prinzip der kleinsten Wirkung abgeleitet haben.233 Die Physik des neunzehnten und des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts hätte diesen ihren Aufstieg zu Prinzipien von immer größerer Weite und Allgemeinheit nicht vollziehen, hätte ihre eigene gedankliche Höhe nicht erklimmen können, wenn sie sich nicht wie von den Schranken der sinnlichen Empfindung so auch von denen der Anschauung und der geometrisch-mechanischen »Darstellung« mehr und mehr freigemacht hätte. Daß diese Befreiung | keine Abwendung von der Welt der Anschauung in sich schließt, versteht sich hierbei von selbst, denn alle physikalische Theorie muß freilich zu ihr zurückstreben und sich zuletzt an ihr bewähren. Aber ebendiese 233 Näheres in Plancks Vortrag »Die Stellung der neueren Physik« [Zitat S. 58 f.] und in seiner Abhandlung über »Das Prinzip der kleinsten Wirkung«, in: Physik, unter Red. v. Emil Warburg bearb. v. Felix Auerbach u. a. (Kultur der Gegenwart, 3. Teil, 3. Abt., Bd. I), Leipzig/Berlin 1915, S. 692–702. Wieder abgedruckt in: ders., Physikalische Rundblicke, S. 103–119.
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Bewährung, diese Bereicherung und Befruchtung der Anschauung gelingt dem physikalischen Denken nur, indem es sich nicht von vornherein an sie bindet, sondern sich immer tiefer und reiner in seiner Selbstgesetzlichkeit, in seiner eigentümlichen »Autarkie« erkennt und in ihr behauptet. In der Geschichte der neueren Physik gibt es vielleicht kein klareres Beispiel für diesen Sachverhalt als die Entwicklung, die sich in der Theorie des Äthers vollzogen hat. Hier stellt fast jede Phase, die der physikalische Gedanke durchlaufen hat, zugleich ein charakteristisches Stadium eines allgemeinen methodischen Prozesses dar. In der Emissionstheorie Newtons wird der Vorgang der Lichtausbreitung dadurch erklärt, daß er unmittelbar an den Vorgang der materiellen Bewegung angeknüpft und auf ihn zurückgeführt wird. Das Licht »besteht« in sehr kleinen stofflichen Partikeln, die von der Lichtquelle mit bestimmter, für jede Farbe verschiedener Geschwindigkeit nach allen Seiten ausgesandt werden. Im weiteren Fortgang erweist sich diese Form der Erklärung als unhaltbar: Die Phänomene der Interferenz nötigen dazu, von der Emissionstheorie wieder zur »Undulationstheorie«, wie sie schon von Christian Huyghens begründet worden war, zurückzugehen. Aber auch jetzt bleibt die allgemeine Tendenz bestehen, in empirisch bekannten, anschaulich faßbaren Vorgängen einen Anhalt für die Erklärung jenes Unbekannten zu suchen, das sich uns in der Erscheinung des Lichts offenbart. Immer wieder setzt an diesem Punkte das Spiel der Analogienbildung ein. Die Bewegung des Lichts scheint nicht anders »begriffen« werden zu können als dadurch, daß man sie bald mit der Fortpflanzung einer Welle auf einer Wasserfläche, bald mit den Schwingungen einer elastischen Saite vergleicht. Allen »Vergleichen« dieser Art stellten sich indes, je weiter man sie auszuspinnen versuchte, um so größere Schwierigkeiten entgegen. Der Lichtäther gewann, je subtiler die anschaulichen Beschreibungen wurden, die man von seiner Konstitution gab, ein um so paradoxeres Aussehen. Er wurde mit der Zeit zu einem wahrhaften »hölzernen Eisen«: zu einem Gebilde, das Eigenschaften in sich vereinen sollte, die auf Grund aller sonstigen Erfahrungen einander durchaus zu widerstreiten scheinen. Jeder Versuch, diese Widersprüche durch Einführung neuer ad hoc konstruierter Hilfsannahmen zu beseitigen, führte nur immer tiefer in das Labyrinth hinein; der Äther wurde zum eigent | lichen »Schmerzenskinde der mechanischen Theorie«.234 Und doch war im Grunde der Ariadnefaden, der 234 [Cassirer: mechanischen Physik. – Planck, Die Stellung der neueren Physik, S. 46.]
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zuletzt aus diesem Labyrinth hinausführen sollte, schon gegeben, sobald einmal, wie es in der Maxwellschen Theorie geschah, das Licht als elektrodynamischer Vorgang bestimmt wurde. Denn jetzt war der wichtigste prinzipielle Schritt: der Übergang von der Physik der Materie zur reinen »Feldphysik« getan. Die Realität, die wir mit dem Namen des »Feldes« bezeichnen, läßt sich nicht mehr als ein Komplex von physischen Dingen denken, sondern sie ist der Ausdruck für einen Inbegriff physikalischer Relationen. Wenn wir aus diesen Relationen bestimmte Elemente herauslösen, wenn wir einzelne Stellen des Feldes für sich betrachten, so bedeutet das doch niemals, daß wir sie auch tatsächlich in der Anschauung trennen und als isolierte anschauliche Gebilde aufzeigen können. Jedes dieser Elemente ist vielmehr durch das Ganze, dem es angehört, bedingt, ja erst durch dieses Ganze »definiert«. Hier läßt sich nicht mehr ein einzelner »Teil«, eine substantielle Partikel vom Felde absondern und die Bewegung dieser Partikel während einer bestimmten Zeit verfolgen. Der Methode, einen bestimmten physischen »Gegenstand« durch eine wenn auch noch so verfeinerte Art des »Hinweises«, des τ δε τι, zu definieren, ist daher hier von Anfang an ein Ziel gesetzt. Diese Form der »Demonstration« versagt – und an ihre Stelle muß eine viel verwickeltere Form der physikalischen »Deduktion« treten. In dem Äther der modernen Physik – so drückt Eddington gelegentlich diesen Sachverhalt aus – können wir nicht mehr unsern Finger auf einen bestimmten Ort legen und behaupten, daß dieser oder jener seiner Teile sich vor wenigen Sekunden an diesem Ort befunden habe.235 Die numerische Identität, die wir sonst als eine der wesentlichen Bestimmungen der »Dinge« – sowohl derjenigen der »unmittelbaren« Erfahrung wie der mechanischen Massen, als der substantiellen »Träger« der Bewegung – anzusehen pflegen, läßt sich demnach hier nicht länger festhalten. Und doch ist andererseits durch den Verzicht auf diese Form der Dinglichkeit die objektive Gültigkeit und die objektive Bedeutung der physikalischen Begriffe in keiner Weise gefährdet; vielmehr ist sie jetzt in einem tieferen und allgemeineren Sinne begründet. Die einzelne Stelle im Äther kann freilich durch keinerlei konkrete »Merkmale« mehr bezeichnet und von anderen unterschieden werden. Jede dieser Stellen wird vielmehr ganz abstrakt durch zwei »Zustandsgrößen«, durch die Größe und Richtung des elektrischen und magnetischen Vektors definiert. Und das »Wesen« des Lichts be | steht jetzt nicht mehr in etwas, was einer »Wellenbewe235 Vgl. Arthur Eddington, Space, Time and Gravitation. An Outline of the General Relativity Theory, Cambridge 41923, S. 40.
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gung« oder einer »Schwingung«, im anschaulichen Sinne des Wortes, irgend vergleichbar wäre, sondern in periodischen Änderungen eines Vektors, dessen Richtung stets senkrecht zur Fortpflanzungsrichtung zu denken ist. Erst dieser »formalistischen Lichttheorie« ist es gelungen, die Widersprüche zu beseitigen, die sich jedem Bilde des Äthers unvermeidlich anhefteten.236 Erst als die Physik prinzipiell auf die Anschauung des Äthers als einer Art »elastischen Festkörpers« verzichtete,237 wurde die Bahn zu einer neuen Auffassung frei, die nunmehr auch den Begriff der Materie von Grund aus verändern sollte. Und auch diese Wandlung weist eine innere Folgerichtigkeit, eine strenge methodische Kontinuität auf. Es schien zunächst, als könne sich die Physik damit begnügen, den neu gewonnenen Begriff des Äthers einfach neben den Begriff der Materie zu stellen. So entstand ein Dualismus von »Materie« und »Feld«; Äther und Materie bilden zwei verschiedene und voneinander getrennte Wesenheiten, die indes durch ständige Wechselwirkung miteinander verknüpft sind. Durch die Relativitätstheorie wird sodann auch dieser Dualismus aufgehoben: Die Materie erscheint nicht als ein physisches Dasein neben dem Feld, sondern sie wird auf dasselbe zurückgeführt, sie wird zu einer »Ausgeburt des Feldes«.238 Schon Faraday bereitet diese Wendung vor: Schon für ihn geht die »Realität« der Materie zuletzt in der der Kraftlinien auf. In der Mieschen Theorie der Materie ist der Gegensatz von »Körper« und »Feld« überhaupt beseitigt: Der Körper selbst wird rein aus Elektrizität aufgebaut.239 Erscheint in dieser Weise die Materie gewissermaßen als Produkt des Äthers, so wäre es ersichtlich ein 0στεCον πC τεCον, wenn man dem Äther selbst irgendwelche Eigenschaften beilegen wollte, die denen der Materie analog sind. Wir müssen ihn, relativ zur Materie, »eigenschaftslos« denken, um zu einer wahrhaften Ableitung der materiellen Eigenschaften zu gelangen.240 Wollen wir 236 Zur Ausbildung der »formalistischen Lichttheorie« vgl. z. B. die Darstellung von Bavink, Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaft, S. 89 ff. 237 Über den Weg, auf welchem die Physik schließlich zu diesem Verzicht hingeführt wurde, vgl. die Darstellung von Max Born, Die Relativitätstheorie Einsteins und ihre physikalischen Grundlagen, Berlin 1920 (Naturwissenschaftliche Monographien und Lehrbücher, Bd. 3), S. 78 ff. u. 158 ff. 238 Näheres bei Weyl, Raum – Zeit – Materie (§ 25), S. 181 ff. [Zitat S. 184]. 239 Näheres zu Mies Theorie der Materie s. a. a. O. (§ 26), S. 186 ff. sowie bei Laue, Die Relativitätstheorie, Bd. II (Kap. 8). 240 Vgl. hierzu die Bemerkungen von Eddington, Space, Time and Gravitation, S. 39: »Mathematicians of the nineteenth century devoted much time to theories of elastic | solid and other material aethers. Waves of light were supposed to be actual oscillations of this substance; it was thought to have the familiar properties of rigidity and density […] The real death-blow to this materialistic con-
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gleichwohl fortfahren, von ihm | als einem besonderen »Gegenstand« zu sprechen, so ist doch ebendieser Gegenstand nicht als ein eigener substantieller »Hintergrund« für bestimmte Relationen, sondern lediglich als deren Ausdruck und Inbegriff zu denken. Einstein hat in seinem Leidener Vortrag über »Äther und Relativitätstheorie« ausgeführt, daß auch die allgemeine Relativitätstheorie auf den Begriff des Äthers nicht zu verzichten brauche: Nur müsse sie es sich versagen, dem Äther noch irgendeinen bestimmten Bewegungszustand beizulegen, da ja von jedem wie immer bewegten System mit gleichem Recht gesagt werden könne, daß der Äther in ihm ruht. Aber ein solcher Äther, von dem wir weder sagen dürfen, daß er ruht, noch, daß er sich mit einer bestimmten Geschwindigkeit bewegt, ist offenbar kein einzelnes »Ding« mehr, das sich irgendwie in der Vorstellung realisieren und mit bestimmten anschaulichen Merkmalen und Eigenschaften ausstatten läßt. Der Äther in diesem Sinne hat keine anderen Bestimmungen mehr, als sie ebendem Felde selbst eignen, und ist somit von diesem nur der Bezeichnung nach verschieden. Damit hat innerhalb der Physik ein eigentümlicher dialektischer Prozeß seinen Abschluß gefunden: Der konsequente Ausbau der Äthervorstellung hat zur Aufhebung ebendieser Vorstellung geführt. Die Physik hat damit den Bereich der »Darstellung«, ja der Darstellbarkeit überhaupt endgültig verlassen, um in ein abstrakteres Reich einzutreten. Der Schematismus der Bilder ist dem Symbolismus der Prinzipien gewichen. Der empirische Ursprung der modernen physikalischen Theorie ist durch diese Einsicht natürlich nicht im mindesten angetastet. Aber die Physik handelt jetzt nicht mehr unmittelbar von dem Daseienden als dem inhaltlich Wirklichen, sondern sie handelt von dessen »Gefüge«, von seiner formalen Verfassung. Die Tendenz zur Vereinheitlichung hat über die Tendenz zur Veranschaulichung den Sieg davongetragen: Die Synthesis, die durch die reinen Gesetzesbegriffe geleistet241 wird, hat sich der Zusammenfassung in Dingbegriffen als überlegen erwiesen. Die Ordnung ist damit zum eigentlichen, zum »absoluten« Grundbegriff der Physik geworden: Die Welt selbst stellt sich nicht mehr als ein Beisammen von Dingein | heiten, sondern als eine Ordnung von »Ereignissen« dar.242 ception of the aether was given when attempts were made to explain matter as some state in the aether. For if matter is vortex-motion or beknottedness in aether, the aether cannot be matter – some state in itself. […] If physics evolves a theory of matter which explains some property, it stultifies itself when it postulates that the same property exists unexplained in the primitive basis of matter.« 241 [Cassirer: geleitet] 242 Vgl. hierzu z. B. Eddington, Space, Time and Gravitation, bes. S. 12 ff., 184 ff. u. ö.
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»Als Medium, in welchem die Physik die Außenwelt konstruiert«, so spricht Weyl diesen Sachverhalt aus, »darf […] nicht der anschauliche Raum und die anschauliche Zeit dienen, sondern ein vierdimensionales Kontinuum im abstrakt-arithmetischen Sinne. Waren die Farben für Huyghens ›in Wirklichkeit‹ Ätherschwingungen, so erscheinen sie jetzt nur noch als mathematische Funktionsverläufe von periodischem Charakter, wobei in den Funktionen als Repräsentanten des auf Koordinaten bezogenen raumzeitlichen Mediums vier unabhängige Variable auftreten. Was übrigbleibt, ist somit schließlich eine symbolische Konstruktion, genau in dem Sinne, wie sie von Hilbert in der Mathematik durchgeführt wird.«243 Auch in anderer Hinsicht kann gerade der Name Huyghens dazu dienen, uns eine tiefere Einsicht in die Art und Richtung der Entwicklung zu verschaffen, die von der klassischen Mechanik zum Weltbild der modernen relativistischen Physik hinüberführt. Denn Huyghens stellt innerhalb der klassischen Lehre einen bestimmten methodischen Höhepunkt dar: Er ist derjenige physikalische Denker, der eine rein kinetische Auffassung des Weltgeschehens zuerst in wirklicher Allgemeinheit und in wissenschaftlicher Strenge durchgeführt hat. Alle Erscheinungen der Natur werden diesem Gesichtspunkt unterworfen. Für Huyghens besteht kein Gegensatz zwischen dem Reich der »lebendigen Kräfte« und der »Spannkräfte«, zwischen »kinetischer« und »potentieller« Energie. Alles Naturgeschehen geht ihm vielmehr in der aktuellen Bewegung kleinster materieller Teile auf, die selbst als unwandelbare substantielle Einzelwesen betrachtet werden. Die Physik des Äthers, die er entwirft, und die Physik der »ponderablen« Massen stehen in dieser Hinsicht einander gleich. Auch Licht und Schwere lassen sich nach Huyghens nicht anders erklären als dadurch, daß sie auf Bewegungen, auf räumliche Translationen der kleinsten noch selbständig existierenden Ätherteile zurückgeführt werden. Als Grundprinzip, das die Wechselwirkung zwischen den einzelnen bewegten Korpuskeln bestimmt und regelt, gilt hierbei das Gesetz der Erhaltung der lebendigen Kraft. Alle Wirksamkeit in der Natur besteht darin, daß die kinetische Energie, deren Summe unveränderlich bleibt, sich räumlich verschieden verteilt, daß sie von einem Raumteil zum andern | übergeht. Diese Wanderung der Energie gilt es gewissermaßen von Ort zu Ort zu verfolgen, um ein vollständiges, in all seinen Bestandteilen durchaus anschauliches Bild des Weltgeschehens zu gewinnen. Wo die unmittelbare Beobachtung uns – wie bei den Phänomenen des unelastischen Stoßes – einen Ver243
Weyl, Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft, S. 80.
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lust an lebendiger Kraft zeigt, da sind wir, wenn wir eine befriedigende systematische Erklärung gewinnen wollen, genötigt, diesen Verlust als bloß scheinbar anzusehen. Die Energie, die in den sinnlich wahrnehmbaren Körpern verlorengeht, wandelt sich in eine andere Form, in die Bewegung der Ätheratome um, und sie wird von diesen, unter bestimmten Bedingungen, wieder auf die körperlichen Massen zurückübertragen. Der Vorrat an Bewegungsenergie, der sich im Äther, wie in einem großen Reservoir angesammelt hat, strömt von diesem wieder auf die Körperatome zurück. So sind es die Stoßgesetze, in denen Huyghens das Muster und den Prototyp aller Naturgesetze überhaupt sieht. Und der Stoß selbst wird hierbei nicht einfach als ein sinnliches Phänomen betrachtet und beschrieben, sondern auf rein »rationale«, auf mathematisch formulierbare, allgemeine Prinzipien zurückgeführt. Die Geltung solcher Prinzipien zugleich mit der Annahme der Atome, als der letzten Teile der Materie, die unveränderlich und von absoluter Solidität sein müssen, bildet die notwendige Bedingung, unter der allein eine Wissenschaft von der Natur begründet werden kann. Lasswitz, der in seiner »Geschichte der Atomistik« diese Huyghenssche Grundlehre ausgezeichnet dargestellt hat, knüpft an diese Darstellung eine allgemeine Erwägung, in der er eine erkenntniskritische Legitimierung, eine »transzendentale Deduktion« ebendieser Lehre zu geben sucht. Die kinetische Atomistik stellt nach ihm nicht eine besondere physikalische Grundauffassung dar, der sich andere Erklärungen als relativ gleichberechtigt an die Seite stellen lassen, sondern sie ist ihm die Norm und das Vorbild des exakten Naturbegreifens überhaupt. Denn in ihr zuerst sind die verschiedenen Denkmittel, die unerläßlich sind, um aus dem Fluß unserer Bewußtseinserlebnisse ein beharrendes physisches Sein, eine »objektive« Natur herauszulösen, miteinander in ein vollständiges ideales Gleichgewicht gesetzt. Das erste dieser Denkmittel ist die Kategorie der Substantialität. Sie drückt die erste grundlegende Einheitsbeziehung aus, welche darin besteht, daß einem Subjekte Prädikate als nähere Bestimmungen anhaften und es zu einem wahrnehmbaren, mit Eigenschaften begabten Einzeldinge machen. Der wissenschaftliche Ausdruck dieser Einzeldinglichkeit ist der Begriff des Atoms als des festen unzerstörlichen Trägers aller Veränderungen. Aber eben | diese Veränderungen selbst sind damit noch nicht gesetzt und bestimmt. Das Geschehen im eigentlichen Sinne wird durch die Substanz nicht sowohl begründet, als es vielmehr durch sie negiert wird. Hier bedarf es demnach eines anderen Prinzips, das den Wandel und Wechsel der Bestimmungen als solchen objektivierbar macht. Wie die Substanz auf
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den Raum, so ist dieses neue Prinzip auf die Zeit bezogen. Es stellt eine Gesetzlichkeit fest, die die verschiedenen aufeinanderfolgenden Zustände ein und derselben Substanz miteinander verknüpft. Wir bedürfen eines Mittels, um das Gegebene als ein Werdendes zu denken. Die Wissenschaft hat dieses neue Denkmittel, das Denkmittel der »Variabilität«, erst gefunden, als sie, mittels der Grundbegriffe der Analysis des Unendlichen, den Begriff der veränderlichen Größe streng zu definieren und die Beziehung zwischen verschiedenen veränderlichen Größen auf einen exakten mathematischen Ausdruck zu bringen lernte. »Es handelt sich um diejenige Einheitsbeziehung des Bewußtseins, welche das sinnlich Gegebene in solcher Weise verknüpft, daß es nicht, wie in der Substanz, zwar Identität mit sich selbst durch seine Prädikate erhält, aber vom Zusammenhange mit allen andern gelöst ist, sondern daß es als eine Zeiterfüllung begriffen wird, die zwar als ein einheitliches Element im 244 Kontinuum markiert, aber nicht von ihm getrennt ist, als eine Position, die in sich selbständig ein Gesetz des Werdens, der Fortsetzung enthält, wodurch die weitere gesetzmäßige Erfüllung der Zeit verbürgt wird.« Durch dieses neue Denkmittel erst wird eine Beziehung zwischen Substanzen hergestellt, wird eine Kausalität zwischen ihnen definierbar. Und Huyghens’ theoretischer Aufbau der kinetischen Atomistik erscheint nun nach Lasswitz als ein eigentlicher Höhepunkt des modernen naturwissenschaftlichen Denkens, weil hier die beiden Grundforderungen dieses Denkens, die in der erkenntniskritischen Analyse getrennt werden, in ihrer Leistung in mustergültiger Weise zusammenwirken. Huyghens objektiviert die sinnliche Tatsache der Veränderung der Körper in den Prinzipien der Mechanik als die kontinuierliche kausale Wechselbestimmung. Durch den Begriff des starren Atoms wird der unveränderliche Träger der Bewegung, durch das Gesetz von der Erhaltung der algebraischen Summe der Bewegungsgrößen und durch das Gesetz von der Erhaltung der Energie wird die Wechselwirkung zwischen den einzelnen Elementen der Körperwelt festgestellt. Hier ist von jener sinnlichen Vorstellung, von der die Atomistik sonst im ganzen Verlauf ihrer Geschichte begleitet wird, von der Vorstellung der Atome als kleiner und harter Körper, keine Rede mehr. »Das […] eben ist der Fortschritt, durch den Huygens die | Korpuskulartheorie zur Wissenschaft gemacht hat, daß er diese sinnliche Vorstellung überwindet und durch rationale, und zwar mathematisch formulierte Begriffe ersetzt. Das absolute Atom und die Gesamtheit der bewegten Atome sind begriffliche Gebilde; ihr Zusammentreffen 244
[Cassirer: ein]
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im Raume bedeutet nicht mehr den Anthropomorphismus des Stoßens, sondern die geometrische Bestimmung des Orts zu gegebener Zeit; und ihr Verhalten nach dem sogenannten Stoß wird nicht geschlossen nach Analogie des Zurückprallens sinnlicher Körper, sondern bestimmt durch die mathematische Formel, welche die Verteilung der Geschwindigkeiten reguliert.« 245 Die erkenntniskritische Deduktion, die hier von dem System der Physik gegeben wird, ist eine hypothetische Deduktion: Sie knüpft an einen bestimmten, geschichtlich gegebenen Stand der Forschung an und legt ihn als »Faktum der Wissenschaft« zugrunde. Lasswitz selbst sieht hierbei, als strenger kritischer Denker, dieses Faktum keineswegs als schlechthin unveränderlich und endgültig an. »Niemals«, so betont er, »darf die kritische Philosophie sich anmaßen, [die] Bedingungen [der Erfahrung] und die Prinzipien der Physik a priori bestimmen zu wollen, sondern sie kann dies immer nur an dem historischen Prozeß; und wie die physikalische Erkenntnis sich [wandelt], wird auch immer die Lehre historisch sich wandeln, welches der Inhalt der transcendentalen Bedingungen der Erfahrung sei. Nicht, wie im Bewußtsein der Menschheit einer gegebenen Epoche die Prinzipien wissenschaftlicher Erkenntnis formuliert sind, sondern daß sie formuliert sein müssen, daß es eine ewige Bestimmung für die Richtung des Bewußtseins, ein oberstes Gesetz der Objektivierung gibt, ist der Wesensunterschied der transcendentalen Prinzipien von dem Wandel der Theorien. […] Welche Denkmittel neu entdeckt, welche aus dem Bewußtsein der Menschheit verschwinden werden, ist eine unlösliche Frage; genug, wenn jede Kulturepoche sich der ihrigen bewußt wird als der synthetischen Einheiten, welche im Schwanken und Tasten der speziellen Untersuchungen und Hypothesen die Möglichkeit wissenschaftlicher Erfahrung gewährleisten, indem sie den wechselnden theoretischen Inhalt nicht bloß vom Zufall der Empirie, sondern von einer dauernden Richtung des Bewußtseins abhängig erweisen.«246 Tritt man mit der allgemeinen philosophischen Gesinnung, die sich in diesen Sätzen ausspricht, an die moderne relativistische Physik heran, | und stellt man sie dem Bilde der kinetischen Atomistik, wie Lasswitz es historisch gezeichnet und wie er es erkenntniskritisch zu fundieren gesucht hat, gegenüber, so heben sich in besonders ein245 Lasswitz, Geschichte der Atomistik, Bd. II: Höhepunkt und Verfall der Korpuskulartheorie des siebzehnten Jahrhunderts, S. 374 f., vgl. bes. Bd. I: Die Erneuerung der Korpuskulartheorie, S. 43 ff. u. 269 ff., Bd. II, S. 341 ff. [Zitate Bd. I, S. 271 u. Bd. II, S. 374 f.]. 246 A. a. O., Bd. II, S. 393.
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dringlicher und lehrreicher Weise die Grundmotive der theoretischen Wandlung heraus, die die Physik in den letzten Jahrzehnten erfahren hat. Auch die moderne Physik kann die beiden »Denkmittel«, die Lasswitz zugrunde legt, die Denkmittel der »Substantialität« und der »Variabilität« nicht entbehren. Aber indem sie diese Denkmittel gebraucht, rückt sie sie zugleich in ein neues systematisches Ver hältnis. Sie kann sie nicht länger in der Weise voneinander absondern, daß sie die Substanz wesentlich und vornehmlich auf den Raum, die Veränderung wesentlich auf die Zeit bezieht. Denn diese Sonderung würde voraussetzen, daß sich Raum und Zeit selbst in der Beschreibung der physikalischen Welt scharf voneinander abtrennen lassen, daß beide im Aufbau der Physik einander als selbständige Grundformen gegenüberstehen. Die Bestreitung ebendieser Voraussetzung aber bildet den Anfang der relativistischen Physik. In ihr sinken, gemäß der bekannten Formulierung Minkowskis, Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herab, und nur noch eine Art Union der beiden bewahrt Selbständigkeit. Was durch die Erscheinungen gegeben ist, ist nur die in Raum und Zeit vierdimensionale Welt, bei der die Projektion in Raum und Zeit noch mit einer gewissen Freiheit vorgenommen werden kann.247 Es ergibt sich hieraus, daß wir auch das Motiv der Beharrlichkeit und das der Veränderung nicht einfach, wie es in Huyghens’ Ableitung der kinetischen Atomistik geschieht, als Gegenmotive auffassen dürfen, die allenfalls einander ergänzen können, die aber ihrer Grundbedeutung nach scharf voneinander getrennt bleiben müssen. Vielmehr ist es hier ein Prinzip, das aus sich heraus sowohl die Beharrlichkeit wie die Veränderung bestimmt und beide in durchgängiger Korrelation miteinander verknüpft. Die Welt ist nicht mehr als eine Welt konstanter »Dinge« gefaßt, deren »Eigenschaften« in der Zeit wechseln, sondern sie ist zu einem in sich geschlossenen System von »Ereignissen« geworden, deren jedes durch vier einander gleichgeordnete Koordinaten bestimmt wird.248 Und es gibt jetzt auch nicht länger einen selbständigen | Weltinhalt, der einfach in die fertigen »Formen« »des« Raumes und »der« Zeit aufgenommen wird, sondern der Raum, die Zeit, die 247 Vgl. Hermann Minkowski, Raum und Zeit, in: Hendrik Antoon Lorentz/ Albert Einstein/Hermann Minkowski, Das Relativitätsprinzip. Eine Sammlung von Abhandlungen, 3., verb. Aufl., Leipzig/Berlin 1920 (Fortschritte der mathematischen Wissenschaften in Monographien, H. 2), S. 54–66. 248 Ich verweise hierfür insbesondere auf die Schrift von Alfred North Whitehead: An Enquiry concerning the Principles of Natural Knowledge, Cambridge 21925, in der dieser Charakter der relativistischen »Ereigniswelt« besonders klar und scharf herausgearbeitet worden ist.
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Materie sind unlöslich miteinander verknüpft, sind nur im Hinblick aufeinander überhaupt definierbar. Im physikalischen Sinne als real gilt nur noch die Synthesis, die Wechselbeziehung und Wechselbestimmung von Raum, Zeit und Materie, während jedes für sich genommen nicht mehr als eine bloße Abstraktion ist. Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Materialität sind nach wie vor Momente der physikalischen Wirklichkeit; aber diese Momente lassen sich nicht, wie es in der älteren Anschauung möglich war, gleich Stücken behandeln, aus denen sich diese Wirklichkeit zusammensetzt. Es gibt jetzt nicht mehr, wie etwa in der Newtonschen Theorie, einen »leeren« Raum, in welchen das stofflich Reale »wie in eine fertige Mietskaserne« einzieht.249 Im Begriff des »metrischen Feldes« ist ein Einheits- und Oberbegriff geschaffen, der die besonderen Gesichtspunkte des Raumes, der Zeit und der Materie in einer völlig neuen Weise aufeinander bezieht und miteinander verknüpft. Die Welt ist in systematischer Einheitlichkeit als eine (3 + 1)-dimensionale metrische Mannigfaltigkeit definiert; alle physikalischen Felderscheinungen sind Äußerungen der Weltmetrik.250 Auch die Energie ist jetzt nicht mehr jenes »unzerstörliche Objekt«,251 als welches sie z. B. von Robert Mayer beschrieben wurde und das als solches eine Art Gegenstück zu der gleichfalls unzerstörlichen Masse bildete. Der Dualismus zwischen Masse und Energie wird durch Einsteins Satz von der »Trägheit der Energie« aufgehoben. Die Prinzipien von der Erhaltung der Masse und von der Erhaltung der Energie werden durch die Relativitätstheorie zu einem einzigen Prinzip vereint.252 Der Energiesatz wird mit dem Satz der Erhaltung des Impulses unlöslich verknüpft: Er ist nur die eine, die Zeitkomponente, eines gegenüber Lorentz-Transformationen invarianten Gesetzes, dessen Raumkomponenten die Erhaltung des Impulses aussagen. In dieser Fassung des Erhaltungssatzes tritt ein »Substantielles« von ganz neuer Art und Ordnung auf. Hier stehen wir vielleicht vor dem höchsten Triumph, den der reine Substanz gedanke über die bloße Substanz vorstellung davongetragen hat. Was wir als das letzte physisch Reale definieren, hat jeden Schein der Dinghaftigkeit von sich ab | gestreift: Es hat keinen Sinn mehr, von ein und derselben Materie zu verschiedenen Zeiten zu spre-
[Weyl, Raum – Zeit – Materie, S. 87.] Näheres zum Begriff des metrischen Feldes bes. a. a. O. (§ 12 u. 35). 251 [S. Mayer, Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur, S. 24.] 252 Vgl. Albert Einsteins Abhandlung »Ist die Trägheit eines Körpers von seinem Energieinhalt abhängig?«, in: Annalen der Physik 18 (1905), S. 639–641; Näheres z. B. bei Haas, Das Naturbild der neuen Physik (6. Vortrag). 249 250
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chen.253 Und doch ist auch hier wieder durch diesen Verzicht auf die Dinglichkeit die »Objektivität« der Physik keineswegs erschüttert, sondern vielmehr in einem neuen und tieferen Sinne gegründet. Denn diese Objektivität ist kein Problem der Darstellung, sondern sie ist ein reines Bedeutungsproblem. Was wir den Gegenstand nennen, das ist nicht länger ein schematisierbares, ein in der Anschauung realisierbares »Etwas« mit bestimmten räumlichen und zeitlichen Prädikaten, sondern es ist ein rein gedanklich zu erfassender Einheitspunkt. Der Gegenstand als solcher kann niemals »vorgestellt« werden: Er ist gemäß jener Definition, die im Prinzip bereits bei Kant scharf herausgearbeitet war, ein bloßes X, »worauf in bezug Vorstellungen synthetische Einheit haben«.254 In einer früheren Untersuchung habe ich zu zeigen gesucht, wie dieser Fortgang von den Dingbegriffen zu den Relationsbegriffen, von der Setzung konstanter Dingeinheiten zu der reinen Gesetzeskonstanz für das gesamte naturwissenschaftliche Weltbild der neueren Zeit, seit Galilei und Kepler, charakteristisch ist und wie klar sich diese allgemeine logische Tendenz schon im System der »klassischen Mechanik« auswirkt. Die letzte Phase der Physik, die durch Einsteins spezielle Relativitätstheorie eingeleitet worden ist, wurde in diese Untersuchung noch nicht einbezogen. Heute läßt sich sagen, daß erst diese Phase es gewesen ist, die aus der vorangehenden Entwicklung die letzten Konsequenzen gezogen hat, die in rein methodischem Sinn gewissermaßen ihren Schlußstein bildet. Alles »Substantielle« ist hier rein und vollständig ins Funktionale umgewandt: Das, wovon wahrhaft und endgültig »Beharrlichkeit« ausgesagt wird, ist kein Dasein mehr, das sich im Raume und in der Zeit ausbreitet, sondern es sind jene Größen und Größenbeziehungen, die die universellen Konstanten für jegliche Beschreibung des physikalischen Geschehens bilden. Die Invarianz solcher Beziehungen, nicht die Existenz irgendwelcher Einzelwesen, bildet die letzte Schicht der Objektivität.255 Nur ein Gebiet der modernen Physik bleibt noch zurück, das auf den ersten Blick dieser Grundauffassung von dem inneren Gesetz ihres S. Weyl, Raum – Zeit – Materie (§ 20, 24, 25 u. ö.). [Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft (§ 16), S. 114–117 (B 131–136).] 255 Vgl. Substanzbegriff und Funktionsbegriff [ECW 6]. – Für die allgemeine erkenntniskritische Fundierung der obigen Darstellung muß ich auf diese Schrift (bes. Kap. 4 u. 7) zurückverweisen. Hier sollte das dort Ausgeführte nicht wiederholt werden; ich habe mich damit begnügt, die Grundthese der Schrift im Hinblick auf den gegenwärtigen Stand der theoretischen Physik und auf ihre Entwicklung in den beiden letzten Jahrzehnten weiter durchzuführen und sie im einzelnen schärfer zu bestimmen. 253 254
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Fortgangs | entgegensteht. Wenn die Atomistik in jener Form, die ihr das klassische System gegeben hat, verlassen, wenn das rein kinetische Weltbild, wie es Huyghens aufgebaut hat, aufgegeben ist – so hat doch andrerseits der Begriff des Atoms als solcher eine glänzende Wiederauferstehung erlebt. Die Lehre von der atomistischen Struktur der Materie gehört zu den sichersten, von allen Seiten her begründeten Ergebnissen der neuen Physik. Seitdem die Ergebnisse der Spektroskopie einen Einblick in das »Innere« des Atoms ermöglicht haben, seitdem z. B. Laue , indem er die Kristalle als »Punktgitter« benutzte, seine bekannten »Beugungsbilder« gewonnen hat,256 befestigte sich mehr und mehr der Eindruck, daß die Welt des Atoms nunmehr unmittelbar aufgeschlossen und in direkter Anschauung zugänglich geworden sei. Auch die außerordentliche Fruchtbarkeit der Bohrschen Atomtheorie erschien vor allem darin gegründet, daß hier eine außerordentliche Fülle empirischer Einzeltatsachen gleichsam in ei nen Blick vereint und durch ein einfaches Modell von höchster anschaulicher Klarheit dargestellt war. Nichtsdestoweniger läßt sich gerade an dem Unterschied des Bohrschen Atommodells von der Vorstellungsweise, die in der »klassischen« Form der Atomistik herrschend war, der Wandel in der allgemeinen methodischen Grundansicht deutlich machen. Denn, wie man mit Recht betont hat, ist jetzt das Atom zu einem »überaus dehnbaren, relativen Begriff« geworden. »[D]er alte Begriff eines starren, mit ganz bestimmter Masse […] und unabänderlichen Eigenschaften ein für allemal begabten Kügelchens ist völlig verschwunden. Statt seiner haben wir das überaus verwickelte System elektrischer Ladungen und Felder in fortdauernder Bewegung und Veränderung.« Das Weltbild ist durchaus dynamisch, die Materie ist zu einem »Vorgang« geworden: Und was wir als ihre festen »Eigenschaften« zu bezeichnen pflegen, ist eine Funktion von Vorgängen. Auch die ursprünglichsten Eigenschaften aller Materie, wie die Trägheit und die Schwere, werden als reine Feldphänomene betrachtet und abgeleitet.257 Wenn für die ältere Theorie das Atom ein schlechthin Unteilbares war, wenn es für jede weitergehende Analyse ein Nonplusultra bedeutete, so ist es jetzt zu einem System geworden, das sich an innerer Mannigfaltigkeit und Komplexion den großen kos-
256 Näheres bei Max Theodor Felix von Laue, Die Interferenzerscheinungen an Röntgenstrahlen, hervorgerufen durch das Raumgitter der Kristalle, in: Jahrbuch der Radioaktivität und Elektronik 11 (1914), S. 308–345 sowie bei Sommerfeld, Atombau und Spektrallinien (Kap. 4, § 1). 257 Vgl. Bavink, Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaft, S. 120 [Zitat], 150 u. ö.
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mischen Systemen vergleichen läßt. Das Atom ist ein Planetensystem, die Planeten sind Elektronen, die um den Kern als Zentralkörper kreisen. Und das Elektron, das damit zum eigentlichen | Element der physikalischen Wirklichkeit geworden ist, kann sich nicht, gleich dem »absolut harten« Atom der älteren Theorie, »zum Starren waffne[n]«.258 Denn es bleibt, auch als Einzelwesen gedacht, immer noch dem Felde verhaftet und läßt sich aus ihm nicht als ein substantiell Selbständiges herauslösen. Im Grunde erscheint das Elektron als nichts anderes denn als ein ausgezeichneter Punkt im Felde, als eine Stelle, in die von allen Seiten elektrische Kraftlinien einmünden.259 Für die Atomistik in ihrer ursprünglichen Gestalt ist der Dualismus zwischen der Materie und dem Raum, in dem sie sich befindet und bewegt, unaufheblich und notwendig. Schon bei Demokrit ist in dieser Weise das παµπλ0Cες 8ν des Atoms vom »leeren« Raume unterschieden, und beide sind als irreduzible Seinsweisen einander entgegengesetzt. Auch dort, wo die Atomistik aus ihrer mechanischen Form in die dynamische Form übergeht, bleibt im allgemeinen dieser Gegensatz bestehen. Auch das »einfache« Atom, im Sinne der Bos covichschen Theorie, bleibt eben in dieser Einfachheit ein an sich Seiendes und gewissermaßen in sich Verschlossenes. Es ist und besteht, um nachträglich in Beziehung zu andern gleichfalls selbständigen physischen Individuen, zu andern einfachen Kraftpunkten zu treten. Für das Elektron, wie es die moderne physikalische Theorie bestimmt, aber läßt sich eine solche Auffassung nicht durchführen: Es geht nicht dem Felde voran, sondern wird erst durch seine Beziehungen zum Felde konstituiert. Demgemäß muß nun auch die Mechanik, verglichen mit der streng kinematischen Auffassung, eine andere Form annehmen. Die Quantenmechanik zeigt in ihrer Entwicklung deutlich die Tendenz, eine immer »abstraktere« Gestalt anzunehmen: Und in ihrer neuesten Form scheint sie auf jede »Darstellung« der Vorgänge im Atom, auf jedes räumliche Bild überhaupt zu verzichten. Aber auch dieser Verzicht bedeutet keineswegs eine bloß negative Leistung; er ist vielmehr der Beginn, der erste und notwendige Schritt zu einer neuen Form gedanklicher Einheitsbildung.260 | 258 [Johann Wolfgang von Goethe, Eins und Alles, in: Werke, 1. Abt., Bd. III, Weimar 1890, S. 81 sowie in: Werke, 2. Abt., Bd. XI, Weimar 1893, S. 265 f.: S. 265.] 259 Vgl. Sommerfeld, Atombau und Spektrallinien, S. 8. 260 Für den Grundbegriff der Quantentheorie, den Begriff des »elementaren Wirkungsquantums«, betont Planck selbst, in einem Aufsatz aus dem Jahre 1915, daß seine eigentliche Bedeutung »bis jetzt der Anschaulichkeit fast gänzlich entbehrt«. »Immerhin«, so fährt er fort, »kann es keinem Zweifel unterliegen, daß eine Zeit kommen wird, in welcher, wie die chemischen Atomgewichte,
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Im Charakter dieser Einheitsbildung aber liegt es freilich, daß die Gegenständlichkeit, zu der sie fortschreitet und auf die sie hinzielt, niemals abschließend bestimmt sein kann. Wenn das »Ding« der naiven Anschauung als eine feste Summe bestimmter »Eigenschaften« erscheinen kann – so gehört es zum Wesen des physikalischen Objekts, daß es sich nur in der Form einer »Grenzidee« auffassen läßt.261 Denn hier handelt es sich nicht um eine Aufweisung der letzten »absoluten« Elemente des Wirklichen, in deren Betrachtung sodann der Gedanke gewissermaßen ausruhen kann, sondern um einen fortschreitenden, niemals abbrechenden Prozeß, kraft dessen das relativ »Notwendige« sich an Stelle des relativ Zufälligen, das relativ Unveränderliche an Stelle des relativ Veränderlichen setzt. Niemals kann behauptet werden, daß dieser Prozeß bis zu jenen letzten »Invarianten der Erfahrung«, die nunmehr an Stelle des unveränderlichen Bestandes der »Dinge« treten, endgültig vorgedrungen sei; daß wir diese Invarianten sozusagen mit Händen greifen können. Vielmehr muß immer die Möglichkeit offengehalten werden, daß eine neue Synthesis einsetzt, durch die die universellen Konstanten, in welchen wir die »Natur« bestimmter großer physikalischer Gegenstandsgebiete bezeichnet haben, selbst wieder enger aneinanderrücken und sich als Sonderfälle einer übergreifenden Gesetzlichkeit erweisen. Diese bildet alsdann den eigentlichen Kern der Objektivität; aber auch sie muß so auch das elementare Wirkungsquantum, sei es unter welchem Namen und in welcher Form immer, einen integrierenden Bestandteil der allgemeinen Dynamik bilden wird. Denn die physikalische Forschung kann nicht rasten, solange nicht mit der Mechanik und der Elektrodynamik auch die Lehre der ruhenden und der strahlenden Wärme zu einer einzigen ein |heitlichen Theorie zusammengeschweißt worden ist.« (Max Planck, Verhältnis der Theorien zueinander, in: Physik, unter Red. v. Emil Warburg bearb. v. Felix Auerbach u. a., S. 732–737, wieder abgedruckt in: ders., Physikalische Rundblicke, S. 120–128: S.128) Auch Niels Bohr selbst betont in einem Aufsatz über »Atomtheorie und Mechanik« (in: Die Naturwissenschaften 14 [1926], S. 1–10: S. 4), daß es sich bei dem allgemeinen Problem der Quantentheorie um ein »tiefgehendes Versagen der raumzeitlichen Bilder« handle, mittels derer man bisher die Naturerscheinungen zu beschreiben suchte. 261 Vgl. hierzu die Bemerkungen Weyls in der Einleitung zu seiner Schrift über »Raum – Zeit – Materie« (S. 4): »Es liegt im Wesen eines wirklichen Dinges, ein Unerschöpfliches zu sein an Inhalt, dem wir uns nur durch immer neue, zum Teil sich widersprechende Erfahrungen und deren Abgleich unbegrenzt nähern können. In diesem Sinne ist das wirkliche Ding eine Grenzidee. Darauf beruht der empirische Charakter aller Wirklichkeitserkenntnis.« Ebendieser Charakter der Unabschließbarkeit der empirisch-physikalischen Gegenstandsbildung war schon von Galilei aufs schärfste betont worden; Näheres s. Erkenntnisproblem, Bd. I, S. 402 ff. [ECW 2, S. 335 ff.].
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gewärtig sein, dereinst in ihrer nur bedingten Allgemeinheit erkannt und durch eine weitergreifende universelle Beziehung ersetzt zu werden. »Die eine Wirklichkeit«, so habe ich dies Grundverhältnis in einem andern Zusammenhang zu formulieren gesucht, »kann nur als die ideale Grenze der mannigfach wechselnden Theorien aufgezeigt und definiert werden; aber die Setzung dieser Grenze selbst ist nicht willkürlich, son | dern unumgänglich, sofern erst durch sie die Kontinuität der Erfahrung hergestellt wird. Kein einzelnes astronomisches System, das Kopernikanische sowenig wie das Ptolemäische, sondern erst das Ganze dieser Systeme, wie sie sich gemäß einem bestimmten Zusammenhang stetig entfalten, darf uns […] als Ausdruck der ›wahren‹ kosmischen Ordnung gelten. [Die physikalischen] Begriffe gelten, nicht sofern sie ein gegebenes starres Sein abbilden, sondern sofern sie einen Entwurf zu möglichen Einheitssetzungen in sich schließen, der sich in der Ausübung, in der Anwendung auf das empirische Material, fortschreitend bewähren muß. Aber das Instrument selbst, das zur Einheit und damit zur Wahrheit des Gedachten hinführt, muß in sich fest und sicher sein. Besäße es nicht in sich selbst eine bestimmte Stabilität, so wäre kein sicherer und dauernder Gebrauch von ihm möglich; es würde beim ersten Versuch zerbröckeln und sich in nichts auflösen. Wir bedürfen nicht der Objektivität absoluter Dinge, wohl aber der objektiven Bestimmtheit des Weges der Erfahrung selbst. « 262 Ebendieser Grundcharakter des theoretisch-physikalischen Denkens ist es, aus dem heraus seine Bindung an bestimmte Symbole sich als gefordert, als innerlich notwendig erweist – aus dem aber andererseits hervorgeht, in welcher Art ebendiese Symbole selbst, in der Weise, wie sie sich miteinander durchdringen und sich übereinander aufbauen, das objektive Gefüge der physikalischen Welt, als ein reines Ordnungsgefüge, sichtbar machen. Das markanteste Zeugnis für diesen Zusammenhang liegt jetzt im Aufbau der allgemeinen Relativitätstheorie vor uns.263 Hier ist das physikalische Denken Schritt für Schritt zu immer höheren Kreisen emporgestiegen; aber es hat dadurch das Band mit der physikalischen »Wirklichkeit« nicht gelöst, sondern nur um so fester geknüpft. Jede neue Sicht, die dieses Denken erreicht, zeigt sich freilich als abhängig von dem spezifischen »GeSubstanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 427 f. [ECW 6, S. 348 f.]. Wie ebendieser Aufbau zur Bestätigung und Illustration der hier vertretenen erkenntniskritischen Grundauffassung dienen kann, ist vortrefflich dargelegt worden von Karl Bollert, Einstein’s Relativitätstheorie und ihre Stellung im System der Gesamterfahrung, Dresden/Leipzig 1921. 262 263
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sichtspunkt«, von dem gedanklichen Horizont, von welchem aus sie gewonnen ist. Aber die verschiedenen Arten der Sicht folgen hierbei einander nicht zufällig, sondern gemäß einer immanenten Gesetzlichkeit: Sie sind nicht allein durch das »von außen« zuströmende empirische Material, sondern zugleich durch die Entwicklung der physikalischen Denkform selbst be | dingt und in ihrer Abfolge bestimmt.264 Jede höhere Objektivationsstufe begrenzt die frühere; aber sie vernichtet sie in dieser Begrenzung nicht, sondern umfaßt sie vielmehr mit ihrem eigenen Blickpunkt und nimmt sie in diesen auf. Das Ziel, das hierbei verfolgt wird, besteht eben darin, daß von der Besonderung des Blickpunkts mehr und mehr »abgesehen«, daß alles, was nicht sowohl dem Objekt selbst als vielmehr dem zufälligen Standpunkt, von dem aus es betrachtet wird, angehört, fortschreitend ausgeschaltet wird. Das Weltbild der älteren Physik erweist sich hierbei nicht als das schlechthin gültige, sondern als entworfen von einem bestimmten Standpunkt aus: vom Standpunkt derjenigen Beobachter, die relativ zueinander ruhen. Führen wir statt dessen relativ zueinander bewegte Bezugssysteme ein, so müssen alle die festen »Eigenschaftsbegriffe«, die für jenes Weltbild galten, eine Verschiebung, eine Variation erfahren. Nicht nur die sogenannten sinnlichen Qualitäten weisen diese Art der Abhängigkeit vom Zustand des wahrnehmenden Subjekts auf – sondern auch die Größe, die Gestalt, die Masse und der Energiegehalt des Dings ändern sich, nach den Ergebnissen der speziellen Relativitätstheorie, mit dem Bewegungszustand des Beobachters. Immer weitere Kreise zieht dieser Prozeß der Relativierung; und immer wieder wird damit das Zentrum des physikalischen Wirklichkeitsbegriffs an eine andere Stelle verlegt. Der antiken Physik gilt der »Ort« eines Dinges noch als eine physische »Eigenschaft«: Von bestimmten individuellen Orten gehen bestimmte, keinem anderen Ort zugehörige Wirkungen aus. So strahlen etwa vom Weltmittelpunkt, in welchem die Erde ruht, Kräfte aus, die die schweren Körper zu diesem Punkte, als ihrem »natürlichen Orte«, hinziehen. Diese Auffassung wird durch Kopernikus überwunden: Er spricht das »Relativitätsprinzip des Ortes« aus. Das Relativitätsprinzip der »klassischen Mechanik« zieht den gleichen Schluß für die Geschwindigkeiten, bis zuletzt die allgemeine Relativitätstheorie auch hierüber hinausschreitet, indem sie die Bewegung überhaupt relativiert, indem sie zeigt, daß man jeden Massenpunkt dauernd »›auf Ruhe‹ transformieren«
264 Den näheren Erweis hierfür habe ich in meiner Schrift »Zur Einstein’schen Relativitätstheorie« [ECW 10] zu erbringen gesucht.
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kann.265 Immer wieder zeigt sich hierbei, daß gewisse Bestimmungen, die wir dem Objekt als solchen als »seine« Beschaffenheiten beilegten, überhaupt nur definierbar sind, wenn wir ihnen einen gewissen Index hinzufügen, wenn wir angeben, hinsichtlich welches Bezugssystems sie als gültig gedacht werden sollen. | »Bewegung« und »Kraft«, »Masse« und »Energie«, »Länge« und »Dauer« sind jetzt nichts mehr »an sich«, sondern sie bedeuten nur noch etwas – und sie bedeuten im allgemeinen Verschiedenes für relativ zueinander bewegte Beobachter. Damit scheint freilich unvermeidlich die Frage aufzutauchen, ob es nicht möglich sei, auch diesen letzten Rest von »Zufälligkeit«, von »Subjektivität« aus der Beschreibung des Naturgeschehens zu tilgen. Gibt es nicht irgendeinen Weltbegriff, der von allen Partikularitäten frei ist, der die Welt so beschreibt, wie sie sich nicht vom Standpunkt dieses oder jenes, sondern – »vom Standpunkt von niemand« ausnimmt? 266 Aber sofern diese Frage überhaupt zulässig ist, so zielt sie doch in jedem Falle auf einen »unendlich fernen« Punkt hin, der auf keiner gegebenen Stufe der Wissenschaft erreichbar ist. Wir haben es in ihr mit einer echten »transzendentalen Idee« im Sinne Kants zu tun, der keine bestimmte Einzelerfahrung jemals kongruieren kann. Auch dieser Idee werden wir »einen vortrefflichen und unentbehrlichnotwendigen regulativen Gebrauch« zuschreiben müssen: »nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d. i. ein Punkt ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen«.267 Diese Einheit und diese Ausbreitung gewinnt die Physik, indem sie zu immer allgemeineren Symbolen fortschreitet. Aber sie vermag hierbei freilich nicht über ihren eigenen Schatten zu springen. Was sie fordern darf und muß, ist der Ersatz der partikularen Begriffe und Zeichen durch schlechthin universelle. Aber der Begriffs- und Zeichenfunktion als solcher kann sie sich niemals entschlagen: Denn dies hieße eine gedankliche Repräsentation der Welt verlangen, die nichtsdestoweniger auf die Grundmittel der
Näheres z. B. bei Laue, Die Relativitätstheorie, Bd. II, S. 18 ff. [Zitat S. 22]. In dieser Weise wird das logische Problem der Relativitätstheorie z. B. von Eddington gefaßt: Sie verfolgt nach ihm das Ziel »[t]o obtain a conception of the world from the point of view of no one in particular«; vgl. Space, Time and Gravitation, S. 30 ff. [Zitat S. 30]. 267 S. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 441 f. [B 672]. 265 266
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Repräsentation verzichtet. Der Realitätsbegriff der Physik soll zuletzt so gefaßt werden, daß er die Totalität der Aspekte, wie sie sich für verschiedene Beobachter ergeben, vereint und daß er sie erklärt und verständlich macht; aber in ebendieser Totalität ist die Besonderheit der Gesichtspunkte nicht ausgelöscht, sondern aufbehalten und »aufgehoben«. In dieser ihrer Gesamtbewegung bestätigt und erfüllt | die naturwissenschaftliche Erkenntnis innerhalb ihres eigenen Kreises ein allgemeines Aufbaugesetz des Geistes. Je mehr sie sich in sich selbst konzentriert und sich als das, was sie ist und will, begreift: um so klarer tritt das Moment heraus, in dem sie sich von allen andern Formen des Begreifens und Verstehens der Welt unterscheidet – und das Moment, das sie mit ihnen allen verbindet.
EDITORISCHER BERICHT
Die Hamburger Ausgabe der Werke Ernst Cassirers (ECW) enthält alle von Cassirer zu Lebzeiten veröffentlichten oder für eine Veröffentlichung vorbereiteten Texte und Schriften in chronologischer Reihenfolge. Vom Prinzip der chronologischen Anordnung wird nur bei mehrbändigen Werken abgewichen, deren einzelne Bände grundsätzlich zu einer Bandgruppe zusammengefaßt werden. Textgrundlage für die Bearbeitung der in der Hamburger Ausgabe dargebotenen Schriften ist jeweils die letzte von Cassirer selbst durchgesehene oder autorisierte Auflage bzw. Version. Dem vorliegenden Band liegt die Erstausgabe des dritten Teils des dreibändigen Werkes »Philosophie der symbolischen Formen« zugrunde, welche 1929 im Verlag von Bruno Cassirer in Berlin erschien. Im gleichen Verlag waren 1923 der erste und 1925 der zweite Teil der »Philosophie der symbolischen Formen« veröffentlicht worden, die in der ECW die Bände 11 und 12 bilden. In den fünfziger Jahren brachte die Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, einen Nachdruck der »Philosophie der symbolischen Formen« heraus, der zahlreiche Nachauflagen erfuhr. Um die Handhabung der vorliegenden Ausgabe zu erleichtern, wurde eine Seitenkonkordanz der Bände ECW 11, 12 und 13 mit den entsprechenden Bänden des obengenannten Nachdrucks erstellt, die im Anhang zu finden ist. Ebenfalls hinzugefügt sind dem Band ein Verzeichnis der benutzten Abkürzungen, ein Schriftenregister, ein Personenregister sowie die Kolumnentitel, die aus den im Inhaltsverzeichnis aufgeführten Kapitel- und Abschnittsüberschriften abgeleitet sind. Orthographie und Interpunktion sind nach den Regeln des Duden (Band 1, 20. Auflage 1991 und Band 9, 3. Auflage 1985) modernisiert. Erhalten geblieben ist die heute unübliche Vielzahl an Doppelpunkten. Die für Cassirers Schreibstil ebenfalls charakteristische Doppelinterpunktionen », –«, »; –« und »: –« wurden hingegen – nach jeweiliger Prüfung des Einzelfalls – in der Regel zugunsten des Gedankenstrichs aufgehoben. Gedankenstriche am Absatzende sind getilgt. Abkürzungen im fortlaufenden Text sind bis auf Standardabkürzungen wie »d. h.« oder »z. B.« aufgelöst; in den bibliographischen Angaben sind sie vereinheitlicht. Vornamen sind, auch wo Cassirer sie abkürzt, ausgeschrieben. Im Kolumnentitel wird auf der Innenseite die Paginierung der Erstausgabe mitgeführt. Im fortlau-
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fenden Text markieren Seitentrennstriche (»|«) den ursprünglichen Umbruch. In der zugrundeliegenden Ausgabe finden sich einige offenkundige Druckfehler, die im vorliegenden Band stillschweigend korrigiert sind. In Fällen, in denen ein Druckfehler nicht mit Sicherheit angenommen werden konnte, eine Korrektur jedoch geboten schien, ist der originale Wortlaut aus einer Anmerkung der Bearbeiterin ersichtlich. Alle von Cassirer angeführten und belegten Zitate sind anhand der von ihm genannten Ausgaben überprüft und gegebenenfalls korrigiert. Oftmals zitiert Cassirer frei oder auf der Basis von Exzerpten und nach Zitatkonventionen, die den heutigen nicht mehr genügen, so daß eine Vielzahl von Korrekturen nötig war. In den wenigen Fällen, in denen sich aus diesen Zitatkorrekturen eine Sinnveränderung ergibt, ist der von Cassirer angegebene Wortlaut in eckigen Klammern vermerkt; alle anderen Korrekturen sind stillschweigend erfolgt. Hervorhebungen in von Cassirer zitierten Texten sind durch Kursivierungen kenntlich gemacht, während seine eigenen Hervorhebungen durchgängig gesperrt wiedergegeben werden. Bearbeiterrede ist stets kursiv gesetzt und in eckige Klammern eingeschlossen. Hinzugefügte Zitatnachweise stehen ebenfalls in eckigen Klammern. Bisweilen zitiert Cassirer fremdsprachige Literatur in eigener Übersetzung. Hier ist dem bibliographischen Nachweis der Quelle der originale Wortlaut in eckigen Klammern beigegeben. Von Cassirer vorgenommene Auslassungen in Zitaten sowie die entsprechenden ausgelassenen Stellen in den von der Bearbeiterin gegebenenfalls hinzugefügten fremdsprachigen Quellentexten werden mit »[…]« wiedergegeben. Einfügungen und Wortveränderungen Cassirers stehen ebenfalls in eckigen Klammern. Alle bibliographischen Angaben sind durchgängig überprüft, vereinheitlicht und, falls erforderlich, richtiggestellt oder vervollständigt. Geht aus Cassirers Angaben nicht hervor, welche Ausgabe er zur Zitation benutzt hat, z. B., weil er nur Kapitel und Paragraph eines Werkes angibt, oder fehlen die bibliographischen Angaben ganz, wurde zunächst anhand genauerer Angaben in anderen seiner Werke oder anhand des Zitatwortlauts zu ermitteln versucht, welche Ausgabe er benutzt hat. Nur wo auf diesem Weg keine bestimmte Ausgabe als wahrscheinliche Quelle ausgemacht werden konnte, ist die Erstausgabe oder eine zu Cassirers Zeit gängige Ausgabe als Zitatquelle zugrunde gelegt. Entstammt der zitierte Text einer Werkausgabe oder einer Sammlung, sind die Anfangs- und die Endseitenzahl ergänzt.
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Bei allen Verweisen auf die Werke Kants liegt die von Cassirer u. a. herausgegebene Werkeausgabe zugrunde. Zusätzlich ist die Paginierung der heute maßgeblichen Akademieausgabe, bei der »Kritik der reinen Vernunft« die Paginierung der Erst- oder Zweitauflage in eckigen Klammern beigefügt. Platon und Aristoteles werden nach den von Cassirer benutzten Ausgaben mit Angabe der Stephanus- bzw. Bekkerpaginierung zitiert. Abschließend sei Karsten Worm (Berlin) für seine Unterstützung bei der Zitatrecherche gedankt. Ali Behboud (Hamburg) und Jürgen Trabant (Berlin) haben wichtige Hinweise zu von Cassirer nicht ausgewiesenen Zitaten gegeben. Dank gebührt auch Hanno Lietz von der Universitätsbibliothek Rostock sowie der Bibliothek des Philosophischen Seminars der Universität Hamburg, der Bibliothek des Ärztlichen Vereins Hamburg, der Ärztlichen Zentralbibliothek Hamburg, der Bibliothek des Fachbereichs Physik der Universität Oslo, der Taylor Institution Library Oxford und den Staats- und Universitätsbibliotheken Berlin, Edinburgh, Göttingen, Hamburg und Leipzig für die Hilfe bei der Recherche und Beschaffung der von Cassirer verwendeten Literatur. Ohne die engagierte und unbürokratische Unterstützung durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der genannten Bibliotheken wäre die Überprüfung der Quellenangaben und der Zitate nicht möglich gewesen. Julia Clemens
ABKÜRZUNGEN
a. a. O. Abschn. Abt. Anm. Aufl. Ausg. autoris. Bd., Bde. bearb. Bemerk. bes. bzw. d. h. d. i. ders. dies. Diss. durchges. ebd. Einf. eingel. Einl. Erl. erl. erw. etc. f., ff. Fragm. gänzl. H. Hrsg. hrsg. Jg. Kap. königl. Mitw. Nr. o. J. Red. red.
am angegebenen Ort Abschnitt Abteilung Anmerkung/en Auflage Ausgabe autorisiert Band, Bände bearbeitet Bemerkungen besonders beziehungsweise das heißt das ist derselbe dieselben Dissertation durchgesehen ebenda Einführung eingeleitet Einleitung Erläuterung/en erläutert erweitert et cetera folgende, fortfolgende Fragment/e gänzlich Heft/e Herausgeber/in herausgegeben Jahrgang Kapitel königlich Mitwirkung Nummer ohne Jahr Redaktion redaktionell/redigiert
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S. s. Sp. u. u. a. u. ö. u. s. Übers. übers. umgearb. usf. usw. V. v. verb. Verf. verm. vers. vgl. Vorw. wesentl. Z. z. B. zit.
Abkürzungen
Seite/n, am Satzanfang auch siehe siehe Spalte/n und und andere und öfter ut supra/und so weiter [Cassirers Verwendungsweise dieser Abkürzung konnte nicht geklärt werden.] Übersetzung übersetzt umgearbeitet und so fort und so weiter Vers/e von verbessert Verfasser vermehrt versehen vergleiche Vorwort wesentlich Zeile/n zum Beispiel zitiert
SCHRIFTENREGISTER
Das Schriftenregister umfaßt alle von Cassirer im vorliegenden Band zitierten oder erwähnten Werke. In Fällen, in denen Cassirer nur den Titel nennt, aber keine Ausgabe angibt, wurden die bibliographischen Angaben der Erstausgabe bzw. einer zu seiner Zeit gängigen Ausgabe oder, wenn sich die Schrift in einer Werkausgabe findet, die Cassirer bei anderen Schriften benutzt, die Angaben dieser Ausgabe in eckigen Klammern ergänzt. Adam, Margarete: Die intellektuelle Anschauung bei Schelling in ihrem Verhältnis zur Methode der Intuition bei Bergson, Diss., Hamburg 1926. 43, 45 Ahlmann, Wilhelm: Zur Analysis des optischen Vorstellungslebens. Ein Beitrag zur Blindenpsychologie, in: Archiv für die gesamte Psychologie 46 (1924), S. 193–261. 173 Aristoteles: Analytica posteriora [in: Opera, durchges. v. Immanuel Bekker, hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I, Berlin 1831, S. 71–100]. 411 Augustinus, Aurelius: Confessiones libri XIII [in: Opera omnia, post lovaniensium theologorum recensionem castigata denuo ad manuscriptos codices gallicos, vaticanos, belgicos, etc., necnon ad editiones antiquiores et castigatiores, hrsg. v. Jacques-Paul Migne, Bd. I (Patrologiae cursus completus, series latina, Bd. XXXII), Paris 1861, Sp. 657–868]. 189 ff. Bavink, Bernhard: Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaft. Eine Einführung in die moderne Naturphilosophie, 2., vollständig neu bearb. u. erw. Aufl., Leipzig 1921. 509, 541, 550 Becker, Oskar: Beiträge zur phänomenologischen Begründung der Geometrie und ihrer physikalischen Anwendungen, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 6 (1923), S. 385–560. 429 – Mathematische Existenz. Untersuchungen zur Logik und Ontologie mathematischer Phänomene, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 8 (1927), S. 439–809. 466 f. – Über den sogenannten »Anthropologismus« in der Philosophie der Mathematik (Eine Erwiderung in Sachen der »Mathematischen Existenz«), in: Philosophischer Anzeiger 3 (1929), S. 369–387. 467 Benary, Wilhelm: Studien zur Untersuchung der Intelligenz bei einem Fall von Seelenblindheit, in: Psychologische Forschung. Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften 2 (1922), S. 209–297. 294, 296, 298
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Schriftenregister
Bergson, Henri: Essai sur les données immédiates de la conscience [Thèse pour le doctorat. Présentée à la faculté des lettres de Paris, Paris 1889]. 210, 216 – Introduction à la métaphysique, in: Revue de métaphysique et de morale 11 (1903), S. 1–36. 41 – L’évolution créatrice [Paris 1907]. 210 – Materie und Gedächtnis. Essay zur Beziehung zwischen Körper und Geist, autoris. u. v. Verf. selbst durchges. Übertragung, mit Einf. v. Wilhelm Windelband, Jena 1908. 212 f. – Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à l’esprit, Paris 1896. 211 – Notice sur la vie et les œuvres de M. Félix Ravaisson-Mollien, in: Mémoires de l’Académie des Sciences Morales et Politiques de l’Institut de France 25 (1907), S. 1–43. 45 Berkeley, George: [Works, hrsg. v. Alexander Campbell Fraser, 4 Bde., Oxford 1901.] – Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, übers. u. mit Anm. vers. v. Friedrich Ueberweg, Leipzig 41917 (Philosophische Bibliothek, Bd. 20). 26, 504 – An Essay towards a New Theory of Vision, in: Works, Bd. I, S. 93–210. 164 – A Treatise concerning the Principles of Human Knowledge, in: Works, Bd. I, S. 211–347. 504 – The Theory of Vision, or Visual Language, shewing the Immediate Presence and Providence of a Deity, vindicated and explained, in: Works, Bd. II, S. 369–415. 164 – Versuch über eine neue Theorie des Sehens. 161, 163 Bôcher, Maxime: The Fundamental Conceptions and Methods of Mathematics, in: Bulletin of the American Mathematical Society. A Historical and Critical Review of Mathematical Science 11 (1905), S.115–135. 404 Bohr, Niels: Atomtheorie und Mechanik, in: Die Naturwissenschaften 14 (1926), S. 1–10. 552 – Über das Wasserstoffspektrum, in: ders., Drei Aufsätze über Spektren und Atombau, Braunschweig 21924 (Sammlung Vieweg. Tagesfragen aus den Gebieten der Naturwissenschaft und der Technik, H. 56), S. 1–19. 515 Bollert, Karl: Einstein’s Relativitätstheorie und ihre Stellung im System der Gesamterfahrung, Dresden/Leipzig 1921. 553 Bonhoeffer, Karl: Casuistische Beiträge zur Aphasielehre, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 37 (1903), S. 564–597 u. 800–825. 305 Born, Max: Die Relativitätstheorie Einsteins und ihre physikalischen Grundlagen, Berlin 1920 (Naturwissenschaftliche Monographien und Lehrbücher, Bd. 3). 541 Bouasse, Henri Pierre Maxime: Physique générale, in: ders. u. a., De la méthode dans les sciences, Paris 1909, S. 73–110. 497
Schriftenregister
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Bouman, Leendert/Grünbaum, Anton Abraham: Experimentell-psychologische Untersuchungen zur Aphasie und Paraphasie, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 96 (1925), S. 481–538. 300 f. Brentano, Franz: Psychologie vom empirischen Standpunkte, Bd. I, Leipzig 1874. 223 f. Brod, Max/Weltsch, Felix: Anschauung und Begriff. Grundzüge eines Systems der Begriffsbildung, Leipzig 1913. 354 f., 358, 360 Brouwer, Luitzen Egbertus Jan: Intuitionism and Formalism, in: Bulletin of the American Mathematical Society. A Historical and Critical Review of Mathematical Science 20 (1914), S. 81–96. 421 – Über die Bedeutung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten in der Mathematik, insbesondere in der Funktionentheorie, in: Journal für die reine und angewandte Mathematik 154 (1925), S. 1–7. 421 – Zur Begründung der intuitionistischen Mathematik. II, in: Mathematische Annalen 95 (1926), S. 453–472. 397, 427 Brunschvicg, Léon: Les étapes de la philosophie mathématique, Paris 21922. 433, 464 Budge, Ernest Alfred Wallis: Egyptian Magic, London 21901 (Books on Egypt and Chaldaea). 77 Bühler, Karl: Die geistige Entwicklung des Kindes, 2., neu bearb. u. erw. Aufl., Jena 1921. 72, 126, 135 – Die Krise der Psychologie, Jena 1927. 237, 382, 391 – Handbuch der Psychologie, 1. Teil: Die Struktur der Wahrnehmungen, H. 1: Die Erscheinungsweisen der Farben, Jena 1922. 148 – Kritische Musterung der neuern Theorien des Satzes, in: Indogermanisches Jahrbuch 6 (1918), S. 1–20. 122 – Über den Begriff der sprachlichen Darstellung, in: Psychologische Forschung. Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften 3 (1923), S. 282–294. 122 – Vom Wesen der Syntax, in: Idealistische Neuphilologie. Festschrift für Karl Vossler zum 6. September 1922, hrsg. v. Victor Klemperer u. Eugen Lerch, Heidelberg 1922 (Sammlung romanischer Elementarund Handbücher, 5. Reihe: Untersuchungen und Texte, Bd. 5), S. 54– 84. 122 Burkamp, Wilhelm: Begriff und Beziehung. Studien zur Grundlegung der Logik, Leipzig 1927. 337, 339, 357, 377, 433, 435 Cantor, Georg: Grundlagen einer allgemeinen Mannichfaltigkeitslehre. Ein mathematisch-philosophischer Versuch in der Lehre des Unendlichen, Leipzig 1883. 480 Capelli, Alfredo: Sulla genesi combinatoria dell’aritmetica, in: Giornale di matematiche di Battaglini per il progresso degli studi nelle università italiane 39 (1901), S. 81–102. 405 Carnap, Rudolf: Der Raum. Ein Beitrag zur Wissenschaftslehre, Berlin 1922 (Kant-Studien, Ergänzungsh. 56). 489
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Cassirer, Ernst: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. I, Berlin 31922. 21, 162, 403, 525, 528, 552 – Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. I, Text u. Anm. bearb. v. Tobias Berben, Hamburg 1999 [ECW 2]. 21, 162, 403, 525, 528, 552 – Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. II, Berlin 31922. 165, 180, 335, 411 – Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. II, Text u. Anm. bearb. v. Dagmar Vogel, Hamburg 1999 [ECW 3]. 165, 180, 335, 411 – Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. III, Berlin 1920. 8 – Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. III, Text u. Anm. bearb. v. Marcel Simon, Hamburg 2000 [ECW 4]. 8 – Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 21 (1927), S. 295–312. 230, 490, 519 – Die Begriffsform im mythischen Denken, Leipzig/Berlin 1922 (Studien der Bibliothek Warburg, Bd. 1). 342 – Die Philosophie der Griechen von den Anfängen bis Platon, in: Die Geschichte der Philosophie, dargestellt v. Ernst von Aster u. a. (Lehrbuch der Philosophie, hrsg. v. Max Dessoir, Bd. I), Berlin o. J. [1925], S. 1–139. 326, 481 – Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie, in: Jahrbücher der Philosophie. Eine kritische Übersicht der Philosophie der Gegenwart 3 (1927), S. 31–92. 107, 197, 199, 361 – Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Leipzig/Berlin 1927 (Studien der Bibliothek Warburg, Bd. 10). 284 – Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Marburg 1902. 143, 414, 428, 531 – Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Text u. Anm. bearb. v. Marcel Simon, Hamburg 1998 [ECW 1]. 143, 414, 428, 531 – Paul Natorp. 24. Januar 1854 – 17. August 1924, in: Kant-Studien 30 (1925), S. 273–298. 60 – Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, Berlin 1923. 15, 23, 27, 121 f., 124, 129, 156, 170, 185, 232, 256, 263, 266, 301, 322, 383, 385, 388 f., 391, 393, 395, 397, 477, 499, 522 f. – Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, Text u. Anm. bearb. v. Claus Rosenkranz, Hamburg 2001 [ECW 11]. 15, 23, 27, 121 f., 124, 129, 156, 170, 185, 232, 256, 263, 266, 301, 322, 383, 385, 388 f., 391, 393, 395, 397, 477, 499, 522 f. – Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, Berlin 1925.
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IX, 68, 75 f., 79, 83, 102, 115, 120, 125, 136, 170, 185 f., 210, 325, 378, 380 – Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, Text u. Anm. bearb. v. Claus Rosenkranz, Hamburg 2002 [ECW 12]. IX, 68, 75 f., 79, 83, 102, 115, 120, 125, 136, 170, 185 f., 210, 325, 378, 380 – Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen, Leipzig/Berlin 1925 (Studien der Bibliothek Warburg, Bd. 6). 75, 79, 86, 102, 115 – Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berlin 1910. 343, 348, 356, 450, 459, 487, 493, 549, 553 – Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berlin 21923. 474 – Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Text u. Anm. bearb. v. Reinold Schmücker, Hamburg 2000 [ECW 6]. 343, 348, 356, 450, 459, 474, 487, 493, 549, 553 – Zur Einstein’schen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen, Berlin 1921. X, 554 – Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen, Text u. Anm. bearb. v. Reinold Schmücker, Hamburg 2001 [ECW 10]. X, 554 – Zur Theorie des Begriffs. Bemerkungen zu dem Aufsatz von G. Heymans, in: Kant-Studien 33 (1928), S. 129–136. 342 Cornelius, Hans: Transcendentale Systematik. Untersuchungen zur Begründung der Erkenntnistheorie, München 1916. 204 Couturat, Louis: IIme congrès de philosophie. – Genève. Comptes rendus critiques. II: Logique et philosophie des sciences. Séances de section et séances générales, in: Revue de métaphysique et de morale 12 (1904), S. 1037–1077. 404 – Die philosophischen Prinzipien der Mathematik, übers. v. Carl Siegel, Leipzig 1908 (Philosophisch-soziologische Bücherei, Bd. 7). 435 Danzel, Theodor Wilhelm: Mexiko I, Hagen/Darmstadt 1922 (Kulturen der Erde. Material zur Kultur- und Kunstgeschichte aller Völker, Bd. 11). 169 f. Dedekind, Richard: Stetigkeit und irrationale Zahlen, Braunschweig 21892. 480 – Was sind und was sollen die Zahlen? Braunschweig 21893. 298, 343, 480 Delacroix, Henri: Le langage et la pensée, Paris 1924. 239 Descartes, René: Œuvres, hrsg. v. Charles Adam u. Paul Tannery, 15 Bde., Paris 1897 ff. – Cogitationes privatae, in: Œuvres inédites, hrsg. v. Louis Alexandre Foucher de Careil, Paris 1859, S. 1–57. 403 [165 – Dioptrik [La dioptrique, in: Œuvres, Bd. VI, Paris 1902, S. 79–228].
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– Le monde [in: Œuvres, Bd. XI, Paris 1909, S. 1–215]. 528 – Meditationen [Méditations métaphysiques, in: Œuvres, Bd. IX, Paris 1904, S. 1–72]. 142 – Notae in programma quoddam, sub finem anni 1647 in Belgio editum, cum hoc titulo: Explicatio mentis humanae, sive animae rationalis, ubi explicatur quid sit, et quid esse possit, in: Œuvres, Bd. VIII/2, Paris 1905, S. 335–369. 162 – Principia philosophiae, in: Œuvres, Bd. VIII/1, Paris 1905, S. 1–329. 528 – Regulae ad directionem ingenii, in: Œuvres, Bd. X, Paris 1908, S. 349– 488. 528 Diels, Hermann: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch, Berlin 1903. 20, 186, 197 Dilthey, Wilhelm: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, in: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Philosophisch-Historische Classe, Jg. 1894, S. 1309–1407. 92 DuBois-Reymond, Paul: Die allgemeine Functionentheorie [Theil 1: Metaphysik und Theorie der mathematischen Grundbegriffe: Grösse, Grenze, Argument und Function, Tübingen 1882]. 435, 450 Duhem, Pierre: La théorie physique. Son objet et sa structure, Paris 1906 (Bibliothèque de philosophie expérimentale, Bd. 2). 25, 534 – Les théories électriques de J. Clerk Maxwell. Étude historique et critique, Paris 1902. 534 Eddington, Arthur: Space, Time and Gravitation. An Outline of the General Relativity Theory, Cambridge 41923. 540 ff., 555 Einstein, Albert: Äther und Relativitätstheorie [Rede, gehalten am 5. Mai 1920 an der Reichs-Universität zu Leiden, Berlin 1920]. 542 – Ist die Trägheit eines Körpers von seinem Energieinhalt abhängig? in: Annalen der Physik 18 (1905), S. 639–641. 548 Enriques, Federigo: Zur Geschichte der Logik. Grundlagen und Aufbau der Wissenschaft im Urteil der mathematischen Denker, übers. v. Ludwig Bieberbach, Leipzig/Berlin 1927 (Wissenschaft und Hypothese, Bd. 26). 419 Finkelnburg, Karl Maria: Vortrag in der Niederrhein-Gesellschaft der Ärzte in Bonn, wiedergegeben in: Berliner Klinische Wochenschrift. Organ für practische Aerzte 7 (1870), S. 449 f. u. 460–462. 241 Fraenkel, Adolf: Zehn Vorlesungen über die Grundlegung der Mengenlehre, Leipzig/Berlin 1927 (Wissenschaft und Hypothese, Bd. 31). 422, 424 f., 429 France, Anatole: Thaïs [Paris o. J.]. 77 Frege, Gottlob: Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl, Breslau 1884. 396 – Kritische Beleuchtung einiger Punkte in E. Schröders Vorlesungen
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über die Algebra der Logik, in: Archiv für systematische Philosophie 1 (1895), S. 433–456. 337, 339 Freundlich, Erwin: Die Grundlagen der Einsteinschen Gravitationstheorie, 3., erw. u. verb. Aufl., Berlin 1920. 507 Freyer, Hans: Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie, Leipzig/Berlin 1923. 170 Galilei, Galileo: Il saggiatore, in: Le opere. Prima edizione completa condotta sugli autentici manoscritti Palatini, hrsg. v. der Società editrice Fiorentina, Bd. IV, Florenz 1844, S. 145–369. 21, 23 Gawronsky, Dimitry: Das Kontinuitätsprinzip bei Poncelet, in: Philosophische Abhandlungen. Hermann Cohen zum 70sten Geburtstag (4. Juli 1912) dargebracht, Berlin 1912, S. 65–84. 461 Geiger, Lazarus: [Der Ursprung der Sprache, Stuttgart 1869.] 131 Gelb, Adhémar/Goldstein, Kurt: Über den Einfluß des vollständigen Verlustes des optischen Vorstellungsvermögens auf das taktile Erkennen. Zugleich ein Beitrag zur Psychologie der taktilen Raumwahrnehmung und der Bewegungsvorstellungen, in: Psychologische Analysen hirnpathologischer Fälle, Bd. I, S. 157–250. 173, 278 – Über Farbennamenamnesie nebst Bemerkungen über das Wesen der amnestischen Aphasie überhaupt und die Beziehung zwischen Sprache und dem Verhalten zur Umwelt, in: Psychologische Forschung. Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften 6 (1925), S. 127– 186. 259, 261 f., 266, 322 – Zur Psychologie des optischen Wahrnehmungs- und Erkennungsvorganges, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 41 (1918), S. 1–142. 176 – Zur Psychologie des optischen Wahrnehmungs- und Erkennungsvorganges, in: Psychologische Analysen hirnpathologischer Fälle, Bd. I, S. 1–142. 176, 250, 274 f., 278 f. Goethe, Johann Wolfgang von: [Werke, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887 ff.] – [Dichtung und Wahrheit. Dritter Theil (Werke, 1. Abt., Bd. XXVIII), Weimar 1890.] 38 – Einleitung in die Morphologie I, in: Werke, 2. Abt., Bd. VI/1, Weimar 1891, S. 300–303. 150 – [Eins und Alles, in: Werke, 1. Abt., Bd. III, Weimar 1890, S. 81.] 551 – [Eins und Alles, in: Werke, 2. Abt., Bd. XI, Weimar 1893, S. 265 f.] 551 – [Faust. Eine Tragödie. Erster Theil (Werke, 1. Abt., Bd. XIV), Weimar 1887.] 329 – [Faust. Eine Tragödie. Zweiter Theil (Werke, 1. Abt., Bd. XV/1), Weimar 1888.] 80, 378 – [Gränzen der Menschheit, in: Werke, 1. Abt., Bd. II, Weimar 1888, S. 81 f.] 235 – Über Naturwissenschaft im Allgemeinen, einzelne Betrachtungen und
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Aphorismen, in: Werke, 2. Abt., Bd. XI, Weimar 1893, S. 103–163. 104 – [Wenige Bemerkungen, in: Werke, 2. Abt., Bd. VI/1, Weimar 1891, S. 155–157.] 150 – Zur Farbenlehre [Didaktischer Theil (Werke, 2. Abt., Bd. I), Weimar 1890]. 18, 230 Goldstein, Kurt: Einige prinzipielle Bemerkungen zur Frage der Lokalisation psychischer Vorgänge im Gehirn, in: Medizinische Klinik. Wochenschrift für praktische Ärzte 6 (1910), S. 1363–1368. 249 – Über Aphasie, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 19 (1926), S. 3–38 u. 292–322. 300 – Über Apraxie, in: Beihefte zur Medizinischen Klinik 7 (1911), S. 271– 302. 304 – Über die Abhängigkeit der Bewegungen von optischen Vorgängen. Bewegungsstörungen bei Seelenblinden, in: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 54 (1923), S. 141–194. 281, 308, 311, 314 Haas, Arthur: Das Naturbild der neuen Physik, 2., wesentl. verm. u. verb. Aufl., Berlin/Leipzig 1924. 506, 509, 518, 548 Hamilton, William Rowan: [Lectures on Quaternions: Containing a Systematic Statement of a New Mathematical Method; of which the Principles were communicated in 1843 to The Royal Irish Academy; and which has since formed the Subject of Successive Courses of Lectures, delivered in 1848 and Subsequent Years, in The Halls of Trinity College, Dublin: With Numerous Illustrative Diagrams, and with some Geometrical and Physical Applications, Dublin/London/Cambridge 1853.] 466 Hartmann, Nicolai: Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, Berlin/Leipzig 1921. 107, 109 f., 112 Head, Henry: Aphasia and Kindred Disorders of Speech, 2 Bde., Cambridge 1926. 239 f., 244, 246, 248 f., 252 f., 264, 278, 283 f., 288, 291, 299, 301 ff., 317 f. – Aphasia and Kindred Disorders of Speech, in: Brain. A Journal of Neurology 43 (1920), S. 87–165. 239, 279 – Aphasia: An Historical Review [The Hughlings Jackson Lecture for 1920], in: Brain. A Journal of Neurology 43 (1920), S. 390–411. 239 – Chronological List of Hughlings Jackson’s Papers bearing on Affections of Speech, in: Brain. A Journal of Neurology 38 (1915), S. 187– 190. 240 – Hughlings Jackson on Aphasia and Kindred Affections of Speech, in: Brain. A Journal of Neurology 38 (1915), S. 1–27. 240 – Speech and Cerebral Localization, in: Brain. A Journal of Neurology 46 (1923), S. 355–528. 239 Head, Henry (Hrsg.): Reprint of some of Hughlings Jackson’s Papers on Affections of Speech, in: Brain. A Journal of Neurology 38 (1915), S. 28–186. 240
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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, Berlin 1832 ff. – Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Erster Theil: Die Logik, hrsg. v. Leopold von Henning (Werke, Bd. VI), Berlin 1840. 110 – Phänomenologie des Geistes, hrsg. v. Johann Schulze (Werke, Bd. II), Berlin 21841. IX, 500 – Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, hrsg. v. Eduard Gans (Werke, Bd. IX), 2. Aufl., besorgt v. Karl Hegel, Berlin 1840. 88 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 8 (1927), S. 1–438. 167, 184, 189, 215 f. Heilbronner, Karl: Die aphasischen, apraktischen und agnostischen Störungen, in: Handbuch der Neurologie, bearb. v. Georg Abelsdorff u. a., hrsg. v. Max Lewandowsky, Bd. I: Allgemeine Neurologie, 2. Teil, IV: Allgemeine Pathologie, Symptomatologie und Diagnostik, S. 982–1093. 242, 254, 269, 306, 313 – Ueber Asymbolie, Breslau 1897 (Psychiatrische Abhandlungen, H. 3/4). 242, 254, 314 Helmholtz, Hermann: Über die Erhaltung der Kraft, eine physikalische Abhandlung, vorgetragen in der Sitzung der physikalischen Gesellschaft zu Berlin am 23. Juli 1847, Leipzig 1889 (Ostwald’s Klassiker der exacten Wissenschaften, Nr. 1). 166, 472, 535 Helmholtz, Hermann von: Handbuch der physiologischen Optik, 2., umgearb. Aufl., Hamburg/Leipzig 1896. 143, 147, 329 f., 373 f., Henning, Hans: Der Geruch. Ein Handbuch für die Gebiete der Psychologie, Physiologie, Zoologie, Botanik, Chemie, Physik, Neurologie, Ethnologie, Sprachwissenschaft, Literatur, Ästhetik und Kulturgeschichte, 2., gänzl. umgearb. u. verm. Aufl., Leipzig 1924. 144 f. Henschen, Salomon Eberhard: Klinische und anatomische Beiträge zur Pathologie des Gehirns [8 Bde., Uppsala und Stockholm 1890 ff.]. 248 Herder, Johann Gottfried: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, welche den von der Königl. Academie der Wissenschaften für das Jahr 1770 gesezten Preis erhalten hat, in: Sämmtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. V, Berlin 1891, S. 1–158. 35, 38, 127, 385 – Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele [in: Sämmtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. VIII, Berlin 1899, S. 165– 333]. 35 Hering, Ewald: Grundzüge der Lehre vom Lichtsinn, Berlin 1920. 139, 148, 153 f. – Grundzüge der Lehre vom Lichtsinn, in: Handbuch der gesamten Augenheilkunde, hrsg. v. Ferdinand von Arlt, red. v. Alfred Graefe u. Theodor Saemisch, Leipzig 1874 ff. 139 – Über das Gedächtniss als eine allgemeine Function der organisirten Materie. Vortrag, gehalten in der feierlichen Sitzung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften am 30. Mai 1870, Wien 21876. 149
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Hertz, Heinrich: Die Prinzipien der Mechanik [in neuem Zusammenhange dargestellt (Gesammelte Werke, hrsg. v. Philipp Lenard, Bd. III), Leipzig 1894]. 23] Heymans, Gerard: Zur Cassirerschen Reform der Begriffslehre, in: KantStudien 33 (1928), S. 109–128. 342 Hilbert, David: Axiomatisches Denken, in: Mathematische Annalen 78 (1918), S. 405–415. 409 f., 423 – Neubegründung der Mathematik. Erste Mitteilung, in: Abhandlungen aus dem mathematischen Seminar der Hamburgischen Universität 1 (1922), S. 157–177. 436 ff., 442, 446 – Über das Unendliche, in: Mathematische Annalen 95 (1925), S. 161– 190. 438, 444, 451, 455 Hobbes, Thomas: Elementorum philosophiae sectio prima de corpore, in: Opera philosophica, quae latine scripsit, omnia. Ante quidem per partes, nunc autem, post cognitas omnium objectiones, conjunctim et accuratius edita, 2 Bde., Amsterdam 1668, Bd. II, S. 1–261. 34, 202, 234 Hoffmann, Ernst: Die Sprache und die archaische Logik, Tübingen 1925 (Heidelberger Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 3). 131, 234 Hölder, Otto: Die mathematische Methode. Logisch erkenntnistheoretische Untersuchungen im Gebiete der Mathematik, Mechanik und Physik, Berlin 1924. 405, 434, 456, 496 Hönigswald, Richard: Die Grundlagen der Denkpsychologie. Studien und Analysen, 2., umgearb. Aufl., Leipzig/Berlin 1925. 133, 192, 237 – Hobbes und die Staatsphilosophie, München 1924 (Geschichte der Philosophie in Einzeldarstellungen, Abt. 5: Die Philosophie der neueren Zeit II, Bd. 21). 202 Hornbostel, Erich Moritz von: Über optische Inversion, in: Psychologische Forschung. Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften 1 (1922), S. 130–156. 179 Humboldt, Wilhelm von: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (Gesammelte Schriften, hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Abt. 1: Werke, hrsg. v. Albert Leitzmann, Bd. VII/1), Berlin 1907. 17, 56, 243, 256 Hume, David: A Treatise of Human Nature [Being an Attempt to introduce the Experimental Method of Reasoning into Moral Subjects, hrsg. v. Lewis Amherst Selby-Bigge, Oxford 1896]. 195 f., 370, 492 Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 1 (1913), S. 1–323. 196, 224–227 – Logische Untersuchungen, 2. Theil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Halle a. d. S. 1901. 224 f., 372 [–] Edmund Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, hrsg. v. Martin Heidegger, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 9 (1928), S. 367–498. 196
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Jackson, Hughlings: Loss of Speech: Its Association with Valvular Disease of the Heart and with Hemiplegia on the Right Side. Defects of Smell. Defects of Speech in Chorea. Arterial Lesions in Epilepsy, in: Brain. A Journal of Neurology 38 (1915), S. 28–42. 303 – On Affections of Speech from Disease of the Brain, in: Brain. A Journal of Neurology 38 (1915), S. 107–129. 244 – On Affections of Speech from Disease of the Brain, in: Brain. A Journal of Neurology 38 (1915), S. 147–174. 316 – Remarks on Non-Protrusion of the Tongue in some Cases of Aphasia, in: Brain. A Journal of Neurology 38 (1915), S. 104–106. 303 Jaensch, Erich Rudolf: Über die Wahrnehmung des Raumes. Eine experimentell-psychologische Untersuchung nebst Anwendung auf Ästhetik und Erkenntnislehre, Leipzig 1911 (Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 1. Abt.: Zeitschrift für Psychologie, Ergänzungsbd. 6). 181 James, William: The Principles of Psychology, 2. Bde., London 1902. 158, 175 f., 206 Job, André: Chimie, in: Bouasse u. a., De la méthode dans les sciences, S. 111–147. 510 Kaila, Eino: Gegenstandsfarbe und Beleuchtung, in: Psychologische Forschung. Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften 3 (1923), S. 18–59. 175 Kant, Immanuel: Werke, in Gemeinschaft mit Hermann Cohen u. a. hrsg. v. Ernst Cassirer, 11 Bde., Berlin 1912–1921. – Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, hrsg. v. Otto Schöndörffer, in: Werke, Bd. VIII, Berlin 1922, S. 1–228. 241 – [Brief an Markus Herz vom 21. Februar 1772, in: Werke, Bd. IX, hrsg. v. Ernst Cassirer, Berlin 1918, S. 102–108.] 270 – [Die Metaphysik der Sitten in zwei Teilen, in: Werke, Bd. VII, hrsg. v. Benzion Kellermann, Berlin 1916, S. 1–309.] 5 – [Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Werke, Bd. IV, hrsg. v. Artur Buchenau u. Ernst Cassirer, Berlin 1913, S. 241–324.] 111 – Kritik der reinen Vernunft, hrsg. v. Albert Görland (Werke, Bd. III), Berlin 1913. 5, 9 f., 12 ff., 23, 46, 53 f., 66, 141, 149, 180, 183, 185, 194, 218, 220–223, 297, 331, 335, 341, 362 ff., 370, 373 f., 397 f., 417, 469, 502, 532, 549, 555 – Kritik der Urteilskraft [hrsg. v. Otto Buck, in: Werke, Bd. V, S. 233– 568]. 8 – Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, in: Werke, Bd. IV, hrsg. v. Artur Buchenau u. Ernst Cassirer, Berlin 1913, S. 367– 485. 533 – Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können, in: Werke, Bd. IV, hrsg. v. Artur Buchenau u. Ernst Cassirer, Berlin 1913, S. 1–139. 5, 10, 218, 502, 518 – Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen
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Theologie und der Moral. Zur Beantwortung der Frage, welche die Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin auf das Jahr 1763 aufgegeben hat, in: Werke, Bd. II, hrsg. v. Artur Buchenau, Berlin 1912, S. 173–202. 341, 416 – [Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen, in: Werke, Bd. II, hrsg. v. Artur Buchenau, Berlin 1912, S. 203– 242.] 341 Katz, David: Der Aufbau der Tastwelt, Leipzig 1925 (Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 1. Abt.: Zeitschrift für Psychologie, Ergänzungsbd. 11). 145, 203 – Die Erscheinungsweisen der Farben und ihre Beeinflussung durch die individuelle Erfahrung, Leipzig 1911 (Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 1. Abt.: Zeitschrift für Psychologie, Ergänzungsbd. 7). 146, 149, 151 f., 156, 175, 177 Keller, Helen: Die Geschichte meines Lebens, mit einem Vorw. v. Felix Holländer, autoris. Übers. v. Paul Seliger, Stuttgart o. J. [1904] (Memoirenbibliothek, 2. Serie, Bd. 6). 126 Klages, Ludwig: Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft. Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, 3. u. 4. Aufl., Leipzig 1923. 90, 124 – Vom Wesen des Bewußtseins. Aus einer lebenswissenschaftlichen Vorlesung, Leipzig 1921. 113 Klein, Felix: Nicht-Euklidische Geometrie. I. Vorlesung, gehalten während des Wintersemesters 1889–90, Göttingen 1892. 465, 495 – Ueber Arithmetisirung der Mathematik, in: Nachrichten von der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Geschäftliche Mittheilungen aus dem Jahre 1895, Göttingen 1895, S. 82–91. 409 – Vergleichende Betrachtungen über neuere geometrische Forschungen, in: Mathematische Annalen 43 (1893), S. 63–100. 178, 406 Kleist, Heinrich von: Über das Marionettentheater [in: Werke, im Verein mit Georg Minde-Pouet u. Reinhold Steig hrsg. v. Erich Schmidt, 5 Bde., Leipzig/Wien 1904 f., Bd. IV, S. 133–141]. 46 Kleist, Karl: Der Gang und der gegenwärtige Stand der Apraxieforschung, in: Ergebnisse der Neurologie und Psychiatrie 1 (1912), S. 343– 452. 304 Koffka, Kurt: Die Grundlagen der psychischen Entwicklung. Eine Einführung in die Kinderpsychologie, Osterwieck a. Harz 1921. 72, 205 Köhler, Wolfgang: Intelligenzprüfungen an Anthropoiden. I, Berlin 1917 (Abhandlungen der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Physikalisch-Mathematische Klasse, Jg. 1917, Nr. 1). 179 – Zur Psychologie des Schimpansen, in: Psychologische Forschung. Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften 1 (1922), S. 2–46. 73, 121 Lasswitz, Kurd: Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton, 2 Bde., Hamburg/Leipzig 1890. 526, 544
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– Geschichte der Atomistik, Bd. I: Die Erneuerung der Korpuskulartheorie. 546 – Geschichte der Atomistik, Bd. II: Höhepunkt und Verfall der Korpuskulartheorie des siebzehnten Jahrhunderts. 546 Laue, Max Theodor Felix von: Die Interferenzerscheinungen an Röntgenstrahlen, hervorgerufen durch das Raumgitter der Kristalle, in: Jahrbuch der Radioaktivität und Elektronik 11 (1914), S. 308–345. 550 – Die Relativitätstheorie, Bd. II: Die allgemeine Relativitätstheorie und Einsteins Lehre von der Schwerkraft, Braunschweig 1921 (Die Wissenschaft. Sammlung von Einzeldarstellungen aus den Gebieten der Naturwissenschaft und der Technik, Bd. 68). 483, 507, 541, 555 Lazarus, Moritz: Das Leben der Seele in Monographieen über seine Erscheinungen und Gesetze, Bd. II, Berlin 1857. 132, 236 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Die philosophischen Schriften, hrsg. v. Carl Immanuel Gerhardt, 7 Bde., Berlin 1875–1890. – Mathematische Schriften, hrsg. v. Carl Immanuel Gerhardt, 7 Bde., Halle und Berlin 1848–1863 (Leibnizens gesammelte Werke, aus den Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Hannover, hrsg. v. Georg Heinrich Pertz, 3. Folge: Mathematik). – Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum, in: Philosophische Schriften, Bd. IV, Berlin 1880, S. 350–392. 529 – Brief an Burcher de Volder vom 24. März/3. April 1699, in: Philosophische Schriften, Bd. II, Berlin 1879, S. 168–175. 205 – Brief an Burcher de Volder vom 19. Januar 1706, in: Philosophische Schriften, Bd. II, Berlin 1879, S. 281–283. 529 – [Brief an Pierre Varignon vom 2. Februar 1702, in: Mathematische Schriften, Bd. IV, Halle 1859, S. 91–95.] 50 – Brief Nr. 14 an Christian Wolf, in: Briefwechsel zwischen Leibniz und Christian Wolf. Aus den Handschriften der Koeniglichen Bibliothek zu Hannover, hrsg. v. Carl Immanuel Gerhardt, Halle 1860, S. 56–58. 205 – Die Leibniz-Handschriften der Königlichen öffentlichen Bibliothek zu Hannover, hrsg. v. Eduard Bodemann, Hannover/Leipzig 1895. 412 – [Disputatio metaphysica] de principio individui [in: Leibnitii opera philosophica quae exstant latina gallica germanica omnia, hrsg. v. Johann Eduard Erdmann, Berlin 1840, S. 1–5]. 234 – [Eclaircissement des difficultés que Monsieur Bayle a trouvées dans le systeme nouveau de l’union de l’ame et du corps, in: Philosophische Schriften, Bd. IV, Berlin 1880, S. 517–571]. 179 – [Lettre de M. L. sur un principe general utile à l’explication des loix de la nature par la consideration de la sagesse divine, pour servire de replique à la reponse du R. P. D. Malebranche, in: Philosophische Schriften, Bd. III, Berlin 1887, S. 51–55.] 464 – Meditationes de cognitione veritate et ideis, in: Hauptschriften zur
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Grundlegung der Philosophie, übers. v. Artur Buchenau, durchges. u. mit Einl. u. Erl. hrsg. v. Ernst Cassirer, Bd. I, Leipzig 1904 (Philosophische Bibliothek, Bd. 107), S. 22–29. 412 – Nouveaux essais sur l’entendement, par l’auteur du systeme de l’harmonie preestablie, in: Philosophische Schriften, Bd. V, Berlin 1882, S. 39–509. 415, 485, 530 – Scientia generalis. Characteristica, in: Philosophische Schriften, Bd. VII, Berlin 1890, S. 1–247. 395 – Specimen dynamicum pro admirandis naturae legibus circa corporum vires et mutuas actiones detegendis et ad suas causas revocandis. Pars I, in: Mathematische Schriften, Bd. VI, Halle 1860, S. 234–246. 530 – [Specimen inventorum de admirandis naturae generalis arcanis, in: Philosophische Schriften, Bd. VII, Berlin 1890, S. 309–318.] 204 – Streitschriften zwischen Leibniz und Clarke, in: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, übers. v. Artur Buchenau, durchges. u. mit Einl. u. Erl. hrsg. v. Ernst Cassirer, Bd. I, Leipzig 1904 (Philosophische Bibliothek, Bd. 107), S. 120–241. 188 – Streitschriften zwischen Leibniz und Clarke, in: Philosophische Schriften, Bd. VII, Berlin 1890, S. 345–440. 428 Lévy-Bruhl, Lucien: Das Denken der Naturvölker, übers., hrsg. u. eingel. v. Wilhelm Jerusalem, Wien/Leipzig 1921. 293, 393 Lichtheim, Ludwig: Ueber Aphasie. Aus der medicinischen Klinik in Bern, in: Deutsches Archiv für klinische Medicin 36 (1885), S. 204–268. 248 Liepmann, Hugo: Drei Aufsätze aus dem Apraxiegebiet, v. Verf. neu durchges. u. mit Zusätzen vers., Berlin 1908. 309, 317 – Das Krankheitsbild der Apraxie (»motorischen Asymbolie«). Auf Grund eines Falles von einseitiger Apraxie, Berlin 1900 (Sonderabdruck aus der Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, Bd. 8). 242, 304 – Die linke Hemisphäre und das Handeln, in: ders., Drei Aufsätze aus dem Apraxiegebiet, S. 17–50. 309, 317 – Kleine Hilfsmittel bei der Untersuchung von Gehirnkranken, in: ders., Drei Aufsätze aus dem Apraxiegebiet, S. 4–16. 317 – Über die Funktion des Balkens beim Handeln und die Beziehungen von Aphasie und Apraxie zur Intelligenz, in: ders., Drei Aufsätze aus dem Apraxiegebiet, S. 51–78. 309 – Ueber Störungen des Handelns bei Gehirnkranken, Berlin 1905. 242, 304 f., 316 Lipps, Theodor: Die ethischen Grundfragen. Zehn Vorträge, 2., teilw. umgearb. Aufl., Hamburg/Leipzig 1905. 93 – Inhalt und Gegenstand; Psychologie und Logik, in: Sitzungsberichte der philosophisch-philologischen und der historischen Klasse der K. B. Akademie der Wissenschaften zu München (1905), S. 511–669. 366 – Leitfaden der Psychologie, 3., teilweise umgearb. Aufl., Leipzig 1909. 366
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Lissauer, Heinrich: Ein Fall von Seelenblindheit nebst einem Beitrage zur Theorie derselben, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 21 (1890), S. 222–270. 269, 273 Litt, Theodor: Individuum und Gemeinschaft. Grundlegung der Kulturphilosophie, 3., abermals durchgearb. u. erw. Aufl., Leipzig/Berlin 1926. 215 Locke, John: An Essay concerning Human Understanding [hrsg. v. Alexander Campbell Fraser, 2 Bde., Oxford 1894, Bd. I]. 333 Lotze, Hermann: [Logik. Drei Bücher vom Denken vom Untersuchen und vom Erkennen (System der Philosophie, 1. Theil), Leipzig 21880.] 145 – [Metaphysik. Drei Bücher der Ontologie Kosmologie und Psychologie (System der Philosophie, 2. Theil), Leipzig 21884.] 166 Mach, Ernst: Die Analyse der Empfindungen [und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (= 2., verm. Aufl. der »Beiträge zur Analyse der Empfindungen«), Jena 1900]. 28 – Die Principien der Wärmelehre [Historisch-kritisch entwickelt, Leipzig 1896]. 498 Mahnke, Dietrich: Leibniz als Begründer der symbolischen Mathematik, in: Isis. International Review devoted to the History of Science and Civilization. Quarterly Organ of the History of Science Society 9 (1927), S. 279–293. 414, 416 Major, David R.: First Steps in Mental Growth. A Series of Studies in the Psychology of Infancy, New York 1906. 135 Marie, Pierre: Revision de la question de l’aphasie (Extrait de la semaine médicale du 17 octobre 1906), Paris 1906. 250 ff. – [Revision de la question de l’aphasie: que faut-il penser des aphasies sous-corticales (aphasies pures)? in: La semaine médicale 26 (1906), S. 493–500.] 250 ff. Maxwell, James Clerk: Lehrbuch der Electricität und des Magnetismus [autoris. dt. Übers. v. Max Bernhard Weinstein, 2 Bde., Berlin 1883]. 534 Mayer, Robert: Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur, in: ders., Die Mechanik der Wärme. In gesammelten Schriften, hrsg. v. Jacob Johann Weyrauch, 3., ergänzte u. mit historisch-litterarischen Mitteilungen vers. Aufl., Stuttgart 1893, S. 23–30. 536, 548 – Brief an Wilhelm Griesinger vom 5. und 6. Dezember 1842, in: ders., Kleinere Schriften und Briefe. Nebst Mittheilungen aus seinem Leben, hrsg. v. Jacob Johann Weyrauch, Stuttgart 1893, S. 185–194. 536 – Brief an Wilhelm Griesinger vom 20. Juli 1844, in: ders., Kleinere Schriften und Briefe. Nebst Mittheilungen aus seinem Leben, hrsg. v. Jacob Johann Weyrauch, Stuttgart 1893, S. 222–226. 536 Meinong, Alexius: Hume-Studien. I. Zur Geschichte und Kritik des modernen Nominalismus, in: Sitzungsberichte der Philosophisch-
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Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 87 (1877), S. 185–260. 492 – Ueber Gegenstände höherer Ordnung und deren Verhältniß zur inneren Wahrnehmung, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 21 (1899), S. 182–272. 492 – Zur Psychologie der Komplexionen und Relationen, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 2 (1891), S. 245–265. 492 Meynert, Theodor: Klinische Vorlesungen über Psychiatrie auf wissenschaftlichen Grundlagen für Studirende und Aerzte, Juristen und Psychologen, Wien 1890. 242 Minkowski, Hermann: Raum und Zeit, in: Hendrik Antoon Lorentz/ Albert Einstein/Hermann Minkowski, Das Relativitätsprinzip. Eine Sammlung von Abhandlungen, 3., verb. Aufl., Leipzig/Berlin 1920 (Fortschritte der mathematischen Wissenschaften in Monographien, H. 2), S. 54–66. 547 Moutier, François: L’aphasie de Broca, Paris 1908. 251 f., 287 Müller, Aloys: Der Gegenstand der Mathematik mit besonderer Beziehung auf die Relativitätstheorie, Braunschweig 1922. 400 Natorp, Paul: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode, 1. Buch: Objekt und Methode der Psychologie [mehr nicht erschienen], Tübingen 1912. 56 f., 59–62, 232 – Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften, Leipzig 1910 (Wissenschaft und Hypothese, Bd. 12). 290, 398 – Vorlesungen über praktische Philosophie, Erlangen 1925. 60 Newton, Isaac: Mathematische Prinzipien der Naturphilosophie [= Mathematische Principien der Naturlehre, mit Bemerk. u. Erl. hrsg. v. Jakob Philipp Wolfers, Berlin 1872]. 531 Ostwald, Wilhelm: Vorlesungen über Naturphilosophie. Gehalten im Sommer 1901 an der Universität Leipzig, Leipzig 1902. 536 Paneth, Fritz: Das natürliche System der chemischen Elemente, in: Handbuch der Physik, unter red. Mitw. v. Richard Grammel u. a. hrsg. v. Hans Geiger u. Karl Scheel, Bd. XXII: Elektronen – Atome – Moleküle, bearb. v. Walter Bothe u. a., red. v. Hans Geiger, Berlin 1926, S. 520–563. 512 f. Parmenides: Fragmente, zit. nach: Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. 20, 186, 197 Pick, Arnold: Asymbolie, Apraxie, Aphasie, in: Compte rendu des travaux du Ier congrès international de psychiatrie, de neurologie, de psychologie et de l’assistance des aliénés tenu à Amsterdam du 2 à 7 septembre 1907, red. v. Gerard Anton Marie van Wayenburg, Amsterdam 1908, S. 341–350. 242 – Die agrammatischen Sprachstörungen. Studien zur psychologischen
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Grundlegung der Aphasielehre, 1. Teil, Berlin 1913 (Monographien aus dem Gesamtgebiete der Neurologie und Psychiatrie, H. 7). 123, 275 – Studien über motorische Apraxie und ihr nahestehende Erscheinungen; ihre Bedeutung in der Symptomatologie psychopathischer Symptomkomplexe, Leipzig/Wien 1905. 316 Philolaos, Fragmente, zit. nach: Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. 408 Planck, Max: Physikalische Rundblicke. Gesammelte Reden und Aufsätze, Leipzig 1922. 473, 499, 508, 517, 538, 552 – Das Princip der Erhaltung der Energie, Leipzig 1887. 537 – Das Prinzip der kleinsten Wirkung, in: Physik, unter Red. v. Emil Warburg bearb. v. Felix Auerbach u. a. (Kultur der Gegenwart, 3. Teil, 3. Abt., Bd. I), Leipzig/Berlin 1915, S. 692–702. 538 – Das Prinzip der kleinsten Wirkung, in: ders., Physikalische Rundblicke, S. 103–119. 538 – Das Wesen des Lichts. Vortrag, gehalten in der Hauptversammlung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft am 28. Oktober 1919, Berlin 1920. 508 – Das Wesen des Lichts. Vortrag, gehalten in der Hauptversammlung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft am 28. Oktober 1919, in: ders., Physikalische Rundblicke, S. 129–147. 508 – Die Einheit des physikalischen Weltbildes. Vortrag, gehalten am 9. Dezember 1908 in der naturwissenschaftlichen Fakultät des Studentenkorps an der Universität Leiden, in: ders., Physikalische Rundblicke, S. 1–37. 498 f. – Die Entstehung und bisherige Entwicklung der Quantentheorie. Nobel-Vortrag, gehalten vor der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften zu Stockholm am 2. Juni 1920, Leipzig 1920. 517 – Die Entstehung und bisherige Entwicklung der Quantentheorie. Nobel-Vortrag, gehalten vor der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften zu Stockholm am 2. Juni 1920, in: ders., Physikalische Rundblicke, S. 148–168. 517 – Die Stellung der neueren Physik zur mechanischen Naturanschauung. Vortrag, gehalten am 23. September 1910 auf der 82. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Königsberg i. Pr., Leipzig 1910. 516 f. – Die Stellung der neueren Physik zur mechanischen Naturanschauung. Vortrag, gehalten am 23. September 1910 auf der 82. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Königsberg i. Pr., in: ders., Physikalische Rundblicke, S. 38–63. 516 f., 537 ff. – Dynamische und statistische Gesetzmäßigkeit. Rede, gehalten bei der Feier zum Gedächtnis des Stifters der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin am 3. August 1914, Leipzig 1914. 472 – Dynamische und statistische Gesetzmäßigkeit. Rede, gehalten bei der Feier zum Gedächtnis des Stifters der Friedrich-Wilhelms-Universität
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Berlin am 3. August 1914, in: ders., Physikalische Rundblicke, S. 82– 102. 472 f. – Verhältnis der Theorien zueinander, in: Physik, unter Red. v. Emil Warburg bearb. v. Felix Auerbach u. a. (Kultur der Gegenwart, 3. Teil, 3. Abt., Bd. I), Leipzig/Berlin 1915, S. 732–737. 552 – Verhältnis der Theorien zueinander, in: ders., Physikalische Rundblicke, S. 120–128. 552 Platon: [Opera omnia uno volumine comprehensa, hrsg. v. Gottfried Stallbaum, Leipzig/London 1899.] – Kratylos [in: Opera omnia, S. 131–150]. 214 – Phaidon [in: Opera omnia, S. 21–43]. 380, 523 – Philebos [in: Opera omnia, S. 184–203]. 449 – [Politeia, in: Opera omnia, S. 289–384.] 101 – Sophistes [in: Opera omnia, S. 76–94]. 344, 351, 401 – Theaitet [in: Opera omnia, S. 51–75]. 197, 279 Poincaré, Henri: La science et l’hypothèse, Paris o. J. [1903] (Bibliothèque de philosophie scientifique). 434, 471 – Science et méthode, Paris 1908 (Bibliothèque de philosophie scientifique). 434 – Wissenschaft und Hypothese, dt. Ausg. mit erl. Anm. v. Ferdinand u. Lisbeth Lindemann, Leipzig 1904 (Wissenschaft und Hypothese, Bd. 1). 434 – Wissenschaft und Methode, autoris. dt. Ausg. mit erl. Anm. v. Ferdinand u. Lisbeth Lindemann, Leipzig/Berlin 1914 (Wissenschaft und Hypothese, Bd. 17). 434 Poncelet, Jean Victor: Traité des propriétés projectives des figures. Ouvrage utile a ceux qui s’occupent des applications de la géométrie descriptive et d’opérations géométriques sur le terrain, Paris 1822. 461 Psychologische Analysen hirnpathologischer Fälle, hrsg. v. Adhémar Gelb u. Kurt Goldstein, Bd. I, Leipzig 1920. 173, 176 Reiche, Fritz: Die Quantentheorie. Ihr Ursprung und ihre Entwicklung, Berlin 1921. 518 Rickert, Heinrich: Das Eine, die Einheit und die Eins. Bemerkungen zur Logik des Zahlbegriffs, 2., umgearb. Aufl., Tübingen 1924 (Heidelberger Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 1). 398–401 Russell, Bertrand: Introduction to Mathematical Philosophy, London 21922. 340, 349, 400, 420, 424, 456 – Mathematical Logic as based on the Theory of Types, in: American Journal of Mathematics 30 (1908), S. 222–262. 424 – The Analysis of Mind, London/New York 1921. 199 – The Principles of Mathematics, Bd. I [mehr nicht erschienen], Cambridge 1903. 336 ff., 340, 347, 350, 400, 435, 456, 482
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Schapp, Wilhelm: Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, Diss., Göttingen 1910. 139 ff. Scheler, Max: Wesen und Formen der Sympathie (Die Sinngesetze des emotionalen Lebens, Bd. I), 2., verm. u. durchges. Aufl. der »Phänomenologie der Sympathie«, Bonn 1923. 96 ff., 101 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Vom Ich als Princip der Philosophie [oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen, in: Sämmtliche Werke, 1. Abt., Bd. I, Stuttgart/Augsburg 1856, S. 149–244]. 43 Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik (Exakte Logik) [3 Bde., Leipzig 1890–1895]. 336 Semon, Richard: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, Leipzig 1904. 198 – Die mnemischen Empfindungen in ihren Beziehungen zu den Originalempfindungen, Leipzig 1909. 198 Shakespeare, William: Hamlet [in: The Works (The Cambridge Shakespeare), hrsg. v. William Aldis Wright, Bd. VII, London/New York 21892, S. 379–611]. 209 Sigwart, Christoph: Logik, Bd. I: Die Lehre vom Urtheil, vom Begriff und vom Schluss, 2., durchges. u. erw. Aufl., Freiburg i. Brsg. 1889. 330 f. Sommerfeld, Arnold: Atombau und Spektrallinien, 4., umgearb. Aufl., Braunschweig 1924. 512–515, 550 f. Spieth, Jakob: Die Religion der Eweer in Süd-Togo, Leipzig 1911 (Religions-Urkunden der Völker, Abt. 4, Bd. 2). 102 Spinoza, Baruch de: [Ethica ordine geometrico demonstrata, in: Opera quae supersunt omnia, hrsg. v. Karl Hermann Bruder, Bd. I, Leipzig 1843, S. 149–416.] 520 Staudt, Georg Karl Christian von: Geometrie der Lage, Nürnberg 1847. 457 Stauffenberg, Wilhelm von: Über Seelenblindheit, in: Arbeiten aus dem hirnanatomischen Institut in Zürich 8 (1914), S. 1–212. 273 Steinen, Karl von den: Die Bakaïrí-Sprache. Wörterverzeichnis, Sätze, Sagen, Grammatik. Mit Beiträgen zu einer Lautlehre der karaïbischen Grundsprache, Leipzig 1892. 297 Steinthal, Heymann: Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft (Abriss der Sprachwissenschaft, 1. Teil: Die Sprache im Allgemeinen), Berlin 1871. 236, 242 Stenzel, Julius: Sinn, Bedeutung, Begriff, Definition. Ein Beitrag zur Frage der Sprachmelodie, in: Jahrbuch für Philologie 1 (1925), S. 160– 201. 123 Stern, Clara/Stern, William: Die Kindersprache. Eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung (Monographien über die seelische Entwicklung des Kindes, Bd. I), Leipzig 1907. 122, 126, 135 Stern, William: Psychologie der frühen Kindheit bis zum sechsten Lebensjahre, 3., umgearb. u. erw. Aufl., Leipzig 1923. 72, 115, 205, 381
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Stolz, Otto: Vorlesungen über allgemeine Arithmetik. Nach den neueren Ansichten, 1. Theil: Allgemeines und Arithmetik der reellen Zahlen, Leipzig 1885. 405 Tannery, Jules: Introduction à la théorie des fonctions d’une variable, Paris 1886. 457 Thomas von Aquin: Contra gentiles [De veritate catholicae fidei contra gentiles (Opera omnia, Bd. V), Parma 1855]. 348 Thomson, William: Notes of Lectures on Molecular Dynamics and the Wave Theory of Light, Baltimore 1884. 534 Thorndike, Edward Lee: Animal Intelligence. Experimental Studies, New York 1911. 134 Usener, Hermann: [Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung, Bonn 1896.] 120 Vignoli, Tito: Mythus und Wissenschaft. Eine Studie, Leipzig 1880 (Internationale wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 47). 84 ff. Volkelt, Hans: Über die Vorstellungen der Tiere. Ein Beitrag zur Entwicklungspsychologie, Leipzig/Berlin 1914 (Arbeiten zur Entwicklungspsychologie, Bd. 1, H. 2). 134, 172, 320 Volkelt, Johannes: Phänomenologie und Metaphysik der Zeit, München 1925. 194 Voss, Aurel: Über das Wesen der Mathematik. Rede, gehalten am 11. März 1908 in der öffentl. Sitzung der K. Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 3., erw., mit Anm. vers., verb. u. anastatisch gedruckte Aufl., Leipzig/Berlin 1922. 405, 409 f., 457 Voßler, Karl: Geist und Kultur in der Sprache, Heidelberg 1925. 384 f., 390 Waltershausen, Wolfgang Sartorius von: Gauss zum Gedächtniss, Leipzig 1856. 409 Werner, Heinz: Einführung in die Entwicklungspsychologie, Leipzig 1926. 39, 115, 125 – Über allgemeine und vergleichende Sprachphysiognomik, in: Bericht über den X. Kongreß für experimentelle Psychologie in Bonn vom 20.– 23. April 1927, hrsg. v. Erich Becher, Jena 1928, S. 184–186. 521 – Über die Sprachphysiognomik als einer neuen Methode der vergleichenden Sprachbetrachtung, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 1. Abt.: Zeitschrift für Psychologie 109 (1929), S. 337–363. 521 Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomenkomplex [Eine psychologische Studie auf anatomischer Basis, Breslau 1874]. 242, 247 – Lehrbuch der Gehirnkrankheiten für Aerzte und Studirende [3 Bde., Kassel und Berlin 1881–1883]. 247 Westermann, Diedrich: Grammatik der Ewe-Sprache, Berlin 1907. 265
Schriftenregister
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Weyl, Hermann: Das Kontinuum. Kritische Untersuchungen über die Grundlagen der Analysis, Leipzig 1918. 409, 426 – Die heutige Erkenntnislage in der Mathematik in: Symposion. Philosophische Zeitschrift für Forschung und Aussprache 1 (1927), S. 1–32. 421, 436, 439 f. – Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft (Handbuch der Philosophie, bearb. v. Alfred Baeumler u. a., hrsg. v. Alfred Baeumler u. Manfred Schröter, Abt. II: Natur/Geist/Gott, Abh. A), München/ Berlin 1927. 405, 407, 439 f., 543 – Raum – Zeit – Materie. Vorlesungen über allgemeine Relativitätstheorie, 4., erw. Aufl., Berlin 1921. 407, 541, 548 f., 552 – Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik (Vorträge, gehalten im mathematischen Kolloquium Zürich), in: Mathematische Zeitschrift 10 (1921), S. 39–79. 427, 430 f., 434 Whitehead, Alfred North: An Enquiry concerning the Principles of Natural Knowledge, Cambridge 21925. 547 Whitehead, Alfred North/Russell, Bertrand: Principia mathematica, Bd. I, Cambridge 1910. 339 Wittmann, Johannes: Raum, Zeit und Wirklichkeit, in: Archiv für die gesamte Psychologie 47 (1924), S. 428–511. 173 Woerkom, Willem van: Sur la notion de l’espace (le sens géométrique), sur la notion du temps et du nombre. Une démonstration de l’influence du trouble de l’acte psychique de l’évocation sur la vie intellectuelle, in: Revue neurologique 26 (1919), S. 113–119. 286 f., 315 Wundt, Wilhelm: Grundzüge der physiologischen Psychologie [3 Bde., 6., umgearb. Aufl., Leipzig 1908–1911]. 237 – Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkenntniss und der Methoden wissenschaftlicher Forschung, Bd. I: Erkenntnisslehre, 2., umgearb. Aufl., Stuttgart 1893. 330, 342 – Völkerpsychologie [Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte, 10 Bde., Leipzig 1900–1920]. 236 f. Zermelo, Ernst: Untersuchungen über die Grundlagen der Mengenlehre. I., in: Mathematische Annalen 65 (1908), S. 261–281. 423 Zeuthen, Hieronymus Georg: Die geometrische Construction als »Existenzbeweis« in der antiken Geometrie, in: Mathematische Annalen 47 (1896), S. 222–228. 411 Ziehen, Theodor: Erkenntnistheorie auf psychophysiologischer und physikalischer Grundlage, Jena 1913. 197
PERSONENREGISTER
Abelsdorff, Georg 242 Adam, Charles 142 Adam, Margarete 43, 45 Ahlmann, Wilhelm 173 Archimedes 112 Aristoteles 11, 19, 57, 107, 116, 352, 411, 525 ff., 529 Arlt, Ferdinand von 139 Aster, Ernst von 326 Auerbach, Felix 538, 552 Augustinus, Aurelius 184, 188 f., 204, 213 Avenarius, Richard 203 Bacon, Francis 332, 353 Baeumler, Alfred 405 Baeyer, Adolf von 511 Balmer, Johann Jakob 514 ff. Bavink, Bernhard 509, 541, 550 Bayle, Pierre 179 Becher, Erich 521 Becker, Oskar 429, 466 f. Bekker, Immanuel 411 Benary, Wilhelm 294, 296, 298 Bergson, Henri 41–45, 210–216 Berkeley, George 2 f., 26 ff., 161, 163–166, 180, 248, 333 ff., 504 Bieberbach, Ludwig 419 Bôcher, Maxime 404 Bodemann, Eduard 412 Bohr, Niels 513, 515, 550, 552 Bollert, Karl 553 Boltzmann, Ludwig 517 Bolzano, Bernhard 4 Bonhoeffer, Karl 305 Bonnet, Charles de 37 Boole, George 401, 419 Born, Max 541 Boscovich, Roger Joseph 551 Bothe, Walter 513
Bouasse, Henri Pierre Maxime 497, 510 Bouman, Leendert 300 Brentano, Franz 223 f., 492 Broca, Paul 251 f., 287 Broek, Antonius Johannes van den 513 Brod, Max 354–358, 360 Brouwer, Luitzen Egbertus Jan 397, 420 f., 427–430, 436 Bruder, Karl Hermann 520 Brunschvicg, Léon 433, 464 Buchenau, Artur 5, 188 Budge, Ernest Alfred Wallis 77 Buffon, Georges Louis Le Clerc de 37 Bühler, Karl 72, 122, 126, 135, 148, 237, 381 f., 391 Burkamp, Wilhelm 337, 339, 343, 357, 377, 433, 435 Cantor, Georg 396, 480 Capelli, Alfredo 405 Carlyle, Thomas 471 Carnap, Rudolf 489 Cassirer, Ernst 5, 188, 342 Cauchy, Augustin Louis 460 Clarke, Samuel 187, 428 Cohen, Hermann 5, 461 Condillac, Etienne Bonnot de 37 Cornelius, Hans 203 f. Coulomb, Charles Augustin de 497 Couturat, Louis 404, 435 Debye, Peter 506 Dedekind, Richard 298, 343, 396, 403, 436 f., 456, 480 Déjerine, Jules Joseph 252 Delacroix, Henri 239
Personenregister
Demokrit 20, 351, 551 Descartes, René 70, 107, 116, 142 f., 147, 161–165, 344, 403 f., 446 f., 525, 527 ff., 530 Dessoir, Max 326, 481, 519 Diels, Hermann 20, 186, 197, 408 Dilthey, Wilhelm 92 DuBois-Reymond, Paul 435, 450 Duhem, Pierre 24 f., 474, 534 Dulong, Pierre Louis 505 f. Eddington, Arthur 540 f., 555 Einstein, Albert X, 483, 506 f., 541 f., 547 ff., 553 f. Embden, Heinrich 261 Enriques, Federigo 419 Eötvös, Loránd 507 Euklid 484 Faraday, Michael 541 Fermat, Pierre de 462 Fichte, Johann Gottlieb 210 Fidus (Hugo Höppener) 124 Finkelnburg, Karl Maria 241 Foucher de Careil, Louis Alexandre 403 Fraenkel, Adolf 422, 424 f., 429 France, Anatole 77 Fraser, Alexander Campbell 164, 333 Frege, Gottlob 288, 336 f., 339, 343, 396, 401, 432 f., 436 f. Freud, Sigmund 242 Freundlich, Erwin 507 Freyer, Hans 170 Friedrich der Große 124 Galilei, Galileo 21 ff., 30, 34, 462 f., 473, 524, 549, 552 Gans, Eduard 88 Gauß, Carl Friedrich 409 Gawronsky, Dimitry 461 Geiger, Hans 513 Geiger, Lazarus 131 Gelb, Adhémar 173, 176, 240, 250, 253 f., 257–262, 264,
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266, 273 f., 276–280, 292, 319, 321 f. Gerhardt, Carl Immanuel 50, 179, 205 Goethe, Johann Wolfgang von 18, 29, 38, 80, 104, 150, 230, 235, 329, 378, 454, 471, 477, 551 Goldstein, Kurt 173, 176, 240, 249 f., 253 f., 257–262, 264, 266, 273 f., 276–281, 285, 287, 292, 300, 304, 307–312, 314, 319, 321 f. Görland, Albert 5 Graefe, Alfred 139 Grammel, Richard 513 Graßmann, Hermann 405, 453 Griesinger, Wilhelm 536 Grünbaum, Anton Abraham 300 Haas, Arthur 506, 509, 518, 548 Hamann, Johann Georg 38 Hamilton, William Rowan 466 Hartmann, Nicolai 107 ff., 111 f. Head, Henry 239 f., 244 ff., 248 f., 252 f., 264 f., 278 f., 282 ff., 287 f., 291 f., 296, 298 f., 301 f., 312, 317 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich VIII f., 88, 110, 500 Hegel, Karl 88 Heidegger, Martin 167, 184, 189, 196, 215 f. Heilbronner, Karl 242, 254, 269, 306, 313 Helmholtz, Hermann von 23, 143, 146 ff., 161, 165 f., 329 f., 366, 372 ff., 396, 472, 535 Henning, Hans 144 Henning, Leopold von 110 Henschen, Salomon Eberhard 248 Heraklit 1, 128, 239, 459 Herbart, Johann Friedrich 236 Herder, Johann Gottfried 35–39, 126 f., 134, 385 Hering, Ewald 138 f., 146–149, 153 f., 157, 161, 167
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Personenregister
Hertz, Heinrich 23, 508 Herz, Markus 270 Heymans, Gerard 342 Hilbert, David 396, 409 f., 423, 436–440, 442, 444 ff., 448, 451, 455, 495, 543 Hobbes, Thomas 34 f., 201 f., 234 f., 411 f. Hoffmann, Ernst 131, 234 Hölder, Otto 405, 434, 456, 496 Holländer, Felix 126 Hönigswald, Richard 132 f., 192, 202, 237 Hornbostel, Erich Moritz von 179 Humboldt, Wilhelm von 17, 55 f., 236, 240, 242 f., 256 Hume, David 32 f., 195 f., 200, 203, 248, 370, 491 f., 502 Husserl, Edmund 196, 224–227, 371 f., 467 Huyghens, Christiaan 524, 539, 543 ff., 547, 550 Itelson, Gregor 404 Jackson, Hughlings 239 f., 242–248, 253, 263, 273, 303, 316 Jaensch, Erich Rudolf 181 James, William 158, 175 f., 205 f. Jerusalem, Wilhelm 293 Job, André 510 Johann ohne Land 471 Kaila, Eino 175 Kant, Immanuel 4–12, 14, 28, 45 f., 52, 54 ff., 60, 63, 66, 111, 141, 149, 180, 183 ff., 187, 192 ff., 203 f., 218, 221 ff., 241, 270, 286, 297, 331, 335, 341 f., 350, 362, 365, 369 f., 374, 397 f., 416 ff., 438, 466, 469, 486, 489, 502, 518, 531 ff., 549, 555 Katz, David 145 f., 149, 151, 153, 155 f., 175, 177, 203 Keller, Helen 125
Kellermann, Benzion 5 Kepler, Johannes 161, 407, 524, 549 Kirchhoff, Gustav 517 Klages, Ludwig 74, 90, 112 f., 124 Klein, Felix 177 f., 406, 409, 465, 495 Kleist, Heinrich von 46 Kleist, Karl 304 Klemperer, Victor 122 Köhler, Wolfgang 72 f., 121, 179, 321 Koffka, Kurt 71 f., 205 Kopernikus, Nikolaus 553 f. Kronecker, Leopold 451 Kummer, Ernst Eduard 454 Larmor, Joseph 538 Lasswitz, Kurd 526, 544–547 Laue, Max Theodor Felix von 483, 507, 541, 550, 555 Lazarus, Moritz 132, 236 Leibniz, Gottfried Wilhelm 35, 49 f., 107, 110, 143, 179, 187 f., 192 f., 204 f., 231, 234, 281, 394 f., 401 f., 404 f., 407, 411–418, 425 f., 428, 437, 444–448, 462 ff., 463 f., 485, 509, 525, 528–531 Leitzmann, Albert 17 Lerch, Eugen 122 Lévy-Bruhl, Lucien 293, 393 Lewandowsky, Max 242 Lichtheim, Ludwig 248 Lie, Sophus Marius 406 Liepmann, Hugo 242, 303–306, 308 f., 316 f. Lindemann, Ferdinand 434 Lindemann, Lisbeth 434 Lipps, Theodor 93, 365 f. Lissauer, Heinrich 269, 272 f., 277 Litt, Theodor 215 Locke, John 333, 417, 485, 500–503, 513 Lorentz, Hendrik Antoon 547 f. Lotze, Hermann 129, 145, 161, 166
Personenregister
Mach, Ernst 28–31, 33 f., 195, 203, 473, 498, 502 Mahnke, Dietrich 414, 416 Major, David R. 135 Malebranche, Nicolas 107, 464 Marie, Pierre 250 ff., 302, 309 Maxwell, James Clerk 506 f., 534, 540 Mayer, Robert 535 f., 548 Meinong, Alexius 492 Mendelejeff, Dimitri Iwanowitsch 511 Meyer, Lothar 511 Meynert, Theodor 242 Mie, Gustav 541 Migne, Jacques-Paul 189 Mill, John Stuart 396, 432 f., 502 Minde-Pouet, Georg 46 Minkowski, Hermann 407, 547 Moseley, Henry Gwyn Jeffreys 512 f. Moutier, François 251 f., 287 Müller, Aloys 400 Natorp, Paul 56–63, 232, 290, 398 ff. Newton, Isaac 22, 27, 164, 187, 192, 428, 462 ff., 497, 524, 526, 531 f., 535, 539, 548 Ockham, Wilhelm von 234, 436 Ostwald, Wilhelm 536 Paneth, Fritz 512 Parmenides 2, 20, 186, 192, 197, 210, 351, 368, 401 Peano, Giuseppe 396, 401 Peirce, Charles Sanders 401 Pertz, Georg Heinrich 50 Petit, Alexis Marie Thérèse 505 f. Pfungst, Oskar 85, 124 Philolaos 408 Pick, Arnold 123, 242, 275, 316 Planck, Max 22, 29, 472, 498 f., 507 f., 516 f., 537 f., 551 f. Platon 18, 101, 172, 197, 214, 279,
587
326, 335, 344, 349, 351, 380, 396, 401, 441, 449, 465, 484, 487, 523 Poincaré, Henri 424, 434, 471 Poncelet, Jean Victor 460 f. Protagoras 197, 279 Ptolemäus, Claudius 553 Pythagoras 19, 325, 408, 448, 481 Ravaisson-Mollien, Félix 45 Reiche, Fritz 518 Richard, Jules Antoine 425 Richarz, Franz 506 Rickert, Heinrich 398–401 Riemann, Bernhard 483 f. Ritz, Walter 515 f. Russell, Bertrand 51, 198 f., 336–340, 343, 346 f., 349 f., 396 f., 400 f., 420, 423 f., 433, 435 f., 456, 482 Rydberg, Johannes Robert 515 f. Saemisch, Theodor 139 Schapp, Wilhelm 139 f. Scheel, Karl 513 Scheler, Max 96, 98 ff. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 43, 68 Schlegel, Friedrich 217 Schmidt, Erich 46 Schöndörffer, Otto 241 Schröder, Ernst 336 f., 339, 343, 401 Schröter, Manfred 405 Schulze, Johann IX Schwarzschild, Karl 538 Selby-Bigge, Lewis Amherst 195 Seliger, Paul 126 Semon, Richard 198 Shakespeare, William 209 Siegel, Carl 435 Sigwart, Christoph 330 Sokrates 335, 352 Sommerfeld, Arnold 512–515, 550 f. Sophie von Sachsen 38
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Personenregister
Spieth, Jakob 102 Spinoza, Baruch de 2, 107, 186, 192, 194, 210, 411, 520 Stallbaum, Gottfried 101 Staudt, Georg Karl Christian von 457 Stauffenberg, Wilhelm von 273 Stefan, Josef 517 Steig, Reinhold 46 Steinen, Karl von den 297 Steinthal, Heymann 236, 242 Stenzel, Julius 123 Stern, Clara 122, 126, 135 Stern, William 72, 115, 122, 126, 135, 205, 381 Stolz, Otto 405 Suphan, Bernhard 38
Voss, Aurel 405, 410, 457 Voßler, Karl 122, 384 f., 390
Ueberweg, Friedrich 504 Usener, Hermann 102, 120
Waltershausen, Wolfgang Sartorius von 409 Warburg, Emil 538, 552 Wayenburg, Gerard Anton Marie 242 Weltsch, Felix 354–358, 360 Werner, Heinz 39, 115, 125, 521 Wernicke, Carl 242, 247, 250 f., 308 Westermann, Diedrich 265 Weyl, Hermann 405, 407 ff., 421, 426 f., 429 ff., 434, 436, 439 f., 443, 465, 496, 541, 543, 548 f., 552 Weyrauch, Jacob Johann 536 Whitehead, Alfred North 339, 401, 547 Wien, Wilhelm 517 Windelband, Wilhelm 212 Wittmann, Johannes 173 Woerkom, Willem van 285 ff., 315 Wolf, Christian 205 Wright, William Aldis 209 Wundt, Wilhelm 161, 180, 236 f., 330, 342
Varignon, Pierre 50 Vignoli, Tito 84 ff. Volder, Burcher de 205, 529 Volkelt, Hans 134, 172, 320 Volkelt, Johannes 194
Zeemann, Pieter 507 Zenon von Elea 187, 481 Zermelo, Ernst 423 Zeuthen, Hieronymus Georg 411 Ziehen, Theodor 197
Tannery, Jules 457 Tannery, Paul 142 Thomas von Aquin 348 Thomson, William 534 Thorndike, Edward Lee 134 Tschirnhaus, Ehrenfried Walter von 411
SEITENKONKORDANZ
In der Literatur werden die drei Teile der »Philosophie der symbolischen Formen« meist nach den in mehreren Auflagen bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt, erschienenen Neudrucken zitiert. Um das Auffinden von Stellen und Zitaten zu erleichtern, steht in der jeweils linken Spalte die Seitenzahl der vorliegenden Ausgabe und in der rechten Spalte die Seitenzahl der Buchgesellschafts-Ausgabe. ECW 11 VII VIII IX X XI 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25
V–VI VI VI–VII VII–VIII VIII–IX 1–4 4 4–6 6 6–7 7–9 9 9–10 10–12 12–13 13–14 14–15 15–16 16–17 17–18 18–19 19–20 20–21 21–22 22–23 23–24 24–25 25–26 26–27 27–28
26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 51 52 53 54 55 56
28–29 29–30 30–31 31–32 32–33 33–34 34 34–36 36 36–37 37–39 39–40 40–41 41–42 42–43 43–44 44–45 45–46 46–47 47–48 48–49 49–50 50–51 51–52 53–56 56–57 57–58 58 58–59 59–60
57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86
60–61 61–62 62–63 63–64 64–65 65–66 66–67 67–68 68–69 69–70 70–71 71–72 72–73 73–74 74–75 75–76 76–77 77–78 78 78–79 79–80 80–81 81–82 82–83 83–84 84–85 85–86 86–87 87–88 88–89
590
87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132
Seitenkonkordanz
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594
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DIE HAMBURGER AUSGABE
»Ernst Cassirer · Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe« Herausgegeben von Birgit Recki Ernst Cassirer (1874–1945) lehrte von 1919 bis 1933 Philosophie an der neugegründeten Universität Hamburg. Nach seinen frühen Arbeiten zum Erkenntnisproblem, mit denen er sich vom Neukantianismus löste und international Beachtung fand, verfaßte er hier – angeregt durch seine Forschungsprojekte in der »Bibliothek Warburg« – von 1923 bis 1929 sein Hauptwerk, die drei Bände der Philosophie der symbolischen Formen. Seit 1933 arbeitete er an der Fortführung seines Werks unter den erschwerten Bedingungen des Exils, zunächst in England, dann in Schweden, schließlich in den USA. Nicht nur in Deutschland, sondern vor allem auch in Frankreich, Italien und den USA wird das Werk Ernst Cassirers heute als eine der großen zukunftsweisenden denkerischen Leistungen dieses Jahrhunderts gewürdigt. Neben der im Fokus seines Lebenswerks stehenden Grundlegung der Philosophie der symbolischen Formen gelten seine interdisziplinär betriebenen Forschungen zur Geschichte der Philosophie und zur Geistesgeschichte (unter Einbeziehung der Entwicklung der Naturwissenschaften) als wegbereitend für die Zusammenführung der verschiedenen Ebenen und Disziplinen theoretischen Erkennens und praktischen Erfahrens unter dem Dach der »Kulturphilosophie«. Die Hamburger Ausgabe der Werke Ernst Cassirers führt erstmalig zusammen, was – bedingt durch die Zäsur von 1933 – bisher nur in einer Vielzahl von unverbundenen, vielfach nur schwer zugänglichen Erstdrucken und/oder photomechanischen Nachdrucken erhalten war. Sie umfaßt alle von Ernst Cassirer veröffentlichten oder für eine Veröffentlichung vorbereiteten Texte und Schriften in chronologischer Folge, jedoch stets nach Maßgabe der jeweils letzten vom Autor autorisierten Auflage; vom Grundsatz der strikt chronologischen Anordnung in der Bandfolge wird nur dort abgewichen, wo Cassirer selbst die Zusammenführung von später verfaßten Teilen mit früher abgeschlossenen Partien seines Werks veranlaßte (so bei den Bänden zum Erkenntnisproblem und zur Philosophie der symbolischen Formen). Die Edition gliedert sich wie folgt: Band 1: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen [1902] Band 2: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band [1906; 1911; 1922]
Band 3: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Zweiter Band [1907; 1911; 1922] Band 4: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Dritter Band: Die nachkantischen Systeme [1920; 1923] Band 5: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Vierter Band: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932) [1957] Band 6: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik [1910; 1923] Band 7: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte [1916; 1918; 1922] Band 8: Kants Leben und Lehre [1918] Band 9: Aufsätze und kleine Schriften [1902–1921] Band 10: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen [1921] Band 11: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache (Zur Phänomenologie der sprachlichen Form) [1923] Band 12: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken [1925] Band 13: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis [1929] Band 14: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance [1927]; Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge [1932] Band 15: Die Philosophie der Aufklärung [1932] Band 16: Aufsätze und kleine Schriften [1922–1926] Band 17: Aufsätze und kleine Schriften [1927–1932] Band 18: Aufsätze und kleine Schriften [1932–1935] Band 19: Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik. Historische und systematische Studien zum Kausalproblem [1937] Band 20: Descartes: Lehre – Persönlichkeit – Wirkung [1939] Band 21: Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart [1939]; Thorilds Stellung in der Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts [1941] Band 22: Aufsätze und kleine Schriften [1936–1940] Band 23: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture [1944] Band 24: Aufsätze und kleine Schriften [1941–1947] Band 25: The Myth of the State [1946]